Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Uns wurde als Thema der heutigen Kabinettssitzung
mitgeteilt: Jahresabrüstungsbericht 2010.
Das Wort für den einleitenden Bericht, der fünf Minuten dauern soll, hat der Staatsminister im Auswärtigen
Amt, Herr Dr. Werner Hoyer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für die Bundesregierung sind Abrüstung und Rüstungskontrolle zentrale Bestandteile deutscher Außen- und
Sicherheitspolitik. Rüstungskontrolle kann durch ihre
vertrauensbildende Funktion Spielräume für die globale
Zusammenarbeit schaffen und damit entscheidend zu
mehr Sicherheit und politischer Stabilität weltweit beitragen. Diesem besonderen Engagement der Bundesregierung, mithilfe von Abrüstung und Rüstungskontrolle
die Welt für unsere Bürgerinnen und Bürger sicherer zu
machen, verleihen wir heute dadurch Nachdruck, dass
das Bundeskabinett bereits heute als einen der ersten
Jahresberichte zum vergangenen Kalenderjahr den - so
der formelle Titel - 28. Bericht der Bundesregierung
zum Stand der Bemühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale, kurz den Jahresabrüstungsbericht 2010, beschlossen hat.
2010 war ein wichtiges und erfolgreiches Jahr für Abrüstung und Rüstungskontrolle; darauf wollen wir 2011
gezielt aufbauen. Im Mai 2010 einigten sich die Vertragsstaaten des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages
erstmals seit zehn Jahren auf ein Abschlussdokument,
das einen vorwärtsgerichteten Aktionsplan zur Stärkung
aller drei Säulen des Nichtverbreitungsvertrages, also
der Abrüstung, der Nichtverbreitung und des Rechts auf
friedliche Nutzung der Kernenergie, enthält. Mithilfe der
sogenannten Freundesgruppe des NVV, deren zehn Außenminister sich im Frühjahr in Berlin treffen werden,
wollen wir bei der Umsetzung des Aktionsplans zukünftig noch stärker eigene Akzente setzen.
Die in Kürze bevorstehende Inkraftsetzung des neuen
START-Vertrages durch die USA und Russland stellt
entscheidende Weichen für weitere konkrete Abrüstungsschritte in den kommenden Jahren, gerade auch im
Bereich der substrategischen Nuklearwaffen in Europa.
Sie wissen, dass nach der mit überraschend deutlicher
Mehrheit getroffenen Entscheidung des amerikanischen
Senates, der gestrigen Entscheidung der Staatsduma und
der heutigen Entscheidung des Föderationsrates in Moskau die Weichen gestellt sind: Dem Inkrafttreten dieses
wichtigen Abrüstungsvertrages bereits in den nächsten
Tagen steht nichts mehr im Weg. Das ist ein großer Erfolg für die gesamte Welt.
Im Jahr 2010 konnten Abrüstung und Rüstungskontrolle erstmals als zentrale Bestandteile im neuen Strategischen Konzept der NATO verabschiedet werden. Die
im neuen Strategischen Konzept verankerte Verpflichtung, die Bedingungen für eine Welt frei von Nuklearwaffen zu schaffen, war für uns ein wichtiger, für die Zukunft signalesetzender Verhandlungserfolg.
Das internationale Nichtverbreitungsregime steht
weiterhin vor großen Herausforderungen, insbesondere
bei den bekannten Themen Iran und Nordkorea. Die
Bundesregierung engagiert sich mit ihren Partnern im
E3+3-Format für eine diplomatische Lösung beim iranischen Nukleardossier. Um Iran zu Verhandlungen zu bewegen, hat die Bundesregierung 2010 die Verschärfung
der UN-Sanktionen durch die Resolution 1929 des UNSicherheitsrates sowie deren deutlich erweiterte Umsetzung im EU-Rahmen unterstützt. Auf diese Weise haben
wir Druck auf den Iran aufgebaut, der die Gesprächsrunde, die jetzt in Istanbul stattgefunden hat, erst ermöglicht hat.
Ein besonderes Anliegen der Bundesregierung war
2010, endlich die Krise um den KSE-Vertrag, den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa, zu überwinden und das positive Momentum aus dem nuklearen
Bereich auf den konventionellen Bereich zu übertragen.
Redetext
Mitte 2010 haben die NATO-Mitgliedstaaten eine neue
Initiative vorgeschlagen, die konkrete Verhandlungen ermöglichen soll. Russland und die anderen der NATO
nicht angehörenden KSE-Staaten haben das Gesprächsangebot prinzipiell positiv aufgenommen. Unser
Ziel bleibt damit, 2011 den Einstieg in konkrete Verhandlungen zu schaffen. Es gilt, die europäische Rüstungskontrollarchitektur zu erhalten und sie gleichzeitig
an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Der
Kalte Krieg ist glücklicherweise Geschichte, aber
Europa ist auch heute nicht frei von Bedrohungsperzeption und der Gefahr regionaler und lokaler Konflikte.
Dafür brauchen wir die passenden Instrumente, um Berechenbarkeit und Vertrauen zu stärken.
Unsere Zukunftsperspektive für die kommenden
Jahre ist, das vorhandene Momentum im Nuklearbereich
weltweit zur Stärkung der konventionellen Rüstungskontrolle zu nutzen, zumal beide Themen zwei Seiten
derselben Medaille sind. Nukleare Abrüstung wird nur
durch Begrenzung konventioneller Ungleichgewichte
vorankommen. Konventionelle Aufrüstung darf niemals
Ersatz für reduzierte nukleare Potenziale werden. Das
Argument, dass der Abschied von Nuklearwaffen die
Führbarkeit konventioneller Kriege erhöhen könnte,
muss ausgeräumt werden.
Für die Bundesregierung hat die weltweite Friedenssicherung durch Stärkung des humanitären Völkerrechts
und der humanitären Rüstungskontrolle sowie mithilfe
effektiver Rüstungsexportkontrolle übergreifende politische Bedeutung. Die Bundesregierung engagiert sich
deshalb nachhaltig für die Umsetzung und Universalisierung des Abkommens zum Verbot von Landminen und
Streumunition. Sie unterstützt darüber hinaus gezielt Bemühungen zur Schaffung eines umfassenden Waffenhandelsvertrags für konventionelle Rüstungsgüter im VNRahmen, um endlich weltweit die notwendigen, rechtlich bindenden Standards zu setzen.
Bei der Kontrolle von Kleinwaffen als einem wesentlichen Element deutscher Bemühungen um Krisenprävention und Friedenskonsolidierung hat die Bundesregierung 2010 wichtige Akzente setzen können. Im
Jahresabrüstungsbericht wird im Detail berichtet, dass
Kleinwaffen mehr Opfer als andere Waffengattungen
verursachen. Sie verschärfen Konflikte, destabilisieren
Gesellschaften und hemmen Entwicklungen. Deswegen
bleiben wir besonders engagiert, gerade auch im Hinblick auf unsere Mitgliedschaft im Weltsicherheitsrat.
Die Stärkung der konventionellen und nuklearen Rüstungskontrolle ist das Essential der gemeinsamen europäischen Agenda für Vertrauensbildung, in die wir zukünftig unsere Nachbarn im Nahen Osten, Verzeihung,
im Osten, im Süden und im Nahen Osten noch stärker
einbinden wollen. An der erfolgreichen Umsetzung dieser großen Agenda für nachhaltige weltweite Abrüstung
und Rüstungskontrolle gemeinsam zu arbeiten, dazu
lade ich Sie herzlich ein. Wenn mir eben der Lapsus unterlaufen ist, dass ich den Osten mit dem Nahen Osten
verwechselt habe, dann hat das durchaus einen konkreten Sinn. Ich glaube, dass die Verpflichtung aus der Vereinbarung aus dem letzten Jahr in New York zum Nichtverbreitungsvertrag die Dimension des Themas Naher
Osten als besonders schwieriges und auch besonders
dringendes Thema einschließt. Auch in diesem Bereich
wollen wir uns engagieren.
Herzlichen Dank.
({0})
Die erste Frage kommt vom Kollegen Mützenich.
Vielen Dank an die Bundesregierung und insbesondere an den Staatsminister, aber auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für diesen Bericht, der jährlich
eine wichtige Diskussionsgrundlage für das Parlament
bietet.
Herr Staatsminister, ich möchte gerne kurz auf die genannten Aspekte eingehen. Ich glaube, wir müssen aufpassen; denn bei der Abrüstung und bei der Rüstungskontrolle haben wir eine Art Doppelbefund. Wir von der
Sozialdemokratischen Partei sind dankbar, dass vieles
vorangekommen ist, insbesondere der START-Vertrag.
Ich möchte die Bundesregierung fragen, ob sie nicht mit
mir der Meinung ist, dass wir alles dafür tun müssen,
dass aus solchen Rüstungskontrollabkommen nicht
gleichzeitig Wiederaufrüstungsprozesse entstehen. Der
amerikanische Senat hat sich erst davon überzeugen
lassen, diesem Vertrag zuzustimmen, nachdem 82 Milliarden US-Dollar in die Modernisierung von Atomwaffen gesteckt worden sind. Das Gleiche hat gestern die
Duma zur Voraussetzung gemacht. Täte die Bundesregierung nicht gut daran, dem zu folgen?
In diesem Zusammenhang wäre ich auch dankbar,
wenn Sie darauf eingehen würden, ob nicht möglicherweise auch die Raketenabwehr, über die nicht nur in
Deutschland, sondern in ganz Europa diskutiert wird, ein
Feld für Abrüstung und Rüstungskontrolle sein könnte,
weil sich daraus offensichtlich wieder neue Aufrüstungsprozesse ergeben.
Zu Ihrer Bemerkung zum Bereich des KSE-Vertrags.
Meine Fraktion hat mehrmals angeboten, dieses Zusatzarrangement zu ratifizieren. Kann ich Ihre Aussage so
bewerten, dass Sie möglicherweise auf eine ganz neue
Agenda von konventioneller Abrüstung und Rüstungskontrolle in Europa setzen? Will sich die Bundesregierung diesem Prozess insoweit stellen, als dass sie ihn als
verantwortlicher Akteur in Europa voranbringt?
Die letzte Frage in diesem Zusammenhang - mit Erlaubnis der Präsidentin -: Wie werden Sie in Zukunft mit
der Rolle und dem Status Indiens in der Nuclear Suppliers Group umgehen?
Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Mützenich. - Das sind
vier sehr wichtige Fragen. Der erste Punkt betrifft eine
Grundsatzfrage. Löst Rüstungskontrolle eine GegenbeStaatsminister Dr. Werner Hoyer
wegung aus, die dazu führt, dass wir am Ende wieder
eine Spirale nach oben sehen? Das liegt natürlich in niemandes Interesse, zumindest nicht in unserem. Deswegen müssen wir versuchen, dem entgegenzuwirken.
Im Hinblick auf die Ratifizierung des New-STARTAbkommens im amerikanischen Senat war dieser Punkt
ganz entscheidend. Präsident Obama hat eine, wie ich
finde, in Deutschland und Europa völlig unterschätzte
Grundsatzentscheidung getroffen und zieht sie konsequent durch: keine Entwicklung neuer Nuklearwaffen. Das ist für den amerikanischen Senat eine sensationelle
Festlegung. Unter diesen Umständen 71 Abgeordnete
des Senats dazu zu bewegen, dem New-START-Vertrag
zuzustimmen, ist eine bemerkenswerte Leistung. Dafür
hat er einen Preis gezahlt. Das betrifft wesentliche Fragen der Innenpolitik, der Haushalts- und Finanzpolitik,
der Sozialpolitik, aber auch die Frage der Modernisierung des Arsenals. Das ist etwas, das uns sicherlich nicht
so sehr gefällt, das wir aber als Preis zur Kenntnis nehmen müssen. Es wäre ein verheerendes Signal gewesen,
wenn dieses erste große Rüstungsbegrenzungsabkommen des Jahrzehnts nicht die notwendige Mehrheit im
Senat bekommen hätte. Glücklich über den Gesamtkontext muss man deswegen nicht sein, wenn man einen solchen Preis zahlen muss.
Der zweite Punkt ist die Raketenabwehr. Die Raketenabwehr sehen wir im engen Zusammenhang mit der
nuklearen Abrüstung und mit Fragen von Abrüstung und
Rüstungskontrolle insgesamt. In der Nuclear Posture
Review der Vereinigten Staaten heißt es: „the reduced salience of nuclear weapons“. Wir haben im Hinblick auf
das strategische Konzept der NATO gesagt, dass dies ein
ganz entscheidender Punkt sein kann, wenn es gleichzeitig gelingt, Sorgen zu zerstreuen, indem wir gemeinsam
in der NATO, verbunden mit einem Angebot an Russland, aktiv daran mitzuwirken, eine Raketenabwehr aufbauen. Es wird jetzt entscheidend auf die Ausgestaltung
des Systems der Raketenabwehr ankommen. Wir sollten
uns nach allen Kräften darum bemühen, das auf eine
möglichst breite Basis zu stellen, um den Effekt, den Sie
beschrieben haben, zu verhindern. So manche Rhetorik
auch im Zusammenhang mit dem Ratifizierungsverfahren - gestern in der Duma und heute im Föderationsrat lässt da ein paar Alarmglocken läuten. Wir müssen das
genau beobachten.
Dritter Punkt ist die AKSE-Ratifizierung. Wir müssen
da gemeinsam mit unseren Partnern vorgehen; das ist die
oberste Maxime. Wenn es kreative Möglichkeiten gibt,
die Stolpersteine auf dem Weg hin zur Inkraftsetzung
neuer konventioneller Rüstungskontrollregime beiseitezuräumen, dann soll uns das recht sein. Es ist aus deutscher Sicht sowie aus Sicht der Europäischen Union und
der NATO ein ganz entscheidender Punkt, dass insbesondere im Hinblick auf Transparenz wieder Fortschritte
in diesem Bereich erzielt werden; denn da ist uns in der
letzten Zeit natürlich einiges an vertrauensbildenden
Maßnahmen abhanden gekommen, die wir dringend
wieder brauchen. Ob sich das letztendlich in einer Weiterentwicklung der Ergebnisse von Istanbul niederschlagen kann, vermag ich nicht zu beurteilen; denn die Georgienfrage scheint im Moment - ich benenne das klar unlösbar zu sein. Ob man andere kreative Wege findet
und auch tatsächlich beschreitet, will ich gegenwärtig
nicht vorhersagen.
Vierter Punkt. Indien ist ein ganz besonders schwieriges Thema, mit dem wir uns schon befasst haben, als die
letzte Bundesregierung sich entschieden hat, dem amerikanisch-indischen Nuklearabkommen ihren Segen zu
geben. Das war für die Bundesregierung damals sicherlich eine außerordentlich schwierige Entscheidung, über
die wir hier im Deutschen Bundestag sehr kontrovers
diskutiert haben. Das hat manchem damals sehr wehgetan, und zwar unabhängig davon, ob er in der Opposition
oder der Regierung gewesen ist. Die Entscheidung, wie
man sich zu Indien und der Nuclear Suppliers Group eines Tages verhalten wird, ist sehr schwierig und gegenwärtig Gott sei Dank noch nicht zu treffen; denn es ist
klar, dass es da einen Widerspruch gibt. Auf der einen
Seite haben wir natürlich überhaupt kein Interesse an einer Schwächung des NVV. Auf der anderen Seite hat die
Idee, Indien stärker in die Regularie des NVV einzubeziehen, natürlich ihren Reiz; denn wenn das gelingen
würde, dann wäre das ein Fortschritt. Gegenwärtig sehe
ich das aber noch nicht, zumindest bei weitem nicht in
dem Maße, in dem das nach meiner Auffassung erforderlich wäre. Deswegen ist es gut, dass wir uns gegenwärtig noch nicht festlegen müssen. Die Aufgabe, diese
Argumente abzuwägen, bleibt auf dem Tisch.
Vielen Dank.
Die nächste Frage kommt vom Kollegen Schnurr.
Herr Staatsminister, Sie haben sehr ausführlich über
die Ratifizierung des New-START-Abkommens und die
Bedeutung dieses Abkommens für das Erreichen des
Ziels einer atomwaffenfreien Welt gesprochen. Mich interessiert, wie die Bundesregierung die Einbeziehung
von substrategischen Atomwaffen in den weiteren Abrüstungsprozess perspektivisch bewertet.
Positiv, weil nach dem großen Erfolg des NewSTART-Abkommens insbesondere bei den amerikanischen Freunden eine große Entschlossenheit festzustellen ist, wenn es darum geht, auf dem Weg der nuklearen
Abrüstung voranzugehen, dafür einen sehr rationalen
Ansatz zu wählen und dabei die Sinnhaftigkeit bestimmter Waffensysteme in den Vordergrund zu rücken. Die
Argumente, die Deutschland in diesem Zusammenhang
seit längerer Zeit vorbringt, finden durchaus Gehör. Allerdings ist auch ganz klar - das war für alle, die in der
Bundesregierung Verantwortung tragen oder getragen
haben, von vornherein klar -: Das ist ein Thema, über
das wir auf jeden Fall mit unseren Partnern im Rahmen
des Nordatlantischen Bündnisses diskutieren wollen,
und zwar mit einem wachen Blick auf das, was sich in
Russland tut, das über enorme Potenziale substrategischer Atomwaffen verfügt. Darüber hinaus müssen wir
den Zusammenhang zwischen den deutschen Interessen
und den Interessen einzelner Mitgliedstaaten des Nordatlantischen Bündnisses sehen. Diese Bedingungen müssen berücksichtigt werden.
Innerhalb der NATO sind wir, glaube ich, auf einem
guten Weg, wenn es darum geht, die substrategischen
Atomwaffen einzubeziehen. Bei den Beratungen über
das neue Strategische Konzept der NATO ist es gelungen, die Dimension der substrategischen Nuklearwaffen,
die bisher überhaupt keiner Regulierung unterliegen, zu
berücksichtigen. Wir wissen genau, dass das ein langer
Weg ist, aber im Jahr 2010 sind die ersten Schritte gemacht worden.
Herr van Aken, bitte.
Herr Hoyer, ich möchte erst einmal betonen, dass wir
uns alle darüber einig sind, dass 2010 aufgrund des
Nichtverbreitungsvertrages und des START-Vertrages
eigentlich ein gutes Jahr war. Ich würde aber auch sagen,
dass es aus deutscher Sicht eher ein schlechtes Jahr für
die atomare Abrüstung war. In Ihrem Koalitionsvertrag
haben Sie explizit das Ziel formuliert, dass die ungefähr
20 in Deutschland verbliebenen US-Atomwaffen abgezogen werden. Damit sind Sie komplett gescheitert.
Wenn ich Ihre Worte richtig verstanden haben, gehen Sie
davon aus - das ist die Perspektive -, dass das noch
mehrere Dutzend Jahre dauern wird. Das ist nicht vielversprechend. Das ist sogar eine negative Bilanz.
In diesem Zusammenhang kann ich Ihnen eine Frage
zu Indien leider nicht ersparen. Sie wissen, dass China
und Pakistan sozusagen im Copy-and-Paste-Verfahren
einen ähnlichen Nukleardeal schließen wollen wie die
USA und Indien im letzten Jahr. Daran sieht man, dass
all die Bedenken, die in der letzten Legislaturperiode
hier geäußert wurden, richtig sind: Indem man die
Schleusen einmal öffnet und einem erklärten Atomwaffenstaat wie Indien, das den Nichtverbreitungsvertrag
nicht unterzeichnet hat, Atomtechnologie zur Verfügung
stellt, unterminiert man den ganzen Nichtverbreitungsvertrag. Jetzt hören wir von dem deutschen Botschafter
in Indien, Herrn Matussek: Wir werden trotzdem Indien
darin unterstützen, der Nuclear Suppliers Group beizutreten. - Das geht nach den Regeln der NSG überhaupt
nicht. Damit torpedieren und unterminieren Sie natürlich
den Nichtverbreitungsvertrag.
Sie haben die Kleinwaffen erwähnt. Sie haben gesagt,
dass Sie - so haben Sie das genannt - bei der Kontrolle
von Kleinwaffen wichtige Akzente gesetzt haben. Dem
würde ich zustimmen, aber, so glaube ich, in einem ganz
anderen Sinn. Sie haben vor einigen Wochen den Rüstungsexportbericht vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass
Deutschland auch im letzten Jahr für mehrere Dutzend
Millionen Euro Kleinwaffen in alle Welt geliefert hat.
Damit haben Sie den Akzent auf die Verbreitung von
Kleinwaffen in der Welt gelegt. Ich verstehe überhaupt
nicht, wie Sie sich jetzt hier hinstellen und sagen können, dass Sie den Akzent auf die Kontrolle von Kleinwaffen gelegt haben. Das große deutsche Unternehmen
Heckler & Koch, das Kleinwaffen in alle Welt exportiert, gilt mittlerweile nicht mehr als zuverlässig. Sie
selbst haben entschieden, dass Heckler & Koch zumindest in ein Land, Mexiko, nichts mehr exportieren darf.
Wann gehen Sie endlich den richtigen Schritt und sagen:
Ein Unternehmen, dessen Räume von der Staatsanwaltschaft durchsucht werden, darf nicht weiter Kleinwaffen
- die 30 bis 50 Jahre lang in der ganzen Welt zu Millionen Toten führen können - exportieren? Das ist meine
Frage. Wenn Sie wirklich Akzente setzen wollen, dann
doch hier in Deutschland.
Vielen Dank. - Die Bewertung der Bilanz, negativ
oder positiv, sehe ich natürlich diametral anders als Sie.
Aber ich muss respektieren, dass Sie eine andere Meinung dazu haben. Ich denke, wir haben an manchen Stellen Fortschritte erzielt, die noch vor wenigen Jahren
nicht möglich gewesen wären. Das gilt nicht nur für die
globale Ebene, auf der die Überprüfungskonferenz zum
NVV nach zehn Jahren Stillstand endlich einmal ein Erfolg gewesen ist, sondern das gilt auch für das, was bei
uns möglich ist.
Ich habe im Übrigen keineswegs gesagt, dass ich das
Thema der substrategischen Nuklearwaffen in Deutschland auf die lange Bank schieben möchte. Im Gegenteil:
Wir werden bei diesem Thema ganz beharrlich weitermachen. Wir haben allerdings immer gesagt: Wir verhandeln es im Bündnis, und zwar auch im Rahmen der
Beratungen zum - mittlerweile geht es schon um dessen
Umsetzung - Strategischen Konzept der NATO. So werden wir dieses Thema weiter angehen. Ich glaube, dass
es sehr schnell gehen wird; aber das werden wir sehen.
Im Übrigen, wenn Sie schon an Wahlversprechungen
oder Ideen, die im Wahlkampf geäußert worden sind, erinnern, muss ich Ihnen sagen: Glauben Sie bloß nicht,
wir wären schon am Ende. Geben Sie uns durchaus die
Zeit, die uns zusteht, um in dieser Koalition Fortschritte
zu erzielen.
Die Frage zu China und Pakistan ist für mich gegenwärtig sehr hypothetisch. Ich persönlich habe eine Meinung zum amerikanisch-indischen Nukleardeal. Hier im
Hause waren wir darüber unterschiedlicher Meinung,
aber es gab auch sehr viele Gemeinsamkeiten in dieser
Frage. Die Situation ist jetzt so, wie sie ist. Der amerikanisch-indische Deal ist abgeschlossen worden. Er ist von
der Nuclear Suppliers Group abgesegnet worden. Jetzt
haben wir eine neue Situation. Sie ist dadurch nicht
leichter geworden, aber sie ist so, wie sie ist. Irgendwelche Vorfestlegungen gibt es nicht. Im Übrigen wird die
Politik der Bundesregierung nicht von einem Botschafter
vor Ort definiert, sondern von der Bundesregierung hier
in Berlin. Ich kenne diese angebliche Äußerung im Übrigen nicht.
Letzter Punkt, Kleinwaffenexporte. Ich bin über das
Ergebnis und die Bewertung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen nicht informiert. Das müsste ich gegebenenfalls gegenüber dem Ausschuss nachholen. Aber ich
muss Ihnen sagen, dass man diese Dinge sehr differenziert angehen muss. Wir sind an einer globalen Lösung
dieser Frage interessiert, weil es ganz offensichtlich ist,
dass in völlig unvertretbarem Umfang Kleinwaffen in
die falschen Hände geraten. Wenn hingegen ein deutscher Anbieter in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass in
Deutschland produzierte Kleinwaffen in die Hände von
Personen und Organisationen kommen, für die der Besitz dieser Waffen legitim ist, dann ist der Verkauf dieser
Waffen nach meiner Auffassung völlig in Ordnung. Unter diesem Gesichtspunkt muss man die Zahlen bewerten
und darf nicht so pauschal urteilen.
Die nächste Frage stellt der Kollege Kaufmann.
({0})
- Entschuldigung, Herr Kiesewetter.
Roderich Kiesewetter, Wahlkreis Aalen-Heidenheim,
Nachfolger von Schorsch Brunnhuber.
Das steht jetzt im Protokoll; das ist wunderbar. Einen
Gruß an den Wahlkreis.
Herr Staatsminister, ich habe den Bericht natürlich
mit großer Freude zur Kenntnis genommen, insbesondere, dass in die Abrüstung insgesamt wieder etwas
mehr Bewegung gekommen ist. Meine Frage bezieht
sich auf die Genfer Abrüstungskonferenz, die sich unter
anderem mit nuklearer Abrüstung befasst. Seit zwölf
Jahren, seit 1999, gibt es keine substanziellen Verhandlungsergebnisse mehr. Das Arbeitsprogramm aus dem
Jahr 2009, das im Konsens verabschiedet wurde, kann
aufgrund des Widerstands von Pakistan nicht umgesetzt
werden.
Nun handelt es sich um vier Arbeitsgebiete: nukleare
Abrüstung, Verbot der Produktion von Spaltmaterial,
Verhinderung des Wettrüstens im Weltraum und das
Thema Sicherheitsgarantien. Der pakistanische Widerspruch richtet sich nur gegen den zweiten Punkt, das
Verbot der Produktion von Spaltmaterial. Der Widerstand scheint sich also nur gegen einen sehr kleinen Bereich zu richten. Meine Fragen lauten: Erstens. Welche
Anstrengungen unternimmt die Bundesregierung, die
Genfer Konferenz wiederzubeleben? Zweitens. In welcher Weise können Sie multilateral oder auch bilateral
auf Pakistan einwirken, um so für weitere Bewegung zu
sorgen?
Danke schön.
Vielen Dank. - Ein Einwirken auf Pakistan - das wissen wir aus anderen Zusammenhängen - ist außerordentlich schwierig. Man darf sich da auch nicht überheben.
Ich glaube, es ist bei diesem Versuch wichtig, gute und
möglichst starke Verbündete zu haben. Darum bemühen
wir uns. Ich denke, dass das befördert werden könnte,
wenn wir die Sympathien für einen Fissile Material Cutoff Treaty auch bei unseren Freunden etwas erhöhen.
Wir jedenfalls bemühen uns darum. Ich bin mir über die
Abfolge möglicher politischer Entscheidungen bei den
wichtigsten NATO-Ländern einigermaßen im Klaren;
dies betrifft auch das größte Mitgliedsland. Ich glaube
nicht, dass dies der erste Vertrag ist, der dort einen neuen
Anschub bekommt. Wir müssen allerdings erst abwarten, was mit dem Comprehensive Nuclear-Test-Ban
Treaty passiert. Für uns hat die Frage der Kontrolle des
spaltbaren Materials einen sehr großen Stellenwert. Das
ist auch der Kern unserer Bemühungen in Genf. Insgesamt kann das, was bei der CD passiert ist, natürlich niemanden zufriedenstellen, auch uns nicht. Unsere Anstrengungen werden nicht nachlassen.
Die nächste Frage kommt von der Kollegin Keul.
Vielen Dank. - Herr Staatsminister, auch ich möchte
mich erst einmal für die Vorstellung Ihres Berichts bedanken. Ich begrüße es, zu hören, dass sich die Bundesregierung mit Verve für Abrüstung einsetzen will. Dennoch treiben mich einige Fragen um.
Meine erste Frage - sie ist schon mehrfach angesprochen worden - betrifft Indien. Sie haben bereits deutlich
gemacht, in welchem Konflikt Sie sich befinden. Ich
möchte daher an dieser Stelle nur mit Nachdruck betonen, dass Sie sich doch bitte dafür einsetzen mögen, die
Voraussetzungen für den Beitritt Indiens zum Nichtverbreitungspakt auch auf internationalem Parkett zu unterstreichen.
Zu einer weiteren Frage, die noch nicht beantwortet
worden ist. Im Koalitionsvertrag ist angekündigt - der
Kollege Jan van Aken hat dies, wie ich glaube, schon angedeutet -, man wolle sich für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland einsetzen. Hier sind bislang erst wenige Erfolge zu verzeichnen. Auch bei der NPTFolgekonferenz ist es nicht gelungen, die nukleare Teilhabe Deutschlands auf internationalem Parkett zu thematisieren. Wie soll es hier weitergehen? Welche konkreten Maßnahmen hat die Bundesregierung im Blick,
um beim Abzug der Atomwaffen aus Deutschland und
beim Thema „nukleare Teilhabe“ Fortschritte zu erzielen?
Zu meiner letzten Frage in diesem Zusammenhang.
Sie sagten, dass Sie sich mit Nachdruck für Abrüstung
einsetzen. Wenn ich mir den Einzelplan 05 des Bundeshaushalts ansehe, frage ich mich allerdings, wie es dann
eigentlich kommen konnte, dass die Mittel für den Titel
„Maßnahmen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitungszusammenarbeit“ um ein Drittel, von
60 Millionen Euro auf 40 Millionen Euro, zusammengekürzt wurden. Das ist mir nicht ganz klar. Vielleicht können Sie hier für Aufklärung sorgen. - Danke.
Die Frage der substrategischen Nuklearwaffen steht
für uns natürlich weiterhin im Vordergrund; sie ist von
ganz entscheidender Bedeutung. Wir haben gesagt, dass
wir dieses Thema im Rahmen des Bündnisses weiter vorantreiben. Es ist uns gelungen, dies auch in die Beratungen des neuen Strategischen Konzepts der NATO einfließen zu lassen und eine Diskussion in Gang zu setzen,
die mehr und mehr durch eine rein rationale Wahrnehmung der Funktion und der Glaubwürdigkeit nuklearer
Waffen und insbesondere substrategischer Waffen gekennzeichnet ist. Ich glaube, der Weg, den wir beschritten haben, ist gut.
Wir werden uns sowohl auf der Abrüstungskonferenz
in Genf, bei der das Problem ein Stück weit darin besteht, dass immer Einvernehmen hergestellt werden
muss - es müssen immer Konsensentscheidungen getroffen werden; deswegen dauert das unendlich lange -,
als auch im Zusammenhang mit der Nuclear Suppliers
Group und Indien sehr abwägend verhalten. Die Grundlinien sind klar. Wenn es tatsächlich gelingen würde, Indien dazu zu bewegen, den Nichtverbreitungsvertrag zu
unterzeichnen oder zumindest dem Nichtverbreitungsregime beizutreten - im Hinblick auf, wie ich glaube,
18 nukleare Installationen in Indien ist das mittlerweile
gelungen, aber längst noch nicht in allen Fällen -, wäre
dies ein Riesenfortschritt. Dann würde man auch die
eine oder andere Entscheidung in einem anderen Licht
beleuchten.
Was den Haushalt angeht, muss ich Ihnen sagen: Die
Tatsache, dass wir die für uns wirklich prioritären konkreten Abrüstungsinitiativen mit einem Haushalt, dessen
Volumen geringer ist als bisher, fördern können, ist ein
großer Erfolg. Warum? Weil große Abrüstungsprojekte,
die in den letzten zehn, zwanzig Jahren finanziert worden sind, abgeschlossen sind. Wir sollten uns darüber
freuen, dass es mithilfe der Mittel, die der deutsche Steuerzahler in gigantischem Umfang aufgebracht hat, gelungen ist, furchtbare Waffen, insbesondere auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion, zu vernichten.
({0})
Herr Kollege Stinner.
Vielen Dank. - Herr Staatsminister, zunächst einmal
möchte ich deutlich zum Ausdruck bringen: Wir begrüßen sehr, dass diese Bundesregierung dem Thema Abrüstung seit ihrem Amtsantritt im Oktober 2009 in ihrer
Regierungsarbeit eine ganz herausragende Bedeutung
beimisst. Ich kann Sie nur ermuntern, diese Politik konsequent und stringent weiter zu betreiben.
Unter dem Gesichtspunkt der Konsequenz und der
Stringenz möchte ich auf Indien eingehen. Ich möchte
Ihnen, Herr Staatsminister, zur Kenntnis geben, dass
meine Fraktion, die FDP, die Situation damals sehr kritisch beurteilt hat. Wir waren über den amerikanisch-indischen Deal - ich will es einmal so sagen - entsetzt und
haben das sehr problematisiert. Ich glaube, dass die jetzige Bundesregierung unverdienterweise den Fluch der
bösen Tat erntet; denn wir erleben, dass es einem um die
Ohren gehauen wird, wenn man einmal nicht konsequent
ist.
Damit komme ich auf das Thema Iran. Wir haben im
Iran, wie wir alle wissen, eine sehr delikate Situation.
Bei meinen Gesprächen im Iran und mit Iranern hier bekomme ich das Thema des inkonsequenten Handelns
ständig um die Ohren gehauen. Ich will Ihnen nur meinen Eindruck schildern. Ich finde, dass diese Fehlentscheidung der Vorgängerregierung Ihre Arbeit heute sehr
deutlich erschwert.
Vielen Dank, Herr Kollege. Ich habe die Freude, hier
für die gesamte Bundesregierung zu sprechen, und bin
mir dabei durchaus der überzeugenden Argumentationskette des damaligen außenpolitischen Sprechers Ihrer
Fraktion bewusst.
({0})
Das ging sehr schnell. - Die Kollegin Kathrin Vogler
hat jetzt das Wort.
Vielen Dank. - Herr Staatsminister, ich möchte die
Gelegenheit nutzen, einmal nachzuhaken. Sie haben vorhin davon gesprochen, dass es Ihnen gelungen sei, die
Diskussion in den Beratungen innerhalb der NATO stärker auf die rationale Funktion von Atomwaffen zu fokussieren. Da würde mich interessieren, wo aus der Sicht
der Bundesregierung die rationale Funktion der im Augenblick in Büchel stationierten Atomwaffen liegt.
Sie haben ein bisschen versucht, sich und die Bundesregierung als Vorantreiber des überfälligen Abzugs dieser Atomwaffen darzustellen. In diesem Zusammenhang
würde mich besonders interessieren: Wer ist eigentlich
aus Ihrer Sicht in diesem Prozess der Bremser, und was
tut die Bundesregierung, um die Bremsen zu lösen und
dafür zu sorgen, dass diese Atomwaffen abgezogen werden?
Über die rationale Funktion von substrategischen Nuklearwaffen habe ich kein Wort verloren. Ich habe vorhin nur gesagt, dass die Frage der nuklearen Kurzstreckenraketen heute auch im Bündnis rational diskutiert
wird und dass man rational darüber diskutiert, welche
Funktion und welche Glaubwürdigkeit diese Raketen haben. Ich glaube, bei der Beantwortung dieser Frage sind
wir auch im Bündnis einen großen Schritt weitergekommen.
Wir sehen, dass die substrategischen Nuklearwaffen
bisher ein Teil des Verteidigungsdispositivs der NATO
sind. Das hat eine Bedeutung für Regionen, die von
Deutschland und Büchel ganz weit entfernt sind. Deswegen ist diese Diskussion im Bündnis schwierig. Wenn
sich ein Land einen schlanken Fuß machen und sagen
würde: „Wir machen das einseitig und werden darauf bestehen, dass die Waffen sofort abgezogen werden“, dann
wäre das eine schwierige Situation, die wir uns im Bündnis nicht leisten können und wollen; denn wir möchten
die Homogenität und den Zusammenhalt des Bündnisses
und wollen deswegen lieber mit Überzeugungsarbeit an
das Thema herangehen als über einseitige Schritte; solche wollen wir als fester Bestandteil dieses nordatlantischen Bündnisses nicht.
Vielen Dank. - Gibt es Fragen zu anderen Themen
der heutigen Kabinettssitzung? - Das ist nicht der Fall.
Dann beende ich die Themenbereiche der heutigen Kabinettssitzung.
Gibt es weitere Fragen an die Bundesregierung? Auch das ist nicht der Fall.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 2:
Fragestunde
- Drucksachen 17/4493, 17/4525 Gemäß Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde rufe ich die dringlichen Fragen auf Drucksache
17/4525 auf. Hier geht es um den Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung
steht die Parlamentarische Staatssekretärin Annette
Widmann-Mauz bereit.
Ich rufe die dringliche Frage 1 der Kollegin Vogler
auf:
Kann die Bundesregierung Agenturmeldungen vom 24. Januar 2011 bestätigen, wonach das Bundesgesundheitsministerium es zwar begrüßen würde, wenn deutsche Pharmafirmen
und der Großhandel dem Ersuchen aus den USA zur Lieferung des für die Todesspritze benötigten Betäubungsmittels
Thiopental-Natrium nicht nachkommen, es aber in seinem
Geschäftsbereich keine rechtlichen Möglichkeiten zur Erteilung eines Ausfuhrverbots sieht?
Frau Kollegin Vogler, es trifft zu, dass sich Minister
Dr. Rösler an deutsche Pharmafirmen und den pharmazeutischen Großhandel gewandt hat. Er hat im Hinblick
auf die Grundsatzentscheidung des Grundgesetzes und
europäischer Gremien gegen die Todesstrafe eindringlich darum gebeten, möglichen Lieferungsersuchen für
das genannte Narkosemittel nicht zu entsprechen. Vorausgegangen waren Hinweise zur Anforderung des bei
dem Todesstrafenvollzug genutzten Arzneimittels Thiopental-Natrium durch die USA in Großbritannien.
Arzneimittelrechtliche Vorschriften sehen kein Exportverbot vor, mit dem die Ausfuhr zur missbräuchlichen Verwendung eines solchen Narkosemittels wirksam
unterbunden werden könnte. Die deutschen Pharmafirmen, die Thiopental-Natrium in den Verkehr bringen,
unterstützen das Anliegen der Bundesregierung und haben erklärt, einem Exportbegehren der USA nicht nachzukommen. Entsprechende Anfragen hat es aber bislang
noch nicht gegeben.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Vogler?
Ja. - Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin. Ich
finde diese Initiative absolut begrüßenswert und denke,
es entspricht unserem Grundgesetz und den Menschenrechtsverpflichtungen, die unser Land eingegangen ist,
dafür zu sorgen, dass die Todesstrafe da, wo sie noch
verhängt wird, nicht vollstreckt werden kann.
Ich stelle mir aber schon die Frage, inwieweit die
Bundesregierung überhaupt überprüfen kann, ob diese
Appelle von den deutschen Pharmafirmen und Großhandelsunternehmen tatsächlich befolgt werden. Sie haben
gerade gesagt, es gebe eine positive Resonanz. Würde
das BMG überhaupt davon erfahren, wenn ThiopentalNatrium zum Zwecke der Vollstreckung der Todesstrafe
aus Deutschland in die USA geliefert werden würde?
Frau Kollegin, bei diesem Arzneimittel handelt es
sich um eines, das, bestimmungsgemäß verwendet,
grundsätzlich auch ausgeführt werden kann. Das Arzneimittelrecht ist an dieser Stelle so gehalten, dass ein nicht
unbedenkliches Arzneimittel - es ist hier auch kein Betäubungsmittel -, durchaus ausgeliefert werden kann.
Allerdings gibt es auch keine ethischen Regeln, durch
die dies in diesem Fall unterbunden werden könnte, weil
der bestimmungsgemäße Gebrauch von Staaten durchaus unterschiedlich interpretiert wird. Deshalb hat der
Bundesminister diese Initiative ergriffen, und er hat die
entsprechende Zusicherung der Unternehmen, die dieses
Präparat herstellen bzw. in den Verkehr bringen, erhalten.
Sie haben eine weitere Nachfrage.
Herzlichen Dank. - Thiopental-Natrium ist ja auch auf
der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der WHO.
Deswegen stellen sich natürlich die Fragen, inwieweit es
überhaupt Möglichkeiten gibt - vielleicht im Rahmen
von internationalen Verhandlungen in der WHO -, dies so
zu spezifizieren, dass gehandeltes Thiopental-Natrium
eben nicht zur Vollstreckung der Todesstrafe verwendet
werden kann, und inwieweit in Ihrem Ministerium schon
darüber nachgedacht worden ist, in der WHO über diese
Frage zu diskutieren.
Frau Abgeordnete Vogler, wir haben zunächst einmal
auch Informationen darüber eingeholt, wie andere Länder mit diesem Thema umgehen. Großbritannien, das
ebenfalls nicht an die USA ausführen will, stützt sein
Exportverbot zum Beispiel auch nicht auf arzneimittelrechtliche Regelungen. Wir halten Regelungen in anderen Bereichen in diesem Fall für sachgerechter und erörtern diese Fragen innerhalb der Bundesregierung.
Bei der zweiten dringlichen Frage geht es um den
gleichen Themenbereich, aber um Regelungen im Außenhandelsgesetz. Das betrifft den Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie.
Der Parlamentarische Staatssekretär Ernst Burgbacher
steht zur Beantwortung bereit.
Ich rufe also nunmehr die dringliche Frage 2 der Kollegin Vogler auf:
Kann die Bundesregierung Agenturmeldungen vom 24. Januar 2011 bestätigen, wonach ein Ausfuhrverbot über entsprechende Regelungen im Außenhandelsgesetz möglich sei, das
in die Zuständigkeit des Bundeswirtschaftsministeriums falle,
und welche weiteren rechtlichen und verbindlichen Schritte
jenseits des bloßen Appells des Bundesministers für Gesundheit, Dr. Philipp Rösler, erwägt die Bundesregierung - gegebenenfalls unter der Federführung des Bundeswirtschaftsministeriums -, um eine Lieferung des für die Todesspritzen in
den USA benötigten Betäubungsmittels Thiopental-Natrium
zu verhindern?
Frau Kollegin Vogler, die Bundesregierung prüft derzeit, ob es ausfuhrkontrollrechtliche Möglichkeiten zur
Beschränkung der Ausfuhr des genannten Narkosemittels gibt. Wir befinden uns also in der Prüfungsphase.
Eine Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. - Mich würde noch
interessieren, in welchem Zeitrahmen die Bundesregierung diese Prüfung vorzunehmen beabsichtigt. Können
Sie uns heute schon sagen, wann Sie mit dieser Prüfung
zu einem Ergebnis gekommen sein werden und ob Sie in
diese Prüfung auch die Rechtslage in anderen EU-Staaten bzw. die EU-Rechtslage einbeziehen?
Frau Kollegin Vogler, ich kann Ihnen jetzt beim besten
Willen keinen konkreten Termin nennen. Wir befinden
uns wirklich in der Prüfung. Es geht genau darum, dass es
seit dem Inkrafttreten der Anti-Folter-Verordnung zwar
entsprechende Möglichkeiten gibt, dass in dieser Verordnung momentan aber keine Ausfuhrbeschränkungen für
Thiopental-Natrium vorgesehen sind. Auch die in dieser
Verordnung enthaltene Öffnungsklausel erlaubt keine nationale Beschränkung der Ausfuhr dieses Arzneimittels.
Die Handelspolitik gehört zu den ausschließlichen Gemeinschaftskompetenzen. Deshalb müssen wir prüfen,
ob eine ausfuhrkontrollrechtliche Beschränkung nach
dem Außenwirtschaftsgesetz möglich ist. Das prüfen wir.
Dazu sind wir auch mit anderen Ländern im Gespräch.
Eine Nachfrage der Kollegin Bunge.
Sie wollen Möglichkeiten prüfen und in die Prüfung
mit einbeziehen, wie andere EU-Länder vorgehen. Wir
haben von Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz gehört,
dass beispielsweise in Großbritannien über eine entsprechende Regelung nachgedacht wird. Ich habe Kenntnis,
dass auch in Italien etwas in der Richtung getan werden
soll. Könnten Sie sich vorstellen, dass sich die Bundesregierung für eine europaweite Regelung einsetzt, und
könnte das Bundeswirtschaftsministerium etwas dazu
beitragen?
Frau Kollegin, wir sind auch mit den von Ihnen genannten Ländern derzeit im Gespräch. Wir haben ein
Gemeinschaftsrecht, das feste Regelungen vorsieht. Ich
bitte Sie um Verständnis: Ich glaube, es ist dem Prüfprozess förderlich, wenn wir zunächst die Prüfung abwarten. Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen; wir werden sie aber in möglichst kurzer Zeit durchführen.
Weitere Nachfragen sehe ich nicht. Dann rufe ich
nach den dringlichen Fragen die Fragen auf Drucksache 17/4493 in der üblichen Reihenfolge auf.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Dr. Werner Hoyer steht zur Beantwortung
bereit.
Ich rufe zunächst Frage 1 der Kollegin Dağdelen auf:
Welche Informationen - derzeitiger Aufenthalt, Finanzierung und Aktivitäten - hat die Bundesregierung zu den 1 000
mit deutscher Hilfe in Äthiopien ausgebildeten Polizisten, die
sich nach Informationen der Bundesregierung zuletzt in der
somalischen Provinz Gedo aufhielten, keinen Sold erhielten
und dort nach Informationen der taz ({0}) Mitte Oktober 2010 an Gefechten beteiligt waren, und wie kann die
Bundesregierung ausschließen, dass sich unter ihnen Minderjährige befinden/befunden haben?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Kollegen
Dağdelen, nach Kenntnis der Bundesregierung halten
sich die somalischen Polizisten weiterhin in der somalischen Grenzregion zu Äthiopien, genauer: in den somalischen Regionen Gedo und Bakool bzw. in Südwestsomalia, auf.
Wie in der Antwort der Bundesregierung auf Ihre
schriftliche Frage im Oktober 2010 ausgeführt, findet
noch keine Besoldung mit Mitteln statt, die von Deutschland zur Verfügung gestellt worden sind, da die betroffenen Polizisten noch nicht in Mogadischu eingesetzt werden. Die Bundesregierung hat keine Kenntnis darüber, ob
die Polizisten aus anderen Quellen besoldet werden.
Der Bundesregierung liegen keine Informationen über
die in der Fragestellung erwähnten Gefechte vor. Sie kann
daher weiter keine Aussage über die Rolle der mit deutscher Hilfe ausgebildeten Polizisten vor und nach den Gefechten sowie während der Gefechte treffen. Von den in
Äthiopien ausgebildeten Polizisten waren einige zum
Zeitpunkt der Ausbildung unter 18 Jahre alt.
Haben Sie eine Nachfrage, Frau Dağdelen?
Ja.
Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatsminister,
als im vergangenen Jahr öffentlich wurde, dass die Bundesregierung nicht ausschließen kann, dass die Bundeswehr in Uganda im Rahmen der EU-Ausbildungsmission EUTM SOM Kindersoldaten ausbildet, kündigte
Verteidigungsminister zu Guttenberg an, diese Möglichkeit - ich zitiere - „hart und deutlich“ zu überprüfen. Als
wir als Linksfraktion im September die Bundesregierung
fragten, worin diese Prüfung bestanden habe, wurde ausweichend geantwortet. Ich zitiere:
Der Bundesregierung liegen keine Anhaltspunkte
dafür vor, dass sich unter den im Rahmen des
EUTM auszubildenden somalischen Rekruten Personen unter 18 Jahren befinden.
Es ist also davon auszugehen, dass keine Überprüfung
stattgefunden hat. Auch zu Guttenberg entlarvt sich immer mehr als Ankündigungsminister.
Deshalb frage ich Sie: Wie kann das deutsche Parlament, der Deutsche Bundestag, darauf vertrauen, dass
tatsächlich intensiv geprüft wird, ob sich unter den in
Äthiopien mit deutschem Geld ausgebildeten Soldaten
Minderjährige befanden und ob es unter denjenigen, die
mit deutscher Hilfe zu Polizisten ausgebildet werden,
Minderjährige gibt?
Zunächst einmal muss ich sagen: Die Bundesregierung ist hier nach der Ausbildung von somalischen Polizisten durch Äthiopien unter deutscher finanzieller Beteiligung gefragt worden. Die Frage der militärischen
Ausbildung im Rahmen des EU-Projektes in Uganda
steht jetzt hier nicht auf der Tagesordnung. Deswegen
muss man die Dinge trennen.
Im Übrigen muss man auch zwischen Soldaten und
Polizisten trennen. Ich erinnere grundsätzlich daran:
Auch in Deutschland werden Polizisten, die jünger als
18 Jahre sind, ausgebildet. Das ist also nicht das Kernproblem. Trotzdem haben wir in dem Fall die Konsequenzen gezogen und klar gesagt: Wir müssen auch
dann, wenn wir nicht selber ausbilden, sondern wenn wir
einem Partnerland eine finanzielle Unterstützung gewähren, genauer hinschauen. Das tun wir auch.
Ich bin mit den Einzelheiten der militärischen Ausbildungsmission in Uganda nicht vertraut. Dazu bedarf es
einer Rückkopplung mit dem Verteidigungsministerium. Allerdings weiß ich, dass durchaus Konsequenzen
gezogen worden sind.
Über einen Punkt muss man sich allerdings im Klaren
sein: Man muss die Realitäten „on the ground“ zur
Kenntnis nehmen und darf sich die Personenstandsregister nicht in der Qualität vorstellen, wie sie möglicherweise in Castrop-Rauxel gegeben ist. Daher bleibt in solchen Dingen auch immer eine gewisse Restunsicherheit.
Bisweilen - das habe ich mir von Fachleuten sagen lassen - muss man Fragen dieser Art nach Augenschein
entscheiden, weil es keine belastbaren Grundlagen gibt.
Das ist die Realität des Lebens. Wir haben aber gesehen,
dass wir hier ganz vorsichtig sein müssen, um nicht in
Widersprüche zu den eigenen Grundsätzen zu kommen.
Genau das ist der Fall.
Eine Nachfrage der Kollegin Keul.
({0})
- Frau Dağdelen, Sie dürfen Ihre Nachfrage gern danach
stellen.
Vielen Dank. - Meine Nachfrage bezieht sich auch
auf die Soldatenausbildung in Uganda. Sie haben schon
gesagt, Sie könnten dazu nur begrenzt Auskunft geben.
Vielleicht können Sie das schriftlich nachreichen. Mir
jedenfalls ist heute zu Ohren gekommen, dass sich die
Rückkehr dieser ausgebildeten Kämpfer nach Mogadischu erneut aus unklaren Gründen verzögert. Offensichtlich weiß man gar nicht, wem die in Somalia überhaupt
unterstellt werden sollen. Ich stelle mir die Frage, ob es
unter solchen Umständen überhaupt verantwortlich ist,
Kämpfer auszubilden. Deswegen möchte ich Sie bitten,
Informationen nachzuliefern.
Vielen Dank. - Das mache ich gerne, sowohl was
Uganda als auch was die konkrete Situation hier angeht.
Wir reden immer gerne von African Ownership, aber
wenn wir einen afrikanischen Staat - in diesem Fall
Äthiopien - finanziell unterstützen, ohne selber in die
Ausbildung einzugreifen, dann wird hinterher sehr leicht
gesagt: Ihr hättet mehr selber übernehmen müssen. - Es
ist eine Gratwanderung, auf der man sich befindet. Das
möchte ich einmal sagen. Wir haben eigentlich nur einen
Hebel in der Hand, und den betätigen wir. Ich hoffe, dass
das nicht kritisiert wird. Wir zahlen nämlich nicht; denn
die Bezahlung des Solds der Polizisten ist auf den Fall
beschränkt - so ist es ausdrücklich vereinbart -, dass sie
in Mogadischu sind. Solange sie nicht in Mogadischu
sind, erhalten sie von uns kein Geld.
Frau Dağdelen, Sie haben noch eine zweite Nachfrage.
Danke, Frau Präsidentin, dass ich von meinem Recht
Gebrauch machen kann, meine zweite Nachfrage zu
meiner mündlichen Frage zu stellen. - Herr Staatsminister, Sie haben gesagt, die EU-Trainingsmission für Somalia in Uganda sei ohne Zusammenhang mit der deutschen Hilfe für von Äthiopien ausgebildete Polizisten.
Ich möchte kurz darauf hinweisen, dass diese Polizisten
auch eine militärische Ausbildung vom äthiopischen Militär erhalten. Ganz abgesehen von der Frage, ob es richtig ist, Deutschland bezüglich der Polizeiausbildung mit
Äthiopien, einem autoritären Regime, zu vergleichen,
würde ich schon gerne wissen: Wann und zu welcher
Gelegenheit hat die Bundesregierung eigentlich von der
spezifischen militärischen Ausbildung der Polizisten
durch das Militär zum ersten Mal erfahren, und wann hat
sie gegenüber Äthiopien, einem autoritären Regime, reagiert?
Ich weise zunächst einmal zurück, ich würde ein autoritär regiertes Land mit der Bundesrepublik Deutschland
vergleichen. Ich habe nur gesagt, dass wir einem afrikanischen Land, das uns um Hilfe gebeten hat, in einer
ganz bestimmten Situation helfen, und zwar rein finanziell. Deswegen mache ich mich mit denen noch nicht
gemein. Das muss von vornherein klar sein.
Im Übrigen muss ich ganz deutlich sagen - auch wieder ein Appell, auf die Realitäten zu achten -: Eine messerscharfe Trennlinie zwischen rein militärischen Komponenten der Ausbildung und rein polizeilich-zivilen
Komponenten jenseits der Rechtsfragen ist in einem solchen Land wie Somalia nicht möglich. Dort gibt es
Grenzbereiche. Deswegen müssen wir - selbst dann,
wenn es sich um die Ausbildung von Polizeibeamten
handelt - in Zukunft darauf achten, dass wir nicht in Widersprüche zu Grundsätzen geraten, die uns selber wichtig sind. Da gibt es manchmal etwas zu lernen; auch das
ist hier der Fall.
Frau Dağdelen, ich will Sie gerne darauf hinweisen,
dass Sie selbstverständlich von Ihrem Fragerecht Gebrauch machen können. Dafür müssen Sie sich auch
nicht bei der amtierenden Präsidentin bedanken. Allerdings: Ich behandle die Nachfragen nach dem Eingang
der Meldungen.
Ich rufe die Frage 2 auf - sie ist ebenfalls von der
Kollegin Dağdelen -:
Wie ist nach Ansicht der Bundesregierung die vom Großen Strafsenat des Kassationsgerichtshofs in Ankara beschlossene Einleitung eines Folgeverfahrens gegen die türkische Soziologin P. S. mit der Feststellung des Auswärtigen
Amts in Einklang zu bringen, die Türkei habe im Menschenrechtsbereich viele Reformen in Angriff genommen, und
diese hätten bezüglich der „Verhütung sowie zur erleichterten
Strafverfolgung und Bestrafung von Folter“ viele Verbesserungen gebracht ({0}), und gedenkt
sie, im Rahmen bilateraler Beziehungen die türkische Regierung darauf hinzuweisen, dass ein Strafprozess, bei dem sich
die Beweisführung der Staatsanwaltschaft auf erfolterte Aussagen stützt, einen Verstoß gegen Art. 15 der Anti-FolterKonvention darstellt, die auch in nationales türkisches Recht
umgesetzt wurde?
Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Zum ersten Teil Ihrer Frage antworte ich ganz kurz. Wir geben zu laufenden Gerichtsverfahren grundsätzlich keine Stellungnahmen ab.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage - das ist ja der bittere
Gehalt dessen, was Sie eigentlich ansprechen -: Der
Bundesregierung sind die Berichte in den Medien über
die Folter von Frau Selek bekannt. Die Bundesregierung
verfügt nicht über eigene Erkenntnisse hierzu. Die Bundesregierung erwartet, dass im laufenden Verfahren
keine Beweise Verwendung finden, die unter Folter erlangt worden sind.
Man muss ja sehen - das sei den Kolleginnen und
Kollegen, die mit dem Fall nicht so vertraut sind, gesagt -,
dass dieses Verfahren jetzt schon durch mehrere Instanzen gegangen ist und dass immer wieder Entscheidungen
von der nächsten Instanz aufgehoben worden sind. Insofern ist der Rechtsweg schon vor einiger Zeit beschritten
worden.
Die Bundesregierung thematisiert die Menschenrechtslage in der Republik Türkei sowohl in bilateralen
Gesprächen als auch auf EU-Ebene. Sie erkennt die Bemühungen der türkischen Regierung zur Verbesserung
der Menschenrechtslage in den letzten Jahren an. Die
überarbeitete Beitrittspartnerschaft 2008 mit der Türkei
enthält einen an die aktuelle Lage angepassten Katalog
mit konkreten Vorgaben im Menschenrechtsbereich. Vor
dem Hintergrund dieser Erwartung setzt sich die Bundesregierung auf allen Ebenen auch weiterhin für die
notwendigen weiteren Verbesserungen der Menschenrechtslage in der Türkei ein.
Ich glaube im Übrigen, dass wir nur dann, wenn wir
die von der Kommission im Fortschrittsbericht ausdrücklich festgestellten Verbesserungen anerkennen,
eine Chance haben, bei unseren türkischen Freunden tatsächlich dafür zu werben, dass sie auf diesem Weg weitermachen müssen; auf dieser Basis können wir dann
auch im konkreten Fall helfen.
Sie haben eine Nachfrage. Bitte schön.
Herr Staatsminister, Sie werden mir vielleicht zustimmen, dass die Zivilgesellschaft in der Türkei das Zitat
aus dem Fortschrittsbericht ein bisschen anders sieht; darin kommt auch eine mangelhafte Umsetzung von Menschenrechtskonventionen zum Ausdruck. Die Bundesregierung hat erklärt, dass dort große Fortschritte gemacht
worden sind. Das sehen Menschenrechtsgruppen, Gewerkschaften, Oppositionelle und viele andere Verbände
und Organisationen in der Türkei also ein bisschen anders.
Ich möchte Sie nur ganz kurz fragen: Mir ist klar, dass
die Bundesregierung zu laufenden Gerichtsverfahren
keine Bemerkungen machen möchte. Das hat sie uns
auch in der Antwort mitgeteilt. Am vergangenen Montag
aber hat die Vorsitzende der Delegation im Gemischten
Parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei, Frau Hélène
Flautre, in Istanbul eine Pressekonferenz zum Fall von
Pinar Selek gemacht, in der sie von ihrem Gespräch mit
dem dortigen Justizminister berichtet hat, der ihr auch
gesagt habe, dass man sich zum laufenden Verfahren natürlich nicht äußere. Sie hat daraufhin erklärt, dass man
das nicht erwartet - das teile ich -, man aber schon erwartet, dass Gerichte darauf hingewiesen werden, dass
auch nach türkischem Recht durch Folter erzwungene
Aussagen in Gerichtsverfahren nicht verwendet werden
dürften.
Deshalb lautet meine Frage: Hat die Bundesregierung
im letzten Jahr - das läuft seit einem Jahr; der nächste
Prozesstag ist der 9. Februar - in bilateralen Gesprächen
vielleicht einmal den Hinweis gegeben, dass man unter
Folter erzwungene Aussagen vor Gericht nicht verwenden darf?
Eindeutig ja. Ich bin im Übrigen in der Sachfrage mit
den von Ihnen zitierten NGOs sehr einig. Ich begrüße es
auch, wenn Kolleginnen aus dem Europäischen Parlament gegenüber einer Soziologin, einer Bürgerin der
Türkei, Solidarität beweisen, die mit Folter bedroht worden ist oder die der Folter unterworfen worden ist. Wenn
das der Fall ist, dann verdient diese Dame unsere Solidarität. Da sie aber weder deutsche noch EU-Staatsbürgerin ist, haben wir keine unmittelbaren Möglichkeiten,
aufgrund von internationalen Konventionen einzuwirken, zum Beispiel auf den Zugang und Ähnliches. Das
ist eine schwierige Situation.
Es ist völlig klar, dass wir nicht nur abstrakt die Verbesserung der Gesetzeslage in der Türkei sehen - da hat
die EU-Kommission nach meiner Auffassung recht: Die
Türkei hat sich sehr darum bemüht, ihre Rechtsordnung
dahin gehend weiterzuentwickeln und zu verbessern -,
sondern auch den Unterschied hinsichtlich der Implementierung; Sie haben ja von der Anwendung von Gesetzen gesprochen. Da liegt noch sehr vieles im Argen.
Das wird von der Bundesregierung in einer Vielzahl von
Gesprächskontakten, die es mit der Türkei immer wieder
gibt, zum Ausdruck gebracht.
Dann kommen wir zur Frage 3 des Kollegen Liebich:
Wie beurteilt die Bundesregierung die außenpolitischen
Wirkungen von Meldungen der New York Times vom 15. Januar 2011 über die Zusammenarbeit der USA und Israels bei
der Entwicklung des Computerwurms Stuxnet als Cyberwaffe
und dessen offenkundigen Einsatz gegen den Iran?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Das ist ein wirklich
heißes Thema. Ich glaube, dass die Veröffentlichung in
der New York Times wahrscheinlich keine Erschütterungen auslösen wird. Mancher würde sich wahrscheinlich
wundern, wenn es anders wäre, was die mögliche Zusammenarbeit angeht. Aber die Sache an sich hat natürlich eine gewisse Brisanz, und deswegen nehmen wir die
Berichte über Stuxnet und eine mögliche Beeinträchtigung des iranischen Urananreicherungsprogramms
durch diesen Computerwurm zur Kenntnis. Gesicherte
Erkenntnisse hierzu liegen uns nicht vor. Ich möchte
mich nicht an Spekulationen beteiligen.
Allgemein ist eine Bedrohung durch Cyberangriffe
zunehmend realistisch. Deshalb müssen Kapazitäten entwickelt werden. Wir müssen uns schützen, ohne die Situation zu dramatisieren. Das war übrigens auch der
Duktus der Beratungen und der Beschlüsse des NATOGipfels in Lissabon. Die NATO hat das Thema Cyber in
das neue Strategische Konzept aufgenommen - mit rein
defensiver Zielrichtung. Die Bundesregierung erarbeitet
unter Federführung des Innenministers ein nationales
Schutzkonzept.
Als zunehmend wichtigerem Thema für vertrauensund sicherheitsbildende Maßnahmen und Regeln widmet
die Bundesregierung der internationalen Abstimmung
im Bereich Cybersicherheit verstärkte Anstrengungen.
In den Vereinten Nationen beteiligt sie sich aktiv an einer Regierungsexpertengruppe zu diesem Thema und
unterstützte zusammen mit den USA erstmals als Miteinbringer die von Russland vorgelegte Resolution zu internationalen Aspekten der IT-Sicherheit. Dieses Thema
gewinnt auch im Rahmen der EU, des Europarates, im
G-8-Kreis und in der OSZE zunehmend an Bedeutung.
Auf der Ebene der EU unterstützt die Bundesregierung
Maßnahmen, die laut dem Aktionsplan für den Schutz
der kritischen Infrastruktur, der „EU-Strategie der inneren Sicherheit“ und der „Digitalen Agenda“ ausgebaut
werden sollen, und befürwortet deshalb die Verlängerung des Mandats und den Ausbau der Europäischen
Agentur für Netz- und Informationssicherheit, ENISA,
zur europäischen IT-Sicherheitsagentur.
Herr Liebich, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Staatsminister. - Ich kann gut verstehen, dass Sie sich nicht an Spekulationen beteiligen
wollen. Ihre Antwort bezieht sich allerdings auf die lobenswerte Defensive gegenüber Cyberangriffen. Die
Frage, die ich hier Bezug nehmend auf diesen Zeitungsartikel aufgeworfen habe, lautet: Von wem kommen
diese Cyberangriffe eigentlich? Ich erinnere mich gut an
die Debatten, die wir hier im Hause mit Blick auf die
NATO-Strategie geführt haben. Da wurde fraktionsübergreifend die Frage aufgeworfen: Ist es eigentlich sinnvoll, den Bündnisfall in Sachen Cyber War auszurufen?
Deshalb muss ich Sie an dieser Stelle schon noch einmal
fragen: Wie würde es die Bundesregierung bewerten,
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
wenn sie erfahren würde, dass der wichtigste Bündnispartner in der NATO, nämlich die USA, in Zusammenarbeit mit dem israelischen Geheimdienst an einem Cyberkriegsangriff beteiligt ist?
Wir haben in Lissabon hierzu eine sehr engagierte
Debatte geführt, und wir haben ein Höchstmaß an Übereinstimmung auch mit den amerikanischen Freunden gefunden. Die amerikanischen Freunde haben selber davor
gewarnt, dieses Thema jetzt im Hinblick auf die Entwicklung von Offensivkapazitäten zu dramatisieren. Sie
haben vielmehr dafür plädiert, den defensiven Charakter
unserer Bemühungen eindeutig in den Vordergrund zu
stellen. Alles andere, was man dazu jetzt sagen könnte,
ist reine Spekulation. Die wiederum hätte möglicherweise gefährliche Konsequenzen. Deswegen können Sie
nicht von mir erwarten, dass ich mich daran beteilige.
({0})
Zunächst Frau Dağdelen.
({0})
Herr Staatsminister, in diesem Zusammenhang kann
ich hier ja die dringliche Frage, die ich gestellt hatte, die
aber nicht zugelassen wurde, stellen. Es ging um die Enthüllungen von WikiLeaks und Welt Online vom 21. Januar. Demzufolge habe der Leiter der vom Bundeshaushalt finanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik,
Volker Perthes,
eine Politik der verdeckten Sabotage ({0}),
- darüber haben wir ja schon gesprochen: Stuxnet die effektiver wären als ein Militärschlag, dessen
Auswirkungen auf die Region furchtbar sein könnten,
bezüglich Irans empfohlen. In diesem Zusammenhang
möchte ich Sie gerne fragen: Teilt die Bundesregierung
diese Auffassung, und welche Konsequenzen zieht sie
daraus vor dem Hintergrund, dass die SWP vom Bundeshaushalt finanziert wird?
Sie wird vom Bundeshaushalt mitfinanziert - das ist
ganz entscheidend -, und sie wird von der Regierung
und vom Parlament als Ratgeber außerordentlich geschätzt. Das gilt für die von Ihnen genannte Person allemal. Ich kenne die konkreten Äußerungen nicht. Deswegen werde ich sie auch nicht bewerten.
Ich will aber auf jeden Fall sagen, dass wir auch Wert
darauf legen, dass es an der wissenschaftlichen Unabhängigkeit der Personen, die in der Stiftung für Wissenschaft und Politik arbeiten, keinen Zweifel gibt, sonst
wäre sie für uns alle, Parlament und Regierung, kein guter Ratgeber.
({0})
Die nächste Nachfrage. Kollege Aken.
Herr Hoyer, um jetzt nicht zu spekulieren, möchte ich
erst einmal auf die Frage von offensiver und defensiver
Ausrichtung eingehen. Es gibt in Sachen Cyber War
nichts, was man als defensive Forschung einstufen
könnte. Wir haben das im Unterausschuss diskutiert. Ein
Vertreter der Bundeswehr hat zugestimmt und eindeutig
gesagt: In dem Moment, wo Sie im IT-Bereich defensiv
forschen, müssen Sie gleichzeitig auch offensiv forschen. Sie müssen sozusagen die Viren bzw. die Würmer
entwickeln, gegen die Sie sich schützen wollen. - Das
heißt, die Trennung in Defensiv- und Offensivforschung
ist hier genauso unmöglich wie bei den biologischen
Waffen. Das macht das Ganze natürlich zu einem richtigen Problem für die Rüstungskontrolle; darauf komme
ich gleich noch zurück.
Ein weiterer Punkt, der keine Spekulation ist: Wir reden hier jetzt nicht über IT-Sicherheit, sondern über einen kleinen Ausschnitt davon. Das ist Cyber War. Es
geht bei Stuxnet ja um einen Virus bzw. einen Wurm, der
in der realen Welt katastrophale Auswirkungen zeitigen
kann. Nach allem, was wir heute wissen, ist er technisch
in der Lage, Ultrazentrifugen so aus dem Takt zu bringen, dass sie dabei möglicherweise sogar zerstört werden, wodurch die Gefahr besteht, dass radioaktives
Material freigesetzt wird. Es besteht außerdem die Befürchtung - diese ist noch nicht belegt -, dass sogar die
Funktionsfähigkeit eines Atomkraftwerkes gestört werden kann. Wir reden hier also über Viren, die katastrophale Auswirkungen auf die reale Welt haben können,
mit möglicherweise Hunderten, Tausenden oder gar
Zehntausenden betroffener Menschen. Diese Mittel zur
Kriegsführung müssen wir, was die Frage der Rüstungskontrolle angeht, eigentlich genauso bewerten wie andere Waffenarten auch.
Hieraus ergibt sich nun meine Frage an Sie, da Sie ja
gerade den abrüstungspolitischen Bericht vorgelegt haben: Welche Pläne verfolgt die Bundesregierung, um in
der Rüstungskontrolle solche Art von Cyberangriffen
- ich rede nicht über IT-Sicherheit; ich rede nicht über
defensive Forschung, sondern über Rüstungskontrolle -,
die in der realen Welt katastrophale Auswirkungen haben, zu verhindern bzw. zu kontrollieren? Welche Vorstellungen haben Sie hierzu entwickelt? Welchen Beitrag
leistet die Bundesregierung dazu?
Ich glaube, wir steigen jetzt in eine sehr grundsätzliche, teilweise sogar philosophische, auf jeden Fall intellektuell sehr anregende Debatte über Grenzlinien zwischen offensiven und defensiven Systemen ein, die im
Cyberspace anders zu ziehen sind als zwischen Offensive Counter-Air und Luftverteidigung. Hier sind die
Unterschiede eher klar, auch wenn man ein System, das
zur Luftverteidigung gedacht ist, auch einmal so anwenden kann, dass es dem Gegner schadet. In dem vorliegenden Bereich ist jedoch die Dimension der Verflechtung eine ganz andere. Deswegen kommt es darauf an,
welchen Rechtsrahmen man schafft.
Im Hinblick auf einen möglichen Angriff auf kritische
Infrastruktur in einem NATO-Land zum Beispiel müssen
wir uns die Frage stellen: Welchen Artikel des NATOVertrages aktivieren wir? Wir haben ganz bewusst gesagt, dass so ein Fall nicht automatisch ein Artikel-5-Fall
ist. Diese Schlussfolgerung wäre falsch und völlig voreilig. Diese Fragen müssen wir diskutieren. Das ist ein
sehr schwieriger und großer Komplex, in den man einsteigen muss.
Ich kann aber gar nicht umhin, Ihnen zuzugestehen,
dass ich zumindest von der Wissensaufbereitung her gar
nicht unterscheiden kann, ob ein Wurm, den ich kennen
muss, um ihm entgegenzuwirken, nicht letztlich möglicherweise auch eingesetzt werden könnte. Deswegen ist
die Frage, in welchem Rechtsrahmen wir uns bewegen,
von so entscheidender Bedeutung.
Hier stehen wir, wie ich glaube, am Beginn einer faszinierenden Debatte, die uns in den nächsten Jahren
noch in ganz andere Dimensionen führen wird. Wir würden uns aber etwas überheben, wenn wir versuchen
wollten, dies im Rahmen der Fragestunde des Deutschen
Bundestages zu lösen.
({0})
Herr Liebich.
Herr Staatsminister, gerade weil wir am Anfang einer
derart wichtigen und schwierigen Debatte stehen, müssen wir sie auch so intensiv führen.
Sie haben auf die wissenschaftliche Freiheit der Stiftung Wissenschaft und Politik hingewiesen. Diese Ansicht teile ich natürlich. Herrn Perthes habe ich auch
durchaus geschätzt. Ich frage Sie aber noch einmal konkret. Wir müssen uns dabei auch nicht auf WikiLeaks
beziehen. In der Welt vom 21. Januar 2011 war in einem
Zitat von Herr Perthes nachzulesen, dass er nach wie vor
der Auffassung ist, dass Sabotageakte gegenüber dem
Iran Militärschlägen vorzuziehen seien. Nun haben Sie
gesagt, es handele sich hierbei um einen wichtigen Ratgeber für die Politik. Sie sind die Politik. Was sagen Sie
zu diesem Ratschlag?
Ich sage zu diesem Ratschlag, dass ich eine militärische Option hier nicht sehe - und zu weiteren Optionen
nehme ich nicht Stellung.
({0})
Frau Kollegin Dağdelen, da Sie nicht selbst Fragestellerin sind, haben Sie nur die Möglichkeit einer Frage.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Ministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole Schröder bereit.
Ich rufe die Frage 4 des Kollegen Liebich auf:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der
Meldung, dass der deutsche Konzern Siemens mit seiner
Kompetenz und Arbeit faktisch in die Vorbereitung des Cyberangriffs einbezogen wurde?
Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnisse vor,
dass Siemens irgendwie in die Vorbereitung des genannten Cyberangriffs einbezogen wurde.
Haben Sie eine Nachfrage?
Ja, natürlich habe ich dazu eine Nachfrage. - Ich kann
nichts dagegen tun, dass Sie sagen, darüber wüssten Sie
nichts. Aber ich kann Sie natürlich fragen, wie Sie als
Bundesregierung die Risiken beurteilen und ob Sie bereit sind, mit der Firma Siemens auch über diese Risiken
zu sprechen, die darin bestehen, eine Atomanlage, um
die es sich ja handelt - wir führen in Deutschland ohnehin eine Debatte darüber, ob diese Anlagen sicher genug
sind -, durch einen Computervirus lahmzulegen. Sehen
Sie diese Risiken, und sind Sie bereit, mit der Firma Siemens darüber ins Gespräch zu kommen, damit auch die
Firma Siemens diese Risiken sieht und darauf achtet,
dass sie nicht in entsprechende Vorhaben einbezogen
wird?
Wir sehen diese Risiken nicht.
({0})
Zu genau diesen Fragen haben wir auch schon in einer
Antwort schriftlich Stellung genommen und ausgeführt,
dass diese Risiken nicht vorhanden sind.
Herr van Aken.
Herr Schröder, so geht das nicht. Wir haben vor einigen Wochen eine Frage gestellt und darauf die schriftliche Antwort bekommen, dass Siemens das nicht wissentlich gemacht habe, sondern unwissentlich. Diese
Bundesregierung hat also offensichtlich sehr wohl Informationen darüber, was Siemens in Idaho gemacht hat,
was Siemens nicht in Idaho gemacht hat, ob Siemens
- wissentlich oder nicht wissentlich - Informationen
über Schwachstellen in seinem Computersystem weitergegeben hat oder ob Siemens das nicht getan hat. Dann
können Sie hier doch nicht einfach sagen: Wir wissen
gar nichts darüber. - Das ist ein Widerspruch, den Sie
einmal intern aufklären müssen. Ich halte das für ein
schlechtes Beispiel von Informationspolitik der Bundesregierung.
Auch wenn Sie persönlich jetzt nichts darüber wissen,
ob Siemens da irgendetwas gemacht hat oder nicht, frage
ich Sie: Wenn das Unternehmen Siemens Informationen
weitergegeben hat, die dazu geführt haben, dass eine
derart gefährliche Waffe, die in der realen Welt Tausende
oder sogar Zehntausende von Menschen bedrohen
könnte, entwickelt werden konnte, handelt es sich dabei
um einen Rüstungsexport, der meiner Ansicht unter das
Außenwirtschaftsgesetz fällt. Das heißt, dass es dafür
eine Rüstungsexportgenehmigung geben müsste. Liegt
diese Rüstungsexportgenehmigung vor, oder liegt sie
nicht vor?
Die Steuerungssysteme von Siemens sind ja nicht
über eine Schwachstelle des Siemens-Systems fehlgesteuert worden, sondern über eine Schwachstelle im
Windows-Betriebssystem. Selbstverständlich hat das
BSI direkt nach Bekanntwerden von Stuxnet mit Siemens Kontakt aufgenommen und genau diese Fragen
diskutiert. Uns ist nicht bekannt, dass Siemens daran beteiligt war, dass es zur Entwicklung eines solchen Virus
gekommen ist. Insofern kann ich Ihre Fragen auch nicht
nachvollziehen.
Frau Dağdelen.
Nachdem wir nun aufgeklärt haben, dass die Bundesregierung doch Kenntnis von der Sache mit Siemens hat
- schon aufgrund der schriftlichen Beantwortung der
von meinem Kollegen Jan van Aken erwähnten Frage -,
würde ich hier gerne noch einmal die eigentliche Frage
stellen. Nachdem Sie gesagt haben, dass das mit dem
Windows-Betriebssystem zusammenhängt, möchte ich
gerne wissen, ob die Bundesregierung aufgrund von Aktivitäten - vielleicht auch nachrichtendienstlicher, wenn
es sie denn gegeben hat - Schlussfolgerungen gezogen
hat oder ziehen wird - vielleicht ist man ja noch im Klärungsprozess -, wie man künftig mit solchen Fällen umgeht. Sie werden wohl zustimmen können, dass man,
auch wenn es nicht wissentlich oder willentlich geschehen ist, trotzdem dafür Sorge tragen muss, dass das in
Zukunft nicht mehr vorkommt. Welche Aktivitäten hat
die Bundesregierung in dieser Hinsicht entfaltet?
Es ist eine ständige Aufgabe, insbesondere des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, unsere Infrastruktur sicher zu machen und dafür zu sorgen,
dass sie nicht offen für solche Schadprogramme ist. Das
ist eine technische Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen; aber insbesondere das Bundesamt für Sicherheit in
der Informationstechnik hat hier besondere Kompetenzen und arbeitet täglich daran, mögliche Einfallstore für
Schadsoftware zu identifizieren und die Unternehmen
im entsprechenden Fall zu warnen.
Herr Liebich.
Herr Staatssekretär, es geht in diesem Fall gar nicht
darum, dass wir uns vor Angriffen schützen müssen.
Vielmehr geht es darum, dass unter Umständen eine
deutsche Firma an einem Angriff gegenüber einem anderen Land beteiligt ist. Sie haben gesagt, das werde ständig überprüft. Deshalb frage ich Sie mit Blick auf die
Konsequenzen für die Rüstungsexporte: Ist es nicht angesichts dieses neuen Themas an der Zeit, die Richtlinien für den Rüstungsexport dahin gehend zu überarbeiten, dass künftig nicht mehr nur Panzer oder Raketen
eine besondere Behandlung erfahren, sondern auch für
den Fall eines Cyber War neue Regeln geschaffen werden, die dann auch strenger als bisher überwacht werden?
Ich hatte Ihnen bereits gesagt, dass uns überhaupt
keine Erkenntnisse vorliegen, dass Siemens in Bezug auf
die Vorbereitungen der Cyberangriffe in irgendeiner
Weise einbezogen wurde. Von daher macht es auch keinen Sinn, jetzt Schlussfolgerungen aus der These zu ziehen, dass Siemens doch einbezogen worden sei.
Jetzt kommen wir zur Frage 5 der Kollegin Kolbe:
Mit welchen konkreten Zielen und Forderungen wird die
Bundesregierung in den Verhandlungen in der EU auftreten,
um im Sinne der deutschen Wirtschaft und der Arbeitnehmer/
Arbeitnehmerinnen Nachbesserung am Kommissionsvorschlag
„Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den
Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen Beschäftigung“ und „Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von
Drittstaatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung“ zu erzielen?
Die Verhandlungen zu den Richtlinienvorschlägen
der Kommission zu Saisonarbeitnehmern und zu konzerninternen Entsendungen stehen noch am Anfang. Auf
Ebene der Ratsarbeitsgruppe „Migration“ haben die Beratungen im September 2010 begonnen. Das Meinungsbild unter den Mitgliedstaaten ist noch uneinheitlich, die
Position des Europäischen Parlaments bisher nicht bekannt. Aus Sicht der Bundesregierung bilden die Vorschläge der Kommission eine akzeptable Grundlage für
die Verhandlungen im Rat und zwischen Rat und EuroParl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
päischem Parlament. Sie unterstützt insbesondere die
Zielsetzung der Intra-corporate-transferees-Richtlinie,
die konzerninterne Entsendung von Führungskräften
oder Fachkräften mit unternehmensspezifischen Kenntnissen in Unternehmen der Europäischen Union zu erleichtern. Bei der Ausgestaltung im Einzelnen besteht jedoch noch Klärungs- und Änderungsbedarf. Daher
beteiligt sich die Bundesregierung konstruktiv an den
Beratungen und versucht, möglichst viele Mitgliedstaaten für die deutschen Anliegen zu gewinnen.
Über ihre Verhandlungsposition und den Fortgang der
Beratungen auf Ratsebene unterrichtet die Bundesregierung den Deutschen Bundestag regelmäßig entsprechend
den einschlägigen Vorgaben wie zum Beispiel in der
vorletzten Sitzung des Innenausschusses. Die Bundesregierung setzt sich bei beiden Richtlinien insbesondere
dafür ein, dass die Mitgliedstaaten ausreichend Handlungsspielraum für eine arbeitsmarktorientierte Steuerung der Zuwanderung auf nationaler Ebene haben. Zudem achtet die Bundesregierung darauf, dass sowohl
Arbeits- und Sozialstandards gewahrt werden als auch
die Systeme der sozialen Sicherung nicht unangemessen
belastet werden. Wichtig ist uns außerdem, dass neue
Bürokratiekosten vermieden werden, die zum Beispiel
durch die Einführung eines neuen Aufenthaltstitels oder
die Pflicht zur Übermittlung detaillierter Statistiken entstehen würden.
Bei der Richtlinie zur konzerninternen Entsendung ist
noch unklar, wie das Zulassungsverfahren genau ausgestaltet werden soll. Zuletzt haben im Abstand von einem
Monat sowohl der belgische als auch der ungarische
Ratsvorsitz jeweils einen vollständig überarbeiteten Vorschlag zur Ausgestaltung des Verfahrens gemacht. Schon
daran ist erkennbar, dass das Zulassungsverfahren viele
Fragen aufwirft und noch eingehender Beratung bedarf.
Aus Sicht der Bundesregierung ist es wichtig, dass den
Mitgliedstaaten ausreichende Kontrollmöglichkeiten
verbleiben, sowohl bei der Entsendung eines ICT von einem Drittstaat in einen Mitgliedstaat als auch bei der
Weiterentsendung von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat.
Bei der Richtlinie zu Saisonarbeitnehmern setzt sich
die Bundesregierung insbesondere dafür ein, dass eine
mitgliedstaatliche Steuerung der Zuwanderung mit Blick
auf einzelne Drittstaaten und auf bestimmte Branchen
sowie Kontingentierungen möglich bleiben. Insgesamt
sollte klargestellt werden, dass ein Anspruch auf Zulassung nicht besteht, sondern dass die Entscheidung im Ermessen der Mitgliedstaaten verbleibt. Zudem sollte die
nationale Verfahrensautonomie nicht unnötig eingeschränkt werden.
Frau Kolbe, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Herr Staatssekretär Dr. Schröder, erst einmal vielen
Dank für Ihre ausführliche Antwort. Eine solch detaillierte Antwort ist auch angemessen im Hinblick auf die
Bedeutung der Sachfragen, die wir hier besprechen. Die
Richtlinien, die die Zuwanderung aus Drittstaaten regeln, haben weitgehende Auswirkungen auf die Arbeitsmarkt- und Lohnpolitik in Deutschland. Insbesondere
bei der konzerninternen Entsendung ist es ja so, dass innerhalb eines Konzerns Personen aus Drittstaaten entsandt werden, ohne dass die dazugehörigen Sachbegriffe
und Termini definiert sind.
Ich möchte zu einem speziellen Punkt, den Sie schon
angesprochen haben, nachfragen. Es ist so, dass Weiterentsendungen von einem europäischen Mitgliedstaat in
einen anderen Mitgliedstaat bisher durchaus möglich sind
und dass für den Fall die Bedingungen der Richtlinie
nicht gelten. Das heißt, Deutschland hat die Möglichkeit,
Einfluss auf die Entsendung zu nehmen. Deutschland hat
aber kein Mitspracherecht mehr, wenn es darum geht,
welche Drittstaatenangehörigen von anderen EU-Staaten
aus weiterentsandt werden können. Das würde dem widersprechen, was die Bundesregierung letzte Woche zum
Thema reglementierte Zuwanderung von Fachkräften
vorgetragen hat. Da hat man sich vehement gegen ein
Punktesystem ausgesprochen. Hier wird einer nichtreglementierten Zuwanderung - zugegebenermaßen auch von
Fachkräften - Tür und Tor geöffnet, ohne die Möglichkeit
zu haben, über die Löhne mitzubestimmen.
Welche Verhandlungsposition vertritt die Bundesregierung in diesem Punkt genau? Wird zum Beispiel befürwortet, nicht mehr eine Entsendung, sondern eine
Versetzung anzustreben?
Um auf Ihre Befürchtung, dass es über die Weiterentsendung durch andere Mitgliedstaaten zu einem Lohndumping kommen kann, einzugehen, will ich sagen, dass
es uns wichtig ist, eine eigene Prüfung vornehmen zu
können. Es gibt also keinen Automatismus bei der Weiterwanderung nach Deutschland. Auf diese Weise können
wir laxe Zulassungsbedingungen anderer Mitgliedstaaten
verhindern. Das ist unsere klare Verhandlungsposition.
Herr Kilic, bitte.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, nach heutigem
Stand lässt der Richtlinienvorschlag der Kommission zu,
dass ein deutscher Konzern in einem Drittstaat wie
China ein Tochterunternehmen gründen kann und von
dort aus Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach
Deutschland konzernintern entsenden kann. Nach einer
gewissen Zeit kann er diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch eine Gruppe anderer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer austauschen. Würden Sie mir zustimmen, dass eine solche Regelung den Konzernen die
Möglichkeit eröffnet, ohne Rücksicht auf den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats selbstständig zu operieren?
Wäre eine Einwanderung nach einem Punktesystem
nicht viel besser, weil dann das Land die Steuerung, was
den Arbeitsmarkt betrifft, in der eigenen Hand behält?
Sinn und Zweck dieser Richtlinie ist ja, es den Konzernen zu ermöglichen, relativ bürokratiearm beispielsweise notwendige Führungskräfte aus einem Drittstaat
für gewisse Zeit nach Deutschland einwandern zu lassen. Das ist nach deutschem Recht ja schon sehr einfach
möglich. Ein Punktesystem wäre hier ein Rückschritt.
Das würde das Ganze viel mehr erschweren. Insofern ist
für mich nicht nachvollziehbar, dass Sie jetzt das Punktesystem ins Spiel bringen. Wichtig ist für uns, dass es
nicht zu einem Lohndumping kommt und dass das, was
Sie eben beschrieben haben, genau nicht passiert, dass
nämlich eine Unternehmung eines Konzerns in einem
Drittland Arbeitskräfte einstellt, um sie dann gleich nach
Europa weiterzuentsenden. Hier müssen in der Richtlinie entsprechende Schranken eingezogen werden, zum
Beispiel in Form einer Regelung, dass dieser Beschäftigte schon eine gewisse Zeit im Konzern beschäftigt
sein muss. Zurzeit wird vorgeschlagen, hierfür in der
Richtlinie eine Frist von zwölf Monaten vorzusehen.
Frau Kolbe.
Weiterer Bestandteil der Richtlinie in der jetzigen
Form ist, dass vor allen Dingen Flächentarifverträge,
also Mindestlöhne und großflächige Tarifverträge, für
Personen, die zum Beispiel konzernintern entsandt werden, zur Anwendung kommen sollen. Wie würden Sie
die Situation angesichts dessen einschätzen, dass es in
den neuen Bundesländern in vielen Bereichen keine Flächentarifverträge gibt, sondern maximal Haustarifverträge, und in vielen Betrieben noch nicht einmal Haustarifverträge? Wie wird die Bundesregierung vorgehen,
um weiterem Lohndumping in dieser Bevölkerungsgruppe und bei Personen, die in solche Betriebe entsandt
werden, vorzubeugen?
Es ist wichtig, dass wir Lohndumping verhindern.
Wir wollen verhindern, dass durch diese Richtlinie Billigbeschäftigte, nur weil sie in einem Konzern mit Unternehmungen in einem Drittland beschäftigt sind, nach
Deutschland kommen. Dafür ist es notwendig, wie bereits gesagt, dass wir die Arbeitsbedingungen bei der
Wanderung prüfen. Dafür setzen wir uns bei den Verhandlungen über die Richtlinie ein. Zunächst gelten bei
der ersten Einreise die Bedingungen des Staates, in dem
derjenige, der nach Europa kommt, innerhalb des Konzerns das erste Mal beschäftigt ist.
Die eigentliche Frage ist: Wie kann man verhindern,
dass derjenige einfach innerhalb des Konzerns nach
Deutschland weiterwandert und es dann unter Umständen bei uns zu Lohndumping kommt? Es bedarf einer erneuten Prüfung durch die deutschen Behörden, damit genau das verhindert wird.
Frau Dağdelen.
Es wird ja nicht nur befürchtet, dass es durch diese
zwei Richtlinien zu Lohndumping kommt, sondern befürchtet wird auch eine Schlechterstellung bezüglich der
Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
zum Beispiel auch im Zusammenhang mit der Konzernentsenderichtlinie, dass Unternehmen Beschäftigte aus
Unternehmensteilen in Drittstaaten in Unternehmensteile innerhalb der Europäischen Union schicken können, für die dann aber die Bestimmungen und Regelungen des betreffenden Drittstaats gelten. Das hieße, dass
das Herkunftslandprinzip der ursprünglichen BolkesteinRichtlinie, der Dienstleistungsrichtlinie gelten würde,
gegen das die Gewerkschaften und viele andere Verbände ja Sturm gelaufen sind und das erst einmal verhindert wurde.
Deshalb sind meine Fragen in diesem Zusammenhang: Erstens. Wie wollen Sie eigentlich sicherstellen,
dass dieses Herkunftslandprinzip, das wir ja nicht wollen, verhindert wird?
Das Zweite ist: Wie wollen Sie auch vor dem Hintergrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die ab Mai gelten
wird, sicherstellen, dass durch solche Richtlinien der Europäischen Kommission nicht zusätzlich Lohn- oder Sozialdumping befördert wird?
Schon jetzt ist es möglich, bestimmte Geschäftsteile
in ein anderes Land auszulagern. Das werden wir auch
mit dieser Richtlinie nicht verhindern. Für uns ist es
wichtig, dass wir die Standards, die wir in Deutschland
haben, sichern. Das erreichen wir, indem wir eine eigene
Prüfung vornehmen und einen Automatismus verhindern. Das entspricht unserer Verhandlungslinie, die wir
mit Nachdruck verfolgen werden. Wir sind jetzt am Anfang; viele Fragen sind noch offen. Das sehen Sie schon
allein daran, dass sich das Europäische Parlament dazu
noch nicht geäußert hat. Wir werden die Fragen im
Laufe des Verhandlungsverfahrens klären.
Damit kommen wir zur Frage 6 des Kollegen Memet
Kilic:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, das Punktesystem sei ein klassisch sozialistischer Zuteilungsansatz, und,
wenn ja, warum hat sie dann die Einwanderung von Jüdinnen
und Juden aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion durch ein Punktesystem geregelt?
Aus Sicht der Bundesregierung ist ein Vergleich des
in der Frage angesprochenen Punktesystems mit dem
Zuwanderungsverfahren für jüdische Zuwanderer nach
§ 23 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes nicht zielführend,
da Letzteres nicht dem Migrationsziel der Anwerbung
von Fachkräften dient, sondern der „Wahrung besonders
gelagerter politischer Interessen der Bundesrepublik
Deutschland“.
Im Hinblick auf die Geeignetheit eines Punktesystems zur Steuerung des Fachkräftezuzugs werden derzeit
im politischen Raum unterschiedliche Standpunkte artikuliert. Innerhalb der Regierungskoalition finden Gespräche über die Frage des Regelungsbedarfs im Hinblick auf die Fachkräftemigration statt.
Herr Kilic.
Vielen Dank für die Beantwortung. - Kollege Dr. Uhl
von der Fraktion der CDU/CSU meinte in der Parlamentsdebatte vom 20. Januar hinsichtlich unseres Antrages zur Einführung eines Punktesystems, so etwas sei
letztlich „ein klassisch sozialistischer Zuteilungsansatz“.
Teilen Sie diese Einschätzung von Herrn Uhl?
Herr Uhl hat sich zu einem von Ihnen beantragten
Punktesystem im Bereich der Fachkräftemigration geäußert. Er wollte mit dieser Äußerung deutlich machen,
dass ein Punktesystem wesentlich bürokratischer als das
jetzige System ist, weil das Punktesystem vom Staat umgesetzt werden muss, weil Kontingente festgelegt werden müssen und weil eine Bürokratie benötigt wird, um
das Punktesystem auszuführen und die zu verteilenden
Punkte zu gewichten. Darum ging es bei der Aussage
des Kollegen Uhl.
Herr Kilic, Sie haben eine weitere Nachfrage.
Kann man dann nicht feststellen, dass die Bundesrepublik Deutschland schon einmal den klassisch sozialistischen Verteilungsansatz angewandt hat?
Dieses Punktesystem wird nur in einem kleinen Bereich angewandt, nämlich bei der Feststellung der Integrationsprognose. Da findet ein gewichtetes Punktesystem Anwendung. Das ist aber nicht mit der Frage
vergleichbar, ob wir für die Fachkräftezuwanderung ein
Punktesystem brauchen oder nicht.
Wir setzen uns für ein möglichst unbürokratisches
System ein. Für uns ist es wichtig, dass wirklich die
Fachkräfte nach Deutschland kommen, die am Ende einen Arbeitsplatz finden. Wir wollen nicht, dass Fachkräfte angeworben werden und über ein Punktesystem
einfach nach Deutschland kommen, ohne sicherzustellen, dass für sie Arbeitsplätze vorhanden sind, denn dadurch würde am Ende mehr Arbeitslosigkeit entstehen.
Die Fragen 7 und 8 des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert
werden schriftlich beantwortet.
Damit verlassen wir diesen Geschäftsbereich.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Max Stadler zur Verfügung.
Die Frage 9 des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele
wird ebenso wie die Frage 10 der Abgeordneten Katja
Keul schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 11 des Kollegen Jerzy
Montag:
Welche Auffassung vertritt die Bundesregierung in der
Frage, wie viele Fälle von der Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte vom 13. Januar 2011 ({0}) betroffen sind, wo zwar nach einigen Medienberichten das Urteil vom 13. Januar 2011 nicht
mehr als die 20 Fälle derer betreffen soll, die derzeit in nachträglicher Sicherungsverwahrung sitzen ({1}), während nach anderen
Berichten nicht weniger als „Tausende Strafgefangene“ betroffen sind, die die formellen Voraussetzungen nachträglicher
Sicherungsverwahrung auch nach der Reform der Sicherungsverwahrung weiterhin erfüllen ({2})?
Herr Kollege Montag, bei der in Ihrer Frage angesprochenen Entscheidung vom 13. Januar 2011 handelt
es sich um eine Einzelfallentscheidung. Sie betrifft die
Unterbringung des Beschwerdeführers aufgrund eines
Landesgesetzes, das aber bereits im Jahr 2004 vom Bundesverfassungsgericht wegen eines Verstoßes gegen Kompetenznormen für verfassungswidrig erklärt wurde. Zufällig handelt es sich im Übrigen um einen Fall, der
seinen Ausgang beim Landgericht Passau genommen
hatte, dem ich früher angehört habe. Mit den Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung im
Strafgesetzbuch nach § 66 b StGB befasst sich die Entscheidung dagegen nicht, sodass keine weiteren Fälle
unmittelbar betroffen sind.
Herr Montag, Sie haben eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Stadler, ich
muss Sie korrigieren: In dem betreffenden Fall M. ging
es erstmals um eine Entscheidung über Sicherungsverwahrung nach bayerischem Recht, aber zu diesem Zeitpunkt ging es um eine Entscheidung über eine nachträgliche Sicherungsverwahrung nach altem Recht; denn
inzwischen war der Strafgefangene bzw. Sicherungsverwahrte schon übergeführt worden.
Aber das war nicht der Sinn und auch nicht der Wortlaut meiner Frage. Auf meine Frage haben Sie nicht geantwortet. Bei der Frage 11, jedenfalls nach meiner
Liste, ging es um Folgendes: Die Bundesregierung hat
die nachträgliche Sicherungsverwahrung zum 1. Januar
2011 geändert und radikal für die Zukunft zusammengeschnitten. Teilt die Bundesregierung die Auffassung,
dass es sich nach dieser Reform in der Zukunft nur noch
um die Fälle von 20 bis 30 Personen handeln wird, die
mit dem Problem der nachträglichen Sicherungsverwahrung konfrontiert sein werden? Oder wird es sich um
Tausende von Fällen auf Jahrzehnte hinaus handeln, wie
in der Presse in den letzten Tagen zu lesen war? Das war
der Wortlaut meiner Frage.
Lieber Herr Kollege Montag, darauf gehe ich gerne
ein. Zunächst haben Sie zu Recht dargestellt, dass die
Bundesregierung das Rechtsinstitut der nachträglichen
Sicherungsverwahrung sehr kritisch bewertet hat. Die
nachträgliche Sicherungsverwahrung ist bekanntlich
während der Regierungszeit von SPD und Grünen ab
dem Jahr 2004 eingeführt worden. Wir waren der Auffassung, dass sie sich nicht bewährt hat, und haben sie
daher pro futuro abgeschafft. Allerdings hat eine Mehrheit des Bundestages auf Vorschlag unseres Hauses die
Entscheidung getroffen, dass sie für Altfälle weiterhin
gelten soll.
Nun haben Sie auf Zahlen rekurriert, die unter anderem von Professor Kreuzer in einem Aufsatz erwähnt
worden sind. Dazu habe ich folgende Erkenntnisse: In
der Tat ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung nur
in ungefähr 20 Fällen angeordnet worden. Dabei handelt
es sich immer um sogenannte Altfälle, bei denen die entsprechenden Taten und Verurteilungen vor dem von RotGrün eingeführten Rechtsinstitut der nachträglichen Sicherungsverwahrung lagen. Darüber hinaus ist selbstverständlich denkbar, dass es weitere Altfälle aus der Zeit
vor 2004 gibt, bei denen bisher noch keine nachträgliche
Sicherungsverwahrung beantragt oder entschieden worden ist, und dass es zudem eine weitere Gruppe von Fällen einer nachträglichen Sicherungsverwahrung geben
kann, nämlich die sogenannten Neufälle aus dem Zeitraum von 2004 bis 31. Dezember 2010. Zu diesem Zeitpunkt haben wir das Rechtsinstitut abgeschafft.
Es liegen uns keine belastbaren Erkenntnisse darüber
vor, wie viele Fälle das insgesamt sind. Herr Professor
Kreuzer hat sich bei seiner Aussage, dass es sehr viele
Fälle sein könnten, auf die formellen Voraussetzungen
bezogen. Das ist zutreffend. Hinzukommen musste aber,
dass sogenannte Nova, neue Tatsachen, während der
Haftzeit entstanden waren und eine Gefährlichkeitsprognose gestellt werden musste. Hier gelten aber nicht
mehr alle Tatbestände, die früher einmal gegolten haben.
Da das Verfahren also mehrere Faktoren umfasst, kann
man keine präzise Vorhersage treffen, wie viele solcher
Anordnungen aufgrund alten Rechts noch getroffen werden könnten.
Herr Montag, Sie haben eine weitere Nachfrage? Bitte sehr.
Eine weitere Nachfrage habe ich, Frau Präsidentin. Herr Kollege Stadler, ich persönlich und auch meine
Fraktion stimmen der Einschätzung der Bundesregierung zu, dass sich die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht bewährt hat. Es ist richtig - wir haben die
gleichen Zahlen -, dass sie in nicht mehr als 20 bis
25 Fällen angewandt worden ist. Wir wären froh gewesen, wenn die Bundesregierung oder die Koalition die
nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht nur ad futurum,
sondern auch für die Fälle, die Sie zum Schluss geschildert haben, abgeschafft hätte.
Ich frage Sie ganz konkret: Wir haben einen Täter, der
im November 2010 mehrere einschlägige schwerste
Straftaten begeht. Diese Taten werden dem Täter erst in
14 Jahren zugerechnet. In 14 Jahren bekommt der Täter
für diese Taten dann eine Strafe von 14 Jahren. Von
heute aus gesehen in 28 Jahren soll er entlassen werden.
Wenn kurz vor der Entlassung in 28 Jahren die formellen
Voraussetzungen für eine nachträgliche Sicherungsverwahrung gegeben sind - es Nova gibt und die Gefährlichkeitsprognose durch zwei Sachverständige unterstützt wird -, würde das, wenn wir nichts ändern, dazu
führen, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung,
die die Koalition jetzt abgeschafft hat, in 28 Jahren immer noch angewendet wird? Stimmen Sie dem zu?
Herr Kollege Montag, über diese Frage haben wir bei
der Reform der Sicherungsverwahrung vor wenigen Wochen hier im Plenum, im Ausschuss und in Berichterstattergesprächen ausführlich gesprochen. Es liegt nun einmal im Wesen eines Stichtags, ab dem man ein neues
System einführt, dass ein altes System und alte Regelungen weiter gelten können. Sie haben versucht, ein
argumentum ad absurdum aufzubauen; das ist immer
eine starke Argumentationsfigur.
In der Tat waren wir uns bei unserer Entscheidung darüber im Klaren, dass man Fälle bilden kann, bei denen
noch für einen längeren Zeitraum die Möglichkeit der
nachträglichen Anordnung einer Sicherungsverwahrung
besteht, da das alte Recht noch bis zu dem Zeitpunkt
fortgilt, ab dem wir es durch ein völlig neues System ersetzt haben.
Ob es in einem solchen Fall wirklich zu einer Anordnung kommen würde, kann jetzt natürlich noch niemand
vorhersagen. Das hängt von vielen Faktoren ab. Sie haben einige zu Recht aufgezählt.
Dann kommen wir zu Frage 12, ebenfalls des Kollegen Montag:
Mit welcher Begründung wird die Bundesregierung gegen
das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 13. Januar 2011 ({0}),
wonach die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht mit
der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist,
Beschwerde einlegen ({1})?
Es geht wieder um denselben Vorgang, und Herr Kollege Montag will wissen, mit welcher Begründung die
Bundesregierung Beschwerde einlegen wird. Es ist
erneut darauf hinzuweisen, dass es sich bei dieser Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 13. Januar 2011 um eine Einzelfallentscheidung gehandelt hat, die sich, wie ich vorhin schon
dargestellt habe, auf ein vom Bundesverfassungsgericht
für verfassungswidrig erklärtes Landesgesetz bezogen
hat.
Das spricht dafür, dass man keinen Rechtsbehelf dagegen einlegt. Aber die Bundesregierung hat noch nicht
abschließend entschieden, ob sie einen Rechtsbehelf einlegen wird oder nicht. Demgemäß vermag ich die Frage
nach der Begründung jetzt nicht zu beantworten, da auch
die Möglichkeit besteht, dass gar kein Rechtsbehelf eingelegt wird.
Herr Montag, eine Nachfrage?
Ja, eine Nachfrage habe ich dazu. Es ist erfreulich,
dass die Bundesregierung diese Frage noch prüft und
sich nicht vorschnell festgelegt hat, wie wir es in der
Presse als Forderung der Koalition gelesen haben.
Ich frage Sie, Herr Kollege Stadler, ob folgende Tatsachen bei dieser noch zu fällenden Entscheidung eine
Rolle spielen werden: Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte hat ja in der allseits bekannten Entscheidung zur Sicherungsverwahrung vom Dezember
2009 die Bundesrepublik Deutschland verurteilt. Die
Bundesregierung ist entgegen dem Rat vieler Fachleute
in die Beschwerde gegangen. Im Mai 2010 mussten wir
feststellen, dass die Große Beschwerdekammer die Beschwerde der Bundesrepublik Deutschland bzw. der
Bundesregierung nicht einmal zur Sachentscheidung angenommen hat.
Danach hat die damalige deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Renate Jaeger
in der deutschen Presse ein Interview gegeben, in dem
sie zum Verhalten der Bundesregierung bei der Einlegung von Beschwerden sagt: Wir werden so lange entscheiden, bis die deutsche Regierung begriffen hat. Werden diese Überlegungen eine Rolle spielen, wenn es
darum geht, eventuell wieder Beschwerde gegen die
Entscheidung einzulegen?
Herr Kollege Montag, bei der Entscheidung aus dem
Jahr 2009, die Sie erwähnt haben, ging es um einen
Sachverhalt, bei dem der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot angenommen hat. Bei dem gleichen Sachverhalt hatte zuvor das Bundesverfassungsgericht einen
solchen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot nicht
angenommen. Es handelte sich um eine grundlegende
Frage, bei der zwei höchst angesehene oberste Gerichte
unterschiedliche Entscheidungen getroffen haben. Ich
glaube, dass die Bundesregierung nicht dafür getadelt
werden kann, dass sie mit einem Rechtsbehelf diese
schwierige, vom Bundesverfassungsgericht anders bewertete Frage einer endgültigen Klärung zuführen
wollte.
Sie haben zu Recht erwähnt, dass es bei dieser Entscheidung geblieben ist. Am 13. Januar 2011 sind andere
Parallelfälle entschieden worden. In diesen Fällen bietet
es sich an, keinen Rechtsbehelf einzulegen, weil so gestaltete Fälle schon im Jahr 2009 rechtskräftig entschieden worden sind.
Bei dem anderen Fall, dem Fall aus Passau, hängt die
Entscheidung davon ab, ob man ihn als Einzelfall bewertet, der für die Zukunft keine besondere Bedeutung hat,
oder ob man ihm eine grundsätzliche Bedeutung beimisst und deswegen eine Überprüfung herbeiführen
möchte. Das gilt es abzuwägen. Diese Prüfung ist, wie
gesagt, im Gange und noch nicht abgeschlossen.
Haben Sie eine weitere Nachfrage? - Das ist nicht der
Fall.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Steffen
Kampeter bereit.
Die Fragen 13 und 14 der Abgeordneten Paus werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 15 des Kollegen Schick auf:
Welche Überlegungen gibt es seitens der Bundesregierung, eine Umschuldung für überschuldete Staaten wie Griechenland und Irland vorzunehmen, insbesondere mithilfe der
European Financial Stability Facility ({0})?
Herr Kollege Schick, die Antwort der Bundesregierung lautet wie folgt: Die Bundesregierung sieht keinen
Bedarf, bei Griechenland oder Irland eine Umschuldung
vorzunehmen. Der Internationale Währungsfonds hat
auch in seinem jüngsten Review bestätigt, dass beide
Staaten nicht, was in Ihrer Frage unterstellt wird, überschuldet sind.
Herr Schick, Sie haben eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Bedeutet das, dass
die Bundesregierung es ablehnt, eine solche Umschuldung im Rahmen europäischer Regelungen vorzunehmen, wenn es nicht zu einer Verschlechterung der Konditionen für diese Länder kommt?
Herr Kollege Schick, mit Ihrer Frage versuchen Sie,
die Bundesregierung in das Reich der Spekulationen zu
treiben. Die Bundesregierung hat weiterhin das primäre
Ziel, das Marktvertrauen in Griechenland und Irland zu
stärken. Deswegen lasse ich mich zu Spekulationen
nicht hinreißen.
Haben Sie eine weitere Nachfrage, Herr Schick?
Ja.
Bitte schön.
Es handelte sich mitnichten um eine Spekulation.
Auch wenn Sie derzeit nicht davon ausgehen, dass eine
Umschuldung nötig ist, könnte sich die Situation in Zukunft verschlechtern. Nach diesem Fall habe ich aber
nicht gefragt. Ich habe gefragt, ob die Bundesregierung
im Fall einer Nichtverschlechterung nicht bereit wäre,
im Rahmen eines europäischen Comprehensive Package
oder anderer Kompromissregelungen einer Umschuldung zuzustimmen, zum Beispiel über die EFSF oder
auf anderem Wege, solange sich die Konditionen nicht
verschlechtern.
Herr Kollege Schick, in meiner ersten Antwort auf
Ihre Frage habe ich darauf hingewiesen, dass wir - auch
angesichts der Analyse des Internationalen Währungsfonds - derzeit überhaupt gar keine Notwendigkeiten sehen, über eine solche Maßnahme nachzudenken. Deswegen ist alles, was darüber hinausgeht - zumindest nach
dem Verständnis der Bundesregierung -, rein spekulativ
und kann durch die Bundesregierung oder durch mich
hier nicht beantwortet werden.
Wir kommen zur Frage 16 des Kollegen Schick:
Welche Überlegungen gibt es seitens der Bundesregierung, in einem künftigen Verfahren der europäischen Schuldenhilfe die von den betroffenen Ländern zu zahlenden Zinsen gegenüber dem jetzigen Satz zu verringern ({0})?
Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Schick, die Antwort der Bundesregierung auf Ihre Frage lautet wie folgt: Die Ausgestaltung
der Zinskonditionen bei einem zukünftigen Verfahren
für europäische Schuldenhilfen könnten sich grundsätzlich an folgenden Aspekten orientieren: Schuldentragfähigkeit, Anreizwirkung zur Rückkehr in den Kapitalmarkt, Höhe des IWF-Zinssatzes oder Höhe der
Einstandskosten der Geberländer. Die Bundesregierung
hat bislang noch keine abschließende Haltung zur Frage
der zukünftigen Ausgestaltung der Zinskonditionen entwickelt. Von daher können wir hier lediglich unsere
grundsätzlichen Überlegungen dazu darlegen.
Herr Schick, Sie haben eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Danke. - Ich würde gerne noch eine Frage bezüglich
der Zinsen im Zusammenhang mit dem Euro-Rettungsschirm stellen. Herr Brüderle hat geäußert, dass die Kredite unterschiedliche Zinssätze haben könnten. Mich
würde interessieren, ob es Überlegungen vonseiten der
Bundesregierung gibt, in unterschiedlichen Fällen der
Hilfe unterschiedliche Zinssätze festzusetzen, oder ob
diese einheitlich sein sollen? Ich nehme an, Sie wissen,
auf welchen Vorschlag von Herrn Brüderle ich Bezug
nehme?
Ja. Herr Brüderle und die Bundesregierung insgesamt
sind der Auffassung, dass jeder Einzelfall und damit
auch die Gestaltung der Konditionen möglicher Hilfsaspekte individuell zu betrachten sind. Welche Konsequenzen das für zukünftige Programme hat, können wir noch
nicht sagen, da derzeit, Gott sei Dank, keine weiteren
Anträge auf Hilfe vorliegen. Es ist auch von der Ausgestaltung des permanenten Mechanismus abhängig, dessen Grundzüge wahrscheinlich beim Europäischen Rat
im März 2011 festgelegt werden. Der Meinungsbildungsprozess der Bundesregierung dazu ist noch nicht
abgeschlossen.
({0})
Haben Sie eine weitere Nachfrage? - Das ist nicht der
Fall.
Wir kommen zur Frage 17 des Abgeordneten Thomas
Gambke:
Ist die Bundesregierung der Meinung, dass die effektive
Kapazität des derzeitigen Rettungsmechanismus ausreicht,
oder müsste das verfügbare Volumen durch Kredite der EuroStaaten erhöht werden ({0})?
Herr Kollege Gambke, Ihre Frage möchte die Bundesregierung wie folgt beantworten: Wir beobachten die
Entwicklung an den Finanz- und Anleihemärkten sehr
genau und sind entschlossen, als Bundesregierung das
Notwendige umzusetzen, um die Stabilität der WirtParl. Staatssekretär Steffen Kampeter
schafts- und Währungsunion als Ganzes zu sichern. Dabei vertritt die Bundesregierung die Auffassung, dass
alle Maßnahmen zur Euro-Stabilisierung in eine Gesamtstrategie der Krisenbewältigung eingebettet werden
müssen, über die noch zu entscheiden sein wird. Eine
solche Gesamtstrategie beinhaltet beispielsweise die Anstrengungen der Länder, eine stärkere wirtschaftspolitische und finanzpolitische Koordinierung vorzunehmen.
Die Europäische Finanzstabilitätsfazilität hat im letzten Jahr ihre Arbeit aufgenommen. Gestern hat es eine
erste Tranche gegeben. Die Ergebnisse waren insoweit
außerordentlich erfreulich, als dass es ein starkes Interesse an dieser Tranche gegeben hat. Die Europäische
Finanzstabilisierungsfazilität ist als Finanzierungsinstrument für Kredithilfen ausgestattet worden. Die EuroStaaten, sofern sie nicht selber Nehmer eines Kredits
sind, stellen Garantien bereit, um Kredite abzusichern.
Das Ziel der Bundesregierung ist es, diesen Mechanismus effizient und effektiv zu nutzen.
Nach der Mechanik der Fazilität stehen die beschlossenen 440 Milliarden Euro in der Realität möglicherweise nicht vollumfänglich zur Verfügung, auch vor dem
Hintergrund von Ratingüberlegungen. Unsere Überlegungen, wie wir, gegebenenfalls auch nach einer Bewertung der ersten Marktergebnisse der Fazilität, weiter
vorgehen, sind noch nicht abgeschlossen. Eine Entscheidung wird im Rahmen der Überlegungen, die ich in meiner Antwort auf die Frage des Kollegen Schick im Hinblick auf die Entscheidungen des Europäischen Rates
erwähnt habe, im Gesamtkontext zu fällen sein.
Herr Gambke, haben Sie eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Vielen Dank für die Antwort, Herr Staatssekretär. Sie haben, soweit ich das verstanden habe, davon gesprochen, dass die Bundesregierung alle Maßnahmen
prüft. Nun haben aber wesentliche Vertreter der Bundesregierung gerade gegenüber Euro-Bonds bisher eine
stark ablehnende Haltung an den Tag gelegt. Nach der
kürzlich erfolgten sehr erfolgreichen Lancierung der
Euro-Anleihe, bei der es zu einer achtfachen Überzeichnung kam, stellt sich allerdings die Frage, ob das Thema
Euro-Bonds nicht doch noch einmal aufgegriffen werden
sollte. Meine konkrete Frage lautet: Kann die Bundesregierung wirklich ausschließen, in Zukunft mit gemeinschaftlichen Anleihen, den sogenannten Euro-Bonds,
dazu beizutragen, die Schwierigkeiten im europäischen
Währungssystem zu stabilisieren?
Herr Kollege, zuerst einmal bedeutet das erfreuliche
Emissionsergebnis von gestern, dass die von der Bundesregierung unterstützte Einrichtung dieser Fazilität ein
Erfolg ist. Die vor der ersten Emission gelegentlich zu
hörenden Zweifel, dass das alles nichts taugt, dass nachgebessert werden und über alternative Instrumente nachgedacht werden muss, haben sich zumindest im Rahmen
der ersten Emission nicht bewahrheitet. Deswegen sieht
sich die Bundesregierung in ihrer Politik bestätigt.
Zum zweiten Teil Ihrer Frage. Dass wir alle Maßnahmen prüfen, stimmt. Wir haben die Sozialisierung der
Zinsunterschiede - das ist nichts anderes als die von Ihnen vorgeschlagene Emission von Euro-Anleihen - aus
unserem Portfolio ausgeschlossen, weil wir glauben,
dass die Zinsdifferenz - die Frau Bundeskanzlerin hat
dies mehrfach deutlich gemacht - ein Bestandteil einer
umfassenden Anreizstrategie hin zu mehr Solidität der
Staatsfinanzen der betroffenen Länder sein kann. Wir
glauben, dass mit der Emission von Euro-Anleihen genau dieser Anreiz verloren geht. Das ist Ergebnis und
Stand unserer bisherigen Überlegungen und Prüfungen
im Hinblick auf dieses Instrument.
Haben Sie eine weitere Nachfrage, Herr Gambke?
Ja. - Ich würde an dieser Stelle gerne eine konkrete
Nachfrage stellen. Sie sprachen von einer Sozialisierung
der Zinsen. Da die kürzlich begebene Anleihe durch den
gesamten Euro-Raum abgesichert ist, sind auch in diesem Fall ein niedriger Zinssatz und, wenn Sie so wollen,
eine Sozialisierung der Zinsen zu beobachten. Könnte
man dies nicht als Argument im Zusammenhang mit den
sogenannten Euro-Bonds ins Felde führen? Hier sehe ich
einen Widerspruch.
Bei der temporären Fazilität nutzen wir den Ratingvorteil insbesondere der mit Triple A gerateten Staaten.
Durch eine stabile Emission ermöglichen wir die Refinanzierung von Staaten, die diesen Bonitätsvorteil nicht
haben. Dabei knüpfen wir die teilweise Weiterreichung
dieses Bonitätsvorteils an eine strikte Konditionalität: an
ein umfassendes wirtschaftspolitisches Anpassungsprogramm.
Die Vorschläge zu Euro-Bonds gehen gerade nicht davon aus, dass es ein konditioniertes wirtschaftspolitisches Anpassungsprogramm gibt, sondern sie gehen von
der Vereinheitlichung eines europäischen Zinses für
Staatsanleihen ohne wirtschaftspolitische Konditionierung aus. Das ist für den deutschen Steuerzahler eher ein
Nachteil und für die betroffenen Länder, die nach Auffassung der Märkte offensichtlich eine nicht adäquate
Wirtschaftspolitik betreiben, kein hinreichender Anreiz,
diese Wirtschaftspolitik zu ändern.
Eine Nachfrage von Herrn Schick.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade - sinnvollerweise, wie ich finde - im Zusammenhang mit der Euro9674
Bond-Diskussion etwas differenziert. Man hat manchmal den Eindruck, dass Mitglieder der Bundesregierung
etwas ablehnen, was wir schon beschlossen haben; wir
haben nämlich gerade europäische Anleihen emittiert.
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung das unterstützt hat. Deswegen ist es sinnvoll, da zu differenzieren.
Meine Nachfrage: Sie haben Euro-Bonds ausgeschlossen, weil Zinsdifferenzen nivelliert und sozialisiert
werden. Bezieht sich der Ausschluss auch auf EuroBonds, bei denen es gerade nicht zu dieser Nivellierung
kommt, weil man, wie zum Beispiel nach dem Vorschlag
von Herrn Juncker und Herrn Tremonti, nach Blue und
Red Bonds differenziert? Somit würde nach wie vor differenziert, und die europäischen Verträge würden eingehalten.
Herr Kollege Schick, ich habe in meinen bisherigen
Antworten versucht, deutlich zu machen, dass wir den
Beitrag nicht in einem einzelnen Instrument, sondern in
einem Gesamtpaket sehen, um die Stabilität des Euro
insgesamt und die Wiederherstellung von solider Staatsfinanzierung in der Breite aller Euro-Staaten zu garantieren.
Die Diskussion, die Sie ansprechen, greift verschiedene Facetten einzelner Instrumente auf. Wir haben sie
in unserem Gesamtkonzept bewertet und kommen zu der
Schlussfolgerung, die wir Ihnen vorgetragen haben,
nämlich dass ein integriertes Gesamtkonzept, das sich an
strikteren Fiskalregeln, an einer effektiveren und transparenteren Bankenstruktur sowie an einer Effektivierung
des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts und
der temporären Fazilität ausrichtet, ein geeignetes Instrument ist. Andere Instrumente, die der Bundesregierung zum Erreichen des Ziels, nämlich der Stabilität der
Euro-Zone insgesamt und des Abbaus der Staatsverschuldung, als adäquates Mittel der Wahl zur Verfügung
stehen, sehen wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht als
notwendig oder überzeugend an.
Eine Nachfrage der Kollegin Haßelmann.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
nach Ihren Ausführungen würde ich gerne etwas nachfragen. Das heißt also, dass Sie die Vorschläge von
Herrn Juncker im Rahmen eines Gesamtpaketes nicht
ablehnen?
Frau Kollegin Haßelmann, Sie und ich kommen aus
Ostwestfalen-Lippe. Wir wissen mit den schwierigen
Lebensumständen, die wir Ostwestfalen-Lipper manchmal haben, angemessen umzugehen. Ich habe nicht gesagt, dass ich eine Facette in der einen oder anderen Art
ablehne, sondern ich habe - positiv definiert - gesagt:
Wir haben ein Gesamtmaßnahmenpaket. Darüber hinaus
halten wir keine Maßnahmen für geboten.
Zu den Euro-Bonds habe ich ausgeführt, dass wir sie
als Instrumente ablehnen und nicht für geeignet halten.
Mit dem, was wir alternativ dagegensetzen, können wir
unser Ziel besser erreichen.
({0})
- Wenn ich die Nachfrage noch beantworten darf: Frau
Kollegin Haßelmann, ostwestfälisch klar: Zu Juncker ist
alles gesagt.
Wir danken der Bundesregierung für die Einblicke in
die Herkunftsländer und die entsprechenden Verhaltensweisen.
Ich komme zur Frage 18 der Abgeordneten Barbara
Höll:
Teilt die Bundesregierung die neue Rechtsauffassung des
Bundesfinanzhofs ({0}), wonach bei der Prüfung auf außergewöhnliche Belastungen nach § 33 des Einkommensteuergesetzes, EStG, zur Geltendmachung von Krankheitskosten nun eine ärztliche Bescheinigung nicht mehr nötig ist, sodass entsprechende
Verwaltungsanweisungen in R 33,4 EStR - Einkommensteuer-Richtlinien - anzupassen sind, und wie viele Steuerpflichtige sind nach Schätzungen der Bundesregierung von
dieser positiven Rechtsprechung betroffen?
Frau Kollegin Höll, das BFH-Urteil vom 11. November 2010 wurde dem Bundesminister der Finanzen und
dem Ministerium am 19. Januar 2011 für eine Veröffentlichung im Bundessteuerblatt zugeleitet. Sie sind also
mit Ihrer Frage relativ flott. Deswegen muss ich Ihnen
leider mitteilen: Vor einer abschließenden Erörterung
mit den obersten Finanzbehörden der Länder kann die
Bundesregierung keine Aussage darüber treffen, welche
Schlussfolgerungen aus dieser Entscheidung zu ziehen
sind. Die Gespräche dauern an. Im Übrigen liegen der
Bundesregierung keine Angaben vor, wie viele Steuerpflichtige von der neuen Rechtsprechung betroffen sind.
Frau Höll, Sie haben eine Nachfrage. Bitte sehr.
Danke, Herr Staatssekretär. - Ich gehe davon aus,
dass Sie, wenn Sie zu einem abschließenden Ergebnis
gekommen sind, in der Lage sind, die Zahlen mitzuliefern und mich entsprechend zu informieren.
Ich möchte nachfragen. Dabei geht es ja um außergewöhnliche Belastungen. Für Menschen mit chronischen
Krankheiten, für Menschen mit Behinderungen und für
Menschen, die Pflegebedürftige betreuen, gibt es im
Steuerrecht die Möglichkeit, Pauschbeträge anzusetzen.
Diese Pauschbeträge wurden in den letzten Jahren - es
geht hier um § 33 b Einkommensteuergesetz - nicht angepasst.
Wir haben jetzt den Referentenentwurf zum Steuervereinfachungsgesetz 2011 von Ihnen bekommen. Die
Länder hatten angeregt, dass die Pauschbeträge im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens angehoben werden
sollen. Die Bundesregierung hat diesen Gedanken nicht
aufgegriffen. Mich würde interessieren, warum Sie das
nicht getan haben.
Frau Kollegin Höll, durch die Debatte in den vergangenen Wochen hat sich gezeigt, dass das Gesetzgebungsverfahren zur Steuervereinbarung äußerst sensibel ist nicht nur aufgrund des Kräftespiels im Parlament, sondern das gilt auch im Verhältnis zwischen Bund und
Ländern.
Wir haben uns angesichts der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel für die Steuervereinfachung positiv verbindlich darauf geeinigt, die Maßnahmen ins Gesetzgebungsverfahren zu übernehmen - nach meiner
Kenntnis im Übrigen dann auch zwischen Bund und
Ländern abgestimmt -, die derzeit in dem Entwurf stehen. Frau Kollegin Höll, dass es darüber hinaus weitere
Wünsche gibt, ist der Bundesregierung sehr wohl bekannt. Wir akzeptieren aber die jetzt zwischen dem Bund
und den Ländern und innerhalb der Koalition getroffenen Entscheidungen, und wir werden sie dann im Regierungsentwurf dem Deutschen Bundestag zur abschließenden Beschlussfassung vorlegen. Es steht dem
Gesetzgeber jederzeit frei, mithilfe einer parlamentarischen Mehrheit davon abzuweichen.
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
Aber ja.
Bitte.
Danke, Frau Präsidentin. - Das Steuervereinfachungsgesetz ist ja tatsächlich ein sehr sensibles Thema,
wie Sie am Beginn zu Recht betont haben. Gerade deshalb möchte ich nachfragen.
Sie haben vor, die Kinderbetreuungskosten im Steuervereinfachungsgesetz anders als jetzt zu behandeln.
Wenn sie erwerbsbedingt sind, können sie jetzt als außergewöhnliche Belastung veranschlagt werden. Diesen
Zusammenhang zwischen erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten und Erwerbstätigkeit - es ist ja eine
Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit, dass das Kind
betreut wird - wollen Sie auflösen, und die Kosten sollen bei den Sonderausgaben veranschlagt werden.
Das kann man natürlich tun. Ich frage die Bundesregierung aber, warum sie das grundlegende Prinzip der
Verbindung zwischen der Erwerbstätigkeit und den erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten kappen will,
was dazu führt, dass es zu einer geringeren Entlastung
der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler kommen wird.
Das war ja wohl nicht unbedingt das Ziel, das mit dem
Steuervereinfachungsgesetz verfolgt werden sollte.
Ist Ihnen bewusst, dass durch diese Regelung die
Steuerlast etlicher Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
letztendlich deshalb ansteigt, weil die entsprechende Berechnung in den Kommunen erfolgt und das dort sehr
unterschiedlich steuerlich behandelt wird? Das heißt, es
entstehen ihnen Nachteile; denn die Kinderbetreuungskosten werden ja unter Zugrundelegung der Einkünfte
aus nichtselbstständiger Arbeit berechnet. Ist Ihnen das
bewusst? Das kann im Einzelfall bedeuten, dass Mütter
und Väter 50 Euro und mehr im Monat zusätzlich für einen Kitaplatz zahlen müssen. Ist das die Zielstellung, die
Sie mit Ihrer Steuervereinfachung verfolgen?
Frau Kollegin Höll, Ihnen ist zweifelsohne bekannt,
dass es noch keinen Kabinettsbeschluss gibt. Wir befinden uns derzeit in der Vorstufe; wir können nur den Referentenentwurf zum Steuervereinfachungsgesetz diskutieren. Ich kann Ihnen versichern, dass die von Ihnen
hier vorgetragenen Aspekte in der Zeit zwischen dem
Referentenentwurf, dem Kabinettsbeschluss und der Beschlussfassung im Deutschen Bundestag sehr wohl bewertet und dann einer angemessenen und sachgerechten
Entscheidung zugeführt werden.
Einem Kabinettsbeschluss und einem Bundestagsbeschluss vermag ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorzugreifen - eigentlich nie -, sodass ich Sie bitte, Ihre Argumente in den parlamentarischen Beratungen noch einmal
vorzutragen.
Die Kollegin Antje Tillmann hat eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie meine Information
bestätigen, dass wir bei der Diskussion über die Frage,
welche Regelungen aus dem Steuervereinfachungsgesetz rückwirkend zum 1. Januar 2011 in Kraft gesetzt
werden, genau über die Thematik gesprochen haben, die
die Frau Kollegin Höll angesprochen hat, dass wir nämlich den Kommunen die Gelegenheit geben wollen, die
Bemessungsgrundlagen so zu verändern, dass es zu den
Auswirkungen, die sie dargestellt hat, nicht kommt? Wir
haben auch schon im Vorwege mit Kommunen gesprochen und signalisiert, dass es hier Probleme gibt. Soweit
ich weiß, hat sich das Ministerium unserer Meinung angeschlossen und gerade deswegen die Abzugsfähigkeit
der Kinderbetreuungskosten erst zum 1. Januar 2012 ins
Gesetz geschrieben.
Frau Kollegin, da ich Ihren Sachverstand als Steuerberaterin sehr hoch einschätze, vermute ich, dass die
Bundesregierung das bestätigen kann.
({0})
Damit kommen wir zur Frage 19 der Kollegin
Dr. Barbara Höll:
Welche neuen Erkenntnisse, Ergebnisse bzw. Fortschritte
zur Vereinfachung und Systematisierung der steuerlichen Berücksichtigung von Ausbildungskosten hat die Bundesregierung erzielt, und wie viele Steuerpflichtige haben in den Jahren 2004 bis 2006 basierend auf der Einkommensteuerstatistik
entsprechende Kosten nach § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG erklärt
({0})?
Auch hier will ich versuchen, die Kollegin Höll durch
mein intensives steuerrechtliches Wissen zu beeindrucken. Die Antwort auf die Frage lautet wie folgt: Die
einkommensteuerrechtliche Behandlung von Berufsausbildungskosten wurde durch das Gesetz zur Änderung
der Abgabenordnung und weiterer Gesetze vom 21. Juli
2004 neu geordnet. Der Bundesfinanzhof ist auf die
Neuordnung mit einer Entscheidung vom Juni 2009 eingegangen und hat den im Rahmen der Neuordnung eingeführten § 12 Nr. 5 Einkommensteuergesetz verfassungskonform ausgelegt.
Zur Einbeziehung der Rechtsfolgen aus der allgemeinen Anwendung des BFH-Urteils und zur Berücksichtigung notwendiger redaktioneller Änderungen wurden
die bisherigen BMF-Rundschreiben - sie datierten vom
4. November 2005 und vom 21. Juni 2007 - zur Neuordnung der Ausbildungskosten nach einer Abstimmung
mit den obersten Finanzbehörden der Länder klarstellend überarbeitet und zusammengefasst.
Das neue BMF-Rundschreiben vom 22. September
2010 ist im Bundessteuerblatt veröffentlicht. Das Ergebnis dieser Maßnahme ist die konsequente und klare Umsetzung der BFH-Rechtsprechung zugunsten der Studierenden mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung. Die
Entlastung beläuft sich auf mehrere Millionen Euro jährlich.
Die zu § 10 Abs. 1 Nr. 7 Einkommensteuergesetz erbetenen Daten liegen der Bundesregierung nicht vor.
Haben Sie eine Nachfrage?
Ja.
Bitte sehr.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, vielleicht können Sie die Zahlen noch erheben; sonst kann
ich auch eine Kleine Anfrage dazu machen. Das könnte
man vielleicht absprechen.
Mich interessiert trotzdem, wie Sie in der nächsten
Zeit das Chaos beenden wollen, das durch den Wegfall
der Wehrpflicht, die unbestimmte Zukunft des Zivildienstes und die Tatsache entsteht, dass in einigen Bundesländern durch die Verkürzung der Schulzeit erstmals
ein doppelter Jahrgang Studierender das Studium beginnen wird. Die Unübersichtlichkeit ist für viele Studierende, die durch Studiengebühren und notwendige Anschaffungen wie Computer und Ähnliches sehr stark
belastet sind, groß. Für den normalen Studienanfänger
oder die Studienanfängerin ist zum Beispiel nicht klar,
wie verfahren wird, wenn sie eine abgeschlossene Berufsausbildung haben und ein Studium beginnen.
Sie haben im Steuervereinfachungsgesetz Vereinfachungen vorgesehen. Dazu gehört der Wegfall der Obergrenze, sodass ein Studierender, der unter 20 Stunden
pro Woche arbeitet, nicht mehr angeben muss, wie viel
er arbeitet. Das sieht zunächst wie eine Vereinfachung
aus. Für denjenigen, der eine abgeschlossene Berufsausbildung hat, gilt das nicht; für ihn gilt die Obergrenze
weiter. Das wird der Student nicht nachvollziehen können.
Eine weitere Frage ist, inwieweit Sie bei den Regelungen Missbrauchsmöglichkeiten sehen. Studierende,
die zum Beispiel Kapitaleinkünfte haben, aus denen sie
ihren Lebensunterhalt decken und die oberhalb des steuerfreien Existenzminimums liegen, müssen diese ebenfalls
nicht mehr angeben und erhalten zusätzlich Kindergeld.
Ich weiß nicht, ob das die Zielsetzung der Regierung ist.
Haben Sie sich diese Fragen, zum Beispiel nach Missbrauchsmöglichkeiten durch die Steuervereinfachung
beim Kindergeldantrag für Studierende nach dem Wegfall der Obergrenze, gestellt?
Frau Kollegin Höll, zunächst einmal glaube ich nicht,
dass die von mir dargelegte Entscheidung des Bundesfinanzhofs zu irgendwelchen ungeordneten Verhältnissen führt. Lassen Sie mich erst einmal die konkreten
Auswirkungen erläutern.
Der Bundesfinanzhof hat mit dieser Entscheidung den
Anwendungsbereich des Abzugs solcher Kosten als Betriebsausgaben und Werbungskosten durch die verfassungskonforme Regelung ausgedehnt. Als Erstausbildung
vor einem Studium ist danach auch eine nichtakademische Ausbildung zu verstehen. Damit können Studentinnen und Studenten die Kosten eines Studiums nicht nur
nach einem abgeschlossenen Erststudium, sondern auch
nach einer nichtakademischen Ausbildung als Betriebsausgaben oder Werbungskosten einkommensteuerrechtlich geltend machen. Erforderlich ist selbstverständlich, dass die übrigen Voraussetzungen für den
Abzug als Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten vorliegen. Wichtig ist dabei der konkrete, hinreichende Zusammenhang mit einer späteren Berufstätigkeit. Führen
die Studienkosten zu nicht ausgeglichenen negativen
Einkünften, können sie gegebenenfalls in späteren Veranlagungszeiträumen über den Verlustvortrag einkommensmindernd berücksichtigt werden. So viel zur Erklärung dieser Regelung.
Was den Teil Ihrer Frage angeht, der sich auf zukünftige Beratungen des Steuervereinfachungsgesetzes bezieht, möchte ich wie schon bei der vorherigen Frage darauf hinweisen, dass wir zurzeit lediglich einen
Referentenentwurf erörtern können und eine in allen Details abgestimmte Kabinettsauffassung, über die die
Bundesregierung hier berichten könnte, noch nicht vorliegt. Ich bitte Sie, die von Ihnen aufgeworfenen Fragen
in die parlamentarischen Beratungen einzubringen.
Sie haben noch eine zweite Frage.
Das hatte ich befürchtet.
Danke, Frau Präsidentin. - Ich vermute, dass die
Antwort auf die zweite Frage ähnlich ausfallen wird,
nämlich dass Sie hier nichts sagen und nur auf die parlamentarischen Beratungen verweisen werden. In dem angesprochenen Themenkomplex des Steuerrechts besteht
die Notwendigkeit der Vereinfachung. Sie haben Ihre
Entwürfe. Mich interessiert im Rahmen dieser Beratungen der tatsächliche Stand bei der Einführung der elektronischen Einkommensteuererklärung. Dieses Stichwort geistert häufig durch die Presse. Mich würde
interessieren, wie weit Sie als Regierung in dem Beratungsprozess über die elektronische Steuererklärung tatsächlich schon gekommen sind.
Frau Kollegin Höll, die Meinung der Bundesregierung zur elektronischen Steuererklärung ist ausgesprochen positiv. Ob wir das im Gesetzgebungsverfahren zur
Steuervereinfachung aufgreifen, dazu kann ich Ihnen
zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Aussage machen,
ich bin aber gerne bereit, Ihnen schriftlich Informationen
zukommen zu lassen, damit auch diese zweite Nachfrage
nicht ungehört in den Annalen des deutschen Parlamentarismus versickert.
Es gibt noch eine Nachfrage von Frau Tillmann. Bitte
sehr.
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, dass die
Regierung in der Frage der elektronischen Einkommensteuererklärung, die zum Rahmenkonsens gehört, zusammen mit den Ländern ein Projekt mit dem Ziel auf
den Weg gebracht hat, in den nächsten Jahren die elektronische Bearbeitung von Steuererklärungen einzuführen, und dass darüber den Finanzministerkonferenzen in
regelmäßigen Abständen Bericht erstattet wird? Können
Sie uns gleichzeitig zusagen, dass uns auch im Finanzausschuss von diesen Gesprächen berichtet wird?
Frau Kollegin, natürlich kann ich Ihnen das bestätigen. Im Zweifel wissen Sie das sogar besser als ich. Darüber hinaus gibt es einige technische Probleme, die in
diesem Kontext noch zu beraten sind. Ich sage Ihnen
hiermit verbindlich zu, dass der kundige Kollege
Hartmut Koschyk im Finanzausschuss in einer der
nächsten Sitzungen in Abstimmung mit dem Finanzausschussvorsitzenden darüber Bericht erstatten wird.
Die Frage 20 der Kollegin Bettina Kudla wird schriftlich beantwortet.
Herr Staatssekretär Kampeter, dann danke ich Ihnen
herzlich.
Gibt es nichts mehr zu Steuern, Frau Präsidentin?
Nein, wir sind mit dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen fertig, wenigstens für heute. Ich
danke Ihnen für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie auf. Für die Beantwortung der Fragen steht der Herr Parlamentarische
Staatssekretär Ernst Burgbacher zur Verfügung.
Die Frage 21 des Kollegen Holmeier, die Fragen 22
und 23 des Kollegen Krischer sowie die Fragen 24 und
25 des Kollegen Fell werden schriftlich beantwortet.
Bei den Fragen 26 und 27 des Kollegen Dörmann verfahren wir nach unserer Geschäftsordnung.
Ich komme nun zur - vorgezogenen - Frage 49 des
Kollegen Frank Schwabe:
Welche konkreten Handlungen hat die Bundesregierung
bis jetzt unternommen, um das Integrierte Energie- und Klimaprogramm, IEKP, der Bundesregierung zu evaluieren, und
wann werden Institute und/oder Fachexperten mit der Evaluierung des integrierten IEKP beauftragt?
Herr Staatssekretär, bitte.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Schwabe,
die Bundesregierung hat im Rahmen des Zehn-PunkteSofortprogramms zum Energiekonzept beschlossen, dass
sie prüfen wird, wie das Monitoring des Energiekonzepts mit dem des IEKP in Übereinstimmung gebracht
werden kann. Diese Prüfung läuft im Augenblick. Sie ist
aber noch nicht abgeschlossen.
Ihre Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, würden Sie mir zustimmen, dass
das, was Sie im Koalitionsvertrag vereinbart haben,
nämlich eine Evaluierung des Programms, das 2007 in
Meseberg beschlossen wurde und 29 Maßnahmen vorsieht, jetzt von Ihnen nicht eingehalten wird? Im Koalitionsvertrag ist ja festgelegt worden, dass eine solche
Evaluierung bis zum Ende des Jahres 2010 stattgefunden
haben soll.
Herr Kollege Schwabe, wir halten selbstverständlich
den Koalitionsvertrag ein. Die Überprüfung ist uns auch
wichtig. Aber wir haben nun zum ersten Mal - im Gegensatz zu allen Vorgängerregierungen - ein umfassendes Energiekonzept verabschiedet. Das hat die Bundesregierung mit Kabinettsbeschluss vom 27. September
2010 auf den Weg gebracht. In diesem Energiekonzept
wurde festgelegt, dass das Monitoring des Energiekonzepts alle drei Jahre stattfinden soll, erstmals 2013.
Nun schien es uns sinnvoll - ich bin überzeugt, dass
dies das einzig sinnvolle Vorgehen ist -, die Überprüfung des IEKP mit dem Monitoring zusammenzuführen.
Es macht überhaupt keinen Sinn, das eine isoliert vom
anderen zu betreiben. Da sind wir im Augenblick in der
Abstimmung. Ich bitte Sie aber um Verständnis. Ich habe
Ihnen das Datum bewusst genannt: Das Energiekonzept
wurde am 27. September 2010 beschlossen. Es muss
jetzt schon seriös erarbeitet werden, wie das Monitoring
erfolgen und wie die Überprüfung des IEKP darin integriert werden kann.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, sehen Sie sich in der Lage, ein
Datum zu benennen, wann wir mit der Evaluierung rechnen können, oder können Sie uns zumindest einen Zeitplan nennen, wie es ablaufen soll?
Ich habe Ihnen gerade gesagt, wir sind jetzt in der
Überprüfung. Wir schauen, wie wir das zusammenführen können. Bitte haben Sie Verständnis - Sie wissen das
aus eigener Erfahrung -, dass solche Prozesse nicht mit
einem konkreten Enddatum versehen werden können.
Aber wir werden zeitnah darangehen.
Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beantwortung.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Hier steht der
Parlamentarische Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel
zur Verfügung.
Die Frage 28 der Kollegin Dr. Martina Bunge, die
Fragen 29 und 30 des Kollegen Harald Weinberg, die
Fragen 31 und 32 der Kollegin Sabine Zimmermann sowie die Fragen 33 und 34 des Kollegen Klaus Ernst werden schriftlich beantwortet.
Damit rufe ich die Frage 35 des Kollegen Memet
Kilic auf:
In welchem Bereich erkennt die Bundesregierung einen
Fachkräftemangel, und welche einwanderungspolitischen
Maßnahmen erachtet sie für notwendig, um diesem zu begegnen?
Herr Staatssekretär, bitte.
Als Erstes möchte ich feststellen, dass die Bundesregierung derzeit keinen akuten allgemeinen und flächendeckenden Fachkräftemangel sieht.
Zweitens gibt es allerdings in Bezug auf bestimmte
Qualifikationen, Regionen und Branchen Fachkräfteengpässe. So hat die Bundesagentur für Arbeit in einer aktuellen Analyse Fachkräfteengpässe bei den Berufen Maschinen- und Fahrzeugbauingenieur, Elektroingenieur
und Arzt festgestellt. Wir erwarten, dass das Thema
Fachkräftebedarf aufgrund des demografischen Wandels und des damit einhergehenden sinkenden Arbeitskräfteangebots - im Durchschnitt wird es sich auch um
ältere Arbeitnehmer handeln - langfristig sicherlich an
Bedeutung gewinnen wird.
Was tun wir, um den aktuellen Arbeitskräftebedarf
möglichst genau zu messen? Um zugleich auch eine längerfristige Prognose entwickeln zu können, welche Arbeitskräftebedarfe sich im weiteren Zeitablauf ergeben
können und in welchen Branchen, Berufen und Regionen dies der Fall sein wird, bedienen wir uns derzeit
neuer Instrumente, die im Aufbau sind. Es geht hierbei
um das, was mit den Stichworten „Arbeitskräfteallianz“
und „Jobmonitoring“ gemeint ist. Wir erwarten, dass wir
erste Informationen zu kurzfristigen Bedarfen nach dem
Jobmonitoring im dritten Quartal 2011 vorlegen können.
Ein Weiteres, was ich hier dazu sagen möchte, ist,
dass es eine Qualifizierungsinitiative gibt, die das
Thema „Bildung und Forschung“ umfasst. Trotz der
knappen Finanzen aufgrund der Haushaltskonsolidierung werden bis 2013 immerhin 12 Milliarden Euro zur
Verfügung gestellt werden, um die Qualifizierung hier
im Lande voranzutreiben. Darüber hinaus verweise ich
auf unsere Bestrebungen, zum Beispiel die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf zu erleichtern.
Ein weiterer Punkt, den ich hier nur stichwortartig
nennen möchte, ist das vorgesehene neue Anerkennungsgesetz, mit dem wir erreichen möchten, dass Menschen, die zugewandert sind, aber nicht in einem ihrer
Qualifikation entsprechenden Beruf tätig sind, durch genau zugeschnittene Nachqualifizierungen befähigt werden, dem deutschen Arbeitsmarkt entsprechend ihrer
Ausbildung zur Verfügung zu stehen. Der Gesetzentwurf
ist derzeit in der Ressortabstimmung.
Bezüglich der Frage, wie es ausländerrechtlich aussieht, werde ich Ihnen am heutigen Tag kaum einen Informationsgewinn verschaffen können. Neben all den
notwendigen Anstrengungen, die hier lebenden Menschen in Beschäftigung zu bringen, brauchen wir mehr
qualifizierte Zuwanderung. Über Änderungen im Zuwanderungsrecht in Bezug auf die Arbeitsmigration finden noch Gespräche zwischen den Koalitionsfraktionen
statt. Sie haben am heutigen Nachmittag bereits versucht, durch verschiedene Fragen an andere Ressorts etwas in Erfahrung zu bringen. Ich kann Ihnen, wie gesagt,
beim besten Willen, auch wenn Sie hier so tapfer ausgeharrt haben, leider keinen Erkenntnisgewinn verschaffen.
Ihre Nachfrage, Herr Kollege.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, vielen herzlichen
Dank für die Beantwortung eines Teils der Frage, aber
auch herzlichen Dank dafür, dass Sie offen zugegeben
haben, dass Sie auf einen bestimmten Teil der Frage zurzeit keine Antwort geben können.
Stelle ich zu Recht fest, dass die Bundesregierung auf
dem Gebiet der Altenpflege zurzeit keinen Fachkräftemangel feststellen kann?
Dieses Thema ist sehr differenziert zu sehen. Es gibt
hier Engpässe. Wir haben Arbeitslose in diesem Bereich,
und wir haben eine Nachfrage in diesem Bereich. Auch
hier sind Diskussionsprozesse im Gange.
Sie haben eine zweite Nachfrage?
Ja. - Die Bundesregierung hatte bereits für den Herbst
letzten Jahres einen Gesetzentwurf angekündigt, welcher
die Anerkennung der ausländischen Abschlüsse regeln
soll. Später wurde korrigiert: Dieser Gesetzentwurf
sollte Ende letzten Jahres vorgelegt werden. Mittlerweile
sind wir am Ende des Januars 2011 angelangt. Der Gesetzentwurf liegt uns bis heute nicht vor. Wie lange müssen wir auf diesen Gesetzentwurf warten?
Ich habe Ihnen schon vorher gesagt, dass wir in der
Ressortabstimmung sind. Ich möchte nochmals auf die
erhebliche Bedeutung dieses Gesetzes hinweisen. Es
handelt sich um ein Potenzial von circa 500 000 Personen, die davon Gebrauch machen können. Es ist also
sehr wichtig, ein handwerklich gutes und praktikables
Gesetz zu verabschieden. Sie wissen, dass gerade in meinem Ministerium sehr viele Themen gleichzeitig behandelt werden. Daher kann nicht alles so schnell gehen,
wie man es sich vorgestellt hat.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Da der Parlamentarische Staatssekretär zur Stunde
noch nicht da ist, können die beiden Fragen des Kollegen Ostendorff, also die Fragen 36 und 37, nicht beantwortet werden. Mit Herrn Ostendorffs Einverständnis
stellen wir die Beantwortung dieser Fragen noch etwas
zurück.
Die Fragen 38 und 39 der Kollegin Höfken werden
schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Hier werden die Fragen 40 und 41 der Kollegin Tabea Rößner, die Fragen 42
und 43 des Kollegen Nouripour sowie die Frage 44 der
Kollegin Keul ebenfalls schriftlich beantwortet.
Nun sind wir beim Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Hier wird die Frage 45 des Kollegen Toncar schriftlich
beantwortet.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Hier steht für die Beantwortung der Fragen der Parlamentarische Staatssekretär Jan Mücke zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 46 der Kollegin Cornelia Behm
auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Anfang Dezember
2010 gemachten Äußerungen des Bundesministers für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, die Betreiber des Airport
Berlin Brandenburg International, BBI, müssten „ernsthaft
darüber nachdenken, ob und inwieweit gleichzeitige parallele
Starts überhaupt notwendig sind“, und die Aussage von Hans
Niebergall, Chef der DSF, der Deutschen Flugsicherung
GmbH, wonach auf das Abknicken der Routen nicht verzichtet werden könne, da der Planfeststellungsbeschluss für den
Flughafen BBI den unabhängigen Parallelstart vorsehe, und
hat das zur Folge, dass ein neues Planfeststellungsverfahren
erforderlich wird?
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrte Frau
Kollegin Behm! Auf Ihre Frage möchte ich wie folgt
antworten: Die Aussage von Bundesminister Dr. Peter
Ramsauer betrifft die grundlegende Betriebsform des
BBI, während die Aussage von Hans Niebergall von der
Deutschen Flugsicherung ein bestimmtes Flugverfahren
betrifft. Die getroffenen Aussagen beziehen sich auf unterschiedliche Themen und haben nicht zur Folge, dass
deswegen ein neues Planfeststellungsverfahren erforderlich wird.
Ihre Nachfrage, bitte.
Seit ich diese Frage gestellt habe, ist ja schon viel
Wasser die Havel und die Spree heruntergeflossen. Inzwischen sind ganz viele verschiedene Flugrouten und
ganz viele unterschiedliche Flugverfahren im Gespräch.
Sie wissen es sicher genauso gut wie ich: Es haben sich
verschiedene Bürgerinitiativen mit verschiedenen Zielen
formiert, die natürlich alle versuchen, den Fluglärm, soweit es geht, einzudämmen. In Rede steht nicht, den
Flughafenstandort zu verlagern, obwohl auch das eine
Bürgerinitiative fordert.
Wenn sich aus der Flugroutendiskussion ergibt, dass
die stark besiedelten Teile vom Süden Berlins sowie
Kleinmachnow, Teltow, Stahnsdorf und auf der östlichen
Seite Zeuthen von verlärmendem Flugverkehr ausgespart werden, wird sich der Fluglärm ganz automatisch
bei der Gemeinde Blankenfelde-Mahlow konzentrieren.
Ich frage Sie nun: In welcher Weise wird dann von der
Bundesregierung darauf Einfluss genommen, dass begleitende Maßnahmen am Boden, um die Menschen vor
Fluglärm zu schützen, eingeleitet werden und im Interesse der dort wohnenden Menschen nach Lösungen gesucht wird?
Frau Kollegin, wie Sie wissen, ist die Festlegung von
Flugrouten bei uns gesetzlich geregelt, und zwar nach
Vorgaben der Internationalen Organisation für Zivilluftfahrt, ICAO. Dieses Verfahren ist in § 29 b Luftverkehrsgesetz und § 27 a Luftverkehrs-Ordnung geregelt.
Nach diesen gesetzlichen Regelungen ist in Deutschland
das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung die Behörde,
die unter Federführung des zuständigen Ministeriums
- in diesem Fall das MIL in Brandenburg - die Flugrouten festlegt.
Das Gesetz schreibt ausdrücklich vor, dass vor Festlegung von solchen Flugrouten eine Konsultation in einer
sogenannten Fluglärmkommission stattfindet. In dieser
Fluglärmkommission sind die verschiedenen Varianten
für mögliche Flugrouten zum Anflug auf den neuen
Flughafen BBI entstanden, die jetzt auch öffentlich diskutiert werden.
Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wird in dieser Frage inhaltlich keinen Einfluss nehmen. Wir haben das Verfahren klar geregelt.
Dieses Verfahren liegt beim Bundesaufsichtsamt für
Flugsicherung, im Benehmen mit dem Umweltbundesamt. An der Beteiligung des Umweltbundesamtes können Sie schon erkennen, dass versucht wird, die Auswirkungen dieser Flugrouten auf die Bevölkerung sowie auf
andere Schutzgüter möglichst gering zu halten. Die Bundesregierung verfolgt das Ziel, dass Fluglärm in
Deutschland zu so wenigen Beeinträchtigungen wie irgend möglich führt.
Wie Sie wissen, hat der Deutsche Bundestag in der
vergangenen Legislaturperiode das Fluglärmschutzgesetz beschlossen. Dieses Gesetz weist den Flughafenbetreibern Pflichten zu Maßnahmen passiven Schallschutzes in bestimmten Zonen und zur Finanzierung dieser
Maßnahmen zu. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die
Betreiber des Flughafens BBI diese Maßnahmen umsetzen werden. Sie sind die Zuständigen für den Schallschutz in den von Ihnen genannten Regionen.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage, Frau Kollegin? Bitte.
Ja, ich möchte noch eine Frage stellen. - Die Maßnahmen passiven Schallschutzes werden vorgesehen,
weil man weiß, dass Lärm krank macht. Dort, wo er
nicht zu vermeiden ist, muss man alles tun, um die Menschen wenigstens passiv zu schützen.
Der Bund ist quasi Partner bei diesem Flughafenneubau. Angesichts der Tatsache, dass Fluglärm sehr viele
Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems verursacht
- es gibt eine ganze Palette von Erkrankungen -, frage
ich Sie: Wird sich der Bund dafür einsetzen, dass am
BBI ein Gesundheitsmonitoring durchgeführt wird, um
so für künftige Planungen, aber auch für die Begleitung
dieses Flughafenneubaus Erkenntnisse über geeignete
Lärmschutzmaßnahmen zu gewinnen?
Nein, das kann ich Ihnen heute nicht zusagen, weil
dies in der Verantwortung des Flughafenbetreibers liegt.
Die Betreibergesellschaft müsste ein solches Monitoring
für sich als richtig anerkennen und es durchführen, wenn
sie es für zweckmäßig hält.
Ich kann nur darauf verweisen, dass sich der Gesetzgeber in der letzten Legislaturperiode mit dem Fluglärmschutzgesetz bereits dieses Themas angenommen hat
und Grenzwerte festgelegt hat, in deren Rahmen Flugbewegungen an deutschen Flughäfen in bestimmten Lärmschutzzonen stattfinden dürfen. Wenn diese Grenzwerte
eingehalten sind, gehen wir davon aus, dass in diesem
Bereich keine gesundheitliche Beeinträchtigung durch
den Luftverkehr stattfinden kann.
Ich komme, nachdem der Herr Staatssekretär nun anwesend ist, zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zurück und rufe die Frage 36 des Kollegen Friedrich
Ostendorff auf:
Ist das QS-System nach Meinung der Bundesregierung ein
funktionsfähiges zertifiziertes Eigenkontrollsystem, wie im
Rahmen der geplanten Zulassungspflicht für Futtermittelbetriebe gefordert?
Herr Staatssekretär Dr. Müller, darf ich bitten?
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bitte
um Entschuldigung dafür, dass ich kurz nicht verfügbar
war.
Herr Kollege Ostendorff, die Bundesregierung handelt schnell und entschlossen - sowohl in Zusammenarbeit mit den Ländern als auch auf Bundesebene und
auf europäischer Ebene -, um Konsequenzen aus dem
Dioxinskandal zu ziehen.
Auf Ihre Frage zum Thema QS-System antworte ich
wie folgt: Das QS-System, ein Eigenkontrollsystem der
Wirtschaft, konnte diesen Skandal nicht verhindern. Die
Bundesregierung zieht daraus Konsequenzen und reagiert erstens mit einer Verschärfung der Kontrollen sowie mit Vorgaben zur Stärkung des Eigenkontrollsystems der Wirtschaft, zweitens mit einer Änderung der
Gesetzeslage bezüglich der Meldung der Kontrollergebnisse durch die Labors und drittens mit der künftigen
Veröffentlichung der Messergebnisse. Wir gehen so
weit, dass wir im Rahmen des VIG zukünftig vorschreiben, dass Messergebnisse, die über den zulässigen
Grenzwerten liegen, veröffentlicht werden müssen, ohne
dass die betroffene Wirtschaft dem zustimmen muss.
Außerdem werden wir Zulassungskriterien für Betriebe
einführen, in denen wir definieren, welcher Betrieb auf
diesem Sektor überhaupt tätig werden kann. Bundesministerin Aigner hat mit den Bundesländern einen Konsens in Bezug auf einen neuen qualitativen Ansatz in der
Futter- und Lebensmittelkontrolle erzielt. Erstmals sind
die Länder bereit, länderübergreifend Auditorenteams
zusammenzustellen und mit dem Bund die Lebensmittelund Futtermittelkontrolle abzustimmen und weiter zu
verbessern.
Haben Sie eine Zusatzfrage, Herr Kollege? - Bitte.
Herr Staatssekretär Dr. Müller, schönen Dank für die
Beantwortung dieser Frage. Dass der Betrieb Harles und
Jentzsch - Betrieb für Futterfette, technische Fette, dioxinhaltige Fette - in Uetersen, Kreis Pinneberg, im vergangenen Oktober das QS-Zertifikat, also das Zertifikat
für Qualität und Sicherheit, erhalten hat, ist ja wohl ein
Offenbarungseid für ein Kontrollsystem, das von der
Wirtschaft geprägt worden ist. Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie jetzt stringentere Vorgaben machen
wollen. Die Wirtschaft hat dazu schon erklärt, dass sie
nicht gewillt ist, sich einem stärkeren Kontrollregime zu
unterwerfen. Gestern gab es die Verlautbarung, dass man
gar nicht daran denkt, das zu tun.
Das führt mich zu der Frage: Wie will die Bundesregierung da Einfluss nehmen, und was gedenken Sie
genau zu tun, um das QS-System in Bezug auf die Futtermittelbetriebe deutlich zu verschärfen?
Ich kenne diese Verlautbarung nicht. Sollte es eine
solche Verlautbarung von Einzelnen in der Branche geben, dann haben diese den Ernst der Situation nicht erkannt. Wir werden vonseiten des Staates in der von mir
dargestellten Weise die Regeln massiv verschärfen.
Einer der 14 Punkte in dem Paket, das mit den Bundesländern einvernehmlich beschlossen worden ist, beschäftigt sich mit der Haftungsfrage. Für die Zukunft
müssen wir bei einem solch skandalösen Fall ausschließen, dass ein Betrieb seine GmbH in die Insolvenz gehen
lässt und keine Haftungsansprüche geltend gemacht werden können. Dadurch ist die Futtermittelbranche insgesamt in der Verantwortung und haftet ein Stück weit mit.
Die Signale, die wir erhalten haben, sind entsprechend,
nämlich dass bei einem Eigenkontrollsystem massiv
nachgebessert und das QS-System verfeinert wird. Aber
es handelt sich um ein Eigenkontrollsystem der Betriebe.
In Deutschland gibt es über 1 Million Betriebe, die
sich mit Futtermitteln und Lebensmitteln im weiteren
und engeren Sinne beschäftigen. Allen ist klar, dass
nicht in jedem Betrieb hinter jedem Vorgang jeden Tag
ein staatlicher Kontrolleur stehen kann. Deshalb gibt es
Eingangskontrollen durch die Wirtschaft, Risikokontrollen durch den Staat und eine Vernetzung. In Zukunft sollen die Messergebnisse auch veröffentlicht werden.
Jeder Firma ist klar: Die Überschreitung eines Grenzwertes bedeutet die Veröffentlichung dieses Vergehens
im Internet mit den entsprechenden Konsequenzen. Deshalb wird - da sind wir sicher - effektiv gehandelt.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Ja. - Das führt mich zu der weiteren Zusatzfrage:
Wenn das nicht wirkt, wenn sich also nach einer gewissen Zeit herausstellt, dass die Wirtschaft doch nicht bereit ist, diese sehr strengen Vorgaben zu erfüllen, ist dann
daran gedacht, dass die Bundesregierung selbst sehr viel
stärker in das Kontrollsystem einsteigt, möglicherweise
analog zum Biokontrollsystem, bei dem wir eine sehr
starke staatliche Verzahnung haben? Können Sie sich
das vorstellen?
Herr Ostendorff, eine solche Konsequenz war die
Antwort von Frau Künast in ihrer Verantwortung als
Verbraucherschutzministerin auf den Nitrofen-Skandal.
({0})
Wir lassen uns auf dieses Spiel nicht ein. Ich habe deshalb klargelegt, was vonseiten der staatlichen Kontrollbehörden jetzt an qualitativen Sprüngen in der Lebensmittel- und Futtermittelkontrolle umgesetzt wird. Wir
warten nicht darauf, bis der betroffene Wirtschaftszweig
reagiert.
Wir haben inzwischen den zeitlichen Rahmen der
Fragestunde mehr als ausgeschöpft. Deshalb bitte ich um
Verständnis dafür, dass wir hier einen Schnitt machen,
auch wenn die zweite Frage von Herrn Ostendorff noch
offen ist. Sie wird wie die restlichen Fragen schriftlich
beantwortet. - Herr Staatssekretär, vielen Dank.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Die öffentliche Diskussion über die Falschund Nichtunterrichtung des Deutschen Bundestages durch den Bundesverteidigungsminister zu Vorfällen in der Bundeswehr
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Verteidigungsminister, letzte Woche haben Sie den
Vorwurf zurückgewiesen, das Parlament wissentlich
falsch über die Umstände des Todes eines Soldaten in
Afghanistan unterrichtet zu haben. Diesen Vorwurf haben wir auch gar nicht erhoben. Ich habe am Freitag hier
festgestellt, dass wir vom Ministerium objektiv falsch
unterrichtet wurden. Wir wollen wissen, warum.
Unsere Frage, wie es zu dieser falschen Unterrichtung
kommen konnte, bleibt bestehen. Vielleicht können Sie
uns heute eine zufriedenstellende Antwort geben. Bei Ihren bisherigen Reaktionen konnte man den Eindruck bekommen, Sie halten das eher für unwichtig. Aber die falsche Unterrichtung unseres Parlaments ist keine
Lappalie.
({0})
Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Nicht der
Verteidigungsminister, sondern der Bundestag entscheidet über den Einsatz der Bundeswehr.
Eine Antwort, Herr Minister, wollen wir auch auf die
Frage, warum Ihnen der Feldjägerbericht über den Tod
des Soldaten in Afghanistan nicht zeitnah vorgelegt
wurde. Wir erwarten von Ihnen nicht, dass Sie jeden
Feldjägerbericht lesen. Aber wenn es sich um den Tod
von Soldaten handelt, dann muss ein solcher Bericht
sofort auf den Tisch des Ministers. Da müssen doch alle
roten Lampen angehen; da muss Ihr Haus doch automatisch reagieren.
({1})
Ich kann nur sagen: Wenn das bei Todesfällen nicht
funktioniert, dann haben Sie die Abläufe in Ihrem Haus
ein Jahr nach Kunduz immer noch nicht richtig im Griff.
Leider reden wir heute nicht nur über einen einzelnen
Vorgang. Ein großes Fragezeichen steht auch bei dem
tragischen Todesfall auf der „Gorch Fock“ im Raum.
Rund um diesen Vorfall verdichten sich nun Informationen über Zustände auf der „Gorch Fock“, die einen,
wenn sie denn stimmen, sprachlos machen können. Berichtet wird von Schikanierungen junger Offiziersanwärter, von hohem Druck, selbst bei Lebensgefahr über
Leistungsgrenzen hinauszugehen. Auch von Alkoholexzessen und sexueller Nötigung ist die Rede. Wie
konnte das über lange Zeit unbemerkt bleiben? Was ist
mit den Studien, von denen man hört, die aber offensichtlich nicht beachtet wurden? Auch diese Fragen
müssen Sie beantworten.
Es gibt noch einen weiteren Vorfall. Die Feldpost
mehrerer Soldatinnen und Soldaten wurde geöffnet. Teilweise wurde der Inhalt der Post entnommen. Wir wissen
bislang nicht, von wem und warum.
Diese Probleme sind sicher einzelne Fälle. Sie zeichnen aber ein besorgniserregendes Bild der Bundeswehr.
({2})
Dies sind ja nicht die ersten Vorgänge dieser Art; es gab
ähnliche Probleme vor kurzem bei den Gebirgsjägern.
Natürlich darf es keinen Generalverdacht gegen die Offiziere und Soldaten der Bundeswehr geben.
({3})
- Ja, das ist auch so. - Aber es ist doch auch klar, dass
die Vorfälle auf Probleme im Bereich der Inneren Führung verweisen. Hier herrscht dringender Handlungsbedarf.
({4})
Die Vorgänge, über die wir hier reden, liegen über
sechs Wochen zurück, Wochen, in denen nicht viel Aufklärung geschehen ist. Erst Herr Königshaus hat durch
sein energisches Agieren Druck in die Angelegenheit gebracht. Das unterstreicht noch einmal, wie wichtig die
Institution des Wehrbeauftragten ist. Aber es wirft auch
die Frage auf: Was hat eigentlich der Minister bis dahin
getan? Sie haben viel zu viel Zeit verstreichen lassen.
({5})
Herr Minister, es kommt der Eindruck auf, dass die Aufklärung solcher erschreckenden Fälle bei Ihnen erst dann
Priorität bekommt, wenn Kommentatoren schreiben, Sie
hätten Ihren Laden nicht im Griff. Da erwarten nicht zuletzt die Soldaten mehr von Ihnen.
Vor über einem Jahr wurde der Verteidigungsausschuss auch deshalb als Untersuchungsausschuss eingesetzt, weil die Informationspraxis der Bundeswehr und
des Verteidigungsministeriums schleppend, intransparent und unvollständig war. Leider zeigt sich, dass genau
diese Missstände bisher nicht beseitigt wurden, sondern
uns jetzt erneut einholen.
({6})
Das ist Anlass zur Besorgnis. Wir wollen deshalb, dass
der Auftrag des Untersuchungsausschusses „Kunduz“
um die aktuellen Vorgänge erweitert wird.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal: Was ist der Gegenstand der
heutigen Debatte, die öffentliche Diskussion oder die angebliche Nichtunterrichtung des Bundestages? Ich
glaube, wir müssen sehr differenziert auf die drei Fälle
blicken, die derzeit in der Debatte stehen. All diese Vorgänge bedürfen zweifelsfrei der vollständigen Aufklärung. Abschließende Informationen über Ereignisse sind
aber erst nach Abschluss der Ermittlungen, insbesondere
auch der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, möglich, Ermittlungen, die in den beiden Todesfällen nicht
erst seit der öffentlichen Diskussion, so wie Sie es gerade in den Raum gestellt haben, Herr Schmidt, sondern
von Beginn an, seit November bzw. Dezember des letzten Jahres, mit großer Sorgfalt entsprechend dem geltenden Recht und den geltenden Vorschriften durchgeführt
werden. Ich weise deswegen mit Nachdruck den Vorwurf zurück, ich hätte das Parlament nicht informiert,
ebenso den Vorwurf einer gezielten Vertuschung oder Irreführung durch mein Haus oder durch mich selbst.
({0})
Was die geöffneten Feldpostbriefe anbelangt, so liegen
dem Deutschen Bundestag mittlerweile erste Zwischenberichte vor. Bislang lässt sich nicht darauf schließen,
dass es sich um eine systematische, eine flächendeckend
in großer Zahl erfolgte Aktion handelt. Nach den mir
heute vorliegenden Meldungen sind seit Oktober des letzten Jahres insgesamt 29 Postsendungen auf mögliche Unregelmäßigkeiten zu untersuchen. Jeder dieser Briefe ist
einer zu viel; das steht außer Frage. Alles muss in der Hinsicht aufgeklärt werden; alles muss unternommen werden, damit wir in dieser Frage eine entsprechende Lösung
finden.
Wir verschicken jede Woche circa 6 000 Briefe und
1 800 Päckchen bzw. Pakete aus den Einsatzländern
nach Deutschland. Circa 15 000 Briefe und 3 500 Päckchen gehen jede Woche den umgekehrten Weg. Die Unregelmäßigkeiten traten zwischen Oktober und Januar
auf, also über einen Zeitraum von circa 16 Wochen. Wir
sind mit der Sachverhaltsermittlung noch nicht am Ende
und gehen der Sache weiter nach.
Auch der zweite Fall, so tragisch und furchtbar er angesichts des Todes eines jungen Mannes ist, taugt nicht
zu Vorwürfen, die in den letzten Tagen konstruiert wurden. Am 17. Dezember 2010 kam es in der abgesetzten
deutschen Operationsbasis im Raum Pol-i Khumri zu einem schlimmen Zwischenfall. In einer Ruhezeit - nach
durchgeführtem Einsatz - waren die Soldaten in ihrem
Unterkunftszelt und hatten dabei nach vorliegenden Erkenntnissen auch routinemäßig ihre Waffen gereinigt.
Über den weiteren Ablauf gibt es unterschiedliche Aussagen. Die weitere Aufklärung obliegt auch hier der
Staatsanwaltschaft.
Soweit wir nach den bisherigen Feststellungen heute
wissen, steht lediglich Folgendes fest: Aus der Waffe eines Soldaten löste sich ein Schuss, der seinen Kameraden
am Kopf traf. Der sofort herbeigeeilte Gruppenführer
fand den Soldaten blutend zwischen zwei Unterkunftsliegen auf, schickte alle anderen aus dem Zelt, holte sich sanitätsdienstliche Verstärkung und versorgte den Soldaten.
Leider verstarb der Soldat kurz danach während einer
Notoperation.
Als ich am 18. Dezember 2010, also am Folgetag, gemeinsam mit der Frau Bundeskanzlerin und dem Generalinspekteur im Einsatz eintraf, wurde uns der damalige
Ermittlungsstand geschildert, dass der Schuss von der
Waffe eines Kameraden ausging. Auch die dabei anwesenden Pressevertreter wurden entsprechend informiert.
Damit war zu jener Zeit zweifelsfrei klar: Es war ein
deutscher Soldat ums Leben gekommen, und die Kugel
stammte aus der Waffe eines Kameraden. Auch der
Presse konnte man bereits am Sonntag entnehmen, dass
von einer Fremdeinwirkung ausgegangen werden musste.
Es kann also keineswegs davon die Rede sein, dass hier
vonseiten der Bundesregierung Informationen zurückgehalten oder Sachverhalte verschleiert worden seien.
Richtig allerdings ist, dass die mit Stand vom
21. Dezember herausgegebene Unterrichtung des Parlaments in der dort gewählten Formulierung den Sachverhalt unvollständig wiedergab.
({1})
Desgleichen darf und soll nicht vorkommen. Wir haben
dieses Versäumnis, das kurz vor Weihnachten eingetreten war, vonseiten des Ministeriums eingeräumt. Bereits
bei der ersten Ausschusssitzung nach der Weihnachtspause hat dies Staatssekretär Kossendey bei der Behandlung dieses Vorgangs richtiggestellt, als er ausdrücklich
auf die Tatsache der Fremdeinwirkung hinwies.
({2})
Zu den Ermittlungen des Vorgangs und zum Feldjägerbericht. Lieber Kollege Schmidt, jemand, der sich mit
der Bundeswehr befasst, sollte wissen, dass bei solchen
Fällen routinemäßig Feldjägerberichte erstellt werden.
Die Ermittlungen des Vorgangs und der Bericht liegen
dort, wo sie nach unserer Rechtsordnung hingehören,
nämlich bei der zivilen Justiz. Es versteht sich von
selbst, dass ich als Bundesminister der Verteidigung
keine weiteren Kommentierungen zu laufenden Ermittlungen abgebe, auch zum Schutz einer jungen Person,
die einem gewaltigen Vorwurf ausgesetzt ist, bei dem
wir in der Öffentlichkeit nicht mit Spekulationen zu hantieren haben.
({3})
Ich komme jetzt zum dritten Aspekt, zu den Vorgängen auf der „Gorch Fock“.
({4})
- Frau Künast, ich weiß, dass man in Berlin ein bisschen
lauter rufen muss, um gehört zu werden. Aber vielleicht
kommen Sie nach vorn und reden ein bisschen leiser.
Dann können wir uns entsprechend verständigen.
({5})
Ich komme jetzt zu den Vorgängen auf der „Gorch
Fock“. Zum einen geht es dabei um den Unfall einer Offiziersanwärterin am 7. November des vergangenen Jahres. - Frau Künast, vielleicht sollte man seine Stimme
angesichts einer toten Offiziersanwärterin ein wenig zügeln; das empfiehlt sich. ({6})
Hierzu ist festzustellen: Umgehend nach dem Unfall der
Offiziersanwärterin wurde ein Havarieverfahren entsprechend den allgemeinen Vorschriften eingeleitet. Daneben hat die Staatsanwaltschaft Kiel ein Ermittlungsverfahren aufgenommen. Fünf Tage nach dem Unfall, am
12. November 2010, traf der Beauftragte für Havariewesen der Marine am Unglücksort ein, zeitgleich mit Vertretern der Wasserschutzpolizei und der Kripo Kiel.
Beide Untersuchungen dauern noch an.
Den zweiten Themenkomplex machen zunächst Nachrichten über Verhaltensweisen von Besatzungsmitgliedern im Nachgang zu dem geschilderten Todesfall aus;
darauf wurde hingewiesen. In diesem Zusammenhang
wurden zudem mehr und mehr Vorwürfe bekannt, die
ganz erhebliche Zweifel am inneren Gefüge, der Ausbildungsgestaltung und dem allgemeinen Umgang an Bord
der „Gorch Fock“ aufwerfen; aber hierbei handelt es sich
um Vorwürfe. Darüber wurde ich Montag, den 17. Januar
2011, unterrichtet. Dies habe ich zum Anlass genommen,
die aufkommenden Vorwürfe vom Inspekteur der Marine
und vom Leiter der Rechtsabteilung überprüfen zu lassen.
Hierzu wurden mehrere Maßnahmen ergriffen. Unter anderem wurde die Entscheidung getroffen, die „Gorch
Fock“ nach Argentinien zurückzubeordern, um ein Untersuchungsteam einschiffen zu können. Bekanntermaßen wurden die Obleute des Verteidigungsausschusses
letzten Freitag über die getroffenen Maßnahmen informiert.
Vor dem Hintergrund einer Zunahme der Unterstellungen und Vorwürfe über die ganze Woche hinweg und
eines gesteigerten öffentlichen Drucks auf den Kommandanten, der sich am Freitag zuspitzte, war absehbar,
dass sich der Fokus zunehmend auf die Person des Kommandanten und auf sein Führungsverhalten konzentrieren und richten würde.
({7})
Dabei stand nicht die Frage der Stichhaltigkeit der Vorwürfe und Unterstellungen im Mittelpunkt, sondern die
Frage, ob man es einem Kommandanten unter den sich
abzeichnenden Belastungen überhaupt noch zumuten
könne, seine fordernde Aufgabe fortzuführen; die Führung der „Gorch Fock“ gehört bekanntlich zu den anspruchsvollsten Aufgaben, die die Marine zu vergeben
hat. Die Erörterung dieser Frage ist zunächst ein Gebot
der Fürsorgepflicht, der Fürsorge gegenüber dem Kommandanten wie auch gegenüber der Besatzung.
Darüber hinaus stellte sich die Frage, ob eine sachgerechte Aufklärung nicht erschwert würde, wenn der
Kommandant seine Aufgabe fortführen würde. Im Einvernehmen mit der militärischen Führung und nach Gesprächen des Inspekteurs der Marine mit Kapitän zur See
Schatz habe ich entschieden, ihn unverzüglich von seinen
Aufgaben zu entbinden. So viel auch zu dem immer wieder gehörten Vorwurf, mit dem Kapitän sei nicht geredet
worden; es ist mehrfach mit ihm geredet worden.
Zur Klarstellung: Kapitän zur See Schatz ist unverändert Kommandant der „Gorch Fock“, auch wenn er gegenwärtig von seiner Verantwortung entbunden ist. Ein
von seinen Pflichten vorläufig entbundener Kommandant ist weder gefeuert noch geopfert noch geschasst
noch rausgeworfen. Deshalb handelt es sich hier nicht
um eine Vorverurteilung, sondern um eine Maßnahme,
die unter anderem der sachgerechten Aufklärung dient
und als solche angelegt ist.
({8})
Bei allen drei Vorgängen laufen die erforderlichen Aufklärungen - so viel zu Ihrem Vorwurf, Herr Schmidt -,
vonseiten der Bundeswehr wie von den zivilen Justizbehörden. Über die gegenwärtigen Sachstände sind die
Vertreter des parlamentarischen Bereichs auch heute informiert worden.
Bei aller Notwendigkeit der Aufklärung im Detail
und bei einem gewiss umfassenden Anspruch auf Informationen - und der ist immer gegeben - tut es bisweilen
gut, sich die Frage zu stellen: Welchen Eindruck erwecken wir mit unseren Aufgeregtheiten? Lassen Sie uns
bei alledem eines nicht vergessen: Es geht hier vor allem
um den Tod zweier junger Menschen, die ihren Dienst
am Vaterland geleistet haben. Wir dürfen sie nicht vergessen. Wir haben eine Schuldigkeit gegenüber ihren
nächsten Angehörigen im Hinblick darauf, wie wir die
Diskussion führen. Diese Diskussion darf nicht über
Vorwürfe, sondern muss über Tatsachen geführt werden.
Ich glaube, diesen Anspruch sollten wir uns in dieser
Debatte setzen.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Rainer Arnold für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wohl wahr, Herr Minister, es handelt sich um drei sehr
unterschiedliche Vorgänge. Sie weisen aber auch Gemeinsamkeiten auf. Die erste Gemeinsamkeit liegt darin,
dass Sie in allen drei Fällen ein wirklich schlechtes Krisenmanagement betreiben. Erst durch Ihr Missmanagement gelangten diese Probleme in die öffentliche Wahrnehmung und wurden dadurch zu einer großen Krise.
Das haben Sie zu verantworten. Sie können die Verantwortung nicht einfach weiterleiten.
({0})
Die zweite Gemeinsamkeit ist: Das Parlament wurde
über die Vorgänge nicht zeitnah, nicht umfassend und
auch nicht immer ganz korrekt informiert. Die dritte Gemeinsamkeit ist: Sie suchen für alle Vorfälle schnell Verantwortliche, um von Ihrer eigenen Verantwortung abzulenken.
({1})
Lassen Sie mich meine Punkte am Thema „Gorch
Fock“ festmachen. Ich hätte mir wirklich gewünscht,
dass die Führung der Marine die Veröffentlichungen
über Probleme auf diesem Schmuckstück der deutschen
Marine ernst genommen hätte, die im Herbst letzten Jahres aufgetaucht sind, und darauf von sich aus reagiert
hätte. So aber war es der Wehrbeauftragte, der uns auf
gravierende Probleme aufmerksam gemacht hat. Dafür
darf er übrigens nicht vom Parlamentarischen Staatssekretär des Verteidigungsministers kritisiert werden. Der
Wehrbeauftragte hat - wie seine Vorgänger auch - unparteiisch, seriös und gründlich seine Arbeit für das Parlament geleistet.
({2})
Herr Minister, in Ihrem Umgang mit dem Thema ist
ein weiterer wichtiger Punkt hervorzuheben: Mittags laden Sie die Obleute zur Unterrichtung ein und sagen, es
dürfe keine Vorverurteilung geben. Abends dann entnehmen wir der Presse, dass Sie den Kommandeur seines
Amtes entbunden haben, und zwar mit der Begründung
- an diesem Abend und am nächsten Abend -, dass neue
Vorwürfe zu den Missständen bekannt geworden seien.
Auf unsere viermalige Nachfrage haben Sie heute keinen
einzigen neuen Vorwurf benannt. Am Wochenende allerdings haben Sie, als Sie gemerkt haben, dass Ihnen die
Angelegenheit medial zu entgleiten droht, in drei Pressemeldungen immer wieder nachgelegt und weitere Informationen gegeben. Herr Minister, das eigentliche Problem in diesem Zusammenhang ist doch: Sie haben den
Geist des Boulevards gerufen - jetzt kommen Sie mir
vor wie der Zauberlehrling -; Sie werden den Geist nicht
mehr los. Genieren Sie sich nicht, wie die Bild-Zeitung
zusammen mit Ihnen in der Bild am Sonntag die Entlassung des Kommandeurs medial inszeniert hat?
({3})
Das muss einem seriösen Minister doch peinlich sein.
({4})
Insgesamt bin ich der Auffassung, dass die Vorfälle
auf der „Gorch Fock“ so geklärt werden können, dass
dieses Schiff eine Zukunft hat. Das muss die Marine
leisten. Wir alle wünschen uns das sehr.
Herr Minister, zu den Vorgängen in Afghanistan. Ich
glaube, es ist inzwischen unstreitig, dass es unterschiedliche Informationen über den tragischen Todesfall gab.
Sie sprachen über die Angehörigen. Gerade die Angehörigen haben einen Anspruch darauf, dass mit Klarheit ermittelt wird.
Herr Minister, das eigentlich Problematische an unserem Streit ist nicht, dass das Ministerium gelegentlich
Fehler macht und Informationspannen hat; das gibt es
durchaus. Das eigentlich Problematische ist, dass wir in
zwei Punkten einen großen Dissens haben.
Sie sind der Auffassung: Wenn die Staatsanwaltschaft
in einem Vorgang ermittelt, muss dieser nicht mehr auf
Ihren Schreibtisch und das Parlament ist auch nicht mehr
darüber zu informieren, sondern man wartet vielmehr
die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ab. Sie sind
auch der Auffassung, ein Feldjägerbericht enthalte Vermutungen. Die Feldjäger sind die Polizei der Bundeswehr, und die Informationen der Feldjäger sind wichtig auch für die Staatsanwaltschaft.
Herr Minister, in den vergangenen Jahren wurden wir
auch bei staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zeitnah
informiert. Der Verteidigungsausschuss hat bewiesen,
dass er mit diesen Informationen seriös und, wo notwendig, sensibel umgeht und keine Debatte zulasten der Angehörigen oder Beschuldigten führt. Das ist eine Unterstellung; das haben wir nie getan.
({5})
Der zweite große Unterschied ist folgender: Herr
Minister, merken Sie eigentlich nicht, ob ein Soldat
- wir schicken junge Soldaten von 22 Jahren nach
Afghanistan - durch einen Fehler seines Kameraden
beim Waffenreinigen zu Tode kommt oder ob bei einem
solchen Einsatz mit Waffen gespielt wird?
({6})
- Lesen Sie doch einfach einmal den Feldjägerbericht
und hören Sie mir bis zu Ende zu.
({7})
Es gibt übrigens überhaupt kein Indiz dafür, dass es
durch das Waffenreinigen passiert ist. Lassen Sie uns bei
den Fakten bleiben: Es gibt nur acht Zeugen, die nichts
gesehen haben, und zwei, die es gesehen haben. Von daher kommt dieses Indiz.
({8})
Selbst wenn solche Vermutungen aufkommen, dürfen
wir bei einer Armee im Einsatz
({9})
- jetzt hören Sie bei diesem ernsten Thema doch einmal
zu - nicht warten, bis ein Jahr später eine staatsanwaltschaftliche Ermittlung oder sogar ein Gerichtsprozess
abgeschlossen ist, sondern man muss dieser Sache nachgehen und die Führungsverantwortung so sensibilisieren, dass sie bei Einsatzsoldaten unter diesem Druck gegebenenfalls auch nachsteuert.
({10})
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Ende.
Um einen Schlussstrich darunter zu ziehen: Ich
glaube, dass diese Dinge aufgeklärt werden können,
wenn der Minister selbst Druck macht. Wir hoffen, dass
wir für die Zukunft etwas aus diesen Vorgängen lernen.
Herr Minister, ich glaube, es wäre für die anstehende
Bundeswehrreform gut, wenn Sie Ihr Verhältnis zum
Verteidigungsausschuss auf eine andere Basis stellen
würden. Das ist nämlich für die kommende schwierige
Reform notwendig.
({0})
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich bin fertig.
Wenn Sie fertig sind, dann hören Sie bitte auch auf.
Die Hauptdiskussion, die uns noch beschäftigen wird,
betrifft die Unterfinanzierung der Bundeswehr. Diejenigen, die jetzt laut schreien, müssten einmal unter sich
klären, was bei der Ausgestaltung der Finanzen in der
Truppe tatsächlich Sache und was notwendig ist.
Herzlichen Dank.
({0})
Nun hat die Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Herr Kollege Arnold, ich bin doch einigermaßen erstaunt, wie Sie als verteidigungspolitischer
Sprecher Ihrer Fraktion in diesem Hause einerseits Details aus einer laufenden Ermittlung ausbreiten und sie
als Fakten und belegte Tatsachen darstellen.
({0})
- Verzeihung, wir sind hier nicht bei der Bild-Zeitung,
sondern im Deutschen Bundestag.
({1})
Andererseits unterstellen Sie dem Minister, dass er
nicht hinreichend informiert habe.
({2})
Das ist schon eine merkwürdige Art und Weise, mit diesem Sachverhalt umzugehen.
Aber im Grunde genommen ist es doch auch ein Indiz
für das, was zurzeit geschieht. Vorgänge, die stattgefunden haben, die vom Wehrbeauftragten korrekt und dankenswerterweise dargestellt worden sind und die im
Bundesministerium der Verteidigung angenommen worden sind und unverzüglich zur Aufklärung gebracht werden, werden dafür benutzt, einen Skandal heraufzubeschwören, der am Ende nur einem schadet, und zwar der
Bundeswehr.
({3})
Deswegen bin ich froh, dass der Wehrbeauftragte in seiner Pressekonferenz und in der Presseberichterstattung
sehr deutlich gemacht hat, dass die Truppe keine
„Chaos-Truppe“ ist, sondern es sich hier um Einzelverfehlungen handelt, die aufgeklärt werden müssen, jawohl. Hier geht es auch um das Ansehen der Bundeswehr.
Der Minister hat in Sachen „Gorch Fock“ zwei Ermittlungsteams eingesetzt - Herr Schmidt, wenn Sie
heute Morgen im Verteidigungsausschuss gewesen wären, dann hätten Sie sich das anhören und dazu Stellung
nehmen können -, die sowohl vor Ort als auch in der
Marineschule genau diese Vorwürfe, die unerträglich
sind, die wir alle nicht im Raume stehen lassen können,
möglichst unverzüglich aufklären sollen.
({4})
Zur Redlichkeit gehört aber auch, dass man den Leuten die Möglichkeit gibt, sauber zu ermitteln, das heißt,
dass man ihnen die Zeit gibt, die notwendig ist, um alle
Parteien anzuhören. An dieser Stelle möchte ich sehr
deutlich sagen: Ich finde die Entscheidung des Ministers, Herrn Kommandanten Schatz, wie es häufig formuliert worden ist, „aus dem Verkehr zu ziehen“, richtig. Er
hat ihn aber nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern er
hat ihn vor den Anwürfen, die zu erwarten waren, in
Schutz genommen.
({5})
- Sie können gleich zu Wort kommen, Frau Künast.
({6})
Ich erinnere mich noch an die Diskussion über Oberst
Klein, der wochenlang regelrecht durch die Medien gejagt worden ist. Für die einen war er der Kriegsheld, für
die anderen war er der Kriegsverbrecher; Sie müssen
einmal mit der Familie reden. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen ist klar, dass es ein Gebot der Fürsorge
ist, die eigenen Mitarbeiter zu schützen. Herr Minister,
bei dieser Entscheidung haben Sie in jedem Fall unsere
Rückendeckung.
({7})
Ich wünsche mir, dass wir maßhalten - das ist im
Sinne unserer Streitkräfte -, dass die Dinge, die Fragen,
die Vorwürfe, die im Raum stehen, zeitnah, aber auch seriös aufgeklärt werden. Ich würde mir wünschen, dass
am Ende der Reise diejenigen, die jetzt dazu beitragen,
dass unsere Streitkräfte in einem Bild erscheinen, das ihnen in keiner Weise entspricht, so fair sind, dass sie
Manns und Frau genug sind, um das auch so darzustellen
und sich dann vor unsere Streitkräfte zu stellen.
Herr Kollege Arnold, ich habe Ihr Pressestatement
nach der heutigen Ausschusssitzung gehört. Ich habe
nicht verstanden, warum Sie die Marine massiv angegriffen haben.
({8})
- Doch. Das ist ganz deutlich geworden. Sie haben den
Inspekteur der Marine angegriffen, noch bevor uns der
Abschlussbericht dieser beiden Untersuchungsteams
vorliegt.
({9})
Meine herzliche Bitte: Abrüsten, sich an den Fakten
orientieren und dafür sorgen, dass wir für unsere Bundeswehr in Zukunft das Richtige tun und wir sie nicht
schlechtmachen, was in vielen Diskussionen jetzt der
Fall ist! Ich habe Vertrauen in unsere Bundeswehr, und
ich habe Vertrauen in die Führung unserer Bundeswehr.
An dieser Stelle bedanke ich mich bei dem Minister
noch einmal ausdrücklich dafür, dass er uns im Ausschuss heute eine umfassende und zeitnahe Aufklärung
zugesichert hat.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Paul Schäfer für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
zwei junge Menschen in Uniform zu Tode kommen, getötet werden oder es einen Eingriff in Grundrechte gibt
- Stichwort „Briefgeheimnis“ -, dann kann man nicht
einfach zur Tagesordnung übergehen, dann können wir
nicht zum „business as usual“ übergehen, was hoffentlich auch niemand tut. Das heißt, wir müssen darauf bestehen, dass akribisch und lückenlos aufgeklärt wird.
Das ist Punkt eins.
Dieser andere Umgang gilt aber auch für die Zeit, bevor restlos aufgeklärt ist. Man muss auch in der Zeit davor ein anderes Kommunikationsmanagement haben,
Herr Minister. Der routinierte Hinweis darauf, dass in allen diesen Fällen die Feldjäger ermitteln - das ist doch
klar - und der Fall an die Staatsanwaltschaft abgegeben
wurde - was noch? -, ist in dieser Situation einfach ungenügend.
({0})
Moment. Wir haben heute im Ausschuss eine ausführliche Unterrichtung erhalten - ein bisschen spät. Es geschah erst, nachdem es dieses öffentliche Echo gegeben
hat und - das sollten wir bitte schön, liebe Kolleginnen
und Kollegen, nicht vergessen - nachdem der Wehrbeauftragte die Sache auf die Agenda gesetzt hat. Das ist
der Punkt, der zu denken geben muss. Dass wir uns damit beschäftigen, hat mit dem Wehrbeauftragten zu tun.
Wenn er jetzt deshalb attackiert wird - zumindest zwischen den Zeilen -, dann, finde ich, sollten die Alarmglocken läuten. Der Wehrbeauftragte - das hat sich in
dieser Situation gezeigt - ist ein wichtiger Ansprechpartner für die Soldatinnen und Soldaten, er ist ein Vertrauensmann, und er ist eine Warneinrichtung für das Parlament. Wir sollten ihn stärken und nicht schwächen und
attackieren, nur weil er schlimme Botschaften überbringt.
({1})
Punkt zwei. Der Minister hat im Ausschuss Informationspannen eingeräumt, hat sie bedauert und hat Abhilfe versprochen. Das letzte Wort kann meines Erachtens nicht sein, dass man einfach nur sagt: Das war eine
unvollständige, nicht genaue Information. Ich bin in die
Ausschusssitzung am 19. Januar 2011 immer noch mit
der Vorstellung gegangen, möglicherweise handele es
sich um eine Selbsttötung des Soldaten in Pol-i Khumri
im Dezember 2010. Nicht nur ich, sondern auch Kollegen von der CDU/CSU dachten dies; sie haben das auch
öffentlich zugegeben. Da muss doch etwas schiefgelaufen sein, wenn man das Parlament erst unterrichtet, ein
Soldat sei tot aufgefunden worden, und man dann feststellt, dass es Fremdeinwirkung gab. Herr Minister, Ihr
Hinweis, Sie hätten es der Presse gegenüber angedeutet,
kann so nicht stehen bleiben. Sie haben zwar vielleicht
Paul Schäfer ({2})
gute Verbindungen zu Verlagshäusern, aber Sie haben
eine Unterrichtungspflicht dem Parlament gegenüber.
Das ist der Punkt.
({3})
Das, was die „Gorch Fock“ betrifft, ist, finde ich, am
besorgniserregendsten. Es scheint bestätigt zu sein, dass
die Crew der Offiziersanwärter zu dem Zeitpunkt des
Unfalls übermüdet und überlastet war, sie unter diesen
Bedingungen aber dennoch gedrängt wurde, siebenmal
aufzuentern, in die Takelage zu steigen. Möglicherweise
ist der Todesfall in diesem Zusammenhang zu sehen.
Das kann doch nicht einfach routiniert abgearbeitet werden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, aber es ist nicht
Aufgabe der Staatsanwaltschaft und auch nicht des Havariebeauftragten, das zu untersuchen, was danach in der
Belegschaft passiert ist. Da muss es vielmehr eine eigenständige Untersuchung geben.
Wenn der Inspekteur der Marine am 15. Dezember
2010 im Verteidigungsausschuss sagt: „Es gab eine emotional belastete Situation nach dem Tod der Soldatin,
aber keine Konflikte“ - aber hallo! -, dann, finde ich,
muss doch klar sein, dass das nicht der richtige Umgang
damit ist. Ich frage mich, was die Führung der Marine,
die politische Führung - es geht gar nicht darum, die
Marine in Haftung zu nehmen -, getan hat, wenn diese
Vorkommnisse klar waren, die Marineführung aber erst
im Gespräch mit dem Wehrbeauftragten am 17. Januar
2011 hellhörig geworden ist und eine Untersuchung eingeleitet hat. Da ist doch etwas schiefgelaufen.
Das zeigt, dass man dort nicht die nötige Sensibilität
hat. Es ist die Führungsaufgabe eines Ministers, zu sagen: Diesen Dingen müssen wir beikommen. Sie haben
gesagt, dass Sie sich alles vorlegen lassen wollen: die
Verstöße gegen die Innere Führung, gegen das Leitbild
des Bürgers in Uniform, die Rituale etc. Das ist genau
der Punkt: Es geht nicht um Schuldzuweisungen oder einen Generalverdacht gegenüber den Streitkräften. Wir
müssen folgende Fragen ins Auge fassen: Welche Veränderungen ereignen sich gegenwärtig in den Streitkräften
unter dem Vorzeichen einer Armee im Einsatz? Was hat
der Umbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee
möglicherweise mit Belastungssituationen, Anspannungssituationen zu tun, damit, dass man den Korpsgeist
besonders hart fördern will, Stichwort Waffenspiele, Rituale etc.? Das muss in den nächsten Wochen und Monaten unser Thema sein. Wir sollten nicht routiniert zur Tagesordnung übergehen. Das muss untersucht werden. Es
muss als Bundestag unsere Sorge sein, sich diesen Fragen zu stellen. Unsere Konsequenz an dieser Stelle ist
eindeutig: Wenn man die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee umbaut,
({4})
muss man leider mit bestimmten Folgen rechnen. Das ist
der Grund, warum wir sagen: Dieser Irrweg sollte beendet werden.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff hat nun für
die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer die Diskussion in den letzten Tagen und auch heute
wieder hier im Parlament verfolgt hat, der kann mit den
Worten der heutigen Süddeutschen Zeitung nur feststellen: Die Opposition übertreibt die Kritik an den wenigen
Einzelfällen, um die es eigentlich geht. Die Diskussion
nimmt hysterische Züge an.
Die CDU/CSU-Fraktion ist dem Verteidigungsminister dankbar, dass er die Fakten in aller Deutlichkeit und
Offenheit, soweit dies mit Rücksicht auf die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen möglich ist, heute Vormittag im Verteidigungsausschuss und jetzt im Plenum des
Deutschen Bundestages dargestellt hat.
Ich will zunächst, wie es auch der Minister getan hat
- das wird in diesen Tagen leider oft vergessen -, an die
auf dem Ausbildungsschiff „Gorch Fock“ umgekommene Kadettin und an den in Afghanistan durch einen
tragischen Unfall getöteten Soldaten erinnern und ihrer
gedenken. Beide verrichteten ihren Dienst für unser
Land. Es muss alles getan werden, um die Umstände ihres Todes vollständig aufzuklären.
Meine Damen und Herren, der Verteidigungsminister
hat die uneingeschränkte Unterstützung unserer Fraktion
hinsichtlich seiner Maßnahmen zur Aufklärung der Vorgänge auf der „Gorch Fock“. Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, dass erst nach einer umfassenden
Aufklärung der Sachverhalte einschließlich der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen eine Bewertung erfolgt.
Erst dann können und müssen die notwendigen Schlussfolgerungen und definitive Konsequenzen gezogen werden.
({0})
An diesem Vorgehen ist rein gar nichts auszusetzen.
Der Kommandant der „Gorch Fock“ wurde nicht entlassen,
({1})
sondern, wie es der Minister dargestellt hat, vorläufig
von seiner Führungsverantwortung entbunden,
({2})
um eine Vorverurteilung zu verhindern. Eine solche Entscheidung ist von der Sachlage her richtig, und sie ist
notwendig. Sie dient der Fürsorge für den Kommandanten und die Besatzung des Schiffes. Außerdem bin ich
mir sicher, dass die Opposition sonst - und zwar ohne
die Grundlage einer fairen Untersuchung - angesichts
immer neuer Berichte über die „Gorch Fock“ den Vorwurf erhoben hätte, der Minister tue nichts und halte an
einem scheinbar untragbaren Kommandanten fest.
Um auch etwas anderes in aller Klarheit zu sagen:
Niemand stellt die „Gorch Fock“ infrage. Wer das behauptet, redet unverantwortlich daher. Es gibt überhaupt
keinen Grund, jetzt zu rufen: Hände weg von der „Gorch
Fock“! Der gestrige Bericht des Wehrbeauftragten hat
außerdem gezeigt, dass der Minister richtigerweise untersuchen lässt, ob in der Bundeswehr Rituale und
Pflichtverletzungen vorkommen, die ihren Grundsätzen
und den Prinzipien der Inneren Führung widersprechen.
Auch hier - dies will ich unterstreichen - handelt es sich
keineswegs um einen Generalverdacht. Vielmehr soll
einzelnes Fehlverhalten für die Zukunft ausgeschlossen
werden.
Ich komme zu dem Vorwurf der Vertuschung und der
bewussten Irreführung des Parlaments
({3})
im Fall des in Afghanistan umgekommenen deutschen
Soldaten. Ein solcher Vorwurf war von Anfang an haltlos. Der Minister hat am Tag des Unglücks, am
17. Dezember 2010, während seiner Reise mit der Bundeskanzlerin nach Afghanistan öffentlich geschildert,
der Hauptgefreite sei durch eine Kugel aus der Waffe eines Kameraden getötet worden.
Aber ich sage auch in aller Deutlichkeit: Dass sich
diese Information in der wöchentlichen Unterrichtung
des Parlamentes durch das Verteidigungsministerium
vom 21. Dezember letzten Jahres unvollständig wiederfindet, ist eine ärgerliche Informationspanne und darf
nicht vorkommen.
({4})
Die Unterrichtung des Parlamentes muss sorgfältiger
werden.
({5})
Aber daraus den Vorwurf einer Vertuschung und bewussten Irreführung zu konstruieren,
({6})
ist abwegig und völlig überzogen. Das alles hat nur ein
Ziel: Ihnen geht es doch nicht um wirkliche Aufklärung,
sondern Ihnen ist jedes Mittel recht, einen erfolgreichen
und in der Bevölkerung hochangesehenen Verteidigungsminister zu beschädigen.
({7})
Das ist politisch verständlich. Aber dass die Opposition
diese parteitaktischen Manöver durch Spekulationen,
wie wir sie von Ihnen, Herr Arnold, gehört haben, auf
dem Rücken der Soldaten austrägt,
({8})
die in schwierigsten Einsätzen ihr Leben riskieren, und
dass Sie, Herr Arnold, sich auch nicht zu schade sind,
aus staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen zu zitieren,
({9})
ist unverantwortlich, schäbig und völlig inakzeptabel.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter
Bartels für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden heute über Führungsverhalten und Führungsprobleme bei der Bundeswehr. Von Problemen spricht
auch Frau Hoff. Darüber sind wir uns wohl relativ einig,
auch nach der heutigen Sitzung des Verteidigungsausschusses.
Probleme treten auf drei Ebenen auf.
Erstens: auf der Ebene von Ausbildern auf einem
Schulschiff. Das muss aufgeklärt werden. Da muss die
Praxis in Zukunft stimmen. Man kann gut ausbilden,
aber das kann man wahrscheinlich noch besser machen.
Die Ausbildung darf nicht lebensgefährlich sein. Wir
brauchen eine bessere Praxis. Es ist die Aufgabe der Marineführung, dafür zu sorgen.
Zweitens. Wir reden über Verantwortliche im Ministerium, die Informationen verwalten und offenbar nicht
immer an die richtige Stelle bringen, nicht zum Minister,
nicht zum Parlament und manchmal auf Umwegen in die
Öffentlichkeit. Es gibt Kommunikationsprobleme, wie
sie auch schon der Vorgänger Herr Jung kennengelernt
hat. Zu Beginn der Amtszeit haben wir von Herrn zu
Guttenberg gehört, das werde jetzt abgestellt, das alles
werde viel besser. Heute können wir feststellen: Er hat
den Laden noch nicht besser im Griff. Das muss besser
werden.
({0})
Drittens: Führungsverhalten bei der Bundeswehr. Auf
der obersten Ebene betrifft es den Verteidigungsminister
selbst. In allen drei Fällen, über die wir heute sprechen,
hat er Entscheidungen zu treffen gehabt und hat er Entscheidungen getroffen. Dann muss er sich schon die
Frage gefallen lassen, warum und wie er diese Entscheidungen getroffen hat. Das ist keine Majestätsbeleidigung. Wir werden demnächst eine Freiwilligenarmee haben. Auch Minister für diese Bundeswehr ist man nur
freiwillig. Diesen Fragen müssen Sie sich stellen.
In Sachen „Gorch Fock“ und Abberufung des Kapitäns haben wir erlebt, dass, nachdem es zunächst „keine
Vorverurteilung“ hieß, am Abend desselben Tages die
Abberufung erfolgte.
Am nächsten Tag gab es die erste Pressemitteilung:
Der Verteidigungsminister hat den Inspekteur der Marine beauftragt, den Kommandanten des Schulschiffes
„Gorch Fock“ von seinen Pflichten zu entbinden. - Das
hört sich markig an. Da wird jetzt durchgegriffen.
Am folgenden Tag, nachdem es schon ein bisschen
Presseberichterstattung gegeben hat, wird dann etwas relativiert - ich zitiere -:
({1})
Die Entbindung eines Kommandanten von seinen
Pflichten ist ein in der Marine in einer solchen
Situation übliches Verfahren.
Das war am Tag danach.
Noch einen Tag später gab es die dritte Presseerklärung zur Abberufung des Kommandanten, die angeblich
eine ganz einfache Sache aus Fürsorgegründen gewesen
ist. Da heißt es:
Ein von seinen Pflichten entbundener Kommandant
ist weder „gefeuert“ noch „geschasst“ oder „rausgeworfen“.
Sie hatten offenbar Grund, immer wieder richtigzustellen, was nicht gleich richtig gesagt wurde.
({2})
Das passt in eine Reihe von Korrekturen, die wir in
Ihrer Amtsführung hier schon gelegentlich zu kommentieren hatten. Ich erinnere an die Kunduz-Bombardierung: Sie musste stattfinden, hätte aber nicht stattfinden
dürfen. Ich erinnere an die Sache mit der Wehrpflicht:
Mit mir ist eine Abschaffung der Wehrpflicht nicht zu
machen. - Am Ende wurde sie dann ganz abgeschafft.
Oder ich erinnere an den Haushalt: Wir sparen
8,3 Milliarden Euro. - Ach nein, eigentlich brauchen wir
1,2 Milliarden Euro mehr. Und letzten Freitag hieß es:
Keine Vorverurteilung. - Aber Stunden später ist der Kapitän von Bord. Man darf sich zwar korrigieren, aber
man darf das doch nicht zu einem politischen Prinzip erheben.
({3})
Stellen Sie sich vor, nachts um 3 Uhr klingelt bei
Minister Guttenberg das Telefon. Es geht um eine ernste
Gefahr. Er muss eine Entscheidung treffen. Dann sollte
man Vertrauen haben können,
({4})
dass das die richtige Entscheidung ist und dass er sie am
nächsten Morgen nicht wieder korrigieren muss. Auch
sollte er nicht erst in der Nachttischschublade nachschauen, ob ein Journalist darin sitzt, der ihn beraten
könnte.
({5})
Herr Minister, Kritik im Parlament dient auch dazu,
Fehler in Zukunft zu vermeiden. Deshalb: Kritisieren Sie
nicht die Kritik, sondern gehen Sie einmal in sich.
Schönen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Schnurr
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Künast, ganz zu Beginn zu Ihnen.
({0})
- Auch wenn Sie aufstehen und weglaufen, spreche ich
Sie an. - Sie haben den Bundesminister am Anfang seiner Rede gefragt, ob ihm klar sei - jetzt ist sie weg -,
({1})
wie ernst die Lage ist, wie ernst die Situation ist. Das hat
sie von ganz hinten nach vorne gerufen. Ich sage Ihnen
ganz deutlich: Uns, der christlich-liberalen Koalition, ist
die Lage sehr bewusst. Es ist eine ernste Lage, und deswegen muss auch ermittelt werden.
Nur: Wie ernst ist Ihnen die Lage? Wir haben hier gerade eben ganz zu Beginn von Dr. Schmidt gehört, was
das eigentliche Ziel ist. Ein Ziel ist sicherlich die Aufklärung - ich will Ihnen definitiv nicht unterstellen, dass
Sie kein Interesse an Aufklärung haben -,
({2})
aber er hat vorhin auch ganz deutlich gesagt, dass es das
eigentliche Ziel ist, dass der Untersuchungsgegenstand
des Untersuchungsausschusses Kunduz geändert und erweitert wird und er sich auch noch mit dieser aktuellen
Themenlage befasst. Was hat das eine mit dem anderen
zu tun?
({3})
Ich sage ganz deutlich, dass wir alle - ich schließe Sie
hier gerne mit ein - natürlich wollen, dass umfangreich
aufgeklärt wird, dass sachlich aufgeklärt wird, dass vielleicht auch einmal ein bisschen Ruhe in die Diskussion
kommt und dass wir vor allem eines Tages über Fakten
und nicht nur über Mutmaßungen und Vermutungen reden. Gerade weil die Vorwürfe, die teilweise im Raum
stehen - insbesondere im Zusammenhang mit der
„Gorch Fock“ -, sehr schwerwiegend sind, müssen wir
abwarten, bis die Fakten vorliegen. Der Minister hat zugesichert, dass hier Fakten vorgelegt werden, und das ist
auch richtig so.
Er hat auch über die Abberufung des Kommandanten
gesprochen. Es ist deutlich geworden - das hat er heute
früh gesagt, das hat er gerade eben im Plenum gesagt -,
warum und auf welcher Grundlage er das gemacht hat.
Er hat das aus Fürsorgepflicht getan. Diese Frage hat er
beantwortet. Sie müssen mit der Antwort nicht zufrieden
sein, aber Sie müssen doch einmal zur Kenntnis nehmen,
dass er sie begründet hat.
({4})
Herr Bartels, Sie sagen, das Parlament sei nicht vom
Minister informiert worden. Mit gleichem Atemzug beklagen Sie, dass der Minister drei Pressemitteilungen herausgegeben und am Samstag mehrere Gespräche mit
Journalisten geführt hat, in denen er deutlich gemacht
hat, welche Position er vertritt und warum er zu dieser
Entscheidung gekommen ist. Das ist Ihnen auch nicht
recht. Was wollen Sie denn?
({5})
- Sie sind doch gleich dran.
Vor allem ist eines deutlich geworden: Es ist völlig
klar, dass es Öffentlichkeitsarbeit ist, wenn ein Minister
mit Medien - egal, welche Form von Medien, zum Beispiel mit Zeitungen - spricht. Dadurch wurde ein Teil
der Öffentlichkeit informiert, ja, aber das ist nicht
gleichzusetzen mit der Unterrichtung des Parlamentes.
({6})
- Das ist so; das ist völlig eindeutig. - Sie müssen sich
aber auch den zweiten Satz anhören: Der Minister hat
auch klargemacht - daran gibt es keinen Zweifel -, dass
hier ein Fehler unterlaufen ist. Die Unterrichtung des
Parlamentes war in diesem Zusammenhang nicht hundertprozentig korrekt.
({7})
- Sie sprechen davon, dass sie „falsch“ bzw. irreführend
war. - Auf jeden Fall war sie nicht hundertprozentig korrekt.
({8})
Der Minister hat gerade eben gesagt, dass er das anerkennt, dass er diesen Fehler gesehen hat und dass jetzt
Sorge dafür getragen werden muss, dass dieser Fehler in
Zukunft nicht noch einmal passiert. Von daher sage ich
noch einmal: Es war eine ärgerliche Informationspanne,
({9})
und insbesondere der Minister muss jetzt dafür sorgen,
dass wir im Nachgang ordentlich informiert werden. Daran habe ich auch keinerlei Zweifel.
({10})
Am Ende möchte ich eines noch ganz deutlich hervorheben, nämlich die sehr gute Arbeit unseres Wehrbeauftragten Hellmut Königshaus.
({11})
Hellmut Königshaus, dem Wehrbeauftragten, und seinen
Mitarbeitern - das möchte ich ganz ausdrücklich sagen gilt mein Dank und auch der Dank der FDP-Fraktion.
({12})
Es zeigt sich einmal mehr, wie wichtig diese Institution
für uns Parlamentarier ist, die als Hilfsorgan des Parlamentes agiert, letztendlich aber auch als Anlaufstelle für
die Soldaten dient, um Missstände, Probleme und Herausforderungen anzusprechen. Das ist ganz wichtig.
Für die Zukunft und das weitere Vorgehen wünsche
ich mir, dass wir eine sachgerechte Diskussion führen,
eine sachgerechte Aufklärung betreiben und als Parlamentarier, als Abgeordnete, letztendlich korrekt informiert werden.
Vielen Dank.
({13})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Agnes Malczak das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuallererst möchte ich den Angehörigen der im November ums
Leben gekommenen Kadettin und des im Dezember getöteten Hauptgefreiten in Afghanistan mein Mitgefühl
aussprechen, und das nicht nur für den Verlust ihrer Lieben. Denn für sie ist auch die derzeitige Debatte mit
Sicherheit alles andere als leicht auszuhalten. Ich denke,
das sollten wir alle nicht vergessen.
({0})
Was genau auf der „Gorch Fock“, bei dem Todesfall
in Afghanistan und im Fall der Feldpost geschehen ist,
wird und muss noch eine Frage von weiteren Untersuchungen sein. Wahrscheinlich ist, dass diese Ereignisse
nicht für die ganze Bundeswehr stehen. Es geht heute
auch nicht darum, die Details der Vorfälle zu diskutieren
und Urteile zu sprechen. Die Aufklärung dieser Ereignisse muss zeitnah und schnell, gründlich und ohne Vorverurteilung, aber auch ohne falsche Rücksichtnahme in
den kommenden Wochen geschehen.
Im Zentrum steht heute aber die Frage, wie das Verteidigungsministerium, wie Sie, Herr Minister zu Guttenberg,
mit diesen Ereignissen umgegangen sind und was diese
Vorfälle für die Bundeswehr bedeuten.
({1})
Dabei geht es im Kern der Debatte um die Realität der
Inneren Führung. „Gorch Fock“, der Todesfall in Afghanistan und die Feldpost: Über diese drei Ereignisse
wurde das Parlament nicht durch die politische oder militärische Führung der Bundeswehr informiert. Der
Wehrbeauftragte hat diese Missstände aufgedeckt und
öffentlich gemacht. Dieser Weg, auf dem die Informationen ins Parlament und in die Öffentlichkeit gelangt sind,
ist ein Armutszeugnis für Sie, Herr Minister zu
Guttenberg.
({2})
Das Prinzip der Inneren Führung erfordert, genau hinzuschauen. Das heißt, man muss wissen, was in der
Truppe los ist. Doch die Ereignisse auf der „Gorch
Fock“ im November 2010 wurden Ihnen erst in der letzten Woche durch den Wehrbeauftragten in dieser Dringlichkeit und Priorität zugetragen.
Dass es nach dem Tod der Kadettin Probleme gab,
war aber schon im Dezember des letzten Jahres Thema
im Verteidigungsausschuss. Auch im Fall des am
17. Dezember 2010 in Pol-i Khomri ums Leben gekommenen Hauptgefreiten schienen Sie, Herr Minister, es
nicht für nötig gehalten zu haben, sich umgehend zu informieren. Der Special Investigations Report wurde laut
Ihrer eigenen Presseerklärung bereits nach zehn Tagen
fertiggestellt. Am 21. Januar, fast einen Monat später,
haben Sie dem ARD-Morgenmagazin gesagt, Sie hätten
den Feldjägerbericht in den letzten Tagen bekommen.
Sie sollten weder im Ausschuss noch hier Pappkameraden aufstellen, auf die Sie schießen können. Denn niemand von uns hat Ihnen gesagt, Sie müssten jeden Feldjägerbericht lesen. Ich erinnere nur an Ihren ehemaligen
Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan und an den
ehemaligen Staatssekretär Dr. Wichert, die gehen mussten, weil sie Ihnen einen Feldjägerbericht nicht vorgelegt
haben. Tun Sie nicht so, als ob ein Feldjägerbericht, in
dem es um den Tod eines Soldaten geht, ein x-beliebiger
Bericht wäre.
({3})
Mit der Inneren Führung untrennbar verknüpft ist das
Prinzip der Bundeswehr als Parlamentsarmee. Daraus
folgt, dass die politische und militärische Führung eine
Informationspflicht gegenüber dem Parlament hat.
({4})
Statt dem Parlament mitzuteilen, was Sie über den Tod
des Hauptgefreiten in Afghanistan wissen und welche
Maßnahmen Sie im Fall der „Gorch Fock“ angewiesen
haben, rennen Sie einmal mehr zuallererst zu den Medien.
Der Wehrbeauftragte schreibt in seinem gestern vorgestellten Bericht von dem verloren gegangenen Vertrauen der Soldatinnen und Soldaten. Diese „verweisen
darauf, dass zahlreiche Mängel und Defizite immer wieder gemeldet und seit Jahren bekannt seien, ohne dass
sich eine Besserung abzeichne.“ Zu diesen Mängeln gehören auch Probleme beim Führungsverhalten und bei
der Ausbildung. Das hat Hellmut Königshaus gestern
berichtet; das stand aber auch schon im letzten Jahresbericht des damaligen Wehrbeauftragten Reinhold Robbe.
Heute kann noch keine abschließende Aussage zu den
beiden Vorfällen auf der „Gorch Fock“ und in Pol-i
Khomri gemacht werden. Aber es deutet vieles darauf
hin, dass wir uns die Frage stellen müssen, was diese Ereignisse für die Realität der Inneren Führung in der Bundeswehr bedeuten.
Grundsätzlich gilt: Einsätze wie in Afghanistan und
die tiefgreifende Bundeswehrreform haben auch Auswirkungen auf die Innere Führung. Daher muss über die
Weiterentwicklung der Inneren Führung fortwährend
und intensiv diskutiert werden - mit der Bundeswehr, in
der Politik und in der gesamten Gesellschaft.
({5})
Herr Minister, dabei erwarten wir von Ihnen mehr, als
jenen, die Kritik äußern, per Pressemitteilung „bemerkenswerte Ahnungslosigkeit“ vorzuwerfen;
({6})
denn ein solches Verhalten ist nicht nur eine Frechheit,
sondern fällt auch auf Sie zurück, weil eigentlich Sie es
sind, der bei diesen drei Vorgängen bemerkenswert ahnungslos war.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Ernst-Reinhard Beck
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Häufung der Vorkommnisse
in der Bundeswehr in der Berichterstattung der letzten
Tage wird von der Opposition, auch heute wieder, zum
Anlass genommen, von Vertuschung und von Falschunterrichtung des Parlaments zu sprechen. Nach einer
Ernst-Reinhard Beck ({0})
beinahe fünfstündigen, ausführlichen und gründlichen
Unterrichtung durch den Verteidigungsminister im Verteidigungsausschuss kann davon, glaube ich, in überhaupt keiner Weise mehr die Rede sein.
({1})
Eine Vielzahl von Vermutungen und Spekulationen sind
heute Morgen in sich zusammengefallen. Ich möchte die
Kollegen daran erinnern: Empörung ersetzt keine Recherche und schon gar keine gründliche Untersuchung.
Die Verletzung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses ist ein schwerwiegendes Vergehen. Der
Minister hat dem Deutschen Bundestag hierzu am
Montag und Dienstag zwei Zwischenberichte zugeleitet.
Die Angelegenheit ist heute Morgen sehr detailliert dargestellt worden. Bis dahin sollten Spekulationen jeder
Art unterbleiben, ob die Zugriffsstelle in Afghanistan
oder in Deutschland war. Wir können nur hoffen, dass
wir das relativ bald herausbringen; denn in der Tat ist der
Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis ein
Eingriff in die Grundrechte der Soldaten, den wir nicht
hinnehmen können. Aber es geht weit an der Realität
vorbei, bereits jetzt und überhaupt von flächendeckendem und systematischem Öffnen von Briefen zu sprechen. Bei einer Menge von etwa 900 000 im Jahr haben
wir jetzt, glaube ich, 27 Briefe, um die es geht.
({2})
Jeder geöffnete Brief ist schlimm genug. Aber wir dürfen die Dinge nicht in dieser Weise dramatisieren.
Lieber Herr Kollege Arnold, ich halte es in der Tat für
unerträglich, wenn wieder die Rede davon ist, dass mit
Waffen gespielt wird. Wir alle haben im Verteidigungsausschuss den Feldjägerbericht gelesen, wenn auch relativ spät. Zum Feldjägerbericht möchte ich sagen: Feldjägerberichte gehören weder auf den Tisch des Ministers
noch auf den Tisch der Abgeordneten. Es handelt sich im
Grunde um Ermittlungsergebnisse für den Disziplinarvorgesetzten. Die Feldjäger sind eben nicht die Hilfspolizei. Die Feldjäger haben nicht die polizeilichen Befugnisse. Deshalb ist es auch richtig, jedes Mal die
Staatsanwaltschaft einzuschalten; denn nur dann gibt es
eine unabhängige Untersuchung. Es war ein tragischer
Vorfall, bei dem ein junger Mann durch das Verschulden
eines Kameraden ums Leben kam. Dies ist das Faktum.
Wenn man sich nach den Umständen fragt, dann muss
man sehen, dass das Waffenreinigen im Einsatzgebiet etwas anderes ist als in der warmen Stube im Frieden zu
Hause. Genauso ist das Übungsschießen im Einsatz etwas anderes als das Übungsschießen auf der Standortschießanlage zu Hause.
Ich komme zu den Ereignissen auf der „Gorch Fock“.
Ich glaube, angesichts der sich rasant verdichtenden Medienlage mit neuen Vorwürfen im Stundentakt am
Freitag Nachmittag konnte der Minister gar nicht anders
entscheiden, als den Kommandanten von seiner Verantwortung zu entbinden. Das gebietet schon die Fürsorge
gegenüber einem Soldaten in Führungsverantwortung.
Wir alle sind aufgerufen, zu verhindern, dass ein bewährter Offizier einem öffentlichen Spießrutenlaufen
ausgesetzt wird. Nicht der Minister hat den Kommandanten vorverurteilt, sondern die geballte Medienwelt.
Angesichts der Fülle unbewiesener Vorwürfe war die
Entscheidung des Ministers sachgerecht und unter Fürsorgegesichtspunkten auch geboten. Wenn hier moniert
wird, dass nicht gehandelt und nicht informiert worden
ist, dann erinnere ich daran, dass das Vorkommnis am
7. November war. Kurz darauf hat die Marineleitung
entschieden, ein Havarieteam zu entsenden. Es wurde
die Entscheidung getroffen, diesen Lehrgang abzubrechen und die Lehrgangsteilnehmer zurückzuholen. Zumindest die Obleute wurden am Samstag unterrichtet,
dass die Marineleitung angewiesen wurde, den Kommandanten des Schiffes unverzüglich und bis zum Abschluss der laufenden Ermittlungen von seinen Pflichten
zu entbinden.
Dies war eine Anweisung an die Marineleitung: zu
entbinden. Ich bitte darum - auch den Kollegen Arnold -,
das einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen und nicht
mit Wortspielereien aus der Presse wie „abgelöst“ zu
kommen, und zwar in einer Form, die dem eben nicht
entspricht. Das ist keine disziplinarische Maßnahme. Ich
habe mir heute Morgen sagen lassen, dass es sich „Spannungskommandierung“ nenne, wie man ein solches Problem in allen Marinen dieser Welt löst. Ich würde Sie
sehr herzlich bitten, bis zum Abschluss der fortlaufenden
Ermittlungen, die hier angedeutet werden, zu warten.
Ohne der Aufklärung vorgreifen zu wollen, scheint
mir bereits heute eines sicher zu sein: Eine Stärkung der
Dienstaufsicht ist nach meiner Einschätzung dringend
geboten. Wir müssen die Vorgesetzten wieder stärker in
ihrer Führungsverantwortung und in den Grundsätzen
der Inneren Führung schulen. Die zunehmende Einsatzbelastung darf nicht dazu führen, elementare Prinzipien
unserer Führungskultur oder den Respekt der Untergebenen im Umgang mit Schusswaffen und ihre Sorgfalt in
der Handhabung zu vernachlässigen.
Wenn jetzt wieder ein Untersuchungsausschuss gefordert wird, so will ich nur daran erinnern, dass wir vor einer großen Reform der Bundeswehr stehen. Sie verlangt
unsere volle Aufmerksamkeit. Wir können uns nicht erlauben, diese Reform nur halbherzig zu begleiten. Daher
appelliere ich dringend an alle Verantwortlichen auch im
Parlament, sicherzustellen, dass wir hier - bei aller gebotenen Aufklärung - unseren Kernauftrag in den nächsten
Monaten sehen. Wir brauchen unsere gestalterische
Kraft für die Zukunft der Bundeswehr.
Wir dürfen das Feld auch nicht den Denunzianten und
all denen überlassen, die noch eine offene Rechnung mit
der Bundeswehr zu begleichen haben. Sachliche und
faire Aufklärung ist das Gebot der Stunde. Wir brauchen
mehr denn je eine Bundeswehr, die für junge Menschen
auch in Zukunft attraktiv ist. Dies sicherzustellen, darin
besteht unsere gemeinsame Verantwortung für die Bundeswehr als Parlamentsheer.
Vielen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Evers-Meyer
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Todesfälle auf dem Segelschulschiff „Gorch Fock“,
tödliche Waffenspiele in Afghanistan und geöffnete
Feldpost, das ist ganz bestimmt nicht im Sinne derjenigen, die aus der Bundeswehr eine offenere Armee machen wollten, eine Armee der Inneren Führung, eben
eine Armee aus Staatsbürgern in Uniform.
Ich appelliere heute zuallererst an uns, an die Mitglieder des Deutschen Bundestages: Unsere Bundeswehr ist
eine Parlamentsarmee. Wir haben die Verantwortung für
die Truppe und für diejenigen, die darin ihren Dienst tun.
Wir wollen nicht, dass diese Bundeswehr sich innerlich
zerreißt, von außen kaputtgeredet oder in ein schlechtes
Licht gestellt wird.
({0})
Vieles von dem, was da in den letzten Tagen in den Zeitungen suggeriert wurde, entspricht in keiner Weise dem
tatsächlichen Bild der Bundeswehr und der Arbeit der
Soldatinnen und Soldaten.
({1})
Wir können aber auch nicht zulassen, dass die Prinzipien, denen diese Bundeswehr in den letzten 60 Jahren
verpflichtet war, offensichtlich Gefahr laufen, auf dem
Scheiterhaufen zu enger Einsatzpläne, mangelnder Ausbildung und auch unzureichender Finanzierung geopfert
zu werden. Und schon gar nicht werden wir es zulassen,
dass Vorkommnisse und Entwicklungen vertuscht oder
verheimlicht werden und dass eine notwendige Diskussion über die inneren Strukturen der Bundeswehr weiter
verzögert wird.
Als Mitglied des Bundestages danke ich an dieser
Stelle ausdrücklich dem Kollegen Königshaus für den
Dienst, den er dem Deutschen Bundestag erwiesen hat.
Sie haben mit Ihrer Arbeit dem Amt des Wehrbeauftragten alle Ehre gemacht. Ohne Ihre Berichte wäre die notwendige Diskussion heute noch weiter hinausgezögert
worden.
({2})
Als Mitglied des Verteidigungsausschusses würde ich
mir wünschen, dass der Verteidigungsminister diese Debatte ebenfalls für notwendig hielte. Das tut Minister zu
Guttenberg aber offensichtlich nicht. Bei aller Liebe,
Herr Minister,
({3})
das, was Sie in den letzten Wochen und Tagen in Richtung des Deutschen Bundestages abgeliefert haben, war
nach meiner Meinung unterirdisch. Wenn Sie in den
Ausschuss kommen, dann sind die Informationen, die
Sie mitbringen, mehr als dürftig; heute war das einmal
eine kleine Ausnahme. Wir sind das von anderen Verteidigungsministern so nicht gewohnt. Mag sein, dass Sie
andere Kreise umfassend informieren. Das Parlament informieren Sie eben nicht. Nicht einmal Ihr eigener
Staatssekretär kannte die Umstände, unter denen ein Soldat in Afghanistan durch den Schuss eines Kameraden
getötet wurde.
({4})
Die Frage nach einem Feldjägerbericht wird erst verneint; auf weitere Anfrage gibt es ihn dann doch. Man
fühlt sich ein wenig an Abläufe im Vorfeld der Entlassung des letzten Generalinspekteurs erinnert.
({5})
Diesmal werden Sie aber nicht wieder andere dafür verantwortlich machen können. Das lässt man jemandem
nur ein Mal durchgehen.
({6})
Herr Minister, Sie brauchen jetzt mehr denn je das Vertrauen der Mitglieder des Deutschen Bundestages und vor
allen Dingen das Vertrauen der Mitglieder des Verteidigungsausschusses, auch wenn Sie heute vielleicht noch
denken, die öffentliche Unterstützung bestimmter Zeitungen lasse Sie über den Dingen schweben. Ich prophezeie
Ihnen heute: Das reicht am Ende in der Regel nur für einen Auftritt in einer Fernsehshow; das reicht aber nicht,
um ein guter Verteidigungsminister zu sein. Deswegen
lassen Sie uns doch endlich offen und ehrlich miteinander
umgehen. Lassen Sie sich vernünftig informieren und geben Sie Ihre Informationen an uns weiter und nicht erst an
die Zeitung. Dann können wir das, was geschehen ist, beurteilen und unsere Schlüsse ziehen. Auch wenn der
Staatsanwalt ermittelt, müssen wir wahrheitsgemäß informiert werden. Wir wollen ja nicht vorverurteilen, sondern man kann vielleicht zwischendurch schon einmal
dem einen oder anderen Missstand abhelfen.
Natürlich gibt es nicht den einen Grund, der als Ursache für diese Vorfälle, beispielsweise in Afghanistan, herangezogen werden könnte. Aber es gibt viele größere
und kleinere Mängel, die am Ende solche Vorfälle befördern. Ich hatte bei meinen letzten Besuchen im
Herbst 2010 wiederholt den Eindruck, dass es gerade den
jungen Soldatinnen und Soldaten immer öfter an klaren
Maßstäben fehlt. Sie sind aber wichtig, gerade wenn Einsätze gefährlich sind. Das gilt umso mehr, wenn diese
Einsätze immer länger dauern.
Das ist doch eines der Kernprobleme: Das aktuelle
Afghanistan-Kontingent wird zum großen Teil nicht die
geplanten vier, sondern sechs Monate im Einsatz sein.
Dass praktisch ein ganzes Einsatzkontingent für sechs
Monate nach Afghanistan geschickt wird, ist ein Problem. Wir mögen damit Geld sparen; aber wir überlasten
damit auch viele Soldatinnen und Soldaten. Wir wissen,
dass die Wahrscheinlichkeit psychischer Erkrankungen
dann ansteigt.
Noch schlimmer ist es, wenn diese Belastungen in der
Truppe nicht angemessen abgefedert werden können. In
solchen Belastungssituationen kommt es auf gute und
verlässliche Menschenführung an, die den Prinzipien der
Inneren Führung entspricht. Daran mangelt es an einigen
Stellen. Kollege Königshaus hat das beschrieben. Wir
sollten hier im Bundestag, im Verteidigungsausschuss
gemeinsam über die Probleme diskutieren: schlechte
Möglichkeiten der Kommunikation mit der Familie, weniger politische Bildung und Ausbildung, zu lange Einsatzzeiten. Das sind Themen, mit denen wir uns beschäftigen müssen.
Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit.
Ich komme zum Ende. - Das Schlechteste wäre es,
jetzt nur nach einem Verantwortlichen zu suchen und die
Dinge ansonsten laufen zu lassen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was ist das für eine einfallslose Oppositionsarbeit,
die wir in diesen Tagen erleben müssen! In einer Zeit, in
der fast wöchentlich wichtige Entscheidungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik getroffen werden, in
einer Zeit, in der sich die Menschen in unserem Land
fragen: „Wie geht es weiter in Afghanistan?“, in einer
Zeit, in der die Truppe sich fragt: „Wie sieht die Bundeswehr der Zukunft aus?“,
({0})
fragen Sie sich: Wie können wir das hohe Ansehen des
Bundesverteidigungsministers endlich nachhaltig beschädigen?
({1})
Nachdem im letzten Jahr alle Versuche in dieser Richtung gescheitert sind, nachdem der Kunduz-Untersuchungsausschuss nicht das Ergebnis gebracht hat, das
Sie sich gewünscht haben, haben Sie das neue Jahr mit
einer neuen Strategie begonnen.
Drei völlig verschieden gelagerte Vorgänge werden
miteinander vermischt, das Gesamtpaket mit der pauschalen Behauptung der Vertuschung und Falschinformation des Parlaments unterlegt und der Minister persönlich dafür verantwortlich gemacht nach dem Motto:
Selbst wenn sich zum Schluss alle einzelnen Vorgänge in
Luft auflösen - irgendetwas davon wird schon hängen
bleiben.
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Der Minister kann sich gegen diese Attacke wehren.
Nicht wehren können sich aber die Soldaten, vor allem
nicht diejenigen, die von diesen Vorgängen direkt betroffen sind und die Anspruch auf eine sachgemäße Klärung
ohne eine öffentliche Vorverurteilung haben. Dieses Vorgehen von Ihnen ist verantwortungslos.
Ich möchte die Vermengung dieser drei Aspekte einmal auflösen und einen der Vorgänge herausgreifen, bei
dem der Vorwurf der Vertuschung und Falschinformation besonders laut zu hören war: der Tod des Soldaten
in Afghanistan am 17. Dezember. Wir alle wurden durch
die Unterrichtung des Parlaments am 21. Dezember darüber in Kenntnis gesetzt, dass ein Soldat mit einer
Schusswunde aufgefunden wurde, dass dieser während
einer Notoperation verstorben ist und dass Untersuchungen zu diesem Vorgang laufen. Man kann sich darüber
aufregen, dass diese Information zu knapp war. Das trifft
zu. Aber sie ist nicht falsch.
Der weiter gehende Vorwurf, die Bundeswehr oder
der Minister hätten vorsätzlich versucht, der Öffentlichkeit glauben zu machen, der Soldat hätte sich selbst erschossen, ist schlicht Verleumdung. Es gab eine solche
Meldung in den Medien. Der Minister selbst hat sie korrigiert. Bereits ab dem 19. Dezember, zwei Tage nach
dem Vorfall, wurde korrekt darüber berichtet.
Ich war dann selber mit Kollegen von der CDU, Karl
Lamers und Robert Hochbaum, aber auch von der FDP,
den Grünen und von der SPD zwei Tage später in Afghanistan, nicht als Aufklärungskommando, sondern weil
wir uns im Hinblick auf die anstehende Mandatsverlängerung über die Hintergründe vor Ort informieren wollten. Wir wurden dort von Anfang an korrekt informiert,
dass ein zweiter Soldat den Schuss abgegeben hat.
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- Nein, Kollege Schäfer, das ist nicht die Unterrichtung
des Parlaments. Es ist nur die Antwort auf den Vorwurf,
dass etwas vertuscht werden sollte. Das ist aber an den
Haaren herbeigezogen.
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Jetzt wird der Vorwurf erhoben - es geht nämlich
noch weiter -, dass die Bundeswehr bewusst etwas verharmlosen wollte und deswegen nur von „Waffe reinigen“ spricht. Es wird aus einem Feldjägerbericht zitiert
- Feldjägerbericht hört sich ja gut an; wir erinnern uns
an Kunduz -, demzufolge einer von mehreren Zeugen
angeblich von einem „spielerischen Umgang“ gesprochen haben soll. Sie wissen genau, dass die Aussagen in
diesem Punkt nicht eindeutig sind. Der Vorwurf der Vertuschung, den Sie erheben - Kollege Arnold ist jetzt leider schon weg; er hat wahrscheinlich etwas anderes zu
tun -,
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ist an dieser Stelle besonders hinterhältig, weil Sie genau
wissen, dass staatsanwaltschaftliche Ermittlungen laufen
und der Dienstherr schon aus Fürsorgegründen zu diesem Thema nicht Stellung nehmen kann. Wie ich vorhin
schon gesagt habe: Der betroffene Soldat hat Anspruch
auf eine sachgemäße Klärung ohne eine öffentliche Vorverurteilung.
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Meine Damen und Herren von der Opposition, lassen
Sie die Staatsanwaltschaft ihre Arbeit tun! Nutzen Sie
diesen tragischen Fall nicht für Ihre Oppositionsarbeit
und bilden Sie sich erst nach Abschluss der Ermittlungen
Ihr Urteil! In der Zwischenzeit haben wir im Verteidigungsausschuss für unser Land und unsere Bundeswehr
genügend zu tun.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Nach bemerkenswerten fünf Stunden
Aufklärung im Ausschuss gebührt in meinen Augen erst
einmal der Dank Ihnen, die dem Verteidigungsausschuss
angehören und diese Aufklärungsarbeit heute vorangetrieben haben, und natürlich auch dem Minister, der Ihnen ausführlich Rede und Antwort gestanden hat.
Deshalb fand ich es an manchen Stellen schon bemerkenswert, welches Theater Herr Arnold hier seit Tagen
aufführt. Er ist leider nicht mehr da; ihm wird meine Kritik aber sicherlich nachgereicht. Bei Ihnen zweifle ich an
manchen Grundfertigkeiten, die ein Politiker mitbringen
sollte, schon sehr stark; denn Lesen gehört definitiv
dazu.
Wenn Sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
vom 20. Dezember 2010 den Bericht von Herrn Stephan
Löwenstein gelesen haben, kann Ihnen nicht entgangen
sein,
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dass dort keine Vertuschungskampagne im Gange war,
sondern dass von Anfang an offen kommuniziert worden
ist. Die von Ihnen aufgezählten Beispiele einer Vertuschungs- oder Verfälschungsaktion stimmen schlichtweg
nicht.
Der Kollege Brandl hat aus Unionssicht gerade auch
etwas dazu gesagt, wie mit der Unterrichtung des Parlaments umzugehen ist. Das hat aber nichts damit zu tun,
dass hier eine bewusste Falschinformation stattgefunden
hat.
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Deshalb finde ich das, was Sie gesagt haben, ziemlich
aufgebauscht.
Herr Arnold, bitte schreiben Sie sich hinter die Ohren,
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dass Sie sich hier nicht aufführen können wie ein Staatsanwalt. Überlassen Sie das dem für den Fall zuständigen
Staatsanwalt in Gera. Es ist nicht Aufgabe eines Bundestagsabgeordneten, hier über den laufenden Ermittlungsstand in dieser Art und Weise abzuurteilen und damit
eine Verurteilung von Leuten, die in ein Unglück verwickelt sind, vorzunehmen.
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Es ist vielmehr auch Ihre Aufgabe, sich schützend vor
die Soldatinnen und Soldaten zu stellen, anstatt hier einen solchen Zirkus aufzuführen.
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Frau Künast ist vorhin weggelaufen und dann wiedergekommen, jedenfalls mit großer Schreierei in dieser
Debatte aufgefallen.
Herr Oppermann spricht von einer Meuterei des
Ministers. Herr Oppermann, das hat doch nichts mit
ernsthaftem Interesse an diesem Thema und am Ansehen
der Bundeswehr zu tun.
Die Widersprüche sind sehr groß. In Bezug auf die
„Gorch Fock“ erklärte Herr Arnold vorhin vor laufenden
Kameras - das ist ja seine neue Lieblingsbeschäftigung;
bei ihm sind es etwas mehr als die 15 Minuten Ruhm, die
Andy Warhol einem jeden von uns zugeschrieben hat -,
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wenn es nach ihm ginge, wäre der Kommandant der
„Gorch Fock“ schon am vorigen Mittwoch entlassen
worden. Ja, was denn nun? Vorhin wurde hier von voreiligem Handeln gesprochen. Dort wurde jetzt gesagt, eigentlich hätte man es eher machen sollen. Was wollen
Sie eigentlich? Diese Aufklärung sind Sie uns an dieser
Stelle schuldig und vor allem der Bundeswehr.
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Herr Schäfer, genauso unanständig finde ich das, was
Sie vorhin über Admiral Schimpf gesagt haben. Es ist
einfach nicht richtig, über einen hochrangigen und verdienten Soldaten hier so zu urteilen. Sie behaupten, Admiral Schimpf sage im Verteidigungsausschuss nichts
Ausführliches dazu. Sie können sich doch wesentlich
besser daran erinnern, was im Verteidigungsausschuss
los war. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses
hat gesagt: Admiral Schimpf, jetzt nur noch eine Minute;
denn wir müssen alle weg. - Dann wurde er dazu gebracht, dort eine Stellungnahme abzugeben.
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- So war das an diesem Tag, weil damals eine Regierungserklärung abgegeben wurde und weil Sie am Nachmittag nicht noch einmal zusammenkommen wollten.
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- Ich habe mich bei den Kollegen gerade darüber informiert. Sie können ja gerne nachlesen, was dort stattgefunden hat. Jedenfalls erinnern sich unsere Kollegen
offenbar besser als Sie daran, was tatsächlich stattgefunden hat.
Herr Bartels hat von den Sparzielen gesprochen. Auch
dort ist mir relativ unklar, was die SPD letztendlich will.
Denn an dieser Stelle ist doch festzustellen - das gilt natürlich für alle Abgeordneten dieses Hauses und insbesondere auch für Vertreter der Bundesländer -: Zunächst
wurde gesagt, der Minister solle sparen.
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- Ich habe ja die CDU-Länder mit eingeschlossen.
Ich kenne viele Abgeordnete aus unserer Fraktion,
viele Abgeordnete aus Ihrer Fraktion und viele Ministerpräsidenten, die in den vergangenen Wochen massiv geworben haben: Sparen ja, aber nicht bei mir.
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Es war von Anfang an klar - daraus hat der Minister
nie einen Hehl gemacht -, dass die Sparziele dann, wenn
man sich auf die Zahl von 185 000 Soldaten einigt,
schwierig zu erreichen sein werden.
Gerade aus diesem Haus sind doch momentan viele
Leute unterwegs, die sagen: Mein Standort ist der wichtigste; er ist militärisch für die Verteidigung der NATO
und für den Weltfrieden das Allerwichtigste.
Deswegen fand ich das, was Herr Bartels vorhin zum
Thema Sparziele gesagt hat, auch ziemlich verlogen. Da
gibt es überhaupt kein Hin und Her. Vielmehr gab es von
Anfang an eine klare Ansage.
Dieses Haus und der Bundesrat versuchen sukzessive,
diese Sparziele zu konterkarieren.
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- Das bezieht sich auf die Äußerungen von Frau
Malczak und Frau Evers-Meyer.
Ich fand es richtig, dass Sie den Wehrbeauftragten loben; er ist ja auch das Hilfsorgan dieses Hauses.
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- Ich bin schließlich nicht hierher entsendet worden, um
die ganze Zeit zu klatschen.
Ich bin dem Wehrbeauftragten für seine Arbeit aber
durchaus dankbar. Ihr Lob war jedoch ziemlich übertrieben, und die Form von Verurteilung der Arbeit des Vorgängers - das würde ja bedeuten, dass er all die Jahre
geschlafen hätte - lehne ich ab; denn Herr Robbe hat eigentlich gute Arbeit geleistet.
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Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Damit sind wir auch am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 27. Januar 2011,
10.30 Uhr ein. Vorher findet um 9 Uhr im Plenarsaal die
Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages für die
Opfer des Nationalsozialismus statt.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und schließe
die Sitzung.