Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/21/2011

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir mit unserer heutigen Tagesordnung beginnen, möchte ich Sie noch kurz über eine Änderung des Zeitplans für dieses Jahr informieren. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen zwei vereinbarte Sitzungswochen im September getauscht werden. Die in der 37. Kalenderwoche geplanten Sitzungen sollen in die 38. Woche verschoben werden. Das würde bedeuten, dass die Woche vom 12. September beginnend sitzungsfrei wird und die Woche vom 19. September an eine Tagungswoche. Ich nehme an, dass dazu Einvernehmen hergestellt werden kann. - Dann bitte ich, das für mögliche Dispositionen zu berücksichtigen. Aber wir teilen es natürlich noch einmal mit. Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 21 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zum zivilen Wiederaufbau in Afghanistan Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung erhält nun der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Minister:in)

Politiker ID: 11003198

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer heute an den Hindukusch kommt, der sieht: Die Kinder lassen wieder Drachen steigen. Ich glaube, es ist ein gutes Zeichen, dass diese Lebensfreude in Afghanistan wieder Fuß fasst. An den Anfang der Debatte über den zivilen Wiederaufbau möchte ich den Dank an all jene stellen, die von deutscher Seite zu dieser Entwicklung beigetragen haben: ({0}) die Diplomaten und Polizisten, die Soldaten und Entwicklungsexperten. Sie arbeiten im Team. Ihr Einsatz nötigt uns Respekt ab, und ihre Opfer machen uns betroffen. ({1}) Am Heiligen Abend wurde zum ersten Mal ein deutscher Mitarbeiter unserer staatlichen Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan ermordet. Ich war gestern bei der Trauerfeier. Unsere Gedanken sind bei seinen Angehörigen, aber auch bei seinem verwundeten afghanischen Kollegen. Ich wünsche ihm baldige, vollständige Genesung. Opfer und Rückschläge bewirken, dass in der Öffentlichkeit Zweifel am Erfolg unseres Engagements in Afghanistan laut wurden. Unüberhörbar sind die Fragen ganz besonders der Angehörigen: Wie lange sollen wir noch Opfer bringen? Wird die Lage durch unseren Einsatz überhaupt besser? - Wir gewinnen nichts, wenn wir die Lage schöner reden, als sie ist. Das ist der Fehler, der früher oft gemacht worden ist. Aber wir gefährden alles, wenn wir die Lage schlechter reden, als sie ist. Das ist der Fehler, den wir in Zukunft nicht machen werden. ({2}) Die Sicherheitslage, liebe Kolleginnen und Kollegen, macht uns Sorge. Die Aufständischen töten wahllos. Sie zielen auf Zivilisten und Menschenrechte, auf Völkerrecht und Wiederaufbau. So konnte die medienwirksame Behauptung, nichts sei gut in Afghanistan, viel Widerhall erhalten. Schwarz-Weiß-Malerei spielt den Extremisten in die Hände. „Nirwanasätze“ sind immer falsch und gelegentlich unverantwortlich. Richtig ist: Vieles ist besser geworden in Afghanistan. Richtig ist: DeutschRedetext lands Rolle in Afghanistan verstehen wir nur, wenn wir den Vorrang des zivilen Wiederaufbaus vor dem militärischen Einsatz sehen. Vieles ist besser geworden, auch dank des Engagements vieler Afghaninnen und Afghanen. Wer zu ihrem Land nicht mehr zu sagen hat als Extremismus, Terrorismus oder „Nichts ist gut“, der versteht nicht, warum es so gut ist, dass heute wieder Drachen fliegen. Mich hat bei meinen Besuchen der Aufbauwille der Afghanen beeindruckt. Der Fortschrittsbericht der Bundesregierung vom Dezember zeigt hier ein sehr differenziertes Bild der Situation. Wenn wir die Situation am Anfang des deutschen Engagements in Afghanistan mit der Lage in den letzten ein bis zwei Jahren vergleichen, stellen wir fest: Der Faktencheck für Afghanistan straft diejenigen Lügen, die mit schwarzmalerischer Rhetorik versuchen, den kompletten Einsatz Deutschlands zu diskreditieren. Jede vierte Frau erhält bei der Geburt medizinische Hilfe. Der Getreideertrag hat sich seit 2000 mehr als verdoppelt. 7 Millionen Schülerinnen und Schüler gehen zur Schule. Vor zehn Jahren war es 1 Million. Die Kindersterblichkeit ist von 250 pro 1 000 Lebendgeburten auf 161 zurückgegangen. Die Zahl der Kinderheiraten ist um weit über 60 Prozent gesunken. Während 2001 kein einziges Mädchen zur Schule gehen konnte, liegt der Anteil der Mädchen in den Grundschulen heute bei knapp 40 Prozent. Frauen stellen im afghanischen Parlament 28 Prozent der Abgeordneten. Mit Gesundheit, Menschenrechten und Bildung macht auch die Wirtschaft Fortschritte. Die Weltbank prognostiziert für das laufende Jahr ein Wirtschaftswachstum von 8,5 bis 9 Prozent. Die Staatseinnahmen haben sich seit 2002 verzehnfacht. So kann mittlerweile die afghanische Regierung mehr und mehr die Gehälter für Lehrer und Polizisten übernehmen. Das Bruttosozialprodukt hat sich fast vervierfacht. Immer mehr Menschen können ohne Hilfslieferungen leben. Diese Zahlen zeigen, dass es verantwortungslos ist, ohne Kenntnis der Situation vor Ort Erfolge schlechtzureden. ({3}) Richtig ist, dass wir Familien, Frauen und Mädchen neue Lebenschancen geben konnten. Auch ich kann mir allerdings vieles besser vorstellen. Aber gerade weil vieles besser werden kann, ist Deutschlands Rolle jetzt nicht schlechtreden, sondern besser machen und Fortschritte sichern; denn noch sind die Fortschritte nicht unumkehrbar. Leider, liebe Kolleginnen und Kollegen, wurden zu Beginn der Intervention 2001 von vielen Seiten überzogene Erwartungen an diesen Einsatz geweckt. Diese Erwartungen waren nicht realistisch. Grundlegende wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Veränderungen finden auch hier eher in Dekaden als in Monaten oder Jahren statt. Ich möchte das mit einem Beispiel belegen, das mir sehr eindringlich in Erinnerung geblieben ist. Als ich im letzten Jahr ein Teacher Training Center in Masar-i-Scharif eröffnet habe, wurde mir von dem Direktor beim Rundgang gesagt, dass ungefähr 30 Prozent der angehenden Lehrerinnen und Lehrer, die dort unterrichtet werden, erst einmal alphabetisiert werden müssen. Bevor die Bildungselite dieses Landes in die Lage versetzt wird, junge Menschen zu unterrichten, muss sie erst einmal Lesen und Schreiben lernen. Das zeigt ungefähr, von welcher Basis aus wir anfangen zu arbeiten. Diese Bundesregierung hat den Strategiewechsel in Afghanistan vollzogen, hin zu einem sehr viel stärkeren zivilen Engagement. Wir haben das international auch durchgesetzt. Ohne den zivilen Erfolg ist unser Gesamtziel in Afghanistan nicht zu erreichen. Die zivilen Mittel der Bundesregierung zur Stabilisierung und Entwicklung des Landes haben wir massiv aufgestockt von weniger als 200 Millionen Euro 2008 auf rund 430 Millionen Euro 2010, davon allein 245 Millionen Euro aus dem Haushalt des BMZ. Dadurch hat sich unser Engagement vor allem im Norden ganz erheblich intensiviert. Einige Beispiele für die Leistungen allein in den Jahren 2009 und 2010 belegen das. 85 000 Haushalte haben eine bessere Trinkwasserversorgung erhalten. 117 Kilometer Straßen sind repariert oder neu gebaut worden als Lebensadern für die Bevölkerung dieses Landes. 12 000 Menschen konnten sich beruflich fortbilden. Solche konkreten Verbesserungen haben es möglich gemacht, dass die Privatwirtschaft in Afghanistan dynamisch gewachsen ist. Wir haben die First Microfinance Bank mit aufgebaut. Allein 2009 und 2010 gingen über 450 Kredite an kleine und mittlere Unternehmen. 42 000 Menschen haben von Mikrokrediten profitiert, darunter alleine 6 000 Frauen. Mit BMZ-Hilfe ist die afghanische Investitionsförderagentur aufgebaut worden, bei der bis heute über 12 000 Unternehmen registriert sind mit einem Investitionsvolumen von ungefähr rund 4 Milliarden Euro. Deutschland ist mit der Aufstockung der zivilen Mittel in Afghanistan zum größten europäischen Geber geworden und ist nach Japan und den USA der drittgrößte Geber weltweit. Diese Ausgaben sind Investitionen in den Frieden. Diese massive Aufstockung der Mittel hätte ohne Zweifel deutlich früher geschehen müssen. Erst die jetzige Bundesregierung engagiert sich in einer Größenordnung, die den Herausforderungen auch tatsächlich gerecht wird. Mit unserer Entwicklungsoffensive in Nordafghanistan kommen wir sichtbar und wirksam voran. Das BMZ hat seine eigenen Anstrengungen enorm gesteigert, und zwar nicht nur finanziell. Die gut 1 300 zivilen Mitarbeiter, die wir im März 2010 vor Ort hatten, werden wir auf 2 500 Mitarbeiter fast verdoppeln. Zurzeit sind es bereits 1 700 Mitarbeiter, darunter allein 260 internationale Experten. Ich habe auch das Personal des BMZ, das die Entwicklungsarbeit vor Ort koordiniert, deutlich verstärkt. Ab dem 1. Februar stellt das BMZ die Entwicklungsdirektorin im RC North, die gleichzeitig die deutsche Entwicklungsbeauftragte für Afghanistan ist. Das deutsche Engagement in Afghanistan ist also weit mehr als bloß der Einsatz von Militär. Wo kämen wir im Übrigen hin, wenn wir bei sehr komplexen Aufgaben wie in Afghanistan in der Kleinteiligkeit von Ressortzuständigkeiten denken würden? Das gemeinsame Vorgehen verstehen wir unter vernetzter Sicherheit. Die sehr deutschen, innerdeutschen kontroversen Diskussionen zu diesem Thema sind, wenn man sich die Praxis vor Ort anschaut, kaum verständlich. ({4}) Vernetzte Sicherheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, bedeutet keine Militarisierung der Entwicklungspolitik, keine „embedded“ Entwicklungshelfer, keine Soldaten neben Brunnenbohrlöchern. ({5}) Der vernetzte Ansatz bedeutet die bessere Abstimmung im Sinne des gemeinsamen politischen Ziels. Wir wollen die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Erfolge Afghanistans stärken. Darum ist jetzt übrigens auch der Zeitpunkt gekommen, dass sich die deutsche Wirtschaft mehr in Afghanistan engagiert als bisher. China hat längst das Potenzial Afghanistans erkannt. China investiert Milliarden in den dortigen Kupferbergbau. Zurzeit ist eine große Eisenerzmine ausgeschrieben. Wenn allein diese beiden Bergbauprojekte realisiert werden können, kann der afghanische Staat ab 2016 über 500 Millionen US-Dollar pro Jahr an zusätzlichen Einnahmen verbuchen, und ungefähr 100 000 Arbeitsplätze für afghanische Bürgerinnen und Bürger werden geschaffen. ({6}) - Sie können gern eine Zwischenfrage stellen. Entscheidend bei der Frage der Rohstoffförderung in Afghanistan - hierbei hat Deutschland große Kompetenzen - ist die Frage der Transparenz, die Frage, ob diese Werte den Bürgerinnen und Bürgern des eigenen Landes zugutekommen. Ich glaube, wenn dieses breitenwirksame Wachstum dazu beiträgt, dass Afghanistan zusätzliche eigene Staatseinnahmen erzielen kann, und wenn Bürgerinnen und Bürger Berufschancen bekommen, dann ist es ein guter Weg, auch an diesen Bereich zu denken. Afghanistan ist darüber hinaus voller Chancen. Übrigens ist die Qualität deutscher Produkte in Afghanistan bekannt, und deutsche Produkte genießen dort einen guten Ruf. Der Nachholbedarf Afghanistans kann auch als Potenzial für deutsche Unternehmen angesehen werden, zur Entwicklung des Landes beizutragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ungeachtet der erfreulichen Fortschritte bleibt natürlich ein großer Berg von immensen Herausforderungen vor uns. Immer noch viel zu wenige Menschen haben die Gelegenheit, ihre Grundbedürfnisse zu decken. Dies gilt insbesondere für die ländlichen Regionen. Afghanistan bleibt nach wie vor ein sehr armes Land. Der Schlüssel zur langfristigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Afghanistans liegt im politischen Bereich. Was gute Regierungsführung angeht, besteht auf allen Ebenen ein gravierendes Defizit. Zu den Kernproblemen gehören die weitverbreitete Korruption, mangelnde Leistungsfähigkeit staatlicher Instanzen und fehlende Rechtssicherheit. Ich kann Ihnen versichern, dass diese Bundesregierung in ihren Gesprächen vor Ort, aber auch in den jährlichen Regierungsverhandlungen diese Punkte sehr klar und deutlich anspricht und klare Worte dafür findet. Auch wir befürchten einen Rollback bei den Menschenrechten in Afghanistan und stellen uns dem entgegen, weil es ein Kernbestand der wertegebundenen Politik dieser Bundesregierung ist, die Achtung der Menschenrechte einzufordern. ({7}) Allerdings sollte man nicht dem Irrglauben erliegen, dass die internationale Gemeinschaft die Karzai-Administration nach Belieben steuern könnte. Deshalb ist es so wichtig, dass wir gezielt die afghanischen Demokraten und Reformkräfte stärken. Sie müssen die Befähigung haben, in ihrem eigenen Land Menschenrechte und bessere Regierungsführung einzufordern. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird vor diesem Hintergrund in diesem Jahr seine Zusage an die afghanische Regierung in zwei Tranchen aufteilen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, den Fortgang der Reformen angemessen zu begleiten und auf den Fortschritt der Reformen angemessen zu reagieren. Entschlossene Reformen der afghanischen Regierung sind der Grundstein für eine nachhaltige wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung in diesem Land. Erfolg in Afghanistan ist aber auch abhängig von einer Stabilisierung der ganzen Region. Das gilt insbesondere für so wichtige Partner wie Pakistan. Deshalb werden wir dort weiterhin die demokratische Stabilisierung und die Verbesserung der Lebensbedingungen unterstützen. Was unsere Partnerregierungen aber allein schaffen müssen, ist, das Vertrauen der eigenen Bürger wiederzugewinnen. Hier muss auch Pakistan Reformen durchführen, Ungerechtigkeiten abbauen und Wege aus der wirtschaftlichen Sackgasse aufzeigen. Ein nachhaltiger Entwicklungsprozess in Afghanistan wird immer von einer spürbaren Verbesserung der Sicherheitslage abhängen. Vergangenes Jahr hat die Freie Universität Berlin in einer Studie deutlich gemacht, dass ohne ein Minimum an Sicherheit keine effektive und wirksame Entwicklungsarbeit möglich ist. Sicherheit ist die Grundvoraussetzung, um wirksam arbeiten zu können. ({8}) In den meisten Distrikten im Norden können wir weiterhin unter relativ guten Bedingungen arbeiten. Die Sicherheitslage wirkte sich aber im vergangenen Jahr in einigen Regionen, insbesondere in den Provinzen Kunduz und Baghlan, negativ auf die zivile Hilfe aus. Hier verfügen unsere zivilen Helfer teilweise nicht mehr über den notwendigen Bewegungsfreiraum, um die Projektumsetzung effizient zu begleiten. Die instabilen Gebiete müssen deshalb durch ISAF und vor allem durch die afgha9556 nischen Sicherheitskräfte gesichert werden, bevor die zivile Hilfe dort greifen kann. Langfristig können nur afghanische Sicherheitskräfte die nötige Sicherheit in der Fläche herstellen, die zwingende Voraussetzung für die afghanische Bevölkerung ist, damit zivile Helfer sie beim Aufbau ihres Landes begleiten können. Auch aus diesem Grund konzentriert sich ISAF auf die Befähigung der afghanischen Sicherheitskräfte. Bis 2014 wollen wir die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen erreichen. Das ist weit mehr als ein nur militärisch relevanter Vorgang. Ich freue mich - das sage ich ganz ausdrücklich -, dass die Zusammenarbeit zwischen den vier Afghanistan-Ressorts, dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium des Innern, dem Bundesministerium der Verteidigung und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, so viel besser läuft als früher. ({9}) Unsere Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan wird über die Übergabe der Sicherheitsverantwortung hinausreichen, und sie wird auf jeden Fall jenseits des Komplettabzugs von ISAF weiter notwendig sein. Die Menschen in Afghanistan zählen auf unsere Unterstützung. Ungefähr 50 Prozent der Menschen in Afghanistan sind jünger als 15 Jahre, also ideale Drachenläufer. Sie wollen ein anderes, ein besseres Leben als ihre Eltern. Wir können ihnen dabei helfen. Das Schaffen von Perspektiven und Lebenschancen entspricht beidem: sowohl unseren eigenen Interessen als auch unseren gemeinsamen Werten. Deswegen bin ich froh und dankbar, dass die Bundesregierung sich entschieden hat, heute, noch im Vorfeld der Debatte über die Verlängerung des militärischen Mandats für Afghanistan, deutlich zu machen, welche zivilen Komponenten hier in der Vergangenheit wichtig waren und für die Zukunft wichtig sind und wo unsere Erfolge auch in diesem Bereich liegen. Die zivile Betrachtung fällt hinter der militärischen oftmals ab. Sie ist aber mindestens genauso wichtig, wenn man die Zukunft betrachtet, sogar wesentlich wichtiger als alles, was in militärischen Bereichen der Vergangenheit berichtet wurde. Ich möchte eins deutlich machen: Auch in Afghanistan gilt das Primat der Politik. Vielen herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Gernot Erler für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles hat sich im vergangenen Jahr verändert. Unter dem Druck der problematischen, teilweise dramatischen Entwicklung vor Ort ist die Afghanistan-Politik in den Vereinigten Staaten, in der Gemeinschaft der 48 Länder, die sich vor Ort engagieren, und auch in Deutschland neu ausgerichtet worden. Meine Partei, die SPD, hat dazu wirksame Anstöße gegeben, nicht zuletzt durch zwei große Afghanistan-Konferenzen im Januar und im Dezember 2010. Im Zuge dieses Veränderungsprozesses, dieses Umdenkens, ist auch ein neuer Konsens entstanden, so darüber, dass ein militärischer Sieg über die Aufständischen in Afghanistan ausgeschlossen erscheint, dass deshalb nur eine politische Lösung möglich ist, die mit dem Abschied von einigen langgehegten Illusionen einhergeht, und dass sichtbare Erfolge und Fortschritte bei dem Wiederaufbau und der Entwicklung Afghanistans bei einer solchen politischen Lösung eine außerordentlich wichtige Rolle spielen. Das war der Hintergrund für unsere Forderung vom Januar letzten Jahres, die eingesetzten Mittel für den zivilen Wiederaufbau Afghanistans zu verdoppeln. Wir begrüßen es, dass die Bundesregierung dieser Aufforderung gefolgt ist und die Mittel für den zivilen Aufbau für die Jahre 2010 bis 2013 auf 430 Millionen Euro jährlich angehoben und damit beinahe verdoppelt hat. ({0}) Zugleich bedauern wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Regierungskoalition nicht dazu entschließen konnte, den gesamten deutschen AfghanistanEinsatz einer unabhängigen fachlichen Evaluierung zu unterziehen, unter Heranziehung nicht nur wissenschaftlicher Expertise, sondern auch der praktischen Erfahrungen von Entwicklungsexperten, von NGOs und Mittlerorganisationen, die vor Ort tätig sind, wie wir es vorgeschlagen haben. ({1}) Immerhin: Wir haben im Dezember einen „Fortschrittsbericht Afghanistan“ von 108 Seiten erhalten, der sich auf 20 Seiten auch dem Thema „Wiederaufbau und Entwicklung“ widmet. Dieser Fortschrittsbericht enthält zahlreiche Daten und Fakten, er geht auch auf Fehlentwicklungen und Defizite ein, und er stellt jede künftige Diskussion über unseren Einsatz in Afghanistan auf eine bessere Grundlage, was aktuelle Sachstände und Fakten angeht. Sehr gerne haben wir auch die ausdrückliche Kooperationsbereitschaft von Botschafter Michael Steiner, dem Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan, was Rückfragen und Auskünfte angeht, angenommen. Aber trotzdem müssen wir feststellen, dass wir mit der Ausweitung und Aufwertung des zivilen Aufbaus noch längst nicht da sind, wo wir hinwollen und hinmüssen. Es sind gerade die Berichte der Entwicklungsexperten, der Nichtregierungsorganisationen und der Mittlerorganisationen von ihrer konkreten Arbeit vor Ort, die sich leider nicht in dem nötigen Ausmaß in dem Fortschrittsbericht wiederfinden - auch nicht in Ihrer Regierungserklärung, die Sie heute abgegeben haben -, die zum Teil zu völlig anderen Lageeinschätzungen führen und die einige dringend zu lösende Probleme benennen. Herr Minister, das ist nicht Schwarzmalerei, und das ist auch nicht das Schlechtreden von Erfolgen. Ich will das an zwei kurzen Beispielen hier zeigen. Ein Thema, das in unseren Gesprächen mit den Entwicklungsorganisationen immer wieder angesprochen wurde, ist, Herr Minister, Ihre Doktrin von der sogenannten vernetzten Sicherheit, die bei den Betroffenen auf breite Ablehnung stößt. ({2}) Nicht das ist unverständlich, wie Sie das hier gesagt haben, sondern Ihre Sturheit bei der Doktrin der vernetzten Sicherheit ist unverständlich. Ich fordere Sie, Herr Minister, in aller Deutlichkeit auf: Hören Sie auf, Druck auf NGOs zu machen, sich in voller Sichtbarkeit in den Dienst militärischer Ziele zu stellen! ({3}) Beenden Sie die damit verbundene Instrumentalisierung des zivilen Aufbaus! Erkennen Sie endlich an, dass der zivile Aufbau im Rahmen der veränderten AfghanistanStrategie einen erweiterten Eigenwert hat! Akzeptieren Sie die jahrzehntelangen Erfahrungen dieser Entwicklungsorganisationen, und lassen Sie sie selbst entscheiden, wie sie ihre Arbeit machen wollen! Sie wissen am besten, wie sie das in größter Sicherheit tun können. ({4}) Mehrere Organisationen haben uns versichert, Herr Minister, dass sie weder etwas gegen die Bundeswehr haben noch eine Kooperation ablehnen. Aber sie halten Ihre Doktrin für kontraproduktiv. Sie ist es, nebenbei gesagt, auch für die Zukunft. Inzwischen gibt es ja den internationalen Konsens - Sie haben das angesprochen -, dass bis 2014 die Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände übergehen soll und dann keine Kampftruppen mehr vor Ort eingesetzt werden sollen. Zugleich versichern wir unseren afghanischen Freunden, dass unser Engagement vor Ort deswegen nicht endet, sondern dass der zivile Aufbau fortgesetzt werden soll. Mit anderen Worten: Dann ist die Bundeswehr weg, die Entwicklungsorganisationen sind aber noch da. Was ist dann mit Ihrer Doktrin von der vernetzten Sicherheit? ({5}) Es gibt noch ein zweites Feld dringenden Handlungsbedarfs. Wenn man dem Fortschrittsbericht folgt, dann sind allein zwischen 2002 und 2008 nicht weniger als 20 Milliarden Dollar an offizieller Entwicklungshilfe nach Afghanistan geflossen. In den letzten beiden Jahren sind die Jahresraten sogar gestiegen, auch durch die Verdoppelung des deutschen Anteils. Diese umfangreichen Leistungen schlagen sich aber nicht nieder in einem breiten Vertrauen der Menschen in ihre eigene Regierung, in die internationale Gebergemeinschaft und in ihre eigene Zukunft. Eigentlich sollte man das erwarten. Es ist aber nicht der Fall. Der Hauptgrund dafür ist die ungezügelte Korruption. Ich wundere mich schon, Herr Niebel, dass dieser Begriff in Ihrem Bericht überhaupt nicht vorkommt. ({6}) Diese Korruption würgt alle Erfolge des zivilen Aufbaus ab wie ein gefährlicher Parasit. Das Bild von mit Geld prall gefüllten Koffern, die über den Kabuler Flughafen rollen, von niemandem an ihrer Reise gehindert, frisst sich in die Köpfe auch all derer, die sich eigentlich über den Bau einer neuen Schule in ihrem Dorf freuen könnten, aber es dann nicht mehr tun. Wir müssen tatsächlich alles versuchen, um das endlich zu ändern. Wenn wir das nicht schaffen, werden auch alle künftigen Fortschrittsberichte zum zivilen Aufbau an den wahrgenommenen Realitäten vorbeischlittern. Das ist eine Aufgabe, ohne die ein Erfolg in diesem wichtigen, von uns als am wichtigsten betrachteten Bereich des zivilen Aufbaus nicht zu sichern ist. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Christian Ruck ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere vernetzte Mission in Afghanistan geht zurück auf den verheerenden Terrorangriff vom 11. September des Jahres 2001, der unser Land zu einer völligen und schmerzhaften Neuorientierung unserer Außenpolitik gezwungen hat, und zwar in zweierlei Hinsicht: Erstens. Wir können und wollen nicht nur darauf hoffen, dass unsere Sicherheitskräfte Terroristen in Deutschland rechtzeitig vor Attentaten entdecken, sondern müssen den Terrorismus auch dort bekämpfen, wo er herkommt und entsteht. Unser Engagement ist deswegen ein Engagement vor allem auch für die Sicherheit unserer eigenen Bürger. Zweitens geht es darum, dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen, bevor es zu einem Flächenbrand um den halben Globus kommt. Dieser Nährboden besteht aus fehlender staatlicher Ordnung, aus fehlender Rechtsstaatlichkeit, aus fehlenden Bildungschancen, aus fehlender Gesundheitsversorgung und aus fehlenden Perspektiven für die breite Bevölkerung und die gerade in diesen Ländern nachdrängende Jugend. Das gilt für viele Staaten - von Nordafrika über den Jemen bis Südostasien. Damit ist Entwicklungspolitik zum wesentlichen Bestandteil unserer Sicherheitspolitik geworden, und Afghanistan ist unsere größte entwicklungspolitische Baustelle. 30 Jahre Krieg und Bürgerkrieg haben Afghanistan vollkommen ruiniert. Aber nach fast zehn Jahren Aufbauhilfe sind die Fortschritte trotz eines immens schwie9558 rigen und oft gefährlichen Umfelds unübersehbar. Minister Niebel hat bereits einige Details aus den Bereichen Verkehr und Energie sowie aus dem Bereich Schulen und Universitäten genannt. Es gibt - ohne Berücksichtigung der Drogenwirtschaft - eine Vervierfachung des Pro-Kopf-Einkommens und eine rasante Zunahme der Zahl von Unternehmen und Beschäftigten. Was wir auch nicht vergessen dürfen: Trotz des wackligen Ansehens mancher Institutionen haben wir es zusammen mit den Afghanen geschafft, demokratische Grundinstitutionen in freien Wahlen zu etablieren. Dazu haben unsere Soldaten, Aufbauhelfer und Polizisten unter vielen Opfern einen großartigen Beitrag geleistet. Die CDU/CSU-Fraktion bedankt sich ausdrücklich bei allen, die in den letzten Jahren an der zivilen Aufbauarbeit beteiligt waren. ({0}) Kabul ist nicht ganz Afghanistan; das ist klar. Ich habe die Stadt trotz aller Unsicherheiten, trotz der üblichen Splitterweste bei meinem dritten Afghanistan-Besuch in der letzten Woche, begleitet von den Kollegen Schockenhoff und Kiesewetter, kaum wiedererkannt. Kabul ist wieder ein einziger Basar. Was uns besonders beeindruckt hat, war die längste Straße mit Baumaterialien und Baumaschinen, an der ich jemals irgendwo in der Welt entlanggefahren bin. Afghanistan ist in der Tat eine riesige Baustelle. Herr Erler, ich gebe Ihnen in dem Punkt vollkommen recht, dass wir auch zur Kenntnis nehmen müssen, was uns vom flachen Land an Rückschlägen berichtet wird. Es gibt da viele sich zum Teil widersprechende Meldungen. Wir dürfen uns nicht zu sehr in Sicherheit wiegen. Aber wir können auch froh über die Entwicklungen sein, die wir mit eigenen Augen sehen und deren erfolgreicher Abschluss zum Greifen nah ist. ({1}) Auch ich sehe - das wurde teilweise schon angesprochen - drei große Risikobereiche; diese gehen auch aus dem Fortschrittsbericht hervor, den Afghanistan-Kenner übrigens als den aufrichtigsten Bericht der letzten zehn Jahre loben. Diese Risikobereiche sind erstens die prekäre Sicherheitslage, zweitens die Mängel bei der Regierungsführung und drittens die unruhige Nachbarschaft. Zum Thema Sicherheit. Nirgendwo wird die gegenseitige Abhängigkeit von Entwicklung und Sicherheit so deutlich wie in Afghanistan. Es gibt keine Befriedung ohne Entwicklung. Aber es gibt auch keine Entwicklung ohne eine erfolgreiche Sicherheitspolitik. Es ist entscheidend, dass Bildung, Rechtsstaatlichkeit und ökonomische Perspektiven auch auf das flache Land, in die unruhigen Distrikte und in die Bergdörfer gelangen. Dort wird aber jeder Entwicklungsansatz zunichtegemacht, wenn beispielsweise die neu gebaute Schule von den Taliban gesprengt oder die ausgebildeten Lehrer ermordet werden, sobald die afghanischen Sicherheitskräfte oder die ISAF-Truppen abgezogen sind. Deswegen sind die beobachtbaren Fortschritte beim Aufbau einer funktionsfähigen und motivierten Polizei und Armee in afghanischer Hand unabdingbar für die Fortschritte bei der Entwicklung des flachen Landes. Auch wenn darüber immer wieder streitig diskutiert wird: Die Ansätze der vernetzten Sicherheit, die wir in der zivil-militärischen Zusammenarbeit gefunden haben, sind für die Entwicklung Afghanistans erfolgreich. Als Hoffnungsträger erweist sich auch das von uns massiv unterstützte Programm zur Reintegration derjenigen Taliban, die der Gewalt abschwören. Nach zuverlässigen Augenzeugenberichten kommen tatsächlich inzwischen sehr viele zurück und gliedern sich in einer offiziellen Zeremonie in die Dorfgemeinschaften ein. Sie müssen allerdings vor der Rache der Taliban geschützt werden und brauchen durch Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen eine neue Perspektive. Der Fortschritt im Bereich Sicherheit ist auch deswegen so wichtig für den zivilen Aufbau, weil die nach wie vor prekäre Sicherheitslage die Entwicklungspolitik bis zu 30 Prozent teurer macht als anderswo. Denn zum Schutz der Entwicklungsexperten, aber auch der allmählich anlaufenden Privatinvestitionen brauchen wir entsprechende Sicherheitsvorkehrungen. Das wirkt sich enorm auf die Aufbaukosten aus. Auch das zweite Thema belastet den Aufbau enorm. Das ist das Thema gute Regierungsführung. Es ist doch vollkommen unbestritten, dass Korruption und Vetternwirtschaft, aber auch der Mangel an einer ausreichenden Zahl qualifizierter Bewerber gerade für wichtige Verwaltungsstellen zu den größten Entwicklungshindernissen gehören. Die Gebernationen müssen deshalb darauf bestehen, dass die Regierung Karzai ihre bereits vorgelegten Pläne für mehr Transparenz und für mehr Kontrolle umsetzt und auch die Täter aus dem Bereich der Spitzenkorruption dingfest macht. Dabei dürfen wir kein Auge zudrücken. Die Korruption am unteren Ende der Einkommensskala allerdings, wo etwa Polizisten und Lehrer manchmal mit nicht einmal 100 Dollar im Monat eine Familie ernähren müssen, kann anständigerweise nur bekämpft werden, wenn diejenigen, die diese wichtigen Berufe ausüben, auch anständig bezahlt werden. Auch wir als Geber müssen uns beim Thema Korruption an die eigene Nase fassen. Der afghanische Finanzminister hat sich beklagt, dass er bei den Finanzflüssen in seinem Land nicht für Transparenz sorgen kann, wenn große Gebernationen Aufträge in dreistelliger Millionenhöhe oder in Milliardenhöhe an der afghanischen Regierung vorbei und ohne Ausschreibung direkt an Unternehmen im eigenen Land vergeben. Es war und ist ein Manko, dass immer noch zu viele Geber unabgesprochen und unkoordiniert ihr eigenes Süppchen kochen. Korruption hat immer zwei Seiten. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns und dass sich vor allem auch andere große Gebernationen an die Regel halten, dass wir die Ownership der afghanischen Regierung gewährleisten müssen. Das geht nur, wenn die Afghanen selber wissen, was in ihrem Land vorgeht. Aber - auch das wurde schon angesprochen - es gibt gerade in puncto Governance große Fortschritte. Immer mehr wichtige Funktionsstellen in wichtigen Ministerien, wie zum Beispiel dem Finanzministerium, werden von gut ausgebildeten und qualifizierten Afghanen besetzt. Aber lassen Sie mich noch etwas zum dritten entscheidenden Faktor sagen. Auch der wurde kurz angesprochen. Das ist die stabile oder stabilisierende Nachbarschaft. Dieser dritte entscheidende Faktor berührt vor allem auch Pakistan. Gerade die an Afghanistan angrenzenden Regionen Pakistans sind nämlich alles andere als stabilisierend. Die pakistanischen Sicherheitskräfte sind unter großen Opfern dabei, gegen Taliban und Dschihadisten die staatliche Kontrolle wiederherzustellen. Aber auch hier ist Entwicklung der entscheidende Schlüssel zu einer langfristigen Befriedung. Die Vorgänge um das Swat-Tal sind dafür typisch. Der pakistanische Staat konnte die Befriedigung der Grundbedürfnisse und vor allem auch Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit über einen langen Zeitraum nicht mehr garantieren und hat so den Taliban den Boden für die Einflussnahme bereitet. Was für das Swat-Tal gilt, gilt für weite Teile Pakistans, auch für das Korruptionsunwesen in Pakistan. Deswegen muss die internationale Staatengemeinschaft, wenn sie in Afghanistan Erfolg haben will, auch von Pakistan eine bessere Regierungsführung einfordern. Wir müssen Pakistan auf diesem Weg stärker, zuverlässiger und koordinierter unterstützen als bisher.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, Sie achten auf die Zeit, ja?

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - Der zivile Wiederaufbau Afghanistans findet in einem schwierigen Umfeld und mit großen Rückschlägen statt. Aber wir haben auch Erfolge und Hoffnungen, und die gemeinsame Absicht, die Verantwortung für die Sicherheit Schritt für Schritt ab Ende dieses Jahres in afghanische Hände zu legen, ist im Prinzip richtig. Aber gerade als Entwicklungspolitiker sage ich: Wir müssen den Zeitplan auch an den tatsächlichen Gegebenheiten ausrichten. Auch die sehr regierungskritische und militärkritische Menschenrechtlerin Frau Dr. Samar hat uns letzte Woche ins Stammbuch geschrieben: Ihr müsst eure Arbeit erfolgreich zu Ende führen. - Das ist auch meine Meinung. Wir dürfen keine Entwicklungsruine hinterlassen, sonst waren alle Opfer des deutschen Steuerzahlers, alle Opfer unserer Soldaten und der Entwicklungshelfer umsonst. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Heike Hänsel ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Niebel, Sie haben hier ein völlig beschönigendes Bild von der Situation in Afghanistan gezeichnet. Wenn Sie mir einmal zuhören, können Sie einiges lernen. ({0}) Ich habe nicht das Gefühl, dass Sie in Afghanistan waren. Nach neun Jahren Krieg in Afghanistan - Sie müssen einmal überlegen, wie lange die internationale Gemeinschaft in diesem Land ist - kann von Fortschritt keine Rede sein. Das Land liegt mit seiner Entwicklung nach wie vor auf dem vorletzten Platz bei den Vereinten Nationen. Insgesamt ist die soziale, wirtschaftliche und politische Situation in diesem Land katastrophal. Immer noch sind 80 Prozent der Frauen und 60 Prozent der Männer Analphabeten, und weniger als 19 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Laut Weltbank liegt die Säuglingssterblichkeit - das ist ein ganz wichtiger Indikator - bei 200 Kindern pro tausend Geburten. Das ist doppelt so hoch wie im Nachbarland Pakistan. In Kabul haben trotz Entwicklungsgeldern in Milliardenhöhe bisher nur 30 Prozent der Bevölkerung Zugang zu sauberem Trinkwasser; ein Abwassersystem gibt es überhaupt nicht. Als ich Ende letzten Jahres mit dem Entwicklungsausschuss in Afghanistan war und mir Kabul angeschaut habe, war ich, ehrlich gesagt, schockiert, wie einem in dem Stadtbild die Armut buchstäblich ins Gesicht springt. Von wegen ein einziger lebender Basar! Kabul ist durch eine nach wie vor schlechte Infrastruktur und eine katastrophale Sicherheitslage gekennzeichnet und glich einer Festung. Die deutsche Botschaft ist hinter hohen Mauern eingebunkert. ({1}) Die Arbeitskräfte der internationalen Gemeinschaft können sich dort nicht frei bewegen. Im Bericht der Vereinten Nationen heißt es auch - das ist viel zu wenig angesprochen worden -, dass sich 2,8 Millionen Afghaninnen und Afghanen aufgrund des Krieges auf der Flucht befinden. Für diese Menschen ist die humanitäre Situation besonders schwierig. Ein Bericht der International Crisis Group kritisiert, dass der Krieg den Zugang der afghanischen Bevölkerung zur Gesundheitsversorgung, Bildung und zu anderen sozialen Dienstleistungen stark eingeschränkt hat. Entwicklungserfolge - es gibt natürlich auch gute Entwicklungsprojekte in Afghanistan, auch im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit - werden durch die anhaltenden und zunehmenden Kämpfe wieder zunichtegemacht. Die Zahlen zeigen, dass die 6 Milliarden Euro, die die Bundesregierung seit 2002 für den Afghanistan-Einsatz ausgegeben hat, den Bemühungen um wirtschaftlichen Aufbau und eine soziale Entwicklung entgegenlaufen. Deshalb, Herr Niebel - ich weiß nicht, wo er jetzt sitzt und ob er zuhört -, wird auch bei der jetzt beschlossenen Verdoppelung der Mittel für den zivilen Aufbau die Wirkung der eingesetzten Mittel konterkariert, solange der Krieg geführt wird. Der Krieg in Afghanistan macht eine Entwicklung unmöglich. ({2}) Sie sagten, Sie wollten jetzt die zivile Entwicklung stärken und den Schwerpunkt auf zivile Entwicklung legen. Der Bundeswehreinsatz verschlingt mittlerweile über 1 Milliarde Euro im Jahr. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung beziffert die Kosten des Afghanistan-Einsatzes sogar weit höher als von der Bundesregierung angegeben und schätzt, dass der Krieg bis 2011 insgesamt bis zu 33 Milliarden Euro gekostet haben wird. Das ist vier- oder fünfmal so viel, wie für die zivile Entwicklung ausgegeben wird. Deshalb stimmt es nicht, dass Ihr Schwerpunkt auf ziviler Entwicklung liegt. ({3}) Mittlerweile sind über 120 000 NATO-Soldaten in Afghanistan, und die Sicherheitslage ist schlechter denn je. Über die Zahl der verletzten und getöteten Zivilistinnen und Zivilisten spricht hier niemand. Sie steigt kontinuierlich, und sie erhöht sich auch dadurch, dass sich die ISAF militärisch in der Defensive befindet und immer schwerere Waffen einsetzt. Dazu kommen auch die gezielten Tötungen durch die NATO. Durch Anschläge und Kämpfe in Afghanistan sind im vergangenen Jahr wahrscheinlich über 10 000 Menschen getötet worden. Das ist eine tragische Entwicklung für die Menschen in Afghanistan, die deutlich zeigt, dass es bei der Militärintervention der NATO nicht um die afghanische Bevölkerung geht. Deshalb nimmt der Widerstand in der afghanischen Bevölkerung gegen die Besatzung ihres Landes zu. Die deutsche Bevölkerung lehnt diesen Einsatz zu über 70 Prozent ab. Minister zu Guttenberg hat in einer Trauerrede anlässlich des Todes von Soldaten gesagt: In Afghanistan wird für unser Land, für dessen Menschen, also für jeden von uns, gekämpft und gestorben. Das ist eine zynische, unerträgliche Kriegspropaganda. ({4}) Ich kann nur sagen - das möchte ich wiederholen -: In Afghanistan wird nicht in unserem Namen gekämpft. ({5}) Zugleich wird die Bundeswehr zu einer Interventionsarmee umgebaut. Zu Guttenberg fordert ganz direkt den Einsatz der Bundeswehr zur Sicherstellung deutscher Wirtschaftsinteressen; er wünscht sich, dass endlich einmal ohne Verklemmungen darüber geredet wird. So sagte er in der Trauerrede: Tod und Verwundung sind Begleiter unserer Einsätze geworden. Und sie werden es auch in den nächsten Jahren sein, wohl nicht nur in Afghanistan. Bei dieser Kriegspolitik machen wir nicht mit. ({6}) Herr Niebel, jetzt komme ich zur zivil-militärischen Zusammenarbeit. Der Großteil der staatlichen deutschen Entwicklungsprojekte wird im Norden durchgeführt. Warum? Weil dort die Bundeswehr stationiert ist. Es geht nicht um die Frage, wo die afghanische Bevölkerung Entwicklung braucht; wir konzentrieren uns darauf, wo die Bundeswehr stationiert ist. Diese Projekte werden über die Einbettung in sogenannte Wiederaufbauteams unmittelbarer Bestandteil des Bundeswehreinsatzes, dessen Operationsschwerpunkt seit Jahren in der Aufstandsbekämpfung liegt und immer deutlicher den Charakter einer offenen Kriegsführung annimmt. Humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit werden somit Teil der militärischen Strategie in Afghanistan; das ist die sogenannte zivil-militärische Zusammenarbeit. Ich kann nur sagen: Es ist ein völlig falscher Weg, ein katastrophaler Weg für die Entwicklungshelfer und Entwicklungshelferinnen - sie werden dadurch konkret gefährdet - und für die afghanische Zivilbevölkerung. Sehr viele Entwicklungsorganisationen kritisieren dieses Vorgehen. Wir fordern ein Ende der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Nur so können Entwicklungshelferinnen und -helfer geschützt werden. ({7}) Über 29 in Afghanistan tätige Entwicklungsorganisationen fordern deswegen dazu auf, diese Art der Zusammenarbeit zu beenden. Auch VENRO, der große Dachverband deutscher Entwicklungsorganisationen, lehnt die zivil-militärische Zusammenarbeit ab. Herr Niebel, nachdem Sie angekündigt haben, dass Hilfsorganisationen nur Geld bekommen sollen, wenn sie mit der Bundeswehr kooperieren, hat Ihnen die Organisation Ärzte ohne Grenzen vorgeworfen, dass allein Ihre Ankündigung die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Organisation in Afghanistan gefährdet. Es gibt aber auch andere Beispiele, etwa die Kinderhilfe Afghanistan, die eine Nähe zum Militär kategorisch ablehnt. Man kann Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan ohne Militär betreiben. Bei der Kinderhilfe sind über 2 000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, übrigens auch aus Afghanistan, aktiv. Bisher wurden sie nicht angegriffen. Es werden nicht Tausende von Experten für einige Wochen in das Land geschickt; es wird mit afghanischen Helfern gearbeitet. Dort funktioniert der Aufbau, weil die Bevölkerung aktiv einbezogen wird. Es gibt eine klare Trennung vom Militär, einen klaren Abstand. Das ist eine Voraussetzung für die Sicherheit der Mitarbeiter dort. ({8}) Sie haben überhaupt nicht angesprochen, welches korrupte System eigentlich die ISAF in Afghanistan stützt. Taliban und Warlords haben in vielen Provinzen die Macht errungen. Gouverneure dominieren ihre Region mit viel Blutvergießen durch ihre Privatmilizen. Wir haben gehört, dass selbst der Gouverneur in Masari-Scharif, Mohammed Atta, mit dem die Bundeswehr sehr gut kooperiert, ein „blutiges System“ von Privatmilizen aufgebaut hat. Dort gibt es keine Form von Opposition; er dominiert die ganze Region. Diese Politik wird von der NATO weiterhin unterstützt, weil die Karzai-Regierung ein Garant dafür ist, dass die Truppen in dem Land stationiert werden können, und die NATO gar keine Alternative hat. Die Kanzlerin hat es selbst gesagt: Die Politik in Afghanistan ist ein Lackmustest für eine handlungsfähige NATO. Deswegen werden diese schlechten Zustände auch akzeptiert. Mit Afghanistan stehen und fallen die Kriegspolitik und die Existenz der NATO. Das ist der Hauptgrund, weswegen Sie hier auch die Augen zudrücken und ein korruptes Regime weiterhin unterstützen. ({9}) Wir fordern dagegen - Sie haben es kurz angesprochen -, dass endlich die demokratischen Kräfte in Afghanistan unterstützt werden. Es gibt sie. Wir laden dazu ein. Es gibt ganz engagierte Männer und Frauen, die keine Unterstützung von Ihnen hier bekommen. Das andere Afghanistan an der Basis entwickelt sich. ({10}) Es gibt Studierende, die auf die Straße gehen, die gegen die Besatzung und gegen die Taliban demonstrieren. Es gibt mutige Leute in diesem Land. Wir haben sie für die nächste Woche nach Berlin eingeladen. Wir machen eine Konferenz „Das andere Afghanistan“. Diese Leute zeigen Ansätze von unten für eine Friedenspolitik ohne Militär.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin!

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich kann Sie nur einladen, Herr Niebel. Kommen Sie zu unserer Konferenz! Da können Sie sehr viel lernen. ({0}) Da werden Sie vielleicht auch sehen,

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin!

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- dass es um das Primat der Bevölkerung geht, ({0}) die selbstbestimmt ihr Land entwickeln soll. Eine aktive Friedenspolitik ist für uns die beste Entwicklungspolitik. Danke. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Harald Leibrecht ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Harald Leibrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003581, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als ich letztes Jahr mit Bundesminister Niebel in Afghanistan war, wurde dieser Besuch von einem Anschlag auf die Bundeswehr, dem drei Soldaten zum Opfer fielen, überschattet. Auch ich bin zutiefst bestürzt über den Tod des Mitarbeiters der KfW vor wenigen Wochen. Diese traurigen Ereignisse zeigen uns, dass die Sicherheitslage trotz hoffnungsvoller Entwicklungen beim zivilen Aufbau nach wie vor auch im Norden, dort, wo unsere Soldatinnen und Soldaten sind, sehr angespannt und gefährlich ist. Gerade vor dem Hintergrund der Opfer, die dort zu beklagen sind, müssen wir uns die Entwicklungen allgemein und vor allem die des zivilen Aufbaus in Afghanistan ganz genau anschauen und bewerten. Dabei geht es neben vielen Entwicklungsprojekten, die im ganzen Land entstehen, in der Tat auch darum, dass der afghanische Staat und seine Regierung ihrer Verantwortung gerecht werden und sich voll und ganz zum Rechtsstaat, zu einer guten Regierungsführung und zu den Menschenrechten bekennen. Es geht auch darum, dass Präsident Karzai und seine Regierung die Korruption im Land ernsthaft bekämpfen. ({0}) Ein Staat muss seine Bürger schützen können. Solange der afghanische Staat dies nicht ausreichend kann, werden die Menschen dort kein Vertrauen in diesen haben, und solange der Staat schwach ist, so lange werden die Extremisten dort aktiv bleiben. Natürlich würde auch ich mir wünschen, dass Wiederaufbau und Entwicklung in Afghanistan ohne internationale militärische Absicherung gelingen könnten. Aber die Sicherheitslage erlaubt dies nun mal nicht. - Liebe Frau Hänsel, das, was Sie über die deutschen Soldaten gesagt haben, die unter Einsatz ihres Lebens, unter großem Risiko einen guten Dienst in Afghanistan machen, war, wie ich finde, sehr beschämend. ({1}) Mit dem vernetzten Ansatz der Bundesregierung gelingt uns jetzt endlich das, was in den letzten Jahren nicht erreicht wurde, nämlich gleichzeitig die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte wie auch den zivilen Wiederaufbau voranzubringen. Beides sind doch Voraussetzungen für die Übergabe in Verantwortung und den Abzug unserer Truppen aus Afghanistan. Sicherheit und Wiederaufbau gehen Hand in Hand. Es wird eben keine Sicherheit ohne Wiederaufbau und Entwicklung geben, aber es gibt auch keinen Wiederaufbau und keine Entwicklung ohne Sicherheit. Die Bundesregierung zeigt sich beim zivilen Wiederaufbau in Afghanistan äußert engagiert und setzt dabei wichtige Schwerpunkte. Unser Engagement im Bereich der Lehrerausbildung ist erfolgreich. Nur mit gut ausgebildeten Lehrern gibt es eine solide Schulbildung und somit auch eine echte Zukunft für die junge afghanische Bevölkerung. ({2}) Während unseres Besuchs in Afghanistan hat Minister Niebel in Masar-i-Scharif ein Bildungszentrum für Lehrer eröffnet; das hat er vorhin angesprochen. Dort werden inzwischen 2 000 Lehrer pro Jahr ausgebildet. Ich finde, das ist ein Fortschritt. Das hilft weiter. Die gezielte Förderung von Frauen hat zu einer Zunahme der Lehramtsstudentinnen von 5 Prozent vor fünf Jahren auf jetzt 40 Prozent geführt. Auch das ist ein Fortschritt. Das ist der richtige Ansatz: Wir bauen nicht nur Schulen, sondern wir versorgen sie auch mit Lehrern. Mit deutscher Hilfe wurde die Einschulungsrate in Afghanistan in den letzten Jahren auf immerhin 52 Prozent erhöht. Die Alphabetisierungsrate bei den 15- bis 24-Jährigen ist auf beinahe 40 Prozent gestiegen. Das ist sicherlich bei weitem noch nicht genug. Diesbezüglich stimme ich der Opposition zu. Wir dürfen, wie Minister Niebel sagt, die Lage nicht schönreden. Aber wir müssen die positiven Entwicklungen anerkennen, die eines ganz deutlich machen: Unsere Hilfe kommt in Afghanistan an. ({3}) Ich konnte mich von vielen Projekten persönlich überzeugen, insbesondere im Bereich der Grundversorgung und der Infrastruktur: von der Trinkwasserversorgung über den Bau von Straßen und die medizinische Versorgung bis hin zur Vergabe von Mikrokrediten. Dirk Niebel kann hier zu Recht von einer Entwicklungsoffensive sprechen. Dabei leisten neben der deutschen Durchführungsorganisation, der GIZ, gerade auch private Hilfsorganisationen einen großartigen Dienst, zum Beispiel der Verein Kinderberg International, der Krankenstationen auch in entlegenen Regionen betreibt. Liebe Frau Hänsel, die Kindersterblichkeit ist in den letzten Jahren um über 50 Prozent zurückgegangen. Die Zahl 250 ist eine alte Zahl. ({4}) Wir sind inzwischen bei der Hälfte angekommen. Das ist immer noch zu viel - das gebe ich zu -, aber das ist trotz allem eine positive Entwicklung. All diese Bereiche zeigen, dass es Fortschritte in Afghanistan gibt, und sie zeigen, wie wichtig es ist, diesen eingeschlagenen Weg weiter zu beschreiten. Unser ziviles Engagement in Afghanistan ist langfristig angelegt. Das BMZ und die Mitarbeiter der GIZ werden auch dann noch dort sein und ihre Arbeit fortführen, wenn deutsche Soldatinnen und Soldaten Afghanistan bereits wieder verlassen haben. Die Entscheidung, dem zivilen Aufbau in Afghanistan Priorität einzuräumen, war richtig. Das ist der entscheidende Unterschied zur Vorgängerregierung. Ich bin meiner Fraktion dankbar dafür, dass sie das durchgesetzt hat. Diese Entscheidung trägt Früchte. Dadurch sind wir erfolgreich. Die Menschen in Afghanistan wissen unser Engagement zu schätzen. Sie freuen sich trotz der angespannten Sicherheitslage in vielen Regionen über die Verbesserungen der Lebensqualität vor Ort. Mit der Verdoppelung der Mittel für den zivilen Aufbau in Afghanistan im letzten Jahr auf jetzt über 430 Millionen Euro wurden Wiederaufbau und Entwicklung signifikant gestärkt. Vielleicht wird Afghanistan mit seiner Stammesstruktur nie eine echte WestminsterDemokratie. Jeder, der das Land kennt, weiß, warum das schwierig ist. Deshalb dürfen wir das Land und seine Menschen aber nicht aufgeben. Wir müssen sie dabei unterstützen, Afghanistan in eine bessere Zukunft zu führen. Ich danke Ihnen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort jetzt der Kollegin Ute Koczy für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern erst war die Trauerfeier für den in Afghanistan getöteten Entwicklungshelfer. Er starb im Rahmen seines entwicklungspolitischen Auftrages durch ein gezieltes Attentat, bei dem auch ein afghanischer Mitarbeiter verletzt wurde. Ihm geht es zum Glück wieder besser. Doch der deutsche Helfer hat für seinen Einsatz in Afghanistan den höchsten Preis gezahlt, den es gibt. Er gehört damit zu den Opfern, die wir in unserer Debatte über den Sinn und Zweck dieses Einsatzes nicht vergessen dürfen. ({0}) Dieser Entwicklungshelfer - das ist mir auch in den Mails aus Afghanistan bestätigt worden - sagte Ja zu Afghanistan, sagte Ja zum Straßenbauprojekt zwischen Kholm und Kunduz, sagte Ja zum Leben in einer anderen Kultur. Ich durfte ihn als Delegationsleiterin der Ausschussreise nach Afghanistan im Oktober letzten Jahres kennenlernen, und ich war beeindruckt von seinen Engagement, von seiner Zuwendung für die Menschen in Afghanistan. Ihm gebühren Anerkennung und Respekt, genauso wie den vielen Helferinnen und Helfern, Soldatinnen und Soldaten, die sich in diesem ungewissen und oft, zu oft tödlichen Umfeld bewegen. Auch deswegen tragen wir Verantwortung. ({1}) Die Frage stellt sich, wie es mit der Aufbauarbeit weitergehen kann, gerade auch vor dem Hintergrund dieses tödlichen Angriffs. Was tun wir eigentlich in Afghanistan? Die Antworten auf diese Frage sind vielfältig, und sie sind uneinheitlich. Schlimmer: Sie sind widersprüchlich. Geht es um entwicklungspolitischen Aufbau in einem komplett zerstörten Land, um den Einsatz für die Menschen-, die Frauenrechte? Geht es um die Sicherung des Friedens? Geht es um die Verteidigung am Hindukusch? Geht es um zentrale kollektive Sicherheitsinteressen? Geht es um den Kampf gegen Terrorismus, um Krieg? Herr Minister Niebel, anders als die Bundeskanzlerin haben Sie unserer Fraktion, haben Sie der Opposition, haben Sie dem Parlament Ihre Regierungserklärung nicht zur Verfügung gestellt. Ich bedaure das. Aber das wäre auch nicht nötig gewesen; denn zu dieser Frage haben Sie nichts Wegweisendes gesagt. ({2}) Ich habe erwartet, dass Sie in dieser Regierungserklärung Antwort auf die drängenden Fragen geben, und zwar für die Zeit, die jetzt kommt: für die Zeit bis 2014 und darüber hinaus. ({3}) Was fehlt, ist eine Agenda für den Aufbau. Das prinzipielle Problem, das wir haben, ist doch, dass der zivile Aufbau das oberste Ziel all unserer Anstrengungen ist. Wenn man in Afghanistan ist, dann hört man ja auch: Militärisch kann man in Afghanistan nicht gewinnen. Trotzdem wird nicht mit gelingenden entwicklungspolitischen Instrumenten eine Strategie für den Erfolg durchdacht, vorgegeben und durchexerziert. Die Regierung hat dazu nichts auf den Tisch gelegt. Diese Regierungserklärung ist es nicht wert, darüber zu debattieren. ({4}) Mein Vorwurf lautet: In allen Regierungskonstellationen im Deutschen Bundestag bis heute wurden die Gesetzmäßigkeiten entwicklungspolitischer Aufbauarbeit in der anderen Kultur von Afghanistan zu wenig bedacht, sie waren von kurzfristigem Denken durchzogen, wurden von Eigeninteressen torpediert, waren international schlecht abgestimmt und regional zu blind, wurden politisch nicht ernst genommen und für medial nicht attraktiv genug befunden. Schlimm ist, dass diese Analyse nicht neu ist. Sie ist Jahre alt. ({5}) Schlimmer ist, dass auf diese Analyse so mangelhaft reagiert wird. ({6}) Bis heute stehen die Entwicklungszusammenarbeit und der zivile Aufbau nicht im Vordergrund; das wird auch heute nicht anders werden. Genauso wenig werden Konzeptionen entwickelt, um diesen Widerspruch endlich zu überwinden. Herr Minister, das ist Ihre Aufgabe. Sie haben jetzt die Chance. Aber in dieser Regierungserklärung war davon nichts zu hören. Sie vergeben damit eine Chance, die ganz wichtig ist. Wir müssen jetzt die Frage beantworten, worum wir eigentlich ringen: Sind wir in Afghanistan erfolgreich? Wie werden wir in Afghanistan erfolgreich? Wenn wirklich gewollt ist, dass die Entwicklungspolitik im Rahmen des zivilen Aufbaus zum Erfolg beiträgt, dann müssen die Weichen anders gestellt werden. An drei Punkten will ich diese Kritik verdeutlichen. Erstens: Qualität. Letztes Jahr wurden die Mittel für den zivilen Aufbau auf 430 Millionen Euro jährlich bis 2013 erhöht. Afghanistan ist damit der größte bilaterale Nehmer deutscher Entwicklungszusammenarbeit. Die Aufstockung ist richtig. Aber es lässt sich immer noch nicht beurteilen, wie gut, wie wirkungsvoll das deutsche Engagement ist. Es fehlt eine unabhängige, externe Evaluation. Ja, Afghanistan hat sich verändert; das müssen wir zugestehen. Ja, es gibt Zugänge zu Trinkwasser, zu Mobilität, zu Energie. Die Gesundheitsversorgung nimmt Fahrt auf. Die Bildungschancen für Mädchen steigen. Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer wird vorangetrieben. Auch wir Grünen unterstreichen, dass gerade im Bildungsbereich, insbesondere in der Hochschulbildung, das Wissen und Know-how langfristig erarbeitet werden muss. Dazu haben wir auch einen Antrag gestellt. Darin sagen wir Ja zu all dem, was wir tun. Aber uns fehlen die Grundlagen für die weitere Beurteilung. Da genügt der Fortschrittsbericht nicht, der mit vielen Annahmen, Thesen, unbewiesenen Statements operiert, der blinde Flecken aufweist, der noch nicht einmal Schlüsse aus zentralem Versagen der afghanischen Regierung zieht, wie zum Beispiel bei Fragen der Menschenrechte, der Frauenrechte und zur Korruption. Es muss doch darum gehen, die Qualität des deutschen Engagements sicherzustellen, wo nötig zu verbessern und funktionierende Maßnahmen zu verstärken. Aber dafür hätten wir eine unabhängige, externe Evaluation gebraucht. Die fehlt. Herr Minister, Sie sagen doch, wir brauchen Wirkung, wir brauchen Effizienz. Warum steht davon nichts in Ihrem Bericht, warum lesen Sie das nicht aus Ihrer Regierungserklärung vor? Da ist nichts zu finden. ({7}) Wie nötig es ist, das Thema Korruption anzugehen, zeigt doch ein aktueller Fall: Die Enthüllungen der Neuen Osnabrücker Zeitung und des Norddeutschen Rundfunks über das Entwicklungshilfeunternehmen AGEF machen deutlich, dass wir auch vor der eigenen Tür kehren müssen. Bislang konnten die Vorwürfe gegen das Unternehmen nicht entkräftet werden. Ich will betonen, dass es keine Nichtregierungsorganisation im klassischen Sinne ist. Solange die Bundesregierung bei der Aufklärung ihre Verschleierungstaktik fortsetzt, bleiben die Verdachtsmomente doch im Raum. Die schwarzgelbe Bundesregierung und auch die Vorgängerregierungen haben es versäumt, Kontrollmechanismen zu etablieren, die schon den Anschein von Korruption und Unterschlagung nicht zulassen. ({8}) Es ist doch offensichtlich, dass gerade hier eine rechtzeitige externe Evaluation notwendig gewesen wäre.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Leibrecht zu?

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte.

Harald Leibrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003581, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Koczy, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Entwicklungshilfeunternehmen AGEF bereits im Jahr 2002 tätig war? Da war bekanntermaßen Minister Niebel noch nicht für die Entwicklungszusammenarbeit zuständig. Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Herr Niebel bereits im November 2010 diesbezüglich eine Untersuchung durch einen Wirtschaftsprüfer angeordnet hat und dass das jetzt auch von einem unabhängigen Unternehmen überprüft wird? Insofern ist das eine Situation, die nicht unter dieser Regierung entstanden ist, und sie wird von dieser Regierung bereits überprüft.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Leibrecht, sind Sie auch bereit anzuerkennen, dass die Reaktion des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit auch deswegen erfolgt, weil die Grünen dazu eine Kleine Anfrage gestellt haben, dass die Hinweise in der Presse veröffentlich wurden und dass sich jetzt gezeigt hat, dass das Ministerium nicht vorhat, jetzt die notwendigen externen Evaluationsmechanismen einzurichten? Sind Sie auch bereit, anzuerkennen, dass die Bundesregierung auf meine Kleine Anfrage sehr schwammig, sehr ausweichend reagiert hat, dass es sehr lange Zeit braucht, bis die Antworten kommen, dass das Wirtschaftsunternehmen, das die AGEF jetzt prüft, Vorlagen erstellt hat, und wir bis heute keine Klarheit darüber haben, ob das Ministerium bereit ist, lückenlos aufzuklären - in die eine oder in die andere Richtung? ({0}) Ich verlange, dass das Ministerium hier mit maximaler Transparenz zur Aufklärung beiträgt. Bis heute haben wir dazu nichts gehört. Ich hatte erwartet, dass in dieser Regierungserklärung dazu einige Worte gesagt werden. Wir haben eine aktuelle Situation, darauf muss man jetzt in der Regierungserklärung auch reagieren. ({1}) Zweiter Punkt, die zivil-militärische Zusammenarbeit. Herr Minister Niebel, was treibt Sie eigentlich dazu, eine der Stärken der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, nämlich die Neutralität, zu torpedieren? Warum meinen Sie, sich damit profilieren zu müssen, dass Sie die Nichtregierungsorganisationen dazu zwingen, sich einem Konzept von zivil-militärischer Zusammenarbeit unterzuordnen, einem Konzept, das keiner will, das niemand braucht, zu dem der Dachverband VENRO Nein sagt und dessen Konzeption niemandem bekannt ist? Ich sage, diese zivil-militärische Zusammenarbeit, die von Ihrem Haus ausgeht, ist überflüssig wie ein Kropf. Lassen Sie es bleiben! ({2}) Herr Minister, stellen Sie die Neutralität der zivilen Aufbauarbeit wieder her, denn das macht sie ja gerade so wertvoll, und organisieren Sie die Bedingungen so, dass es eine Entwicklungszusammenarbeit auch dann noch geben wird, wenn die Kampftruppen abgezogen sind.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, auch die Kollegin Hänsel würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich bitte aber, das knapp zu halten, weil sich die ohnehin mit Rederecht ausgestatteten Kolleginnen und Kollegen ihre Redezeiten verständlicherweise eigentlich nicht durch wechselseitige Zwischenfragen zusätzlich verlängern sollten. - Bitte schön. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, aber ich denke, es ist mein gutes parlamentarisches Recht, eine Zwischenfrage zu stellen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Deswegen gebe ich Ihnen dazu ja auch Gelegenheit.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Genau, danke schön. Ich denke, ohne Kommentierung ist das auch möglich. Danke schön, Herr Präsident.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich darf Sie der Vollständigkeit halber darauf aufmerksam machen, dass Kommentare zu sitzungsleitenden Entscheidungen des Präsidenten von den Mitgliedern des Hauses prinzipiell nicht kommentiert werden. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, gut. - Ich möchte jetzt zu den wichtigen Dingen kommen. Liebe Kollegin Ute Koczy, Sie haben die zivil-militärische Zusammenarbeit angesprochen. Ich kann Ihnen meine Frage dazu jetzt natürlich nicht ersparen. Die zivil-militärische Zusammenarbeit gab es schon im Kosovo nach dem Jugoslawienkrieg. ({0}) - Ihnen fällt nie etwas anderes ein, Frau Künast. Das ist sehr schwach. Sie lenken ab. ({1}) Bereits 2002 wurde mit der zivil-militärischen Zusammenarbeit begonnen. Die Strukturen dafür wurden durch den Aufbau der Wiederaufbauteams geschaffen. ({2}) In diesen dezentralen Teams haben Soldaten, Entwicklungshelfer und das Auswärtige Amt zusammengearbeitet. Das ist ein Projekt der rot-grünen Bundesregierung. Dazu hätte ich von Ihnen schon gerne ein paar Sätze gehört. ({3})

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kollegin Heike Hänsel, die Situation in Afghanistan ist leider nicht so, wie die Linke sie gerne hätte. Ohne die Soldatinnen und Soldaten und ohne den militärischen Schutz kann die Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan nicht geleistet werden. ({0}) Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zivile Aufbauarbeit leisten, ist sehr wohl klar, dass sie aufgrund dessen, dass sie zivil arbeiten, in diesem schwierigen Umfeld keine Möglichkeit haben, bei terroristischen Attacken zu reagieren. Sie sind darauf angewiesen, dass es einen substanziellen Schutz gibt. Die Umsetzung Ihrer Forderung, diese militärische Unterstützung sofort zu beenden, würde bedeuten, dass wir diese entwicklungspolitische Aufbauarbeit, die wir gerne leisten und die wir den Menschen in Afghanistan versprochen haben, umgehend beenden müssten. Wenn wir diesem Vorschlag folgen würden, hätten wir unser Versprechen gegenüber dem afghanischen Volk, es bei der Bildung, bei der Trinkwasserversorgung und bei allen anderen organisatorisch wichtigen entwicklungspolitischen Leistungen zu unterstützen, komplett gebrochen. Deswegen muss man differenzieren. So einfach, wie Sie es in Ihrer Argumentation sagen, ({1}) ist das Land Afghanistan nicht zu retten. ({2}) Drittens. Weil die Situation in Afghanistan so schwierig ist, brauchen wir einen Plan, eine Strategie und eine Agenda; denn die Debatte über den Abzug findet statt. Für die Zivilisten, für die Bundeswehr und für die internationalen Truppen war das Jahr 2010 das bisher verlustreichste, und es ist zweifelhaft, ob die USA mit ihrer veränderten Strategie, der gezielten Aufstandsbekämpfung, ihr Ziel erreicht. Was heißt das für die Entwicklungszusammenarbeit? Was heißt das für die Zeit bis zum Abzug? Was heißt das für die Zeit darüber hinaus? Ein einfaches „Weiter so!“ kann es nicht geben. Deswegen lautet unsere Forderung: Wir brauchen eine Agenda für den Aufbau bis 2014 und danach, damit wir unserer Verantwortung gerecht werden. Das ist die letzte Chance, die wir haben, für die entwicklungspolitische Zusammenarbeit Pflöcke einzurammen und zusammen mit den umliegenden Staaten, was ganz, ganz wichtig ist - ich nenne hier Pakistan und die zentralasiatischen Staaten -, zu einem anständigen Erfolg zu kommen, durch den es uns ermöglicht wird, in Afghanistan tatsächlich zu einer Verbesserung der Situation zu kommen. Dafür setzen wir uns ein. Danke. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort dem Kollegen Holger Haibach für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Hänsel, ich habe zwei Probleme mit Ihrer Rede. ({0}) Das erste Problem ist: Offensichtlich haben Sie Ihre Rede lange vorbereitet, waren aber aufgrund der Kürze der Zeit oder aus welchen Gründen auch immer nicht mehr in der Lage, sich auf das, was der Minister gesagt hat, einzustellen. Sie haben gesagt, der Minister hätte alles nur beschönigt und nicht auf die Probleme in Afghanistan hingewiesen. Das hat er sehr wohl getan. Nun kommt das zweite Problem hinzu, und das ist Ihre ideologische Weltsicht. Sie können nur schwarz-weiß sehen. Ich finde, Herr Niebel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Schwarz-weiß-Sehen das Schlechteste ist, was man in Afghanistan machen kann. Dafür gibt es drei Gründe. Erstens. Sie diskreditieren die Arbeit derer, die sich hier im Parlament seit Jahren mit Afghanistan beschäftigen. Das trifft nicht nur die Regierungskoalitionen, sondern auch andere Fraktionen hier im Hause, und es trifft die Bundesregierung. Damit könnte man notfalls noch leben, das gehört bis zu einem gewissen Grade zum parlamentarischen Gebrauch dazu. Zweitens. Sie diskreditieren damit auch die Erfolge, die besonders deutsche Entwicklungshelfer und deutsche Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan erreicht haben. Das kann man nicht einfach so stehen lassen. ({1}) Drittens, und das finde ich das Schlimmste: Sie diskreditieren damit auch das, was viele Afghaninnen und Afghanen zum Teil unter Einsatz ihres Lebens in all den Jahren seit 2001 in Afghanistan erreicht haben. Ich finde, das kann man am allerwenigsten stehen lassen. ({2}) Ich bin sehr dankbar, dass ich von anderen Rednern, auch von Oppositionsseite, sehr sachliche Beiträge gehört habe. In diesem Zusammenhang möchte ich eine Bemerkung zu Ute Koczy machen. Ich schätze deine Arbeit sehr, aber das Problem ist: Wenn man sagt, dies hat nicht funktioniert und da fehlt uns etwas, dann muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Bundesregierung in dieser Zusammensetzung erst seit anderthalb Jahren im Amt ist. Das Afghanistan-Engagement - das ist deutlich geworden - ist von Regierungen getragen worden, die von vier Fraktionen dieses Hauses gestellt wurden bzw. werden. Insofern gilt das alte Sprichwort: Wenn man mit dem Finger auf jemanden zeigt, dann zeigen immer drei Finger auf einen zurück. Ich finde, ein bisschen Zurückhaltung wäre an dieser Stelle durchaus angebracht. ({3}) Nichtsdestoweniger glaube ich, dass die Debatte ein relativ differenziertes Bild zur Situation in Afghanistan zeichnet. Im Übrigen ist auch der Fortschrittsbericht - Christian Ruck hat darauf hingewiesen - von Kennern als das ehrlichste Dokument und die ehrlichste Bestandsaufnahme über die Situation in Afghanistan seit Beginn des Einsatzes gelobt worden. Ich glaube, darin wird deutlich, worin die Herausforderung eigentlich besteht. Die Herausforderung besteht zum einen darin, die Situation in Afghanistan kritisch, realistisch und nüchtern in den Blick zu nehmen, zum anderen besteht sie darin, zu überlegen, was eigentlich die Zielsetzung ist. In den letzten anderthalb Jahren ist sehr viel davon gesprochen worden, dass es notwendig ist, die gesetzten Ziele vielleicht wieder neu zu justieren. Das Ziel, innerhalb kürzester Zeit eine Demokratie nach westlichem Muster einzurichten, ist vielleicht zu ambitioniert gewesen. Es kann sein, dass wir das eine oder andere Ziel nicht erreichen werden, aber es gehört zu unserem Selbstverständnis als deutsche Parlamentarier und im Besonderen als deutsche Bundesregierung dazu, darauf hinzuwirken, dass rote Linien nicht überschritten werden dürfen, selbst wenn man die Ziele neu justiert. Rote Linien, das bedeutet Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Entwicklungschancen für alle Menschen in Afghanistan. Das ist schwierig. All diejenigen, die sagen, dazu habe die gegenwärtige Bundesregierung kein Konzept, liegen aus meiner Sicht fatal falsch, und zwar deshalb, weil das AfghanistanKonzept der Bundesregierung aus dem letzten Jahr meines Erachtens eine gute Arbeitsgrundlage bietet, um zu schauen, wie wir das erreichen können, was wir erreichen wollen. Über das, was wir erreichen wollen, gibt es Konsens, ich denke, auch in diesem Haus, und zwar die Übergabe in Verantwortung. Wenn man die Verantwortung übergeben will, dann muss man sich überlegen, was man dafür braucht. Auf der einen Seite brauchen wir ein gesichertes Umfeld. Dieser Aufgabe geht von unserer Seite die Bundeswehr sehr intensiv nach. Auf der anderen Seite brauchen wir auf afghanischer Seite Menschen, die in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen und auch die nötigen Kapazitäten haben, Verantwortung zu übernehmen, und die entsprechende Infrastruktur. Deswegen sieht das Konzept meines Erachtens zu Recht vor, die Infrastruktur im Sinne von Straßen, Gesundheit, Verwaltung usw. aufzubauen, aber auch die Menschen zu befähigen, Verantwortung zu übernehmen. Gerade Deutschland hat mit dem Konzept des Provincial Development Fund, wie ich finde, ein wirklich gutes Mittel gefunden, um Afghaninnen und Afghanen möglichst früh an Entscheidungsfindungen zu beteiligen und sie in die Lage zu versetzen, Entscheidungen zu fällen. Darüber hinaus wissen wir seitdem auch wesentlich besser, was von der Bevölkerung vor Ort gewünscht wird. Das ist aus meiner Sicht ein wichtiger Punkt. Es ist ein Baustein dafür, dass wir dort erfolgreich sein können. ({4}) Es ist mir auch wichtig, auf das schwierige Thema zivil-militärische Zusammenarbeit zu kommen, weil es gerade in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielt. Auch hierzu waren sehr einseitige Äußerungen zu hören. Die Wahrheit ist auch in der deutschen Nichtregierungsorganisationsszene ein bisschen komplizierter. Es gibt Organisationen wie Kinderberg, für die die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr selbstverständlich ist. Andere machen das nicht. Das ist genauso richtig. Es wird auch keiner dazu gezwungen, wie es in der Debatte gesagt worden ist. Ich will auf eines hinweisen: Der Fonds, den Bundesminister Niebel im Rahmen des Wiederaufbaus in Afghanistan mit 10 Millionen Euro für das letzte Haushaltsjahr aufgelegt hat, ({5}) ist ausgeschöpft. Die Mittel sind komplett gebunden. Wir werden sicherlich irgendwann erfahren, welche Organisationen Mittel aus diesem Topf bekommen haben. Ich bin ganz sicher, dass sie nicht allein an Kinderberg geflossen sind. Das wird sicherlich eine interessante Debatte, weil wir dann feststellen werden, wer diejenigen sind, die den großen Kampf gegen die zivil-militärische Zusammenarbeit führen. ({6}) Ich glaube, dass wir - das gilt für alle, die im Bereich des zivilen Aufbaus tätig sind - eine Sache genau im Blick behalten müssen, nämlich dass die Entwicklungszusammenarbeit ein langfristig angelegtes Instrument ist. Christian Ruck hat darauf hingewiesen. Wir werden lange nach 2014 mit deutscher Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan tätig sein. Es ist einerseits gut; andererseits gibt es dabei Herausforderungen. Eine Herausforderung ist die Frage, wer nach 2014 Sicherheit garantiert. Das ist zweifelsohne eine wichtige Frage. Aber wir haben immer gesagt: Der Abzug setzt selbsttragende Sicherheitsstrukturen in Afghanistan voraus. Insofern ist es zumindest aus meiner Sicht völlig klar, dass ein verantwortungsvoller Abzug nur dann stattfinden kann, wenn selbsttragende Sicherheitsstrukturen vorhanden sind, die auch in der Lage sind, Aufbauhelfer zu schützen. Ohne das eine kann es das andere nicht geben. ({7}) Wenn ich einen Schlussstrich unter die Debatte ziehe und berücksichtige, was im Fortschrittsbericht und im Afghanistan-Konzept enthalten ist, dann sind, denke ich, drei Punkte wichtig: Der erste Punkt ist schon angesprochen worden. 49 Prozent der afghanischen Bevölkerung ist unter 15 Jahre alt. Das ist eine unglaubliche Chance mit einem unglaublichen Potenzial. Darin liegt aber auch eine unglaubliche Herausforderung. Denn diese Menschen werden durch das geprägt, was sich jetzt in den kommenden Jahren abspielt. Die Frage, ob wir in Afghanistan erfolgreich sind, wird auch ihr Denken über uns bestimmen. Deswegen ist es so wichtig, dass wir dort erfolgreich arbeiten. Unser Einsatz dort ist wichtig und richtig. ({8}) Zweitens. Die Weltbank hat vor einigen Tagen veröffentlicht - ich bin beim Spiegel-Lesen darauf aufmerksam geworden -, dass China im Jahr 2010 110 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe ausgezahlt hat. Das sind 10 Milliarden Dollar mehr, als die Weltbank im selben Zeitraum ausgezahlt hat. Wer sich fragt, wem die Kupferbergwerke in Afghanistan gehören, stellt fest, dass sie in chinesischem Besitz sind. Ein Blick auf das chinesische Engagement in Afrika macht deutlich, dass uns dort ein neuer Player, ein neuer Partner, vielleicht auch ein neuer Rivale erwachsen ist. Es geht mir nicht um einen Clash der Zivilisationen, den Zusammenprall der Kulturen. Im Gegenteil: Wir sollten sehen, wo wir kooperieren können. Aber auch deshalb ist es in Zukunft wichtig, zu schauen, wer eigentlich in Afghanistan ein gutes Ansehen hat und wer eigentlich in Afghanistan zur Entwicklung beiträgt. Wir werden nicht nur dort, sondern auch anderswo sehen, dass das ein ganz wichtiger Punkt ist. Ich will zum Schluss noch eine dritte Bemerkung machen. Entwicklungspolitik ist ein langfristiges Instrument. Entwicklungspolitik ist nicht auf kurzfristigen Erfolg ausgerichtet. Deswegen sollten und müssen wir aufpassen, dass Entwicklungspolitik nicht sozusagen in Geiselhaft für alles, was in anderen Bereichen des Engagements nicht funktioniert, genommen wird. Entwicklungspolitik wird nur dann erfolgreich sein, wenn wir über das Jahr 2014 hinaus mit den entsprechenden finanziellen Mitteln, aber auch an der einen oder anderen Stelle mit der notwendigen Härte, zum Beispiel wenn es um Korruptionsbekämpfung geht, vorgehen. Dabei sollten wir alle mithelfen. Danke sehr. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Burkhard Lischka für die SPD-Fraktion. ({0})

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch wenn sich jetzt allmählich die Regierungsbank anscheinend wieder füllt, muss ich sagen, dass ich enttäuscht bin, dass die Regierungsbank lange Zeit während der Debatte ziemlich verwaist gewesen ist. Vor allem hat - mit Ausnahme der ersten fünf Minuten - ein Minister gefehlt, den ich sonst jeden Tag im Fernsehen sehe. Das zeigt, wo hier anscheinend die Prioritäten liegen und wo nicht. ({0}) Ich finde das bedauerlich. ({1}) Es gibt in Afghanistan ein Sprichwort, mit dem sich die Menschen immer dann gegenseitig Mut machen, wenn sie vor scheinbar unlösbaren Problemen stehen. Dieses Sprichwort besagt, dass selbst zum Gipfel des höchsten Berges ein Weg führt. Um in diesem Bild zu bleiben: Nach über neun Jahren Einsatz in Afghanistan stehen nicht nur die Afghanen, sondern auch wir mitten in einer riesigen Gebirgslandschaft zahlreicher und nach wie vor ungelöster Probleme. Der Berggipfel ist nicht immer erkennbar. Obwohl vieles in der Vergangenheit in bester Absicht unternommen wurde, haben sich doch manche Wege im Nachhinein als falsch erwiesen. Viele Hoffnungen haben sich zerschlagen. Niemand von uns weiß mit Sicherheit, welch ein Afghanistan wir auf Dauer zurücklassen, wenn wir uns in den nächsten Jahren militärisch zurückziehen. Eine Erkenntnis zieht sich inzwischen durch jeden Debattenbeitrag, wenn wir über die Zukunft Afghanistans sprechen. Mit militärischen Mitteln allein werden wir einen dauerhaften Frieden und Stabilität in Afghanistan nicht hinbekommen. Ich kann an dieser Stelle nur das wiederholen, was wir Sozialdemokraten seit vielen Jahren immer wieder fordern und im Rahmen des Strategiewechsels unterstützen, nämlich dass wir von einer reinen Dominanz militärischer Ziele weg müssen, hin zu einer dauerhaften und nachhaltigen Hilfsstrategie, die sich vor allen Dingen dem Aufbau staatlicher Institutionen widmet, zivilgesellschaftliche Strukturen stärkt und die Lebenssituation der Menschen ganz praktisch verbessert. Kurz gesagt: Jetzt ist Entwicklungspolitik gefordert. Jetzt sind Sie als zuständiger Minister gefordert, Herr Niebel. Nur, Herr Niebel, der Verantwortung, die damit verbunden ist, wird man doch nicht dadurch gerecht, dass man zuallererst damit beginnt - das ist jedenfalls Ihre Absicht -, denjenigen Hilfsorganisationen, die nicht bereit sind, mit dem Militär in Afghanistan zu kooperieren, die Gelder zu streichen. ({2}) Diese törichte Vorgabe, die Sie eben wieder verteidigt haben, zeigt doch nur, dass Sie bis heute nicht die Grundidee guter Entwicklungspolitik verstanden haben. Entwicklungspolitik muss immer und zuallererst nach den Bedürfnissen der Menschen fragen und nicht danach, was militärisch nützlich erscheint. Eine Entwicklungspolitik, die sich stattdessen möglicherweise zu einem verlängerten Arm militärischer Interessen macht, ist - dafür gibt es unzählige Beispiele - zum Scheitern verurteilt. Konsequent zu Ende gedacht, nimmt eine solche Politik sogar billigend in Kauf, dass viele Hilfsorganisationen, die sich zum Teil seit Jahrzehnten in Afghanistan engagieren, ihre Arbeit einstellen bzw. einstellen müssen und sich aus Afghanistan zurückziehen. Wenn aber die Helfer Afghanistan verlassen, Herr Niebel, dann ist dieses Land verloren. Deshalb sage ich Ihnen deutlich: Korrigieren Sie diese Politik. Sie ist falsch und stellt einen fatalen Irrweg dar. ({3}) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir Sozialdemokraten gerade in diesen Tagen und Wochen immer wieder darauf drängen, in diesem Jahr mit dem Truppenabzug zu beginnen, dann ist das vor allen Dingen von der Erkenntnis getragen, dass für Sicherheit und Stabilität in Afghanistan nur ein funktionsfähiger und legitimer Staat sorgen kann und dass solche Staatlichkeit, jedenfalls nicht auf Dauer, durch ausländische Militärkräfte ersetzt und erzwungen werden kann. Es wird nicht gelingen, Afghanistan eine Chance für eine bessere Zukunft zu geben, wenn die Regierung Karzai nicht erhebliche und energische Anstrengungen unternimmt. Die Hauptaufgabe der afghanischen Regierung besteht jetzt darin, zwischen 2011 und 2014, wie verabredet, Stück für Stück die Sicherheitsverantwortung in Afghanistan zu übernehmen. Mit der Ausbildung von inzwischen 150 000 afghanischen Soldaten und 113 000 Polizisten hat die internationale Staatengemeinschaft bis dato ihren Teil der Verabredung eingehalten und den Grundstein dafür gelegt, dass wir in diesem Jahr auch tatsächlich mit dem Übergabeprozess beginnen können. Wer aber diesen Übergabeprozess gleich zu Beginn schon wieder infrage stellt, indem er darüber nachdenkt, mit dem Truppenabzug auch später zu beginnen, der findet sich irgendwann möglicherweise im Chaos wieder, der läuft Gefahr, dass er einen unkoordinierten und überstürzten Abzug vornehmen muss. Denn eines steht aus meiner Sicht fest: 2014 werden sich die Kampfverbände der internationalen Staaten aus Afghanistan verabschieden. Deshalb habe ich überhaupt kein Verständnis für das Hickhack und die Kakofonie hinsichtlich des Abzugsbeginns, die wir in den vergangenen Wochen innerhalb dieser Bundesregierung zwischen Außen- und Verteidigungsminister erlebt haben. ({4}) Diese Bundesregierung stand und steht nach wie vor in der Pflicht, deutlich zu sagen, wie sie Sicherheitsverantwortung an die Afghanen übergeben und in welcher Form sie mit dem Abzug der deutschen Truppen am Hindukusch beginnen will. Talkshows zur Selbstinszenierung vermeintlicher Kanzlerkandidaten können ein solches klares Wort übrigens nicht ersetzen. ({5}) Solche Inszenierungen helfen auch Afghanistan keinen Schritt weiter. Sie lösen nicht eines der dortigen Probleme. Sie verbessern nicht die Lebensumstände auch nur eines einzigen Afghanen. Sie bringen nicht einen deutschen Soldaten sicher nach Hause. Kurz gesagt: Solche Selbstinszenierungen sind überflüssig wie ein Kropf. ({6}) Deshalb zum Schluss noch ein Dank an Sie, Herr Niebel. Als Sie von der Frankfurter Rundschau vor einigen Wochen gefragt wurden, ob auch Sie ähnliche Inszenierungen planen, haben Sie schlicht und einfach geantwortet: Ich habe nicht vor, meine Frau nach Afghanistan mitzunehmen. - Ich hatte nach Ihren Einsätzen mit Militärkäppi und verspiegelter Sonnenbrille schon Schlimmeres befürchtet. Zumindest für diese Aussage dann doch recht herzlichen Dank, Herr Niebel. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Helga Daub ist die nächste Rednerin für die FDPFraktion. ({0})

Helga Daub (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003515, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Vor einem Jahr war es gerade Deutschland, das auf der Konferenz in London auf dem Konzept der vernetzten Sicherheit und der Übergabe in Verantwortung in Afghanistan bestanden hat. Dass es schon in diesem Jahr möglich sein wird, einzelne Regionen in die Verantwortung der Afghanen zurückzugeben, ist bei allen Rückschlägen, die es leider gegeben hat und die es möglicherweise auch noch geben wird, ein großer Erfolg. Wir sind sehr betroffen und trauern um die gefallenen Bundeswehrsoldaten und um den getöteten zivilen Mitarbeiter. Unser Beileid gilt natürlich den Angehörigen. Ja, es bleibt nach zehn Jahren Einsatz die Erkenntnis, dass es einen Königsweg, am besten noch nach westlichem Vorbild, so nicht geben wird, weder allein militärisch noch mit Aufbauhilfe. Deshalb braucht es die Koordinierung von beidem, vor allem aber Aufbauhilfe, insbesondere zum Aufbau der Infrastruktur. Zu lange sollten Soldatinnen und Soldaten quasi Entwicklungshelfer in Uniform sein, was außer in der heimischen Berichterstattung so schon lange nicht mehr funktioniert hat. ({0}) Auch oder gerade deshalb ist es so verkehrt, wenn Kritiker immer wieder - auch hier klang es wieder an - die angebliche Militarisierung der Entwicklungshilfe anprangern. Das Gegenteil ist der Fall: Diese Regierung will, dass die Beteiligten das machen, was sie am besten können - die Herstellung von Sicherheit die einen, den Aufbau die anderen. Hier kommt dann die Entwicklungshilfe ins Spiel. ({1}) Wir, eine Delegation des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, konnten Infrastrukturprojekte in Afghanistan in Augenschein nehmen, zum Beispiel ein Trainingscenter für die Lehrerausbildung, Schulen, neu gebaute Straßen, ein Kraftwerk und Handwerksbetriebe, aber auch die Projekte zur Ausbildung der Polizei in Kabul und in Masar-i-Scharif. Liebe Kollegen und Kolleginnen, sicher geht es Ihnen ähnlich wie mir: Ich werde immer wieder angesprochen und gefragt: „Glauben Sie wirklich an einen Erfolg in Afghanistan?“ ({2}) Glauben möchte ich daran gerne aus voller Überzeugung. Dass wir es am Ende wirklich schaffen, kann aber wohl niemand behaupten. Wir haben allerdings die besten Möglichkeiten; wir haben Chancen. ({3}) Eine Garantie kann es nicht geben. Wenn es jedoch gelingt, in Zusammenarbeit mit der Bevölkerung Sicherheit und Infrastruktur in nennenswertem Umfang herzustellen, wird es für die Taliban schwerer, die Menschen wieder für sich zu gewinnen. Das ist unsere große Chance. Wir sollten sie nutzen. Es ist vielleicht die einzige Chance. Vor allem aber müssen wir die Herzen und Köpfe der jungen Menschen - daraus schöpfe ich besonders viel Zuversicht - gewinnen. Ich glaube, dazu haben wir die besten Voraussetzungen. Die Kinder und die Jugendlichen, insbesondere die Mädchen - das gilt es ganz besonders hervorzuheben - gehen offensichtlich gerne zur Schule; wir konnten uns davon überzeugen. Sie sind froh, wieder einen sicheren Schulweg zu haben, wieder ein Schulgebäude zu haben, sodass auch im Winter Unterricht stattfinden kann, was zuvor nicht immer der Fall war. Die Kinder und die Jugendlichen haben uns auch von ihren Zukunftsplänen berichtet. Das hörte sich alles sehr positiv an. Sie sind die Zukunft des Landes. Gut ausgebildete und aufgeklärte Menschen lassen sich von den Taliban nicht ins Mittelalter zurückdrängen. ({4}) Sie sehen ihre Zukunft aber auch nicht als Schaf- und Ziegenhirten - ich möchte diesem Berufsstand nicht zu nahe treten - oder aber als Landflüchtlinge in dem ohnehin schon überbevölkerten Kabul. Vor allen Dingen deshalb müssen wir in die Infrastruktur des Landes investieren. Dann gibt es genügend Möglichkeiten des beruflichen Fortkommens. Ansonsten werden diese jungen Leute ins Ausland gehen und ihre Fähigkeiten nicht dem eigenen Land zugutekommen lassen. Die Herzen und Köpfe der Menschen gewinnen wir aber auch mit einem weiteren Aspekt, der in der Öffentlichkeit eher selten wahrgenommen wird: Ich meine die Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Es gibt noch sehr viel zu tun - das wissen wir alle -, um vor allen Dingen die Infrastruktur der ärztlichen Versorgung weiter zu verbessern. Es fehlt unter anderem zwar noch an qualifizierten Krankenschwestern und Hebammen; aber die Fortschritte werden von der Bevölkerung wahrgenommen. Sie kommen ihr unmittelbar zugute, sie sind sichtbar und führen zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität der Menschen, im Übrigen auch der Akzeptanz der Helfer dort. Das sollte uns Anlass zu Hoffnung geben und Ansporn zum Weitermachen sein. Mütter- und Kindersterblichkeit konnten gesenkt werden. Frau Hänsel, Ihre Zahlen sind nicht mehr ganz aktuell. Im Human Development Index wird beispielsweise festgestellt, dass die Kindersterblichkeit in Afghanistan sinkt und von jedem Geburtenjahrgang fast 130 000 Kin9570 der den fünften Geburtstag erleben. Wenn das kein Erfolg ist! ({5}) Die Impfraten - das betrifft Diphterie, Keuchhusten und Tetanus - sind enorm gestiegen. Ein Thema liegt mir sehr am Herzen, nämlich der Kampf gegen die Tuberkulose. Wir haben das im Unterausschuss „Gesundheit in Entwicklungsländern“ öfter behandelt. Mittlerweile konnten fast zwei Drittel der afghanischen Kinder gegen Tuberkulose geimpft werden. Unsere Anstrengungen bei der Unterstützung des zivilen Aufbaus werden also wahrgenommen. Wie gesagt, es gibt noch Defizite. An deren Beseitigung müssen wir alle gemeinsam weiter arbeiten. Diese Regierung hat allerdings die Gelder für den Wiederaufbau verdoppelt, nämlich die Gelder, die direkt in Projekte und nicht in den Haushalt der Regierung fließen, was angesichts der vorhandenen Korruption auch eher kontraproduktiv wäre. Wir bleiben dran. Der zivile Aufbau ist uns wichtig.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Helga Daub (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003515, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Ende. - Ein Land, das Hoffnung hat, das Chancen eröffnet, entzieht dem Terrorismus den Nährboden. Das bedeutet auch mehr Sicherheit für uns hier. Danke. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile nun der Kollegin Sibylle Pfeiffer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! „Wir müssen den zivilen Wiederaufbau Afghanistans stärken“ - das ist eigentlich seit Jahren, liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Mantra hier im Deutschen Bundestag, und zwar seit der Zeit, als nach den ersten militärischen Rückschlägen in Afghanistan der Ruf nach einem Strategiewechsel, nach einem umfassenden zivilen Ansatz laut wurde. In der Debatte um Afghanistan habe ich schon viele Strategiewechsel miterlebt, aber nicht jeder, der so bezeichnet wurde, war auch einer. Aber dann kam Anfang letzten Jahres die Konferenz in London. Das Ergebnis dieser Konferenz kann man zweifelsohne als echten Strategiewechsel bezeichnen. Die internationale Gemeinschaft hat sich dazu verpflichtet, in Afghanistan massiv in den zivilen Sektor zu investieren. Allein Deutschland wird bis 2013 jedes Jahr bis zu 430 Millionen Euro bereitstellen, eine gewaltige Summe, die, wie ich finde, zeigt, dass wir es ernst meinen. Doch auch die Afghanen müssen es ernst meinen und Verantwortung für die Zukunft ihres Landes übernehmen. Ich weiß: Darüber zu sprechen, war eine ganze Weile lang verpönt. Aber die Regierung Karzai muss ihre Zusagen genauso einhalten wie wir und am Aufbau eines funktionierenden, selbsttragenden Staatswesens intensiv mitarbeiten. Wir haben oft genug bemängelt, dass Karzais Regierung und Verwaltung anfällig für Korruption, Misswirtschaft und Missmanagement sind. Wenn die afghanische Regierung selbst nicht die Kraft zu passabler Regierungsführung hat, müssen wir den Druck erhöhen und mehr Unterstützung leisten. ({0}) - Hören Sie erst einmal zu; vielleicht kommt es noch.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich sehe, dass es Einvernehmen gibt, dass der Kollege Raabe eine Zwischenfrage stellen darf. Bitte schön.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Pfeiffer, Sie sagten gerade, wie wichtig es ist, dass die Regierung Karzai und ihre Verwaltung frei von Korruption, also von Günstlings- und Vetternwirtschaft, ist. Ich wollte Sie fragen, ob Sie mir zustimmen, dass es auch ganz wichtig ist, dass das zuständige Ministerium mit gutem Beispiel vorangeht. Es gibt nun zum wiederholten Male den Fall, dass ein FDP-Parteifunktionär einen unbefristeten Vertrag mit Versorgungsgarantie im BMZ bekommt, obwohl er bereits eine Geschäftsführerposition in der GIZ, der neu gegründeten Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, innehat. Der Personalrat hat das auf das Schärfste bemängelt, weil hier wiederholt das offizielle Bewerbungsverfahren umgangen wurde, um Parteimitglieder zu versorgen. Würden Sie mir auch zustimmen, dass, wenn in Afghanistan eine Partei nach der Übernahme der Regierung zum Beispiel einer Wirtschaftsbranche einen großen steuerlichen Vorteil gewährt und daraufhin diese Branche der Regierungspartei eine Spende in Millionenhöhe gibt, ({0}) dieses in die Nähe einer schlechten Regierungsführung zu rücken wäre? Glauben Sie nicht, dass man vor diesem Hintergrund auch im Ministerium von Herrn Niebel mit gutem Beispiel vorangehen sollte? ({1})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Raabe, wenn Sie mir sagen, was dieses Thema mit der Afghanistan-Debatte zu tun hat, die wir hier zurzeit führen, dann gebe ich Ihnen nach der Debatte eine Antwort darauf. ({0}) Ich fahre dann fort. - Wenn wir mit den Afghanen eng zusammenarbeiten wollen, muss es um eine Partnerschaft auf Augenhöhe gehen. Das heißt aber auch: Jede Seite muss die Versprechen der jeweils anderen Seite ernst nehmen. Dazu gehört für mich - ich hoffe, auch für den einen oder anderen, vielleicht irgendwann für das ganze Haus - unter Umständen eine gewisse Konditionalisierung. Zu Recht wird vereinzelt geäußert, wir seien unseren finanziellen Verpflichtungen nicht nachgekommen. Wir halten uns daran, auch wenn es nicht immer leichtfällt. Wenn aber die andere Seite ihre Verpflichtungen nicht einhält, muss das Konsequenzen haben. Zusagen und Versprechen müssen eingehalten werden, und zwar von beiden Seiten. Zu oft sind wir schon enttäuscht worden. Ich finde es richtig, dass bei Projekten eine Konditionalisierung stattfindet und im Übrigen auch konsequent angewendet wird. Nach der ersten Phase eines Projekts wird überprüft, ob die afghanische Regierung ihren Teil der Vereinbarung eingehalten hat. Nur im Erfolgsfall werden die Mittel für die zweite Projektphase freigegeben. So werden der Wille zu verantwortungsvoller Arbeit gefördert und der Erfolg der Projekte vergrößert. Umgekehrt müssen Gelder auch zurückgehalten werden, wenn die erste Projektphase nicht erfolgreich abgeschlossen wurde. Ich gehe davon aus, dass das ganze Haus diesen neuen Ansatz unterstützt; denn er setzt erstens Anreize zu einer besseren Regierungsführung, fördert zweitens ein dringend notwendiges Umdenken in der Regierung Karzai und sichert darüber hinaus drittens, liebe Freunde, eine vernünftige Verwendung deutscher Steuergelder. Damit einher geht allerdings auch etwas anderes. Ich möchte schon heute eine Warnung aussprechen. Sollten wir mit gutem Gewissen einmal Mittel für eine zweite Projektphase nicht ausschütten können, bedeutet dies, dass unter Umständen die 430 Millionen Euro, die uns zur Verfügung stehen, nicht ausgegeben werden. Das liegt dann nicht an uns, sondern am Missmanagement der afghanischen Seite. Darüber müssen wir offen reden. Was wir dann allerdings nicht brauchen können, sind Anfeindungen der Opposition, polemische Vorwürfe, von welcher Seite auch immer, sei es gar von den NGOs oder der Gebergemeinschaft. Von Vorwürfen, dass wir unsere Verpflichtungen nicht eingehalten haben, weil wir es unter den oben geschilderten Umständen eben nicht konnten, hat übrigens auch das afghanische Volk nichts; denn ohne diese Form der Erfolgs- und Projektkontrolle würden Korruption und Missmanagement unterstützt werden und würde Afghanistan in seiner eigenen Entwicklung behindert werden. Von Korruption und Missmanagement hat Afghanistan tatsächlich genug. ({1}) All das können und dürfen wir nicht mehr länger hinnehmen; denn unsere Verantwortung gilt vor allen Dingen der jungen Generation - Frau Daub hat es gesagt -: Sie hat es verdient, eine Chance zu bekommen. Diese junge Generation müssen wir erreichen. Ihr müssen wir den Weg zu einer eigenen Lebensperspektive eröffnen. Die Hälfte der afghanischen Bevölkerung ist unter 16 Jahre. Sie kennt kaum noch die Schreckensherrschaft der Taliban oder gar die Kämpfe ihres Volkes gegen die Sowjetarmee. Daher ist es gut und richtig, dass wir in der Vergangenheit so intensiv in die Schulbildung der heranwachsenden Jugend investiert haben. Aber das allein reicht nicht aus. Die Jugend braucht Perspektiven, die es ihr ermöglichen, einen Beruf zu ergreifen und sich selbst und ihre Familie zu ernähren. Wir müssen daher noch mehr als bisher in Aus- und Fortbildung, vor allem in Handwerksberufen, investieren und den Aufbau kleiner Betriebe fördern. Nur so können wir der jungen Generation zu Arbeitsplätzen verhelfen und ein Leben in einer stabilen und prosperierenden Gesellschaft ermöglichen, die keinen Nährboden für Terror und Fundamentalismus bietet. Das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, braucht unsere langfristige Unterstützung. Doch wenn wir es mit dem Ansatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ ernst meinen, so müssen wir auch bei der Verwaltung in Afghanistan ansetzen, die das alles koordinieren soll. Capacity Building ist zu einem wichtigen Schwerpunkt in der Entwicklungspolitik geworden. Die afghanische Regierung und ihre Verwaltung sind offensichtlich bis heute noch nicht in der Lage, die immensen Hilfsmittel, die ihr zur Verfügung stehen, sinnvoll zu verplanen. Mehr noch: Es mangelt an der „Bereitschaft und Fähigkeit, eine von politischen und individuellen Einflüssen unabhängige Verwaltung und Justiz aufzubauen“. Ich finde, das ist eine erfrischend klare und deutliche Aussage im Fortschrittsbericht der Bundesregierung; nachzulesen auf der Seite 41. Im Umkehrschluss heißt das, dass man auch zehn Jahre nach Schaffung der staatlichen Institutionen noch immer viele Beispiele für willkürliche Entscheidungsprozesse, für unzureichende personelle Kapazitäten, für Korruption und damit fehlende Akzeptanz und Legitimität der Regierung Karzai gegenüber dem afghanischen Volk vorfindet. Verantwortlich dafür sind nicht nur die Geber, im Gegenteil. Zuallererst liegt das an den Verantwortungsträgern in der afghanischen Regierung. Daher müssen wir gerade die Generation, die jetzt heranwächst, in den Aufbau der Verwaltungen mit einbeziehen und ihnen alle möglichen Bildungs- und Aufstiegschancen aufzeigen, die wir ihnen von außen nur ermöglichen können. Denn mit ihrem Zugang zu anderen Kulturen und ihren Erwartungen an die eigene Zukunft können sie ein Gegengewicht zur konservativen Gesellschaft ihrer Väter bilden und den Teufelskreislauf von Korruption und Machtmissbrauch durchbrechen. Die internationale Gemeinschaft ist bis zur Grenze dessen gegangen, was ihr möglich war, um Erfolge und Fortschritte zu erzielen. Das ist ihr in einigen Bereichen auch sehr gut gelungen und kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch wenn Afghanistan diesen Weg weitergehen und als Land insgesamt erfolgreich sein will, muss die afghanische Regierung anfangen, ihre eigenen Hausaufgaben besser zu machen als bisher. ({2}) Nun liegt es an ihr, ob sie die langfristige Unterstützung und Hilfe der internationalen Gemeinschaft sinnvoll zum Wohl der ganzen afghanischen Gesellschaft nutzt oder ihr System der Abhängigkeiten und Korruption weiter am Leben erhalten will. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Roth, SPDFraktion. ({0})

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr froh, dass wir heute diese Debatte vor der Beschlussfassung des Bundestages über den Antrag der Bundesregierung zur weiteren Mandatierung des Militäreinsatzes haben. Damit machen wir deutlich - das war ja offensichtlich auch die Strategie der Bundesregierung -, dass es im Bereich des zivilen Aufbaus und der Entwicklungspolitik eine eigenständige Strategie geben muss. Herr Minister Niebel, es ist deshalb gut und richtig, dass wir heute ein wenig Bilanz über die letzten zehn Jahre ziehen und aufzeigen, welche Veränderungen in den nächsten Jahren notwendig sind. Zuallererst will ich deutlich machen, dass es von Anfang an ein Irrtum von Ihrer Seite war, den Einsatz der Entwicklungsorganisationen in Afghanistan mit der Aufforderung, mit dem Militär zusammenzuarbeiten, zu verbinden. Das war nicht notwendig und sogar schädlich. ({0}) Sie haben von Anfang an eine Konfrontation in Kauf genommen. Man muss heute aber auch feststellen, dass Sie letztlich kapituliert haben. ({1}) Die Entwicklungsorganisationen haben Sie in die Schranken gewiesen; denn Sie sind auf die Arbeit dieser Organisationen angewiesen. Insofern täte uns ein bisschen weniger Doktrin und ein bisschen mehr Pragmatismus bei der Zusammenarbeit mit den Entwicklungsorganisationen gut. Im Übrigen will ich darauf hinweisen, dass die erfolgreiche Bilanz über zehn Jahre Aufbauarbeit in Afghanistan - auch wir sehen die Erfolge - nicht allein Ihre Bilanz ist; Sie sind ja erst seit gut einem Jahr im Amt. Davor haben Rot-Grün und die Große Koalition die Weichen für die Entwicklungsarbeit gestellt. An dieser Arbeit sind also die meisten - nicht alle - in diesem Parlament beteiligt. Ich will auch noch darauf hinweisen, dass die Sozialdemokraten immer gesagt haben: Eine gute Regierungsführung ist der Schlüssel für den Erfolg in Afghanistan. - Wir haben daher die Demokratisierungsprozesse sowohl auf Ebene der Zentralregierung als auch in den Regionen und Distrikten von Anfang an unterstützt. Man kann natürlich sagen, dass diese Unterstützung nicht ausreichend war und nicht schnell genug erfolgt ist. Aber im Fokus unserer Politik stand und steht immer noch die gute Regierungsführung; denn sie ist die Voraussetzung für die Bekämpfung von Korruption. Alles andere funktioniert nämlich nicht. ({2}) Insofern sind damals wie heute - daran möchte ich erinnern - die Leitlinien richtig, nach denen die Eigenverantwortung der Afghanen zu fördern ist, die Rahmenbedingungen, zum Beispiel für Frauen und Gleichberechtigung, besonders zu verbessern sind und die Demokratisierung auf allen Ebenen mit Projekten der Zivilgesellschaft voranzubringen ist. Die Zivilgesellschaft muss doch zur Trägerin der ganzen Demokratisierung werden. Insofern ist es auch gut - das möchte ich deutlich sagen -, dass jetzt mehr Geld für diesen Bereich in den nächsten Jahren zur Verfügung steht. Es sind übrigens keine 430 Millionen Euro, sondern nur 415 Millionen Euro, aber das ist immerhin auch gut. Es ist aber auch wichtig, dass das zuverlässig weitergeht. Ganz klar ist auch - das möchte ich besonders erwähnen - all denjenigen zu danken, die in dieser schwierigen Sicherheitslage unter Einsatz ihres Lebens - wir haben heute Morgen ja des KfW-Mitarbeiters gedacht, der zu Tode gekommen ist - bereit waren, all das auf sich zu nehmen und bei der Umsetzung dieser ganzen Initiativen zu helfen. Ohne die engagierten Männer und Frauen der Nichtregierungsorganisationen, aber auch der staatlichen Durchführungsorganisationen, der KfW und der GIZ, könnten wir keinerlei Erfolge hier im Parlament diskutieren. Deshalb meine ich: Ihnen allen sei heute zuallererst gedankt und Respekt und Anerkennung gezollt. Das ist genauso notwendig wie der Dank an die Soldatinnen und Soldaten und die Polizeikräfte. ({3}) Die positive Bilanz dieser Arbeit ist sichtbar. Während unter den bildungsfeindlichen Taliban zahlreiche Schulen zerstört und Mädchen und Frauen vom Besuch der Bildungseinrichtungen ausgeschlossen wurden, ist jetzt eine erfreuliche Trendwende festzustellen. Die Einschulungsrate liegt bei über 50 Prozent, und sie wird dank unserer Hilfe steigen. Besonders wichtig ist, dass der Anteil der Schülerinnen seit 2001 - damals lag er bei Karin Roth ({4}) 0 Prozent - auf jetzt über 40 Prozent gestiegen ist. Das ist auch ein Erfolg unserer Arbeit, nicht nur des letzten Jahres, sondern der vergangenen Jahre. Ganz klar ist für uns das Thema Bildung ein Schlüsselthema, nicht nur hinsichtlich einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung, sondern Bildung ist eben auch die Voraussetzung dafür, dass sich Männer und Frauen in den politischen Beteiligungsprozess einbringen können. Unsere Bemühungen in diesem Bereich müssen also fortgesetzt werden. An dieser Stelle will ich sagen, dass mir die Rolle der Frauen in Afghanistan noch große Sorgen macht. Auch wenn wir einiges erreicht haben und der Frauenanteil im Parlament bei 28 Prozent liegt, wissen wir, dass die Frauen eine noch größere Rolle spielen könnten, wenn wir sie entsprechend unterstützen würden. Nach wie vor sind Frauen eher geduldet und kein gleichberechtigter Teil jener Gesellschaft. Frauenorganisationen - das muss man wirklich zur Kenntnis nehmen - werden noch belächelt. Manchmal erinnert man sich daran, dass das bei uns auch einmal so war. Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist schreckliche Normalität. Die Frauenministerin - das ist besonders interessant weiß noch nicht einmal, wie viel Geld die internationale Gemeinschaft der Regierung Karzai für Frauenprojekte zur Verfügung gestellt hat. Das muss sich ändern. Es kann nicht sein, dass ein Alibiministerium für Frauen eingerichtet wird, das in Wirklichkeit nur dazu dient, Gelder der Gebergemeinschaft zu akquirieren. ({5}) Die Bundesregierung muss daher darauf bestehen, dass das Frauenministerium und die Frauenministerin bei den Regierungsverhandlungen am Tisch sitzt, damit sie in Zukunft weiß, welche Projekte gefördert werden. So kann ihre Politik vonseiten der Bundesregierung unterstützt werden. Das ist konkrete Aufbauarbeit und konkrete Unterstützung der Frauen. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, Sie kommen bitte auch zum Schluss.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gleich. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gemeint war sofort, und das ist völlig in Ordnung.

Karin Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003618, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

So viel Zeit muss sein. - Das Gleiche gilt natürlich auch für den Bereich der Frauen- und Müttersterblichkeit. Auch hier, denke ich, müssen wir ein bisschen zulegen, auch wenn die Zahlen besser geworden sind. Ebenso gilt das - das will ich besonders betonen - für die Korruptionsbekämpfung. Ich weiß, wie schwierig das ist. Ich weiß, wie kompliziert die Kontrollmaßnahmen sind. Aber ich weiß auch, dass die Menschen in unserem Land eher bereit wären, Afghanistan noch mehr zu unterstützen, wenn es uns gelänge, an dem zentralen Punkt der Korruption Erfolge nachzuweisen. Nicht nur für uns, sondern vor allen Dingen für die Menschen in Afghanistan ist die Korruption die Geißel der Entwicklung. Wir müssen alles dafür tun, dass sich das endlich ändert. Die Regierung Karzai muss die Karten auf den Tisch legen und transparente Regierungspolitik organisieren. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Jürgen Klimke für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jürgen Klimke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003565, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Übergabe in Verantwortung kann es nur geben, wenn wenigstens ein Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Teilhabe der gesamten Bevölkerung gegeben ist. Neben der heutigen sicherheitspolitischen und außenpolitischen Diskussion darf auch der Bereich der Menschenrechte nicht unbetont bleiben. Fakt ist, dass sich die Menschenrechtslage in Afghanistan seit dem Sturz der Taliban 2001 verbessert hat. Frau Hänsel, wenn Sie sagen, 2,8 Millionen Menschen seien in Afghanistan auf der Flucht - ich kann diese Zahl nicht verifizieren -, dann darf ich Ihnen eine andere Zahl entgegenhalten: 5 Millionen Menschen sind in den letzten Jahren aus den Nachbarländern nach Afghanistan zurückgekehrt, weil sie eine Zukunft im Lande sehen, weil sie glauben, dass das Land eine Chance hat. Auch dies ist auf die Verbesserung der Menschenrechtssituation zurückzuführen. ({0}) Menschenrechte sind in der afghanischen Verfassung verankert. Bei der Umsetzung gibt es Fortschritte in allen menschenrechtsrelevanten Bereichen, insbesondere aber, Frau Roth, im Hinblick auf die Situation der Frauen und Mädchen. Eine Bischöfin aus Hannover hat einmal gesagt, nichts sei gut in Afghanistan. Insbesondere auf die Frage der Menschenrechte bezogen ist diese Äußerung grundlegend falsch. Die westliche Gemeinschaft hat es geschafft, einen Wertekanon in dem muslimischen Land zu etablieren. Schauen wir zurück, wie es vor 2001 in Afghanistan zum Beispiel mit den Frauen war: Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Dozentinnen, Übersetzerinnen waren gezwungen, ihre Arbeit aufzugeben. Sie wurden gezwungen, zu Hause zu bleiben. Wohnungen, in denen Frauen lebten, mussten undurchsichtige Fenster haben, sodass die Frauen von außen nicht gesehen werden konnten. Frauen mussten Schuhe tragen, die keine Geräusche machten, sodass sie nicht gehört werden konnten. Die Frauen lebten in einer ständigen Angst um ihr Leben, das sie wegen jeder kleinen Missachtung von Gesetzen verlieren konnten. Frauen, die keine männlichen Verwandten hatten, mussten betteln oder verhungern, weil sie nicht arbeiten durften. Mädchen hatten keinerlei Chance auf Bildung. Sie wurden zwangsverheiratet und waren willkürlichen Vergewaltigungen ausgesetzt. Wie ist die Lage der Frauen heute? Vor etwas mehr als einem Jahr hat das afghanische Parlament ein Gesetz zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen verabschiedet. Nun wird auch an der Umsetzung in den Provinzen gearbeitet. Vor diesem Hintergrund wurde eine Konferenz zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen in Faizabad durchgeführt. Initiator war das Amt für Frauenangelegenheiten in Badakhshan. Wir haben gehört, dass die Situation der Frauen im Parlament mit 28 Prozent eigentlich vergleichsweise gut ist. Die Burka ist nicht mehr alltägliche Zwangskleidung. Mädchen gehen in gut ausgestattete Mädchenschulen und können ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen. Viel wichtiger ist jedoch, dass die Frauen in den Stämmen wieder in ihrer Rolle anerkannt und gefördert werden. Die Bundesregierung hat mit ihren Instrumenten, angesiedelt im BMZ und im Auswärtigen Amt, gerade auch zu dieser positiven Entwicklung beigetragen. - So viel zur Begrifflichkeit „Kriegsführung“, Frau Hänsel! Trotzdem gibt es immer wieder Kritik an dieser positiven Entwicklung, auch aus der Ecke der Grünen. Der Kollege Tom Koenigs, Menschenrechtsausschussvorsitzender - er ist nicht mehr da -, hat der Bundesregierung mangelnden Einsatz für die Menschenrechte in Afghanistan vorgeworfen. Seiner Meinung nach bietet Deutschland zu wenig Unterstützung beim Aufbau von Strukturen an Schulen und Universitäten, die eine liberale, demokratische und an Menschenrechten orientierte Staatsauffassung vertreten. Anscheinend hat sich der Kollege Koenigs, der eigentlich ein pragmatischer Politiker ist, von der gesamten Antihaltung seiner Partei, den Grünen, mitreißen lassen. Ich empfehle ihm, aber auch allen anderen Kolleginnen und Kollegen einen Blick in den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung; darin wird die Arbeit in Afghanistan sehr ausführlich beschrieben. Zugleich wird hier deutlich gemacht, welche Herausforderungen noch bestehen; ich werde sie gleich ansprechen. Grundlegend für die Menschenrechte in Afghanistan ist, dass die Afghanistan Independent Human Rights Commission dem neuen Verfassungsrang, den sie innehat, gerecht wird. Es wird eine der Aufgaben vor allen Dingen der Bundesregierung sein, dem sogenannten Islamvorbehalt, also dem Vorrang der Scharia vor den internationalen Menschenrechtskonventionen, aktiv entgegenzutreten. In diesem Zusammenhang möchte ich die Rolle des Staatspräsidenten Karzai in der Frage des Gesetzes zur Beendigung von Gewalt gegen Frauen besonders hervorheben. Ihm ist es zu verdanken - auch wenn über ihn viel Negatives gesagt wird -, dass das Gesetz ausdrücklich Vorrang vor allen entgegenstehenden Normen besitzt, also auch vor der Scharia. Klar ist: Auf diesem Wege ist es möglich, die universellen Menschenrechte mit Vorrang vor der Scharia zu verankern; das ist gut so. Ich möchte im Besonderen auf den Aktionsplan der Bundesregierung hinweisen, der im Rahmen einer Arbeitseinheit für Menschenrechte im afghanischen Justizministerium umgesetzt wird. Mit der damit einhergehenden strukturellen Einbindung von Nichtregierungsorganisationen setzt die Bundesregierung inhaltliche Maßstäbe im Rahmen der Durchsetzung der Menschenrechte. Dieser Ansatz zeigt, dass die Kritik unter anderem der Grünen ins Leere läuft. Die Bundesregierung hat einen Plan, bei dem die Menschenrechte in Afghanistan nicht hintenanstehen. Um Erfolg zu erzielen, ist eine langfristige, gemeinsame Anstrengung in der Partnerschaft mit der Regierung und dem Volk von Afghanistan nötig. Wir haben heute darüber diskutiert, dass sich Afghanistan immer noch erheblichen Herausforderungen in den Bereichen Sicherheit, Politik, Wirtschaft und Entwicklung gegenübersieht. Wir haben aber auch feststellen können, dass es eine neue gemeinsame Dynamik gibt. Auf der Grundlage der Fortschritte, die wir erzielt haben, treten die ISAF und die Regierung von Afghanistan in eine neue Phase der gemeinsamen Anstrengungen ein. Dies erlaubt es uns, in der nächsten Woche dem neuen Mandat zuzustimmen, ausdrücklich zum Wohle der Menschenrechte in Afghanistan. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4449. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des übrigen Hauses abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatzpunkte 7 und 8 auf: 22 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Deutschland braucht im ganzen Land einen verlässlichen und sicheren Schienenverkehr - Drucksache 17/4428 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Sabine Leidig, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Die Bahn im Einklang mit dem Grundgesetz am Wohl der Allgemeinheit orientieren - Drucksache 17/4433 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine konsequente Strukturreform der Deutschen Bahn AG - Drucksache 17/4434 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Florian Pronold für die SPD-Fraktion das Wort. ({3})

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Präsident! 1966 hieß der Werbeslogan der Deutschen Bundesbahn: Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Als ich das letzte Mal mit der Deutschen Bahn gefahren bin, konnte ich im Zug den Werbeslogan lesen: Reisen wie auf Wolke 7 Diese Wolke hat offensichtlich im Sommer gefehlt, als wir aufgrund der Hitze bei der Bahn ein großes Chaos erlebt haben, und sie hat im letzten Winter und in diesem Winter dafür gesorgt, dass es ein ziemliches Chaos gab. Wir alle haben das mitbekommen. Alle Verkehrsträger waren davon betroffen, aber insbesondere die Bahn mit unzureichenden Informationen, mit dem S-Bahn-Chaos in Berlin, mit den Verspätungen. Am Mittwoch haben wir von Ihnen, Herr Bundesverkehrsminister, im Verkehrsausschuss einen Bericht vorgelegt bekommen, in dem davon die Rede ist, dass die Pünktlichkeit im Fernverkehr tageweise unter 70 Prozent gesunken sei. Heute entnehmen wir der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung die Originalstatistik der Netzleitzentrale der Deutschen Bahn. Danach lag die Pünktlichkeit in der Woche vom 13. bis 19. Dezember bei 40,3 Prozent und in der darauffolgenden Woche bei 29,8 Prozent. ({0}) An sieben Tagen waren weniger als 30 Prozent der Fernzüge pünktlich, und nur an zwei Tagen fuhren mehr als 50 Prozent der Züge pünktlich ab. ({1}) Sie berichten uns, die Pünktlichkeit sei tageweise unter 70 Prozent gesunken. Meine Frage ist: Herr Minister, bekommen Sie als Eigentümer der Bahn und als Bundesverkehrsminister nicht die richtigen Zahlen von der Bahn, ({2}) oder haben Sie im Ausschuss die Öffentlichkeit bewusst hinters Licht geführt? Das ist die Frage, auf die ich heute von Ihnen eine Antwort erwarte. ({3}) Wenn man sich anschaut, was Sie, Herr Minister, zu den Zuständen sagen - Sie sind jetzt im zweiten Jahr Bundesverkehrsminister -, dann stellt man fest, dass Sie auf Pontius Pilatus machen: Ich wasche meine Hände in Unschuld; meine Vorgänger sind an allem schuld. In der Passauer Neuen Presse sagen Sie am 11. Januar 2011: Vor der Zeit von Bahnchef Grube und mir hat auf der Bahn ein überzogener Kosten- und Spardruck gelastet. Es gab Kostendruck, Kapazitätsreserven wurden reduziert, Personal abgebaut - all das hat zu diesen Missständen geführt. … ({4}) Die kaufmännischen Ziele standen zu sehr im Vordergrund, die Interessen der Fahrgäste sind in den Hintergrund gerückt. Das erinnert an Pontius Pilatus. Man könnte auch sagen: Der Schwarze Peter soll an den Amtsvorgänger geschoben werden. Dies ist aus mehreren Gründen unlauter: Erstens. Die Bundeskanzlerin ist diejenige, die schon in der Großen Koalition und auch jetzt am vehementesten für die Privatisierungspläne der Bahn gekämpft hat. Wenn Sie Tiefensee treffen wollen, treffen Sie in Wirklichkeit die Bundeskanzlerin. ({5}) Zweitens. Als Bundesverkehrsminister sprechen Sie immer davon, dass zuerst die Bahn ihre Hausaufgaben in Deutschland erledigen muss, bevor sie auf Einkaufstour in der ganzen Welt geht. Was ist denn in Ihrem Verantwortungsbereich in Ihrer Zeit passiert? Nach dem ersten Winterchaos ist nicht dafür gesorgt worden, dass sich etwas ändert. Wir haben im Oktober 2010 von Bahnvorstand Homburg Ankündigungen gehört; er hat gesagt, was alles getan worden ist, um das nächste Winterchaos zu vermeiden. Nichts davon ist eingetroffen. Sie haben die Hausaufgaben nicht gemacht, und in Ihrer Verantwortung liegt es, dass trotzdem Zukäufe wie bei Arriva stattgefunden haben. Sie haben den Aufsichtsrat komplett ausgetauscht. Außerdem greifen Sie - wie ich ver9576 mute, wenn ich richtig vernommen habe, dass Sie jeden Tag mit Bahnchef Grube telefonieren - doch wohl auch immer selber ins operative Geschäft ein. Meine Frage ist: Herr Ramsauer, was haben Sie denn in den letzten eineinhalb Jahren gemacht? Was haben Sie getan, um dieses Chaos zu verhindern? Das ist doch nicht vom Himmel gefallen, sondern es war absehbar! ({6}) Sie haben den Renditedruck beklagt und gesagt, dass die Bahn zu wenig Geld für Investitionen in die Infrastruktur hat. Da muss man die Frage stellen: Was machen Sie denn jetzt in Ihrem Verantwortungsbereich, um das zu ändern? In den Haushaltsberatungen im letzten Jahr - das ist noch gar nicht so lange her - mussten wir erleben, dass Ihre Antwort lautet: noch weniger Geld für die Bahn. ({7}) Sie entziehen dem Konzern jedes Jahr 500 Millionen Euro. Das sind in vier Jahren 2 Milliarden Euro. Dieses Geld fehlt für Investitionen in die Infrastruktur. ({8}) Die Bahn soll eine Zwangsdividende an den Bundeshaushalt abführen, übrigens unabhängig von der Gewinnentwicklung. Jetzt erleben wir eine Vernebelungsdebatte, in der gefragt wird, ob man nicht die Finanzierungsstruktur innerhalb des Bahnkonzerns verändern könnte. Das ist zwar eine spannende Frage; die wirklich entscheidende Frage aber ist: Steht nachher mehr oder weniger Geld für die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur zur Verfügung? Das, was die schwarz-gelbe Mehrheit in diesem Haus beschlossen hat, bedeutet 500 Millionen Euro pro Jahr weniger. (Beifall bei der SPD Das ist die Hälfte des Steuergeschenks an die Hoteliers. ({9}) Das zahlt die Bahn. Das bezahlen wir mit einer schlechteren Infrastruktur. Dafür haben Sie die Verantwortung, Herr Minister. Sie können sich nicht damit herausreden, dass Ihre Vorgänger oder die Bundeskanzlerin schuld seien. ({10}) Spannend ist auch, dass Herr Grube bestreitet, dass der Renditedruck die Ursache für diese Probleme sei. Ich finde, man muss eine vernünftige Analyse vornehmen und schauen, was man im operativen Geschäft verändern kann. Eine Grundvoraussetzung ist, dass wir in Zukunft bestimmte Dinge ändern. Wir fordern in unserem Antrag, die Zwangsdividende von 500 Millionen Euro pro Jahr abzuschaffen und dieses Geld für zehn Jahre im Konzern der Bahn zu belassen, und zwar mit einer Zweckbindung: für Investitionen in die Infrastruktur. ({11}) Wir wollen, dass insgesamt mehr Mittel für den Ausbau und die Instandhaltung des Schienenverkehrs verwendet werden. ({12}) Im Sommer habe ich mir viele Bahnhöfe in Bayern angeschaut. ({13}) Bei der Bahn geht es nicht nur um die Frage, wie man mit dem Winterchaos umgeht. Sie müssen sich auch einmal anschauen, wie es um die Barrierefreiheit bestellt ist. In unserer älter werdenden Gesellschaft müssten wir jetzt umsteuern, damit die Menschen, die auf die Deutsche Bahn angewiesen sind, sie auch benutzen können. ({14}) - Ich lade Sie gerne ein. Anstatt Zwischenrufe zu machen, können Sie gerne mit den Betroffenen auf die Bahnhöfe gehen und sich das Chaos anschauen. ({15}) Mütter mit Kinderwagen, ältere Menschen und Gehbehinderte sind in Städten wie Straubing nicht in der Lage, selbstständig mit der Bahn zu fahren. ({16}) Dieser Zustand ist doch unglaublich! Wenn wir jetzt nicht umsteuern, wird das in den nächsten 10, 20 Jahren so bleiben. Wichtig ist auch - das ist eine weitere Forderung -, dass wir den Personalabbau insbesondere bei den Werkstätten und in den Instandhaltungswerken stoppen und wieder mehr Personal einstellen. ({17}) Wir hatten jetzt zwei besonders kalte Winter, in denen es zum Chaos kam. Außerdem hatten wir einen besonders heißen Sommer, in dem es ebenfalls zum Chaos kam. Herr Ramsauer, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, jetzt ist es Zeit für Frühling. Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit es Frühling wird! ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Arnold Vaatz für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Danke, Herr Kollege Pronold, dass Sie uns die Fähigkeit zusprechen, einen früheren Frühlingsbeginn herbeizuführen! Das finde ich hervorragend. ({0}) Diese Aussage reiht sich nahtlos an Ihre Forderung an Herrn Dr. Grube, das Wetter zu beeinflussen. Wir hatten im letzten Dezember einen untypisch harten Wintereinbruch. Es ist deshalb richtig, dass wir uns heute im Bundestag mit der Frage befassen: Welche Folgen hatte das für den Verkehr, und was müssen wir tun, um diese Folgen in Zukunft gering zu halten? ({1}) Es wäre schön, wenn dies in einer sachlichen Diskussion gelänge, in der nicht politisch motivierte Schuldzuweisungen im Vordergrund stehen, sondern in der es um die Frage geht: Was können wir in Zukunft tun, um die Dinge zu verbessern? Aber leider lässt Ihr Antrag genau das nicht zu; das ist das Schlimme. Auf den Punkt gebracht, Herr Kollege Pronold, besteht Ihr Antrag aus zwei Teilen. Der eine Teil ist der Versuch, Ihr eigenes Versagen in den elf Jahren Ihrer Regierungsbeteiligung seit 1998 zu bemänteln und ein Jahr Schwarz-Gelb gegen elf Jahre, in denen Sie an der Regierung beteiligt waren, aufzuwiegen. ({2}) Die Problemlösungen, die Sie im anderen Teil Ihres Antrags vorschlagen, enden alle mit dem gleichen sozialdemokratischen Urschrei: mehr Geld und mehr Leute! Das ist keine Lösung. Das reicht nicht aus. ({3}) An den Anfang, Herr Kollege, gehört erst einmal eine vernünftige Analyse und eine realistische Bewertung. ({4}) Wenn Sie schreiben, die Bahn habe die Chance gehabt, sich als das sicherste und verlässlichste Verkehrsmittel zu erweisen, und diese Chance nicht genutzt, dann sage ich: Die Bahn hat diese Chance in einem Maße genutzt, das mir persönlich Respekt abnötigt. Denken Sie nur daran, welch eine Einsatzbereitschaft, welch eine Geduld und welch ein Verständnis die Beschäftigten der Bahn in diesen Tagen gezeigt haben. ({5}) - Es hat etwas mit Politik zu tun, ob man diese Leistung anerkennt ({6}) oder sie herabwürdigt. ({7}) Wir erkennen sie an. Wir rufen den Beschäftigten der Deutschen Bahn AG von hier aus zu: Wenn Sie nicht gewesen wären, dann wäre der Verkehr in diesem Lande nahezu völlig zum Erliegen gekommen. ({8}) Sie waren für viele Reisende die letzte Hoffnung, sicher ans Ziel zu kommen. Nachdem Flüge reihenweise ausgefallen und die Straßen zu gefährlichen Unfallquellen geworden sind, waren Sie, die Beschäftigten der Deutschen Bahn, da. - Es wird in diesem Haus doch wohl noch erlaubt sein, dies in einer solchen Debatte zu sagen. Wir wollen die Menschen, die für unser Wohl sorgen, motivieren und nicht beschimpfen. Das gehört zur Politik dazu. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt eine Reihe wirklich ernsthafter Kritikpunkte; an manchen Stellen haben Sie sicherlich auch recht. Aber das tut der Gesamteinschätzung, die ich gerade vorgetragen habe, keinen Abbruch. Dies gilt übrigens auch für die veränderten Verspätungszahlen, die heute in verschiedenen Zeitungen zu lesen sind. Auch dies beschädigt die Gesamteinschätzung überhaupt nicht. ({10}) Wir erwarten von der Bahn, dass eine Reihe von Kritikpunkten tatsächlich beseitigt wird. Die Kritik beginnt beim Informationssystem und betrifft sowohl den Reiseservice am Telefon als auch das Internetangebot, wo man vergeblich auf Auskünfte wartete, ebenso wie auf Bahnhöfen, wo stundenlanges Schweigen herrschte, sodass die Passagiere nicht wussten, wie es weitergeht. Die Kritik zielt aber auch auf die Situation in den Zügen, in denen zwar Durchsagen erfolgten, diese aber nicht zu verstehen waren, weil die Lautsprecher seit Jahren kaputt sind. ({11}) Das muss nicht sein. Das ist inakzeptabel und muss sich ändern. ({12}) - Doch, das Geräusch konnte man vernehmen. Man konnte die Durchsage schon als solche identifizieren. Aber der Inhalt war nicht zu verstehen. ({13}) Allerdings muss man auch feststellen: Stillstand aufgrund von Leitungsvereisungen, blockierte Gleise durch Baumbruch und das Fahren mit verminderter Geschwindigkeit wegen der Gefahr von Schotterflug wird es bei der Bahn auch in Zukunft geben. Damit werden wir leben müssen. ({14}) Da Sie in Ihrem Antrag schreiben, auch Bahnchef Dr. Rüdiger Grube sei es in dem Jahr seit seinem Dienstantritt nicht gelungen, einen ganzjährigen störungsfreien Betrieb zu gewährleisten, muss ich Sie, abgesehen von dieser weltfremden Anforderung an einen Menschen, ({15}) fragen: Was heißt denn „auch“? Sie schreiben, auch Bahnchef Grube habe dies nicht geschafft. Das Wort „auch“ hat vier Buchstaben. ({16}) Mit diesen vier Buchstaben ist es genauso wie mit den vier Fingern an einer Hand, die auf einen selbst zeigen, wenn man auf andere zeigt. Ich erinnere mich noch sehr gut an die fast flächendeckenden Stilllegungen ehemaliger Reichsbahnausbesserungswerke in ganz Ostdeutschland in den Jahren 2003 und 2004. Diese Kapazitäten, die damals in puncto Produktivität keine Vergleiche mehr zu scheuen brauchten, fehlen uns heute. Der damalige Verkehrsminister hieß Manfred Stolpe, und der damalige Kanzler hieß Schröder. ({17}) Wer hat uns denn wie ein Wanderprediger den Börsengang der Bahn als Allheilmittel empfohlen? Das war das Duo Mehdorn/Tiefensee. ({18}) - Sie haben damit angefangen, also muss ich das zurückgeben. ({19}) Wenn die Grünen und auch Sie, Herr Pronold, jetzt versuchen, Ihren Kollegen Tiefensee quasi als Statisten hinzustellen, ({20}) muss ich sagen: Es geht nicht, dass Sie sagen: Mit dem guten Management während der ersten Finanzkrise hat die Bundeskanzlerin wohl nichts zu tun - während der Kollege Steinbrück für Sie einer der Väter dieses guten Managements ist -, aber in diesem Fall ist selbstverständlich die Bundeskanzlerin schuld. ({21}) Meine Damen und Herren, das können Sie sich nicht einfach aussuchen. Gestern hat an dieser Stelle der Kollege Steinmeier gestanden und den Anteil der SPD am Aufschwung in Deutschland hervorgehoben. Der Kollege Dr. Lindner von der FDP hat ihm dies als fairer Politiker auch zugestanden. Wenn das im Positiven gilt, dann muss sich die SPD das in Bezug auf ihre vorangegangene Regierungsarbeit auch im Negativen sagen lassen. ({22}) In Bezug auf die Bahn gilt: Ihre ganze vernichtende Kritik an den strukturellen Unzulänglichkeiten der Bahn, soweit sie berechtigt ist, beschreibt das aufeinanderfolgende Versagen von fünf Verkehrsministern aus Ihrer Partei in den letzten elf Jahren. ({23}) Es ist intellektuell unredlich, das gegen ein Jahr Regierungszeit der christlich-liberalen Regierung aufwiegen zu wollen. Wir werden das anders machen als Sie. Herr Dr. Grube und Herr Dr. Ramsauer werden an einem Strang ziehen, und zwar in eine Richtung. ({24}) Am Ende werden Sie sehen: Wir werden ein sicheres, zuverlässiges und leistungsfähiges Verkehrssystem Schiene für Deutschland bereitstellen. Dazu sind auch schon wichtige Voraussetzungen geschaffen worden. Herr Dr. Grube hat sofort personelle und organisatorische Veränderungen vorgenommen, um die Talfahrt der Bahn nach der Ära Tiefensee/Mehdorn zu stoppen. Die am stärksten treibende Kraft bei der Benennung und bei der Behebung der betrieblichen UnzulänglichArnold Vaatz keiten ist die Bahn selber. Das hat sich bei vielen Anhörungen im Verkehrsausschuss, wo alle Verkehrsexperten selbst zugegen waren, gezeigt. Sie hat teilweise Probleme erstmalig benannt, über die wir vorher noch gar nicht informiert waren. Das ist die Realität. Die Entscheidung, dass sich die Bahn dem Brot-und-Butter-Geschäft zuwenden muss, bevor sie von der Börse träumt, kommt vom Vorstand. Er hat ein Maßnahmenpaket vorgestellt, wie er sich dieses Brot-und-Butter-Geschäft vorstellt: für das rollende Material, für die Infrastruktur und für den Kundenservice. Das ist ein Schritt nach vorn. ({25}) Ich bin mir sicher, dass dieser Vorstand nach den Geschehnissen im Dezember die Optimierungsaufgabe in Bezug auf die Notwendigkeit der Vorhaltung von Wintertechnik und die dabei unerlässliche Kosteneffizienz lösen wird. ({26}) Was die von der Politik zu verantwortende strukturelle Frage betrifft, sind die Winterereignisse zwar ein plausibler Aufhänger, das zu thematisieren; aber eine ausreichende Grundlage, um das zu besprechen, sind sie nicht. Trotzdem will ich sagen: Wir sind auch hier sehr klar. Wir werden die 1994 erfolgreich begonnene Bahnreform fortsetzen. Wir fühlen uns für eine zukunfts- und leistungsfähige Infrastruktur verantwortlich. Wir werden deshalb die Infrastruktursparten DB Netz AG, DB Station & Service AG und DB Energie GmbH nicht privatisieren. Die Privatisierung der Transport- und Logistiksparten werden wir erst dann einleiten, wenn dafür geeignete Rahmenbedingungen vorhanden sind. Wir sind für einen fairen Wettbewerb und werden darauf drängen, dass die Deutsche Bahn faire Wettbewerbsbedingungen nicht nur auf deutschen Schienen, sondern auch in Europa vorfindet.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen!

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Noch einen Satz, Herr Kollege. - Wir müssen das tun, um auch dort wirtschaftliche Erfolge zu generieren, die für uns notwendig sind. Schließlich und endlich werden wir einen Finanzierungskreislauf Schiene schaffen. ({0}) Die Trassenerlöse werden wir in die Schieneninfrastruktur zurückführen. Wir werden die Gewinnabführungsund Beherrschungsverträge zwischen dem DB-Konzern und den Infrastrukturunternehmen aufheben. ({1}) Wir wissen: Dadurch wird das ganze System Schiene gestärkt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, das waren jetzt schon vier Sätze.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Damit stärken wir auch die Bahn als Ganzes. Ich bedanke mich ganz herzlich für die Geduld, Herr Präsident. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand in diesem Hause hat je die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahn beschimpft, Herr Vaatz. Wir kritisieren die Politik. Das ist ein völlig anderer Vorgang. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten - da haben Sie Recht - Hervorragendes; das würde hier niemand bestreiten. ({0}) Vor 45 Jahren warb die Bahn mit dem Slogan: „Alle reden vom Wetter. Wir nicht“. Damals war dieser Slogan auch noch zutreffend; da funktionierte ja noch alles. Heute klingt das wie bitterer Sarkasmus. Fahrpläne richten sich nach dem Wetter, aber bleiben trotzdem Makulatur. Den zweiten Winter hintereinander erleben wir, dass die Bahn kapituliert. Die Berliner S-Bahn hat ein hausgemachtes Desaster. Zeitweilig waren nur 200 von 526 S-Bahn-Zügen unterwegs, Strecken wurden vorübergehend stillgelegt. Sie werden staunen: Dieses Niveau hatte die Berliner S-Bahn letztmalig 1946. Das ist doch ein interessantes Datum. ({1}) Die Pannenserie begann allerdings schon früher: Im Sommer 2008 mussten die Radachsen gewechselt werden, weil sie einfach brachen. Das war eine kleine Fehlkonstruktion. Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen: Das dauert bis 2013, also fünf Jahre. Das ist ja eine ungeheure Produktivität. ({2}) Im Sommer 2010 fielen die Klimaanlagen aus. Die Leute saßen entweder im Treibhaus oder in der Sauna. Das Problem ist: Winter und Sommer sind nicht daran schuld. Schuld daran sind Union und - tut mir leid auch SPD und FDP, weil Sie die Bahn an die Börse bringen und privatisieren wollten. ({3}) Damit war ja verbunden, dass Sie die Bahn profitabel machen wollten. Als Erstes haben Sie dann - leider zusammen mit den Grünen - das Grundgesetz geändert. Nur wir haben dagegen gestimmt, weil Sie geregelt hatten, die Bahn in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln ({4}) und künftig - jetzt zitiere ich wörtlich - „als Wirtschaftsunternehmen in privat-rechtlicher Form“ zu führen. ({5}) Das bezahlen wir teuer; denn dadurch waren Sie ja verpflichtet, die Bahn rentabel und profitabel zu machen. ({6}) Wie haben Sie das gemacht? Das kann ich Ihnen sagen: Von 1995 bis zum Jahre 2010 haben Sie die Zahl der Beschäftigten halbiert. Deshalb müssen die übrigen jetzt ja so viel leisten. Sie haben die Löhne stagnieren lassen; sie haben mehr als 2 000 Bahnhöfe, vor allem im Osten, stillgelegt; Sie haben mehr als 1 000 Bahnhöfe verkauft; Zehntausende Schalter wurden geschlossen; das Schienennetz wurde um 9 000 Kilometer verkürzt, und massenhaft - Herr Vaatz hat es gesagt - wurden Reichsbahnausbesserungswerke geschlossen, und zwar von allen Regierungen, auch von der Unionsregierung; darum kommen Sie nicht herum. Die S-Bahn in Berlin hat das Personal von fast allen Bahnhöfen abgezogen und eingespart; die Wartungsintervalle wurden erheblich verlängert; Werkstätten wurden geschlossen; die Zahl der Beschäftigten für Instandhaltung und Wartung sank - überlegen Sie sich das mal von 800 auf 200, ({7}) und die Zahl der Meister sank von 26 auf 3. Es ist ein einzigartiger Skandal, dass Sie sich trotzdem noch über das wundern, was wir jetzt erleben. ({8}) Weil ja alles profitabel sein sollte, soll die S-Bahn jährlich - auch in diesem Jahr - 50 Millionen Euro abführen. Nein, sie braucht dringend Geld für Investitionen. Sie kann nicht noch Geld an die Bahn AG abführen. ({9}) Die Bahn AG wurde zielstrebig heruntergewirtschaft und kaputtgespart. Die Ergebnisse sehen wir heute: zu wenige Züge, mangelhafte Wartung und Instandhaltung, schlechterer Service. Die Große Koalition - Merkel, Steinmeier, Tiefensee wollte die Bahn seit 2005 privatisieren. Ein Gesetzentwurf lag hier zur ersten Beratung vor. Der Protest aus der Bevölkerung war aber zu groß, und - ich muss das einmal würdigend sagen - ein SPD-Parteitag hat gegen den Willen des Vorstandes entschieden, dabei nicht mitzumachen. ({10}) Was hat die jetzige Koalition in ihre Koalitionsvereinbarung geschrieben? Dort steht: „Sobald der Kapitalmarkt dies zulässt“, erfolgt die Privatisierung. ({11}) Sie geben Ihre unsozialen neoliberalen Träume leider nicht auf. Wir sollten endlich Lehren aus der Krise der Bahn ziehen: Erstens. Die Bahn ist keine Profitmaschine, sondern wichtiger Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Millionen Bürgerinnen und Bürger sind auf bezahlbare und pünktliche Mobilität angewiesen, um zur Arbeit und nach Hause zu kommen, um politische Rechte wahrnehmen zu können, um Angehörige, Freundinnen und Freunde zu besuchen, um Urlaub zu machen und Freizeit zu gestalten, einschließlich der Besichtigung von Städten, Gegenden und Natur. Daher hat die Bahn dem Gemeinwohl und nicht privaten Profitinteressen zu dienen. Begreifen Sie das doch endlich! ({12}) Die Bahn wird immer ein Zuschussgeschäft sein. ({13}) Ihr Betrieb erfordert Milliarden an Investitionen, und sie ist schon deshalb für Privatisierungen völlig ungeeignet. Zweitens. Die Deutsche Bahn AG muss eine Anstalt des öffentlichen Rechts werden, damit sie demokratisch kontrolliert werden kann. ({14}) Und: Sie muss verpflichtet werden - jetzt kommt es noch dicker, nun warten Sie einmal ab, Sie können sich gleich noch mehr aufregen -, wie ein gemeinnütziges Unternehmen zu handeln. Gewinnabführungen müssen ausgeschlossen werden. ({15}) Trotz des desolaten Zustandes der Bahn verlangen Sie, lieber Herr Ramsauer, die Bundesregierung und die Mehrheit im Parlament im Haushaltsgesetz, dass die Bahn an den Bund vier Jahre lang pro Jahr 500 Millionen Euro abführt. Wollen Sie denn, dass gar kein Zug mehr fährt? Sie können doch der Bahn nicht noch ernsthaft 500 Millionen Euro wegnehmen! Das ist absurder Unsinn, was Sie beschlossen haben. ({16}) Drittens. Die bereits erfolgten Teilprivatisierungen sind zu stoppen und die Pläne der Bahn AG zu einem Global Player aufzugeben; denn zu Hause ist genügend zu tun. Die Bahn soll sich jetzt nicht in Sansibar oder in den USA einkaufen. Sie soll ihre Aufgaben in Deutschland erledigen. Es wird höchste Zeit. ({17}) Viertens. Es ist alles zu unternehmen, den S-Bahn-Betrieb so schnell wie möglich wieder in vollem Umfang zu gewährleisten. Die S-Bahn in Berlin muss in öffentlichem Eigentum verbleiben. Eine Zerschlagung des Unternehmens und eine Ausschreibung einzelner S-Bahn-Strecken muss ausgeschlossen werden. Fünftens. Die Beschäftigten bei der Bahn AG und bei der S-Bahn leisten, wie ich schon sagte, gerade vor dem Hintergrund des Personalabbaus Enormes: Sonderschichten und Überstunden wurden zur Selbstverständlichkeit. Es ist höchste Zeit, dass man an die Beschäftigten einen entsprechenden Ausgleich zahlt. ({18}) Mobilität ist ein Grundrecht. Wir alle sind verpflichtet, es zu verwirklichen. Sie müssen lernen, über die Bahn völlig anders zu denken und sie endlich dem Gemeinwohl unterzuordnen. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Patrick Döring für die FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zweifellos gibt es über den Eisenbahnverkehr in Deutschland nach dem vergangenen Sommer, nach dem vergangenen Winter viel zu bereden. Zweifellos gibt es Dinge zu klären, sowohl bei der Infrastruktur als auch beim rollenden Material. Herr Kollege Gysi, ich kann es Ihnen gar nicht so richtig übelnehmen - Sie folgen den Debatten zu diesem Thema sonst eher nicht so intensiv -, dass Sie glauben, dass man die Probleme durch Schlagworte wie Gemeinwohlorientierung und ein bisschen Sozialromantik lösen kann. Das wird nicht gelingen, und das können wir Ihnen auch beweisen. Es lohnt sich, in diesen Tagen die Bundestagsprotokolle von 1994 zur Debatte über die Organisationsprivatisierung der Bahn nachzulesen. Es ist interessant, was die Sozialdemokraten und die christlich-liberale Koalition seinerzeit vorgetragen haben. ({0}) In diesem Jahr, als nämlich Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn die DB AG gebildet haben, reichten die Einnahmen aus Fahrkartenentgelten nicht aus, die Personalkosten zu decken. Eine Bahn zulasten des Steuerzahlers haben wir Gott sei Dank nicht mehr. ({1}) Wer zurück zur Behördenbahn will, wo sich mächtige Wahlkreisabgeordnete ICE-Halte bestellen können, der wird mit uns diesen Weg nicht gehen können. Wir wollen den Schienenverkehr dort, wo die Menschen ihn brauchen, und nicht, wo er ausgekungelt wird. ({2}) Lassen Sie uns zurückschauen: Wie ist es eigentlich zu dem Konzern gekommen, über den wir heute sprechen? In der Tat hat sich die Bahn seit 1994 - auch 1998 unter Rot-Grün und danach unter der Großen Koalition von einem nationalen Unternehmen zu einem internationalen Logistikunternehmen entwickelt. Der Begriff „National Champion“ stand im Raum. ({3}) Das war die Philosophie, die die damalige Bundesregierung dem Konzern aufgegeben hat. Wir sehen heute, dass es in der Tat ordnungspolitisch, aber auch eisenbahnpolitisch falsch war, den Eindruck zu erwecken, dass es wichtiger ist, außerhalb Deutschlands Geschäfte zu machen als innerhalb Deutschlands. ({4}) Diese Auffassung hat die FDP schon immer vertreten. ({5}) Wir sollten uns auf das konzentrieren, was der Deutsche Bundestag in diesen Fragen schon mehrfach beraten hat. Geschätzter Herr Kollege Pronold, bei allem Respekt vor der Oppositionsarbeit: Man kann sich nicht vor dem davonstehlen, was Ihre Minister in der letzten Wahlperiode gemacht haben. ({6}) Finanzminister Steinbrück wollte 2 Milliarden Euro aus der Bahnprivatisierung keineswegs für die Infrastruktur, sondern für den Bundeshaushalt verwenden. Der frühere Bundesminister Tiefensee hat in der Hochphase der Debatte über die Bahnprivatisierung in einem Zeit-Interview wunderschön vorgetragen: „Langfristig werden wir die Bundeszuschüsse minimieren können.“ ({7}) All das wollten Sie. Sie haben Herrn Mehdorn und sein Management auf dem Weg in die Internationalisierung unterstützt. Sie wollten eine Privatisierung mit Netz und haben nie begriffen, dass es falsch ist, das Unternehmen als Ganzes zu betrachten, weil die unterschiedlichen Verkehrssparten unterschiedlich privatisierungsreif sind. Sie sind überwiegend nicht privatisierungsfähig, zum Beispiel die Infrastruktur. Sie haben doch in den sieben Jahren Rot-Grün und in der Großen Koalition den integrierten Konzern überhaupt erst geschaffen. ({8}) Die Intransparenz, die Sie ebenso beklagen wie wir, ist entstanden, weil der Konzern heute so ist, wie er ist. Lassen Sie mich zu dem kommen, was der Kollege Gysi wortreich zu den betriebswirtschaftlichen Kennzahlen des Unternehmens vorgetragen hat. ({9}) Ich glaube, es gehört zur Wahrheit dazu, dass wir auf das zurückkommen, was das Unternehmen heute leistet und was es kann. Ich sage noch einmal: Wir wollen, dass das Unternehmen wirtschaftlich arbeitet. Warum? Es gibt nur zwei Möglichkeiten, Investitionen im Unternehmen zu finanzieren, nämlich entweder durch Schulden oder durch Ertrag. Wenn man das Unternehmen nicht bis unter das Dach verschulden will - letzten Endes sind die Schulden einer 100-prozentigen Tochter des Bundes die Schulden des Bundes -, ({10}) dann muss das Unternehmen einen Ertrag erwirtschaften, um diesen investieren zu können. Das geschieht, seit wir regieren. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter von der Fraktion Die Linke?

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich führe zunächst die Zahlen aus. Danach gerne. Man kann auch belegen, dass die Investitionen im Unternehmen anwachsen, wie es Herr Vorstandsvorsitzender Grube und der Bundesminister seit der Regierungserklärung und dem Machtwechsel im Konzern vortragen. Im Mobilitäts- und Logistikkonzern, also in dem Teil, der nur der Beförderung von Gütern und Personen dient, betragen die Investitionen des Konzerns im Jahr 2009 1,1 Milliarden Euro, im Jahr 2010 1,2 Milliarden Euro, im Jahr 2011 2,2 Milliarden Euro, im Jahr 2012 2,6 Milliarden Euro und im Jahr 2013 2,8, Milliarden Euro. Sie sind durch den Betrieb erwirtschaftet worden; die Verschuldung ist nicht erhöht worden. Das ist kluge Politik zur Stärkung der Leistungsfähigkeit des Fernverkehrs, des Nahverkehrs und des Güterverkehrs. ({0}) Diese Zahlen hat das Unternehmen auf einer Pressekonferenz vor dem Winter vorgetragen. ({1}) Es lohnt sich manchmal, sich mit der Mittelfristplanung von Unternehmen, die einem gehören, zu beschäftigen, geschätzte Kolleginnen und Kollegen. Ich bin entschieden dafür, dass wir über die Frage sprechen: Was bringt uns das in wirtschaftlicher Hinsicht für das Netz und die Investitionsmöglichkeiten? Sie haben völlig recht, dass neben den Steuermitteln auch Eigenmittel des Konzerns in das Netz fließen müssen. Aber auch hierbei verweise ich auf die Zahlen, die belegen, was der Konzern seit Beginn unserer Regierungszeit macht: Im Jahr 2009 sind 1,8 Milliarden Euro zusätzliche Mittel aus Eigenmitteln in das Netz geflossen. 2010 waren es 2 Milliarden Euro. 2011 sind es 3 Milliarden Euro, 2012 3,8 Milliarden Euro und 2013 4 Milliarden Euro erwirtschaftete Eigenmittel aus der Infrastruktur, die in die Infrastruktur fließen. ({2}) Das ist kluge Politik, die unsere kluge Haushaltspolitik ergänzt. Damit müsste die Legendenbildung an dieser Stelle ein Ende haben. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage?

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Döring. - Erste Frage. Ich habe Ihren Ausführungen genau zugehört. Mich interessiert: Nimmt die Bundesregierung nun Einfluss auf das Bundesunternehmen DB AG, sodass die Auslandsgeschäfte rückgängig gemacht werden? Sie haben diese Geschäfte kritisiert. Das wäre dann die logische Folge. Zweite Frage. Ich komme aus der Industrie und weiß, wie Maschinen gewartet werden. Wie sehen Sie das denn? Welche Informationen haben Sie? Wenn Maschinen nicht gewartet werden, wenn Wartungszyklen ständig verlängert werden, ist das keine nachhaltige Wirtschaftspolitik, weil dann ein viel größerer Schaden entsteht. Dieser Schaden muss natürlich auch bezahlt werden. Ich weiß nicht, wie oft Sie Zug fahren, aber ich kann Ihnen nur sagen: Wenn die Züge stehen bleiben und Menschen stundenlang in Zügen warten müssen, dann ist das keine gute Geschäftspolitik. Dann sagen die Kunden das nächste Mal: Da es keine Alternativen gibt, fahre ich wieder mit dem Auto oder nehme das Flugzeug. Im Hinblick auf den Klimaschutz, zu dem sich die Bundesregierung bekennt, sage ich als Umweltpolitikerin: Hier müssen wir noch wesentlich mehr tun. Da sollten Sie zu Ihren Versprechen stehen. ({0})

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Erste Anmerkung. Geschätzte Kollegin, selbstverständlich werden wir in der Koalition und mit dem Bahnvorstand über die Internationalisierung sprechen. Ich persönlich bin der Meinung - ich bin sicher, dass viele Kollegen aus den Koalitionsfraktionen das teilen -, dass weitere Investitionen in ausländische Geschäftsfelder angesichts der aktuellen Qualität des Verkehrs im Inland nicht darstellbar sind, um es offen zu sagen. Zweite Anmerkung. Sie machen bei dem Thema Wartung und Wartungspersonal immer den Fehler, nur darauf zu achten, was sich im Konzern getan hat. Sie müssen einfach sehen, dass die Wartungskapazitäten, über die die S-Bahn nicht mehr verfügt, bei den Herstellern sind. Sie können das falsch finden. Aber es ist egal, wer wartet. Hauptsache, es wird gewartet. ({0}) Das findet statt, sehr geschätzte Kollegin.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenbemerkung der Kollegin Barbara Hendricks?

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gerne.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Döring, ich erlaube mir eine Zwischenbemerkung, die sich auch an Sie in Ihrer Eigenschaft als Mitglied des DB-Aufsichtsrates richtet. Ich erzähle einfach eine Geschichte aus dem Leben, wie sie viele Menschen in diesem Winter erlebt haben. ({0}) Ich bin am 2. Januar aus Innsbruck zurückgereist. Der Zug hatte auf der Strecke nach München ziemlich viel Verspätung. Das lag in erster Linie an der österreichischen Bahn; das ist nicht zu bestreiten. Das bedeutete aber, dass wir den in Richtung Nordrhein-Westfalen fahrenden Eurocity, den wir in München eigentlich hätten bekommen sollen und für den wir natürlich, wie es sich an stark frequentierten Reisetagen gehört, reserviert hatten, nicht nehmen konnten. Dieser Zug hatte zwar 90 Minuten Verspätung, wurde aber über München hinaus nicht mehr eingesetzt. Das fand ich zufällig heraus, weil ich selber im iPhone gesucht habe; denn eine Ansage gab es nicht. Gott sei Dank gibt es mittlerweile solche technischen Möglichkeiten. Leider stehen diese - das muss man in diesem Zusammenhang sagen - nicht allen Menschen zur Verfügung. Der eine Zug fuhr also gar nicht. 14.55 Uhr wurde der ICE - ich kann mich an die Zugnummer nicht mehr erinnern - in München eingesetzt. Er fuhr in Richtung Dortmund, also in Richtung Nordrhein-Westfalen. Wir waren natürlich rechtzeitig da; denn wir hätten eigentlich schon viel früher fahren sollen. Wir hatten also die Chance, uns strategisch zu verteilen, in zwei Waggons hineinzugehen und nachzusehen, ob es noch nicht reservierte Plätze gibt. Wir waren immerhin zu zweit und sind noch beweglich. Es ist uns schließlich gelungen, nicht reservierte Plätze zu finden. Von diesen haben wir uns auch nicht mehr wegbewegt. Der Zug, für den wir reserviert hatten, war gar nicht da. ({1}) Ein weiteres Problem war, dass der ICE nur halb so lang wie vorgesehen war. Die Wagen 21 bis 28 waren da. Aber auch die Menschen, die für die Wagen 29 bis 38 reserviert hatten, wollten natürlich mitfahren. Diese Wagen waren aber nicht da. Dieses Erlebnis vom 2. Januar ist typisch. Alle Urlauber, die an diesem Tag unterwegs waren, haben Ähnliches erlebt und waren im Recht; denn fast alle hatten ordentliche Preise gezahlt und reserviert, wenn auch nicht unbedingt für diesen Zug. Wir hatten immerhin den Vorteil, in der ersten Klasse zu sitzen. Dort war es nicht ganz so voll. In der zweiten Klasse war es viel schlimmer. Ein Beispiel. Ein sehr großer Mann stieg mit seiner Frau ein. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, können Sie Ihre Zwischenbemerkung ein bisschen abkürzen? Sie sollen hier kein Koreferat halten. ({0})

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich mache es kurz. - Dieser große Mensch, der kaum im ICE stehen konnte, sagte zu seiner Frau völlig verzweifelt: Dafür haben wir 300 Euro in der ersten Klasse für eine Strecke bezahlt. - Es war also offenbar ein Mensch, der nicht immer erster Klasse fährt. Die Stimmung war nahe am Aufruhr. ({0}) Ich hätte es sehr leicht zum Aufruhr bringen können, wenn ich gesagt hätte: In dieser Situation muss die Bahn auch noch 500 Millionen Euro an den Bundeshaushalt abliefern.

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzte Frau Kollegin Hendricks, in der Tat ist es so, dass jeder von uns diese Erlebnisse hatte und jeder massenhaft Briefe aus seinem Wahlkreis bekommen hat. ({0}) - Ich auch persönlich. Es bestreitet doch kein Kollege meiner Fraktion und kein Kollege der Unionsfraktion, dass es Qualitätsprobleme, Managementprobleme, Umsetzungsprobleme und technische Probleme am rollenden Material gibt. Das ist doch unbestritten und in der Fehleranalyse auch bewiesen. Deshalb steigern wir doch die Investitionen für das rollende Material in diesem Maße. Ich sage aber auch - dabei bin ich mit dem Kollegen Vaatz vollkommen einig -: Ich bitte darum, nicht nur immer zu sehen, dass diejenigen, die mit dem rollenden Material die Menschen befördern, große Verantwortung tragen. Vielmehr haben diejenigen, die das rollende Material geliefert haben, nicht immer das geliefert, was bestellt war, und es nicht immer in der Qualität geliefert, wie wir uns das gewünscht haben. Das anzuerkennen, gehört zur Fairness dazu. Deshalb plädiere ich für die Konzentration auf das inländische Geschäft. Wir wollen alle sicherstellen, dass Sie in einem Jahr eine solche Geschichte möglichst nicht mehr erzählen müssen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend möchte ich auf die Legende um die Dividende zu sprechen kommen. Sie schaffen es tatsächlich immer wieder, neue betriebswirtschaftliche Begriffe einzuführen. Den Begriff „Zwangsdividende“ kennt das Aktienrecht nicht. ({2}) Vielmehr entscheidet die Hauptversammlung nach Vorschlag darüber, was mit dem Gewinn passiert. Jetzt sage ich Ihnen etwas zur Ertragslage. Eine Dividende wird gezahlt, nachdem ein Unternehmen alle Kosten abgezogen und Investitionen vorgenommen hat. Abgezogen werden außerdem Abschreibungen und Zinskosten. ({3}) Das ist dann das Ergebnis vor Steuern. Sie tun immer so, als säße irgendwo ein Verrückter, der sich eine Dividende von 500 Millionen Euro ausgedacht hätte, ({4}) und zwar völlig unabhängig von der Planung hinsichtlich des Ergebnisses nach Steuern im Konzern. ({5}) Ich sage Ihnen: Die Ergebnisse allein der Mobilitätsund Logistiksparte nach Steuern werden sich in einer Größenordnung bewegen, dass es ohne Probleme möglich ist, die Investitionen weiter zu erhöhen und die Dividende an den Bund auszuzahlen. Das ist nachlesbar in der mittelfristigen Planung. Die Aufsichtsräte kommen ihrer Aufgabe nach und haben das getan. ({6}) Deshalb ist die Behauptung falsch, dass ein Unternehmen, das mehr als 1 Milliarde Euro nach Steuern verdient, keine 500 Millionen Dividende zahlen kann. Das ist schlicht falsch. ({7}) - Nein. Ich berufe mich ausschließlich auf das, was in Pressekonferenzen veröffentlicht wurde. Natürlich gibt es in unserer Fraktion und in dieser Koalition die Erkenntnis, dass sich der Konzern mehr auf die Ertüchtigung der Infrastruktur in Deutschland und auf die Verkehre in Deutschland konzentrieren muss. Wir unterstützen den Bundesminister bei den Überlegungen zum Finanzierungskreislauf Schiene. Er bezieht sich dabei auf das, was im Koalitionsvertrag niedergelegt worden ist. CDU/CSU und FDP knüpfen an ihren gemeinsamen Antrag aus rot-grüner Zeit an. Für diejenigen, die es nachlesen wollen: Das ist die Drucksache 15/2156. Unter den Fraktionsvorsitzenden Dr. Angela Merkel und Dr. Wolfgang Gerhardt haben wir unsere Vorstellungen von einer Bahnreform und einer Weiterentwicklung des Konzerns niedergelegt. Dabei gibt es Unterschiede zu dem, was Sie wollten. Diese Unterschiede finden Sie im Koalitionsvertrag. Dazu werden wir alsbald Aussagen treffen. Ich sage für die FDP-Fraktion: Gegen die Bundesrepublik Deutschland läuft ein Vertragsverletzungsverfahren, was die Unabhängigkeit des Netzes angeht. Der zuständige EU-Kommissar, Vizepräsident Kallas, hat meinen Kollegen und mir geschrieben: Die Richtlinie der Europäischen Union verlangt die Unabhängigkeit bei der Entscheidungsfindung. ({8}) Weiter fordert er Maßnahmen, die jede Kontrolle der Holding über die Entscheidung der DB Netz AG ausschließen. Deshalb bleiben wir dabei, dass der Prüfauftrag über die Beherrschungsverträge, der im Koalitionsvertrag niedergelegt ist, zu dem Ergebnis kommen wird, dass das mit europäischem Recht nicht vereinbar ist. ({9}) In dem Beherrschungsvertrag steht der schöne Satz: Die DB Netz AG unterstellt die Leitung ihrer Gesellschaft der DB AG. - Das ist mit Vorstellungen von unabhängiger Geschäftsführung nicht vereinbar. Deshalb wird es Veränderungen geben, die die Einflussmöglichkeiten des Bundes und der Aufsichtsräte stärken werden. Das ist jedenfalls eine Überlegung, die wir weiter verfolgen. Die Eisenbahnpolitik der Vergangenheit war vielleicht zu stark managementgeprägt. Der frühere Vorstandsvorsitzende Mehdorn hat sicher sehr starken Einfluss auf das Bundesverkehrsministerium und auf das Bundesfinanzministerium gehabt. Gelegentlich hatte man das Gefühl: Die Eisenbahnpolitik von Rot-Grün und Schwarz-Rot war reine DB-Interessenpolitik. Das ist zu Ende. Diese Koalition macht Eisenbahnpolitik für alle, die auf der Schiene fahren wollen, auch für die vielen Wettbewerber; ({10}) denn Wettbewerb ist gut für den Kunden und für die Qualität der Bahn. ({11}) Wir wollen nicht zurück zum Monopolbetrieb. Wer heute von Hamburg nach Frankfurt fliegt und mit der Lufthansa unzufrieden ist, kann Air Berlin wählen, und in der Regel tut er das auch. Deswegen strengen sich beide Unternehmen an, gute Qualität zu liefern. Ich wünschte mir manchmal, wir hätten im Fernverkehr diese Möglichkeit. Dann wäre vielleicht die eine oder andere Problematik, wie sie Frau Kollegin Hendricks geschildert hat, nicht in diesem Umfang da. Kurzum, diese Koalition sorgt durch ihre Eisenbahnpolitik dafür, dass der Konzern gut arbeitet, ({12}) dass Schienenverkehrspolitik besser wird, dass in Netz und rollendes Material so viel wie noch nie investiert wird, ohne die Verschuldung des Konzerns zu erhöhen. Die Aufgabe ist, mit dem Geld, dem Vermögen der Steuerzahler das größte Bundesunternehmen noch besser zu machen und damit am Ende für alle Menschen die Qualität zu erhöhen. Die Qualitätsmängel, die wir heute beklagen, gehen zurück auf eine verfehlte Eisenbahnpolitik. Diese Mängel haben die SPD-Minister in den elf Jahren ihrer Regierungszeit zu verantworten. ({13}) Wir machen Schluss damit. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Renate Künast für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Zeit lang hat man gedacht, die größten vier Feinde der Deutschen Bahn seien die vier Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Das ist aber nicht so, und daran hat die Debatte hier bisher auch nichts verändert. Die größten Feinde der Bahn, die größten Feinde eines funktionierenden Bahnverkehrs, ob im Fernverkehr oder im Nahverkehr, sind am Ende die Bundesverkehrsminister gewesen. ({0}) Da können einem die Kunden, die auf den Bahnsteigen standen und froren, samt der Mitarbeiter, die dort standen und froren und die Fragen gar nicht beantworten konnten, nur leidtun. Herr Döring, ich sehe Ihnen angesichts Ihrer engagierten Rede voller Prüfaufträge nach, dass Sie gesagt haben: Wir fangen jetzt an. - Ich komme darauf gleich zurück. Sie sind neu in dieser Koalition. Die Schwarzen, CDU/CSU, sind jetzt sechs Jahre an der Regierung, und deshalb, Herr Döring, kann man an dieser Stelle sagen, dass bei dieser Koalition, bei diesem Bundesverkehrsminister keine gute Bahnpolitik gemacht wird, sondern dass sie eher eine komplette Fehlanzeige ist, und zwar auf Kosten der Kunden. ({1}) Da sagt Herr Ramsauer, er telefoniere fast täglich mit Herrn Grube. Das finde ich schön. Nur, worüber reden sie da? Worüber reden sie bei diesen Telefongesprächen? Es gab zweimal hintereinander Winterchaos. Es gab übrigens auch ein Sommerchaos. Im Winter erfriert man, im Sommer wird man gegrillt. Vielleicht sollten Sie nicht so oft telefonieren und endlich einmal das Geschäft anpacken! Putzig ist, Herr Ramsauer, dass auch Sie anfangen, das Ganze auf die Vorgängerregierung zu schieben. Das machen wohl alle gern. Ich muss einmal sagen: Diese Debatte brauchen wir hier gar nicht zu führen. Liebe Sozialdemokraten, auch ihr solltet diese Debatte hier nicht führen, weil auch dann gilt: Wer mit dem Zeigefinger auf andere Leute zeigt, sollte nie vergessen, dass drei Finger seiner Hand auf ihn selbst zeigen. ({2}) Es war Bundeskanzler Schröder, der Mehdorn bei der Bahn haben wollte. Außerdem wollte er den Börsengang. Die Grünen haben stets gesagt: Die Voraussetzungen für einen Börsengang liegen nicht vor. Wir haben ihn unter Rot-Grün verhindert. ({3}) Die weitere Verschiebung des Börsengangs kam erst mit der Finanzkrise im Oktober 2008. Da hat die Große Koalition ihn immer noch gewollt. ({4}) Also vergessen wir lieber, was war, und sagen wir jetzt, wie es möglich ist, dass wir in Zukunft endlich eine pünktliche und zuverlässige Bahn haben, damit die Menschen zur Arbeit kommen, ihre Dinge erledigen können und die Wirtschaft eine funktionierende Hauptschlagader für ihren Transport hat. Um diesen Blick nach vorne geht es. ({5}) Herr Döring, noch ein Satz zu Ihren Angaben, wie viel investiert wurde. Sie haben so getan, als sei alles so wunderbar. Eine Zahl haben Sie vergessen. ({6}) - Sie haben gesagt, dass es mehr wird; das ist noch keine Aussage. - Sie hätten auch ehrlich sagen müssen, dass Gewinne der Netz AG in Höhe von 768 Millionen Euro nicht im Netz geblieben sind, sondern per Gewinnabschöpfung herausgezogen wurden. Dann hat die Deutsche Bahn AG Arriva in Großbritannien gekauft. Das Ergebnis ist: Die DB ist Europachampion beim Busverkehr. Überall fahren Busse der Deutschen Bahn, nur in Deutschland, in Berlin geht nichts. Da schauen die Leute auf die Gleise und hören und sehen gar nichts. Also, auch unter dieser Regierung, Herr Döring, wurde die Fehlentwicklung fortgesetzt. ({7}) Sie haben viele Beispiele genannt, worüber Sie mit der Bahn sprechen wollen. Ich sage dazu: Allein, mir fehlt der Glaube. Ich will nicht, dass Sie sprechen, ich will nicht, dass Sie prüfen, sondern ich will, dass Sie hier zum Beispiel ganz klar sagen: Wir wollen alles dafür tun, ({8}) dass das Netz unabhängig von der DB wird und in unmittelbares Eigentum des Bundes überführt wird, damit es nicht mehr ausgequetscht wird, sondern zur Basisinfrastruktur in Deutschland wird. Den Satz suchen wir. ({9}) Wir brauchen die Trennung von Netz und Transport, weil nur dann auf diesem Netz ein guter Wettbewerb mit einem zuverlässigen Verkehr stattfinden wird. Wie bei den Stromübertragungsnetzen wird es über europäisches Recht sowieso zu der Unabhängigkeit kommen. ({10}) - Sie haben es vorgelesen. - Wir wollen im Rahmen der Daseinsvorsorge auch Wettbewerb auf der Schiene. Wenn man mit einem S-Bahn-Betreiber, um ein Beispiel zu nennen, einen Vertrag schließt, der nicht funktioniert, dann kann man doch nicht sagen, nur eine staatliche Lösung wäre die Ideallösung. Sie brauchen regionale Netze und das Eigentum am Netz. ({11}) - Wer in Berlin Zehntausende von Wohnungen verkauft und sich danach beklagt, dass es zu wenig Sozialwohnungen gibt, sollte mit uns nicht über Privatisierung reden. Wir denken vorher nach. Das ist manchmal ganz hilfreich. ({12}) Schauen Sie sich die Situation an: Die Berliner S-Bahn gehört dem Bund, gefahren ist sie trotzdem nicht. Warum? Weil es einen miserablen Vertrag gibt. Es kommt auch auf den Vertrag an, den Sie abschließen. ({13}) - Blöd gefragt, Herr Pronold. Das ist Ihnen so herausgerutscht. Der rot-rote Senat war es, im Jahr 2002. Ich will meinem Freund Gregor Gysi sagen, was das Buch der Wahrheit sagt: Januar bis August 2002 Bürgermeister und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen in Berlin. ({14}) - Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]) - Das war die beste Zeit. Ich hoffe nur für dich, dass du diesen Vertrag nicht auch noch unterschrieben hast, da du so tust, als ob du die Weisheit mit Löffeln gefressen hättest. So viel Zeit muss sein. ({15}) Es war ein miserabler Vertrag, der vom rot-roten Senat abgeschlossen wurde. Als dann die Bahn den Vertrag im Sack hatte, hat sie in Heuschreckenart angefangen, die S-Bahn im wahrsten Sinne des Wortes auszuquetschen. Ich sage Ihnen: Es muss und wird in Zukunft anders sein. Es darf keine Direktvergaben mehr geben. Auch das Bundeskartellamt sagt, dass das nicht geht. Es geht auch nicht über den Trick, ausländische Töchter zu Subunternehmern zu machen. Was wir brauchen, ist ein richtiger Wettbewerb auch im Schienenpersonennahverkehr. Die Rechte der Mitarbeiter sind durch den Tarifvertrag der Bahnbranche gesichert. ({16}) - Lieber Herr Pronold, es werden viele Mitarbeiter von den Billigtöchtern der Deutschen Bahn davon proRenate Künast fitieren, dass sie endlich ordentliche Löhne bekommen. Man sieht auch daran, dass das Staatliche nicht immer hilft. Wir sagen eines ganz klar: Wir brauchen nicht nur Prüfaufträge, sondern wir müssen eine neue Bahnpolitik betreiben. Wir brauchen neue Strukturen und Regeln. Weg mit der Zwangsdividende, weg mit der internen Gewinnabschöpfung! Das Geld muss im Netz bleiben. Netz und Transport sind zu trennen. Wir brauchen eine Krisenprävention. Nur über den Weg kommen wir endlich dahin, wohin wir müssen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gute Bahnpolitik ist Daseinsvorsorge. Man könnte fast sagen: Die Menschen haben ein Recht darauf, dass wir alle uns anstrengen, damit die Bahn pünktlich und zuverlässig ist. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bundesminister Peter Ramsauer. ({0})

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei aller Aufgeregtheit möchte ich als Bundesverkehrs- und -bauminister zunächst einmal persönlich, aber auch im Namen der Bundesregierung all jenen im Land ganz herzlich danken, die auf den Straßen, bei der Schiene, auf den Wasserstraßen oder auf den Flughäfen bei Wind und Wetter, bei Eis und Schnee Tag und Nacht Betriebsdienste geleistet haben. Respekt vor der Leistung dieser Mitarbeiter! ({0}) - Dafür hätte ich von den Fraktionen, die sich sonst als Vertreter von Arbeitnehmerinteressen wähnen, ({1}) Beifall erwartet. Dass Sie hier keine Hand zum Beifall rühren, ist eine Blamage für Sie. ({2}) Wir erkennen die Leistung dieser Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer voller Respekt an. ({3}) - Dann könnten Sie diesen Menschen draußen im Lande den Respekt auch durch einen Beifall bekunden. Sie tun es nicht. Herr Pronold, jetzt zu Ihrer Rede. Sie sind wirklich ein Statistikspezialist. Sie wissen ganz genau: Wenn man sich besonders negative Basismengen herauspickt, dann kann man zu anderen Ergebnissen kommen. Wir haben uns in unserem Bericht auf die repräsentativen Daten der Deutschen Bahn verlassen. Dass Sie wirklich ein Statistikspezialist sind, habe ich vergangenen Montag Ihrem Interview in der Süddeutschen Zeitung - Bayern-Ausgabe - entnommen, in dem Sie die Wahlprognosen und die Umfragewerte der SPD in Bayern interpretiert haben. Sie haben da gesagt - ich zitiere: Ich bin überzeugt, dass wir - also die SPD Bayern im Sommer, als es keine Umfrage gab, über 20 Prozent lagen. ({4}) Respekt! Das ist Statistikkunst. Zu den Bahnhöfen. Das hätten Sie besser nicht gesagt. Ich habe als Bundesminister damit begonnen, 2 100 Bahnhöfe in Deutschland umzubauen. Einige Hundert sind fertig. ({5}) Da wird natürlich Barrierefreiheit hergestellt. Herr Pronold, Sie geben Presseerklärungen heraus, in denen Sie von irgendwelchen Maulhelden reden. Dazu muss ich sagen: Gerade Sie sind berufen, so etwas zu schreiben. ({6}) Ich bin dankbar dafür, lieber Verkehrs- und Bauausschussvorsitzender, Kollege Winfried Hermann, dass ich vorgestern das zehnte Mal im Ausschuss sein durfte. Bei diesen zehn Besuchen von mir im Ausschuss haben Sie kein einziges Mal Ihren Mund aufgemacht. Manche aus Ihrer Fraktion würden sich wünschen, dass Sie wenigstens ein Maulheld wären. Aber Sie sind stumm wie ein Fisch. Sie bringen im Ausschuss nicht einmal den Mund auf, wenn ich da bin. Es ist leider so. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, jetzt komme ich zu dem Antrag, den Sie zur heutigen Sitzung vorgelegt haben. Der Antrag ist mit den Worten „Deutschland braucht im ganzen Land einen verlässlichen und sicheren Schienenverkehr“ überschrieben. Mit solchen Plattitüden würden wir keinen Antrag in diesem Hohen Hause überschreiben. ({8}) Das ist wohl selbstverständlich. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Diesen Antrag stellen Sie 12 oder 13 Jahre zu spät. Den hätten Sie im Jahr 1998 oder 1999 einbringen sollen, als Sie mit Schröder und zusammen mit den Grünen die Bundesregierung gestellt haben; dann wären viele der Defizite ausgeblieben, die wir heute zu beklagen haben. ({9}) Einer meiner Vorgänger war Kurt Bodewig. Übrigens werden Sie mich mit nichts dazu bringen, in irgendeiner Weise über irgendeinen meiner Vorgänger, ({10}) sei es auch irgendeiner meiner fünf SPD-Vorgänger, herzufallen. Das überlasse ich Ihnen; ich nicht. Ich habe persönlich Respekt vor allen Vorgängern. Ich möchte eine Aussage von Kurt Bodewig zitieren. Er hat am 9. Januar in „Berlin direkt“ im ZDF über die rot-grüne Verkehrspolitik gesagt: Eine der gravierendsten Auswirkungen - dieser Politik in der Retrospektive war eigentlich, dass die Investitionsplanung der Bahn auf Kante genäht worden ist. Man kann das heute feststellen: Damals wurden die Serviceintervalle verlängert, damit die Qualität reduziert und auch die eigentlich vorzuhaltenden Reservekapazitäten wurden verringert. Darunter leidet die Bahn. Wo Bodewig recht hat, hat er recht. ({11}) Wir haben über alle Fragen im Zusammenhang mit dem Winter bereits im Ausschuss diskutiert. Ich bedanke mich noch einmal bei Ihnen, Winfried Hermann, als Vorsitzendem des Verkehrsausschusses, ({12}) dass Sie meiner schon vor Weihnachten geäußerten Bitte entsprochen haben, im Ausschuss vortragen und berichten zu dürfen. Zugegebenermaßen ist es nur ein Zwischenbericht, weil wir noch mitten im Winter stehen. Möglicherweise liegt der dickste Winter noch vor uns. Obwohl es kalendarisch gesehen noch Herbst war, war der Dezember ein Wintermonat, und zwar der strengste seit Jahrzehnten. Man muss daher die Probleme der Bahn im Vergleich zu denen der anderen Verkehrsträger sehen. In Ihrem Antrag steht ein völlig richtiger Satz: Die Fluggesellschaften gaben die Empfehlung heraus, dass innerdeutsch Reisende möglichst von vornherein alternative Verkehrsmittel nutzen sollten. Ja klar, die Bahn hat im großen Stile Ersatzverkehre für andere Verkehre, auch für den Straßenverkehr, schaffen müssen. Dies musste sie bei extrem schwierigen Wetterbedingungen und dazu noch in der Hauptreisezeit zu Weihnachten tun. Trotz aller vermeidbaren Beeinträchtigungen bitte ich daher schlicht und einfach um Fairness für die Deutsche Bahn. ({13}) Denn bei anderen Verkehrsträgern wird fast selbstverständlich hingenommen, dass Beeinträchtigungen entstehen. Frau Hendricks, Sie haben von Ihren Erlebnissen mit der Bahn berichtet. Ähnliche Berichte gibt es natürlich auch über den Flugverkehr. Was die Pünktlichkeit im Flugverkehr angeht, gibt es ebenfalls katastrophale Zahlen. Etwa 10 Prozent aller Flüge sind ausgefallen. Bei den Flügen, die tatsächlich stattgefunden haben, gibt es im Großen und Ganzen wahrscheinlich ähnliche Pünktlichkeitsquoten, wie wir sie im Bahnverkehr hatten. Hier sitzen viele, die darüber berichten können. Ich möchte auch dies in aller Deutlichkeit feststellen: Angesichts der Widrigkeiten des Winters kann niemandem quasi ein Vollkaskoanspruch, also ein Anspruch auf hundertprozentige Verkehrsleistung, gewährt werden. Manchmal wird so getan, als sei dies möglich. Auch die Straße hatte ihre Probleme. Aber wir haben hier gut vorgesorgt. Wir haben die Streusalzreserven ganz gezielt aufgebaut. Ich bedanke mich bei allen, die hier mitgeholfen haben. Gott sei Dank haben wir auch noch rechtzeitig die Winterreifenpflicht eingeführt. ({14}) Auch da hat es ein Kuriosum gegeben. Ausgerechnet diejenigen, die gegen eine Winterreifenpflicht waren, haben vor wenigen Wochen eine Verschärfung gefordert. ({15}) Das soll einmal irgendjemand verstehen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Volkmer von der SPD-Fraktion?

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Ja.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe eine ganz kurze Frage. Verfügen Sie als der zuständige Minister über die interne Pannen- und Ausfallstatistik der Deutschen Bahn?

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Ist die Frage zu Ende? Es ist schlecht für einen Fragesteller, wenn niemand merkt, dass die Frage zu Ende ist.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wiederhole die Frage gerne: Verfügen Sie als der zuständige Minister über die interne Pannen- und Ausfallstatistik der Deutschen Bahn?

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Ich habe vorhin bereits gesagt - darin liegt die Antwort -, dass wir in dem Bericht, den ich im Ausschuss vorgelegt habe, die Zahlen von der DB AG wie auch die Zahlen von den anderen Verkehrsträger verwendet haben. Wenn Sie aber die Zeitintervalle anders gestalten - damit wird die Grundmenge N verändert; so nennt man das in der Statistik - und beispielsweise nur den berühmten zweiten Weihnachtsfeiertag zugrunde legen, dann bekommen Sie natürlich völlig andere Quoten. ({0}) Deswegen heißt es zum Beispiel auch „teilweise unter 70 Prozent“. ({1}) Unter 70 Prozent umfasst natürlich auch die 20 Prozent, die wir angeblich am zweiten Weihnachtsfeiertag hatten. Sie können sich setzen.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Haben Sie die oder nicht?

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Ich habe Ihre Frage beantwortet. ({0}) Herr Präsident, die Kollegin hat eine Nachfrage.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, wollen Sie eine Nachfrage stellen?

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Dann bitte schön.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe die Antwort so nicht verstanden. Mich würde interessieren: Haben Sie die Daten, ja oder nein?

Dr. Peter Ramsauer (Minister:in)

Politiker ID: 11001772

Wir haben die Daten der Deutschen Bahn AG verwendet, genauso wie wir für den Flugverkehr die Daten der Fluglinien und der Flughäfen verwendet haben und die Erkenntnisse aus dem Straßenverkehr. ({0}) Wir werden natürlich bei der DB AG mit den Konsequenzen genau dort intensiv weiterarbeiten, ({1}) wo ich vom ersten Tag an begonnen habe, als ich Minister wurde. Wir werden intensiv weiter in den Betrieb und in das Netz investieren. Wir müssen in die Vorhaltung von Kapazitätsreserven investieren. Wir müssen deutlich mehr für die Instandhaltung und für die Reparatur des rollenden Materials aufwenden. Wir dürfen dieses ganze System nicht auf Verschleiß fahren. Aber ich betone noch einmal: Die Probleme sind nicht von heute auf morgen abzuarbeiten. ({2}) Wir arbeiten auch an einer Novellierung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes, um endlich einmal die Verantwortlichkeiten der Hersteller auf der einen Seite und der Eisenbahninfrastrukturunternehmen auf der anderen Seite klarzustellen. Ich als Bundesverkehrsminister bin es leid, dass hier die Verantwortlichkeiten ständig hinund hergeschoben werden. Das muss ein Ende haben. Deswegen werden wir in den kommenden Monaten auch mit der entsprechenden Gesetzgebungsinitiative kommen. ({3}) Wir werden auch - die Gespräche dazu haben begonnen - Schritt für Schritt einen Finanzierungskreislauf Schiene herstellen. Der Bund nimmt seine Verpflichtung und Verantwortung wahr, hier für zuverlässige Finanzierungsbedingungen zu sorgen. Zu der Dividende hat der Kollege Döring hervorragend Stellung genommen. ({4}) Es ist etwas Selbstverständliches, dass der Eigentümer eines Unternehmens dann, wenn ein Unternehmen Gewinn erwirtschaftet, auch einen verantwortbaren Teil des Gewinns entnimmt. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Ich sage Ihnen dazu auch noch eines: Die Hauptversammlung hat auf Vorschlag des Aufsichtsrats über die Dividende zu bestimmen. Die Hauptversammlung der DB AG bin ich. Ich werde selbst die Hauptversammlung abhalten. Ich habe das auch letztes Jahr schon getan, und zwar zur absoluten Verwunderung vieler. Ich musste mir sagen lassen, dass keiner meiner letzten fünf Amtsvorgänger je einmal selbst die Aufgabe und für mich selbstverständliche Verpflichtung auf sich genommen hat, als Minister und Verantwortlicher die Hauptversammlung selbst abzuhalten. ({5}) Keiner hat sich ordentlich um die Bahn gekümmert. Ich kümmere mich um dieses Unternehmen und leite selbst die Hauptversammlung. ({6}) - Da lachen Sie drüber. Sie drücken sich weg, ausgerechnet die PDS bzw. die Linke. Zum Thema Auslandsgeschäft habe ich oft genug Stellung genommen. So wie wir hier Wettbewerb vorantreiben, muss es der DB auch möglich sein, im Ausland tätig zu werden. Wir haben 320 Wettbewerber auf deutschen Gleisen, und wenn die DB AG nicht schrumpfen will, muss sie auf anderen Märkten aktiv sein können. Lassen Sie uns bitte gemeinsam an einem Strang ziehen, wenn wir die Bahnpolitik in Deutschland neu ausrichten. Es ist ein mühsames Geschäft, aber es lohnt sich, an diesem Ziel zu arbeiten. Ich darf noch einmal aus dem SPD-Antrag zitieren. Hier heißt es: Die Ursachen … sind das Ergebnis einer verfehlten Unternehmenspolitik, die sich u. a. von rein betriebswirtschaftlichen Renditegesichtspunkten leiten ließ und den eigenen Fuhrpark … auf Verschleiß fuhr. Das rächt sich jetzt, und das nicht in geringem Maße. Hier muss ich wirklich sagen: Dass Sie von der SPD mir ausgerechnet all die Probleme vorwerfen, die ich nach gut einem Jahr Amtszeit von fünf SPD-Amtsvorgängern in elf Amtsjahren geerbt habe, ist schon ein starkes Stück. ({7}) Dennoch wünsche ich Ihnen jetzt eine schnee- und eisfreie pünktliche Heimreise und ein schönes Wochenende. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion. ({0})

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister, wir werden heute Nachmittag noch arbeiten; das muss man hier einmal festhalten. ({0}) Haben Sie hier nun als Hauptversammlung oder als Minister gesprochen? - Also als Minister. An dieser Stelle will ich für die sozialdemokratische Fraktion als Erstes sagen, dass wir hier kein BahnBashing vorhaben; wir wollen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht in irgendeiner Form herabwürdigen. Sie haben einen guten Job gemacht; daran ist überhaupt nicht zu deuteln. ({1}) Sie haben in Eis und Schnee versucht, mit besonderen Räumkommandos das ganze Ding am Laufen zu halten. Vier Tote hatte die Deutsche Bahn in diesem Winter zu beklagen. Man muss sich einmal vorstellen, was da abgegangen ist! Die Frage ist nur: Musste das alles wirklich so sein, ist das, was wir da vorgefunden haben, gottgegeben oder DB-gegeben? Ich sage auch selbstkritisch Nein. Wenn die DB Netz AG seit 2007 exorbitante Gewinne gemacht hat, die ganze Zeit vorher aber keine, dann ist doch die Frage zu stellen, wie es dazu kam. Hat dies dieselbe Ursache wie bei der S-Bahn Berlin in den letzten Jahren, bei der jemand gesagt hat, sie habe Gewinne zu machen, es müssten Gewinne organisiert werden, die draußen für das Windowdressing gebraucht würden, weil man schließlich an die Börse wolle. Diese Frage müssen wir uns doch alle stellen. Meine Antwort ist: Ich habe die Vermutung, dass dies ursächlich der Fall war. Anders kann nicht plötzlich ein Gewinn von 763 Millionen Euro innerhalb von drei Jahren herauskommen, wenn vorher Verluste gefahren wurden. Was ist denn ein Gewinn? Das ist der Unterschied zwischen Aufwand und Ertrag. Sind denn die Trassenpreise exorbitant gestiegen? Nein, der Aufwand ist in diesen Jahren deutlich gesunken. Das bedeutet, dass dort die Dinge vernachlässigt worden sind, deren Folgen wir zurzeit erleben. Das muss geändert werden. ({2}) Darum ist all das, was jetzt erzählt wird, Herr Döring, dass wir nämlich die entsprechenden Gewinne der Netz AG demnächst investieren wollten, falsch. Wenn sie beim Netz einen guten Job machen, dann haben die kaum Gewinne, weil der Aufwand, den sie für die Unterhaltung dieses Netzes betreiben müssen, deutlich höher sein muss, als es in der Vergangenheit der Fall war. ({3}) Darum haben wir im Jahr 2010 in diesem Bereich auch nur noch 200 Millionen Euro Gewinn. Da ist plötzlich jemand aufgewacht; da hat ein Technikvorstand, ein neuer Vorstand der DB AG, gesagt: Oh Gott, wir haben einen Winter gehabt, wir müssen in Weichenheizungen und andere Sachen investieren. ({4}) - Hören Sie zu! Es gibt noch ein paar andere Leute im Deutschen Bundestag, die von Wirtschaft eine Ahnung haben. ({5}) An dieser Stelle will ich deutlich sagen: Es ist objektiv falsch, zu glauben, dass Sie mit diesem Winkeltrick dem deutschen Volk weismachen können, es würde der Bahn helfen, wenn sie ihren Finanzkreislauf in irgendeiner Form dazu brächte, das zu organisieren, was Sie zusätzlich brauchen. Sie versuchen auf diese Art und Weise, die Diskussion mit dem Minister nicht auf dem Feld zu führen, das da heißt, die Zwangsdividende zu vermeiden. Sie wollen die Zwangsdividende herausziehen: eine halbe Milliarde pro Jahr, 2 Milliarden innerhalb von vier Jahren, verordnet durch Bundeskabinettsbeschluss. Der Minister knallt die Hacken zusammen und sagt: Jawohl, Herr Schäuble, ich mache das mit. Das ist falsch. Ein Bundesverkehrsminister darf das nicht mitmachen. ({6}) Wenn er etwas von der Bahn versteht, dann weiß er, dass dort jeder Euro und jeder Cent benötigt wird, um das Desaster, das wir im Sommer und im Winter erlebt haben, für die Zukunft auszuschließen. Ich rede über die Zukunft, weil die Erfahrungen aus der Vergangenheit uns doch lehren müssen, dass wir mehr in das rollende Gerät und in die Infrastruktur investieren müssen. An dieser Stelle sage ich auch: Wenn die DB AG der Meinung ist, dass sie weiter Gewinne macht, wie Sie es hier für den Konzern insgesamt dargestellt haben, dann frage ich Sie als einen, der für die Koalition politisch verantwortlich ist: Wie ist denn das Netz der DB AG in den nächsten Jahren gestaltet? Wird es weiter nur ein Kernnetz sein? Muss die DB nicht weiter in die Fläche gehen? Gibt es nicht die Verantwortung, auch dort mehr in rollendes Gerät zu investieren? Es gibt Großstädte in Deutschland, die vom IC-Verkehr der DB AG nicht mehr angefahren werden. ({7}) Interregioverkehre gibt es nicht mehr, IC-Verkehre auch nicht. Es wird nur noch der Regionalverkehr betrieben, der von den Ländern bestellt wird. Das geht nicht. Wir brauchen einen Fernverkehr, der in der Fläche vertreten ist. Darum muss man bei der DB AG zukünftig nicht immer nur auf den Gewinn achten, sondern auch auf die Versorgung, die notwendigerweise in ganz Deutschland erbracht werden muss. Ich komme zu dem, was der Minister letztendlich zu verantworten hat. Schauen Sie mal in Art. 87 e des Grundgesetzes. ({8}) Der Artikel besagt eindeutig, dass wir alle in Deutschland etwas von der Bahn zu erwarten haben. Herr Minister, ich bin schon der Meinung, dass Sie hier eine große Verantwortung tragen. Sie sollten nicht immer nur darauf hinweisen, was in den letzten Jahren passiert ist. Sie sind seit Oktober 2009 Minister. Vorher waren Sie Vorsitzender der CSU-Landesgruppe hier im Bundestag und waren bei den Koalitionsverhandlungen jeweils dabei. Sie sitzen also seit sechs Jahren als Verantwortlicher am Koalitionstisch. Insofern tragen Sie schon die Verantwortung dafür, dass der Bund gemäß Art. 87 e Grundgesetz „gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten … Rechnung getragen wird“. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie in diesem Sinne handeln. Sie sollten nicht nur vorgeben, vermeintlich etwas zu tun. Ich stelle bei Ihnen immer wieder etwas Besonderes fest - ich möchte nicht sagen, dass ich es bewundere -: Sie versuchen, der deutschen Öffentlichkeit etwas zu verkaufen, was am Ende falsch ist. Man hat den Eindruck, dass Sie wissentlich etwas stehen lassen, was objektiv falsch dargestellt worden ist. Sie bedauern zwar im Ausschuss, dass es die Zeitungen nicht so ganz sauber rübergebracht haben. Man konnte aber überall, in der Bild-Zeitung, im Focus und im Tagesspiegel, lesen, dass neues Geld in Höhe von 2,2 Milliarden Euro in die Beseitigung der Schlaglöcher in Deutschland gesteckt werden soll. Wir stellen aber fest: Es ist gar kein neues Geld; es ist das alte Geld für die Straßenunterhaltung. Es wurde auch gesagt, dass 3,6 Milliarden Euro in die Bahn investiert werden, unter anderem in rollendes Gerät. Da wird hart an der Wirklichkeit vorbei argumentiert, nach der Melodie: „Oh, ist das neues Geld?“ Wer davon nichts weiß, der glaubt das; aber es ist immer falsch, ein Betrug, an der Wirklichkeit vorbei. ({9}) Deswegen sage ich an dieser Stelle deutlich: Die halbe Milliarde, über die wir heute unter anderem reden, muss dringend im Konzern bleiben. Jetzt ein Wort zur Frage der Struktur, die Sie damit verbunden haben. Ich habe hier gelernt - Herr Vaatz hat es schon für seine Fraktion erklärt -: Es geht um die Trennung von Netz und Betrieb. Der eine will es noch prüfen, der andere hat es schon für sich entschieden. Es wundert mich, dass auch die Grünen in diese Richtung gehen. Was heißt das eigentlich? ({10}) Die Trennung von Netz und Betrieb bedeutet: Man geht über das hinaus, was das Erste, Zweite und Dritte europäische Eisenbahnpaket gefordert haben. Wir sind der Meinung, dass wir die Vorgaben der Eisenbahnpakete mit der Einlassung der sogenannten Chinese Wall erfüllt haben. ({11}) Am Ende zerlegt man mit der Trennung von Netz und Betrieb den Konzern. Sie werden den Konzern zerlegen und damit den integrierten Konzern DB AG zerstören. ({12}) Damit zerstören Sie den konzerninternen Arbeitsmarkt komplett und bereiten bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen im Grunde potenziell die Privatisierung vor. ({13}) Das wissen Sie ganz genau, denn Sie haben sich jahrelang mit der Frage beschäftigt. Jetzt kommen Sie hinten durch die Drehtür mit einem solchen Vorschlag nach vorne, um uns das Thema auf andere, vermeintlich elegante Weise erneut zu präsentieren. Ich sage: Das ist der falsche Weg. Wir Sozialdemokraten wollen einen integrierten Konzern, ({14}) der Geld verdient, aber auch investiert, der seine Gewinne möglichst im Konzern behält. Herr Minister Ramsauer, dass der ICE nach London fährt, wo Sie ihn schon gestreichelt haben, muss doch nicht sein, oder? Ich finde, bevor wir mit dem ICE nach London fahren, sollten wir erst einmal in Deutschland die ICE-Flotte so einsetzen, dass sie deutschlandweit breit läuft. Ich glaube, das ist nötig und muss hier auch gesagt werden. ({15}) Ein allerletzter Gedanke. Wir haben hier in Deutschland eines nötig: einen Minister, der sich einsetzt für Infrastrukturfinanzierung, für neue Ideen, für ein Programm, mit dem Deutschland fit gemacht wird in der Infrastruktur, auf der Schiene, auf der Straße, auf der Wasserstraße. Wir brauchen keinen Stillstandsminister. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Claudia Winterstein für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Claudia Winterstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Tat, in diesem Winter wurde die Bahn kräftig von den Wetterverhältnissen getroffen, und das sorgte für heftigen Gesprächsstoff. Zugausfälle, Verspätungen, defekte Heizungen, überfüllte Züge zerrten an den Nerven der Fahrgäste - Frau Hendricks hat hier einen ausführlichen Erlebnisbericht vorgetragen -, und der Winter ist noch lange nicht vorbei. Dennoch haben wir wegen des ganzen Bahnchaos eines erreicht: Wir haben hier ein Thema auf der Tagesordnung, das von den Vorgängerregierungen immer gemieden wurde. Es geht um strukturelle Probleme bei der Bahn, um die strategische Ausrichtung des Konzerns und um die Finanzierung unserer Schieneninfrastruktur. Das grundsätzliche Problem des Konzerns ist die Investitionspolitik. Statt die Gewinne aus dem Schienennetz wieder in die heimische Infrastruktur zu investieren, geht die Bahn mit dem Geld lieber weltweit auf Einkaufstour. Von Schanghai über Schweden bis England, in insgesamt 136 Ländern ist die Bahn mittlerweile aktiv. Im letzten Sommer wurden 2,8 Milliarden Euro für das britische Verkehrsunternehmen Arriva ausgegeben; das ist der teuerste Zukauf in der Bahn-Geschichte. ({0}) Meine Damen und Herren, wer so sorglos mit dem Geld, das im deutschen Netz erwirtschaftet wurde, umgeht, der sollte nicht jammern, dass ihm dann die Mittel für Investitionen in ebendieses Netz fehlen. ({1}) Wer finanziert das Schienennetz, aus dem die Bahn ihre Gewinne abschöpft? Es ist der Bund, also der Steuerzahler, der jährlich fast 4 Milliarden Euro für Investitionen zur Verfügung stellt. ({2}) Dafür können wir auch erwarten, dass sich die Bahn zuallererst um den Heimatmarkt kümmert, statt rund um den Globus als Global Player zu agieren. Vor diesem Hintergrund ist es übrigens auch absurd, wenn jetzt versucht wird, dem Bund die Schuld für das Winterchaos bei der Bahn in die Schuhe zu schieben, weil er aus den Gewinnen der Bahn AG eine Dividende von 500 Millionen Euro als Teil des Sparpakets erhält.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hofreiter?

Dr. Claudia Winterstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich möchte gern fortfahren. - Es ist ja auch nichts Ungewöhnliches, wenn der Eigentümer eines Unternehmens, das im vergangenen Jahr einen Gewinn von 1,75 Milliarden Euro erzielt hat, eine Beteiligung an diesem Gewinn einfordert. Weil der Bund der einzige Aktionär der Bahn AG ist, steht ihm natürlich eine Dividende zu - das ist schon gesagt worden -, zumal er in dieses Unternehmen viel Geld investiert. Insgesamt - das muss man einmal deutlich sagen - sind es über 10 Milliarden Euro pro Jahr, wenn man Investitions- und Regionalisierungsmittel zusammenrechnet. Die Hauptversammlung, also die Bundesregierung, hat die Höhe der Dividende auf 500 Millionen Euro jährlich festgelegt. Der Bund fordert die Dividende ja nicht als SelbstDr. Claudia Winterstein zweck ein. Die Abführung der Dividende dient einem zentralen politischen Ziel, das die Koalitionsfraktionen in den Mittelpunkt ihrer Politik gestellt haben, nämlich dem Abbau der massiven Staatsverschuldung, ({0}) um die Stabilität unseres Landes zu gewährleisten und zukünftige Generationen zu entlasten. Das sage ich natürlich auch als Haushaltspolitikerin. ({1}) Manchmal habe ich den Eindruck, dass viele Politiker die Wichtigkeit der Haushaltskonsolidierung in Sonntagsreden gerne betonen, dieses Ziel aber, wenn es konkret wird, doch als nachrangig betrachten. ({2}) Diese Koalition will den Abbau der Staatsverschuldung vorantreiben. Um die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse einhalten zu können, haben wir das Sparpaket beschlossen. Daher verbietet es sich, dieses Sparpaket an einzelnen Stellen aufzuschnüren. Das Thema Sparen ist kein Tick von uns Haushaltspolitikern. Das Problem der öffentlichen Verschuldung treibt auch die Menschen im Land um. In einer ForsaUmfrage vom November 2010 wurde gefragt, wovor die Menschen die größte Furcht haben. ({3}) 61 Prozent gaben an, dass sie große oder sehr große Furcht davor haben, die Staatsschulden könnten ins Immense steigen. Dieses Thema wurde als Problem Nummer eins genannt, noch vor der Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und der Furcht vor Altersarmut. Wir erreichen bei der Bahn keine Verbesserungen, indem wir einfach mehr Geld in ein falsch konstruiertes System stecken, was die Opposition in ihren Anträgen fordert. Im Gegenteil: Dadurch würden die Fehler im Endeffekt nur verfestigt. ({4}) Wir können nur dann in die Schiene investieren, wenn wir strukturelle Reformen bei der Bahn vornehmen. Dazu gehört zuallererst die Aufhebung der Gewinnabführung der DB Netz AG an die Bahn Holding. Gewinne, die im Netz erwirtschaftet werden, müssen dort verbleiben. Das ist eine alte FDP-Forderung, die nun endlich erfüllt wird. Im vergangenen Jahr zum Beispiel hätten wir so 800 Millionen Euro zusätzlich investieren können. Diese Investitionen sind möglich, ohne auf eine Dividende verzichten zu müssen. Das zeigt ein Blick auf die Zahlen der Bahn. 2010 hat der Konzern einen Gewinn von 1,75 Milliarden Euro erwirtschaftet. Bis 2015 - das ist schon angesprochen worden - sollen es nach Unternehmensplanungen über 3 Milliarden Euro werden. Ich denke, das bietet genug Spielraum für die Zahlung der Dividende an den Bund. So vereinen wir zwei wichtige politische Ziele: Wir verringern die Staatsverschuldung und stärken gleichzeitig die Infrastruktur der Bahn. ({5}) Ich sage Ihnen eines: Der nächste Schnee kommt bestimmt, vielleicht schon morgen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Sabine Leidig für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich in den letzten Wochen ziemlich darüber gewundert, dass aus allen Richtungen die Unternehmenspolitik der Bahn beklagt worden ist. Sie ist falsch, weil sie kurzfristig und auf die Bilanz des Konzerns konzentriert ist und weil die Bahn auf Verschleiß fährt. Ich bin froh, dass wenigstens Herr Beckmeyer, wenn auch als Einziger derjenigen, die hier geredet haben, zumindest im Ansatz Selbstkritik geübt hat. Das finde ich klasse. ({0}) Es war tatsächlich die Große Koalition aus Grünen, SPD, CDU/CSU und FDP, die den Börsengang der Bahn gewollt und bestimmt hat. ({1}) - Diesen Privatisierungskurs hat Gregor Gysi nicht mitgemacht. ({2}) Die Linken waren die Einzigen, die von Anfang an gegen diesen Kurs waren. ({3}) Frau Künast, das ist einer der Gründe, warum ich als Attac-Bundesgeschäftsführerin für die Linken kandidiert habe und nicht für eine andere Partei. Die Linke hat eine eindeutige und klare Fokussierung auf das Gemeinwohl. ({4}) Die rot-grüne Bundesregierung hat im April 2005 eine Studie in Auftrag gegeben - das ist ein umfangreiches Werk mit 560 Seiten geworden -, das PRIMONGutachten. PRIMON ist die Abkürzung für „Privatisie9594 rungsvarianten mit und ohne Netz“. Darin ist überhaupt nicht untersucht worden, ob man die Bahn in öffentlicher Hand weiterentwickeln kann. Das wäre doch eine interessante Frage gewesen. Sie haben gesagt: Privatisierung auf jeden Fall. Die Grünen haben, nachdem die Große Koalition den Beschluss, die Bahn an die Börse zu bringen, weiter vorangetrieben hat, sogar aus der Opposition heraus gefordert, dieses Vorhaben nicht aufzugeben. Ich habe eine Broschüre gefunden: das Wachstum-Schiene-Modell. Darin werden SPD und Union aufgefordert, am vorgesehenen Zeitplan festzuhalten, die Entscheidung über den Börsengang nicht zu verschieben und nicht den Experten zu folgen, die einen Börsengang gänzlich ablehnen. ({5}) Das war im Januar 2007. Verantwortet wurde die Broschüre von Fritz Kuhn und Winfried Hermann. ({6}) Winfried, ich muss sagen: Ich finde es toll, wenn ihr eine andere Position einnehmt. ({7}) Aber wenn ihr in eurem Antrag schreibt, dass die Grünen die verfehlte Bahnpolitik, den Konzern an die Börse zu bringen, immer massiv bekämpft haben - so steht es dort -, dann ist das zumindest nicht ganz richtig. Das muss man einmal sagen. ({8}) - Frau Künast, hören Sie mir einmal zu. Es gibt in dieser Welt nämlich noch etwas anderes als Bundestagsparteien. ({9}) Die Bevölkerung der Bundesrepublik engagiert und organisiert sich um politische Fragen herum. Wir haben mit der Kampagne „Bahn für Alle“, die wir 2005 auf die Beine gestellt haben, eine sehr breite Bewegung initiiert. Ihr hat sich eine ganze Reihe von Organisationen angeschlossen, die gegen die Privatisierung, gegen den Börsengang der Bahn auf die Straße gegangen sind, Aktionen durchgeführt haben und ans Parlament herangetreten sind: von verschiedenen Experten, dem BUND und Robin Wood bis hin zu Verdi und der IG Metall - ein wirklich breites demokratisches Spektrum. Eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung ist seit vielen Jahren dafür, dass die Bahn komplett in öffentlicher Hand bleibt; im März 2008 waren es nach einer repräsentativen Umfrage 70 Prozent. Übrigens ist auch die Mehrheit der Anhänger aller Parteien gegen jedes Privatisierungsmodell. Ich finde, dass das Parlament daraus endlich Konsequenzen ziehen und die Bahnpolitik auf einen anderen, auf einen demokratischen Kurs bringen muss. ({10}) Ich will drei Punkte skizzieren, die für diesen anderen, demokratischen Kurs der Bahn aus meiner Sicht notwendig sind. Der erste Punkt ist, dass die Bahn anderes Spitzenpersonal braucht. ({11}) Ich will damit nicht die Qualifikation von Herrn Grube anzweifeln. Aber ich will Ihnen Folgendes sagen: Heutzutage schimpfen alle über Herrn Mehdorn, der im Frühjahr 2009 nach einer ganzen Reihe wirklich dramatischer und skandalöser Aktivitäten als Bahnchef abgelöst worden ist. Als Bundeskanzler Schröder diesen Mann aus der Flugzeugindustrie im Jahr 2000 angeheuert hat, war die Zustimmung in diesem Haus aber groß. Auch als Herr Mehdorn 2006 verkündet hat: „Unser Markt ist die Welt“ und: „Ich kann mir gut vorstellen, dass wir in Zukunft auch Flugzeuge betreiben“, haben Sie überhaupt nicht gezuckt. Nun ist es nicht so weit gekommen, dass die Bahn Flugzeuge betreibt. Aber ich erinnere daran, dass im Dezember 2002 versucht wurde, ein Preissystem einzuführen, bei dem man Zugfahrten wie einen Flug vorab hätte buchen müssen. Das hat Hunderttausende Bahnkunden verschreckt. Die Abstimmung mit den Füßen hat dazu geführt, dass dieses Konzept in die Tonne getreten wurde. Ich frage Sie: Warum wird an dieser Stelle nicht ein ganz anderer Weg gegangen? Warum fragt man nicht einfach die Kunden, wie ein vernünftiges Bahnpreissystem gestaltet werden soll? Das wissen die Kundinnen und Kunden der Bahn doch am allerbesten. ({12}) Ich glaube, der Vorstand der Bahn hat kein einziges Mitglied mehr, das gelernter Eisenbahner ist. Aber es gibt dort jede Menge Manager aus der Flugzeug-, der Auto- und der Rüstungsindustrie. Das finde ich bedenklich. Ich kenne bei der Bahn, aber auch in vielen anderen Industriebetrieben und in Verwaltungen jede Menge qualifizierter Beschäftigter, die sehr darunter leiden, dass Managementkonzepte von oben nach unten diktiert werden, Stichwort Global-Player-Vorgaben. Die Arbeit wird dadurch nämlich nicht verbessert, und die Erfahrungen, die Kompetenzen und das Fachwissen der Leute werden nicht berücksichtigt. Zweiter Punkt auf dem Weg zur Börsenbahn: Die Auslandszukäufe müssen aufhören. Noch im letzten Jahr ist Arriva mit Zustimmung der Bundesregierung für 2,7 Milliarden Euro gekauft worden; das ist noch nicht so lange her. Herr Döring, ich bin froh, dass es in dieser Frage auch bei Ihnen Ansätze eines Umdenkens gibt; schließlich sitzen Sie im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn. ({13}) Auch die kontraproduktiven Großprojekte müssen überdacht und beendet werden. ({14}) Für diese beiden Bereiche wird jedes Jahr insgesamt mehr Geld ausgegeben als für die gesamte Infrastruktur in der Fläche. Drittens. Die Pläne zur Privatisierung mit und ohne Netz müssen endlich ad acta gelegt werden. ({15}) Die Bahn kann als gemeinwohlorientiertes Unternehmen gut entwickelt werden; das ist ja nicht utopisch. Wenn man sich hierzulande einmal umguckt, dann sieht man Modelle, wie es funktionieren kann. Ich möchte als Beispiel die Region Karlsruhe nennen. Die Karlsruher Verkehrsbetriebe sind ein großes Unternehmen. Zusammen mit Heilbronn und Pforzheim wird auf einer großen Fläche Taktverkehr organisiert. 20 Unternehmen arbeiten in Kooperation miteinander, nicht in Konkurrenz; das würde nämlich nicht funktionieren. Gehen Sie einmal nach England, Frau Künast. Ich würde Ihnen wirklich empfehlen, einmal von Cambridge zum Flughafen London zu fahren. Da fahren Sie mit drei verschiedenen Verkehrsgesellschaften. ({16}) Es gibt drei verschiedene Tarifsysteme, drei verschiedene Auskunftssysteme. Das ist ein Flickenteppich. Das Chaos in England ist noch viel größer als bei uns. Die Kunden sind noch unzufriedener, weil es eben kein System in einer Hand gibt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das ist schade; denn ich hätte gern noch etwas zum Schuldenstand gesagt. Nur eine Bemerkung: 1994 sind die Schulden der Bahn sozusagen auf null gestellt worden; inzwischen hat die DB AG 15 Milliarden Euro Schulden. Das Schienensystem in Europa, das mit den wenigsten Zuschüssen auskommt, ist das Schienensystem der Schweiz. Auch das kann man in dem PRIMON-Gutachten nachlesen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, bitte nicht noch eine Bemerkung. Sie sind schon weit über Ihrer Redezeit. ({0})

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mein Schlusssatz: Es geht weder um eine bürokratische Behördenbahn noch um eine Börsenbahn. Wir brauchen etwas anderes, etwas Neues.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin!

Sabine Leidig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004089, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Es geht darum, eine demokratische Bürgerbahn aufs Gleis zu setzen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Anton Hofreiter für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Leidig, es tut mir leid; aber ich muss auf Ihren Beitrag eingehen. Das Problem bei Ihrer Darstellung ist, dass Sie offensichtlich nicht wissen, worum es sich bei der DB AG handelt. Ihre Aussage, dass die DB AG keine Flugzeuge habe, ist natürlich grotesk. ({0}) Wir als Bundesrepublik Deutschland sind mit BAX Global der zweitgrößte Luftfrachtlogistiker der USA, und Sie sagen, Sie wollten nichts privatisieren. Wollen Sie denn die Luftfrachtlogistik in der USA als Behörde organisieren? ({1}) Werfen Sie uns vor, dass wir schon damals diese internationalen Abenteuer, die nichts mit der Bundesrepublik Deutschland, nichts mit dem Steuerzahler zu tun haben, abstoßen wollten? - Entschuldigen Sie, das ist grotesk. ({2}) Die Vorstellung der Bundesregierung war allerdings auch interessant. Wir haben hier einen Minister, der lobt. Wir haben einen Minister, der sich freut. Wir haben einen Minister, der ermahnt. Wir haben Koalitionäre, die prüfen wollen. - Geprüft wurde lange genug, ermahnt auch; freundliche Worte sind viele gefallen. Es ist endlich an der Zeit, dass im Bereich der Bahn gehandelt wird. ({3}) Manchmal könnte man meinen, Sie wären an dieser Regierung bzw. an dieser Koalition gar nicht beteiligt. Sie freuen sich darüber, dass es bei der Bahn mal besser, mal schlechter geht. Aber wer ist denn der Eigentümer der Bahn? Das ist zu 100 Prozent die Bundesrepublik. Da hilft es uns nichts, wenn Herr Ramsauer stolz erklärt, dass er sich auf der Hauptversammlung in einem intensiven Selbstgespräch befindet. ({4}) Teilweise wurde sogar gehandelt. Das Problem ist, dass nichts Vernünftiges dabei herausgekommen ist. Die Mauteinnahmen, die unter Rot-Grün im Rahmen einer integrierten Verkehrspolitik allen drei Verkehrsträgern zur Verfügung gestellt worden sind, werden jetzt allein der Straße zur Verfügung gestellt. ({5}) Das war die erste Handlung. Ich komme zur nächsten Handlung und damit zu dem völlig grotesken Vortrag von Frau Winterstein, die in massive Opposition zu sich selbst getreten ist; denn Sie hat wortreich beklagt, dass Arriva von der DB AG gekauft worden ist. Es stellt sich die Frage: Wann ist Arriva gekauft worden? Es war im letzten Jahr. Erinnern Sie sich, wer letztes Jahr regiert hat? Ich glaube, es war eine schwarz-gelbe Koalition. ({6}) Aber vielleicht waren Sie damals noch nicht an dieser Koalition beteiligt. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass Sie nur mit sich selbst beschäftigt waren. - Frau Winterstein tritt also in Opposition zu sich selbst. ({7}) - Ah, die Bundesregierung hat mit Ihnen nichts zu tun. Das ist tröstlich. ({8}) Was war die nächste Handlung? Die nächste Handlung war, dass man von der Bahn eine Zwangsdividende von 500 Millionen Euro im Jahr verlangt hat. Nun ja, die Bahn bekommt 3,6 bis 3,9 Milliarden Euro pro Jahr - das ist von Jahr zu Jahr etwas unterschiedlich - aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt. ({9}) Neben diesen Haushaltsmitteln gibt es noch etwa 7 Milliarden Euro an Regionalisierungsmitteln. Man hätte natürlich auch ehrlich sein und sagen können: Wir sind nicht in der Lage, die Bahn weiter vernünftig zu finanzieren, also kürzen wir etwas. Dann wäre es aber für jeden offensichtlich gewesen. Was hat man stattdessen gemacht? Man hat „rechte Tasche, linke Tasche“ gespielt. Zuerst geben Sie ihr fast 4 Milliarden Euro, und dann nehmen Sie ihr davon wieder 500 Millionen Euro weg. Das ist eine unehrliche, verschleiernde Politik. ({10}) Was ist jetzt am dringendsten nötig, nachdem die Bahn-Maut abgeschafft wurde, eine Zwangsdividende von 500 Millionen Euro gezahlt wurde und 2,7 Milliarden Euro an Eigenmitteln der Bahn verschleudert worden sind, um Marktführer in Großbritannien beim Busverkehr zu werden? ({11}) Als erster Schritt sind die Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge aufzuheben. ({12}) Die Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge haben durchaus etwas mit der Qualität dieses Netzes zu tun; ({13}) denn wenn die DB Netz AG „ausgepresst“ wird, diese Gelder in die Holding fließen und die Holding internationale Abenteuer eingeht, dann steht das Geld nicht mehr für Reinvestitionen ins Netz zur Verfügung. ({14}) Deshalb sind die Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge aufzuheben. Dann stehen die gesamten Gewinne aus dem Netz der DB Netz AG zur Verfügung und können reinvestiert werden. Das gilt nicht nur für die DB Netz AG, sondern auch für die DB Station & Service AG und selbstverständlich auch für die DB Energie GmbH. Warum schauen die Bahnhöfe denn teilweise so schlecht aus? Weil die Stationsgebühren, die für jeden Zug und damit durch jeden, der in diesem Zug fährt, bezahlt werden, nicht in die Stationen reinvestiert, sondern an die Holding abgeführt werden, um für lustige Abenteuer weltweit verschwendet zu werden. ({15}) Was ist als Nächstes notwendig? Als Nächstes ist die reale Trennung von Netz und Transport durchzuführen. Warum ist das notwendig? Wir brauchen eine unabhängige Infrastrukturgesellschaft, die direkt beim Bund angesiedelt ist. Das einzige Geschäftsfeld dieser unabhängigen Infrastrukturgesellschaft muss sein, so gut es geht Trassen zu vermarkten, damit jeder, der auf diesen Trassen fährt, pünktlich fahren kann und eine gute Qualität vorfindet; denn nur in einem gut unterhaltenen Netz ist es möglich, den Bahnverkehr pünktlich und ordentlich durchzuführen. Das interessiert die Leute. Hören Sie deshalb endlich auf, zu mahnen, glücklich zu sein, sich zu freuen und sich hinter Mitarbeitern zu verstecken, Herr Minister! Sorgen Sie für StrukturentDr. Anton Hofreiter scheidungen! Handeln Sie endlich! Dann bekommen Sie auch unsere Unterstützung. Danke. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ulrich Lange für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Hofreiter, ich bin ein glücklicher Mensch. ({0}) Kollege Pronold, Sie haben einen Slogan von 1966 zitiert und gesagt, wie gut man damals mit der Bahn gefahren ist. - Wir beide noch nicht; wir sind dafür zu jung. - Ich darf daran erinnern: Bis 1966 war die SPD noch nie an der Regierung. In diesem Sinne denke ich an Rudi Carrell: „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer?“ Sie wollten den Frühling. Ich freue mich auf den Sommer, weil wenn etwas schiefläuft: „Schuld daran ist nur die SPD“. ({1}) - Bitte schön. Lassen Sie mich auf Ihren Antrag eingehen. Ihr Antrag liest sich im ersten Moment geradezu abenteuerlich. Als ich ihn zum ersten Mal gelesen habe, habe ich überlegt, wer das wohl geschrieben hat. Das war entweder ein Mitarbeiter, der erst seit ein paar Tagen für Sie arbeitet, oder jemand, der nicht weiß, was Sie elf Jahre lang gemacht haben. ({2}) - Ja, natürlich, im Zweifel war es der Referent; aber man sollte den Text zumindest vorher durchlesen. Herr Beckmeyer, Sie beklagen das Schneechaos. Sie sagen, die Bahn habe den Ausfall des Straßen- und Flugverkehrs auffangen müssen. Die Bahn hat über eine halbe Million zusätzlicher Passagiere aufgenommen. Wir lassen es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie mit Ihrem Antrag elf Jahre Regierungspolitik der SPD im Verkehrsministerium überdecken wollen und sagen: Das ist vergessen; das haben wir verdrängt. - Ich sage Ihnen ganz offen: Das ist ein Versuch von Regierungsamnesie, den wir Ihnen definitiv nicht durchgehen lassen. ({3}) - Das steht da drin. Ich zitiere aus Ihrem Antrag. Dann werden Sie sehen, wie abenteuerlich das Ganze ist. Für wie vergesslich halten Sie eigentlich die Menschen in unserem Land? Sie schreiben - ich zitiere -: Die Ursachen hierfür lassen sich nicht auf kurzfristige Störungen des Betriebsablaufs der Deutschen Bahn AG zurückführen, sondern sind das Ergebnis einer verfehlten Unternehmenspolitik. Ich ergänze noch einmal: Sie haben im Ministerium die Unternehmenspolitik elf Jahre lang bestimmt, davon sieben Jahre - Kollegin Künast und Kollege Hofreiter, ich kann Sie nicht aus Ihrer Verantwortung entlassen - zusammen mit den Grünen. ({4}) Im Endeffekt wollen Sie die Epoche verfehlter SPD-Verkehrspolitik mit einem Winter und ein bisschen Schnee zudecken. Das lassen wir Ihnen aber nicht durchgehen. ({5}) Sie sollten eines nicht vergessen - das wurde schon mehrfach angesprochen -: Es war Ihr Kanzler Schröder, der Mehdorn zum Bahnchef gemacht und auf den Börsengang gesetzt hat. Kollege Hofreiter, Kollegin Künast, auch Sie saßen in diesem Boot. Wenn jetzt plötzlich eine von „betriebswirtschaftlichen Renditegesichtspunkten“ geprägte Politik kritisiert wird, dann muss man feststellen: Das war Ihre Politik. Diese Kritik haben Sie sich selbst zuzuschreiben. Ihnen ging es nur um Gewinnmaximierung; es ging darum, die Bahn börsentauglich zu machen. ({6}) Inzwischen wissen wir alle, dass es Infrastruktur nicht zum Nulltarif gibt. Wir wissen auch: Wenn wir heute bei der Infrastruktur sparen, bezahlen wir morgen und übermorgen doppelt dafür. ({7}) - Frau Künast, Sie waren schon dran. - Wir müssen uns auch an anderen Stellen im Haushalt überlegen, wie wir Infrastruktur finanzieren. Sie müssen dann aber auch so ehrlich sein und das in anderen Ausschüssen, zum Beispiel im Ausschuss für Arbeit und Soziales, auf den Tisch bringen; denn die wunderbare Geldvermehrung gibt es nicht, nicht einmal in Nordrhein-Westfalen. Infrastruktur kostet Geld. Seien wir so ehrlich, und geben wir das Geld auch dafür aus. ({8}) Verkehrsminister Peter Ramsauer hat deutlich gemacht: Das Umdenken im Ministerium hat mit der Übernahme des Ministeriums durch die CSU begonnen. ({9}) Sie reden von Zwangsdividende. Ich sage Ihnen: Wir haben eine Zwangserbschaft von Ihnen übernommen. Leider konnten wir sie, anders als im privaten Leben, nicht ausschlagen. Wir müssen nun an dieser Situation arbeiten, um sie in Ordnung bringen. ({10}) Meine Damen und Herren, natürlich ist die Bahn auch selber gefordert. Man kann nicht immer nur vom Brotund-Butter-Geschäft reden und dann Wasser und Brot vorsetzen. Es geht sehr wohl darum, dass die Bahn von sich aus eine Qualitätsoffensive, eine Pünktlichkeitsoffensive und vielleicht auch eine Charmeoffensive anstrengt, aber man muss auch das Gute sehen. Viele von uns haben am Freitag vor der Weihnachtspause versucht, nach Hause zu kommen. ({11}) - Ich auch, Kollege Beckmeyer. - Anders als mit dem Flugzeug, wozu ich keine Informationen hatte, bin ich mit der Bahn nach Hause gekommen; es gab auch die nötigen Informationen. Das war alles nicht so schlecht, wie es heute dargestellt wird. Wer hat denn die Ausbesserungswerke geschlossen? Wer hat den Wagenpark reduziert? Das waren Sie. ({12}) - Das war Ihre Politik. - Deshalb ist Ihr Antrag doppelt scheinheilig. Frau Leidig hat davon geredet, dass auf Verschleiß gefahren wird. ({13}) Liebe Kollegin Leidig, wenn Sie die Einzigen wären, die nicht auf Verschleiß fahren, dann würde ich Ihnen vielleicht zustimmen. Aber Sie sind diejenigen, die mit Ihrem Weg in den Kommunismus mit dem real existierenden Sozialismus ein ganzes Land auf Verschleiß gefahren haben. Sie haben nicht nur einen Zug, sondern nicht mehr und nicht weniger als ein ganzes Land auf Verschleiß gefahren. ({14}) Wir mussten dann die Infrastruktur und die Waggons, die wir kaputt übernommen haben, wieder aufbauen. Meine Damen und Herren, wir stellen uns der Mammutaufgabe Bahn. Unser Verkehrsminister hat sofort nach Regierungsantritt diese Aufgabe wahrgenommen. Er hat sehr genau geprüft, was funktioniert und was nicht. ({15}) Er hat - auch das gehört dazu - Führungspersonal ausgewechselt. ({16}) Es gehört auch Mut dazu, zu sagen: So geht es nicht weiter. Ich lade Sie ein: Machen Sie mit beim Projekt zukunftssichere Bahn! Denn wir freuen uns auf Schnee und Kälte im Winter und Sonne und Hitze im Sommer. Wir reden über das Wetter. Wir freuen uns auf die Jahreszeiten. Wir fahren dem Klima zuliebe Bahn und sind glückliche Menschen. ({17}) Herzlichen Dank. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Martin Burkert von der SPD-Fraktion. ({0})

Martin Burkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003744, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Ich bin selbst Eisenbahner. ({0}) Eisenbahner ist man mit Leib und Seele. Ich komme aus einer Eisenbahnerfamilie und bin damit großgeworden. Deswegen weiß ich, was die Kolleginnen und Kollegen vor Ort das ganze Jahr über mitmachen und vor allem in den letzten Wochen mitgemacht haben. Ich möchte zu Beginn etwas loswerden. Die Menschen sind zurzeit, ob zu Recht oder zu Unrecht, aus den unterschiedlichsten Gründen unzufrieden mit der Deutschen Bahn. Ob Klimaanlagenausfall, S-Bahn Berlin oder die Winterproblematik - das alles wurde heute angesprochen -: Es gibt immer mehr verärgerte Kundinnen und Kunden. Wer bekommt den Ärger als Erster ab? Wer bekommt den Ärger am heftigsten ab? Das sind nicht die Bahnmanager am Potsdamer Platz. Es ist auch nicht das Bundesverkehrsministerium. Es ist auch nicht der arme Herr Minister. Nein, es sind die Kolleginnen und Kollegen in den Service Points und Fahrkartenausgaben und die Zugbegleiter in den Zügen. ({1}) Hinzu kommen die Kolleginnen und Kollegen in den Werken, die massenhaft Überstunden leisten und an ihre Grenzen gegangen sind. Nicht zu vergessen sind auch die Gleisarbeiter, die in diesem Winter unter Lebensgefahr die Weichen von Schnee befreien, um die Strecken wieder befahrbar zu machen. Adam Smith hat einmal sinngemäß gesagt: Der Betrieb einer Eisenbahn ist zu 95 Prozent Mensch ({2}) und zu 5 Prozent Stahl. Die Kolleginnen und Kollegen bei der Bahn halten den Betrieb am Laufen, wie es vor allem in diesem Winter in den zurückliegenden Wochen der Fall war. Ihnen gebührt heute ausdrücklich der Dank. ({3}) Herr Minister, wie wollen Sie diesen Menschen erklären, dass Sie auf einer Dividende in Höhe von 500 Millionen Euro im Jahr bestehen? Ich empfehle Ihnen, sich mit Eisenbahnerinnen und Eisenbahnern zusammenzusetzen. Was passiert denn da? Es gibt noch 16 sogenannte C-Werke. Das sind große Instandhaltungswerke, in denen beispielsweise ICEs gewartet werden. Wir hatten einmal 28. In den letzten 15 Jahren sind 12 Werke geschlossen worden, von Opladen über Leipzig-Engelsdorf bis nach München-Freimann, um nur ein paar zu nennen. ({4}) Im Jahre 2000 waren ungefähr 12 000 Mitarbeiter in der Instandhaltung der Deutschen Bahn AG beschäftigt. Aktuell sind es noch 6 900. Ich sage Ihnen, Herr Minister: Sie haben einiges angekündigt. Wenn Sie etwas tun wollen - es gibt noch eine Standardsicherung für fast zwei Jahre -, dann gehen Sie nach Chemnitz und Zwickau. Dort wird schon über Werksschließungen gesprochen. Das ist - nur am Rande - auch in industriepolitischer Hinsicht wichtig; denn dort ist die Bahn der zweitgrößte Arbeitgeber. Sie haben in den letzten Tagen publikumswirksam - zu Recht - eine Menge kritisiert. Aber in der jetzigen Situation wollen Sie dem Bahnkonzern jedes Jahr 500 Millionen Euro Dividende entziehen. Mit Verlaub, meine Damen und Herren von der Koalition, es ist doch absurd, eine solche Forderung umzusetzen. ({5}) Sehr geschätzter Herr Kollege Fischer, Sie sind ein alter Hase, haben reichhaltige Erfahrung und waren schon vor der Bahnprivatisierung Mitglied des Parlaments. Sie müssten doch am besten wissen, was passiert, wenn 500 Millionen Euro entzogen werden. Das Geld wird in allen Unternehmensbereichen eingesammelt, Million für Million. Das geht beim Netz los und endet bei der BahnLandwirtschaft. ({6}) Jeder muss seinen Beitrag dazu leisten. Das heißt, es wird wieder auf Kante gefahren. Gemacht wird nur noch das, was das EBA will. Alles andere wird geschliffen. Das ist die Problematik, vor der wir stehen. Sie haben die Situation verschärft. ({7}) Jetzt kündigen Sie, Herr Dr. Ramsauer, den Rückkauf von zehn Reisezugwagen und die Anmietung von elf Wagen aus der Schweiz an. Auch der TGV soll kommen. Ich gehe davon aus, dass Sie diesen Zug wieder öffentlichkeitswirksam in Deutschland begrüßen werden. Aber wissen Sie eigentlich, Herr Dr. Ramsauer, wie viele ICEs wir mit 500 Millionen Euro kaufen könnten? 16 ICEs! Diese hätten uns insbesondere in einem solchen Winter wie diesem gutgetan. Hier sollte die Bahn Investitionen tätigen. ({8}) Ich bin genauso wie mein Kollege Beckmeyer der Meinung, dass wir eine ehrliche Bilanz brauchen, eine Bilanz über 15 Jahre Bahnreform. Es gibt Gutes und Schlechtes. Bevor wieder Zurufe kommen: Keiner ist frei von Fehlern. Aber Sie, Herr Minister, sind jetzt der amtierende Verkehrsminister und sind in der Verantwortung. Die Menschen wollen von Ihnen Antworten hören. Ich habe heute Morgen im Ausschuss gedacht: „Er hat wieder nichts gesagt“, und auf die jetzige Debatte gehofft. Nun ist die Debatte fast am Ende. Landesgruppenchef bei der CSU ist Herr Friedrich; ich bin es bei der SPD. Ich habe gedacht, dass Sie in die Rolle des Landesgruppenchefs zurückfallen. Sie haben heute wieder nicht gesagt, was Sie eigentlich tun wollen. Symptomatisch für den Stellenwert der Eisenbahn in Ihrem Hause ist, dass Sie nicht den von mir geschätzten Parlamentarischen Staatssekretär Ferlemann - dafür wird es sicherlich gute Gründe gegeben haben; das will ich überhaupt nicht bestreiten -, sondern den Autofreund Scheuer zu der Ausschusssitzung am letzten Mittwoch, in der es um viele Bahnthemen ging, mitgebracht haben. ({9}) Fakt ist: Die Schiene in Deutschland hat unter der jetzigen Regierung keine Vorrangstellung mehr. Das zeigt die ganze Prioritätensetzung in Ihrem Haus. Das ist der eigentliche Kardinalfehler in der gesamten Verkehrspolitik. ({10}) Sommer ist die Zeit, in der es zu heiß ist, um das zu tun, wozu es im Winter zu kalt war. Dieses Zitat stammt nicht von mir. Das hat Mark Twain am Anfang des 20. Jahrhunderts gesagt. Wenn man sich das Jahr 2010 anschaut, dann kann man eine Ahnung davon bekommen, was Mark Twain in weiser Voraussicht damit gemeint hat. Im Sommer ist es zu heiß, im Winter zu kalt, um Zug zu fahren. Ich finde, der Bahn steht der alte und heute schon oft zitierte Spruch „Wir fahren bei jedem Wetter“ viel besser an. Dahin müssen wir wieder kommen, Herr Minister. ({11}) Deshalb verzichten Sie doch in Gottes Namen auf diese 500 Millionen Euro Zwangsdividende! Legen Sie ein Sofortprogramm auf, um kurzfristig die aktuellen Störungen im Betriebsablauf zu beseitigen! Investieren Sie endlich ausreichend in die Instandhaltung, wie Sie es angekündigt haben! Nehmen Sie endlich Ihre Aufgabe als Eigentümer der Deutschen Bahn AG wahr! Stellen Sie außerdem sicher - auch über die Länder, reden Sie mit den Ländern -, dass genügend Reservekapazitäten an Fahrzeugen aufgebaut werden! Auch die Länder sind bei der Bestellung von Fahrzeugen im Regionalverkehr in der Verantwortung. Stoppen Sie den Abbau von Personal! Und zu guter Letzt: Legen Sie endlich ein nachhaltiges Konzept zum Schienenverkehr in Deutschland und in Europa vor! Herr Minister, fangen Sie endlich an, zu arbeiten, anstatt immer nur anzukündigen! Beschäftigen Sie sich endlich mit der Bahn! Werden Sie zur Lokomotive, die die Bahn zuverlässig durch alle Wetter zieht! Sonst - so ist meine Befürchtung - enden Sie als Hemmschuh auf einem Abstellgleis, und das wollen wir alle wahrlich nicht. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Hans-Werner Kammer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Werner Kammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An den Anfang meines Beitrags möchte ich einen Dank an diejenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellen, die durch ihren unermüdlichen Einsatz dafür gesorgt haben, dass der Verkehrsbetrieb in Deutschland im letzten Dezember weitestgehend aufrechterhalten werden konnte. Im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages herrscht über die Parteigrenzen hinweg Einigkeit darüber, dass die Situation aller Verkehrsträger, insbesondere auch der Bahn, in diesem Winter desaströs war. Daher gebührt unserem Verkehrsminister, Dr. Ramsauer, ein besonderer Dank dafür, dass er die Bahn zur Chefsache erklärt hat. Das ist die richtige Weichenstellung für die Zukunft. Er hat hier auch Finanzierungsmöglichkeiten angesprochen. Eine Vielzahl von Ursachen hat zu den erheblichen Beeinträchtigungen im Bahnverkehr geführt. Wir müssen uns dieser Ursachen annehmen und sie so schnell wie möglich beseitigen. Dabei müssen wir ehrlich sein. In Anbetracht der Versäumnisse in elf Jahren SPD-Verkehrspolitik wird dies nicht von heute auf morgen geschehen können. Die Wetterlage im Dezember 2010 hat die Probleme bei der Deutschen Bahn schonungslos offenbart. Es gibt keinen Zweifel, dass sowohl auf technischer als auch auf organisatorischer Seite erhebliches Optimierungspotenzial besteht. Die Frage ist allerdings, wo die Grenze zwischen dem technisch Machbaren und dem finanziell Vertretbaren verläuft. Wenn die Bahn ausreichend Kapazität vorhielte, um einen Winter wie diesen problemlos zu bewältigen, entstünden erhebliche Mehrkosten, die dann von den Fahrgästen getragen werden müssten. Hier werden wir auch weiterhin - dies gilt für alle Verkehrsmittel gleichermaßen - Kompromisse schließen müssen. So wie bisher kann es allerdings nicht bleiben. Die Benutzung der Bahn darf nicht zu einem Glücksspiel werden. Hierzu haben wir bereits Beiträge gehört. Auch ich habe in diesem Winter leider einige Male auf die falsche Fahrkarte gesetzt. Die entscheidende Ursache ist jedoch, dass eine im Wesentlichen verfehlte Verkehrspolitik der letzten Jahre der Eisenbahn nicht den Stellenwert eingeräumt hat, den dieses Verkehrsmittel verdient. Investitionen unterblieben. Es wurde von der Substanz gelebt. Die Hysterie um den Börsengang der Bahn und die damit verbundene Bilanzkosmetik haben entscheidend dazu beigetragen. ({0}) - Ich komme gleich auch noch zu Ihnen. - Daher begrüße ich es, dass unser Verkehrsminister der Sanierung einer lebenswichtigen Infrastruktur Vorrang vor einem prestigeträchtigen, in Wirklichkeit aber für das Gemeinwohl ruinösen Börsengang einräumt. Ich warne davor, gleich wieder in das andere Extrem zu verfallen und die gute alte Behördenbahn herbeizusehnen. Die Gründe, die für die Privatisierung der Bahn ausschlaggebend gewesen sind, gelten noch heute. Wir brauchen eine solide Basis für die Eisenbahn des 21. Jahrhunderts. ({1}) Nun zu den Anträgen. Dass die Linke den Kommunismus wiederhaben will, war für mich keine Überraschung. Das ist deren ideologische Bankrotterklärung. ({2}) Dass die Linke aber nun ernsthaft die Reichsbahn der DDR mit der jetzigen DB AG vergleicht, erstaunt sogar mich. Das ist nämlich eine intellektuelle Bankrotterklärung. ({3}) Ich frage mich, wes Geistes Kind Politiker sind, die die Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit von 280 auf 200 km/h aufgrund besonderer Witterungseinflüsse mit den Magistralen der DDR - Strecken, auf denen permanent langsam gefahren werden musste - vergleichen. ({4}) - Das steht in Ihrem Antrag. - Dort waren nur 30 oder 40 km/h erlaubt, und zwar das ganze Jahr über. Das kann für uns wirklich kein Vorbild sein. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Fragen Sie die Bahnexperten! Wer, wie die Linken in der Bundeshauptstadt, Verantwortung trägt und nicht in der Lage ist, den schwächsten Verkehrsteilnehmern, nämlich den Fußgängern, freie Wege zu bieten, dem würde ich nicht einmal eine Modelleisenbahn anvertrauen. ({5}) Ein ähnliches Niveau zeigt die Argumentation von Bündnis 90/Die Grünen. Wenn ein unbefangener Betrachter die Ausführungen der Kolleginnen und Kollegen liest, wird ihm alles Mögliche einfallen, nur nicht, dass die rot-grüne Koalition 1999 Herrn Mehdorn installiert und Kurs auf die Börse genommen hat. Aufrichtigkeit ist, wenn man sich zu seinen Fehlern bekennt. ({6}) Jetzt wurde auch noch der Begriff der Zwangsdividende aus dem Fundus geholt. Was sich brutal anhört, ist jedoch in Wirklichkeit nur das, was auch die Damen und Herren der Opposition immer fordern: Der Bund steckt dieses und noch viel mehr Geld in den Infrastrukturausbau. Anders gesagt: Kein Euro aus der Gewinnabführung wird für den Erwerb ausländischer Logistikunternehmen ausgegeben. Jeder Cent landet in Deutschland. Noch weniger überzeugend, muss ich allerdings sagen, argumentiert die SPD. Ich habe in einer Zeitung aus meinem Wahlkreis gelesen, dass man interessanterweise gesagt hat: Damit die Fahrgäste nicht belästigt werden, solle man die Baustellenzeiten einfach verlängern. Ich weiß nicht, ob das sinnvoll ist und zur Erleuchtung beiträgt. Wenig überzeugend sind also Ihre Argumente, Herr Beckmeyer. Sie sagen: Oberstes Ziel muss es sein, die Bahn für den Sommer und für den Winter wieder fitzumachen. In Wirklichkeit aber scheinen hier einige unter Amnesie zu leiden; denn wenn der rot-grüne Tsunami die Struktur der Bahn nicht verwüstet hätte, müssten wir diese Diskussion nicht führen. Dann hätten wir nämlich diese Schwierigkeiten heute nicht. ({7}) Wir müssen in die Zukunft blicken. Viele der auch von meinen Vorrednern geschilderten Schwierigkeiten sind leider nicht von heute auf morgen zu beheben. Dazu sind die Schäden, die die rot-grünen Verkehrspolitiker verursacht haben, einfach zu groß. Wir werden die Weichen stellen für eine leistungsfähige Schieneninfrastruktur, die dem Industriestandort Deutschland angemessen ist. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die von ihr getragene Koalition sind sich ihrer Verantwortung zu allen vier Jahreszeiten bewusst und werden die Verantwortung nicht der Opposition auf der linken Seite überlassen; denn dann wäre in Deutschland wahrscheinlich Stillstand oder finstere Nacht. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt der Kollege Dirk Fischer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Pronold hat die SPD-Eröffnungsrede à la „Wenn früh die liebe Sonne lacht, hat das die SPD gemacht“ gehalten. Die SPD war noch niemals für den Schienenverkehr in diesem Lande verantwortlich. Die SPD kann sich an keinen Namen eines SPD-Verkehrsministers erinnern. Wie traurig für Leber, Lauritzen, Gscheidle, Hauff, Müntefering, Klimmt, Bodewig, Stolpe und Tiefensee. Aber zu deren Trost muss ich sagen: Ihre Bilder hängen noch im Ministerium. ({0}) Im Übrigen hat mir die Eröffnungsrede der Union viel besser gefallen; ({1}) denn eben ging eine SMS der Enkelin von Arnold Vaatz, Ida, mit dem Text ein: Opi, gute Rede. - Wenn Ida das so sieht, dann dürfen wir dem Kollegen Vaatz für seine Rede noch einmal Beifall und Anerkennung zollen. ({2}) Verehrte Kollegen der SPD, Sie können sagen, was Sie wollen: Die Probleme der Berliner S-Bahn sind eindeutig - das können Sie nicht wegschummeln - eine Altlast der SPD-Minister und von Herrn Mehdorn. Das ist eine Tatsache, und diese Altlast muss jetzt bereinigt werden. ({3}) Im Übrigen zum Thema Dividende: Nach meinem Verständnis ist bei einer ordnungsgemäßen Geschäftsführung geboten, dass die Aufwendungen für die Wartung des rollenden Materials, der Netze, der Bahnhöfe und aller anderen Anlagen getätigt werden, bevor überhaupt von Gewinn oder Dividende geredet werden kann. ({4}) Wenn Herr Mehdorn die Kosten so radikal gesenkt hat - übrigens: als Sie Verantwortung trugen -, um im Hinblick auf die Kapitalmarktfähigkeit eine besonders schöne Bilanz vorzuweisen, dann ist dies ein Mangel an ordnungsgemäßer Geschäftstätigkeit gewesen. Das ist eindeutig. ({5}) Dirk Fischer ({6}) Ich will Sie, Herr Kollege, daran erinnern, dass der von Ihnen so sehr verehrte Herr Mehdorn am letzten Sonntag in einem Interview mit der FAZ-Sonntagszeitung wörtlich gesagt hat: Es ist völlig in Ordnung, wenn der Bund als Gesellschafter eine Dividende von der DB AG erhält, wenn sie Gewinn macht. Ich sage: Das ist auch in Ordnung; denn der Bundeshaushalt hat sich in einem hohen Maße auch verschuldet, weil er in das System Schiene investiert hat. Da muss doch über den Gewinn die Refinanzierung der Staatsschuld möglich sein - nach einer ordnungsgemäßen Geschäftstätigkeit und Gewinnermittlung. ({7}) Im Übrigen erhält das System Schiene aus dem Haushalt jährlich etwa 20 Milliarden Euro, fast 4 Milliarden Euro für den Unterhalt und die Erneuerung des Netzes sowie den Neu- und Ausbau des Netzes, 7 Milliarden Euro Regionalisierungsmittel für steuerfinanzierten Umsatz - jeder andere Verkehrsträger wäre dankbar, wenn er einen steuerfinanzierten Umsatz erhielte -, 9 Milliarden Euro gibt es für die Altlastenbeseitigung im Bereich der Schiene und für das Bundeseisenbahnvermögen. 20 Milliarden Euro unter diesen Haushaltsbedingungen - kaputtsparen sieht für mich anders aus. ({8}) In jüngerer Zeit, Herr Kollege Beckmeyer, waren über elf Jahre fünf SPD-Verkehrsminister für Verkehrspolitik verantwortlich. Daher kann ich Ihnen in der jetzigen Debatte einige Gedächtnisstützen nicht ganz ersparen. Herr Mehdorn war davon beseelt, mit Sack und Pack, mit Netz und Bahnhöfen und allem Drum und Dran - das war das integrierte Modell - in den Kapitalmarkt zu gehen. Er wollte die Verbindungen zur Politik abschneiden, den goldenen Zügel des Geldes allerdings nicht. Dann haben Ihr SPD-Verkehrsminister und Ihr SPD-Finanzminister ausgerechnet bei einer Investmentbank ein Gutachten zu der Frage bestellt, mit welchem Strukturmodell das geschehen solle, wo doch jeder Investmentbanker sagt: Mit allem Drum und Dran. - Das ist doch erheblich für die Tantiemen. ({9}) Das heißt, mit diesem Gutachten, das ein bestimmtes Strukturmodell empfahl und das unter einer rot-grünen Bundesregierung von einem SPD-Verkehrsminister und einem SPD-Finanzminister in Auftrag gegeben worden ist, hat man im Grunde genommen schon die Leute in die Irre geführt. ({10}) Es ist doch nachgerade abenteuerlich, dass Sie damals die Vorstellung hatten, ein Anlagevermögen von mehr als 120 Milliarden Euro nach der Ertragswertmethode für 8 bis 9 Milliarden Euro in den Kapitalmarkt zu bringen. Ich will hier ein ganz hartes Wort vermeiden. Aber wer so gegenüber dem Staatsvermögen und dem Steuerzahler handelt, der ist nach meiner Meinung sehr am Limit. Dessen Verhalten könnte ganz anders bezeichnet werden. Allein der Berliner Hauptbahnhof hat über 5 Milliarden Euro gekostet. Es gibt aber noch die Bahnhöfe in München, Frankfurt, Stuttgart, Hamburg, Köln und Hannover und das ganze Netz usw. obendrauf. Dies ist nach meiner Auffassung den steuerzahlenden Bürgern, den Arbeitnehmern und den Gewerkschaften bei der DB AG in Erinnerung zu rufen, wenn die SPD jetzt auf reine Lehre macht. ({11}) Ich will an ein Weiteres erinnern. Nach vier Häutungen in der Legislatur 2005 bis 2009 sagt die SPD jetzt: gar kein Privatkapital, noch nicht einmal für die Logistikunternehmen. - Herr Tiefensee hat als Minister aus tiefer innerer Überzeugung nacheinander vier Modelle vertreten: erst, dem Willen Mehdorns entsprechend, das eben dargestellte integrierte Modell, dann das besonders tückische, vom Namen her völlig irreführende Eigentumssicherungsmodell - das war in Wahrheit das Gegenteil -, ({12}) dann das Holding-Modell, wie wir es jetzt haben, mit einer Teilprivatisierung der operativen Gesellschaften des Personen- und Güterverkehrs, also DB ML. Am Ende dann: Privatkapital ist sowieso des Teufels. - Diese Position eignet sich nach meiner Auffassung allenfalls für den Schulterschluss mit den Linken, taugt aber nicht für eine Aufstellung dieses Unternehmens im deutschen und europäischen Wettbewerbsmarkt. ({13}) Dann will ich daran erinnern, Herr Kollege Beckmeyer, dass Verkehrsminister Bodewig vorher schon zum Parteitag der Grünen nach Stuttgart geeilt war. ({14}) und für die Trennung von Netz und Betrieb plädiert hat. ({15}) Er hat wörtlich gesagt: Die Trennung von Netz und Betrieb ist nicht mehr die Frage des Ob, sondern nur noch des Wie. Das weiß auch Herr Mehdorn. ({16}) Dann kam er nach Hause. Inzwischen war Mehdorn bei Schröder. Herr Bodewig wurde umgekippt. Er ist nicht umgekippt; er wurde umgekippt. Die Verkehrsexpertin der Grünen, Frau Künast, hat deswegen heute zu Recht auch frühere Verkehrsminister der SPD einer Kritik unterzogen. ({17}) Dirk Fischer ({18}) Die Grünen - da will ich sie loben; das habe ich versprochen ({19}) sind ordnungspolitisch tausendmal besser aufgestellt als - das muss man eindeutig sagen - der übrige Teil der linken Seite dieses Hauses. ({20}) Insbesondere die Beschlüsse des damaligen Kieler Bundesparteitags der Grünen ({21}) könnten - bis auf wenige Randziffern mit ungebührlichen Attacken auf eine große und wichtige Partei - beinahe von mir geschrieben worden sein; so sehr kann ich zustimmen. Die Infrastruktur - Netz, Bahnhöfe, Energie - muss dauerhaft im Eigentum des Staates bleiben. Das ist die Kernaussage. ({22}) Denn, verehrte Kolleginnen und Kollegen, das sind die Lebensadern einer Volkswirtschaft - das gilt in Deutschland und in Europa -, auf denen sich der Wettbewerb entfalten muss. Ist das Netz in der DB AG integriert, kann ich mit dem Strukturmodell im Moment unter einer Bedingung leben - die Zerschlagungshorrorgeschichte von Uwe Beckmeyer ist natürlich völlig daneben; das weiß er auch selbst; das soll nur nach außen ein bisschen Eindruck machen -: wenn sichergestellt wird, dass die Gewinne der Infrastrukturgesellschaften in die Infrastruktur reinvestiert werden, wir also einen Finanzierungskreislauf Schiene bekommen, ({23}) dass die Mittelzuwendungen des Bundes direkt an die Infrastrukturgesellschaften gehen und dass die Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge zwischen DBInfrastrukturgesellschaften und der DB AG Holding aufgelöst werden; denn dies entspricht auch besser dem europäischen Recht, ({24}) das bei einem integrierten Netz strikte Wettbewerbsneutralität und unternehmerische Eigenständigkeit verlangt. Das wäre auch eine gute Reaktion auf das gegen Deutschland laufende EU-Vertragsverletzungsverfahren. Damit täten wir insoweit auch dem EU-Recht Genüge. Ich kann am Ende nur sagen: ({25}) Gott sei Dank liegt das Schicksal der Bahn bei dieser Bundesregierung, bei diesem Bundesverkehrsminister in deutlich besseren Händen als zu SPD-Zeiten. ({26})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 17/4428, 17/4433 und 17/4434 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan ({0}) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 ({1}) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1943 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksache 17/4402 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesaußenminister Dr. Guido Westerwelle das Wort. ({4})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist kein Zufall, dass der heutige Tag mit seinen Debatten über Afghanistan und über die Lage in Afghanistan mit einer Regierungserklärung des Ministers Niebel begonnen hat. Das bringt klar zum Ausdruck, dass wir vordergründig nicht nur das militärische Engagement sehen dürfen, das von unseren Frauen und Männern der Bundeswehr dort geleistet wird. Da Soldaten in so großer Anzahl anwesend sind, möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich im Namen des ganzen Hauses bei Ihnen und Ihren Kameradinnen und Kameraden für das, was Sie in Afghanistan leisten, sehr herzlich zu bedanken. ({0}) Wir wissen natürlich auch - die Soldatinnen und Soldaten wissen das ganz besonders -, dass wir in Afghanistan nicht erfolgreich sein werden, wenn wir auf eine militärische Lösung setzen. Unser militärisches Engagement dient der Absicherung der Stabilität in Afghanistan. Die Fortschritte beim zivilen Aufbau in Afghanistan, die zu erkennen sind, sind sehr bemerkenswert. Noch nie hat sich eine Bundesregierung beim zivilen Aufbau in Afghanistan so umfangreich engagiert wie diese Bundesregierung. Noch nie hat eine Bundesregierung so viel für den Aufbau und für das Training der Sicherheitskräfte vor Ort getan wie diese Bundesregierung. Ich bitte, dies bei all Ihrer Kritik zu berücksichtigen. Die Lage war anders, als Sie regiert haben. ({1}) Aber der zivile Aufbau und seine Absicherung im Interesse der Stabilität des Landes werden natürlich nur ein Teil der Lösung sein können. Entscheidend ist die politische Lösung. Diese Einsicht ist der eigentliche Strategiewechsel, der vor ziemlich genau einem Jahr auf der Londoner Afghanistan-Konferenz stattgefunden hat. Damals war dieser Wechsel noch sehr umstritten, auch in diesem Hause. Aber es zeigt sich, dass das, was die Bundesregierung mit unseren Bündnispartnern in London ausverhandelt hat, eine richtige Entscheidung gewesen ist. Wir werden in Afghanistan den Frieden nicht militärisch schaffen, sondern nur durch eine politische Lösung. Das Ziel unseres internationalen Engagements ist es daher, eine politische Lösung zu erreichen, um Afghanistan nachhaltig und dauerhaft zu stabilisieren, damit es auch in der Zeit nach unserem Engagement nicht wieder Hort und Rückzugsort des Terrorismus gegen die Welt werden kann. ({2}) Für diesen politischen Prozess ist es von großer Bedeutung, dass wir alle einbinden. Deswegen ist nicht die Bedeutung dessen zu unterschätzen, dass auch die regionale Einbindung, das heißt die Einbindung insbesondere der betroffenen Nachbarländer, mehr und mehr gelingt. In London hat es mit der Afghanistan-Konferenz angefangen. Dann gab es in Kabul zum ersten Mal eine Afghanistan-Konferenz im Land selbst. Dort waren alle Beteiligten dabei. Darunter befanden sich übrigens auch die Nachbarländer, die jahrelang nicht mitgewirkt haben. Diese Konferenz wurde begleitet von Abkommen zwischen Afghanistan und Pakistan. Solche Handelsabkommen kann man von Mitteleuropa aus als leicht machbar ansehen. Wer aber den Hintergrund der Beziehungen zwischen den beiden Ländern kennt, der weiß, dass sie in Wahrheit einen großen Fortschritt darstellen. Iran: Es gibt viele Fragen - ich nenne zum Beispiel Fragen im Zusammenhang mit dem Drogenhandel -, die nur mit der Einbindung der Nachbarländer und mit einer entsprechenden Vernetzung beantwortet werden können. All das hat stattgefunden. Im Herbst des letzten Jahres gab es den Gipfel in Lissabon. Er bedeutete eine wirkliche Wegmarke. Ich will noch einmal die vier Daten - es sind nicht drei Eckpunkte - unseres Zeitplans, unserer perspektivischen Strategie nennen: Erstens. In der ersten Hälfte dieses Jahres wollen wir damit beginnen, die Sicherheitsverantwortung vor Ort in Distrikten oder Provinzen zu übergeben. Zweitens. Wir sind zuversichtlich, zum Ende des Jahres in der Lage zu sein, dass zum ersten Mal auch die Präsenz unserer Bundeswehr zurückgeführt werden kann. ({3}) Drittens. Im Jahre 2014 soll es uns gelungen sein, dass die Sicherheitsverantwortung vollständig an Afghanistan übertragen ist. Das ist nicht nur unser Ziel, es ist ausdrücklich auch das Ziel der afghanischen Regierung, dass es dann keine Kampftruppen von uns mehr im Lande geben muss. Der vierte Punkt wird regelmäßig vergessen. Auch nach dem Jahr 2014 muss sich Deutschland für die nachhaltige Sicherheit in Afghanistan engagieren. Täten wir das nicht, hätten die Taliban sofort wieder das Sagen. Sie brächten ihre Saat des Terrorismus in die Welt, und das gesamte Engagement, zum Beispiel der Frauen und Männer der Bundeswehr, wäre vergeblich gewesen. Wir wären da, wo wir waren. Es darf kein zweites Mal ein Vakuum in Afghanistan hinterlassen werden. Das ist das, worum es uns geht. ({4}) Ich habe in der Regierungserklärung im Dezember 2010 ausführlich dazu Stellung bezogen. Entgegen dem, was dort hineingeheimnisst wird, ist es doch völlig klar, dass jeder Zeitplan natürlich immer auch unter dem Vorbehalt steht, dass dann die Lage tatsächlich auch so ist. Das ist übrigens nicht erstmalig in dieses Mandat textlich aufgenommen worden, sondern das ist wörtlich das, was ich im Dezember im Namen der Bundesregierung in der Regierungserklärung auch gesagt habe. ({5}) Mit anderen Worten: Ende 2011 wollen wir erstmalig die Präsenz der Bundeswehr reduzieren. Aber es ist doch selbstverständlich, dass wir alles unter den Vorbehalt stellen müssen: soweit es die Lage erlaubt und insbesondere unsere Soldatinnen und Soldaten vor Ort nicht gefährdet werden. Denn wir wollen einen unumkehrbaren, nachhaltigen Prozess der Übergabe der Verantwortung. Das ist das Ziel. ({6}) Wenn wir das übrigens nicht tun, wie es klar in dem Antrag der Bundesregierung steht, - ({7}) - Lesen Sie es nach, dann wissen Sie es. Ich kann es Ihnen noch einmal vorlesen: Die Bundesregierung ist zuversichtlich, im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung die Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren zu können, und wird dabei jeden sicherheitspolitisch vertretbaren Spielraum für eine frühestmögliche Reduzierung nutzen, soweit die Lage dies erlaubt und ohne dadurch unsere Truppen oder die Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefährden. ({8}) Man muss kein Militärexperte sein, es reicht, wenn Sie Ihren Menschenverstand einschalten, dann wissen Sie, dass das der vernünftige Weg ist. Und darauf kommt es auch an. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Bundesminister, der Kollege Nouripour von den Grünen würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Sehr gerne, bitte sehr.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Außenminister, Sie haben gerade beschrieben, dass, wenn es möglich ist und die Sicherheitslage es erlaubt, am Ende dieses Jahres die Kontingente der deutschen Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan reduziert werden sollen. Meine Frage ist: Schließen Sie damit aus, dass zwischenzeitlich durch den Einsatz der AWACSFlugzeuge die Mandatsobergrenze angehoben oder die flexible Reserve dadurch angebrochen wird?

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Ich unterstütze die Haltung des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in diesem Punkt, und ich empfehle sie Ihnen auch einmal zur Aufmerksamkeit. ({0}) Der SPD-Vorsitzende Herr Gabriel - man merkt, ganz allgemein gesprochen, dass Reisen läutert - hat heute in einem Interview erklärt, das seien zwei unterschiedliche Vorgänge. Deutschland hat erklärt, dass wir uns derzeit an diesem AWACS-Einsatz nicht beteiligen, ({1}) weil unser Schwerpunkt auf dem Training und der Ausbildung liegt. Ansonsten ist es selbstverständlich, dass wir in regelmäßigen Abständen mit unseren Bündnispartnern alles besprechen und alles überprüfen. Deswegen ist eine Frage, ob ich etwas ausschließe, vielleicht nett für den parteipolitischen Hickhack, in der Sache ist es absolut unangemessen, wenn man weiß, dass wir nur in einem Bündnis gemeinsam erfolgreich sein können absolut unangemessen! ({2}) Ich sage Ihnen das auch, Herr Kollege, weil ich glaube, dass Sie sich von der größeren Oppositionspartei, der SPD, wirklich eine Scheibe abschneiden könnten. ({3}) Diese sozialdemokratische Partei ringt mit sich, diskutiert, wägt die Argumente ab und erklärt öffentlich auf den Antrag der Bundesregierung hin, dass sie die Absicht habe, die Soldatinnen und Soldaten nicht alleinezulassen, und sie ihnen den Rücken stärken wolle. Bei Ihnen ist das ganz anders. Es hat noch niemals ein Außenminister so viele Soldaten in Auslandseinsätze geschickt wie der grüne Außenminister, nur, dass Sie davon nichts mehr wissen wollen, kaum dass Sie in der Opposition sitzen. ({4}) Es ist verantwortungslos, was Sie hier machen, verantwortungslos! ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Bundesminister, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Stefan Liebich von der Linken?

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Ja.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Außenminister, Sie haben gerade ein paar Passagen aus dem Text vorgelesen, der hier zur Abstimmung steht, allerdings nicht aus dem Teil, über den abgestimmt werden soll. Können Sie bestätigen, dass die Bedingung, die die SPD für ihre Zustimmung gestellt hat, im Beschlusstext des Antrags der Bundesregierung überhaupt nicht erfüllt wird und dass das, was Sie hier vorgelesen haben, sowie jede Zahl, die einen Abzug andeutet, lediglich in der Begründung des Regierungsantrags stehen?

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Ich will Ihnen kurz antworten. Sie sind doch nicht erst seit ein paar Wochen, sondern schon seit ein paar Monaten im Deutschen Bundestag. ({0}) Sie müssen doch wissen, Herr Kollege, bei allem Respekt, dass es immer so gewesen ist, dass wir einen Antragstext vorlegen und dass die Begründung natürlich auch die politische Einbettung dieses Antragstextes darstellt. Soll denn der Deutsche Bundestag ernsthaft beschließen, dass die Bundesregierung zuversichtlich sei? Ich glaube, hier sollte der Deutsche Bundestag etwas selbstbewusster sein. Wir haben eine Parlamentsarmee und keine Regierungsarmee. Deswegen hat dieser Deutsche Bundestag das letzte Wort; alles andere ist surreal. ({1}) Wir haben dann die Aufgabe, den Prozess, den wir hier hoffentlich gemeinsam oder jedenfalls mit großer Mehrheit verabschieden werden, in diesem Jahr handwerklich voranzubringen. Für die politische Lösung, die wir anstreben, haben wir im letzten Jahr drei wichtige Wegmarken gehabt: London, Kabul und die Konferenz in Lissabon. In diesem Jahr werden wir eine sehr wichtige Wegmarke bei uns in Deutschland haben, nämlich die Afghanistan-Konferenz in Bonn. Ich sage Ihnen voraus, dass diese Konferenz, die am Ende des Jahres stattfinden wird, die Schwerpunkte haben wird, um die es geht: die politische Lösung, Reintegration, auch Aussöhnung, den Dialog. In den Mittelpunkt dieser Afghanistan-Konferenz muss aber auch die Zeit ab 2014 rücken. Das war der Gedanke, bevor die Zwischenfragen gestellt worden sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer heute in Afghanistan den Eindruck hinterlässt, ab 2014 sei man dort auf sich allein gestellt, weil wir uns für die Menschen dort nicht mehr interessieren, sie könnten machen, was sie wollen, und sollten zusehen, wie sie klarkommen, der wird nur erreichen, dass es weder Fortschritte bei der guten Regierungsführung sowie bei der Bekämpfung des Drogenhandels und der Korruption noch Fortschritte im demokratischen Prozess geben wird, den wir alle wollen. Dann riskiert man, dass genau die Partner, die wir brauchen, um das Land auf Dauer sicher aufzubauen, nichts mehr mit uns zu tun haben wollen, weil sie anschließend um ihr Leben und das ihrer Familien fürchten müssen. Weil so etwas keine verantwortungsvolle Politik wäre, wollen wir einen Prozess der Übergabe der Verantwortung in Verantwortung. Man bringt etwas verantwortungsvoll zu Ende, was man gemeinsam im Bundestag beschlossen hat, und man enttäuscht nicht die Freunde, die man braucht, um mit Blick auf Terrorismus auch unsere eigene Sicherheit hier in Deutschland vergrößern zu können. ({2}) Wir haben im Rahmen unserer Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Koordination für Afghanistan übernommen. Ich werde deswegen regelmäßig hier im Deutschen Bundestag zu diesem Thema sprechen. Ich gehe davon aus, dass wir darüber regelmäßig in den Ausschüssen diskutieren werden. Ich kann Ihnen zusagen, dass ich Sie - Ihre Obleute und Ihre Repräsentanten -, wo immer ich kann, über die Fortschritte parlamentarisch auf dem Laufenden halten werde. Ich glaube, das konnten Sie in den letzten Monaten verfolgen; das soll so fortgesetzt werden. Ich glaube nämlich, dass eine breite Mehrheit im Deutschen Bundestag viel weniger eine Angelegenheit der Politik als eine klare Rückendeckung für die Frauen und Männer der Bundeswehr ist, die in Afghanistan ihren Kopf für unsere Freiheit und unsere Sicherheit hinhalten. ({3}) Eine solche breite Mehrheit ist auch für unsere internationalen Verbündeten, für unsere Bündnispartner wichtig, damit sie wissen: Das wird von der Politik in der Breite getragen. Man muss in der Politik bereit sein, Verantwortung zu übernehmen, selbst wenn es einen in den Umfragen vielleicht das eine oder andere Prozentpünktchen kostet. ({4}) Es geht erst einmal um die Sicherheit, die Freiheit, die Zukunft unseres Landes und Afghanistans. Meine Damen und Herren von der Opposition, von den Grünen, Sie sollten sich ein Beispiel an den Sozialdemokraten nehmen. Wenn ich das sage, sollte Sie das nachdenklich machen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Mützenich von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesaußenminister, ich weiß nicht, ob Sie gedacht haben, dass Sie die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, insbesondere deren Redner, mit so viel Lob irritieren könnten. Ich möchte aber zu Beginn sagen: Wir sollten bei solch einer bedeutenden Debatte schon den wichtigen Versuch unternehmen, gegenseitig Brücken zu bauen; das scheint mir bei dieser Frage dringend notwendig. Wir haben hier im Deutschen Bundestag schwierige Debatten über das Bundeswehrmandat erlebt; aber das, was sich die Bundesregierung in den letzten Wochen bei der Entwicklung dieses Mandates geleistet hat, war beispiellos: ({0}) Sie haben irritiert und provoziert; Sie haben sich in der Regierung zerstritten. Frau Bundeskanzlerin, ich frage Sie: Haben Sie in diesem Kabinett eigentlich eine ordnende Hand? ({1}) Wie werden Sie der Verantwortung gerecht, dass Sie bei dieser wichtigen internationalen Frage die Führung übernehmen müssen? Ich finde, Sie haben nicht nur das Parlament verunsichert, sondern auch die Bündnispartner. Das hat die deutsche Politik im letzten Jahr ausgemacht: Nach der Formulierung des Mandatstextes sind zwei Pressekonferenzen durchgeführt worden, auf denen zwei unterschiedliche Interpretationen vorgetragen wurden. Das halte ich bei diesem wichtigen Mandat nicht nur für ungewöhnlich, sondern auch für eine Zumutung. ({2}) Ich habe mich schon gefragt: Wollen Sie wirklich eine breite Zustimmung des Parlaments erreichen? Herr Bundesaußenminister, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie heute hier wichtige Feststellungen - hoffentlich für die gesamte Bundesregierung - getroffen haben. Wir werden in den Ausschussberatungen darüber reden. Leider waren Sie bisher nicht stark genug, um Querschüsse, insbesondere des Verteidigungsministers, zu verhindern. Ich habe mich gefragt, ob das Primat des Politischen, das beim Afghanistan-Mandat bisher Vorrang vor allem anderen hatte, im Kabinett einem Primat des Militärischen gewichen ist. Ich finde, hier müssen Sie das Vertrauen wiederherstellen. Es kann doch nicht sein, dass sich ein Verteidigungsminister hinstellt und sagt: „Ein Kabinettsbeschluss ist mir wurscht.“ Was ist das denn für ein Umgang mit der Öffentlichkeit, aber auch mit Ihnen im Kabinett! ({3}) Ich sage Ihnen: Am Ende ist es dieses Parlament, das die Bundeswehrsoldaten aus Afghanistan zurückführt, nicht irgendein einzelner Minister. Es handelt sich um eine Parlamentsarmee; das wird auch so bleiben. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns Sozialdemokraten war Afghanistan immer mit politischen Zielen verknüpft. Wir wollten, dass die Afghanen die Möglichkeit, auch die Chance haben, nach verheerenden Jahrzehnten sowjetischer Besatzung, Bürgerkrieg und Interventionen Afghanistan wieder aufzubauen. Aber das sind politische Ziele. Wir haben die Chance gesehen, dass diese politischen Ziele mit Präsident Obama und dann auch mit der Londoner Konferenz verbindlich werden und dann das Militärische dem untergeordnet wird. In dem wichtigen Beschluss, der noch gilt und jetzt durch das neue Mandat abgelöst werden soll, ist genau das aufgenommen worden, was wir diskutiert haben. Hier gebe ich Ihnen recht, Herr Bundesaußenminister: Das war für uns in der sozialdemokratischen Partei eine schwierige Debatte. Aber wir haben auf unseren Konferenzen über den zivilen Wiederaufbau gesprochen, wir haben über die Polizeiausbildung gesprochen. Wir wollten, dass die Sicherheitsverantwortung den afghanischen Streitkräften, den afghanischen Behörden übergeben wird, wir haben über Korruption gesprochen und viele andere Dinge. Das ist in den Beschluss aufgenommen worden. Nicht das Militärische hat im Vordergrund gestanden, sondern wir haben eine Verknüpfung haben wollen. Genau das, glaube ich, ist doch der Kern der Diskussion. ({5}) Leider, Herr Bundesverteidigungsminister, haben Sie davon abgelenkt. Ein Abzugsplan mit militärischen Zielen, das ist doch das Wichtige. Wir haben ein Signal in die Region, aber auch an die afghanische Regierung geben wollen: Sie müssen davon ausgehen, dass die internationale Gemeinschaft irgendwann die Verantwortung übergeben will. Das wird bis 2014 der Fall sein. Dieser Abzugsplan wird in den nächsten Tagen auch bei den Beratungen in den Ausschüssen eine Rolle spielen. ({6}) Dann kommen Sie daher und sagen, ein solcher Abzugsplan sei leichtfertig. Wollen Sie wirklich den Bündnispartnern Kanada, den Niederlanden und den USA, dem amerikanischen Präsidenten, Leichtfertigkeit unterstellen, wenn sie einen solchen Abzugsplan unterstützen? Diese Frage müssen Sie hier beantworten, und ich hoffe, dass der Verteidigungsminister dies gleich tun wird. Herr zu Guttenberg, ich glaube, Ihr Problem bei Afghanistan ist, dass Sie nur noch durch die militärische Brille schauen und versuchen, in der Öffentlichkeit allein ein militärisches Bild darzustellen. Das ist nicht mein Verständnis von einem Verteidigungsminister. Sie sind ein Zivilist, der aus meiner Sicht an dieser Stelle moderne Sicherheitspolitik mit den politischen Zielen verbinden müsste, die die internationale Gemeinschaft will. Diesen Eindruck hatte man beispielsweise bei Ihrem Auftritt bei Kerner - mir zumindest ist es so gegangen, als ich mir das angeschaut habe - nicht. Da ging es eben nicht um Kunduz, da ging es nicht um die Polizeiausbildung, da ging es nicht um die Skepsis der Afghaninnen und Afghanen. Das gehörte nämlich nicht zu Ihrer Show. Und das ist der entscheidende Punkt, den ich hier kritisiere. Ich glaube, Sie sind kein guter Sicherheitspolitiker, sondern Sie wandeln nur auf den Wegen alter Militärpolitik. ({7}) Ich glaube, das führt auch Sie in der Regierungskoalition auf einen falschen Weg. ({8}) Frau Bundeskanzlerin, ich möchte Sie zum Schluss Folgendes fragen: Sie haben sich ja sozusagen - ich weiß nicht, woran es liegt - diesem Trend ein bisschen unterworfen. Vielleicht hat das auch etwas mit Meinungsumfragen zu tun. Aber auch Sie scheuen sich ja nicht, das Wort „Krieg“ zu nennen, auch als Sie damals in Afghanistan gewesen sind. Der Bundesaußenminister hat im letzten Jahr nach meinem Dafürhalten zu Recht erklärt, dass es sich hier um einen bewaffneten internationalen Konflikt handelt, wenn man das Völkerrecht als Grundlage nimmt. Ich glaube, Sie sollten sich doch einmal die Frage stellen, ob Sie nicht eine Tendenz in der öffentlichen Diskussion unterstützen, die nach meinem Dafürhalten genau in die falsche Richtung geht. Wenn zum Beispiel der Vorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbandes, Herr Kirsch, sagt: „Was interessieren mich verfassungsrechtliche Spitzfindigkeiten?“, dann müssen wir doch dagegenhalten. ({9}) Die völkerrechtlichen Fragen stehen doch im Vordergrund einer solchen Diskussion. Ich glaube, das muss doch auch einer Kanzlerin ein bisschen durch den Kopf gehen. Wir werden in den kommenden Tagen streng darauf achten, ob Sie glaubhaft die politischen Ziele mit einem verbindlichen militärischen Abzugsplan verbinden wollen. Dann und nur dann können Sie mit einer breiten Unterstützung durch die SPD rechnen. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg. ({0})

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Mützenich, das Rednerpult scheppert noch. Ich danke Ihnen für die Feststellung, ein Zivilist zu sein. Das ist richtig. Bevor ich auf die Diskussion über das ISAF-Mandat und gerne auch auf die Punkte, die Sie, Kollege Mützenich, genannt haben, eingehe, darf ich noch einige Sätze zu drei Fällen sagen, die die Bundeswehr, aber auch die Öffentlichkeit in diesem Land beschäftigen. Hier gilt der ganz klare Anspruch, dass man rückhaltlos aufklärt, dass man die Dinge bewertet und man sie, wenn die Vorwürfe Tatsachen entsprechen sollten, abstellt und die entsprechenden, notwendigerweise harten Konsequenzen zieht. Das ist die Herangehensweise. Ich glaube, so sollte man solche Punkte angehen: nicht mit Vorverurteilungen, nicht mit irgendwelchen Mutmaßungen oder Vermutungen, sondern auf der Grundlage von Tatsachen. ({0}) In diesem Kontext darf ich auch sagen - auf der Tribüne sitzen heute Soldaten; sie wurden vom Kollegen Westerwelle bereits begrüßt -, dass in der Bundeswehr mehr als 300 000 Menschen arbeiten. Es ist nie auszuschließen, dass es auch mal zu Verfehlungen und zu Fehlern kommt. Daraus ein Pauschalurteil abzuleiten und gleichzeitig die großartigen Leistungen der anderen hinunterzuziehen, wäre aber vermessen. Auch das können wir nicht machen. ({1}) Ich darf auch deutlich machen, dass ich mich mit aller Entschiedenheit gegen Vorwürfe verwahre, meine Mitarbeiter oder ich hätten das Parlament vorsätzlich getäuscht oder Tatsachen vertuscht. Solche Verdächtigungen sind infam und fallen letztlich auf diejenigen zurück, die sie abgeben. Es geht auch weiterhin darum, dass wir die Dinge mit größtmöglicher Offenheit ansprechen und vortragen ({2}) und man einen vertrauensvollen Umgang miteinander pflegt. Diesen haben wir in den letzten Jahren grundsätzlich entwickelt. Auch heute fand diesbezüglich eine Obleuteunterrichtung statt. Ich glaube, das ist der richtige Weg. ({3}) - Ein Fall betrifft Afghanistan. Wenn man über Afghanistan spricht, ist es wichtig, über Tatsachen und nicht über Mutmaßungen zu sprechen, insbesondere dann nicht, wenn der Schutz eines Soldaten, der gerade Ermittlungen ausgesetzt ist, deswegen gefährdet sein könnte. Ich glaube, es ist notwendig, auch das zu sagen. ({4}) Was das ISAF-Mandat anbelangt, hat Kollege Westerwelle völlig zu Recht darauf hingewiesen, wie wichtig und stark das Signal ist, das wir heute geben; das begann mit der Regierungserklärung des Kollegen Niebel. Zum Bezugspunkt, lieber Kollege Mützenich: Es wäre verwegen, die Zukunft Afghanistans und die zukünftige Gestaltung Afghanistans nur durch die militärische Brille zu betrachten. Das würde zeigen, dass man glaubt, die Ziele in Afghanistan allein militärisch erreichen zu können. Das ist eine schiere Illusion. Das ist nicht machbar und nicht darstellbar. Das geht nur durch ein Zusammenwirken der Kräfte. Das geht nur, wenn die Entwicklungshilfe, also die zivile und diplomatische Herangehensweise, eine wirklich starke Säule darstellt. Ich kann nur sagen: Die ressortübergreifende Zusammenarbeit innerhalb des Kabinetts in den letzten Monaten ist besser als das, was wir in den Jahren vorher erlebt haben. ({5}) Dafür danke ich den Kollegen noch einmal. Das Zusammenwirken hinsichtlich der Zielsetzung Afghanistan ist erstklassig. ({6}) Im Übrigen führt der Verteidigungsminister die Truppe natürlich nicht heim. Das würde ich mir auch nie anmaßen, lieber Herr Kollege Mützenich. Es ist interessant, welche Zitatbrocken vermengt wurden. Aber der Verteidigungsminister gibt während eines Mandates immer wieder eine militärische Bewertung ab, so wie der Minister des Auswärtigen eine Bewertung der anderen Punkte - auch eine übergreifende Bewertung - vornimmt, so wie der Entwicklungsminister eine entwicklungspolitische Bewertung abzugeben hat. Das entspricht der Erwartungshaltung, die letztlich auch Sie an uns haben. Die NATO hat den in Lissabon und auf den Konferenzen in Kabul und London beschlossenen Strategiewechsel mittlerweile umgesetzt. Dieser Strategiewechsel trägt in meinen Augen erste Früchte. Das kann man wirklich sagen. Über meinen Fachbereich haben wir auch im letzten Jahr intensive Diskussionen geführt, etwa was das Konzept des Partnerings anbelangt. Das Konzept des Partnerings - als ein Ausbildungskonzept, als ein Schutzkonzept, ({7}) ja, auch als ein Konzept, um die Aufständischen letztlich aus ihren schon ergriffenen Räumen in andere Räume zu verdrängen - ist eines, das erfolgreich läuft. Mit den Ausbildungsleistungen sind wir im Zeitplan. Es ist sogar so, dass wir vor dem Zeitplan liegen. Ich glaube, das kann als ein Erfolg gewertet werden. Das ist ein Erfolg der Leistungen der militärischen wie der zivilen Kräfte vor Ort, ein Erfolg des Zusammenwirkens, und das funktioniert. ({8}) Wir haben natürlich Zielsetzungen zu erfüllen, auch ehrgeizige, ambitionierte Zielsetzungen. Wir haben in den letzten Monaten und im letzten Jahr gottlob auch eine Diskussion über realistische Ziele geführt: Was ist in Afghanistan erreichbar? Wann ist es erreichbar? Mit welchen Partnern ist es erreichbar? Vor diesem Hintergrund sage ich: Ja, 2011 wird für uns ein forderndes Jahr werden. ({9}) Präsident Karzai hat gesagt, er will diesen Prozess der Übergabe in Verantwortung, von dem der Kollege Westerwelle gesprochen hat, bis zum Jahr 2014 abschließen. Natürlich unterstützen wir ihn nachdrücklich in diesem Vorhaben; das versteht sich von selbst. Das Jahr 2011 steht für den Gedanken, dass niemand dauerhaft in Afghanistan bleiben will. Das ist ein Gedanke, der nicht nur uns und die Bevölkerung in diesem Lande umtreibt, sondern dieser Wunsch erfüllt natürlich auch die Menschen in Afghanistan. Gleichzeitig wäre es aber verantwortungslos, wenn wir jetzt unmittelbar und übereilt abziehen wollten. Das würde die jungen afghanischen Sicherheitskräfte zum jetzigen Zeitpunkt noch überfordern. Deswegen ist der Plan, die Ausbildung bis 2014 konsequent abzuschließen. Wir liegen im Plan; das habe ich Ihnen gesagt. Wir gehen unseren Weg zum Abzug. Ich teile ganz ausdrücklich die geäußerte Zuversicht, dass wir bereits in diesem Jahr mit einem ersten Abzug beginnen können. ({10}) Den Satz, den Guido Westerwelle vorhin verlesen hat, ({11}) kann man, wenn man irgendwo einen Streit hineinbringen will, so und so deuten. ({12}) Wir haben uns auf diesen Satz geeinigt. Er ist die Position der Bundesregierung. ({13}) Die Position der Bundesregierung enthält das Ziel und die Zuversicht, in diesem Jahr mit dem Abzug zu beginnen. Guido Westerwelle hat auch klar gesagt - das ist ein völlig logischer Ansatz -: wenn es die Lage erlaubt. ({14}) Wir tun alles dafür, dass es die Lage erlaubt. ({15}) Ich glaube, dieser Ansatz ist ehrgeizig. Lieber Kollege Mützenich, dieser Ansatz wird auch vom Zivilisten Karl-Theodor zu Guttenberg mitgetragen, und zwar aus Verantwortung für unsere Soldatinnen und Soldaten, denen ich von dieser Stelle aus für ihren Dienst ausdrücklich danken will. Sie haben die Anerkennung in diesem fordernden Einsatz verdient. Dieser Ansatz ist von der Verantwortung mitgetragen, dass wir immer auch sagen: Verantwortung haben wir auch für diejenigen, die dort verbleiben. Auch daran haben wir unsere Entscheidungen auszurichten. Es werden gemeinsam getragene und kluge Entscheidungen sein, die wir treffen, und solche, die endlich auch einer Perspektive für Afghanistan, die das Land verdient hat, die aber auch unsere Soldaten und unsere zivilen Helfer verdient haben, Ausdruck geben. Herzlichen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Schäfer von der Fraktion Die Linke. ({0})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Sprachrepertoire der Bundesregierung hat sich in den letzten Monaten beträchtlich erweitert. Da hört man Worte, für die die Linke in der Vergangenheit heftig angegangen worden ist; „weltfremd“ sind wir genannt worden: „Abzug der Truppen“, „Versöhnungsprozess“, „regionale Lösung“, „Selbstbestimmung“, ja, selbst „Verhandlungen mit den Taliban“ sind kein Tabu mehr. Aber wenn es um Afghanistan und die Menschen dort geht, dann muss eines klar sein: Rhetorische Wendungen sind nicht angesagt. Die Politik muss sich ändern, und zwar gründlich. Darauf kommt es an. ({0}) Leider findet man das im Handeln dieser Regierung nicht. Mit der jetzt zu beschließenden Entsendung der Bundeswehr wird der Eindruck erweckt, man verfolge einen Abzugsplan. Vorsicht! Man sollte das Kleingedruckte genau lesen. Nach 2014 möchte man nur keine Kampftruppen mehr im Lande haben. Ausbildungseinheiten sollen bleiben. Wie viele? Nobody knows. Es ist doch so, schon jetzt sollen sich die Truppen auf die Ausbildung der afghanischen Armee konzentrieren. Wo also liegt der Unterschied? Einen Generalvorbehalt hat man auch eingebaut. Der Abzug soll nur dann stattfinden, wenn bestimmte - in meinen Augen nicht sehr klare - Bedingungen erfüllt sind, zum Beispiel eine stabile Regierung in Kabul. Der Verteidigungsminister hat jetzt gesagt, ihm sei es völlig wurscht - ja, er hat wirklich „wurscht“ gesagt -, ob der Rückzug 2014 oder 2013, 2010 oder 2011 stattfinde, auf die Konditionierung komme es an. Im Klartext: Das kann noch um einiges länger dauern. Ich kann nur sagen: Ein eindeutiger, unmissverständliche Abzugsplan sieht anders aus, ({1}) und der müsste hier auch beschlossen werden. Es geht nicht um vage Ankündigungen und Versprechungen, sondern es geht darum, hier etwas konkret festzulegen und zu beschließen. Das ist der Punkt. ({2}) Man sieht daran auch, dass Ihre Politik nach wie vor auf der falschen Annahme basiert, die Rückholung der Truppen stünde am Ende eines politischen Friedensprozesses. Wenn es aber richtig ist, dass die Aufstandsbewegung so stark geworden ist, weil sie propagieren kann, sie wolle die Fremden aus dem Land werfen, und weil es eine Regierung gibt, die mit dieser im Bunde ist, die zudem noch sehr korrupt ist, dann wird umgekehrt ein Schuh daraus. Der unzweideutige Sofortabzug der NATO-Truppen ist Voraussetzung für eine politische Lösung. Und der sollte unverzüglich eingeleitet werden. ({3}) Das wäre verantwortliche Politik, lieber Kollege Westerwelle. Alle sagen jetzt, man könne diesen Krieg nicht militärisch gewinnen. Der Widersinn ist nur: Trotzdem setzen Sie weiter auf die militärische Karte, auf die offensive Aufstandsbekämpfung. Am Anfang waren es ein paar Tausend Soldaten in Afghanistan, zu Beginn des letzten Jahres waren es 90 000, heute sind es über 140 000 NATO-Soldaten. Auch die Bundeswehr hat immer mitgezogen, zuletzt die Aufstockung auf über 5 000, dann schwere Artillerie, bald auch Kampfhubschrauber. Vieles spricht dafür, dass das Bundeswehrkontingent bald auch noch um AWACS-Besatzungen aufgestockt werden wird und wir also ein Zusatzmandat bekommen. Um die Zustimmung des Hauses jetzt nicht zu gefährden, hat man gegenüber der NATO erst einmal abgewunken und gesagt: jetzt nicht. Aber das wird kommen. An der Stelle ein Wort an die lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Es genügt nicht, nur vor der Salamitaktik dieser Regierung zu warnen, man muss diese Strategie und diese Taktik auch einmal durchkreuzen, indem man Nein zu einem solchen Mandat sagt. ({4}) Es ist einfach nicht nachvollziehbar, dass man davon redet, jetzt müsse der politische Prozess in den Vordergrund gerückt werden, das Verhältnis Militär/Politik neu justiert werden, und dann mit Truppenaufwuchs, Aufrüstung und Kampfwertsteigerung um die Ecke kommt. Das geht einfach nicht. Offensive Aufstandsbekämpfung heißt eben auch: noch mehr Gefechte, noch mehr Waffeneinsatz, mit anderen Worten, noch mehr Tod und Zerstörung. Im letzten Jahr ist die Zahl der Toten und Verletzten noch einmal beträchtlich nach oben gegangen, nach den Zahlen der UNO allein bei den zivilen Opfern bis Oktober um 20 Prozent. Der Verteidigungsminister hat jetzt schon angekündigt, es werde noch heftigere Kämpfe geben, um die deutsche Öffentlichkeit auf diese Lage einzustimmen. Herr Minister, so wird das nichts mit dem Friedensprozess in Afghanistan. ({5}) Sehr geehrter Herr Verteidigungsminister, man wird den Krieg auch nicht dadurch gewinnen, dass man ihn gewissermaßen „afghanisiert“. Sehen wir einmal davon ab, was es bedeutet, in einem Land mit einer extrem schwachen Regierung einen Sicherheitsapparat von 400 000 Mann aus Militär und Polizei aufzubauen. Das wäre noch einmal ein gesondertes Thema. Entscheidend ist, dass diese Truppen auf ganz lange Sicht von außen Paul Schäfer ({6}) - namentlich den USA - bezahlt werden müssen und dass sie natürlich auch als entscheidendes Machtinstrument des dortigen Regimes, des Karzai-Regimes, angesehen werden. Deshalb ist die Warnung nicht unbegründet, die da sagt: Dieser Plan kann sich als Roadmap für einen fortgesetzten Bürgerkrieg erweisen. Deshalb sind wir entschieden dagegen. ({7}) Alle reden inzwischen davon, dass man mit den Gegnern reden müsse, sie in einen auszuhandelnden Friedensprozess einbinden müsse. Aber trotz dieser schönen Rhetorik klammern Sie sich an diese trügerische Hoffnung, mit militärischer Stärke könne man eine solche Lösung herbeizwingen. Anders wäre dieser Truppenaufwuchs nicht zu erklären. Und es bleibt eine Tatsache: Wenn Sie die Anführer nachts mit Drohnen und Spezialkommandos jagen, werden sie sich tagsüber nicht an den Verhandlungstisch setzen. Das ist widersinnig und muss beendet werden. ({8}) Es wäre also klug, sich stattdessen auf eine Verhandlungslösung zu fokussieren, die mit Waffenstillstandsvereinbarungen lokal und zentral eingeleitet werden müsste, um dann zu einem Gesamtarrangement zu kommen, das uns allen hier nicht schmecken wird. Das würde aber nicht mehr und nicht weniger bedeuten, als dass endlich die Waffen schweigen und ein kontinuierlicher Aufbau im Land entstehen kann. Das ist die Voraussetzung dafür. Es geht also um eine langfristig angelegte Entwicklungsarbeit mit den Schwerpunkten Bildung und Ausbildung. Das alles wird aber nur funktionieren, wenn der Krieg beendet wird. Das ist das A und O. ({9}) Wir sagen: Das ist ein mühsamer Prozess, der jetzt in Gang gebracht werden muss. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die UNO nicht länger mit einem Beobachterstatus auf der Rückbank sitzt. Es geht eben nicht nur um einen Deal zwischen der NATO und den Taliban, sondern es geht um einen umfassenden Friedensplan bzw. Friedensprozess, der alle Akteure und Kräfte in Afghanistan umfassen muss und ohne die sicherheitspolitische Einbindung der Anrainerstaaten nicht gelingen wird. Dies zu organisieren, sollte den Vereinten Nationen und niemandem sonst obliegen. Das ist der Punkt. ({10}) Es ist üblich geworden, einzugestehen, dass man Fehler gemacht hat. ({11}) Jetzt müssen praktische Schlüsse daraus gezogen werden, die darin bestehen - das sagt auch eine stabile Mehrheit in der Bevölkerung -, die Bundeswehr zurückzuziehen und sich auf den zivilen Aufbau und eine internationale politische Lösung zu konzentrieren. Das ist aussichtsreich. Ich finde, die Leute haben recht. Hören Sie auf sie! Danke. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Frithjof Schmidt von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Herr zu Guttenberg, als Reaktion auf Ihre Vorbemerkung eben: Wir glauben, dass wir als Parlament im Fall des toten Soldaten in Afghanistan vom Ministerium objektiv falsch unterrichtet worden sind, ({0}) und wir wollen wissen, warum. ({1}) Das wird noch weiter aufzuklären sein. Ich kann Ihnen nur sagen: Das, was Sie hier erklärt haben, genügt uns nicht. Das reicht nicht aus. ({2}) Jetzt komme ich zur Debatte des heutigen Tages. Ich finde es wichtig, dass wir uns heute Morgen viel Zeit genommen haben, um über den zivilen Wiederaufbau in Afghanistan zu sprechen. Das kommt oft zu kurz. Dabei sind gerade diese Anstrengungen entscheidend für die Zukunft Afghanistans. Herr Außenminister, etwas anderes ist dabei aber auch deutlich geworden: Durch diese merkwürdige Zweiteilung der Debatte, die wir heute hier erlebt haben - vormittags Entwicklungspolitik und ziviler Wiederaufbau, nachmittags, getrennt davon, militärisches Mandat -, wird eine Menge über die Koordinationsprobleme der Regierung ausgesagt. ({3}) Dass Sie es nach einem weiteren Jahr nicht geschafft haben, ein integriertes Mandat vorzulegen, in das auch die zivile und die politische Dimension aufgenommen wird, ist ein politisches Versagen; es tut mir leid. ({4}) Ich sage auch: Hätten Sie dem Vorschlag von uns und den Sozialdemokraten für eine gemeinsame, unabhängige Evaluierung des Einsatzes keine Absage erteilt, dann hätten wir nun wenigstens eine gemeinsame Lageeinschätzung. Ihre Absage an uns ist und bleibt ein schwerer Fehler. Nun zur politischen Frage, ob die Bundeswehr ein weiteres Jahr in Afghanistan bleiben soll. Unsere Antwort ist klar: Ja, das soll sie. Ein Sofortabzug der internationalen Truppen ist und bleibt unverantwortlich. Das wäre ein Treibsatz für einen offenen Bürgerkrieg in Afghanistan. Herr Außenminister, dass Sie meinen, ausgerechnet uns Grünen vorwerfen zu müssen, wir würden es uns in dieser Frage leicht machen, ({5}) ist sehr billig. Das sollten Sie eigentlich wirklich nicht nötig haben. ({6}) Trotz dieser Einschätzung sage ich: Ich - das gilt wohl auch für die Mehrheit meiner Fraktion - kann Ihrem Mandatstext, wie schon im letzten Jahr, nicht zustimmen. Wir sind mit einer Reihe von Punkten, wie sie im Mandat stehen - manches fehlt auch - nicht einverstanden. Vor einem Jahr sprach die Bundesregierung davon, man müsse sich eine Abzugsperspektive erarbeiten. Ein Jahr später streiten sich die zuständigen Minister darüber, und zwar öffentlich und ohne Ende. Was Sie sich als Bundesregierung in den letzten Wochen geleistet haben, ist schon einmalig. ({7}) Herr Außenminister, Sie haben ausgeführt, dass Sie 2011 mit dem Abzug beginnen wollen. Das nehmen wir sehr wohl zur Kenntnis. Der Verteidigungsminister hat Sie daraufhin quasi vom Feldherrenhügel herab abgekanzelt und erklärt, das sei ihm wurscht, nach dem Motto: Wann und wie meine Truppen abziehen, das bestimme doch wohl eher ich. Da lasse ich mir auch nicht von einem angeschlagenen Außenminister hineinreden. ({8}) Im Mandat haben Sie einen Satz aus 49 Wörtern gebastelt, um diesen Konflikt zu übertünchen. Sie haben ihn dankenswerterweise noch einmal vorgelesen. Am Ende dieses Satzes steht nur fest, dass bei Ihnen gar nichts feststeht. ({9}) „Die Bundesregierung ist zuversichtlich …, Ende 2011“ mit dem Abzug beginnen zu können, allerdings mit der Einschränkung: „soweit die Lage dies erlaubt“. Sie sind Könige des Konjunktivs. ({10}) Sie können nicht weiter ausweichen. Seit über einem Jahr beschwören Sie eine Abzugsperspektive. Legen Sie endlich einen konkreten, verlässlichen Plan vor. In anderen Ländern geht das doch auch. Sagen Sie, was Sie zwischen 2011 und 2014 machen wollen. Sagen Sie, wie die konkreten Schritte 2012 und 2013 aussehen sollen. Das wollen die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wissen. Nur so werden wir Druck auf die afghanische Regierung erzeugen, ihre Seite des Fahrplans einzuhalten. In Interviews sprechen Sie durchaus an, Herr Außenminister, dass dieser Mechanismus notwendig ist. Sie wissen es doch besser. Warum haben Sie sich in der Regierung auf den Kompromiss eingelassen? Nur so setzen wir der mittlerweile wohlbekannten Floskel „Dieses Jahr sind wir noch nicht so weit, aber im nächsten wird es besser“ ein strategisches Ende. Hören Sie im Übrigen auf, Unsicherheit über Ihre Absichten zu produzieren. Was ist denn nun mit dem Einsatz der AWACS-Flugzeuge? Sie, Herr Westerwelle, lassen erklären, das Thema sei für dieses Jahr vom Tisch, es folgt also kein Mandatsnachklapp in drei Monaten. Das ist doch die politische Frage. Aus dem Verteidigungsministerium heißt es, im Frühjahr dieses Jahres stehe eine erneute Prüfung an, also gibt es vermutlich doch einen Mandatsnachklapp in drei Monaten. Was gilt denn nun? Wir reden über ein Mandat, für das wir die Zustimmung für ein ganzes Jahr erteilen sollen. Bei dieser Frage spielen Sie ein Spiel. Das alles sieht nach Salamitaktik für eine mögliche Truppenaufstockung aus. Das ist das Gegenteil von Transparenz und Seriosität. ({11}) Herr Außenminister, Sie haben vor einem Jahr das Partnering neu in das Mandat eingeführt, ohne es klar zu definieren. Dazu war seitdem in Ihren Erklärungen kein Wort zu hören. Wir hatten die Befürchtung, dass das ein Prozess der schrittweisen Veränderung des Mandats für die Bundeswehr bedeutet, nämlich die Abkehr von ISAF als Stabilisierungseinsatz hin zu einer Strategie der offensiven Aufstandsbekämpfung. Ich muss leider feststellen: Diese Befürchtung hat sich weitgehend bewahrheitet. Damit haben Sie den deutschen Einsatz in Afghanistan auf einen falschen Weg gebracht. ({12}) Es gibt keine ausreichende Klarheit über den militärischen Auftrag und die politischen Ziele. Auch bei der Hilfe für den zivilen Aufbau gibt es höchstens bis 2013 Klarheit. Unsere Verantwortung für Afghanistan endet aber nicht mit einem Abzug der internationalen Truppen. Dafür brauchen wir eine Strategie, ein Konzept für die Fortsetzung der zivilen Unterstützung nach 2014. Statt ihres ewigen Streites könnte die Bundesregierung Initiative zeigen. Das wäre ein sinnvoller Beitrag für die Vorbereitung der Bonn-II-Konferenz Ende dieses Jahres. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Mützenich, ich habe heute von Ihnen eine neue Form der politischen Debatte gelernt, nämlich die entrüstete Zustimmung. ({0}) Das finde ich sehr interessant. Für Ihre Entrüstung habe ich politisch sehr großes Verständnis. Wir alle müssen sozusagen unsere Kartoffeln zusammenkriegen. Für die Zustimmung bedanke ich mich bei Ihnen ausdrücklich. ({1}) Wir sind jetzt zum zehnten Mal dabei, ein Mandat zu verlängern. Ich möchte an alle Kollegen und auch an die Öffentlichkeit sowohl hier, als auch andernorts, wo die Debatte verfolgt wird, appellieren, Folgendes zu verstehen: Wir verlängern nicht einfach ein weiteres Mal das Mandat für Afghanistan wie vielleicht 2006 oder 2007. ({2}) - Nein, das ist eindeutig nicht der Fall. Das möchte ich begründen. Wir haben heute, im Januar 2011, eine grundsätzlich andere Situation als vor einem Jahr. Mit den Stichworten London, Kabul und Lissabon haben wir in der NATO durch Versammlungen und Meinungsbildung auf der Ebene der Organisationen erstmals den Dreiklang einer gemeinsamen Vision, eines gemeinsames Ziels und gemeinsamer Strategien. ({3}) Wir definieren gemeinsame Maßnahmen, die wir auch durchführen. Es ist insofern ein Vierklang. Das ist neu. Deswegen gibt es jetzt auch erstmals die Perspektive eines Endes unseres militärischen Einsatzes, was Kampftruppen angeht. ({4}) Diese Differenzierung ist wichtig. Sie ist hier auch gemacht worden. Das ist völlig richtig. Das ist neu. Ich habe ein gewisses Verständnis dafür - ich gebe zu: ein marginales Verständnis -, dass man von Anfang an sagt, eine Beteiligung sei unter allen Umständen ausgeschlossen, weil wir nicht wissen, wann es zu Ende geht. Aber diejenigen, die eine verantwortliche deutsche Außen- und Sicherheitspolitik betreiben wollen, müssen spätestens jetzt erkennen: Die Bundesregierung hat getan, was sie tun konnte. Sie hat eine Perspektive entwickelt, wann der Einsatz zu Ende ist. Ich bitte Sie alle herzlich, dafür zu sorgen, dass wir diesen Entwicklungspfad der schrittweisen Entscheidungen von London Anfang 2010 bis zum 31. Dezember 2014 gemeinsam verantwortungsvoll gehen. Auf diesem Entwicklungspfad von London 2010 bis Ende 2014 gibt es bestimmte Zwischenstufen. Ich sage Ihnen aber ganz deutlich: Wichtig ist für mich die Perspektive 2014. Deshalb halte ich es fachlich und sachlich nicht für geboten, Herr Kollege Schmidt, dass Sie jetzt von der Bundesregierung verlangen, zu sagen, was sie im September 2013 machen will, und dass Sie verlangen, dass uns der Verteidigungsminister und der Außenminister sagen, welche Kapazitäten wir im Jahre 2013 brauchen. ({5}) Ich sage Ihnen ganz offen, Herr Schmidt: Das weiß die Bundesregierung nicht, und ich weiß es auch nicht. Ich weiß aber eines: Auch Sie wissen es nicht. Deshalb ist es völlig unsolide, dies zu tun. ({6}) Deshalb müssen wir den Pfad verfolgen, den wir gemeinsam in der Koalition beschlossen haben und dem Sie auch zustimmen können. Ich kann mich sehr gerne auf das beziehen, was ich im vergangenen Monat aus Ihren Reihen gehört habe, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Herr Erler hat sich dazu eingelassen, dass er bei einem Besuch in Afghanistan - ich glaube, es war im letzten Herbst - gesehen hat: Jawohl, es hat sich etwas verändert. Ich habe mit großem Interesse heute das Interview von Herrn Gabriel gelesen. Ich merke, dass das in Ihren Reihen diskutiert wird und dass Sie zu dem Schluss gekommen sind, mehrheitlich diesem Mandat zuzustimmen. Selbstverständlich wird auch in dieser Bundesregierung darüber diskutiert, was der richtige Weg ist. Es wird auch in dieser Bundesregierung und in dieser Koalition darüber diskutiert, wie die Worte im Mandat gewählt werden sollen. Das machen Sie doch genauso. Wichtig ist aber, wie Helmut Kohl sagte, was am Ende herauskommt. ({7}) Am Ende kommt heraus, dass das Mandat der Beschreibung entspricht und dass der Außenminister und der Verteidigungsminister heute wortgleiche Sätze vortragen und ein gemeinsames Konzept haben, das sie offensiv nach außen vertreten. ({8}) Das müssen wir im Deutschen Bundestag wissen. Darauf haben nicht nur Sie ein Anrecht, sondern auch wir, Herr Mützenich. Wir haben dasselbe Interesse, und wir sehen, dass die Bundesregierung nach Diskussionen hier gemeinsam auftritt. Insbesondere die Soldaten der Bundeswehr, aber auch die Öffentlichkeit haben einen Anspruch darauf, dass die Bundesregierung ein Konzept und einen Gesamtrahmen vorlegt, dass sie innerhalb dieses Gesamtrahmens verantwortungsvoll einzelne Schritte abarbeitet und etwas tut, was in der Vergangenheit nie in der Weise geschehen ist, nämlich in Zwi9614 schenberichten kritisch und selbstkritisch zu beobachten und beleuchten, was geschehen ist. Auch das ist im letzten Jahr erstmals geschehen. Insofern kann ich sagen: Meine Fraktion wird aufgrund dieser Situation diesem Mandat heute in voller Übereinstimmung zustimmen. Es wird einige geben, die sich anders verhalten werden; das wissen wir. Aber wir glauben, dass wir auf einem richtigen Pfad sind. Die Bundesregierung hat erstmals etwas erreicht, das es zuvor nicht gab. Das ist ein Fortschritt. Die Welt in Afghanistan ist nicht schön. Sie kann aber besser werden. Dazu wollen wir unseren Beitrag leisten. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Arnold, da Sie schon am Rednerpult stehen: Normalerweise werden die Redner aufgerufen. ({0}) - Ich habe Verständnis für Ihren Durst. Aber Sie sollen jetzt reden. ({1}) Herr Kollege Arnold von der SPD-Fraktion hat jetzt das Wort. ({2})

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, bitte gehen Sie gnädig mit mir um. Ich bitte um Entschuldigung. Herr Kollege Stinner, Sie haben mit der „entrüsteten Zustimmung“ einen netten Begriff geprägt, der deutlich machen soll, wie Sozialdemokraten dem Mandat zustimmen. Darf ich Ihnen etwas dazu sagen? - Meine Partei kann stolz darauf sein, wie sie mit der ernsten Situation in Afghanistan und dem schwierigen Auftrag der Soldaten umgeht. Ja, wir ringen mit uns - und zwar in der ganzen Breite unserer Partei -, manchmal sogar ein bisschen stellvertretend für unsere Gesellschaft und andere Parteien, denen es guttäte, genauer zu diskutieren. Ich komme noch darauf zurück. Aus der Diskussion ist bei uns die Erkenntnis erwachsen: Ja, auch im elften Jahr ist der Einsatz in Afghanistan nicht nur in militärischer, sondern vor allen Dingen auch in ziviler Hinsicht notwendig, weil er im Interesse der Welt und damit auch im Interesse Deutschlands liegt. Niemand will sich ausmalen, was in dieser ohnehin schon fragilen Region - unter anderem mit Pakistan als Nachbar und gefährdeten zentralasiatischen Staaten passieren würde, wenn Afghanistan zum zerfallenden Staat wird. Die Instabilität geht uns daher etwas an. Es ist richtig, unserem Auftrag dort gerecht zu werden. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Linken: Die Idee, dass die UNO Verantwortung in Afghanistan übernimmt und die Staatengemeinschaft beauftragt, in ihrem Auftrag dort zu handeln, bleibt richtig. Sie darf nicht diskreditiert werden. Das ist für uns genauso wichtig.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Arnold, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stefan Liebich von der Linken?

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte, Herr Liebich.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Arnold, Sie haben auf das Ringen innerhalb der SPD hingewiesen. Deshalb möchte ich Ihnen gerne die gleiche Frage stellen wie vorhin dem Bundesaußenminister. Die SPD hat - für die Öffentlichkeit relativ klar - gesagt, dass sie einer Mandatsverlängerung erneut zustimmen wird, wenn diese beinhaltet, dass der Abzug im Jahr 2011 beginnt. Nun habe ich gedacht, dass ich etwas von dieser Bedingung in dem Beschlusstext - ich meine nicht die politische Einbettung -, über den wir abstimmen werden, wiederfinden werde. Ich habe davon nichts wiedergefunden. Deshalb interessiert mich, wie Sie nach Ihrem Ringen zu der Einschätzung gekommen sind, dass Sie nunmehr, nachdem Ihre Bedingung nicht erfüllt wurde, der Mandatsverlängerung zustimmen wollen.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie müssten eigentlich wissen, dass erstens zum Beschluss auch die Begründung gehört und dass das zweitens Beschlusslage der NATO ist, auch die Zielperspektive 2014. Die Amerikaner haben als größter Truppensteller diese Perspektive sehr deutlich aufgezeigt und werden Mitte des Jahres beginnen. Die KarzaiAdministration hat ebenfalls dieses Ziel formuliert. Zum Glück liegt es nicht im Ermessen des Bundesministers der Verteidigung, ob wir den Einstieg in den Rückzug schaffen, sondern an der Beschlusslage und in der Einsicht der Staatengemeinschaft. Deshalb bin ich ganz gelassen. ({0}) Die Bundesregierung hat eine Brücke gebaut. Natürlich kann man immer darüber streiten, ob eine Formulierung nicht noch verbessert werden kann. Herr Außenminister, wir könnten uns im Vorfeld von Mandatsdiskussionen durchaus eine größere Gesprächsbasis vorstellen. Da sind wir bisher nicht immer ganz glücklich. Aber dieses Mandat zeigt die richtige Richtung auf. Im Übrigen, Herr Kollege, ist 2014 das entscheidende Jahr. Dies ist auch nicht konditioniert, ({1}) sondern Beschlusslage der Staatengemeinschaft. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! ({2}) - Nein. Ich brauche nicht den Außenminister zu verteidigen. ({3}) Herzlichen Dank für Ihre Zwischenfrage, Herr Liebich. Ich komme auf meine Rede zurück. Eines wurde heute schon sichtbar - viele Vorredner haben darauf hingewiesen -: Ein einfaches Weiter-so in Afghanistan würde nicht zum Erfolg führen. London und die folgenden Konferenzen haben doch dazu geführt, dass endlich Ernst gemacht wird, dass alle bei allem mehr tun, dass man nicht mehr auf den anderen wartet, dass er das liefert, was er zugesagt hat. Allerdings ist auch ganz wichtig, dass wir erkennen: Unsere Anstrengungen im Zuge dieser veränderten Strategie brauchen auch das Jahr 2011, um zu greifen. Wir brauchen Zeit dafür. In diesem Jahr wird man sehen, ob die Weichenstellungen in die Richtung führen, die wir uns alle wünschen, nämlich hin zu mehr Stabilität und hin zu mehr Möglichkeiten des Aufbaus. ({4}) Ganz wichtig ist auch, dass man bei der London-Konferenz endlich erkannt hat, dass es nicht nur um die Säulen der Stabilität und des zivilen Aufbaus geht, sondern im Zentrum die dritte Säule steht, nämlich der politische Prozess. Dies gilt sowohl für den regionalen Prozess in Afghanistan - dabei können wir uns mehr Aktivitäten der Regierung vorstellen - als auch für den Versöhnungsprozess, den die Gesellschaft in Afghanistan selbstverständlich braucht, damit sie Menschen, die des Geldes wegen bei den Aufständischen schießen, zurückgewinnen kann. All dies sind also vernünftige Entscheidungen. Interessant ist allerdings Folgendes. Die Debatte, in der wir Sozialdemokraten dies alles vor einem Jahr hier in Berlin diskutiert haben, in der wir definiert haben, dass man im Jahr 2011 den Einstieg schaffen und im Jahr 2014 den Prozess abschließen muss, hat der Bundesverteidigungsminister als leichtsinnig bezeichnet. Dies haben Sie, Herr Minister, in vielen Interviews gesagt. Ist also Obama, ist also die Staatengemeinschaft leichtsinnig? Wie gehen Sie eigentlich mit diesem Thema um? Wenn wir zustimmen, stimmen wir nicht wegen des Verteidigungsministers, sondern trotz des Verteidigungsministers zu. ({5}) Kann man von einem Verteidigungsminister, der erklärt, ihm sei all das wurscht, ernsthaft erwarten, dass er sich anstrengt, dass all das, was wir hier miteinander diskutieren, dann tatsächlich zum Tragen kommt? Herr Minister, um Erfolg in Afghanistan zu haben, ist auch Vertrauen in den Prozess nötig, und zwar bei den Menschen hier in Deutschland und vor allen Dingen bei den Menschen in Afghanistan. Sie müssen wissen, was bei der Verantwortungsübernahme auf sie zukommt. Deshalb darf ein Minister nicht sagen, dieser Prozess und die Frage, ob auf politische Aussagen Verlass sei, seien ihm wurscht. Herr Minister, Sie selbst haben heute diese drei aktuellen Fälle bei der Bundeswehr angesprochen. Ja, es sind Einzelfälle. Es genügt aber nicht, wenn der Verteidigungsminister auffordert, diese Fälle aufzuklären. Der Verteidigungsminister und kein anderer ist der Verantwortliche für die Aufklärung. ({6}) Herr Minister, wir haben ja heute Morgen in dem von Ihnen angesprochenen Obleutegespräch miteinander diskutiert. Sie sagen, im Prinzip hätten Sie die Öffentlichkeit richtig informiert, und in den Fällen, in denen das Parlament unvollständig informiert wurde, hätten zwei führende Militärs die Verantwortung übernommen. Jenseits der Frage, wie man die schlechte Informationspolitik ganz genau bezeichnet, ist festzuhalten: Das ist typisch für Ihre Vorgehensweise. Wenn es unbequem wird, legen Sie die Verantwortung anderen auf die Schulter. ({7}) Herr Minister, eine unvollständige Information ist eine Halbwahrheit. Das ist für uns ein sehr ernstes Thema, auch wegen Afghanistan. Wir Sozialdemokraten wollen mithelfen, das über das Thema Afghanistan in der deutschen Gesellschaft diskutiert wird. Wir wollen die Menschen möglichst mitnehmen und ihnen erklären, dass dieser Einsatz richtig und notwendig ist. Das wird uns aber nur dann gelingen, wenn die Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, dass wir als Parlamentarier - dabei sind Sie genauso angesprochen wie wir - wissen, über was wir reden, und dass die Bundesregierung uns zeitnah, korrekt und umfassend informiert. Dann schaffen wir Vertrauen in den Afghanistan-Einsatz. Dies hat die Bundesregierung in den vergangenen Wochen leider nicht geleistet. ({8}) Entscheidend ist, dass das Vorhaben in Afghanistan gelingt. Ich sehe eine ernsthafte Chance, dass die beschlossenen Maßnahmen in den nächsten Monaten weitere Erfolge zeitigen werden. Afghanistan ist nämlich nicht überall schlecht. Afghanistan muss man sehr differenziert betrachten: Es gibt sehr negative Nachrichten, aber auch Entwicklungen, die Hoffnung und Mut machen. Dies bestätigen die Menschen auch bei den Umfragen in Afghanistan. Ich sage ganz eindeutig: Könnten wir eigentlich einem Mandat zustimmen, wenn wir nicht eine ernsthafte Chance auf Erfolg sehen würden? Es wäre nicht zu ver9616 antworten, Soldaten, denen wir Respekt und Anerkennung schuldig sind, in einen Einsatz zu schicken, wenn wir nicht die Perspektive hätten, dass es am Ende gelingt. Das Gelingen muss man allerdings richtig definieren. Dabei gab es in den vergangenen zehn Jahren das eine oder andere Missverständnis. Gelingen in Afghanistan heißt nicht, militärisch den Terror zu besiegen. Das wird nicht gelingen. Gelingen in Afghanistan heißt, Terror zurückzudrängen, jetzt zunehmend zusammen mit den Afghanen; dort ist man schon so weit. Gelingen in Afghanistan heißt außerdem, die Zeit zu nutzen und den Afghanen zu helfen, damit sie im Jahr 2014 mit den Problemen, die es dort dann selbstverständlich noch geben wird, selbst umgehen können. Das ist das Ziel. Ich glaube, dieses Ziel ist erreichbar. Dass es erreicht wird, ist für uns alle extrem wichtig. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Schmidt, ich möchte zunächst einmal in aller Form, aber ganz klar Ihre Unterstellung zurückweisen, der Minister habe hier das Parlament falsch unterrichtet. ({0}) - Nein, er hat gesagt, er habe es falsch unterrichtet. Herr Arnold, Sie haben von unvollständig gesprochen. Weder das eine noch das andere ist richtig. - Der Minister hat das Parlament und die Öffentlichkeit vollständig über die Tatsachen unterrichtet, die ihm vorlagen und die bisher ermittelt worden sind. ({1}) Ich möchte insbesondere darauf hinweisen, dass nach dem Tod des jungen Soldaten am 17. Dezember bereits am 18. Dezember in Afghanistan, während der Herr Minister noch vor Ort war, die Unterrichtung erfolgt ist und dass jetzt zunächst einmal die Staatsanwaltschaft ermittelt. Sie versucht, die Tatsachen herauszufinden. Das muss abgewartet werden. Erst wenn das geschehen ist, ist der Zeitpunkt da, an dem der Minister über weitere Tatsachen unterrichten kann. Ich erwarte von einem Minister, dass er das Parlament nicht über Spekulationen unterrichtet, sondern dass er über Fakten spricht. Das hat er zu jedem Zeitpunkt getan.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Friedrich, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Keul?

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich erlaube keine Zwischenfrage. Herr Schmidt, lassen Sie mich noch etwas zu dem Thema AWACS sagen. Die NATO hat beschlossen, die Luftraumüberwachung in Afghanistan zunächst für 90 Tage mit AWACS-Flügen zu verbessern. Der erste Flug hat bereits am 15. Januar stattgefunden. Zurzeit gibt es aber keinerlei Notwendigkeit dafür, dass sich Deutschland mit Personal an diesem Einsatz beteiligt. Insofern ist es auch gar nicht notwendig, dass wir ein Mandat für diesen Bereich erteilen oder darüber diskutieren. Ich will nun das aufgreifen, was der Kollege Arnold am Schluss gesagt hat. Natürlich müssen wir bei jeder Mandatsverlängerung hier im Deutschen Bundestag auch die Fragen der Öffentlichkeit beantworten. Die eine lautet: Was sind die Abzugsperspektiven? Das ist heute schon erörtert worden. Wir müssen aber auch immer wieder fragen, wie Herr Kollege Arnold es getan hat: Warum sind wir eigentlich in Afghanistan? Es gilt unverändert das Ziel, das schon vor fast zehn Jahren vonseiten des grünen Außenministers Fischer und des damaligen SPD-Bundeskanzlers Schröder umrissen worden ist: Mit Blick auf die Menschen, die über viele Jahre unter diesem grausamen Regime gelitten haben, ist unbedingt zu vermeiden, dass das Unrechtsregime der Taliban nach Afghanistan zurückkommt. Kollege Arnold hat auf ein zweites wichtiges Ziel hingewiesen. Afghanistan liegt an einem Knotenpunkt zwischen vier Atommächten: Russland, China, Indien und Pakistan, wobei Pakistan sich in einer außerordentlich schwierigen, höchst fragilen politischen Situation befindet. Es liegt nicht nur im Interesse der Mächte vor Ort, sondern auch im weltweiten Interesse, dass diese Region stabil wird und in Zukunft stabil bleibt. ({0}) Das ist ein entscheidender Punkt. Er hat dazu beigetragen, dass die Völkergemeinschaft - dazu gehören nicht nur die Deutschen, die Amerikaner, die Franzosen und die Engländer - die Entscheidung getroffen hat, mit dem Mandat, das im Oktober vergangenen Jahres noch einmal bekräftigt worden ist, 46 Nationen zu beauftragen, in Afghanistan für die Stabilität zu sorgen, die notwendig ist, um weltweit Sicherheit, also auch in Deutschland, garantieren zu können. Ich glaube, das ist etwas, was man bei der Diskussion um Afghanistan immer wieder in den Vordergrund stellen muss. Es geht aber auch um die Übergabe in Verantwortung, so wie es im Grunde in London zu Recht als nächster Schritt der Stabilisierung vereinbart worden ist. Diese Übergabe in Verantwortung findet statt. Der Minister hat das, glaube ich, sehr umfangreich ausgeführt. Oft wird gesagt: Nichts ist gut in Afghanistan. - Es ist vieles in Afghanistan gut geworden. Es ist gut, dass es, nachdem die Schulen zerstört waren und Mädchen und Frauen bis 2001 keinen Unterricht in Schulen erhalten Dr. Hans-Peter Friedrich ({1}) konnten, jetzt gelungen ist, 3 500 Schulen zu bauen, und dass sich die Zahl der Schüler auf 7 Millionen verfünffacht hat, darunter ein Drittel Mädchen. Wir haben heute Morgen in einer langen Debatte gehört, was in Afghanistan alles gut geworden ist. Es ist noch nicht alles gut, und es muss noch an vielem gearbeitet werden, aber vieles ist gut geworden, auch dank unserer Soldatinnen und Soldaten. Ihnen gebührt unser Dank, den wir ihnen immer wieder ausdrücken sollten. ({2}) Was die Abzugsperspektive angeht: Sie ist sehr konkret und sehr klar. ({3}) Abzug findet in dem Maße statt, wie es möglich ist, Verantwortung auf die afghanischen Kräfte zu übertragen. ({4}) Es geht darum, dass eine Armee von 171 000 Soldaten aufgebaut wird. Das wird zu schaffen sein im Rahmen des jetzt zu erteilenden Mandates. Es geht darum, dass 134 000 Polizisten in Amt und Würden eingesetzt werden und ihre Aufgabe wahrnehmen können. ({5}) Das wird sich in den nächsten zwölf Monaten im Rahmen des Mandats realisieren lassen. Dann kommt es auf die Entwicklung vor Ort an. ({6}) Es wäre schön, meine Damen und Herren, wenn Sie sich ein bisschen in die Situation der Bevölkerung von Afghanistan versetzen würden. ({7}) Der Außenminister hat heute versucht, Sie ein bisschen in die Gedankenwelt der Menschen einzuführen, die auch durch Gerede im Westen über Abzugsperspektiven und Zeitpunkte verunsichert werden, ohne dass dies davon abhängig gemacht wird, dass Fortschritte erreicht wurden und die Sicherheit der Menschen dort gewährleistet ist. Das muss das entscheidende Kriterium sein. So gehen wir auch vor. Wir stehen hinter dem Einsatz unserer Soldaten, die mit sehr viel persönlichem Engagement und persönlichem Risiko, aber auch mit hoher Professionalität dort agieren. Angesichts dessen, dass sich die Soldaten dort mit der Kultur des Landes und dem Denken der Menschen auseinandersetzen, merkt man, dass sie ihre Aufgabe verinnerlicht haben und sie ernst nehmen, eine Aufgabe, die dem Frieden und der Freiheit der Menschen dort und in der ganzen Welt dient. Ich bin sehr froh - das möchte ich ausdrücklich in Richtung der Sozialdemokraten sagen -, dass es uns über die Grenzen der Koalition hinaus gelingen kann, eine Zustimmung zu diesem Mandat zu bekommen; denn wir müssen bei allem innenpolitischem Hickhack, das zwischen Regierung und Opposition notwendig ist, gemeinsam an einem Strang ziehen, wenn es darum geht, festzustellen, was die sicherheits- und außenpolitischen Interessen unseres Landes sind. Das muss über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg möglich sein. Insofern bedanke ich mich für die verantwortungsvolle Debatte, die vonseiten der Sozialdemokraten geführt wird. Ich hoffe, dass wir am 28. Januar, wenn es zur Abstimmung kommt, als Demokraten zusammenstehen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Katja Keul von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Bitte schön.

Katja Keul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004067, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Herr Kollege Friedrich, Sie hatten zu Beginn Ihres Debattenbeitrags gesagt, die Opposition beschwere sich zu Unrecht, dass das Parlament falsch über den Vorfall vom 17. Dezember informiert worden sei. Das sei möglicherweise lediglich unvollständig, aber nicht falsch gewesen. Ich möchte Sie daher darüber aufklären, dass es in dem Wortlaut der Unterrichtung des Parlaments vom 21. Dezember dazu wörtlich heißt: Am Abend des 17.12.2010 wurde in einem Außenposten des PRT in Pol-i-Khumri ein deutscher Soldat mit einer Schusswunde aufgefunden. Uns wurde dazu erklärt, es habe sich dabei möglicherweise um einen Unfall beim Reinigen einer Schusswaffe gehandelt. Wenn davon gesprochen wird, dass jemand aufgefunden worden ist, dann wird damit etwas anderes angedeutet, als dass jemand in Anwesenheit von zehn Augenzeugen durch Fremdverschulden zu Tode gekommen ist. Zu dem Zeitpunkt, als wir diese Unterrichtung bekommen haben, wusste Minister Guttenberg bereits - das hat er inzwischen erklärt -, dass es sich um ein Fremdverschulden und nicht um ein Eigenverschulden handelte. Was ist das also anderes als eine Fehlinformation? ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kollege Friedrich zur Erwiderung. - Bitte schön.

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob Sie hin und wieder auch die Zeitung lesen. ({0}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({1}) Ich habe bereits am 18. Dezember in der Zeitung gelesen - das wurde auch von keiner Seite bestritten -, dass der Soldat durch Fremdeinwirkung zu Tode gekommen ist. Was wollen Sie denn noch? ({2}) Die deutsche Öffentlichkeit ist insgesamt über diesen Umstand der Fremdeinwirkung unterrichtet worden. ({3}) Dass natürlich Einzelheiten, die am Ende auch strafrechtlich relevant sein können, zunächst von der Staatsanwaltschaft untersucht werden und dass man zunächst einmal in internen, nur für den Dienstgebrauch vorgesehenen Dokumenten der Sache nachgeht, ist doch eine Selbstverständlichkeit. ({4}) Ich erwarte auch, dass wir den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nicht vorgreifen, sondern ihr Raum geben, das zu tun, was ihre Aufgabe ist. Darauf kommt es an. Das alles ist erfolgt. Insofern gibt es da keine Versäumnisse. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort dem Kollegen Philipp Mißfelder von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich werbe, wie meine gesamte Fraktion und die Kolleginnen und Kollegen der Liberalen, für eine möglichst breite Unterstützung dieses Hauses. Wir haben den Einsatz auch in verschiedenen Ausprägungen von Mandaten durchweg unterstützt. Aber wir haben auch immer ein Fragezeichen hinter die Grundsatzentscheidung gesetzt, durch die dieser Einsatz zustande kam. Zumindest für die diejenigen in der Union, die sich damit heute im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik federführend beschäftigen, kann ich hier feststellen: Unsere Aufgabe ist es jetzt nicht, den Einsatz auszuweiten, sondern unsere Aufgabe ist es jetzt, einen Einsatz, der kopflos mit einem Einmarsch begonnen hat, heute besonnen zu Ende zu führen. In diesem Spagat bewegt sich auch dieses Mandat. Die schwierige Aufgabe, die sich stellt, ist natürlich der schwierigen Situation in Afghanistan geschuldet, aber auch den früheren Versäumnissen. Für Einsätze, die dieses Haus vielleicht zukünftig beschließt, ist es demnach eine wichtige Sache - das betrifft uns alle hier, aber insbesondere natürlich die Fraktionen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung die Regierungsverantwortung tragen -, sich zu Beginn eines Einsatzes deutlich vor Augen zu führen, welche Exit-Strategie man hat und unter welchen Konditionen man wieder aus der Aufgabe herauskommt. ({0}) Das ist eine der wichtigen Lehren, die man bereits heute aus dem Afghanistan-Einsatz ziehen kann. Das hätte man bei dem Mandat damals schon bedenken können. ({1}) Ich war überrascht, dass vorhin kritisiert worden ist, dass es in der heutigen Plenarsitzung zwei Debatten zu Afghanistan gibt. Herr Schmidt hat gesagt, man hätte das irgendwie zusammenfassen können. Wenn das so gesehen wird, können wir uns eigentlich die Debatte in der nächsten Woche sparen. Am 16. Dezember letzten Jahres haben wir den Fortschrittsbericht diskutiert. Heute morgen haben wir ausführlich und unter großer Beteiligung über den zivilen Aufbau diskutiert, und jetzt diskutieren wir in erster Lesung über das Mandat. Diese Diskussion werden wir in der nächsten Woche fortsetzen. Ich finde es gut - ich glaube, dass das zur Demokratie und gerade auch unserer parlamentarischen Tradition gehört -, dass bei einer so schwierigen Fragestellung wie der der Entsendung von Soldaten ins Ausland das Parlament sich fortlaufend mit allen Aspekten beschäftigt und so ein Höchstmaß an Transparenz der Entscheidungsfindung gewährleistet. ({2}) Von Herrn Arnold wurde gesagt, er würde sich mehr regionale Kooperation und auch politische Initiativen in dieser Hinsicht wünschen. Es hat in den vergangenen zwölf Monaten starke Initiativen gegeben! Die Wahrheit ist doch, dass es heute kaum eine außenpolitische Diskussion gibt, die wir als Politiker bzw. als Parlamentarier mit Partnern und Freunden, auch mit strategischen Partnern im Ausland, führen, in der nicht über die Frage von Afghanistan gesprochen wird. Selbstverständlich spielt das bei nahezu allen wichtigen internationalen Konferenzen eine große Rolle. Die Deutschen sind dabei führend. Es wird auch wahrgenommen, dass unser Strategiewechsel Erfolg hat. Gerade das, was wir Deutsche in den Bereichen Ausbildung und ziviler Wiederaufbau leisten, wird weltweit anerkannt und mit Respekt bedacht, gerade von unseren Partnern in der NATO. Wie erklären Sie sich sonst, dass Länder, die eigentlich angekündigt hatten, dass sie aufgrund des innenpolitischen Drucks nicht mehr mitmachen wollen, jetzt sagen: „Wir unterstützen die von den Deutschen ausgegebenen Ziele, und deshalb sind wir bereit, uns weiterhin an dem Einsatz zu beteiligen und ihn zu unterstützen“? - Für ihre Unterstützung bedanke ich mich natürlich bei diesen Ländern. Es ist von daher wichtig, hier ein kraftvolles Zeichen zu setzen. Ich hoffe, dass wir mit einer großen Mehrheit in der nächsten Woche das Mandat verlängern. Damit untermauern wir den Strategiewechsel und vergrößern unsere Erfolgsaussichten in Afghanistan. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4402 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Aufgaben und Zusammensetzung der Altersarmutskommission - Altersarmut umfassend und mit den richtigen Mitteln bekämpfen - Drucksache 17/4422 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Matthias Birkwald von der Fraktion Die Linke das Wort. ({1})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit mehr als einem Jahr steht der schwarz-gelbe Beschluss, eine Kommission zur Altersarmut einzusetzen, im Koalitionsvertrag. Im kommenden April soll sie ihre Arbeit aufnehmen. Erst im September 2012 wird der Abschlussbericht vorliegen. ({0}) Das ist viel zu spät. Meine Damen und Herren aus Union und FDP: Trödeln Sie nicht rum! Legen Sie einen Zahn zu und den Abschlussbericht deutlich eher vor! ({1}) Bereits heute gibt es Armut im Alter. In Zukunft werden davon leider noch mehr Menschen betroffen sein. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, sprechen in Ihrem Koalitionsvertrag von der „Gefahr einer ansteigenden Altersarmut“. Ihnen ist auch bekannt, dass die Menschen im Osten besonders gefährdet sind, künftig im Alter in Armut zu leben, weil die Löhne zu niedrig und die Arbeitslosigkeit zum Teil doppelt so hoch ist wie im Westen. Frauen waren, sind und werden auch in Zukunft weiterhin besonders stark von Altersarmut betroffen sein. Menschen, die von Erwerbsminderungsrente leben müssen, werden ebenfalls sehr häufig Renten unterhalb des Existenzminimums beziehen. Auf Ihrem Parteitag im November vergangenen Jahres haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, klar eingeräumt, dass Altersarmut politische Ursachen hat. Sie geben zu, dass Altersarmut eine Folge des abgesenkten Rentenniveaus und eine Folge niedriger Löhne ist. Sie wissen das alles, und trotzdem verschärfen Sie das Problem, anstatt es zu lösen. Kommen Sie endlich in die Gänge und tun Sie etwas gegen die Altersarmut! ({2}) Ich weiß, Sie wollen es nicht mehr hören, aber richtig ist es trotzdem: Nehmen Sie die Rente erst ab 67 zurück! Führen Sie einen gesetzlichen Mindestlohn ein, und stellen Sie die Weichen für gute statt wie bisher für mies bezahlte Arbeit! ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Regierung kann oder will ja noch nicht einmal genau sagen, was sie nun genau unter Armut versteht. Schwarz-Gelb will, dass die Kommission eineinhalb Jahre lang berät, aber kann oder will nicht sagen, worüber und mit wem eigentlich. Genau hier setzt der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke an. Die Linke will, dass die Menschen ein würdiges Leben im Alter führen können. Wir nehmen das Problem Altersarmut sehr ernst. Deshalb sind uns die Zusammensetzung und die Aufgaben der Altersarmutskommission wichtig. Ich will hier nur einige unserer Forderungen nennen: Die Linke will die Kommission aus den Hinterzimmern der Ministerien an die Öffentlichkeit bringen. Deshalb müssen alle Parteien genauso wie Gewerkschaften, Sozialverbände, Seniorenorganisationen sowie Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft der Kommission angehören und nicht ausschließlich Regierungsmitglieder und Ministerialbeamtinnen und -beamte. Dass die Kirchen dazugehören, hat der Herr Staatssekretär freundlicherweise schon erklärt. Wir wollen, dass die gesetzliche Rente wieder den einmal erreichten Lebensstandard sichert und dass sie vor Armut schützt. ({4}) Deshalb soll die Kommission entsprechende Reformund Finanzierungsvorschläge entwickeln. Erstens. Die Linke will eine solidarische Alterssicherung. Darum soll die Kommission prüfen, wie die Rente zu einer solidarischen Erwerbstätigenversicherung ausgebaut werden kann. Alle Erwerbstätigen - sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Beamtinnen und Beamte, Politiker und Politikerinnen und selbstverständlich auch Selbstständige sollen einbezogen werden. Zweitens. Die Linke will, dass Altersarmut nicht nur mit einer guten Rentenpolitik, sondern ebenso mit einer guten Arbeitsmarktpolitik bekämpft wird. Kurz und gut: Es geht um gute Arbeit, gute Löhne und gute Rente. ({5}) Deshalb soll die Kommission Vorschläge entwickeln, wie Frauen und Männer Familie und Beruf künftig besser vereinbaren können. Hierzu zählt auch, Zeiten der Pflege und der Erziehung besser in der Rente zu berücksichtigen. Nicht zuletzt wollen wir, dass die Kommission die Situation in Ostdeutschland ganz besonders im Blick hat. Ich fordere die Kommission auf, Vorschläge zu machen, wie die Menschen vor der bereits heute laut rauschenden Welle von Altersarmut in Ostdeutschland geschützt werden können. Denn das Ziel muss sein, dass alle Menschen in Deutschland in Würde alt werden können - in Köln und in Greifswald. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das von Ihnen eingebrachte Thema lautet: Aufgaben und Zusammensetzung der Altersarmutskommission. Ich möchte eines vorausschicken. Im Koalitionsvertrag haben wir uns einiges vorgenommen und angekündigt, einige Änderungen anzugehen: Viele Dinge hat man am Anfang belächelt, unter anderem auch, dass wir diese Kommission zu diesem Zeitpunkt einsetzen wollen, der jetzt noch so steht. Jetzt steht dieses Versprechen vor der Einlösung. Aber zuvor haben wir auch einige andere - ich würde sagen - dicke Bretter gebohrt und sind damit schon auf dem Weg. Vieles von dem, was angekündigt war, ist angegangen worden und zum Teil schon durchgesetzt worden. Die Wirtschaftskrise ist fast vergessen. Natürlich haben auch Sie von der SPD Ihren Anteil daran; das ist in der gestrigen Diskussion hier bestätigt worden. Wir müssen aber aufpassen, dass wir sie nicht einfach nur vergessen, denn nun ist nicht mehr die Krise, sondern der Boom in aller Munde. ({0}) Auch das Bildungspaket ist zu nennen und Reformen in verschiedenen anderen Bereichen. Wir haben Versprechen bis hin zu Steuererleichterungen eingelöst. So viel als Einstieg. Jetzt zum Thema Altersarmut, wie es uns hier unter TOP 24 begegnet. Gestern sprach mich eine Chemnitzerin an - Chemnitz ist mein Wahlkreis - und fragte mich, warum denn die Bundesregierung erst jetzt eine Regierungskommission einsetze, die Konzepte gegen Altersarmut entwickeln soll. ({1}) Da höre ich fast Sie, Herr Birkwald, durch. Altersarmut sei doch bereits in aller Munde. Sie fragt sich, ob die Regierung da nicht etwas spät dran sei. Dass Altersarmut allerdings bereits jetzt ein akutes Problem sei und als solches wahrgenommen wird, überrascht mich und eigentlich viele der Fachleute, die die Zahlen vor Augen haben, tatsächlich. ({2}) Schließlich sind wir genau von dem Phänomen bislang - bis zum heutigen Tag - nahezu verschont geblieben. Zum Glück und Gott sei Dank, sage ich dazu. Es zeigt sich einmal mehr, dass es Medien oder Parteien, wie in diesem Fall Sie, genau auf eine solche Verunsicherung in der Bevölkerung anlegen. ({3}) Ich habe mein Arbeitsleben lang im Umfeld von Armut gearbeitet - zuerst als Sozialpädagoge, dann als Pastor in der Heilsarmee. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an die alte Dame, die zu der von uns eingerichteten Tafel kam, und ich sehe immer noch sowohl die Ohnmacht bei ihr als auch die Ohnmacht bei mir. Aber - und das ist mir ganz wichtig - das ist, und das will ich sehr stark betonen, nicht der Regelfall in Deutschland. Die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land sind zu 97 Prozent nicht von Altersarmut betroffen. ({4}) Sie haben ein ausreichendes Einkommen und müssen keine staatliche Unterstützung in Form von Grundsicherung in Anspruch nehmen. Das ist eine beeindruckende Situation, die ich ausdrücklich auch so darstellen will. ({5}) Im internationalen Vergleich steht Deutschland sehr wohl sehr gut da. ({6}) Das generelle Armutsrisiko - Sie schreiben das in Ihrem Antrag ganz am Anfang - bei Älteren liegt im Verhältnis zu anderen Teilen der Bevölkerung bei vergleichsweise niedrigen 13 Prozent. In Ihrem Antrag heißt es „beinahe genau so viele“. Mathematisch gibt es damit im Alter weniger Armutsgefährdete als im Durchschnitt der Bevölkerung. ({7}) Doch will ich natürlich nicht verhehlen - deshalb dieser Einschub und auch die berechtigte Beschäftigung der Kommission mit dem Thema -, dass trotz dieser momentan positiven Lage demografische Herausforderungen kommen werden, von denen die wirtschaftliche Entwicklung geprägt werden wird. Dann kommt ein Wandel auf uns zu, wenn wir jetzt nicht darüber nachdenken, was in den nächsten 10 oder 20 Jahren passieren wird. Dafür sind Weichen zu stellen, nachdem man einen Plan gemacht hat. ({8}) - Da widerspreche ich Ihnen, Herr Birkwald: Wir brauchen Zeit, um in dieser Kommission gut zu arbeiten, weil es sich um komplexe Fragen handelt. Auch mir ist wichtig, dass wir das angehen; wir müssen uns aber die nötige Zeit dafür nehmen. Genaue Prognosen, verlässliche Vorhersagen - bezüglich Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung, Veränderungen des Erwerbsverhaltens, Erwerbsbiografien mitsamt der Brüche, die möglicherweise geschehen oder auch schon geschehen sind, Einkommens- und Preisentwicklungen, Höhe der Mieten und Verbraucherausgaben und noch einiges mehr - sind außerordentlich schwierig und sehr komplex. Mein besonderes Anliegen auch als Berichterstatter zu diesem Thema ist, gezielt gegen Altersarmut vorzugehen - auch gegen die, die in 10 oder 15 Jahren auf uns zukommen wird, wenn wir nichts tun - und frühzeitig stimmige Konzepte zu entwickeln. Dafür stehe ich, und genau dafür wird diese Regierungskommission eingesetzt, worüber ich sehr froh bin. ({9}) Sehr froh bin ich auch darüber, dass wir das Thema schon in die Koalitionsverhandlungen und den Koalitionsvertrag eingebracht haben. Ich verstehe allerdings nicht ganz, wieso Sie als Linke in dem Antrag, über den wir heute diskutieren, die genaue Aufgabenstellung und die Zusammensetzung der Kommission kritisieren, bevor überhaupt ein Konzept vorliegt und ebendiese Zusammensetzung feststeht. Ich bin wirklich erstaunt, dass Sie teilweise schon genau zu wissen scheinen, was in diesem Auftrag stehen wird und warum es dort hinein soll oder nicht, obwohl es dazu noch gar nichts Schriftliches gibt. In sämtlichen Antworten, die die Bundesregierung bisher - zuletzt vorgestern im Ausschuss - gegeben hat, wurde betont, dass über die genauen Modalitäten, also die Zusammensetzung des Gremiums sowie dessen detaillierte Aufgabenstellung, noch gar nicht entschieden ist. ({10}) Fest steht nur, dass die Kommission alle möglichen Ansätze zur Vermeidung von Altersarmut umfassend prüfen soll. Dazu gehören auch die Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit, die Sie ansprechen, auf die spätere Absicherung im Alter. So sieht der Auftrag, über den ich erst einmal sehr froh bin, aus, der bei mir gelandet ist. Wenn das Konzept für die Kommission vorliegt, können wir uns gern kritisch damit auseinandersetzen; aber lassen Sie uns doch bitte so lange warten, bis es tatsächlich vorliegt. ({11}) Laut aktueller Planung wird die Kommission - das haben Sie vorhin auch schon gesagt - ihre Arbeit im April aufnehmen. Den Vorsitz wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales haben. Im September 2012 soll der Abschlussbericht vorgelegt werden, und wir werden über die Qualität der Aussagen zu befinden haben. Ich kann Ihnen versichern - auch das wurde von der Bundesregierung in jeder Debatte zur Altersarmut vorgetragen -, dass neben den fachlich betroffenen Ressorts wie Wirtschaft, Finanzen und Justiz auch unabhängige Wissenschaftler und Sachverständige aus den sozialen und arbeitsmarktspezifischen Bereichen vertreten sein werden. Natürlich werden dann auch Beiträge von Vertretern aus der Wissenschaft, von Gewerkschaften und der Arbeitgeberseite, von Sozial- und Betroffenenverbänden eingeholt; das versteht sich von selbst. Wir sind auf diese Expertise angewiesen, um jenseits von parteipolitischen Argumenten zu einem Ergebnis zu kommen. ({12}) Dies wird uns Szenarien und damit auch Strategien aufzeigen, wie wir darauf reagieren können. Der Vorwurf aus Ihrem Antrag, liebe Kollegen der Linken, dass der Koalitionsvertrag eine einseitige Zusammensetzung vermuten lässt, ist für mich nicht nachvollziehbar. Abschließend komme ich noch einmal auf die wichtigsten Voraussetzungen zur Vermeidung der von Ihnen angesprochenen Altersarmut zu sprechen. Zum einen geht es um die Integration in den Arbeitsmarkt. Wir sprechen in diesen Tagen immer wieder davon, dass Bildung in den Mittelpunkt gestellt werden und niemand auf der Strecke bleiben soll. Es geht um eine dauerhafte Erwerbstätigkeit mit entsprechendem Einkommen und möglichst vollständiger und adäquater Rentenbiografie sowie um eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf, durch die die von Ihnen als nachteilig wahrgenommene Situation von Frauen verbessert werden soll. Die Arbeit der Kommission dient zuallererst der Meinungsbildung der Bundesregierung hinsichtlich bestimmter Maßnahmen und Modelle zur Vermeidung von Altersarmut. Dieser Prozess ist in alle Richtungen offen. Es geht eben nicht um eine ideologische Debatte zu der Frage, ob staatliche oder private Vorsorge zu bevorzugen ist, sondern um eine gründliche Prüfung und Analyse der Maßnahmen zur Sicherung im Alter. Ziel ist es, ein langfristiges Konzept zu entwickeln. Dieses gilt es gut vorzubereiten. Ich denke, ein Zeitraum von eineinviertel Jahren ist dafür nicht zu lang. Gleichwohl ist der Termin für den Abschluss der Tätigkeit der Kommission so angelegt, dass wir noch in dieser Wahlperiode gesetzgeberisch tätig werden können. ({13}) Je nachdem, welche Empfehlungen von dieser Kommission ausgehen, werden wir weit über die Legislaturperiode hinaus daran zu arbeiten haben. Lassen Sie es mich mit einem Bild beschreiben: Mir kommt es so vor, als führen wir alle in einem gut funktionierenden Fahrzeug, das bis zur nächsten Inspektion noch 10 000 Kilometer einwandfrei fahren kann. Wir sind in die richtige Richtung unterwegs - davon bin ich überzeugt ({14}) und haben schon einen Termin für die nötige Inspektion festgelegt. Aber Sie, liebe Kollegen, tun so, als stünden wir seit Monaten auf dem Schrottplatz. ({15}) Das ist absolut nicht legitim. ({16}) Ich halte dies nicht nur für unangemessen, sondern auch für ein weiteres Beispiel dafür, dass Sie soziale Themen für parteipolitische Zwecke missbrauchen: Sie schüren Ängste. Sie sagen, Sie würden sich um diese Anliegen bemühen, aber Sie nutzen sie nur für Ihre parteipolitischen Interessen, ohne die statistischen Grundlagen ernst zu nehmen. Möglicherweise versuchen Sie sogar wieder, uns eine Ideologiedebatte aufzuzwingen. ({17}) Wir haben gleich noch eine Aktuelle Stunde, in der wir eine Ideologiedebatte führen werden. Vielleicht wollen Sie unser ganzes Gesellschaftssystem infrage stellen; aber das ist mit uns nicht zu machen. Wir wollen eine gute, saubere Planung, auf deren Grundlage wir dann Entscheidungen treffen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Schaaf hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man sich die konkrete Fragestellung des Antrags der Linken anschaut, dann erkennt man, dass das mit Ideologie wenig zu tun hat. Der Antrag greift ein dringendes Problem auf, das aus meiner Sicht von Ihnen, Herr Heinrich, unzureichend beschrieben wurde. Sie haben gerade gesagt, Altersarmut sei aktuell kein besonders großes Problem. Aber die Menschen, die im Alter arm sein werden, gehen jetzt zu miserablen Löhnen arbeiten oder sind arbeitslos. ({0}) Natürlich haben wir es mit Altersarmut zu tun, und zwar jetzt und sehr konkret. ({1}) Wir haben eine gute Entwicklung bei der Rentenkasse - das stimmt sogar -, weil die Anzahl der Beschäftigten gewachsen ist. Jetzt schauen Sie sich aber einmal an, wie viele Entgeltpunkte ein Einzelner durchschnittlich erwirbt: Diese Zahl geht systematisch nach unten. Da ist also Altersarmut vorprogrammiert. Dem muss man entgegenwirken; dem muss man sich stellen. Da reicht die allgemeine Ankündigung der Einsetzung einer Kommission zur Altersarmut nicht aus; man muss auch den konkreten Arbeitsauftrag beschreiben. Herr Birkwald, ich bin da nicht bei Ihnen: Wenn ich mir den Koalitionsvertrag anschaue und sehe, was FDP und Union dort miteinander vereinbart haben, dann weiß ich, dass ich einer Kommission, deren Arbeitsauftrag darauf beruht, überhaupt nicht angehören möchte. Ich möchte einer solchen Arbeitsgruppe nicht angehören, denn ihr geht es um die weitere Privatisierung der Altersvorsorge. Das, was Sie miteinander vereinbart haben, hat mit der gesetzlichen Rentenversicherung überhaupt nichts zu tun; es sorgt eher dafür, dass immer mehr Menschen, die nicht in der Lage sind, eine betriebliche oder private Altersvorsorge aufzubauen, im Alter arm werden. Man muss sich einmal vergegenwärtigen, was Sie da miteinander vereinbart haben. Es ist übrigens spannend, dass der CDU-Parteitag das, was Sie im Koalitionsvertrag miteinander vereinbart haben, richtigerweise komplett zurückgeholt hat. Ich kann dem Beschluss des CDU-Parteitages in fast allen Punkten zustimmen; das haben Herr Laumann und die Sozialausschüsse prima hinbekommen. Nur ist mir überhaupt nicht erklärlich, wie Sie einen gemeinsamen Auftrag für eine solche Kommission finden wollen, nachdem der CDU-Parteitag die Vereinbarung im Koalitionsvertrag zurückgeholt hat. Das wird nicht gehen, weil der Beschluss des Parteitages der Vereinbarung diametral gegenübersteht. Das kann man schon am Beispiel der Soloselbstständigen erkennen. Da wird überlegt, ob man jetzt nach Riester und Rürup nicht irgendwie noch einen dritten Weg findet. Der CDU-Parteitag sagt, dass im Zweifel in den Fällen, in denen die Leute keine eigene private Vorsorge aufbauen können, weil sie als Soloselbstständige nicht genügend verdienen, überprüft werden soll, ob sie in die gesetzliche Rentenversicherung hineinkommen können. Wie Sie diese beiden diametral entgegengesetzten Dinge miteinander verbinden wollen, ist mir rätselhaft. Deswegen, Herr Birkwald, würde ich einer solchen Kommission lieber nicht angehören wollen. Denn man wird sich noch nicht einmal auf einen Arbeitstitel für eine solche Kommission wirklich einigen können. Ich würde einer solchen Kommission, in der die beiden Fraktionen eine herausragende Rolle spielen, auch aus einem weiteren Grund nicht beitreten wollen: weil zumindest ein Teil dieser Koalition eine Tatsache schlichtweg nicht anerkennt, nämlich dass man, bevor man eine Kommission zur Altersarmut und zur Zukunft der Rente einrichtet, zunächst einmal die Ursachen für Armut ordentlich benennen und bekämpfen muss. Das betrifft die Frage der Arbeitseinkommen und der daraus resultierenden Beiträge. Zumindest muss man sich darauf verständigen, dass man anfängt, die Ursachen für Altersarmut zu beseitigen. ({2}) Da geht es natürlich um gesetzliche Mindestlöhne. Übrigens gibt es dazu auch einen Beschluss des Parteitages; der wurde hier noch nicht zitiert. Der Beschluss C 1 des CDU-Parteitags - C 2 ist übrigens die Frage der Altersarmut - sagt: Die CDU Deutschlands setzt sich in der christlichliberalen Bundesregierung für eine Aufnahme der Zeitarbeitsbranche ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz … ein. Wenn wir so weit schon einmal wären! Wahrscheinlich müssen wir Sie jetzt im Rahmen der SGB-II-Verhandlungen dazu zwingen, dass Sie das tun. Aber es gibt immerhin dieses Anerkenntnis. Ich bin einmal gespannt, wie das weiterläuft. Das gilt übrigens ebenso für andere Passagen dieses Textes, der beschlossen worden ist, zum Beispiel - der Kollege Birkwald hat darauf hingewiesen -: Niedrige Renten resultieren nicht nur aus einer Absenkung des Rentenniveaus, sondern auch aus niedrigen Löhnen. Was ist denn Ihre Strategie dagegen? Was macht diese Koalition, damit Löhne stabil werden, damit Löhne so hoch werden, dass man auch eine vernünftige Alterssicherung aufbauen kann und nicht nur ausreichend Ansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung erwirbt, sondern darüber hinaus aus dem Geld, das man mit seiner Arbeit verdient, auch noch privat vorsorgen kann? Nichts tun Sie an der Stelle, sondern versuchen, im Koalitionsvertrag dritte Wege zu beschreiben. Einen Punkt will ich unbedingt noch ansprechen, weil er mit drohender Altersarmut eine Menge zu tun hat. Sie haben vereinbart, eine Kommission einzurichten. Wozu ich bisher von Ihnen noch nichts gehört habe, ist eine Vereinbarung, die ebenfalls im Koalitionsvertrag steht: Das gesetzliche Rentensystem hat sich auch in den Neuen Ländern bewährt. Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem in Ost und West ein. Wird denn die Ost-West-Angleichung Teil einer ArmutsArbeitsgruppe sein, oder wie soll man sich das jetzt vorstellen? Oder haben Sie vor, das, was Sie den Menschen in Ihrem Koalitionsvertrag versprochen haben, zu brechen und die Ost-West-Angleichung, zumindest die rentenrechtliche, in dieser Legislaturperiode nicht mehr stattfinden zu lassen? Ich vermute, Herr Birkwald - auch wenn Sie inhaltlich vieles richtig beschrieben haben, was man als Arbeitsauftrag für eine solche Kommission durchaus formulieren könnte -, dass diese Koalition und diese Regierung vor dem Hintergrund dessen, dass sie sich bei der Frage, wie man mit sozialen Sicherungssystemen umgeht, diametral gegenüberstehen, nicht in der Lage sein werden, einen vernünftigen Arbeitstitel zu formulieren, und erst recht wird kein vernünftiges Ergebnis dabei herauskommen. Sie ignorieren das Thema Ost-West, obwohl Sie den Menschen versprochen haben, sich damit zu beschäftigen. Übrigens ist die Frage, wie man mit der Angleichung umgeht, auch eine zentrale Frage beim Thema Armutsbekämpfung. Zu all diesen Fakten konnte man bisher nichts sagen, weil man mit der SGB-II-Neuregelung so überlastet ist. Das Haus müsste eigentlich - das habe ich schon einmal gesagt - groß genug sein, und eigentlich müssten diejenigen unter Ihnen, die Ahnung vom Thema Rente haben, auch in der Lage sein, so etwas zumindest vorzubereiten. Von daher viel Zustimmung zu dem, was Sie, Herr Birkwald, gesagt haben, aber keine Hoffnung auf der rechten Seite. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Den Beitrag des Kollegen Kolb für die FDP nehmen wir zu Protokoll.1) ({0}) 1) Anlage 2 Vizepräsidentin Petra Pau Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang StrengmannKuhn.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte gerne auf das reagiert, was der Herr Kolb gesagt hätte. Das müssen wir aber leider nachlesen und können dann erst in späteren Debatten darüber diskutieren. ({0}) - Zum Teil wissen wir das ja auch. ({1}) Armut im Alter ist ein Problem, vor dem niemand mehr die Augen verschließen kann. Ich begrüße es deswegen ausdrücklich, dass die Regierungskommission der Bundesregierung im April ihre Arbeit beginnt. Allerdings ist Teilen der Regierungsfraktionen die Bedeutung des Problems immer noch nicht bewusst. So hat Herr Heinrich gerade eben wieder behauptet - wahrscheinlich hätte Herr Kolb das auch gesagt -, dass Altersarmut heute noch kein Problem ist. ({2}) Das ist schlicht falsch. Zwar ist es richtig, dass Kinderarmut das vordringliche Problem ist, aber nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes ist die Armutsquote der über 65-Jährigen fast so hoch wie im Durchschnitt, Herr Heinrich. Die Zahl der Fälle, in denen Grundsicherung im Alter gezahlt wird, steigt kontinuierlich an. Sie haben vorhin gesagt, dass 13 Prozent der Älteren ein Einkommen haben, das unterhalb der Armutsgrenze liegt. Das sind fast 2 Millionen Menschen in diesem Land. Das ist schon heute ein Problem. Wenn man die Zahl der Grundsicherungsempfängerinnen und -empfänger als Maßstab nimmt - das sind jetzt fast 500 000 -, dann ist das der falsche Maßstab. Es ist nämlich trotz der Verbesserungen unter Rot-Grün immer noch so, dass viele die Grundsicherung im Alter nicht in Anspruch nehmen und die verdeckte Armut im Alter besonders hoch ist. Deswegen muss man andere Maßstäbe heranziehen, und danach ist Altersarmut heute schon ein Problem. Die Leute gehen nicht zum Amt, und zwar nicht, weil sie das Geld nicht bräuchten, sondern weil sie sich schämen oder ihre Rechte nicht kennen. Ich halte das nicht für einen tragbaren Zustand. ({3}) Wir möchten, dass diejenigen Älteren, die einen Anspruch auf Leistungen haben, diesen auch wahrnehmen. Deswegen ist der Vorschlag der FDP - über den haben wir hier leider nichts gehört, aber das können wir ja nachlesen -, ({4}) Altersarmut durch Einführung von zusätzlichen Freibeträgen in der Grundsicherung zu bekämpfen, nicht tauglich. Dadurch würde die Zahl der Alten, die zum Sozialamt müssen, nämlich steigen und nicht sinken, die armen Alten wären weiterhin stigmatisiert, und die verdeckte Armut würde nicht bekämpft. Alle anderen Parteien - da schließe ich die CDU ausdrücklich ein - haben einen anderen Ansatz. Sie wollen gerade das verhindern. Der CDU-Parteitag ist gerade schon erwähnt worden. Auch die CDU setzt innerhalb der Rente an und will dort Lösungen finden. Man sieht: Die Regierung kann sich wieder einmal nicht einigen. Deswegen ist es auch nicht erstaunlich, dass die Bundesregierung weder die genaue Zusammensetzung der Kommission noch den genauen Arbeitsauftrag festgelegt hat. Klar ist nur, dass es eine regierungsinterne Kommission sein wird und diese bis 2012 arbeitet. Mich wundert es nicht, dass die Regierungskoalition eine interne Kommission braucht, um bei diesem Thema voranzukommen. Die einen bestreiten das Problem, die anderen sehen es zumindest. Die einen wollen Änderungen bei der Grundsicherung, die anderen wollen Änderungen innerhalb der Rente. Nun soll eine regierungsinterne Kommission weiterhelfen. Wie heißt es so schön? Wer nicht mehr weiterweiß, der gründet einen Arbeitskreis. Wichtig ist, dass die Regierungskommission keine reine Selbstfindungsgruppe wird, sondern dadurch eine öffentliche Debatte über die besten Lösungen angestoßen wird. Wir fordern deshalb, dass die Kommission dem Parlament regelmäßig Bericht erstattet und hier, im Deutschen Bundestag, über Ergebnisse, Zwischenergebnisse und vor allem über Lösungsmöglichkeiten diskutiert wird. Ob etwas aus der Kommission folgt, ist auch noch völlig unklar. Gerade eben hieß es, dass danach Zeit vorhanden sei. Dazu, ob danach tatsächlich etwas passiert, gibt es bisher aber noch keine klaren Aussagen. Die Ministerin hat irgendwann einmal in einem Interview gesagt, dass dafür kein Geld zur Verfügung steht. Wir müssen also abwarten, was daraus wird. Sehen wir einmal das Positive: Zumindest über die Gefahr einer Zunahme bei der Altersarmut sind wir uns mittlerweile einig. Der Beschluss der CDU auf ihrem Parteitag deutet an, dass sie Lösungen innerhalb der Rente will und über die Rente nach Mindesteinkommen nachdenkt. Darüber denken übrigens auch SPD und Linke nach. Wir halten diesen Vorschlag nicht für geeignet, weil er nicht zielgenau ist und Armut im Alter nicht effektiv genug bekämpft. Wir setzen auf eine Garantierente, mit der geringe Rentenansprüche auf ein Minimum aufgestockt werden. Wir wollen, dass jemand mit 30 Versicherungsjahren eine Rente auf der Basis von mindestens 30 Entgeltpunkten erhält. Das entspricht heute etwa 800 Euro. Das allein reicht aber nicht aus. Wir brauchen auch präventive Maßnahmen. Wir wollen die Weiterentwicklung zu einer Bürgerversicherung - wir wollen keine reine Erwerbstätigenversicherung -, um Versicherungsbiografien komplett erfassen zu können. ({5}) Eine durchbrochene Erwerbs- und Versicherungsbiografie ist eine wesentliche Ursache für Altersarmut. Wir müssen natürlich auch beim Arbeitsmarkt ansetzen - das haben Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Linken schon gesagt -: Absenken der Löhne durch Mindestlohn verhindern, Equal Pay etc.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Strengmann-Kuhn, die Redezeit des Kollegen Kolb ist nicht auf Sie übertragen worden. Sie müssen bitte zum Schluss kommen. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Letzter Satz: Für uns Grüne ist Altersarmut ein zentrales Thema, und wir werden sowohl die Regierungsfraktionen als auch die anderen Oppositionsfraktionen weiter fordern und eigene Lösungen vorschlagen; denn es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum, den Menschen ein Altern in Würde zu ermöglichen. ({0}) In diesem Sinne freue ich mich auf eine konstruktive Diskussion und danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4422 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Strategie für Klimaschutz im Verkehr vorlegen - Drucksache 17/4040 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Beiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Steffen Bilger und Karl Holmeier für die Unionsfraktion, Ute Kumpf für die SPD, Werner Simmling für die FDP, Sabine Leidig für die Fraktion Die Linke und Winfried Hermann für Bündnis 90/Die Grünen.1) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 17/4040 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP Forderungen der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE, Dr. Gesine Lötzsch, Wege zum Kommunismus auszuprobieren - Opfer nicht verhöhnen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hermann Gröhe für die Unionsfraktion. ({1})

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In Bezug auf Wege zum Kommunismus formulierte am 3. Januar dieses Jahres die Vorsitzende der Partei Die Linke, Frau Kollegin Lötzsch, folgendermaßen - ich zitiere -: Die Wege zum Kommunismus können wir nur finden, wenn wir uns auf den Weg machen und sie ausprobieren … ({0}) Zugleich entwarf sie in schaurig-wohliger Weise das Szenario von zerbrechender EU und niedergehenden demokratisch-marktwirtschaftlichen Staaten, denunzierte sie unsere politische Ordnung als Verteilungs- und Wohlstandsdemokratie. ({1}) Marianne Birthler stellt zu Recht fest, dass sie damit vielen Mitgliedern ihrer Partei aus dem Herzen spricht. ({2}) Die Linkspartei ist und bleibt die Erbin der alten SED. ({3}) Wir sagen klar: Unser Land braucht keine Anstren- gungen, neue Wege zum Kommunismus auszuprobieren. Es gab wahrlich schon genug schaurige Experimente in 1) Anlage 3 der Welt: in China mit 65 Millionen Toten, in der Sowjetunion mit über 20 Millionen Toten, in Nordkorea mit über 2 Millionen Toten, auf den Killing Fields von Kambodscha mit über 2 Millionen Toten, in Osteuropa und Mitteleuropa mit 1 Million Toten. ({4}) - Ja, da werden Sie unruhig. - Wo immer Wege zum Kommunismus ausprobiert wurden, endete es in Terror und Unterdrückung und in Summe in millionenfachem Mord. ({5}) Es ist eben keine gute Idee, die nur stets und überall falsch umgesetzt wurde, sondern es ist eine menschenverachtende Ideologie, der Ihre Vorsitzende bis heute anhängt. ({6}) Schauen wir uns doch einmal das Umfeld der Veranstaltung an. Da diskutiert die Kollegin Jelpke mit der RAF-Terroristin Inge Viett und der DKP-Vorsitzenden Jürgensen über das Thema: Wo bitte geht’s zum Kommunismus? Frau Viett meint, sie könne das - Zitat „Abfackeln von Bundeswehrausrüstung“ legitimieren. Welche Frage stellt daraufhin Frau Jelpke der lieben Inge? Zitat: „… ob das wirklich zu einer antimilitaristischen Bewegung führt“. Hier wird die Rechtfertigung von Terror und Gewalt nicht klar zurückgewiesen, sondern nur auf ihre Nützlichkeit hin überprüft. Ein klares Nein zur Gewalt sieht wahrlich anders aus. Das ist eine Schande. ({7}) Und sollen wir dann an einen Zufall glauben - ich tue es nicht -, wenn just im Umfeld dieser Veranstaltung Linksextremisten Opfer der SED tätlich brutal angreifen - einige von ihnen sind heute auf dieser Besuchertribüne -, dann diese linksradikalen Täter auf der Konferenz Unterschlupf finden und bis heute Frau Lötzsch kein Wort der Verurteilung oder wenigstens des Bedauerns gegenüber diesen Opfern linker Gewalt zum Ausdruck bringt? Auch das ist eine Schande. ({8}) Einer solchen Haltung glaubwürdig entgegenzutreten, muss eine Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten in diesem Hause sein. Wenige Tage nach den Äußerungen von Frau Lötzsch erklärte der Kollege Oppermann von der SPD, an der Spitze der Linkspartei stünden halt eine „Fernziel-Kommunistin“ und ein „Salonbolschewist“. Herr Gabriel erhob öffentlich Zweifel an der demokratischen Grundorientierung. Ludwig Stiegler sprach sogar von dem Blut an den Händen dieser Partei. ({9}) Es sind ja nicht gerade wenige Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten unter den Opfern des kommunistischen Terrors gewesen. ({10}) Aber dann müssen Sie, Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sich auch fragen, wie Sie es verantworten können, diese Partei zur Regierungspartei in Berlin und Brandenburg zu machen. Das passt nicht mit den klaren Worten zur Distanzierung vom Linkskurs dieser Partei zusammen. ({11}) Wenige Meter von diesem Haus entfernt erinnern schlichte weiße Kreuze daran, wo in diesem Land Wege zum Kommunismus endeten. Die Opfer sollten uns Verpflichtung sein, gemeinsam dafür zu arbeiten, dass diese Ideologie nie wieder Unheil über unser Land oder die Welt bringt. Daran sollten sich alle Demokraten in diesem Haus messen lassen. Herzlichen Dank. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Thierse für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ist das, worüber wir hier lästigerweise zu reden haben, bloß unglücklich formuliert oder überinterpretiert oder böswillig missverstanden, wie Lafontaine, Gysi und Lötzsch behaupten? Ich lese den Text von Frau Lötzsch und stelle fest: Zwei Jahrzehnte nach der friedlichen Revolution in der DDR macht sich die Vorsitzende der Partei Die Linke erneut auf die Suche nach dem „richtigen Weg“, dem Weg in den Kommunismus. Die Wege dahin - so schreibt sie - könne man nur finden, wenn man sie ausprobiere, ob in der Opposition oder in der Regierung. Man mag es kaum glauben: Die Vorsitzende einer im Bundestag vertretenen Partei propagiert im Jahre 2011 den Kommunismus als ein mögliches gesellschaftspolitisches Ziel, als sei der Kommunismus eine normale Denkoption, ein unschuldiges gedankliches Konstrukt, ein noch immer erstrebenswertes, unbeflecktes Ziel. Dass der Kommunismus eine ganz reale, nämlich eine brutale und blutige Geschichte hat, spielt im politischen Denken der Gesine Lötzsch offensichtlich keine Rolle. ({0}) Es gibt in ihrem mehrseitigen Text vom 3. Januar 2011 zwar eine Passage über die „offene Barbarei“ im 20. Jahrhundert; aber diese bezieht sich ausdrücklich auf Perioden der Entfesselung des Kapitalismus. An den entfesselten Kommunismus, den entfesselten Stalinismus verschwendet die Autorin kein einziges Wort, keinen einzigen Gedanken, obwohl sie doch selbst SED-Mitglied war und heute deren Nachfolgepartei vorsitzt. ({1}) Diese Geschichtsvergessenheit, diese Ignoranz gegenüber den Opfern des kommunistischen Großversuchs, dieses großzügige Hinwegsehen über die Verantwortung der eigenen politischen Bewegung ist beschämend, ist verletzend, ist skandalös. ({2}) Und es ist verräterisch; denn unüberhörbar ist die Botschaft von Frau Lötzsch an Anhänger, Sympathisanten und Funktionäre der Linkspartei gerichtet, die die Verbrechen des Stalinismus verdrängen und die Opfer der kommunistischen Diktatur verhöhnen. Sie macht damit die ständig wiederholte Behauptung unglaubwürdig, die Linkspartei hätte sich radikal selbstkritisch mit ihrer eigenen Geschichte befasst und Konsequenzen gezogen. ({3}) Ihr Verweis darauf, dass der Kommunismus etwas ganz Fernes, noch niemals Verwirklichtes sei, ist schlicht intellektuell unredlich. Frau Lötzsch sollte vielleicht doch einmal ihre - wie hieß das? - Klassiker lesen. In Die Deutsche Ideologie von Marx und Engels heißt es: Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Kommunismus ist „die wirkliche Bewegung“, nicht das ferne Ziel. Das wichtigste politische Instrument dieser Bewegung hieß Diktatur: Diktatur des Proletariats und tatsächlich Diktatur der Kommunistischen Partei. Die Wirklichkeit des Kommunismus begann mit Lenin und seinen Bolschewiki. Seine Bewegung reagierte nicht nur auf Gewalt, sondern erzeugte sie auch. Für Stalin wurde Gewalt dann allgegenwärtiges Machtinstrument mit Millionen von Opfern im Namen des Kommunismus. Die herrschenden Parteien im sowjetischen Machtbereich verstanden sich, durch Lenin und Stalin geprägt, zu Recht als kommunistische Parteien und handelten auch so - auch die SED. ({4}) Meine Damen und Herren von der Linken, Sie kennen hoffentlich die unbequeme Frage von Ernst Bloch schon aus den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts: Hat der Stalinismus den Kommunismus bis zur Unkenntlichkeit verzerrt oder vielmehr zur Kenntlichkeit gebracht? Diese Frage ist durch die blutige Bilanz der kommunistischen Bewegung endgültig beantwortet. ({5}) Wer am Traum von einer gerechten Gesellschaft und einer gerechteren Welt festhalten will - dafür gibt es wahrlich gewichtige und sehr anständige Motive -, der kann das nur - jedenfalls nach der furchtbaren Geschichte der kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert -, wenn er oder sie radikale Kommunismuskritik übt und nicht kalkuliert naiv von Wegen zum Kommunismus schwadroniert; sonst diskreditiert er bzw. sie sich moralisch und politisch. ({6}) Sie müssen sich endgültig entscheiden, was Sie wollen. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Ackermann das Wort. ({0})

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mit Besuchergruppen hier im Deutschen Bundestag diskutiere, dann höre ich jedes Mal einen aufgewühlten Bericht darüber, was die Menschen von ihrem Besuch in Hohenschönhausen mitnehmen. Die Berichte der ehemaligen Gefangenen über Folter und Leid machen selbst gestandene Menschen fassungslos. Hier zeigt sich, was der Mensch dem Menschen antun kann, wenn er sich auf den Weg zum Kommunismus begibt. Hohenschönhausen ist aber nur eines der Schreckensbilder, die die Opfer und auch die übergroße Mehrzahl unserer Bevölkerung vor Augen haben, wenn sie den Begriff „Kommunismus“ hören. Wenn man nun ausgerechnet im 50. Jahr des Mauerbaus den Weg zum Kommunismus zur politischen Aufgabe erklärt, dann ist das geschichtsvergessen, zynisch und in jedem Fall ein Angriff auf die Gefühle der vielen Opfer des Kommunismus. ({0}) Allein schon aus diesem Grund wäre eine Entschuldigung gerechtfertigt gewesen. Frau Lötzsch verletzte aber nicht nur die Gefühle der Opfer, Frau Lötzsch startete auch eine Kampfansage an Demokratie, Grundrechte, Freiheit und staatsbürgerliche Gleichheit, kurz: an unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. ({1}) Das ist nicht nur meine persönliche Meinung, sondern auch die Haltung des Bundesverfassungsgerichts. Das Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands, der KPD, hat das höchste deutsche Gericht unter anderem mit einer umfassenden Auswertung des politischen Konzepts des Kommunismus begründet. In der Begründung heißt es: Der Mensch wird in diesem System als Mitglied einer Klasse gesehen. … Das macht jeden Eingriff grundsätzlich zulässig, der aus der Klassenzugehörigkeit des Einzelnen und der Klassensituation im Ganzen von der herrschenden Klasse hergeleitet wird. Damit tritt an die Stelle der Gleichheit aller Staatsbürger die Scheidung in „führende“ … und „unterdrückte“ Klassen … Grundrechte im Sinne der freiheitlichen Demokratie können hier dem Einzelnen … nicht zustehen. Kurz gesagt: Der Kommunismus scheidet die Menschen in solche von unbegrenzter Macht und solche ohne jedes Recht, wie zum Beispiel die Opfer von Hohenschönhausen. Kommunismus spaltet die Gesellschaft in Hammer und Amboss. Frau Lötzsch hat sich bewusst oder fahrlässig als geistige Brandstifterin betätigt. ({2}) Wer den Kommunismus predigt, der gibt die freiheitlichdemokratische Grundordnung rhetorisch zum Abschuss frei und muss damit rechnen, dass sich Linksextremisten ermutigt fühlen, die Rechte des Einzelnen buchstäblich mit Füßen zu treten. So passierte es auch am Rande der Rosa-Luxemburg-Konferenz. Sie wollten Stimmen am linksextremistischen Rand fischen und sind erwischt worden. Dass Kommunismus nicht funktioniert, haben wir schon gehört. Das hat auch die Geschichte bewiesen. Der Ostblock ist zusammengebrochen. Auch in der Gegenwart funktioniert der Kommunismus nicht. Staaten wie Weißrussland, Kuba, Venezuela oder Nordkorea sind das beste Beispiel dafür. Er wird auch in Zukunft nicht funktionieren. Diese Idee gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. ({3}) Kommunismus ist nicht eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde, sondern eine durch und durch schlechte Idee. Unsere Demokratie gibt Ihnen die Möglichkeit, über den Kommunismus nachzudenken und zu philosophieren. Im real existierenden Sozialismus war es leider nicht möglich, über Freiheit auch nur nachzudenken oder offen und ehrlich darüber zu sprechen. Wir werden es Ihnen auch weiterhin ermöglichen, über Ihre Philosophie, über diese Utopie nachzudenken und zu sprechen. Wir werden es aber nicht zulassen, dass Sie diese falsche Idee in die Tat umsetzen. ({4}) Solange von der Kollegin Lötzsch keine Entschuldigung an die vielen Opfer des Kommunismus ausgesprochen wird, möchte ich die Kolleginnen und Kollegen der Grünen und der SPD bitten und herzlich aufrufen, die Kooperation mit der Partei Die Linke einzustellen. ({5}) Es gehört sich nicht, dass man hier in Berlin oder - ich denke da an die Tolerierung - in Nordrhein-Westfalen mit Feinden der Demokratie kooperiert. ({6}) Eines muss alle Demokraten einen: Nie wieder Kommunismus auf deutschem Boden! ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Ulrich Maurer hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Ulrich Maurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003805, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Meine Damen und Herren! Die Tatsache, dass man etwas salbungsvoll vorträgt, rechtfertigt es nicht, eine Summation falscher Anschuldigungen und Unverschämtheiten an die Partei Die Linke zu richten. ({0}) Jeder, der auch nur eines der Dokumente unserer Partei oder der PDS, die es nicht mehr gibt und die in der Partei Die Linke aufgegangen ist, ({1}) gelesen hat, der kann sich nur wünschen - das sage ich Ihnen nach der Debatte von vorgestern -, dass sich die Union von ihrer Zusammenarbeit, ihrem Kollaborieren mit den Nazis in der Adenauer-Ära auf die gleiche Weise distanziert, wie wir das mit der DDR getan haben. ({2}) So geht es nicht, meine Damen und Herren. Uns Übergriffe von Extremisten auf andere Menschen auf der Straße in die Schuhe zu schieben, obwohl wir die einzige Partei im Bundestag sind - die einzige leider -, die Gewalt als Politik und Krieg als Mittel der Politik ablehnt - wir haben gerade eine Afghanistan-Debatte geführt -, ist eine besondere Unverschämtheit. ({3}) Ich merke, dass Sie offensichtlich wenig über Kommunismus gelesen haben. ({4}) Sie halten ihn nämlich für eine Erfindung von Marx und Engels. Deswegen will ich Ihnen aus der Apostelgeschichte vorlesen - hören Sie gut zu! -: Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam. Jeder, der einen Acker hatte, verkaufte diesen und brachte den Erlös in die Gemeinschaft ein. Das ist Kommunismus pur, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU. ({5}) Im Übrigen hat dann einer namens Ananias einen Teil des Erlöses beiseitegeschafft. ({6}) - Nein, das sind kommunistische Ideen, von denen Sie sich distanzieren - na klar. ({7}) Sie müssen das einmal zur Kenntnis nehmen. Sie würden uns gerne in diese Ecke stellen. Sie machen schließlich Wahlkampf - na klar. ({8}) - Sie können schäumen, so viel Sie wollen. Ich sage Ihnen: Meine Partei steht für die Wiedergewinnung von Sozialstaat und Gerechtigkeit. Sie steht für die Wiedergewinnung von Demokratie und die Ablehnung von Krieg als Mittel der Politik. ({9}) Alle großen Utopien in der Menschheitsgeschichte sind für die Rechtfertigung von Verbrechen missbraucht worden. Die urchristliche Utopie von Gemeinsamkeit und der Abschaffung von Privateigentum - das habe ich Ihnen gerade vortragen - ist für die Verbrechen Stalins und Pol Pots missbraucht worden. Sie ist an der Berliner Mauer und mit dem Begriff der Diktatur des Proletariats missbraucht worden. Aber die christliche Idee ist dafür missbraucht worden, dass in Jerusalem im Blut der Muslime gewatet wurde. Sie ist für die Hexenprozesse und die Folter der Inquisition missbraucht worden. ({10}) Die Idee des Kapitalismus hat Millionen von Toten unter der Zivilbevölkerung in Vietnam zu verantworten. ({11}) Zum Schluss sage ich Ihnen eines - zu diesem Bekenntnis können Sie mich bekommen -: Wir sind die einzige Partei, die sich gegen den Finanzmarktkapitalismus erhebt. Dazu stehen wir, und wir sind stolz darauf. ({12}) Sie sind prokapitalistische Parteien, die mit der Kommunismusdebatte nur von den eigentlichen Problemen unserer Gesellschaft ablenken wollen. In diesen Tagen werden durch die Spekulanten an den Warenterminbörsen die Getreidepreise und andere Lebensmittelpreise nach oben getrieben. ({13}) Daran werden in diesem Jahr Millionen von Kindern sterben. Das ist eine elegante Art zu töten, aber sie ist auch durch und durch verwerflich. ({14}) Wenn schon Wahrheit, dann die ganze Wahrheit. ({15}) Sie werden uns nicht in die Kommunismusecke kriegen. Zu der Logik der Geschichte gehört, dass im selben zarten Alter, in dem ich Oberministrant war, Ihre Parteivorsitzende FDJ-Funktionärin für Propaganda und Agitation war. Auch das gehört zu dem, was Sie erst einmal aufarbeiten dürfen, statt bei uns die Dinge abzuladen. ({16}) Dass Sie sich das Vermögen der Blockparteien unter den Nagel gerissen haben, müssen Sie aufarbeiten. Sie haben auch verschwiegen, dass Sie mit unseren Stimmen in der Uckermark Ihren Mann zum Landrat gewählt haben. Sie sind opportunistisch und scheinheilig. Deswegen lassen wir uns das nicht bieten. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Wolfgang Wieland das Wort.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Maurer, Ihr Beitrag war wirklich unterirdisch. ({0}) Oskar Lafontaine fing schon bei Anne Will so an, als er sagte, man könne über Raiffeisenkassen, das Spiegel-Redaktionsstatut und das Urchristentum reden. Sie haben hier den Ministranten herausgekehrt. Sie tun so, als ob sich Frau Lötzsch und Frau Viett bei der besagten Veranstaltung zum Beten zusammenfinden wollten. Es war aber anders. Frau Viett kam von der RAF, überwinterte in der DDR und predigt jetzt wieder den Gang in den Untergrund. Der Saal dort tobte. Man wusste schon vorher, welche Veranstaltung dort zu Ihrem sonstigen staatsrituellen Gedenken arbeitsteilig stattfinden sollte. Sie stellen sich nun hier hin, spielen den Harmlosen, stellen Nebelkerzen auf, reden über den Hunger in der Welt und anderes und behaupten auch noch: Unsere Partei hat mit Kommunismus ja überhaupt nichts zu tun. - Wer soll Ihnen diese Heuchelei eigentlich glauben? ({1}) Wen haben Sie denn vor einem Jahr zu Ihrer stellvertretenden Parteivorsitzenden gewählt, auf Vorschlag von Gregor Gysi, dem diese Frau zuvor noch peinlich gewesen ist? Sahra Wagenknecht, Sprecherin der Kommunistischen Plattform seit jeher. ({2}) - Stimmt, dieses Amt hat sie inzwischen niedergelegt. Wie aber schreibt sie denn ihre erleuchteten Texte? Laut Auskunft ihres Ehemanns - der wird es ja wohl wissen unter einer Fahne der DDR, einer roten Fahne und einem Porträt von Walter Ulbricht. So sind diese Texte dann auch. ({3}) - Da Sie es offenbar hören wollen, bitte schön! - Sie erklärt, Erich Honecker gebühre „unser bleibender Respekt“. ({4}) Wofür? Dafür, dass er die Mauer gebaut hat. Sie erklärt ferner, dass die DDR - Zitat - „das friedfertigste und menschenfreundlichste Gemeinwesen, das sich die Deutschen im Gesamt ihrer Geschichte bisher geschaffen haben“, gewesen sei. Die Mauer ist für sie eine Maßnahme zur - Zitat - „Grenzbefestigung, die dem lästigen Einwirken des feindlichen Nachbarn ein längst fälliges Ende setzte“. So weit Sahra Wagenknecht, so weit ihr Beitrag im 50. Jahr des Mauerbaus. Es gab keine Entschuldigung. Nichts wurde zurückgenommen. Sich dann hier hinzustellen und die beleidigte Leberwurst, die verfolgte Unschuld zu spielen, weil wir das ernst nehmen, was Ihre Parteivorsitzende sagt, so billig kommen Sie nicht davon. ({5}) Ein Wort zu Ihrer Parteiführung, weil Sie gesagt haben, wir sollten Marx lesen. Dazu fällt mir die Stelle aus dem 18. Brumaire ein, wonach sich die großen Taten wiederholen: Sie finden einmal als Tragödie und einmal als Farce statt. Die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht war sicherlich eine Tragödie. ({6}) Ihre neue Parteiführung - Gesine Lötzsch und Klaus Ernst - ist die Farce, um das deutlich zu sagen. ({7}) Sie weist auf die vielen Wege zum Kommunismus hin - man müsse sie nur beschreiten -, und er weiß darob nicht, auf welchem er mit seinem Porsche voranfahren soll. Deswegen steht er auf der Stelle und sagt ewig dasselbe. ({8}) Die beiden, die Sie sich als Vorsitzende ausgesucht haben, sind Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auf geistigem Mindestregelsatz. ({9}) Aber das macht ihre Äußerungen nicht besser. Es wurde doch schon gesagt, dass Menschen, die in der DDR in Haft saßen - Vera Lengsfeld ist inhaftiert worden wegen eines Plakates, das sie bei einer RosaLuxemburg-Demonstration gezeigt hat -, getreten wurden und geradezu in drei Angriffswellen, selbst als sie an eine Bushaltestelle gingen, von sogenannten jungen Antifas verfolgt wurden, die an dieser Veranstaltung teilgenommen und Ulla Jelpke zugejubelt haben. Von Ulla Jelpke wissen wir, dass ihre Hauptsorge der Entdämonisierung der DDR und der Stasi gilt. Sie war bei der Veranstaltung Moderatorin. Man muss sagen: Wie die Moderatorin, so das Publikum. Auch das können Sie nicht abstreiten. Das ist ihr Publikum gewesen. ({10}) Es ist eine Schande, was vor diesem Saal passiert ist. Es ist eine Schande, dass Frau Lötzsch kein offizielles Wort des Bedauerns dazu gefunden hat. Es ist richtig, was hier gesagt wurde, dass gerade die Opfer der DDRDiktatur uns dazu zwingen, diese Auseinandersetzung mit Ihnen in aller Schärfe zu führen und keine RelativieWolfgang Wieland rungen und erst recht keine Rehabilitierung der Täter zuzulassen. Vielen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Bergner.

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als Vertreter des Bundesministeriums, das für politische Bildung und für Extremismusbekämpfung zuständig ist, stelle ich fest: Die große Aufmerksamkeit und die öffentliche Erregung, die die schriftlichen und mündlichen Aussagen von Kollegin Lötzsch als Parteivorsitzende der Linken anlässlich der Rosa-Luxemburg-Konferenz gefunden haben, sind berechtigt, und die Debatte über diese Äußerungen ist notwendig, auch die Debatte, die hier im Deutschen Bundestag geführt wird. ({0}) Herr Kollege Maurer, unter dem Eindruck Ihrer Rede füge ich hinzu, dass die massive Kritik, der Ihre Fraktion in dieser Debatte ausgesetzt ist, für die politische Kultur in unserem Land offensichtlich unverzichtbar ist, wenn Sie nicht ein einziges Wort der Einsicht oder der Zurücknahme in dieser Debatte zu verkünden haben. ({1}) Die Debatte ist wichtig, weil es um den demokratischen Grundkonsens und die Wertegrundlagen unseres Gemeinwesens geht. Die Äußerung von Frau Lötzsch, viele weitere Wege hin zum Kommunismus auszuprobieren, sowie die Interpretation des aktuellen Handelns der Partei Die Linke und der Fraktion Die Linke im Sinne dieser Viele-WegeTheorie hin zum Kommunismus - auch das ist bemerkenswert - mögen auf unterschiedliche Bewertungsperspektiven treffen. Ich muss zusammen mit anderen in diesem Parlament Wert darauf legen, dass es zwischen Frau Lötzsch und mir eigentlich keine Missverständnisse geben dürfte, wenn es um den Begriff des Kommunismus geht. Sie wie ich haben im Rahmen unserer Schulpflicht in der DDR den Staatsbürgerkundeunterricht besucht. Sie wie ich und andere haben im Rahmen ihres Studiums die obligatorische Marxismus-Leninismus-Ausbildung erfahren. Sie wie ich haben die indoktrinierende M-L-Weiterbildung während des Berufslebens über uns ergehen lassen müssen. Herr Maurer, weil Sie sich auf das Neue Testament beziehen, kann ich aus eigener Erfahrung hinzufügen: Wir haben erlebt, dass der Kommunismus, mit dem wir konfrontiert waren, aufs Äußerste aggressiv atheistisch und kirchenfeindlich war. Insofern ist die Berufung auf die Apostelgeschichte völlig deplatziert. Dies gilt auch für einen ehemaligen Ministranten. ({2}) Wir wissen, was diejenigen, die diese Idee begründeten, gemeint haben: klassenlose Gesellschaft. Engels sprach vom Sprung des Menschen aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit. Das ist eine anspruchsvolle und endzeitliche Sozialutopie, die von einer berufenen Elite erreicht werden sollte, von der Partei der Arbeiterklasse; es war die Rede von der historischen Mission der Arbeiterklasse. Die berufene Elite nahm deshalb für sich das Recht in Anspruch, die eigenen Vorstellungen im Rahmen der Diktatur des Proletariats mit totalitären Mitteln durchzusetzen. Das heißt, die Sozialutopie des Kommunismus ist untrennbar verbunden mit dem Totalitarismus, der seiner Zielerreichung zugrunde liegt. ({3}) Wenn Herr Gysi nun sagt, als Politiker müsse man berücksichtigen, dass andere unter dem Begriff „Kommunismus“ Stalin verstehen oder an die Mauer denken, so muss ich sagen: Das stimmt. Aber das ist nicht das Ergebnis einer schöpferischen Fantasie, sondern das Ergebnis leidvoller Erfahrungen, die sich auf vielfache Weise weltweit niedergeschlagen haben. ({4}) Wenn wir eine Debatte über die Wertegrundlagen unserer Gesellschaft führen wollen, dann ist für uns unzweifelhaft: Der Kommunismus ist nicht die Gesellschaft des Grundgesetzes. ({5}) Wer Wege zum Kommunismus sucht, der sucht Wege aus der Gesellschaft des Grundgesetzes. ({6}) Er braucht sich dann nicht zu wundern, dass das Bundesverwaltungsgericht am 21. Juli letzten Jahres entschieden hat, dass die praktische Beobachtung der Partei Die Linke durch das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtmäßig ist. ({7}) Wir haben es hier mit einer Leitbildkonkurrenz zu tun, mit einem Leitbildgegensatz, der nicht deutlich genug benannt werden kann. Das Leitbild des Grundgesetzes ist eine Gesellschaft, die allen Menschen, auch denen der zukünftigen Generation, ein Leben in Würde ermöglichen will. Die Erfüllung dieses Leitbildes ist eine anspruchsvolle und täglich wiederkehrende Aufgabe. Wer den Kommunismus propagiert, der will sich mit der Flucht in eine Sozialutopie der täglichen Mühe dieser Aufgabe entziehen. Wie mühevoll diese Aufgabe ist, das erleben wir in den Debatten, aktuell bei der Debatte um die Hartz-IV-Sätze im Vermittlungsausschuss. Diese Aufgabe ist mühevoll, und es ist streitig, was im Einzelnen auf der Grundlage des Leitbildes des Grundgesetzes verhandelt wird. Aber gerade weil es streitig ist, ist es so wichtig, dass der Streit auf dem gleichen Fundament geführt wird, wenn er zu regierungsfähigem Handeln führen soll. „Gleiches Fundament“ bedeutet eben nicht das Ausprobieren von Wegen zum Kommunismus, sondern sich täglich der Mühe zu unterziehen, jedem Menschen in dieser Gesellschaft ein Leben in Würde zu ermöglichen. Wenn Sie sich an der Debatte beteiligen, so setzen Sie sich - hier hat Frau Lötzsch vielleicht nur eine Offenbarung längst bekannter Positionen verkündet - dem berechtigten Misstrauen aus, dass Ihr Beitrag zur Debatte um Hartz-IV-Sätze, um Altersarmut, um Steuerpolitik, um Friedenspolitik kein Beitrag ist, hinter dem die individuelle Menschenwürde als wirklich letztendliches und entscheidendes Ziel steht. Vielmehr ist sie nur ein taktisches Ziel. ({8}) - Sie haben den Beitrag von Frau Lötzsch hoffentlich ebenfalls gelesen. ({9}) Ich rede nicht über irgendetwas, sondern ich rede über das, was ihre Haltung prägt und was in diesem Aufsatz zum Ausdruck kommt. ({10}) Manche illusionäre Finanzforderung an den Staat findet unter Umständen darin eine logische Erklärung; denn es geht Ihnen offenkundig nicht darum, tagtäglich das Ziel der Wahrung der individuellen Menschenwürde zu erreichen, sondern Sie folgen einer Utopie, für deren Durchsetzung in der Geschichte immer wieder Gewalt gerechtfertigt wurde. Es ist nicht so, dass ich gegen das eine oder andere Ihrer Parteimitglieder Einwände hätte. Ich habe schon individuelle Personen Ihrer Partei für ihren Einsatz gewürdigt. Aber weil ich der Meinung bin, dass zur Regierungsfähigkeit eine Übereinstimmung in den Wertgrundlagen erforderlich ist, war für mich immer klar, dass mit Ihnen keine Koalition und keine Zusammenarbeit in der Bundesrepublik Deutschland auf Regierungsebene praktiziert werden sollte. ({11}) Ich nehme den Beitrag von Frau Lötzsch als eine Mahnung. Jeder sollte in diesem Sinne seine Verantwortung bei seinem politischen Handeln wahrnehmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Gleicke hat für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesine Lötzsch hat Unsinn geredet und geschrieben. Das wissen hier alle. Frau Lötzsch weiß das sicher auch selber. Das macht das Ganze kein bisschen besser, sondern nur noch viel ärgerlicher und noch viel peinlicher. Frau Lötzsch sollte zugeben, dass sie bestimmten Leuten nach dem Maul reden wollte. Damit wäre zwar nichts wirklich gut, aber zumindest vieles geklärt. Dann könnten wir diese Debatte beenden und uns wieder um wirklich wichtige Dinge kümmern, um die Zensur von Soldatenpost zum Beispiel, um vergiftete Lebensmittel oder um den Zynismus, mit dem diese Bundesregierung Hartz IV instrumentalisiert, um all die großen und kleinen Skandale, die unsere volle Aufmerksamkeit verdient hätten. Aber nein, sie gibt gar nichts zu. Sie bleibt lieber in ihrem rot lackierten Elfenbeinturm sitzen und spinnt dort genau das Garn, aus dem die CDU ihre nächste RoteSocken-Kampagne stricken möchte. Wenn Frau Lötzsch sich selbst als demokratische Sozialistin bezeichnet und behauptet, nach irgendwelchen Wegen zum Kommunismus suchen zu wollen, dann ist das erstens intellektuell armselig, weil das eine das andere definitiv ausschließt. Das hat uns die Geschichte gezeigt. ({0}) Zweitens ist das purer Opportunismus, weil sie damit im Trüben fischt. Sie geht damit bei denjenigen auf Stimmenfang, die aus der Geschichte nichts, aber auch gar nichts gelernt haben. Das sind die, die von der Geschichte nichts wissen, das sind die, die von der Geschichte nichts wissen wollen, oder die, die die Geschichte kennen und keine Konsequenzen aus ihr ziehen wollen. Die dritte Gruppe sind die völlig Unbelehrbaren. Das sind die herz- und hirnlosen Zyniker, die finden, dass all dieser Schrecken und all diese Verbrechen insgesamt irgendwie doch richtig und notwendig gewesen sind: die Schauprozesse, die Gulags, Bautzen, die Mauer, der Schießbefehl. Es gibt tatsächlich immer noch Leute, die der Meinung sind, dass das bedauerliche, aber historisch irgendwie notwendige Irrtümer auf den verschlungenen Wegen ins Paradies gewesen sind. Es gibt immer noch Leute, die nicht begreifen können oder wollen, dass der Kommunismus des 19. Jahrhunderts seine Unschuld für immer verloren hat. ({1}) Aber es gibt noch ein Drittes, was ich Ihnen ankreide und übel nehme. Diese unsägliche Debatte beschädigt all die anständigen Menschen, die wirklich und aufrichtig an eine bessere Welt glauben und die jeden Tag versuchen, sie ein kleines bisschen besser zu machen. Damit meine ich auch durchaus Leute in der Linkspartei, gerade unter den Jüngeren. ({2}) Die sitzen jetzt da und wissen nicht so recht, was sie machen sollen - mit einer Vorsitzenden auf der Suche nach Wegen in den Kommunismus und mit einem Vorsitzenden auf der Suche nach dem besten Rotwein unter 10 Euro. Rosa Luxemburg wäre da speiübel geworden. ({3}) Sie gehen schlecht um in der Linkspartei mit Ihren jungen Leuten und deren Träumen von einer besseren Welt. Das müssen Sie letztlich selber wissen; da mische ich mich nicht ein. Aber wir werden Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie auf der einen Seite kalten Kaffee vom Kommunismus erzählen und auf der anderen Seite uns Sozialdemokraten immer wieder als Totengräber des Sozialstaats oder als Kriegstreiber denunzieren. Sie haben den Traum von der besseren und von der gerechteren Welt nicht gepachtet; im Gegenteil: Sie sind dabei, ihn für einen billigen Applaus der Ewiggestrigen zu verraten. ({4}) Wenn Sie glauben, dass Sie mit dieser billigen Masche durchkommen, dann werden Sie Ihr rotes Wunder erleben. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Kurth das Wort. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Maurer, das Christentum will das Individuum ändern, durch Einsicht, und nicht die Gesellschaft. ({0}) Der Kommunismus will durch Revolution die Gesellschaft verändern. Der Kommunismus scheitert regelmäßig. Das Christentum bleibt. Das ist der gewaltige Unterschied. ({1}) Frau Lötzsch hat einen Beitrag geschrieben. Hohe Wellen hat dieser Beitrag geschlagen: öffentlicher Aufschrei, zahlreiches Kopfschütteln. Ja, das beruhigt: Das gesellschaftliche und demokratische Immunsystem ist intakt. Die Art und Weise aber, wie die Linke mit diesem Thema umgegangen ist, wie sie sich heute hier auch präsentiert hat, die Übergriffe auf friedlich demonstrierende SED-Opfer, das Ausbleiben von Bedauern, das zeigt: Das gesellschaftliche und demokratische Immunsystem der Partei Die Linke ist kaputt. ({2}) Etwas ist schon ein bisschen erstaunlich; das muss ich wirklich sagen. Eine Frage stellt sich vielleicht vielen - Sie haben auch keine Antwort gegeben -: Wo ist eigentlich Frau Lötzsch? Wo ist eigentlich Herr Gysi? Wo ist denn eigentlich Klaus Ernst? Wo ist denn Sahra Wagenknecht? Und noch einmal: Wo ist Gesine Lötzsch? ({3}) Hier wird über ihre Diskussionsbeiträge gesprochen. Gesine Lötzsch geht offensichtlich viel lieber zu linkskriminellen Demagogen und Terroristen. Sie ehrt, sie adelt eine solche Veranstaltung, aber dem Deutschen Bundestag bleibt sie fern. Eine hervorragende parlamentarische Auffassung hat diese Dame, die Sie hier heute noch einmal bestätigt haben. ({4}) Die Aussagen von Frau Lötzsch lassen in ihrer Eindeutigkeit wenig Interpretationsspielraum. Sie bekennt sich klar zur „strukturellen Veränderung der Eigentumsund Machtverhältnisse“. Sie sieht ihre Partei in der „Tradition gesellschaftsverändernder radikaler Realpolitik“. An diesen Aussagen kann man ebenso wenig deuteln wie an der Verwendung eines sehr problematischen Zitats. Sie zitiert Rosa Luxemburg. Ich zitiere: So soll die Machteroberung nicht eine einmalige, sondern eine fortschreitende sein, indem wir uns hineinpressen in den bürgerlichen Staat, bis wir alle Positionen besitzen und sie mit Zähnen und Nägeln verteidigen. Gesine Lötzsch! Ich frage Sie: Was verstehen Sie unter „hineinpressen“? Ich frage Sie: Wie sind in diesem Zusammenhang „Zähne“ und „Nägel“ zu verstehen? Ich frage Sie: Was können Sie denn dagegen haben, dass die Verfassungsschutzämter Sie beobachten? Wer mit Zähnen und Nägeln in der Demokratie umgehen will, der hat nichts anderes als Gewalt oder Härte vor. Ich möchte Sie bitten, diese Frage hier noch schnell zu klären. ({5}) Eines lässt einen ganz erschaudern. Es gibt einen Abschnitt mit der Überschrift „Fortschreitende Machteroberung“. Der Begriff „Eroberung“ ist höchst interessant. Er hat relativ wenig gemein mit dem demokratischen Grundkonsens, mit der Willensbildung und dem politischen Wettbewerb. „Machteroberung“ Patrick Kurth ({6}) - andere haben es übrigens „Machtergreifung“ genannt -, ({7}) unter diesem Aspekt schreibt Frau Lötzsch verschiedene Dinge auf. Sie schreibt darüber, ob sich Krisen möglicherweise zum Vorteil für die Linken auswirken könnten; sie schreibt über die Klimaerwärmung und über Missstände in Verbindung mit der Euro-Krise und stellt die Frage, ob die EU eventuell auseinanderbricht. Dann folgert sie - das ist ganz interessant -: Angenommen, das tritt alles so ein, dann werden wir gefragt. Wir, die demokratischen Fraktionen, versuchen ja, diese Krisen - wenn auch mit unterschiedlichen politischen Mitteln - zu verhindern. Das Ziel ist aber das Gleiche, nämlich dass es den Menschen in diesem Land gut gehen soll. Sie aber wollen Ihren politischen Gewinn aus der Tatsache ziehen, dass diese Krisen eintreten. Ich habe mir gedacht, dass ich diese Haltung von irgendwoher kenne. Ich habe etwas gefunden, das Ihnen sicherlich bekannt ist: Für den Marxisten unterliegt es keinem Zweifel, dass eine Revolution ohne revolutionäre Situation unmöglich ist … An anderer Stelle steht sinngemäß: Erst wenn das Volk hungert, ist es bereit zur Revolution. - Das hat Wladimir Iljitsch Lenin vor ungefähr 100 Jahren zum Zusammenbruch der Zweiten Internationale geschrieben, nachzulesen in Lenin, Werke, Band 21. ({8}) Was Frau Lötzsch in der Sprache des 21. Jahrhunderts geschrieben hat, ist genau das Gleiche: Aus Krisen wollen Sie Ihren politischen Gewinn erzielen. ({9}) Ich halte fest: Wer glaubt, es handele sich um einen gesellschaftspolitischen Aufsatz, der irrt. Dahinter steckt eiskalte Parteitaktik. Der Unterschied zu irgendwelchen DDR-Shows ist der, dass Frau Lötzsch eine Politik machen will, die in unser künftiges Leben eingreifen soll. Für viele Menschen ist der kommunistische Gedanke möglicherweise hipp und modern. Aber diese Menschen wissen gar nicht, dass diese Haltung von Ihnen parteipolitisch ausgenutzt wird. Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass ausgerechnet der Kommunismus mit seiner menschenausgrenzenden, bevorteilenden und nach Klassen unterscheidenden Theorie und in seiner gewalttätigen, freiheitsberaubenden und tödlichen Praxis als die gerechtere Gesellschaftsform dargestellt wird. Einem solchen im Kern völlig ungerechten Gesellschaftssystem müssen aufrechte Demokraten aufklärerisch, aber auch wehrhaft entgegentreten. Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dobrindt das Wort. ({0})

Alexander Dobrindt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003516, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Demokraten! Anwesende Kommunisten! ({0}) Meine Damen und Herren! Herr Maurer, das, was Sie hier abgeliefert haben, ist nicht nur unterirdisch. ({1}) Es ist auch abartig und pervers. Das muss man einmal an dieser Stelle sagen. ({2}) Sie haben das Bekenntnis zum Kommunismus hier im Deutschen Bundestag erneuert. Außerdem waren Sie noch bereit, dass Christentum mit hineinzuziehen. Sie sollten sich an die geschichtliche Wahrheit halten. Kommunisten haben überall auf der Welt die Christen verfolgt, unterdrückt und entrechtet. Das ist die geschichtliche Wahrheit und nichts anderes. ({3}) Sie reden von den Wegen zum Kommunismus. Es gibt in diesem Artikel noch weitere schöne Zitate von Gesine Lötzsch. Sie schreibt: Egal, welcher Pfad zum Kommunismus führt, alle sind sich einig, dass es ein sehr langer und steiniger sein wird. Warum eigentlich? Sie fragt also, warum es keinen schnellen Weg geben soll, warum es nicht bald geschehen soll. Sie hat mit dieser Aussage klar gesagt, dass sie in Deutschland den Kommunismus einführen will. ({4}) Damit stellen Sie sich außerhalb des Verfassungsbodens. Wer in Deutschland ein menschenverachtendes System verherrlicht, wer in Deutschland den Kommunismus predigt, der sagt damit deutlich, dass er die freiheitlich-demokratische Grundordnung in diesem Land schleifen will und sie ablehnt. Wer dies tut, muss flächendeckend vom Verfassungsschutz beobachtet werden. ({5}) Der Kollege Kurth hat gerade zu Recht gefragt, wo denn eigentlich Ihre Parteivorsitzende Lötzsch ist. ({6}) Draußen bei den Menschen, in Hinterzimmern und wo auch immer sind Sie gerne bereit, den Kommunismus zu predigen. Hier aber, wo Sie eine politische Debatte führen könnten, stehlen Sie sich feige davon. Warum stellt sich Ihre Vorsitzende nicht dieser Debatte? Ich sage Ihnen: Die Linken lassen sich heutzutage eindeutig mit drei Wörtern beschreiben: antidemokratisch, verfassungsfeindlich und feige. Das ist die Realität der Linken in Deutschland. ({7}) Aber Sie hätten auch einmal die Wahrheit sagen können. ({8}) Sie hätten die Chance gehabt, heute die Wahrheit zu sagen, warum Sie sich eigentlich mit dem Thema Kommunismus jetzt mehr beschäftigen als vielleicht in der Vergangenheit. Ihre Vorsitzende Gesine Lötzsch hat es ja in ihren ersten Wortmeldungen nach diesem Artikel getan, danach nicht mehr. In den ersten Wortmeldungen hat sie gesagt, es solle ein Ansporn sein, auch diejenigen für die Linken zu gewinnen und zu halten, denen die Partei heute zu angepasst erscheint. Das ist Ausdruck einer tief verwurzelten antidemokratischen kommunistischen Haltung in Ihrer Partei, die Sie jetzt billig bedienen wollen, die Sie mit in die Verantwortung nehmen wollen, deren Weg Sie mit beschreiten wollen. Sie haben sich klar dafür entschieden, eine Kommunismusdebatte in Deutschland zu führen, um einige Menschen in Ihrer Partei, die antidemokratisch sind, billig wieder auf Linie zu bringen. Es ist feige und populistisch, was an dieser Stelle stattfindet. ({9}) Man kann den Ursprungsentwurf dieses Artikels heute nachlesen. Der Ursprungsentwurf, den einer Ihrer Philosophen geschrieben hat, hat in der Tat einen Hinweis auf kommunistischen Terror enthalten. Er hat in der Tat darüber gesprochen, dass es Millionen von Opfern aufgrund kommunistischer Regime gegeben hat. Genau diesen Satzteil haben Sie bewusst aus diesem Manuskript herausgestrichen und die Wege zum Kommunismus, die es vorher gab, hineingeschrieben. ({10}) Das ist es, was ich dabei eigentlich mit am schlimmsten finde. Da zeigt sich deutlich, wes Geistes Kind hinter diesem Schreiben steht. ({11}) Ich habe sehr genau zugehört, wie Sie, Herr Thierse, beschrieben haben, welche Auswirkungen der Kommunismus auf die Welt hat. Ich kann es nur mit großem Respekt zur Kenntnis nehmen. Ich hätte allerdings gehofft, dass Ihre Kollegin Frau Gleicke Ihnen genauso gut zugehört hätte wie ich. Dann hätte sie nämlich festgestellt, dass es nicht um die Frage irgendeiner RoteSocken-Kampagne geht. Es geht um grundsätzliche Fragen unserer Gesellschaftsstruktur, die wir heute hier diskutieren. Dabei geht es natürlich auch darum, wer sich mit wem am Ende gemeinmacht. Deswegen wäre der Hinweis richtig gewesen, ({12}) wenn Sie heute zu Recht dieses Bekenntnis gegen den Kommunismus abgeben, dass Sie sagen, dass sich in Berlin und Nordrhein-Westfalen Sozialdemokraten nicht mit den Linken gemeinmachen dürfen. ({13}) Das trifft leider Gottes auch die Grünen. Kollege Wieland, ich habe mit Entsetzen feststellen müssen, dass man genau nach diesem Bekenntnis der Linken zum Kommunismus nicht als Erstes einen Aufschrei aller demokratischen Parteien gehört hat, ({14}) sondern dass als Allererstes auch eine Wortmeldung Ihrer Parteivorsitzenden Frau Roth dabei war, die gesagt hat: Egal, was ist, ich schließe eine Zusammenarbeit mit den Linken in Deutschland nicht aus. ({15}) Ich kann für die Christlich-Soziale Union hier feststellen: Wir schließen für alle Zeiten aus, mit denen gemeinsame Sache zu machen, der Kommunismus darf in Deutschland keine Chance mehr haben! Dafür müssen wir alle sorgen. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Hacker für die SPD-Fraktion. ({0})

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kommunismus - ob in den Farben des real existierenden Sozialismus in der DDR oder beispielsweise als Sowjetsystem - ist geschichtlich gescheitert. Eine Debatte zum Kommunismus würde sich eigentlich vor dem Hintergrund anderer wichtiger Themen hier im Hause erübrigen, wenn irgendjemand diese Diskussion angestoßen hätte. Aber es ist nicht so. Es ist die Parteivorsitzende der Linken, Frau Lötzsch, die scheinbar in dem Führungsduo ihrer Partei die Rolle für Agitprop und ideologische Bestandspflege übernommen hat, ({0}) während sich der Kovorsitzende mehr um die angenehmen Seiten des Lebens kümmert. Hier kommt erneut die Doppelgesichtigkeit dieser Partei zum Ausdruck. Frau Lötzsch ist heute nicht anwesend. Das ist angesichts des Eklats, den sie in der deutschen Gesellschaft provoziert hat, für mich unverständlich. Bei ihrem Ausflug in den Kommunismus kommt mir ein Song aus dem DDR-Oktoberklub ins Gedächtnis, den Frau Lötzsch damals im Gegensatz zu mir vielleicht mit vollem Herzen und aus voller Brust mitgesungen hat. Der Titel lautet: „Sag mir, wo du stehst und welchen Weg du gehst“. Frau Enkelmann kennt diesen Song; sie gehört wahrscheinlich ebenfalls zu den Anhängern dieser Musik, was auch in Ordnung ist. Bei dem anderen Thema ist die Bewertung anders. Bei allen Bemühungen fällt es schwer, herauszufinden, was Frau Lötzsch mit ihren Äußerungen eigentlich politisch und gesellschaftlich will. Mir kommt ihr Agieren während der Diskussion und auch danach wie eine Schifffahrt auf hoher See ohne Kompass und Radar vor. Oder sie strebt tatsächlich an, was ihrer diffusen Wortmeldung über Wege zum Kommunismus in der Konsequenz zu entnehmen ist. Das könnte dann aber nur eine andere Gesellschaft als die nach unserem Grundgesetz sein; dann wären Diktatur und Unterdrückung statt Freiheit und Demokratie die Folge. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen in unserem Land haben nach den geschichtlichen Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts mit Weltverbesserern ideologischer Prägung genug von solchen Angeboten und stehen fest zu unserer verfassungsrechtlichen Grundordnung. Frau Lötzsch hat nicht zum ersten Mal mit der Kommunismusdebatte die Frage danach aufgeworfen, wie sie es tatsächlich mit dem Grundgesetz hält. Damit hat sie auch die Frage gestellt, wie diese Partei es mit dem Grundgesetz hält. Ihre Äußerungen sind kein Ausrutscher. ({1}) - Ich komme gleich zu einem Zitat. Die Äußerungen von Frau Lötzsch sind kein Ausrutscher - hier sind genügend Zitate gebracht worden -, sondern ein weiterer Punkt in einer Reihe von Wortmeldungen, in denen sie ihre Abneigung zu unserer Demokratie und zu unserem Rechtsstaat unverhohlen zum Ausdruck bringt. Ich will nur einmal ein Zitat aus ihrer Rede zum Jahresbericht zur Deutschen Einheit am 30. September 2010 vortragen. ({2}) Einige werden sich an diese Rede noch erinnern; auch einige aus der Fraktion Die Linke. Einige werden sich auch daran erinnern, dass sie die Rede von Frau Lötzsch mit Abscheu zur Kenntnis genommen haben. Ich will hier keine Namen nennen. Sie hat dort ausgeführt: Es geht darum, dass es eine Alternative zu dieser kapitalistischen Gesellschaft geben muss. Wir als Linke lassen uns nicht abschrecken. ({3}) Wenn sie eine Alternative zu dieser kapitalistischen Gesellschaft - das war die Diskussion zum Stand der deutschen Einheit - in Deutschland im Jahr 2010 fordert, dann meint sie damit eine Alternative zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland und zu unserem Rechtsstaat. Wenn sie zugleich Wege zum Kommunismus fordert, dann ist das ein klares Infragestellen unseres Verfassungskonsenses. Das muss hier einmal so ausgesprochen werden. ({4}) Mitglieder ihrer eigenen Partei Die Linke mahnen an, dass die Blutspur, die der Kommunismus hinterlassen hat, nicht ausgeblendet werden darf. Ich sage dazu: Jeder politischer Häftling, jeder Zwangsausgesiedelte an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, jeder Mauertote und jeder Flüchtling aus der DDR ist ein Argument gegen den Kommunismus und die neuen Wege, die Frau Lötzsch empfiehlt. ({5}) Den Kommunismus, der teilweise verklärt und schöngeredet wird, Herr Maurer, gibt es nicht halb. Das ist wie bei der Schwangerschaft; Kommunismus gibt es nur ganz oder gar nicht. Wir in Deutschland wollen auch nicht die Hälfte vom Kommunismus haben. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, jene Mitglieder der Linken, die nicht nur mit Lippenbekenntnissen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung anerkennen, müssen sich fragen lassen, wie sie eine derartige Wegbeschreibung ihrer Parteivorsitzenden mitgehen können. Herr Maurer, ich bin ernüchtert. Heute hätte hier eine Erklärung erfolgen können. Es ist ein weiterer Skandal, dass Sie sich auf die Bibel berufen und mit ihr Enteignungen rechtfertigen; ({7}) das haben Sie hier getan. Sie haben kommunistische Maßnahmen mit dem Unrecht anderer gerechtfertigt; das ist ein weiterer Skandal. ({8}) Frau Lötzsch muss sich allerdings am Ende die Frage gefallen lassen, ob sie mit ihrer Kommunismusposition eine Partei führen kann, die den Anspruch erhebt, eine linke, demokratische Partei in Deutschland zu sein. Die Antwort darauf muss uns Frau Lötzsch noch geben. ({9}) Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Baumann hat für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Maurer, Ihre Rede war für jeden, der in der DDR gelebt hat, der das System kennt, der in der DDR zum Opfer geworden ist, der dort gelitten hat, der dort Christ war, eine bodenlose Frechheit. Ihre Rede war eine Verhöhnung der Opfer. ({0}) Lassen Sie mich mit einem Beispiel aus der DDR beginnen. Ein 17-jähriger Schüler trägt eine Jeansjacke. Darauf ist ein Aufnäher, der unerwünscht ist. Er kommt mit der SED in Schwierigkeiten. Man verhaftet ihn, schlägt ihn mit einem Knüppel. Als Jugendlicher versucht er, sich zu wehren. Es folgen sechs Monate Jugendgefängnis wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Er kommt frei und schreibt handschriftlich sieben Flugblätter, die er verteilt. Man kann sagen: ein Dummejungenstreich. Darauf folgte die Inhaftierung im Stasigefängnis Hohenschönhausen. Nach der Entlassung kommt er gleich in das nächste Gefängnis, in das Gelbe Elend von Bautzen; viele wissen, was das war. Danach wird ihm Republikflucht unterstellt, obwohl er diese niemals unternehmen wollte - es gab keine Beweise dafür -, und er wird ständig wieder ins Gefängnis gesteckt. Bis November 1989 bleibt er durchgehend in Haft, in DDR-Gefängnissen, mit allem, was dazugehörte. In der Summe: sieben Jahre schlimmster Haft ohne jeden Grund, eine zerstörte Jugend, eine gebrochene Persönlichkeit. Das war Kommunismus live. Dort möchten Frau Lötzsch und einige Gestrige wieder hin. ({1}) - Genau das wollen Sie! ({2}) Ich könnte viele Beispiele anführen; viele von uns kennen genügend Beispiele, man findet sie an vielen Stellen. Ich möchte von der täglichen Arbeit im Petitionsausschuss sprechen. Wir haben im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages in den letzten acht Jahren etwa 2 000 Petitionen von Opfern des SED-Regimes erhalten: Sie führen berechtigte Gründe dafür an, dass sie für das Schicksal, das sie in der DDR erleiden mussten, Entschädigung verlangen. Noch heute gehen wöchentlich mehrere Petitionen von Bürgern ein, die eine Rehabilitierung im strafrechtlichen oder beruflichen Bereich wünschen. Sie haben ihr Hab und Gut verloren, saßen im Gefängnis oder ihre Karriere wurde zerstört, einfach nur wegen einer anderen politischen Meinung. Herr Maurer, das war DDR live, das war Kommunismus. Nicht nur beim Bundestag gehen jeden Tag Petitionen ein; auch die Zahl der Eingaben bei Landesparlamenten und den zuständigen Behörden ist riesig. Die DDR war in allen Punkten ein Unrechtsstaat. Man kann viele Beispiele dafür anführen: Es gab keine freien Wahlen, alles war manipuliert und gesteuert. Es gab keine freie Meinungsäußerung; man durfte nur das sagen, was der Staat angeordnet hat, alles andere wurde verfolgt. Viele fanden sich wegen einer Meinung, wegen eines Witzes in Bautzen oder Hohenschönhausen wieder. Die Staatssicherheit hat das Land flächendeckend kontrolliert. Schauen Sie sich einmal die Zahlen an: Es gab einen IM auf 89 Einwohner. Heute kennen wir diese Zahlen. Es handelte sich also um flächendeckende Kontrolle. Der Staat wurde auch noch von einer privilegierten Schicht ausgeplündert, die sich alles genommen hat, die einfach da oben war. Es gab eine sogenannte Planwirtschaft, die den Staat wirtschaftlich kaputtgemacht hat. Andersdenkende wurden - wir kennen die Beispiele gegen Devisen freigekauft und verließen das Land. Der Alleinvertretungsanspruch der SED war - kurzum - eine Diktatur. Die Hinterlassenschaften haben wir 1989/90 erlebt: marode Wirtschaft, kaputtes Umweltsystem, kaputte Infrastruktur. Das Schlimmste war: Der Staat und die Menschen waren moralisch kaputt. Damit haben wir jahrelang zu kämpfen gehabt; über die Auswirkungen reden wir heute noch. Man muss deutlich sagen: Zum System des Kommunismus hat auch die Gewalt gehört - 1953 in der DDR; Herr Thierse hat die Zahlen genannt. Wir sprechen heute von 100 Millionen Menschen weltweit, die unter der kommunistischen Schreckensherrschaft, den kommunistischen Fehlentwicklungen gelitten haben. ({3}) Meine Damen und Herren, es ist schon einiges zu dem gesagt worden, was Frau Lötzsch auf der Podiumsdiskussion unter dem Titel „Wo bitte geht’s zum Kommunismus?“ der Rosa-Luxemburg-Konferenz am 8. Januar von sich gegeben hat. Ich möchte, weil meine Redezeit knapp ist, einfach die Gelegenheit nutzen, mich bei denen ganz herzlich zu bedanken, die vor dem Gebäude friedlich demonstriert haben und dann von linken Chaoten zusammengeschlagen worden sind. Einige davon sitzen heute auf der Tribüne. Ganz herzlichen Dank für Ihren Einsatz; er wird unvergessen bleiben. ({4}) Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass im Jahr 2011 noch Menschen für eine demokratische Gesinnung zusammengeschlagen werden. Ich möchte noch ein Zitat von Günter Schabowski bringen, der garantiert nicht zu meinen Freunden zählt. Er hat 2009 ein Buch geschrieben und in der Pressekonferenz, als er das Buch vorgestellt hat, folgendes Zitat verwendet: Zentralismus, Planwirtschaft, das ganze System war ein Konstruktionsfehler. - So Günter Schabowski. - Herr Maurer, das Buch können Sie sich auch einmal anschauen. Meine Damen und Herren, diese Partei muss weiterhin vom Verfassungsschutz kontrolliert werden. Das ist absolut notwendig; es ist gerichtlich bestätigt. Wir müssen wachsam sein. Diese Partei möchte die Grundordnung des Staats zerstören, ein anderes System aufbauen. Das werden wir als Demokraten nicht zulassen. ({5}) Gerade für uns aus den neuen Bundesländern, die wir heute in demokratischen Parteien arbeiten dürfen, die wir dankbar sind, im Bundestag sein zu dürfen, die wir jeden Tag Demokratie live erleben, ist es Verpflichtung, uns mit all unseren Mitteln dagegenzustellen. Dies darf nicht wieder passieren. Herzlichen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Jung für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Franz Josef Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003781, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich an dem historischen 9. November 1989 nach Ostberlin gefahren bin, um mich mit Reformkräften der CDU zu treffen, die den Brief aus Weimar für Meinungsfreiheit, für Reisefreiheit, für Rechtsstaat, für Demokratie in der DDR geschrieben hatten, hatten wir auch die Absicht, über Werte auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes zu sprechen, über Werte unseres Grundgesetzes. Das Grundgesetz hatte ich damals dabei. Aber ich musste es verstecken, weil die Grenzwächter des real existierenden Sozialismus es mir sonst abgenommen hätten. Daran wird deutlich - ich fand, der Kollege Baumann hat das sehr überzeugend dargestellt -: ({0}) Im Sozialismus und Kommunismus der DDR gab es weder Meinungsfreiheit noch Reisefreiheit, freie Wahlen und Demokratie. Was es gab, war Unfreiheit, Unterdrückung, Stasibespitzelung, waren Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl. Einen derartigen Sozialismus und Kommunismus darf es auf deutschem Boden nicht mehr geben. ({1}) Ich erinnere mich daran - und viele mit mir -, wie sich die Bürger damals, während der friedlichen Revolution, vom Joch des Kommunismus befreit haben und sich eindeutig zu Werten wie Freiheit, zu Werten unseres Grundgesetzes bekannt haben. Ich denke, deswegen darf es kein Zurück geben. Das Elend des Kommunismus, das es auf deutschem Boden gegeben hat, muss für immer der Vergangenheit angehören. ({2}) Herr Maurer, für mich war das, was Sie hier ausgeführt haben, bezeichnend. Sie haben im Grunde genommen alles gerechtfertigt. ({3}) Sie haben gezeigt, was Ihre geistigen Wurzeln sind. Ich sage Ihnen, der Sie zur Nachfolgepartei der SED gehören: Ich bin und bleibe der Auffassung, dass die geistigen Väter und Mütter von Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl in Deutschland keine politische Verantwortung mehr tragen dürfen. ({4}) Herr Kollege Thierse, Ihre Ausführungen haben mich sehr nachdenklich gestimmt. Ich kann Ihnen sehr wohl zustimmen. Was ich nicht nachvollziehen kann, ist, dass die SPD mit einer solchen Partei in Berlin und in Brandenburg eine gemeinsame Regierung bildet. Das sage ich im Übrigen auch an die Adresse der Grünen. Herr Wieland, ich kann Ihre Ausführungen ebenfalls sehr gut nachvollziehen. Ich kann mich auch noch sehr gut an das Bündnis 90 erinnern. Sie führen es in Ihrem Namen, und einige sind sogar noch im Parlament. ({5}) Wie man sich aber von einer so antidemokratischen Partei, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, in Nordrhein-Westfalen tolerieren lassen kann, nur um der Macht willen, kann ich nicht nachvollziehen. ({6}) In dieser Woche hat der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der übrigens Mitglied der SPD ist, die Notwendigkeit formuliert, dass die Linke weiter vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Wenn die Parteivorsitzende der Linken den Weg in den Kommunismus gehen will und die stellvertretende Parteivorsitzende die Kommunistische Plattform vertritt, dann ist das mit den Werten unseres Grundgesetzes nicht in Übereinstimmung zu bringen. Das zeigt, dass sie sich gegen unsere Verfassung richten. Deshalb sind alle Demokraten aufgerufen, ihnen ein eindeutiges Nein entgeDr. Franz Josef Jung genzurufen, sich abzugrenzen und nicht mit einer solchen politischen Gruppierung zusammenzuarbeiten. ({7}) Ich finde es bezeichnend, dass Frau Lötzsch hier, im Deutschen Bundestag, einen Mitarbeiter beschäftigt, der eine Stasivergangenheit hat. ({8}) Das sind Folgewirkungen. Das kommt daher, dass Sie eine derartige Vergangenheit haben. Lassen Sie mich auch Folgendes sagen: Der Kommunismus - das wurde bereits vorgetragen -, der so viel Elend, so viel Unmenschlichkeit und Tod in diese Welt gebracht hat, ist gescheitert, weil er sich gegen die Natur des Menschen richtet. Der Mensch ist nicht unfehlbar in der klassenlosen Gesellschaft. Der Kommunismus ist immer verbunden mit Unfreiheit, mit Unterdrückung und Diktatur. Das darf und kann nicht die politische Zielvorstellung in einem demokratischen Parlament sein. ({9}) Der Kommunismus gehört auf den Müllhaufen der Geschichte. Er hat in all seinen Ausprägungen versagt. Eine derartige Perspektive kann es nicht mehr geben. Deshalb ist es notwendig, dass auch die Bürgerinnen und Bürger den Linken die Rote Karte zeigen. Mit solchen Zielvorstellungen dürfen sie keine politische Verantwortung in Deutschland tragen. Besten Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 26. Januar 2011, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.