Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten,
gibt es zwei Umbesetzungen in Gremien, über die wir
befinden müssen. Die FDP-Fraktion schlägt vor, die
Kollegin Sylvia Canel zum ordentlichen Mitglied in der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates
und den Kollegen Patrick Meinhardt zum stellvertretenden Mitglied zu wählen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die beiden Kollegen gewählt.
Als Nachfolgerin des ausgeschiedenen Abgeordneten
Dr. Herbert Schui im Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post
und Eisenbahnen benennt die Fraktion Die Linke die
Kollegin Johanna Voß. Können Sie auch diesem Vorschlag zustimmen? - Das ist offensichtlich der Fall. Damit ist die Kollegin Voß zum ordentlichen Mitglied im
Beirat bei der Bundesnetzagentur gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz
Verbraucher konsequent schützen - Höchstmaß an Sicherheit für Lebensmittel gewährleisten
({0})
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Standpunkt und Konsequenzen der Bundesregierung zum ungarischen Mediengesetz
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE gemäß Anlage 5 Nr. 1 Buchstabe b
GO-BT
zu den Antworten der Bundesregierung auf
die Fragen 21 und 22 auf Drucksache 17/4406
({1})
ZP 4 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
zum Jahreswirtschaftsbericht 2011: Deutsch-
land im Aufschwung - den Wohlstand von
morgen sichern
ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfah-
ren
Ergänzung zu TOP 26
a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das ungarische Mediengesetz - Europäische
Grundwerte und Grundrechte verteidigen
- Drucksache 17/4429 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Ingrid Hönlinger, Volker Beck ({3}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bestellerprinzip in die Mietwohnungsvermittlung integrieren
- Drucksache 17/4202 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 6 Vereinbarte Debatte
Weißrussland - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Sabine Leidig, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Die Bahn im Einklang mit dem Grundgesetz
am Wohl der Allgemeinheit orientieren
- Drucksache 17/4433 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann,
Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine konsequente Strukturreform der
Deutschen Bahn AG
- Drucksache 17/4434 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
ZP 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP:
Forderungen der Vorsitzenden der Partei DIE
LINKE, Dr. Gesine Lötzsch, Wege zum Kommunismus auszuprobieren - Opfer nicht verhöhnen
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 27 a wird heute abgesetzt.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der am 11. November 2010 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für
Kultur und Medien ({7}) zur Mitberatung
überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von De-Mail-Diensten und zur Änderung
weiterer Vorschriften
- Drucksachen 17/3630 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Auch das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 sowie die Tagesordnungs-
punkte 3 a und 3 b auf:
ZP 4 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
zum Jahreswirtschaftsbericht 2011: Deutsch-
land im Aufschwung - den Wohlstand von
morgen sichern
3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 2011
- Drucksache 17/4450 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 2010/11 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 17/3700 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({10})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer Vereinbarung zwischen den Fraktionen
soll die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden dauern. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,
Rainer Brüderle.
({11})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In
Deutschland regiert die Zuversicht.
({0})
In Deutschland regiert das Wachstum. In Deutschland
regiert der Fortschritt. In Deutschland regiert SchwarzGelb.
({1})
Die Menschen in unserem Land merken: Es geht voran. Der Aufschwung kommt bei ihnen an. Der Aufschwung kommt beim Facharbeiter an. Statt Kurzarbeit
fährt er jetzt Sonderschichten. Sein Job ist sicher. Sein
Gehalt steigt. Der Aufschwung kommt bei der jungen
Berufsanfängerin an. Ihr steht der Arbeitsmarkt so offen
wie schon lange nicht mehr.
({2})
Der Aufschwung kommt bei den Rentnern an. Sie bekommen im wohlverdienten Ruhestand mehr Rente. Der
Aufschwung kommt bei den Familien an. Mit der Erhöhung des Kindergeldes und den höheren Steuerfreibeträgen haben sie mehr Geld in der Familienkasse.
Der Facharbeiter, die Berufsanfängerin, der Rentner,
die Familien - das sind die Gesichter dieses Aufschwungs.
({3})
Es werden immer mehr. Der Aufschwung hat die
Mitte der Gesellschaft erreicht. Ganz Deutschland feiert
einen Beschäftigungsrekord. Wir freuen uns über
3,6 Prozent Wachstum im letzten Jahr. Die Entlastung
aus dem Jahr 2010 von über 24 Milliarden Euro hat gewirkt. Das ist 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das
war und ist eine konjunkturrelevante Größe.
Es gab ja einige, die Anfang letzten Jahres gesagt haben: Steuerentlastungen bringen nichts. Diese Äußerungen sind jetzt widerlegt. Der Politikwechsel hat gewirkt.
Wir setzen auf Wachstum, Wandel und Dynamik.
({4})
Der Aufschwung ist keine Kurzgeschichte, der Aufschwung ist ein Fortsetzungsroman. 2011 schlagen wir
ein weiteres Kapitel auf. Wir rechnen mit einem realen
Wachstum von 2,3 Prozent. Die Wirtschaftsentwicklung
steht auf einem stabilen Fundament. Die Binnennachfrage gewinnt an Kraft und Dynamik. Bereits letztes Jahr
hat sie mit zwei Drittel zum Wachstum beigetragen. Dieses Jahr sind es über drei Viertel. Die Binnennachfrage
hat die Fackel vom Export übernommen. Der klassische
Aufschwung wird vom Export ausgelöst, und die Binnennachfrage springt quasi nach dem Lehrbuch an.
({5})
Die Ausgangslage ist also gut.
Jetzt geht es darum, den Wohlstand von morgen zu sichern. Wir tun das mit Vollbeschäftigungspolitik, Ordnungspolitik und Chancenpolitik. Noch vor kurzer Zeit
wurde die Vollbeschäftigung von manchen als Illusion
abgetan. Jetzt ist sie in aller Munde. Dieses Kunststück
haben die vielen fleißigen Arbeitnehmer und Arbeitgeber in unserem Land geschafft. Sie haben vor Ort die
richtigen Antworten auf die Wirtschaftskrise gefunden.
Mit flexiblen Lösungen haben sie ein gar nicht so kleines
Jobwunder geschaffen. Das Jobwunder ist inzwischen
erwachsen geworden.
Der Arbeitsmarkt wird sich auch weiterhin gut entwickeln. In diesem Jahr wird die Arbeitslosigkeit im Jahresdurchschnitt unter 3 Millionen liegen. Ich erinnere:
Wir kommen von 5 Millionen. Das ist auch das Verdienst von Schwarz-Gelb.
({6})
Das ist ein klarer Unterschied zur Opposition. Die setzt
auf Blockade, Stagnation und sozialistische Tristesse.
Ich erinnere mich noch gut daran: Herr Gabriel
schwadronierte vor kurzem von einer Abwärtsspirale. Er
sagte wörtlich:
CDU/CSU und FDP führen Deutschland in eine
Abwärtsspirale und die Bundeskanzlerin schaut tatenlos zu!
({7})
Das Gegenteil ist der Fall. Wachstum und Arbeitsmarkt
sind auf Rekordjagd. „Aufwärtsspirale“ wäre besser gewesen, Herr Gabriel.
({8})
Ich freue mich über jeden, der unsere Politik der Vollbeschäftigung unterstützt. Besonders freue ich mich über
Sie, Herr Steinmeier. Sie halten Vollbeschäftigung für
möglich, und es regiert Schwarz-Gelb. Herr Kollege
Steinmeier, Sie sind eine Insel der Vernunft im Meer der
Unvernunft der SPD.
({9})
Mit unserer Vollbeschäftigungspolitik führen wir die
Kurzarbeit auf das Normalmaß zurück. Die Opposition
dagegen will Arbeit gesetzlich verbieten. Wir wollen Beschäftigungshemmnisse für Ältere ausräumen. Auf ihre
Erfahrung können und wollen wir nicht verzichten. Die
Opposition dagegen will sie in die Altersteilzeit abschieben. Wir wollen das große Potenzial der Frauen fördern.
Wir setzen auf die qualifizierten Frauen in Deutschland.
Unsere Wirtschaft braucht sie. Viele Unternehmen haben
schon die Zeichen der Zeit erkannt, darunter viele Familienunternehmen. Wir schlagen konkrete Maßnahmen
für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
vor. Wir leisten einen finanziellen Beitrag für neue Betreuungsplätze. Wir haben die Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“ gestartet. Wir machen Tempo auf
der Schnellstraße zur Vollbeschäftigung. Gut, dass
Schwarz-Gelb Deutschland regiert!
({10})
Das garantiert: Im nächsten Jahr wird die Erfolgsgeschichte am Arbeitsmarkt fortgeschrieben. Wir rechnen
2012 im Jahresschnitt mit nur noch 2,68 Millionen Arbeitslosen.
Meine Damen und Herren, zum ersten Mal seit langer
Zeit gibt es in Deutschland wieder eine Regierung der
sozialen Marktwirtschaft. Deshalb ist ein Axiom dieser
Regierung: Wir brauchen eine klare und verlässliche
Ordnungspolitik. Manche reden am Sonntag über Wettbewerb und Marktwirtschaft, und am Montag wollen sie
Millionen umverteilen. Diese Bundesregierung steht dafür ein, dass Ordnungspolitik nicht zu einer Floskel für
Sonntagsreden wird.
({11})
Deswegen haben wir bei Opel Nein zu staatlicher
Hilfe gesagt.
({12})
Deswegen haben wir bei Karstadt die Kräfte des Marktes
walten lassen. Deshalb spreche ich mich auch für einen
möglichst schnellen Ausstieg des Bundes aus Bankenbeteiligungen aus.
({13})
Ordnungspolitik ist kein Kurzstreckenlauf. Ordnungspolitik braucht einen langen Atem. Ordnungspolitische
Grundsätze müssen auch in Europa gelten. Das hat zuletzt die Euro-Krise deutlich gemacht. Deutschland war
und ist sich in dieser Krise seiner großen Verantwortung
für Europa bewusst. Wir sind bereit, erhebliche Beiträge
zu leisten, aber es darf keine Fehlanreize für unsolide
Haushaltspolitik geben. Wir müssen beim Euro ein
Wächteramt übernehmen. Wir lehnen die Euro-Bonds
ab. Erfolgreiche Länder würden damit automatisch für
laxe Haushaltspolitik der anderen einstehen. Das ist
keine Lösung.
({14})
Die deutsche Staatsräson ist: stabiles Geld. Die deutsche Staatsräson ist: ein stabiles Europa.
({15})
Schwarz-Gelb fühlt sich beidem verpflichtet. Wenn das
Geld schlecht wird, wird alles schlecht. Das ist eine bittere historische Erfahrung. Die Bundesregierung ist sich
dessen sehr bewusst und handelt entsprechend.
Die Opposition hat aus der Geschichte offenbar wenig
gelernt. Die Opposition will die Euro-Bonds. Die Opposition will die Transferunion.
({16})
Sie ist ordnungspolitisch vollkommen auf dem falschen
Dampfer.
Gleiches gilt für diejenigen, die im internationalen
Handel auf die Planwirtschaft setzen. Exportquoten können nicht die Lösung sein. Wir wollen uns unsere Exporte nicht in Brüssel genehmigen lassen. Wir brauchen
Wettbewerb und offene Märkte.
({17})
Ein Jahr christlich-liberale Koalition hat bewiesen:
Wir machen Chancenpolitik für alle. Das bedeutet: Jeder
erhält eine faire Chance, in Freiheit und Eigenverantwortung etwas aus seinem Leben zu machen. Genau
diese Chancenpolitik hat dafür gesorgt, dass die Bundesrepublik zu einer einzigartigen Erfolgsstory wurde.
Hier zeigt sich der Unterschied zur Opposition. Sie
von der Opposition betreiben Chancenverhinderungspolitik. Sie wollen Steuererhöhungen. Das bringt die
Menschen um einen Teil ihres hart erarbeiteten Geldes.
({18})
Sie wollen die Krankenversicherung verstaatlichen. Dadurch senken sie mittelfristig die Leistungen. Die rotgrüne Haushaltspolitik ist nahe am Verfassungsbruch.
Der Verfassungsgerichtshof in Nordrhein-Westfalen hat
gerade ein deutliches Stoppzeichen für rot-grüne Haushaltspolitik gesetzt.
({19})
Das ist hemmungslose Schuldenmacherei auf Kosten der
nächsten Generationen.
({20})
Das zerstört Chancen.
({21})
Die Bundesregierung dagegen schafft Chancen. Sie
stärkt die Bildung. Wir fangen schon bei den ganz Kleinen an. Das Erlernen der deutschen Sprache ist der entscheidende Integrationsschritt; denn Sprache bedeutet
Teilhabe. Die Grünen sehen das offensichtlich anders.
Für die Grünen ist wichtig, dass türkische Kinder in der
Schule Türkisch lernen. Für die Grünen ist wichtig, dass
arabische Kinder in der Schule Arabisch lernen.
({22})
Dann beklagen sie die Integrationsschwierigkeiten. Wir
wollen, dass alle Kinder in Deutschland zuerst einmal
Deutsch in der Schule lernen.
({23})
Die Bundesregierung setzt sogar noch früher an. Mit der
Offensive „Frühe Chancen“ unterstützen wir die Sprachförderung in den Kindergärten.
Auch auf dem Ausbildungsmarkt gibt es noch Handlungsbedarf, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. In
manchen Regionen macht sich bereits der demografische
Wandel bemerkbar.
({24})
Dort herrscht nicht mehr Lehrstellenmangel, dort
herrscht Lehrlingsmangel, Mangel an Auszubildenden.
({25})
Unser Ausbildungspakt mit der Wirtschaft nimmt deshalb die Jugendlichen in den Blick, die noch keine Ausbildungsreife haben.
({26})
Auch die Studierenden können sich über mehr Unterstützung freuen. Wir fördern in der Breite mit mehr
BAföG, wir fördern die Spitze mit Stipendien. Mit all
diesen Maßnahmen setzen wir auf den Wissensdurst der
Kleinen und der Großen. Daneben dürfen wir bereits
vorhandenes Wissen nicht verkümmern lassen. Wir müssen ihm zu neuer Blüte verhelfen. Zum Beispiel müssen
im Ausland erworbene Berufsabschlüsse leichter anerkannt werden.
({27})
Der Taxifahrer mit ausländischem Ingenieurabschluss
soll der Vergangenheit angehören.
({28})
Wir schaffen auch Chancen durch mehr Freiräume.
Niedrigere Steuern und Abgaben bedeuten für den Einzelnen mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Schon kurzfristig werden wir das Steuersystem spürbar vereinfachen.
Darauf hat sich die Koalition geeinigt.
({29})
Mit der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte erarbeiten wir uns weitere Spielräume. Bis zum Jahr 2014
werden wir die Neuverschuldung halbieren. SchwarzGelb hat diese Herkulesaufgabe bereits erfolgreich in
Angriff genommen. Schon in diesem Jahr werden wir
das Maastricht-Kriterium von 3 Prozent Defizit wieder
einhalten. Das ist zwei Jahre früher, als von der EU gefordert.
Unser Zukunftspaket steht für intelligentes Sparen.
Das schafft Zukunftschancen für künftige Generationen.
Unsere Politik steigt konsequent aus der Staatsverschuldung und den Krisenmaßnahmen aus. Deswegen haben
wir den Deutschlandfonds Ende 2010 auslaufen lassen.
Nächsten Dienstag werde ich den Lenkungsrat des
Deutschlandfonds verabschieden. Die acht Experten mit
Professor Hellwig an der Spitze haben sehr gute Arbeit
geleistet. Wir können sie nun guten Gewissens verabschieden; denn jetzt herrschen wieder die Kräfte des
Marktes und des Wettbewerbs.
Die Bundesregierung steht ohne Wenn und Aber für
das Innovationsland Deutschland. Denn auch Innovationen eröffnen neue Chancen für die Menschen in
Deutschland. Wir fördern deshalb massiv Forschung und
Entwicklung von mittelständischen Unternehmen. Innovationen können helfen, Krankheiten zu besiegen. Wir
unterstützen deshalb die Gesundheitsforschung. Innovationen können unsere Ressourcen sichern. Wir lassen
deshalb die Nutzung nachwachsender Rohstoffe untersuchen. Das zeigt: Technischer Fortschritt hat auch eine
ethische Komponente.
Eine Dagegen-Republik können wir uns nicht leisten.
({30})
Wenn die Neinsager das Zepter in die Hand nehmen,
dann gibt es keine neuen Energienetze.
({31})
Der Weg ins regenerative Zeitalter bleibt versperrt. Deswegen hat die Bundesregierung ein umfassendes Energiekonzept vorgelegt. Die Grünen hingegen machen lieber Fundamentalopposition im Bundestag und draußen
auf der Straße.
({32})
Das ist leider nichts Neues. Die Grünen waren gegen den
Flughafen München. Die Grünen sind gegen den Flughafen Berlin Brandenburg International. Die Grünen waren gegen die bemannte Raumfahrt. Die Grünen waren
gegen Handys und Funkmasten. Jetzt sind die Grünen
auch noch gegen die Olympischen Spiele. Ihre DagegenHaltung bringt unser Land nicht weiter. Schwarz-Gelb
ist die Dafür-Regierung.
({33})
Wir sind für einen technologieoffenen Standort. Wir
sind für moderne Verkehrsnetze. Wir sind für die Beteiligung der Bürger an solchen Projekten. Das ist keine
leichte Aufgabe,
({34})
aber wir gehen sie an. Wir nehmen die Menschen mit.
Wir wollen den Menschen keine Ideologie überstülpen.
({35})
Das rufe ich auch all denen zu, die den Kommunismus
wieder salonfähig machen wollen. Kommunismus bedeutet das Gegenteil von Demokratie und sozialer
Marktwirtschaft. Kommunismus bedeutet Diktatur und
Menschenverachtung.
({36})
Die Bundesregierung entwickelt auf der Grundlage der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung das klare Gegenmodell. Wir schaffen mit mehr Bildung, Innovation
und steuerlichen Freiräumen neue Chancen, aus denen
ein ganzes Chancenland wird. Für ein solches Chancenland Deutschland arbeiten wir.
({37})
Die Menschen in unserem Land sind wieder zuversichtlich. Diese Zuversicht ist hart erarbeitet. Das haben
die vielen fleißigen Menschen in unserem Land geschafft. Auch in Zukunft werden wir uns ordentlich anstrengen müssen und anstrengen; denn die erfreuliche
Entwicklung der deutschen Wirtschaft ist kein Selbstläufer. Schwarz-Gelb gibt die nötigen Impulse. Wir stellen
die Weichen für die Vollbeschäftigung. Wir geben mit
der Ordnungspolitik den richtigen Rahmen vor. Wir
schaffen Chancen für unser Land. Deutschland hat gute
Chancen, wir sollten gemeinsam daran arbeiten und uns
über die Erfolge, die wir gemeinsam erreicht haben,
auch gemeinsam freuen, sie nicht zerreden und unser
Land nicht schlechtreden.
Vielen Dank.
({38})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält FrankWalter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Brüderle, es ist schön, dass Sie gute Laune haben. Aber
Sie müssen verstehen: Diese zur Schau getragene Selbstzufriedenheit versteht nicht jeder hier im Saal. Ich weiß
auch nicht, ob Ihnen eines aufgefallen ist, wenn Sie Zahlenreihen beobachten, die normalerweise nicht zusammenpassen: die Wachstumsrate in Deutschland und die
Umfragewerte der FDP. Die beiden Kurven treffen sich
im Augenblick irgendwo zwischen 3 und 4 Prozent. Da
gibt es einen Zusammenhang.
({0})
Ich kann Ihnen versichern: Wenn wir uns von dieser
Krise besser erholt haben als andere, Herr Brüderle,
dann freut das die Opposition nicht weniger als die Regierung, aber wir - und ich in aller Deutlichkeit - sagen:
Das ist nicht Ihr Verdienst. Darüber hilft auch Ihr Frohsinn nicht hinweg.
({1})
Die Wahrheit ist doch - das diskutieren auch Sie intern -:
Die gute Wirtschaftslage auf der einen Seite und eine regierende FDP bundesweit unter 5 Prozent auf der anderen Seite zeigen, dass die Menschen in Deutschland begriffen haben, dass Sie, Herr Brüderle, sie im September
2009 veräppelt haben.
({2})
Sie haben unhaltbare Wahlversprechen gegeben -, die
jedenfalls nicht für die 3,6 Prozent Wachstum gesorgt
haben, die wir jetzt erfreulicherweise verzeichnen. Sie
haben für wachsende Enttäuschung Ihrer Wähler gesorgt, für sonst aber nichts.
({3})
Wenn es uns in Deutschland vergleichsweise gut geht,
worüber ich mich freue, dann hat das mit vielem zu tun.
({4})
- Seien Sie vorsichtig. Viele Schultern tragen diesen Erfolg. Das hat auch mit mutiger Reformpolitik in der
Mitte des letzten Jahrzehnts zu tun, die uns - das sage
ich Ihnen ganz offen - belastet hat und über die wir gestritten haben. Aber das war eine mutige Reformpolitik,
die wir von dieser Regierung erst einmal sehen wollen.
Allerdings kommt von Ihnen nichts.
({5})
Das war eine mutige Reformpolitik, für die man sich
entscheiden muss - da reicht es nicht aus, hier nur Parolen vom Pult zu verkünden -, und es war dann auch kluges Krisenmanagement in der Phase der Großen Koalition: eine Politik, Herr Brüderle, gegen die Sie und Ihre
Leute von diesem Pult aus elf Jahre lang aus der Opposition gestritten haben, die Sie verdammt haben. Das ist
Ihr Beitrag gewesen, allerdings kein Beitrag zum Wachstum.
({6})
Jetzt sind wir Gott sei Dank ein bisschen aus der
Krise heraus, es geht uns ein bisschen besser.
({7})
Was kommt nach 15 Monaten Schwarz-Gelb? Die alte
Leier: Steuern runter, Steuern runter! Sie haben es hier
von diesem Pult eben auch noch einmal verkündet. Nur,
Herr Brüderle, ich sage Ihnen eines: Wir sind hier nicht
im Wahlkampf.
({8})
- Dies beweist nur meinen alten Satz: Sie sind nicht
wirklich in der Verantwortung als Regierungsfraktion
angekommen. Das ist Ihr Problem.
({9})
Wir sind hier nicht im Bundestagswahlkampf; 2013 ist
noch lange hin, falls Sie denn bis dahin durchhalten, woran ich Tag für Tag ein bisschen mehr zweifle.
Aber weil wir nicht im Wahlkampf sind, taugen jetzt
für eine Regierung eben keine Parolen. Vielmehr haben
Sie Verantwortung dafür, dass die gute Basis bleibt, von
der Sie eben gesprochen haben, für die Sie nicht gearbeitet haben, sondern die Ihnen in den Schoß gefallen ist.
Aber dafür sorgen Sie nicht. Was Sie hier vorgestellt haben, ist keine Wirtschaftspolitik. Kaum kommt Geld in
die Kassen zurück - wir haben das bei dieser Regierung
gerade in dieser Woche erlebt -, soll es möglichst
schnell wieder raus, und das, was dringend notwendig
ist, wird nicht gemacht. Herr Brüderle, verzeihen Sie es
mir, aber manchmal sind Sie mir in diesen Tagen wie ein
Lottokönig vorgekommen, der sich über den neuen
Reichtum freut und ihn verjuxt, als gäbe es in diesem
Lande kein morgen.
({10})
- Darüber können wir gerne diskutieren, und das wird in
diesem Haus garantiert noch einmal geschehen. Wenn
wir uns noch einmal anschauen, wie der Nachtragshaushalt in Nordrhein-Westfalen zustande gekommen ist und
warum er notwendig war, dann wird deutlich, dass diesen Scherbenhaufen Ihre Partei in Nordrhein-Westfalen
und niemand anderes zu verantworten hat.
({11})
Meine Damen und Herren, wenn es uns in diesem
Land erfreulicherweise besser geht als vielen in der europäischen Nachbarschaft, dann haben viele dazu beigetragen - das ist wahr; Herr Brüderle, Sie haben das auch
gesagt -, und es war weiß Gott nicht nur die Politik. Die
Frage ist nur immer wieder: Was ist eigentlich der Anteil
dieser Regierung in den 15 Monaten ihrer Amtszeit seit
Oktober 2009 außer der täglichen Portion Regierungschaos, an dem doch Ihre Partei, Herr Brüderle, seit Tagen, seit Wochen, seit Monaten kräftig mitgewirkt hat?
Hier aber tun Sie so, als hätten Sie in sieben Tagen Himmel und Erde und das Paradies gleich noch mit erschaffen. Das macht Sie doch so unglaubwürdig, und das können die Leute nicht mehr ertragen.
({12})
Dabei wissen wir im Grunde genommen alle, dass wir
in dieser Situation wirklich keinen Anlass haben, uns zurückzulehnen. Es stecken unheimliche Chancen darin,
wenn es uns besser als der europäischen Nachbarschaft
geht. Aber wir sind drauf und dran, diese Chancen zu
vergeigen, wenn wir jetzt nicht ein paar Weichenstellungen vornehmen.
Schauen wir uns ein bisschen um in der Welt. Sie von
der Regierung hatten Besuch vom chinesischen Vizeministerpräsidenten. China bildet die dynamischste Wachstumsregion der Welt, ist mittlerweile nicht nur Exportweltmeister - das ist sozusagen Binse -, sondern, wie
man weiß, auch größter Gläubiger der USA. Seit kurzem
wissen wir aber auch, dass dieses Land ein größeres Kreditvolumen ausreicht als die Weltbank. Brasilien und Indien sind auf dem Sprung; ganze Erdteile machen sich auf
in Richtung Wohlstand. Die technologischen Revolutionen bei Energie, Effizienz, bei Informations- und Biotechnologien gewinnen wahnsinnig an Tempo. Ein Industrieland wie dieses, ein Innovationsland wie Deutschland
muss jetzt investieren wie nie zuvor.
Herr Brüderle, als Sie da unten saßen, haben Sie all
das gewusst; Sie haben es uns elf Jahre lang aus der Opposition heraus vorgebetet. Ich habe es noch gut im Ohr.
Seit Sie in der Regierung sind, scheinen Sie all das vergessen zu haben. Lieber Herr Brüderle, das, was ich hier
sehe, ist politische Amnesie, aber es ist keine Politik.
({13})
Was müssen wir in einer solchen Situation tun? Wir
müssen Risiken abwenden. Wir sehen täglich, dass die
Ressourcen knapper und teurer werden. Die Finanzmärkte sind nicht wirklich stabilisiert. Ich führe mir Ihre
Rede von eben vor Augen und frage mich: Ist da wirklich Einsicht? Ist da ein neuer Realismus? Hat sich Ihre
Sicht der Dinge seit dem Wahlkampf 2009 wirklich verändert? Ich finde, nein. Sie wollen noch immer zweistellige Milliardensummen mit der Steuersenkungsgießkanne in der Landschaft verteilen. Sie wollen das
Gemeinwesen - es braucht, wie sich zuletzt in der Wirtschaftskrise bewiesen hat, in einer Krise Muskeln - aushungern lassen. Sie stellen sich bei der Kardinalaufgabe
einer Rechtsstaatspartei blind, für Ordnung auf den Finanzmärkten zu sorgen, also nicht nur ordnungspolitische Reden zu halten.
Reden Sie nicht nur über Opel, reden Sie auch über
Hochtief! Sie verweigern Hilfe, wenn kerngesunde deutsche Unternehmen von ausländischen Wettbewerbern
übernommen und - wir und die Arbeitnehmer befürchten
das - anschließend filetiert werden. Sie sagten, da könne
man nicht helfen, sie stünden zur Verhinderung von Wettbewerb nicht zur Verfügung. Nur ging es im Falle von
Hochtief gar nicht darum; Sie waren da im ganz falschen
Film. Es ging doch um die Frage: Wie sichern wir eigentlich fairen Wettbewerb? Wenn man nichts tut, wenn man
die Dinge laufen lässt, dann führt das zur Verzerrung von
Wettbewerb, dann werden die gesunden Strukturen vernichtet, die wir erhalten müssen. Es wäre die Pflicht eines
Wirtschaftsministers gewesen - ein Wirtschaftminister
hat doch nicht viele Gesetzgebungsaufgaben -, hier zu
handeln; aber Sie haben sich da in die Furche gelegt. Das
ist keine Wirtschaftspolitik; das ist die Verweigerung von
Wirtschaftspolitik. Das merken die Menschen, lieber
Herr Brüderle.
({14})
Aber nicht nur das. Sie zeigen auch bei einem anderen
Thema die kalte Schulter, das eine eminente wirtschaftspolitische Bedeutung für dieses Land hat - wir reden in
einem anderen Zusammenhang im Vermittlungsausschuss
darüber -: Mindestlöhne.
Herr Kollege Steinmeier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lindner?
Ja, sicher.
Bitte.
Kollege Steinmeier, Sie sprachen gerade Hochtief an.
Die Anbahnung der Übernahme geschah in einer Phase,
in der große Industriemächte - Sie haben sie teilweise angesprochen -, auch die USA, erheblichen Druck auf uns
ausgeübt haben, damit wir unsere Exporte drosseln. In
dieser Phase wurde im Falle von Hochtief Druck auf uns
ausgeübt, damit wir selbst die Märkte abschotten. Wir haben in allen Runden, in Doha und bei allen anderen Veranstaltungen, immer wieder für offene Märkte geworben.
Was glauben Sie, was passiert wäre, wenn wir genau in
dieser Zeit, in der ein deutsches Unternehmen von ausländischen Investoren gekauft werden sollte - zugegebenermaßen keine erfreuliche Geschichte -, eine Lex Hochtief
geschaffen hätten, um ausländische Investoren abzuschotten? Was hätten die anderen Länder dann gemacht?
Sie hätten gesagt: Ihr seid doch in all den Runden überhaupt nicht mehr glaubwürdig. Eure Unternehmen, die
Lufthansa und andere, sind immer die Investoren in unserem Gemüsegarten; aber in dem Moment, in dem es einmal andersherum läuft, ändert ihr die Gesetze. - Wir hätten uns doch, um in Ihrem Duktus zu bleiben, in die
Furche gelegt, wenn wir eine solche Lex Hochtief geschaffen hätten. Klare Ordnungspolitik kann nicht am
Einzelbeispiel gestaltet werden, sondern muss einen langen Atem haben.
({0})
Genau hier unterscheidet sich unsere Position von Ihrer
Position in dieser Frage.
({1})
Wenn uns das dauerhaft unterscheidet, dann müssen
Sie mit dem Problem fertig werden. Das sage ich Ihnen
nur. Es ging hier nie um eine Lex Hochtief
({0})
- das wissen Sie, oder das wissen Ihre Leute -,
({1})
sondern es ging einzig und allein um die Frage, Herr van
Essen, ob wir in Deutschland gemeinsam, Regierung
und Opposition, in der Lage sind, unser Wettbewerbsrecht auf ein durchschnittliches europäisches Niveau anzuheben.
({2})
Das wollten Sie nicht bei Hochtief. Unser Gesetzesvorschlag bleibt auf dem Tisch, und ich rate Ihnen: Überlegen Sie, ob wir in den nächsten Wochen nicht doch noch
darangehen sollten.
({3})
- Das ist wirklich Quatsch, und Sie wissen das. Das sollten Sie nicht wiederholen.
({4})
Lassen Sie es. Es ist falsch. Das brauchen wir hier nicht.
({5})
Meine Damen und Herren, Wirtschaftspolitik - Sie
haben darüber gesprochen, Herr Brüderle - muss den
Anspruch haben, die Modernisierung in diesem Land
voranzubringen. Sie haben das aber an den falschen Beispielen aufgezäumt, weil doch ganz klar ist: Die einzige
strategische Entscheidung, die diese Koalition getroffen
hat, ist schon jetzt der wirtschaftspolitische Rohrkrepierer Nummer eins. Mit dem energiepolitischen Konzept,
von dem Sie eben gesprochen haben, wollten Sie eine
langfristige Orientierung schaffen. Aber schauen wir uns
doch einmal an, was tatsächlich passiert.
Schauen wir einmal auf die kommunalen Investoren
bei den Stadtwerken. Was haben die gesagt? 7 Milliarden Euro an kommunalen Investitionen sind durch diese
Entscheidung dauerhaft blockiert.
({6})
Die großen Betreiber sind nicht alle der Meinung, dass
jetzt wirklich etwas vorangeht. Wenn man mit ihnen einmal außerhalb der politischen Runden redet, wo man sich
etwas offener unterhalten kann, dann sagen die: Ja, ob uns
das wirklich Orientierung gegeben hat, weiß ich auch
nicht. - Der Chef von EnBW jedenfalls hat am Freitag
vergangener Woche noch öffentlich gesagt, wegen der extrem negativen Effekte von außen - und mit „außen“ waren nicht wir gemeint, sondern die Regierung - könne
sein Unternehmen weniger investieren, als es ursprünglich vorhatte.
Bei den Großen herrscht Verunsicherung. Bei den
Stadtwerken gibt es eine Blockade bei den Investitionen.
Die Erzeuger regenerativer Energien wissen im Augenblick nicht, wie es unter dieser Regierung überhaupt
weitergeht. Das ist doch ein toller Zwischenstand, Herr
Brüderle, den Sie uns hier berichtet haben.
({7})
Beim CCS-Gesetz weiß ich nicht, wie der Stand innerhalb der Bundesregierung ist. Ich stelle nur fest: Wir
hampeln da von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat herum, ohne dass irgendetwas passiert. Das ist die energiepolitische Realität nach Ihrem wunderbaren Energiekonzept: maximales Durcheinander. Ich prophezeie Ihnen:
Bleibt das so, dann werden die Kraftwerke der Zukunft
im Ausland entstehen. Das liegt nicht an den Grünen,
das liegt nicht an der SPD, das liegt nicht an der Linkspartei, nicht an der Opposition insgesamt hier im Haus,
sondern das liegt an Ihnen, an dieser Regierung, meine
Damen und Herren.
({8})
Statt Weichenstellungen vorzunehmen, wie das nötig
wäre, folgt Gipfel auf Gipfel. Als ich mich auf den heutigen Tag vorbereitet habe, habe ich mich an den Gipfel
für Elektromobilität erinnert und meine Mitarbeiter gefragt: Was ist eigentlich seit diesem wunderbaren Elektrogipfel - Autos rund um das Brandenburger Tor - passiert? Nichts ist passiert, nichts geht voran.
({9})
Andere Länder investieren wesentlich mehr. Wenn das
so bleibt - das ist doch meine Sorge; deshalb melde ich
mich dazu zu Wort -, dann findet der nächste Aufschwung eben nicht in Deutschland statt.
Herr Brüderle, Ihre Aufgabe als Wirtschaftsminister
dieses Landes ist es nicht, den gegenwärtigen Aufschwung zu feiern, sondern ist es, den nächsten Aufschwung zu organisieren. Das ist Ihre Verantwortung.
({10})
Ich habe Ihnen die aktuelle Ausgabe der Wirtschaftswoche nicht mitgebracht, weil ich es immer etwas albern
finde, wenn hier vorne Zeitungsartikel hochgehalten werden. Ich empfehle Ihnen aber, den Artikel mit dem Titel
„Bröckel-Republik Deutschland“ einmal sehr sorgfältig
zu lesen. Dieses Thema geht nämlich, anders als das Titelbild es vermuten lässt, nicht nur Herrn Ramsauer an,
der jetzt der Bahn noch einmal eben 500 Millionen Euro
an Investitionsmitteln wegnimmt. Das betrifft alle, die
auf der Regierungsbank sitzen. Deutschland lebt von
Hightechprodukten. Unser Land braucht eine Spitzeninfrastruktur mit neuen Stromnetzen für die erneuerbaren
Energien, mit intelligenten Stromnetzen, damit wir mehr
Lebensqualität und eine bessere Energieeffizienz bekommen, mit Breitband- und Glasfasernetzen, mit schnellen
Schienenwegen sowie guten Straßen und Brücken, die
nicht für Lkws gesperrt werden müssen, sodass diese
auch noch weite Umwege fahren müssen.
({11})
Die Frage ist nur: Wann werden wir solche Netze haben?
Werden wir sie jemals haben, wenn Sie die Prioritären
anders setzen und die zur Verfügung stehenden Finanzmittel zunächst einmal zur Erfüllung Ihrer Wahlversprechen benutzen? So kann die Infrastruktur nicht verbessert werden.
({12})
Wenn in dieser für das Industrieland Deutschland entscheidenden Frage etwas zustande kommen soll und Sie
die Opposition bei dem einen oder anderen Gesetzgebungsverfahren vielleicht sogar brauchen, dann kann ich
Ihnen nur raten - das ist meine einzige Bitte -: Hören
Sie auf, diese Republik in eine Dafür- und eine Dagegen-Republik zu teilen. Machen Sie Ihren Job. Legen Sie
ein durchdachtes Konzept für den Ausbau moderner
Netze vor. Ich sage Ihnen: Am Ende werden wir das
brauchen, was wir vorgeschlagen haben. Wir brauchen
in diesem Land so etwas wie einen Infrastrukturkonsens,
und zwar gleich am Anfang und nicht erst, wenn irgendein Großprojekt gegen die Wand gefahren wurde
und Sie Herrn Geißler bitten müssen, die Scherben zusammenzukehren. Das ist kein Konsens, und so entsteht
keine verbesserte Infrastruktur.
({13})
Ein letztes Wort zum Thema Europa. Herr Brüderle,
ich sage ganz offen: Dazu hätte ich gerne mehr von Ihnen gehört. Das war erstaunlich wenig. Das klang, als
habe all das, was im Augenblick in Europa passiert,
nichts mit der Zukunft unserer Wirtschaft in den nächsten Monaten oder gar in den nächsten Jahren zu tun, als
exportierten wir nicht 60 Prozent der hier produzierten
Waren ins benachbarte europäische Ausland. Dieser
Umstand sagt einem Wirtschaftsminister doch eigentlich
nur eines: Wenn es dem europäischen Ausland schlechtgeht und wenn es nicht schnellstmöglich wieder auf die
Beine kommt, dann können Sie hier ruhig die Steuern
senken - am Ende können Sie vermutlich sogar auf Steuern verzichten -, aber Sie werden durch diese Politik die
Wirtschaft in diesem Land nicht weiter nach vorne bringen. Deshalb ist das Thema Europa auch Ihr Thema; es
ist nicht allein das Thema des Finanzministers und der
Kanzlerin. An der Frage Europa wird sich entscheiden,
wie die Zukunft unseres Landes, einer starken Exportnation in Europa, aussehen wird.
({14})
Ganz im Ernst: Das, was mir am meisten Sorge bereitet, ist, dass wir dazu nicht nur von Ihnen, Herr Brüderle,
sondern auch von den anderen Regierungsbeteiligten
nicht sehr viel hören. Das Versteckspiel setzt sich im
Grunde genommen fort. Sie betreiben es sogar offen
miteinander über die Medien.
Sie haben eben gesagt, was Sie auf keinen Fall in Europa wollen. Ich habe das verstanden. Ich sage noch einmal: Im Dezember habe ich in einer europapolitischen
Debatte von diesem Pult aus vorausgesagt, dass das, was
Sie uns damals im Deutschen Bundestag vorgelegt haben, nicht die Lösung der europäischen Probleme sein
wird. Ich habe auch gesagt, dass Sie das ganz genau wissen. Ich habe Ihnen vorausgesagt, dass Sie im neuen Jahr
- das hat jetzt begonnen - auf die Opposition zugehen
und vorschlagen werden: Wir brauchen eine Erweiterung des Rettungsschirms, und wir werden auch etwas
mit europäischen Anleihen machen müssen. - Von diesen europäischen Anleihen spricht Frau Koch-Mehrin,
die zu Ihrer Partei gehört, schon jetzt. Ich habe Ihnen vorausgesagt, dass Sie mit diesen beiden Themen kommen
werden.
Herr Kollege Steinmeier, Sie behalten bitte das Zeitbudget Ihrer Fraktion im Auge.
Ich bin gleich durch.
Jetzt haben Sie noch einmal eine Atempause gewonnen, weil die portugiesischen Anleihen offensichtlich gekauft worden sind. Ich sage Ihnen nur: Das ist kein
Grund, sich zurückzulehnen. Die Situation - Sie wissen
das ganz genau - ist nicht so, dass die Probleme, über
die wir hier sprechen und über die wir in der Sache hart
diskutieren müssen, gelöst sind. Sie, Frau Bundeskanzlerin - sie ist jetzt nicht da - und die anderen Mitglieder
der Bundesregierung, werden an diesem Pult vor dem
Hohen Haus und auch vor Ihren Regierungsfraktionen
begründen müssen, warum das, was aus Ihrer Sicht im
Dezember letzten Jahres falsch und verwerflich war, im
neuen Jahr richtig sein wird.
({0})
Das Problem ist nur: Wer verschweigt, was notwendig ist, und erst später Schritt für Schritt mit der Wahrheit herauskommt,
({1})
der schafft in diesem Lande, in der deutschen Bevölkerung kein Engagement für Europa, sondern der betreibt
ein gefährliches Spiel mit der europäischen Integration.
Auch das ist ein wirtschaftspolitisches Thema.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland und die deutsche Wirtschaft starten in
der Tat mit Rückenwind ins Jahr 2011: mit dem höchsten
Wirtschaftswachstum seit der Wiedervereinigung, mit
der besten Beschäftigungsentwicklung seit der Wiedervereinigung, mit deutlich besseren Haushaltszahlen und
Verschuldungszahlen, als vor Jahresfrist erwartet. Auch
wenn es die vornehmste Pflicht der Opposition ist, das
berühmte Haar in der Suppe zu finden, Herr Steinmeier,
müssen doch auch Sie anerkennen, dass dies nun wirklich die beste und heißeste Suppe ist, die wir seit der
Wiedervereinigung in Deutschland haben.
({0})
Freuen wir uns doch gemeinsam über diese heiße
Suppe, zum Beispiel darüber, dass wir nach 3,6 Prozent
Wirtschaftswachstum im letzten Jahr in diesem Jahr
wohl mindestens 2,3 Prozent Wirtschaftswachstum erzielen werden. Das sind 25 Prozent mehr, als noch im
Herbst letzten Jahres vorausgesagt wurde. Das Wirtschaftswachstum ist in Deutschland doppelt so hoch wie
der Durchschnitt des Wirtschaftswachstums in Europa.
Deutschland ist vom kranken Mann Europas zur Wachstumslokomotive in Europa geworden.
Freuen wir uns doch gemeinsam darüber, dass neben
dem Export erstmalig auch die Binnennachfrage mit einem Plus von 1,6 Prozent in diesem Jahr ein zentraler
Wachstumsmotor sein wird. Freuen wir uns darüber,
dass die verfügbaren Einkommen in Deutschland, also
das, was die Menschen, die in diesem Land arbeiten, zur
Verfügung haben, so deutlich ansteigen werden, dass sie
mehr ausgeben, mehr konsumieren und mehr investieren
können.
Freuen wir uns gemeinsam darüber, dass sich der Arbeitsmarkt weiter positiv entwickelt; so wird die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr in absoluten Zahlen wohl erstmals unter 2,5 Millionen sinken. Freuen wir uns darüber,
dass vor allem die Beschäftigung weiter zunimmt. Mit
über 41 Millionen Menschen, die in Arbeit sind, verzeichnen wir die höchste Beschäftigung, die es in der
Bundesrepublik jemals gab,
({1})
und das, obwohl noch vor eineinhalb Jahren befürchtet
wurde, dass die Zahl der Arbeitslosen auf 5 Millionen
steigt. Was heißt das? Um ein paar Zahlen zu nennen:
100 000 Arbeitsplätze mehr führen zu Mehreinnahmen
der Sozialversicherung in Höhe von 80 Millionen Euro
und zu rund 600 Millionen Euro Steuermehreinnahmen,
und sie sparen im Gegenzug Ausgaben, zum Beispiel für
die Arbeitslosenversicherung, in einer Größenordnung
von 1,5 bis 1,6 Milliarden Euro. Der Unterschied zwischen 3 Millionen Arbeitslosen, die wir jetzt zu verzeichnen haben, und 5 Millionen Arbeitslosen, die prognostiziert wurden, besteht darin, dass wir gesamtstaatlich
rund 40 Milliarden Euro weniger aufwenden müssen.
Freuen wir uns darüber doch gemeinsam!
Freuen wir uns auch darüber, dass dieser Zuwachs,
anders als es von den esoterischen Linken und vom Rest
der Opposition immer dargestellt wird, vor allem bei sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen und in der
Vollbeschäftigung entstehen wird. Insofern gibt es auch
hier positive Nachrichten, die uns ermuntern sollten und
können.
Wenn dies die beste und heißeste Suppe seit langem
ist und wir uns darüber freuen, dann muss man sich vielleicht eingestehen, dass dies auch etwas mit den Köchen
zu tun hat. Herr Trittin, ich weiß, Sie sind lieber Kellner
als Koch; aber wir sind lieber Koch. Wenn in anderen
Ländern Europas diese Suppe nicht so heiß, sondern
mehr lau ist, obwohl sie aus den gleichen Zutaten besteht, hat das offensichtlich auch etwas mit den Köchen
zu tun.
({2})
Deshalb ist es schade, dass die SPD, Herr Heil und Herr
Steinmeier, sich quasi von ihrer eigenen Kochkunst distanziert. In der Tat haben Sie durch die Arbeitsmarktreformen, die in den letzten zehn Jahren durchgeführt worden sind, daran mitgewirkt, dass wir diesen Aufschwung
haben. Das war ein Bestandteil.
({3})
- Es wäre schön, wenn Sie nicht nur hier applaudieren
würden. Sie distanzieren sich doch; Sie wollen doch alles rückgängig machen. Sie wollen die Reform am Arbeitsmarkt rückgängig machen;
({4})
Sie wollen die Rente mit 67 rückgängig machen,
({5})
die ein entscheidender Baustein ist, dass das Beschäftigungsvolumen in diesem Land zunimmt.
({6})
Da besteht Fragebedarf, Herr Präsident.
Bitte schön, Herr Kollege.
Vielen Dank, Herr Präsident! - Herr Pfeiffer, ich habe
eine Frage zum Thema Rückgängigmachen. Wir haben
gemeinsam ein Konjunkturpaket für die Kommunen mit
insgesamt 13 Milliarden Euro aufgelegt. Gerade werden
viele kommunale Haushalte verabschiedet, und in fast
allen Kommunen - selbst in unserem sehr wohlhabenden
Baden-Württemberg - erleben wir, dass sie ihre Investitionsvorhaben aufgeben und ihre Haushalte nicht ausgleichen können. Das, was wir als Konjunkturprogramm
auf den Weg gebracht haben und was viel zu dem Aufschwung beigetragen hat, indem wir die Kommunen in
die Lage versetzt haben, vor Ort für Aufträge zu sorgen,
hat jetzt dazu geführt, dass man dort vom Gaspedal auf
die Bremse gewechselt ist. Das ist auch das Ergebnis Ihrer Politik.
Machen Sie durch Ihre Politik nicht das rückgängig,
was wir an Aufschwung durch die Kommunen generiert
haben und was uns durch die Krise gebracht hat? Wie
stehen Sie zu diesem Teil des Rückgängigmachens durch
Ihre Politik und auch zu Ihren steuerlichen Maßnahmen
nicht nur bei den Hotels, sondern auch bei den Zurechnungen, die dazu geführt haben, dass die Steuereinnahmen der Kommunen flächendeckend wegbrechen?
({0})
Es fällt mir wirklich schwer, das jetzt intellektuell
nachzuvollziehen.
({0})
Es stellt sich die Frage, an wem das liegt: ob das am
mangelnden Intellekt meinerseits liegt - das müsste man
einmal überprüfen - oder ob da offensichtlich etwas
durcheinandergebracht wird.
Was waren die Ziele der Konjunkturprogramme und
der Hintergrund? Wir haben damals, Ende 2008, wo wir
auf Sicht gefahren sind und das Schlimmste zu befürchten war - keiner wusste, was passiert -, gemeinsam in
der Großen Koalition gesagt: Jetzt ist die Zeit, wo der
Staat, die Politik auf allen Ebenen, im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden, ein Zeichen setzen und versuchen muss, Vertrauen zu schaffen und Anreize dafür
zu setzen, dass investiert wird und dass in diesem Land
noch etwas geht. Wir haben von vornherein gemeinsam
beschlossen, dass die Konjunkturpakete auf zwei Jahre
begrenzt sind, nämlich auf 2009 und 2010. Für die Kommunen haben wir die Stellhebel so gestellt, dass die
Konjunkturpakete nur Maßnahmen beinhalten sollten,
die nicht schon im Haushalt sind, sondern normalerweise erst 2011, 2012 oder 2013 hätten realisiert werden
können. Sie sollten vorgezogen werden; das war doch
der Ansatz. Genau diesen Ansatz haben wir umgesetzt.
Jetzt sind wir auf einen Wachstumspfad eingeschwenkt; das Vertrauen ist da, ein selbsttragendes
Wachstum kann sich wieder organisieren. Wir mussten
die Laufzeit der Konjunkturpakete nicht verlängern, sondern sie sind planmäßig ausgelaufen. Insofern kann ich
überhaupt nicht erkennen, wo wir den eingeschlagenen
Weg, der konsequent und stringent war, jetzt in irgendeiner Art und Weise verändert haben sollten. Das tut mir
wirklich leid.
({1})
Es ist jetzt mit Sicherheit aber auch nicht die Zeit,
sich einfach zurückzulehnen und zu sagen: Alles wunderbar! Weiter so! Wir brauchen nichts zu tun, um an der
Spitze zu bleiben; das alles ist ohne Risiken. - Das ist
mit Sicherheit nicht so. Die Punkte sind bereits angesprochen worden.
Neben allgemeinen Risiken wie Vulkanausbrüchen,
Seuchen, Erdbeben und auch Terror, die wir im letzten
Jahr erlebt haben und die das Wachstum gefährden können, sind die Rohstoffversorgung und die Preisentwicklung bei den Rohstoffen wieder auf der Agenda. Dies
wird uns dieses Jahr beschäftigen. Auch die Inflation ist
eine Gefahr für das weitere Wachstum. Wichtig ist auch
die Freiheit der Handels- und Transportwege. Bei den
weltweiten protektionistischen Bestrebungen, die dem
Freihandel, durch den wir unser Wachstum im Wesentlichen geschaffen haben, entgegenwirken, müssen wir
darauf achten, dass es kein Rollback gibt, sondern dass
die WTO-Verhandlungen jetzt endlich zum Abschluss
kommen und die internationalen Märkte geöffnet werden. Deshalb ermuntern wir den Bundeswirtschaftsminister und alle in Europa, in diesem Jahr bei den
WTO-Verhandlungen endlich weiter voranzukommen.
Auch was in den USA passiert, ist für uns nicht ohne
Sorge zu betrachten. Zu der privaten Verschuldung
kommt jetzt auch eine exorbitante und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit ansteigende öffentliche
Verschuldung hinzu. Ich kann bei allem Optimismus und
bei allem Wachstum in den USA - vom Grundsatz her
herrscht dort ja ein etwas anderes Verständnis - noch
nicht so richtig erkennen, wie die Wettbewerbsfähigkeit
dort in Kürze so hergestellt werden kann, dass diese
Handelsungleichgewichte ausbalanciert werden können.
Das sind sicher Gefahren, die uns hier begegnen.
In Europa gibt es die Euro-Problematik. An dieser
Stelle will ich aber noch einmal darauf hinweisen, dass
das nicht aufgrund des Euro ein Problem ist, sondern
aufgrund der Verschuldung der Staaten und der Divergenzen im Bereich der Wirtschaftspolitik innerhalb der
Europäischen Union. Auch zu Beginn des Jahres 2011
ist festzuhalten: Der Euro wirkte in der Krise stabilisierend. Wir erinnern uns an die Wechselkursprobleme Anfang der 90er-Jahre mit Italien und anderen. Ohne den
Euro wäre uns der Laden in den letzten zwei Jahren im
wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren geflogen. Hier
hat der Euro stabilisierend gewirkt.
Anders, als das häufig dargestellt wird, ist der Euro
auch kein Inflations-Euro und kein „Teuro“. Wir hatten
in der Zeit des Euro, von 1999 bis jetzt, eine Inflationsrate von durchschnittlich 1,6 Prozent, während sie in den
Zeiten der D-Mark 1 Prozentpunkt höher lag, nämlich
bei 2,6 Prozent. Das heißt, der Euro hat zur Werterhaltung, zur Nachhaltigkeit beigetragen. Durch den Euro
wurde auch verhindert - das geschieht nach wie vor -,
dass die Unternehmen Transaktionskosten haben. Das
bedeutet eine bessere Transparenz und ein besseres
Funktionieren des Binnenmarktes.
Es ist aber zweifelsohne richtig, dass wir die Verschuldenskrise in Europa in den Griff bekommen müssen. Die Frage ist, wie man sie in den Griff bekommt.
Dies erreicht man sicher nicht - darin stimmen wir mit
dem Bundeswirtschaftsminister vollkommen überein mit Euro-Bonds. Sie sind im besten Fall süßes Gift, weil
dadurch schnelle Hilfe versprochen, langfristig aber die
Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Euro-Raumes zerstört wird und die falschen Anreize gesetzt werden.
Wir wollen eine Lösung, durch die die richtigen Anreize gesetzt werden, sodass derjenige, der konsolidiert,
spart und in Innovationen investiert, am Ende des Tages
besser dasteht als derjenige, der sich nur auf Transferleistungen verlässt. Wohin das führen kann, sehen wir
am eigenen Land; das muss man auch einmal sagen. Wir
sind nicht in der Lage, die Finanzbeziehungen der Länder so zu ordnen, dass das Saarland und Bremen aus ihren Positionen herauskommen. Hier sehe ich keinen
Ausweg. Wenn wir Euro-Bonds einführen würden, dann
würde das für Europa „Saarland und Bremen hoch zehn“
bedeuten. Das kann nicht unser Ziel sein. Deshalb wollen und werden wir keine Euro-Bonds einführen.
Wir werden aber auch nicht nachlassen, weiter die
Grundsatzentscheidungen zu treffen, durch die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gestärkt
wird. Wir werden den Breitbandausbau weiter voranbringen. Wir werden das Telekommunikationsgesetz
wettbewerblich novellieren und Wettbewerbspotenziale
im Post- und Bahnbereich heben, und zwar nicht nur um
des Wettbewerbs willen, sondern um Innovationspotenziale freizusetzen, die dann über niedrigere Preise und
bessere Leistungen an die Verbraucher weitergegeben
werden können. Das ist nämlich der Kerngedanke der
sozialen Marktwirtschaft.
Wir werden Forschung und Entwicklung weiter ausbauen. Wir haben in Bund und Ländern die höchsten
Ausgaben für Forschung und Entwicklung seit über
20 Jahren. Das werden wir konsequent weiter ausbauen.
Wir haben das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, das hervorragend einschlägt, auf hohem Niveau
stabilisiert und werden es fortführen.
Wir werden aber auch neue Maßnahmen angehen, die
die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im europäischen
Kontext stärken. Die geplante steuerliche Forschungsförderung wird in dieser Legislaturperiode nicht mehr
eingeführt. Wir müssen und werden aber den Einstieg
schaffen.
({2})
Wir machen nicht nur eine Energiepolitik, die neue
erneuerbare Energien ins Netz bringt und langfristig den
Umstieg schafft, wie wir ihn im Energiekonzept festgelegt haben, sondern wir werden auch für bezahlbare
Energiepreise für Wirtschaft und Verbraucher sorgen.
Denn ohne wettbewerbsfähige Energiepreise ist die
deutsche Wirtschaft bzw. der deutsche Mittelstand nicht
wettbewerbsfähig und in seiner Export- und Wirtschaftskraft gefährdet.
Herr Kollege.
Insoweit sind wir auf dem richtigen Weg, meine Damen und Herren. Es ist nicht alles glänzend, aber der
Weg und die Richtung stimmen. Wir werden den eingeschlagenen Pfad konsequent weitergehen. Dann wird
Deutschland in den nächsten Jahren die Lokomotive Europas in der wirtschaftlichen Entwicklung bleiben.
Lassen Sie uns gemeinsam und freudig daran arbeiten, um Deutschland und Europa nach vorne zu bringen,
statt nur als Kritikaster unterwegs zu sein.
Vielen Dank.
({0})
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Steinmeier, mir ist aufgefallen, dass Sie gesagt haben,
dass die Union und die FDP die Reformen von SPD und
Grünen nutzen. Es sollte Ihnen aber nicht positiv auffallen, sondern negativ, dass den Konservativen und Neoliberalen Ihre Reformen so gut gefallen.
({0})
Aber abgesehen davon, Herr Brüderle, haben Sie im
Zusammenhang mit dem Aufschwung ein paar Fakten
vergessen; daran muss ich Sie einfach erinnern. Der
Aufschwung macht ein Wirtschaftswachstum von
3,6 Prozent aus. Im Jahr davor hatten wir ein Minus von
4,7 Prozent. Das heißt, wir stehen immer noch schlechter
da als 2008. Das hätte doch Ihr erster Satz sein können.
Abgesehen davon haben Sie - das ist das Entscheidende - überhaupt nicht über die Frage geredet, wem der
Aufschwung zugutekommt und wem nicht. Was Sie dazu
gesagt haben, stimmt nicht. Wir haben - das stimmt - einen
Aufschwung für die Deutsche Bank. Wir haben auch einen Aufschwung für Vermögende und Spekulanten; das
stimmt.
({1})
Aber wir haben keinen Aufschwung für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir haben keinen Aufschwung
für Rentnerinnen und Rentner.
({2})
Wir haben keinen Aufschwung für Kranke. Wir haben
keinen Aufschwung für Hartz-IV-Empfängerinnen und
Hartz-IV-Empfänger. Was hat denn die Hartz-IV-Empfängerin von Ihrem Aufschwung? 5 Euro wollen Sie ihr
geben. Machen Sie sich doch nicht lächerlich, kann ich
da nur sagen.
({3})
Die Reallöhne sind im letzten Jahren um 0,1 Prozent
gestiegen, Herr Brüderle. Aber das Geldvermögen ist im
letzten Jahr in Deutschland um 4,7 Prozent gestiegen.
Das Bruttogeldvermögen hat um 220 Milliarden Euro
zugenommen und liegt jetzt bei 4,9 Billionen Euro, ein
unvorstellbarer Betrag.
Nun könnte man zwar sagen: Was spricht denn dagegen, wenn alle mehr Vermögen haben? Das Problem ist
aber, dass 1 Prozent der Bevölkerung ein Viertel des
Geldvermögens besitzt. 10 Prozent der Bevölkerung besitzen 60 Prozent des Geldvermögens. Zwei Drittel der
Bevölkerung besitzen gar kein Vermögen. Das ist die
grobe Ungerechtigkeit, an der Sie nichts ändern. Sie spitzen das sogar weiter zu.
({4})
In der Krise - das hätten auch Sie eigentlich kritisieren müssen, Herr Brüderle - hat die Zahl der Vermögensmillionärinnen und Vermögensmillionäre um
51 000 zugenommen. Die Zahl liegt jetzt bei 861 000.
Erklären Sie das einmal denjenigen, die nicht wissen,
wie sie irgendwas bezahlen sollen. Wozu brauchen wir
denn so viele Vermögensmillionäre? Mit etwas weniger
kann man in unserer Gesellschaft auch sehr gut leben.
({5})
- Sie nicht, meine Damen und Herren von der FDP! Es
tut mir leid, wenn Sie sich das nicht vorstellen können.
Bei uns nimmt nicht nur der Reichtum zu, sondern
auch die Armut. Hier hilft am besten ein Zehnjahresvergleich. Von 2000 bis 2010 hat das private Geldvermögen
von 3,5 Billionen auf 4,9 Billionen Euro zugenommen.
Es ist also auf 150 Prozent gestiegen. Nach einer Studie
des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat die
Armut in den letzten zehn Jahren um ein Drittel zugenommen. Der Anteil der Armen ist von 11 Prozent auf
14 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Das heißt, von
Armut sind nicht mehr 7,7 Millionen, sondern 11,5 Millionen Menschen betroffen. Da reden Sie von Aufschwung? Erklären Sie diesen 11,5 Millionen Menschen,
worin der Aufschwung für sie besteht!
({6})
Nur in Deutschland sanken in den letzten zehn Jahren
die Reallöhne laut Internationaler Arbeitsorganisation,
ILO - einer UN-Sonderorganisation -, um 4,5 Prozent.
Der durchschnittliche Bruttoverdienst sank um
100 Euro. Wir sind Lohnsenkungsweltmeister. Herr
Brüderle, wenn Sie vom Export reden, müssen Sie auch
sagen, dass der Exportanstieg darauf zurückzuführen ist,
dass in Deutschland die Löhne gesenkt wurden, die Renten gesenkt wurden und die Sozialleistungen gesenkt
wurden. Das machte die Produkte billiger. Das heißt, Ihr
ganzer Exportüberschuss ging zulasten der Bevölkerung.
Das müssen Sie sagen, und das haben Sie verabsäumt zu
erklären.
({7})
Die Reallöhne in anderen Ländern haben sich anders
entwickelt; sie sind gestiegen: in Spanien, in Frankreich,
in Großbritannien, in Finnland und in Norwegen - in
Norwegen sogar um 25 Prozent. Nur bei uns sind sie gesunken. Dafür tragen die letzten drei Regierungen Verantwortung: SPD und Grüne, Union und SPD sowie jetzt
Union und FDP. Die umgekehrte Entwicklung in
Deutschland hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass
die prekäre Beschäftigung in Deutschland - das haben
Sie alle so gewürdigt - zugenommen hat. 22 Prozent der
Beschäftigten in Deutschland sind prekär beschäftigt,
zum Beispiel in Teilzeit, in Leiharbeit und in Minijobs.
Oder sie sind Aufstockerinnen und Aufstocker. Erklären
Sie diesen Menschen den Aufschwung! Die Zahl dieser
Menschen nimmt nicht ab, sondern zu.
Nehmen wir als Beispiel die Entwicklung bei den sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplätzen im
Laufe der letzten zehn Jahre. Deren Zahl hat nicht zugenommen, Herr Brüderle - Sie sind ja so stolz auf den
Abbau der Arbeitslosigkeit -, sondern abgenommen, und
zwar um 1,4 Millionen. Aber die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze hat zugenommen, und zwar um 1,6 Millio9358
nen. Jetzt sind wir bei 5,4 Millionen Teilzeitarbeitsplätzen.
Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten hat zugenommen: von 5 Millionen auf 6,6 Millionen. Die Zahl der
Minijobs ist gestiegen: von 5,5 Millionen auf 7 Millionen. Die Zahl der Leiharbeiter ist gestiegen: von 320 000
auf 921 000. Erklären Sie den betroffenen Menschen,
was sie vom Aufschwung haben! Sie haben den ganzen
Arbeitsmarkt zerstört und die Gewerkschaften ungeheuer geschwächt. Das merken wir alle.
({8})
Selbst die Zahl der Aufstockerinnen und Aufstocker
hat während des Aufschwungs zugenommen, und zwar
um 100 000. Wir sind jetzt bei 1,4 Millionen. Auch ein
toller Aufschwung für die Betroffenen! In Ostdeutschland muss fast jeder Dritte zu einem Einkommen unter
860 Euro arbeiten. In ganz Deutschland sind es
22 Prozent. Eine Studie hat jetzt herausgearbeitet, dass
eine Leiharbeiterin oder ein Leiharbeiter im Schnitt
900 Euro weniger verdient als eine Beschäftigte oder ein
Beschäftigter ohne Berufsausbildung. Daran müssen Sie
etwas ändern. Anstatt vom Aufschwung zu reden, sollten
Sie sich um das Schicksal von Millionen Menschen in
diesem Land kümmern.
({9})
Was wir jetzt wirklich dringend brauchen - das verweigern Sie leider, gerade Sie von der FDP -, ist ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn. Sie wissen gar
nicht, was Sie anrichten, wenn am 1. Mai Freizügigkeit
herrscht und wir keine Mindeststandards diesbezüglich
gesetzt haben. Ich sage Ihnen: Die Folge werden dann
eine zunehmende Ausländerfeindlichkeit und ein zunehmender Rassismus sein.
({10})
Das können wir überhaupt nicht gebrauchen. Übernehmen Sie einfach einmal Verantwortung, und führen Sie
einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in
Deutschland ein!
({11})
- Quatschen Sie doch nicht so ein dummes Zeug, Herr
Lindner! Was an Ihnen liberal ist, würde ich auch gerne
wissen. Sie sind das Intoleranteste, was mir je begegnet
ist.
Abgesehen davon, sage ich Ihnen, weil Sie vom Aufschwung reden: Die Druckerei Schlott macht gerade
dicht. 2 000 Beschäftigte werden in Freudenstadt, Nürnberg, Landau und Hamburg entlassen. Das Unternehmen
Alstom Power in Mannheim baut 400 Stellen ab. Erklären Sie den betroffenen Menschen den Aufschwung!
Die Lohnsteigerungen, die wir jetzt brauchen, müssen
wirklich von einem anderen Kaliber sein als in den vergangenen Jahren. Wir hatten einen Reallohnverlust von
4,5 Prozent. Deshalb sage ich: Wir brauchen in diesem
Jahr einen Anstieg der Reallöhne um mindestens
5 Prozent, angemessen wären 10 Prozent, wenn man tatsächlich an einen Produktivitätsaufschwung denkt.
({12})
Ja, wir brauchen Rentenerhöhungen. Wir brauchen auch
Erhöhungen der Sozialleistungen. Statt Hartz IV brauchen wir endlich eine angemessene Grundsicherung in
unserer Gesellschaft, und zwar sanktionsfrei.
({13})
Sie sagen, die gesamte Entwicklung sei toll, sie gingen einen anderen Weg, und die anderen Länder machten alles falsch. Ich kenne diese Art von Egozentrismus.
Ich glaube, er ist völlig falsch. Ich will Ihnen sagen, was
Sie in Griechenland anrichten. In Griechenland werden
die Reallöhne um 11,2 Prozent gesenkt, die Industrieproduktion um 20,7 Prozent, die Industrieaufträge sind um
über 46 Prozent zurückgegangen. Das alles finden Sie
richtig. Sie sagen: Die müssen sparen, sparen, sparen.
Dasselbe sagen Sie bei Irland, dasselbe sagen Sie bei
Portugal, und dasselbe sagen Sie bei Spanien. Ich sage
Ihnen: Verträge, die die Menschen zu einem solchen Sozialabbau zwingen, haben verheerende Folgen.
Sie müssen das einmal in einem Geschichtsbuch
nachlesen. Durch den Vertrag von Versailles wurde
Deutschland gezwungen, einen solchen Weg zu gehen.
Der Weg war völlig falsch; denn er hat mit dazu geführt,
dass die Nazis so stark geworden sind. Wir können überhaupt nicht regulieren, was in den genannten Ländern
passiert, wenn Sie dort einen solchen Sozialabbau organisieren. Das ist der völlig falsche Weg.
({14})
Ich habe übrigens noch ein Beispiel für den Aufschwung. Die Europäische Zentralbank darf Griechenland keinen Kredit geben. Aber die Europäische Zentralbank darf der Deutschen Bank einen Kredit geben. Die
Deutsche Bank holt sich dort 1 Milliarde Euro und zahlt
1 Prozent Zinsen. Dann geht die Deutsche Bank nach
Griechenland und sagt: Ihr bekommt die Milliarde, aber
ihr müsst leider 11 Prozent Zinsen zahlen. Da verdient
die Deutsche Bank für eine Überweisung 10 Prozent
Zinsen, das sind 100 Millionen Euro. In diesem Bereich
organisieren Sie den Aufschwung, das stimmt, Herr
Brüderle, aber wir brauchen einen anderen Aufschwung
in unserer Gesellschaft.
({15})
- So ein Quatsch.
Wir haben es mit Spekulationen auf den Nahrungsmittel- und Rohstoffmärkten zu tun. Die Weizenpreise
sind um 40 Prozent gestiegen. Ich sage Ihnen: Spekulationen mit Nahrungsmitteln sind ein Verbrechen. Das
müssen Sie verbieten.
({16})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Sie wollen nur
den Export stärken, wir wollen die Binnenwirtschaft
stärken. Sie wollen und organisieren den Aufschwung
für die Deutsche Bank, die Konzerne, die Großaktionäre
und die Vermögenden, wir dagegen fordern einen Aufschwung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
für die Rentnerinnen und Rentner, für die Hartz-IV-Beziehenden und die kleinen und mittleren Unternehmerinnen und Unternehmer. Es wird Zeit, dass auch sie einen
Aufschwung erleben.
({17})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist ganz schön, Herrn Gysi bei uns zu haben;
({0})
dann weiß man mal wieder, wie Klassenkampfreden aussehen:
({1})
völliger Realitätsverlust, nur Negatives wird dargestellt,
obwohl alle Daten positiv ausfallen,
({2})
und zwar positiv für alle. Alle können sich über die Entwicklung freuen. Kein Mensch sagt, dass alles Gold ist,
aber die Entwicklung ist äußerst positiv, weit über die
Erwartungen von allen hier im Raume hinaus. Das muss
man doch entsprechend bewerten.
Sie behaupten, die Hartz-IV-Empfänger, die Rentner,
die Arbeitslosen und die Arbeitnehmer hätten alle nichts.
({3})
Das widerspricht total den Realitäten.
({4})
Wir haben jetzt 2 Millionen Arbeitskräfte, die früher arbeitslos waren, und nun wieder in Arbeit und Brot gekommen sind. Das ist doch ein riesiger Fortschritt. Das
Sozialste an dieser Entwicklung ist, dass die Menschen
ihren Lebensunterhalt wieder durch eigene Arbeit finanzieren können.
({5})
Die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt ab, und zwar stärker
als bisher. Die Jugendarbeitslosigkeit ist drastisch zurückgegangen. Die Erwerbstätigenquote steigt. Die Zahl
der Vollzeitarbeitsplätze steigt stärker als die Zahl der
Teilzeitarbeitsplätze. Das alles sind positive Entwicklungen. Die Nettolöhne, so das Statistische Bundesamt, steigen im Jahre 2010 stärker als in den letzten 17 Jahren.
({6})
Wenn das kein Fortschritt ist, dann frage ich mich, was
Fortschritt sein soll.
({7})
Heute ist ein Tag der Freude für alle in der Gesellschaft, insbesondere für die Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Es ist aber auch ein Tag der
Freude für uns und für die Bundesregierung. Offenkundig hat sie nicht alles falsch gemacht. Sie hat beispielsweise nicht bei Opel oder Karstadt interveniert, obwohl
andere sie dazu aufgefordert haben. Erinnern Sie sich an
Holzmann: Staatsintervention durch Schröder. 200 Millionen Euro in den Wind geschrieben;
({8})
denn die Firma ist trotzdem pleitegegangen. Wenn eine
Firma keine Basis mehr hat, kann der Staat auch nicht
mehr helfen.
({9})
Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz sind Anfang des Jahres 24 Milliarden Euro freigesetzt worden.
So wurde mit 24 Milliarden Euro dazu beigetragen, die
Kaufkraft der Bürger zu stärken, insbesondere die der
Familien und der kleinen und mittleren Unternehmen.
({10})
Nun regen Sie sich doch nicht über die Hotels auf.
({11})
Natürlich wäre es besser gewesen, die Umsatzsteuer für
die Hotels in eine Gesamtumsatzsteuerreform einzubinden; das gebe ich zu. Nun ist es aber so gelaufen. Die
Hotels haben die Mittel genutzt, um in großem Stil zu investieren und zu erneuern. Außerdem sind im Tourismusgewerbe in Deutschland etwa 2 Millionen Menschen
beschäftigt. Deswegen war das wichtig, und deswegen
hat das auch zum Aufschwung beigetragen.
({12})
Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit ist dieser
Aufschwung also ein Beschäftigungsaufschwung. Das ist
das, was wir in erster Linie erreichen wollten, und dabei
haben wir uns in Wahlkämpfen mit Versprechen gegenseitig überboten. Deswegen möchte ich daran erinnern:
Es ist auch ein glücklicher Tag für die Oppositionsparteien SPD und Grüne. Natürlich ist es richtig, dass die
Reformen, die damals durchgeführt worden sind - Hartz-IVReform, Arbeitsmarktreform und auch die Steuerreform 2000 -, einen positiven Beitrag zu dieser Entwick9360
lung geleistet haben. Wer wollte denn das aberkennen?
Wir haben diesen Reformen seinerzeit doch auch zugestimmt.
({13})
Das ist in doppelter Hinsicht glücklich für Sie. Sie
können froh sein, dass Sie heute in der Opposition sitzen. Sonst müssten Sie nämlich Ihre absolut wachstumsund beschäftigungsfeindlichen Beschlüsse, die Sie in der
Zwischenzeit gefasst haben, umsetzen. Dabei denke ich
an den flächendeckenden Mindestlohn, an die Zurücknahme der Rente mit 67, an die Erhöhung des Spitzensteuersatzes bei der Einkommensteuer auf 49 Prozent, an
die Wiedereinführung der Vermögensteuer und an die
Abschaffung der Abgeltungsteuer, die Sie selbst gerade
erst eingeführt haben. Das alles wäre natürlich Gift.
({14})
- Der Abgeltungsteuer. Das habe ich nachgelesen.
({15})
- In Ihren Beschlüssen vom September letzten Jahres.
Wenn das nicht der Fall sein sollte, so kann man zumindest sagen, dass das andere längst reicht. Das wäre Gift
für diese Entwicklung.
({16})
Sie müssen sich damit und mit der Frage auseinandersetzen, wie Sie das Wachstum auf Dauer verfestigen
können.
Deswegen sagen wir: Entscheidend ist eine klare Ordnungspolitik. Der Staat hat das zu tun, was seine Aufgabe
ist. Er hat die Spielregeln festzulegen und die Durchsetzung der Spielregeln zu garantieren und zu überwachen.
Dazu gehört beispielsweise auch eine effiziente Bankenaufsicht. Ich habe damals Herrn Eichel gesagt: Sie müssen die Bankenaufsicht in eine Hand geben. - Was hat er
aber gemacht? Er hat die BaFin geschaffen. Dann haben
sich die BaFin und die Bundesbank gegenseitig bekämpft.
Die Bankenaufsicht hat die eigentlichen Probleme aber
nicht erkannt. Deswegen muss dies jetzt nachgeholt werden: Wir brauchen eine klare und wirkungsvolle Regulierung der Finanzmärkte.
({17})
Wir brauchen aber keine Regeln in den Bereichen, in
denen sie den Wettbewerb stören. Wir müssen uns durch
Wettbewerb und Ausleseverfahren auf den Märkten anpassungsfähig und zukunftsfähig machen; denn nur dann
werden wir in dem zunehmend schwieriger werdenden
weltweiten Wettbewerb bestehen können. Das ist keine
europäische Frage, sondern das ist eine weltweite Frage.
Natürlich gilt auch hier: Die Finanzpolitik muss die
Wirtschaftspolitik unterstützen und umgekehrt. Das haben wir auch gemacht. Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz war mit einer Freigabe von Finanzmitteln für die
Bürger verbunden. Das hat dazu beigetragen, dass sich
die Wirtschaft positiv entwickelt. Dadurch steigen die
Steuereinnahmen wieder, und dadurch wird das eine vernünftige Maßnahme.
Deswegen gilt auch jetzt: Wir sind dafür, dass die
Haushalte konsolidiert werden. Wir haben schon in unserem Wahlprogramm zum Ausdruck gebracht, dass Steuerreform und Haushaltskonsolidierung Hand in Hand gehen müssen. Sie müssen zusammen durchgeführt werden.
Wir haben der Aufnahme der Schuldenbremse in die
Verfassung zugestimmt. Schon jetzt wollen wir den
Fahrplan der Schuldenbremse konsequent erfüllen. Wir
wollen zwischen 2011 und 2016 in gleichmäßigen
Schritten die Neuverschuldung auf einen Restbestand
von höchstens 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
abbauen.
Wenn sich aber auf dem Weg dorthin über die Erfüllung der Vorgaben durch die Schuldenbremse hinaus
Spielräume ergeben, dann sollen sie nicht durch neue
Staatsausgaben verschwendet werden, sondern dann
müssen sie genutzt werden, um sie den Arbeitnehmern
zu geben, die ja jetzt bei wachsenden Löhnen von der
kalten Progression besonders betroffen sind.
Ich möchte gerade die Sozialdemokraten daran erinnern, dass sie in ihrem Wahlprogramm - ich habe es mitgebracht - genau das gefordert haben, wie wir und wie
die CDU/CSU auch, mit unterschiedlichen Formulierungen; aber es ist genau das Gleiche:
Wir wollen die Entlastungen daher auf die Bezieher
niedriger und mittlerer Einkommen sowie die Familien konzentrieren.
An anderer Stelle in diesem Programm sprechen Sie noch
von einem Jahreseinkommen von etwa 53 000 Euro. Sie
beziehen sich also genau auf den Bereich, auf den wir
unsere Reformanstrengungen konzentrieren wollen. Da
stimmen wir völlig überein.
({18})
Wenn die Löhne nun stärker steigen, was mich freut,
dann werden die Arbeitnehmer umso frustrierter sein,
wenn sie feststellen, dass ein immer größerer Teil des
zusätzlichen Einkommens wegbesteuert wird. Deswegen
ist es zur Bekämpfung der kalten Progression und des
Mittelstandsbauches zwingend notwendig, Spielräume,
die sich ergeben, zu nutzen, um hier zu Entlastungen zu
kommen.
({19})
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur Diskussion um die Währungspolitik und die Stabilisierung des
Euro sagen. Die Frage ist doch nicht, ob wir europafreundlich sind oder nicht. Wir sind alle europafreundlich.
({20})
Die Frage ist nur: Was führt zu einer dauerhaften Stabilisierung? Ist es richtig, wenn Krisen entstehen, laufend
neue Mittel zur Verfügung zu stellen - ich frage dies
auch vor dem Hintergrund, dass wir hier um jeden Euro
im Haushalt kämpfen, während da gleichzeitig viele
Milliarden zur Verfügung gestellt werden -, um dann bei
der nächsten Finanzierungsrunde wieder in die Situation
dessen zu kommen, der erpresst werden kann? Da sind
einige Akteure in den Finanzmärkten sehr geschickt. Sie
drohen, die Banken würden zusammenbrechen, wenn
jetzt nicht der Steuerzahler einspringen würde. So werden von Runde zu Runde die stabilen Staaten in Europa
erpresst, um das Schlimmste zu verhindern.
Ist es auf der anderen Seite nicht richtig, die Staaten,
die in einer schwierigen Situation stecken, von Grund
auf zu sanieren? Hilfe zur Selbsthilfe, das ist das, was
angezeigt ist. Ein Staat, der seine Schulden wegen seiner
mangelnden Wirtschaftskraft in den nächsten zehn Jahren nicht bedienen kann, wird um eine Umschuldung unter Einbeziehung der Gläubiger nicht herumkommen,
die dann auf einen Teil ihres Darlehens verzichten müssen. Das ist der richtige Weg.
Dieser Weg ist ja nicht neu. Er ist insbesondere in
Südamerika, in Argentinien, aber auch in Europa, in
Polen, in Russland, in vielen Ländern über den Pariser
Club beschritten worden. Das hat vorzüglich funktioniert, und das hat zu einer anschließenden dauerhaften
Stabilisierung geführt. Ich warne davor, zu glauben, es
bedürfe irgendeines Aktionismus; da wird jetzt in
Europa diskutiert. Dabei geht es eigentlich nur darum,
dass die Triple-A-Staaten in Europa - das sind Deutschland, Frankreich, Österreich, Niederlande, Luxemburg
und Finnland - für die Schuldnerländer eintreten müssen, ohne dass es zu einer dauerhaften Sanierung kommt.
Ganz im Gegenteil: Gerade das löst den Moral Hazard
aus. Die Regierungen sind dann nicht mehr veranlasst,
eine solide Politik zu betreiben; denn sie können sagen:
Die Defizite werden sowieso von den anderen ausgeglichen.
Wir müssen vielmehr an die Grundlagen gehen: Jeder
Einzelstaat muss aus sich heraus saniert werden, und er
muss natürlich Auflagen bekommen und Sanktionen angedroht bekommen, wenn er die Voraussetzungen nicht
erfüllt.
Meine Damen und Herren, ich glaube, diese Frage ist
für die Zukunft von Europa von eminenter Bedeutung.
Hier werden historische Entscheidungen getroffen, und
sie dürfen nicht in die Richtung einer Transferunion gehen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({21})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Solms, ich finde es bemerkenswert und auch anerkennenswert, dass Sie nochmals darauf hingewiesen haben, dass die arbeitsmarktpolitischen Reformen jetzt
Wirkung zeigen. Das heißt aber im Umkehrschluss natürlich auch, dass Sie durchaus anerkennen, dass institutionelle Reformen notwendig sind, um am Arbeitsmarkt
und in Bezug auf die Wirtschaftslage Verbesserungen zu
erlangen. Ich muss Ihnen jetzt Folgendes vorhalten: Das,
was Sie uns an Reformen und institutionellen Veränderungen vorschlagen, ist überhaupt nicht ausreichend. Ich
komme im Einzelnen noch dazu.
Sie verzeihen, wenn ich etwas hochhalte: Das ist der
Jahreswirtschaftsbericht 2011. Der Titel dieses Jahreswirtschaftsberichtes macht mir extreme Sorgen, Herr
Minister. Natürlich ist unbestritten: Wir haben einen
Aufschwung und mehr Leute in Jobs. Das ist gut, richtig
und notwendig. Aber dass Sie allen Ernstes behaupten,
dass die Krise überwunden ist, zeugt von einer unglaublichen Kurzsichtigkeit. Wir sind noch lange nicht über
den Berg; wir müssen jetzt handeln. Das ist das, was uns
wirklich Sorgen macht.
({0})
Die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise sind
noch keineswegs beseitigt. Wir haben eine enorme
Schuldenkrise in Europa und weiter unzureichende Finanzmarktregulierungen. Wir haben globale und europäische Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen. Wir
haben zwar eine Währungsunion, aber wir haben doch
noch lange keine Wirtschaftsunion.
Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen „Wir müssen
halt aufpassen, dass Triple-A-Deutschland hier nicht geschädigt wird“, dann haben Sie nicht verstanden, dass es
auch im nationalen Interesse ist, Europa zu stabilisieren,
und dass Deutschland hier eine ganz große Aufgabe hat.
Das müssen Sie verstehen, wenn Sie nicht nur national,
sondern europäisch denken.
({1})
Wir vermissen zutiefst die Europäer in Ihrer Regierung,
die sagen „Wir nehmen etwas in Angriff, wir starten, wir
überlegen, wir gestalten mit“, sondern Sie sind in einer
Bremserrolle, was Europa angeht. Das ist hochdramatisch; auch das haben Sie nicht begriffen. Hier stecken
noch so viele Krisensituationen drin, die uns in Deutschland betreffen werden.
Aber auch die Klimakrise ist nicht vorbei. Vor ein paar
Jahren haben Sie sich alle - das ist unser Eindruck - damit einmal ein bisschen thematisch auseinandergesetzt.
Inzwischen haben Sie damit gar nichts mehr zu tun. Am
Montag hat sich in diesem Bundestag eine EnqueteKommission zu dem Thema Wachstum konstituiert, wo
auch von Ihnen, Herr Präsident Lammert, durchaus kritische Töne in Bezug auf die Frage unserer Wachstumsabhängigkeiten angeschlagen wurden. Ich hoffe sehr, dass
Ihre Vertreterinnen und Vertreter in dieser Enquete-Kommission nicht nur reine Lippenbekenntnisse abgeben,
sondern dass es ihnen tatsächlich darum geht, dass wir
anerkennen, auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen zu leben, der 2050 eine Weltbevölkerung von
9 Milliarden Menschen haben wird. Diese Weltbevölkerung wird wohnen wollen, sie wird arbeiten wollen, sie
wird sich ernähren wollen, und sie wird Mobilität haben
wollen.
Wenn wir aus deutscher Sicht heraus wirtschaftspolitisch denken, dann wird es mit unsere Aufgabe sein, hier
Lösungen für diese Herausforderungen zu finden. Das
ist aus weltpolitischer Sicht richtig, das ist aus nationaler
Sicht richtig, und das ist aus umweltpolitischer Sicht
richtig.
({2})
Wenn Sie hier vorangehen, haben wir ein bisschen mehr
als die Prosa in diesem Jahreswirtschaftsbericht.
Ich komme jetzt zur Haushalts- und Finanzpolitik. Sie
muss ja seriös sein, um für wirtschaftliche Stabilität sorgen zu können. Dieses Klein-Klein, das Sie uns in den
letzten Tagen bei der Steuervereinfachung geliefert haben, ist schon echt ein Hammer. Da haben Sie jetzt durch
die Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrags pro Monat 1,95 Euro für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
herausgeholt. Zwischenzeitlich hat die FDP wegen dieser Nummer mit dem Koalitionsbruch gedroht. Ich frage
mich, was Sie eigentlich tun werden, wenn Sie einmal
ernsthafte und große Probleme angehen. Was wird dann
mit Ihrer Koalition los sein? Sie haben bei dieser Geschichte den Finanzminister demontiert. Sie feiern sich
jetzt für 80 Euro Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrags. Sie haben die Koalition infrage gestellt. Es ist lächerlich, was Sie hier geliefert haben.
({3})
Noch einmal zur Krise. Diese Krise hat Deutschland
laut IWF 115 Milliarden Euro gekostet. Folgekosten der
Wirtschafts- und Finanzkrise: 115 Milliarden Euro. Wir
haben eine Schuldenquote von 80 Prozent. Sie müssen
uns irgendeine Antwort liefern, wie Sie hier herauskommen wollen. Die Antworten, die Sie liefern, haben überhaupt keine Substanz. Das Einzige, was Ihnen wieder
einfällt, sind Steuersenkungen. Ich frage mich manchmal
- diese Frage richte ich auch an die FDP -: Wundern Sie
sich eigentlich noch, warum Sie bei den Umfragewerten
bei 3 Prozent oder meinetwegen vielleicht bei 4 Prozent
liegen?
({4})
Wundern Sie sich noch darüber? Die Menschen sind viel
schlauer als die FDP, und sie sind auch viel schlauer, als
die FDP denkt.
({5})
Sie wissen nämlich genau, dass starke Schultern natürlich mehr tragen müssen. Natürlich müssen wir diese
Belastungen irgendwie zurückführen. Das wissen die
Menschen. Deswegen glauben sie Ihnen diese Steuersenkungsfantasien nicht - unabhängig davon, dass sie es
auch gar nicht wollen. Wundern Sie sich also nicht, dass
Sie, wenn Sie so weitermachen, bei 4 Prozent landen
werden. Uns soll es recht sein.
Ehrlichkeit wird belohnt. Ehrlichkeit heißt: Wir sagen, was geht. Wir sagen, was wir zumuten. Sie sind zu
feige, den Menschen zu sagen, was notwendig ist.
({6})
Sie erschöpfen sich im lächerlichen Klein-Klein und im
Rückwärtsgang.
({7})
Jetzt werde ich ein innovatives Beispiel anführen. Wir
haben den Jahreswirtschaftsbericht bekommen. Es gab
einen Vorläufer. Im Dezember/Januar wurde uns der
erste Entwurf zugänglich gemacht. Darin haben Sie über
den Fachkräftemangel gesprochen. Der Fachkräftemangel - wir werden nachher noch eine ausführliche Debatte
dazu haben - ist einer der Punkte, die in Deutschland tatsächlich absehbar zu einer Krise führen werden. Wir haben im IT-Bereich, bei den Ingenieuren, im Pflegebereich definitiv einen Fachkräftemangel. Sie werden das
Problem allein mit inländischen Kräften nicht mehr lösen. Wir sagen Ja zur Bildungsoffensive. Wir sagen Ja
zur Frauenförderung. Wir sagen Ja dazu, ältere Arbeitnehmer länger im Job zu behalten. Trotzdem werden Sie
sich über die Frage der Zuwanderung Gedanken machen
müssen.
Ein innovatives Land, ein Wachstumsland, wie es
Deutschland ist, ist immer auch ein Einwanderungsland.
Wir sind inzwischen ein Auswanderungsland. Was ist
passiert? Nichts! Es steht nichts mehr darin! Bayerischkonservative Ideologie hat sich durchgesetzt. Sie haben
gesagt: Zuwanderung wollen wir eigentlich nicht, brauchen wir nicht.
({8})
Wo sind hier Ihre Siebenmeilenstiefel? Das ist ein Gänsemarsch, was Sie hier als CDU/CSU und FDP vorführen.
({9})
Jetzt komme ich noch zur Rohstoffstrategie. Wir haben von Ihnen, auch von anderen Rednern hier, gehört,
dass für unsere Wirtschaft ein ganz großes Problem der
Zugang zu bezahlbaren Rohstoffen und Ressourcen ist.
Wir haben vor einigen Wochen die Rohstoffstrategie der
Bundesregierung diskutiert. Ich sage Ihnen: Es ist ökologisch, aber auch wirtschaftlich überhaupt nicht rational,
wenn wir das, was wir haben, nicht nutzen und stattdessen eine reine Beschaffungsstrategie fahren. Wo sind
Ihre Vorschläge zur Kreislaufwirtschaft, zu Recycling,
zu vernünftiger Materialeffizienz, zu Ressourceneffizienz? Dazu kommen keine Vorschläge! Heute - das
muss man sich einmal vorstellen! - werden gerade einmal 50 Prozent des Schrotts in Recyclingprozessen aufgearbeitet. Das heißt, bei 50 Prozent geschieht das nicht.
Ich will einen Wirtschaftsminister haben, der sagt: Ich
gehe bei der Kreislaufwirtschaft voran. Ich mache mir
hierzu Gedanken. - Aber nein, wir haben eine Beschaffungsstrategie und überlegen uns, wie wir in anderen
Ländern, vielleicht sogar verknüpft mit der Zusage von
Entwicklungshilfe, an Rohstoffe herankommen. KurzKerstin Andreae
fristig, kurzsichtig, falsch gedacht! Sie haben nicht die
Erkenntnis, dass wir Umwelt und Ressourcen schonen
müssen. Wenn wir es nicht tun, dann verbauen wir Chancen der Zukunft, und das wollen wir nicht. Sie betreiben
eine völlig falsche Politik.
({10})
Zum Schluss. Allein auf Wachstum zu setzen, reicht
nicht aus. Sie brauchen Zukunftsinvestitionen und richtige institutionelle Reformen. Sie müssen auch einmal
einen Vorschlag machen, der zu Diskussionen führt, und
sagen: Das muten wir euch zu. Das ist das, was wir brauchen, um in die Zukunft zu gehen. - Sie brauchen eine
seriöse Finanz- und Haushaltspolitik. Vor allem brauchen Sie das Verständnis, dass Deutschland sich in Europa befindet, dass wir in einer Wirtschafts- und in einer
Währungsunion sind. Der Großteil der Reden, die wir
von der Koalitionsseite gehört haben - bis auf wenige
Ausnahmen -, hatte eine nationale Sichtweise.
({11})
Sie verstehen nicht einmal mehr, dass es notwendig ist,
Europa zu stabilisieren, auch aus einem nationalen Interesse.
Frau Kollegin.
Europa zu stabilisieren, ist natürlich im europäischen
Interesse. Das ist auch ein zutiefst grünes Interesse.
Wenn Sie hier sagen: „Die Krise ist ausgestanden“, dann
haben Sie es nicht verstanden. Das macht uns Sorgen.
Ich hoffe, dass Sie noch zu neuen Erkenntnissen gelangen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Michael Fuchs
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man so
positive Zahlen verkünden kann wie heute der Bundeswirtschaftsminister und Kollegen, dann ist dieses einfach erfreulich. Dass man das so zerredet, wie das der
eine oder andere Kollege hier getan hat, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen.
Lieber Kollege Brüderle, Sie haben eben gesagt, Herr
Steinmeier sei die Insel der Vernunft. Ich habe das Gefühl: Er ist im Hochwasser untergegangen.
({0})
Wenn ich mir vergegenwärtige, was Sie, Herr
Steinmeier, gesagt haben, dann frage ich mich, ob Sie in
der gleichen Welt leben wie wir. Wenn ich letztes Jahr
3,6 Prozent Wachstum vorausgesagt hätte, hätten Sie
mich schlicht für verrückt erklärt.
Wir werden dieses Jahr ein Wachstum von 2,3 Prozent haben. Als wir noch gemeinsam regierten, haben
wir gedacht, wir würden für das Jahr 2010 eine Neuverschuldung von circa 80 Milliarden Euro haben. Im
Steinbrück’schen Haushalt war eine Neuverschuldung
von 86 Milliarden Euro vorgesehen. Wir sind dank der
vernünftigen Haushaltspolitik unseres Bundesfinanzministers Schäuble bei 44 Milliarden Euro gelandet.
({1})
Das müssen Sie doch einmal registrieren; das können Sie
doch nicht einfach wegdiskutieren.
({2})
Als Sie mit Herrn Schröder noch im Kanzleramt saßen, Herr Steinmeier, hatten wir 5 Millionen Arbeitslose.
Jetzt sind wir auf dem Weg, unter 3 Millionen zu kommen. Im Jahreswirtschaftsbericht gehen wir davon aus,
dass der Durchschnitt für dieses Jahr bei 2,9 Millionen
liegen wird. Auch das ist eine ausgesprochen positive
Zahl. Herr Gysi, diese Zahlen zeigen, dass wieder mehr
Menschen in Lohn und Brot stehen, dass sie Chancen am
Arbeitsmarkt haben und dass sie wieder mitmachen können. Das kann man nicht so zerreden, wie Sie es getan
haben.
({3})
Was meinen Sie, wie froh diese Leute darüber sind,
dass sie wieder die Chance haben, Arbeit zu bekommen.
Es passiert in diesem Bereich eine ganze Menge. Obendrein handelt es sich um Arbeitsplätze, die in industriellen Sektoren entstanden sind, also in den Bereichen, in
denen Deutschland stark ist. Ich sage Ihnen noch eines:
Ich bin verdammt froh, dass wir in Deutschland eine so
gut funktionierende Industrie haben, die komplett durchorganisiert ist. Mein Deutschlandbild ist das Bild von einem Industrieland und nichts anderes.
Ich bin auch froh, dass bei uns immer noch über
35 Prozent der Arbeitsplätze in der Industrie zu finden
sind. In England beträgt der Anteil gerade noch
7 Prozent. Was meinen Sie, wie uns die Engländer um
unsere industriellen Arbeitsplätze - bei denen es sich im
Wesentlichen um hochbezahlte Arbeitsplätze handelt beneiden! Ich möchte nicht, dass in Deutschland
27 Prozent des Bruttoinlandsproduktes an Orten wie dort
der City of London erwirtschaftet werden. Da ist mir unsere Struktur wesentlich lieber. Wir müssen alles daransetzen, dass diese Struktur erhalten bleibt.
({4})
Wir haben etwas dafür getan. Wir sind nach wie vor
Vizeexportweltmeister. Wir haben aber auch ein riesiges
Importvolumen. Wir kaufen sowohl in den Industrielän9364
dern als auch in den Schwellenländern ein. Es ist also ein
Gutteil Entwicklungshilfe mit dabei. Das ist positiv.
Das Wirtschaftswachstum hat zum Teil auch den Binnenmarkt beeinflusst. Der Handel hat mitgeteilt, dass er
das beste Weihnachtsgeschäft aller Zeiten verzeichnen
konnte. Das kann man nicht einfach wegdiskutieren. Das
heißt auch - Herr Gysi, das sollten Sie sich merken -,
dass Geld in den Taschen der Bürger vorhanden ist; denn
sonst hätten sie im Weihnachtsgeschäft nicht so intensiv
einkaufen können.
Wir haben dafür zu sorgen, dass das so bleibt. Das bedeutet, dass wir uns weiter um die Preisstabilität kümmern müssen. Diese war im letzten Jahr erfreulich niedrig. Eine Inflation in Höhe von 1,1 Prozent ist eine Zahl,
die auch Sie, lieber Herr Steinmeier, zur Kenntnis nehmen sollten. Diese positive Entwicklung sollte man nicht
wegdiskutieren.
({5})
Diese positive Entwicklung hat damit zu tun, dass in
Deutschland Bürgerinnen und Bürger, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Unternehmen einen guten
Job gemacht haben. Dafür können wir dankbar sein. Die
Politik hat die richtigen Weichen gestellt.
Dass wir am Anfang des letzten Jahres für eine Entlastung von circa 24 Milliarden Euro gesorgt haben, hat
dazu geführt, dass die Kaufkraft gestärkt wurde. Das hat
dazu geführt, dass der Binnenmarkt und speziell der Einzelhandel erstmalig wieder signifikant gewachsen sind,
was in den Jahren zuvor leider nicht der Fall war.
Ich gehe davon aus, dass wir diese Krise überwunden
haben, Frau Andreae. Sie sagen, das stimme nicht. Natürlich stimmt das. Wir sind Gott sei Dank jetzt in der
Lage, die Krisenmechanismen zurückzufahren. Zum
31. Dezember 2010 haben wir den „Wirtschaftsfonds
Deutschland“ geschlossen. Sie wissen genau, dass wir
115 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hatten. Diese
Summe wurde allerdings bei weitem nicht in Anspruch
genommen. In der Spitze waren es nur 14,2 Milliarden
Euro. Das zeigt, dass die deutsche Wirtschaft auf der
Kreditseite gut durch die Krise gekommen ist. Sie ist
jetzt so erfolgreich, dass wir diesen Mechanismus zurückführen können. Darauf können wir stolz sein.
Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat genauso
wie das noch gemeinsam - ich bin da ehrlich - beschlossene Bürgerentlastungsgesetz zu dieser positiven Entwicklung beigetragen. Das waren richtige Entscheidungen.
Dass es in Deutschland jetzt gut läuft, ist SchwarzGelb und unserer Koalition zu verdanken. Wie es denn
laufen kann, wenn eine rot-grüne Koalition regiert, sehen wir in NRW. Da hat Ihnen das Landesverfassungsgericht bestätigt, dass der Haushalt nicht verfassungskonform ist
({6})
und hat Ihnen per einstweiliger Verfügung untersagt,
diesen Haushalt zu exekutieren. Blamabler geht es nicht.
({7})
Noch schlimmer ist es in meinem Heimatland. Ich zitiere
aus dem Bericht des sozialdemokratischen Präsidenten
des Rechnungshofs Rheinland-Pfalz,
({8})
der Folgendes gesagt hat - diese Entwicklung in Rheinland-Pfalz macht mir Sorge -: Dem Land droht der
Verlust der finanzpolitischen Handlungsfähigkeit. Und
weiter: Demnach überschreiten die jährlichen Kreditaufnahmen die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze zum
Teil erheblich.
Da, wo Sozialdemokraten regieren, funktioniert es
nicht. Da funktioniert weder der Haushalt noch die Wirtschaftsförderung oder die Investitionen - die Investitionsquote ist von allen Flächenländern in RheinlandPfalz die niedrigste überhaupt. Das ist sozialdemokratische Politik, und die läuft fehl.
({9})
Bei Ihnen funktioniert es auch deswegen nicht, weil
Sie sich permanent in einer Dagegen-Mentalität bewegen, weil Sie mehr oder weniger gegen alles sind. Wenn
ich mir überlege, dass wir auf der einen Seite von den
Grünen hören, wir brauchten mehr erneuerbare Energie,
aber dann in den Ländern gegen Leitungsnetze demonstriert wird, die wir dringend brauchen, um die erneuerbaren Energien dahin zu bringen, wo sie gebraucht werden, dann ist das einfach traurig.
({10})
- Frau Andreae, das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Vielleicht sollten Sie - bei Ihnen habe ich den Eindruck,
dass Sie diesen wirtschaftspolitischen Sachverstand zumindest partiell noch haben - einmal mit Ihren Kolleginnen und Kollegen in den Ländern reden, dass sie endlich
diese Einstellung aufgeben,
({11})
dass sie dafür sorgen, dass dort die Netze ausgebaut werden können, und sich nicht überall dagegen wenden.
Das Dagegen ist ja nun zum - ich sage einmal - Signum Ihrer Politik geworden. Sie werden damit am Ende
des Tages nicht durchkommen, weil die Bevölkerung irgendwann merkt, dass Wachstum nicht mit einer Dagegen-Haltung funktionieren kann.
({12})
Es kann auch nicht so funktionieren - wie Sie offenbar der Meinung sind -, dass wir überall ein wenig mehr
an Steuern kassieren. Frau Andreae, Sie wollen mit Ihrer
Vermögensabgabe, von der Sie eben selbst gesprochen
haben, 20 Prozent innerhalb von zehn Jahren von den
Vermögenden einkassieren - netto 20 Prozent wegnehmen. Das ist konfiskatorische Politik, das wird mit uns
nicht funktionieren.
Bei Ihnen ist das so ähnlich: wieder die Vermögensteuer! Sie haben alle den Halbteilungsgrundsatz, den
uns das Verfassungsgericht einmal aufgeschrieben hat,
vergessen. Das kann ich ja verstehen. Zur Vergesslichkeit neigen die einen oder anderen, weil das in der Politik einfacher ist. Aber merken Sie sich das: Mehr als
50 Prozent geht nicht, und wir sind verdammt nahe dran.
Es ist auch heute schon so, dass die berühmten breiten
Schultern jede Menge zu tragen haben. Die obersten
10 Prozent der Einkommensteuerzahler zahlen rund
53 Prozent der gesamten Einkommensteuer, Herr Gysi.
Die obersten 25 Prozent zahlen über 75 Prozent, und die
untersten 30 Prozent der Einkommensteuerzahler zahlen lediglich 0,3 Prozent der Einkommensteuer. Mit anderen Worten haben wir da schon eine gewaltige Umverteilung, die man doch nicht wegdiskutieren kann. Das
muss in diesem Haus auch immer wieder gesagt werden.
Sie machen sich das zu einfach.
({13})
Mit so viel Populismus werden Sie auch nicht durchkommen.
Wir werden alles daransetzen, dass wir in Deutschland eine vernünftige Politik machen, die unsere Wirtschaft und unsere Industrie erhält. Wir werden dafür sorgen, dass Energie zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung
steht. Ich finde es richtig, wenn der Bundesumweltminister die Exzesse bei der Photovoltaik zurückfährt. Es
kann nicht sein, dass in einem Bereich rund 48 Prozent
der Subventionen aus dem EEG ankommen, aber nur
8 Prozent des Stroms erzeugt wird. Das ist Photovoltaik.
Das sind Fehlentwicklungen, die wir jetzt schnell korrigieren, weil das nicht sein darf.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt anführen, der mir sehr wichtig ist: Es ist so, dass wir als
Bundesrepublik Deutschland, als Industrieland Deutschland sehr vom Export abhängen. Leider sind die Tendenzen, die zurzeit im internationalen Sektor zu spüren sind,
negativ. Sie sind deswegen negativ, weil überall Free
Trade Agreements, bilaterale Handelsabkommen, geschlossen werden. Das ist eine Tendenz, die für uns sehr
ungünstig ist, schon gerade deswegen, weil wir viele
kleinteilige Exporte haben, weil mittelständische Unternehmen im Export sind, und die können sich nicht in jedem Land nach den unterschiedlichen Richtlinien ausrichten. Das ist zu kompliziert und kostet sehr viel Geld.
Wir sollten alles daransetzen, Herr Wirtschaftsminister, dass wir die Doha-Runde wieder in Gang bringen,
dass dort weiterverhandelt und mit den Amerikanern gesprochen wird, die für mich zurzeit die größten Bremser
auf diesem Sektor sind. Wir sollten alles daransetzen,
dass wir Multilateralismus wieder Einzug halten lassen.
Ich bitte Sie, dass Sie sich auch mit der WTO, mit Pascal
Lamy, intensiv zusammensetzen, um so schnell wie
möglich wieder auf den Pfad der Tugend zurückzukommen. Ich halte dies für dringend notwendig; denn anderenfalls werden wir im Export Schwierigkeiten bekommen. Das, was da so läuft, wenn Amerikaner heute
sagen, sie hielten es auch mit bilateralen Abkommen
sehr gut aus, weil ihre Volumina so groß seien, dass sie
auf großflächige internationale Abkommen nicht angewiesen seien, darf nicht so weitergehen. Wir müssen in
diesem Jahr dafür sorgen, dass der Multilateralismus so
schnell wie möglich wieder Einzug hält. Helfen Sie alle
dabei mit!
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Weil Sie, Herr Fuchs, davon gesprochen haben, dass man die schöne Frage, wem der Aufschwung
gehöre, ein bisschen nüchtern betrachten solle,
({0})
sollten wir ein paar Dinge miteinander festhalten: Wir
alle sind, glaube ich, der Meinung, dass es nach dieser
furchtbaren Wirtschaftskrise tüchtige Unternehmer waren, die mitgeholfen haben, dass Deutschland gut durch
die Krise gekommen ist, und dass es fleißige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer waren, die im letzten Jahr
übrigens auf viel verzichtet haben.
({1})
Dass es aber auch etwas mit Strukturreformen der rot-grünen Bundesregierung zu tun hat - das hat ein Teil Ihrer
Regierung anständigerweise einmal anerkannt gehabt und dass es etwas mit dem Krisenmanagement in Zeiten
der Großen Koalition zu tun gehabt hat, mit Kurzarbeitsregelungen und Konjunkturprogrammen zum richtigen
Zeitpunkt, das wissen Sie, Herr Fuchs, und das weiß ich.
Der Einzige, der das nicht sagt, ist Rainer Brüderle.
Herr Brüderle, Sie benehmen sich hier wie ein Pressesprecher des Statistischen Bundesamtes. Sie verkünden
Zahlen, für die Sie überhaupt nichts können. Sie sind
aber nicht Pressesprecher des Statistischen Bundesamtes, sondern Wirtschaftsminister der Bundesrepublik
Deutschland. Deshalb hat Frank-Walter Steinmeier vollkommen recht: Ihre Aufgabe ist es nicht, hier Zahlen abzufeiern, für die Sie nichts können, sondern Ihre Aufgabe ist es, Deutschland zu sagen, wie wir aus diesem
Aufschwung einen dauerhaften Fortschritt machen können, der bei den Menschen auch ankommt. Das ist Ihre
Aufgabe.
({2})
Hubertus Heil ({3})
Herr Brüderle, wo ist denn die Fachkräftestrategie,
die notwendig ist, damit wir keinen gespaltenen Arbeitsmarkt in Deutschland bekommen? Unternehmen beklagen sich in manchen Branchen und Regionen - Frau
Andreae hat darauf hingewiesen - jetzt schon über Fachkräftemangel, während auf der anderen Seite immer
noch 3 Millionen Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit
abgehängt sind. Wo sind denn Anstrengungen der Bundesregierung für eine Bildungsoffensive, die dazu führt,
dass wir kein Kind zurücklassen, dass nicht 65 000 Jugendliche Jahr für Jahr unsere Schulen ohne Abschluss
verlassen und dass nicht weiterhin 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne berufliche Erstausbildung dastehen. Wo sind denn da Ihre Antworten?
Herr Brüderle, Sie haben in Ihrer Amtszeit genau
zwei Dinge in der Koalition durchgesetzt: erstens die berühmte Hotel-Mehrwertsteuer und zweitens eine Energiepolitik zugunsten von Oligopolen und Monopolen
großer Konzerne und zulasten des Wettbewerbs.
({4})
Das ist die Bilanz des Wirtschaftsministers Rainer
Brüderle. Sie sind nicht zukunftsfähig.
({5})
Herr Brüderle, Sie haben sich vorhin, weil es irgendwie zur Folklore Ihrer Partei gehört, über den Mindestlohn geäußert. Ich sage Ihnen einmal, warum ich der festen Überzeugung bin, dass Sie sich auch mit Frau
von der Leyen einmal länger über die Entwicklung in ihrem Haushalt unterhalten sollten. Wir geben als Steuergeld, Herr Fuchs, Jahr für Jahr 11 Milliarden aus dem
Bundeshaushalt allein für aufstockende Arbeitslosengeld-II-Leistungen aus. Das heißt, wir nehmen den Steuerzahlern 11 Milliarden Euro weg, um Armutslöhne in
diesem Land aufzustocken.
({6})
- 11 Milliarden Euro im Bundeshaushalt! Wenn das so
weitergeht, dann kommen wir zu staatlicher Lohnbewirtschaftung. Das hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts
zu tun. Das ist der Grund, warum wir sagen, Herr
Brüderle: Wir wollen im Sinne der arbeitenden Menschen und einer sozialen Marktwirtschaft und im Interesse von fairem Wettbewerb wie in anderen Ländern
dafür sorgen, dass Menschen von ihrer Arbeit wieder leben können. Auch wegen der Ordnung der Wirtschaft in
unserem Lande brauchen wir Mindestlöhne.
({7})
Herr Brüderle, in Ihrer Rede hat das Thema der Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 vollständig gefehlt. Inzwischen sagt sogar die BDA, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, gegen Ihren
Widerstand, dass wir einen Mindestlohn in der Zeitarbeit
brauchen, weil wir sonst in die Situation geraten - Sie
wissen es -, dass Unternehmen aus Osteuropa, die hier
als Zeitarbeitsunternehmen tätig sind, den Wettbewerb in
der Zeit- und Leiharbeitsbranche kaputtmachen und
gleichzeitig Lohndumping befördern. Sie waren lange
dagegen. Ich sage Ihnen: Das reicht nicht aus. Wir brauchen den Mindestlohn für den Bereich der Zeit- und
Leiharbeit; das ist inzwischen fast Konsens, abgesehen
von Teilen der FDP. Wir werden den Mindestlohn für die
verleihfreie Zeit durchsetzen. Um dem Missbrauch der
Zeit- und Leiharbeit entgegenzutreten, ist es aber wichtiger, den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“
für Stamm- und Leihbelegschaft durchzusetzen; Sie werden es begreifen müssen.
({8})
Ich wünsche mir einen Wirtschaftsminister, der mit
ökonomischem Sachverstand einfach sagt: Wir wollen
Zeit- und Leiharbeit nicht verbieten; sie ist ökonomisch
vernünftig, wenn sie, Herr Fuchs, auf den Bereich der
Auftragsspitzen von Unternehmen - auf nichts anderes konzentriert wird. Wir dürfen aber nicht länger zuschauen, wenn die Zeit- und Leiharbeit zum Einfallstor
für Lohndumping zulasten der Stammbelegschaft wird.
Herr Oswald, ich habe mich lange mit Ihrem Ministerpräsidenten Seehofer über dieses Thema unterhalten; ich
habe den Eindruck, er hat angefangen, das zu begreifen.
Wir führen an dieser Stelle gerade Verhandlungen.
Meine herzliche Bitte ist: Unterstützen Sie Horst
Seehofer und überlassen Sie dieses Thema bitte nicht
Rainer Brüderle; denn das wäre nicht gut für Deutschland.
({9})
Herr Brüderle, ich bin der festen Überzeugung, dass
Sie ein Mensch sind, mit dem man reden kann. Manchmal erinnern Sie mich ein bisschen an den Satz von
Johannes Rau, der einmal gesagt hat:
Mein Hund ist als Hund eine Katastrophe, aber als
Mensch unersetzlich!
Herr Brüderle, ich will sagen: Ich finde Sie menschlich
vollkommen in Ordnung; man kann gut mit Ihnen reden.
Aber als Bundeswirtschaftsminister sind Sie in dieser
Zeit leider eine Fehlbesetzung.
Herzlichen Dank.
({10})
Dr. Martin Lindner ist der nächste Redner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Kollege
Heil, niemand von uns bestreitet, dass Rot-Grün und
Schwarz-Rot vor uns ihren Teil zum Aufschwung beigetragen haben.
({0})
Dr. Martin Lindner ({1})
Ich sage es Ihnen hier ganz klar und ausdrücklich: Die
Hartz-Gesetzgebung der damaligen rot-grünen Regierung hat einen wesentlichen Anteil daran, dass wir bei
der Erwerbstätigkeit heute so dastehen, wie wir dastehen; das macht Ihnen überhaupt niemand streitig. Das
Problem ist, dass sich Ihre Partei selbst von alldem verabschiedet, was sie damals richtigerweise gemacht hat:
({2})
Sie verabschieden sich selbst von der Hartz-Gesetzgebung und von der Rente mit 67. Sie machen nur noch
populistischen Dödelkram, seit Sie hier in der Opposition sitzen.
({3})
Das ist der große Unterschied zwischen uns und Ihnen: Wir haben die Hartz-Gesetze auch in der Opposition mitgetragen, weil wir sie für vernünftig halten; wir
handeln eben nicht heute in der Opposition so und morgen in der Regierung anders, auch wenn es möglicherweise manchmal angesichts der Umfragen wehtut. Kollege Heil und Kollege Steinmeier, es ist eher ein
Treppenwitz, dass ausgerechnet Sie sich im Moment in
Umfrageergebnissen baden; das muss man einmal ganz
klar sagen.
Frau Andreae, genießen Sie die Umfragen; ich gönne
sie Ihnen von ganzem Herzen. Das gab es schon auf dem
Schulhof: die Trainingsweltmeister, die erzählt haben,
wie viele Asse sie gestern auf dem Tennisplatz hintereinander geschlagen haben, dass sie die 100 Meter unter
11 Sekunden gelaufen sind. Das Problem war nur: Wenn
die Turniere, die Wettbewerbe anstanden, war nichts
mehr los. Schauen Sie also einmal, dass Sie Ihre PS auf
die Straße bringen und Sie bei den Landtagswahlen, die
vor uns stehen, tatsächlich so tolle Ergebnisse haben. Ich
darf Sie zum Schluss daran erinnern: Zwischen 1998 und
2002 hatten wir immer wieder super Umfrageergebnisse;
die CDU/CSU hatte teilweise absolute Mehrheiten.
Dummerweise sah es dann bei der Wahl 2002 ganz anders aus. Frau Andreae, warten wir also ab, wie sich das
entwickelt.
Kommen wir zurück zum Thema Mindestlohn. Wenn
Sie sich einmal mit Unternehmern unterhalten - ich habe
es Ihnen schon gestern gesagt -, dann werden Sie sehr
schnell feststellen, dass Ihnen Unternehmen beispielsweise aus der Sicherheitsbranche, die sehr für den Mindestlohn sind, auf Nachfrage klarmachen, was passiert,
wenn ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn eingeführt wird: Genau die Leute, die jetzt für ein Gehalt unter dem Mindestlohn arbeiten, den Sie anstreben, würden
wieder freigestellt; man würde dann, so wurde mir gesagt, Schichten zusammenlegen.
({4})
Genau diese 1,5 Millionen, die Sie gerade beklagt haben, die vom Staat teilalimentiert werden, die dürfen Sie
dann voll alimentieren. Das kann doch keine sinnvolle
Politik sein, Kollege Heil, Kollege Steinmeier. Es kann
doch wirklich nicht Ihr Ernst sein, dass das die Alternative ist.
({5})
Schauen Sie sich die internationalen Vergleiche an!
({6})
Die Länder, die den Mindestlohn haben, wie Frankreich
und andere, die sind doch in der Entwicklung der Erwerbstätigkeit alle deutlich hinter Deutschland.
({7})
- Entschuldigung. Sie können doch eines der größten Industrieländer der Welt nicht mit Luxemburg vergleichen!
Das ist doch wirklich völlig abwegig.
({8})
Ich meine, was wollen wir hier denn machen? Offshoregesellschaften gründen oder Ähnliches? Das ist doch
läppisch.
({9})
Besonders perfide, Kollege Gysi, ist, dass Sie sich
hinstellen und hier sagen, wenn wir den Mindestlohn
nicht einführen würden, würde das im Zuge vollständiger EU-Freizügigkeit zu einer Zunahme von Fremdenfeindlichkeit führen. Es ist doch Ihre Partei, die das
schürt
({10})
durch dieses Hetzen gegen den Vertrag von Lissabon,
mit den Fremdarbeitersprüchen Ihres ehemaligen Vorsitzenden Lafontaine. Sie, die Linke, und die NPD sind
führend in dem Schüren dieser Fremdenfeindlichkeit.
({11})
Das ist doch ganz klar. Und dann stellen Sie sich hier hin
und beklagen das. Das ist genau das, was gestern auch
Frau Wagenknecht im Ausschuss an Ressentiments ge-
schürt hat.
Wir haben eine gesunde Entwicklung auch bei der
privaten Konsumzunahme, aber, Frau Kollegin Andreae,
Sie haben recht.
Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das finde ich
auch!)
Ich meine das, was Sie zu den Krisen sagen. Ich meine,
ein richtig gestandener Grüner braucht Krisen, sonst
fühlt er sich nicht richtig wohl. Das ist auch die Geburtsstunde Ihrer Partei. Krise hier, Krise da.
({12})
Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass wir wachsam
sein müssen, dass gerade die Bewahrung der Euro-Stabilität eine der zentralen Herausforderungen ist.
Dr. Martin Lindner ({13})
({14})
Wenn uns das nicht gelingt, dann werden wir natürlich
auch für die deutsche wirtschaftliche Entwicklung gravierende negative Folgen haben. Deswegen setzt sich
diese Bundesregierung so massiv dafür ein, zu verhindern, dass wir eine Transferunion bekommen. Es kann
doch niemand hier, der deutscher Volksvertreter ist, das
ernsthaft wollen, was da von Ihnen teilweise gestreut
wird.
({15})
Sie können doch nicht zulassen, dass in Griechenland
mit Mitte 50 in Rente gegangen wird und der deutsche
Arbeitnehmer, der bis 67 arbeiten soll, das aus seinem
Steuergeld finanzieren soll. Das kann doch keine vernünftige Politik sein.
({16})
Wahr ist aber, dass wir hier schon gemeinsame Wege,
auch gemeinsame Wege wirtschaftlicher Entwicklung,
finden müssen. Diese Balance, auf der einen Seite zu
Umschuldungsverfahren zu kommen, zu sogenannten
Haircuts, zu staatlichen Insolvenzverfahren, und auf der
anderen Seite zu sehen, dass wir durch eine zusätzlich
integrierte gemeinsame Wirtschaftspolitik Europa stärken und auf jeden Fall verhindern, dass wir hier in eine
Renationalisierung in Europa kommen, das, glaube ich,
muss auch gemeinsames Ziel und gemeinsame Politik
dieses Hauses sein.
({17})
Wir haben neben der Haushaltsstabilität, die auch
diese Bundesregierung in exzellenter Weise hinbekommen hat, dieses Jahr ein Defizit unter 2,5 Prozent. Das
hätte uns am Anfang des vergangenen Jahres niemand
zugetraut. Natürlich ist es für uns eine große Herausforderung, dies in einen Kontext mit unserem gemeinsamen
Ziel einer Entlastung unserer Bürger bei Steuern und
Abgaben zu bringen. Das bleibt unser Ziel, und da ringen wir natürlich miteinander, um dieses Ziel zu erreichen, es den Menschen ein Stück einfacher zu machen,
ihre Steuererklärung abzugeben, dass sie sich nicht dauerhaft damit beschäftigen müssen, wie sie dem Staat
Steuern entziehen können - legal oder vielleicht sogar illegal -, sondern dass sie einen Weg bekommen, sich weniger damit zu beschäftigen, und dass der Staat auf der
anderen Seite solidere Einnahmen hat. Das ist doch auch
eine vernünftige Politik.
Natürlich ringen wir auch um Entlastungen für die
Bürger. Da können Sie sich ja gern über kleine Erfolge
lustig machen, aber wenn Sie diesen kleinen Erfolgen
einmal gegenüberstellen, was Sie im Unmaß von Steuergier in den letzten Wochen und Monaten - Sie und die
SPD - beschlossen haben, dann weiß da draußen doch
auch jeder, woran er ist, wenn Sie tatsächlich irgendwann einmal an die Macht kommen sollten:
({18})
Wegfall des Ehegattensplittings und dann auch immer
Ihre schöne Forderung nach Erhöhung der Spitzensteuer.
Schauen Sie sich einmal an, wie sich die Spitzensteuer entwickelt hat! Sie haben sie gesenkt. Sie haben
sie doch gesenkt.
({19})
- Ja, aber Sie müssen sich einmal anschauen, wer heute
alles Spitzensteuer bezahlt, Herr Kollege Heil.
({20})
Das sind doch nicht mehr allein nur Millionäre und Vorstände von DAX-Unternehmen. Zu dieser Gruppe zählt
doch mittlerweile jeder Facharbeiter. Das ist es doch. Sie
wollen den Leuten in die Tasche greifen.
({21})
Kohl hatte damals recht: Masse bringt Masse. - Das
wissen Sie ganz genau.
({22})
Sie können nicht von den Steuern der paar Einkommensmillionäre leben. Der Ertrag aus der Reichensteuer liegt
bei gerade einmal 400 Millionen Euro. Wenn Sie Masse
kassieren wollen, dann machen Sie das auch deutlich.
Frau Schwesig hat neulich zusammen mit Herrn
Scharping, der ja brutto und netto verwechselt, gesagt,
bei 100 000 Euro solle es losgehen. Wir werden Ihnen
Ihre Gier um die Ohren hauen, die Sie an den Tag legen,
wenn Sie an die Steuersäckel der Bürgerinnen und Bürger wollen.
({23})
Meine Damen und Herren, wir haben auch im Bereich
Forschung und Entwicklung deutlich zugelegt und verzeichnen hier große Erfolge.
({24})
Trotz Haushaltskonsolidierung haben wir die Fördermittel auf 13 Milliarden Euro pro Jahr erhöht. Wir wollen
und werden diesen Weg weitergehen, wobei das Thema
Fachkräftemangel
({25})
in einer gesonderten Debatte zu behandeln ist.
Wir wollen auch in die Infrastruktur investieren. Sie
müssen aber vor Ort mitmachen. Die SPD kann sich
nicht immer, wie bei Stuttgart 21, wegdrücken, wenn ihr
die Kugeln um die Ohren fliegen, und die Arbeit den anderen überlassen. Sie müssen dann auch mitmachen und
zu dem, was Sie in der Vergangenheit gemacht haben,
als Sie in der Regierungsverantwortung waren, auch
Dr. Martin Lindner ({26})
dann noch stehen, wenn es einmal unangenehm wird.
Sonst können Sie keine Infrastrukturpolitik machen. Da
wird es immer wieder einmal unangenehm. Es werden
immer 20 000, 30 000 oder auch mal 50 000 Menschen
auf der Straße demonstrieren. Man kann sich nicht jedes
Mal in die Büsche schlagen und sagen: Um Gottes willen, jetzt wird es aber gefährlich, das ist ja eine Massendemonstration. Man muss vielmehr auch dann zu seinen
Entscheidungen stehen.
Lieber Herr Kollege Steinmeier, Sie haben hier die
„Bröckel-Republik Deutschland“ reklamiert. Fahren Sie
einmal durch Berlin, wo Rot-Rot regiert. Dort können
Sie die Schlaglöcher ohne Großcomputer an Bord gar
nicht mehr zählen. Daran sehen Sie, welche Infrastrukturpolitik Sie vor Ort machen.
Herr Kollege Lindner, Sie möchten bitte zum Ende
kommen. Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten.
({0})
Wo Sie regieren, geht es den Leuten schlechter. Wo
wir, wo Schwarz-Gelb regiert, in den Ländern und im
Bund, geht es den Leuten besser.
({0})
Das wird an nichts deutlicher als an diesem Jahreswirtschaftsbericht.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Kollegin Sahra Wagenknecht für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, nach so viel Selbstbeweihräucherung sollte man
mal wieder auf die Realität zu sprechen kommen.
({0})
Auch wenn Sie sich noch so sehr in die Tasche lügen:
Dieser Wirtschaftsaufschwung, für den sich diese Regierung hier seit inzwischen zwei Stunden selbst feiert, findet für die große Mehrheit der Menschen in diesem Land
schlicht nicht statt. Er findet genauso wenig statt wie der
letzte Wirtschaftsaufschwung 2005 bis 2007. Damals
hatte noch eine andere Regierung die Verantwortung getragen; aber über Kontinuität ist hier ja schon mehrfach
gesprochen worden.
Was wir jetzt haben, ist ein Aufschwung für die
Ackermänner, die wieder nach Herzenslust zocken können.
({1})
Das ist ein Aufschwung für die Konzerne, die sich schon
wieder dumm und dämlich verdienen und trotzdem nicht
investieren, und es ist natürlich ein Aufschwung für die
Multimillionäre, deren Vermögen in den letzten zwei
Jahren explodiert ist, vor allen Dingen auch im
Krisenjahr 2009.
Dass wir immer wieder Aufschwünge dieser Art bekommen, hat natürlich auch damit zu tun, dass dieses
Land seit Jahren mit Regierungen gestraft ist, die von
den Ackermännern, von den Konzernen, von den Multimillionären gekauft sind. Das ist das zentrale Problem.
Das fing bei Rot-Grün an und hat sich bis heute nicht
verändert.
({2})
Es gab in grauen bundesdeutschen Vorzeiten mal einen Kanzler, der tatsächlich Wohlstand für alle schaffen
wollte. Wie fremd Ihnen auch nur dieser Anspruch geworden ist, merkt man daran, mit welcher Selbstgefälligkeit Sie hier eine Situation in den Himmel loben, in der
der Wohlstand der großen Mehrheit der Menschen nicht
steigt, sondern sinkt. Und das feiern Sie hier auch noch!
({3})
Wenn in den letzten zwei Jahren in Deutschland
366 000 Industriearbeitsplätze abgebaut werden - davon
allein im Jahr 2010 136 000 -, ist das für diese Regierung ein Jobwunder. Wenn die Maschinenbaubranche in
Deutschland derzeit 17 Prozent weniger produziert als
vor der Krise und die realen Nettolöhne pro Arbeitnehmer sich unterhalb des Niveaus des Jahres 2000 bewegen, dann feiern Sie das als den größten Wirtschaftsaufschwung der bundesdeutschen Geschichte. Das ist doch
absurdes Theater, was Sie hier vorspielen - schlechtes
absurdes Theater.
({4})
Die Gefahr ist natürlich groß, dass es noch erheblich
schlimmer kommt; das ist schon angesprochen worden.
Ab Mai dieses Jahres gibt es in Europa die Arbeitnehmerfreizügigkeit. In eine solche Situation mit einem deregulierten Arbeitsmarkt wie dem deutschen zu gehen - ohne
Mindestlohn und mit einem boomenden Leiharbeitssektor,
der mit seinen perspektivlosen Hungerlohnjobs schon jetzt
immer mehr reguläre Arbeitsverhältnisse verdrängt -, ist
doch ein Himmelfahrtskommando!
({5})
Oder es ist eine bewusst kalkulierte neue Runde brutalen Lohndumpings. Wenn es Ihnen darum geht, erzählen Sie uns aber bitte nicht mehr, wie es im Jahreswirt9370
schaftsbericht steht, dass Sie erwarten, dass der Konsum
in diesem Jahr wahnsinnig zulegen wird.
({6})
Da fragt man sich schon: Wo soll denn dieser plötzliche
Konsumrausch eigentlich herkommen? Von den Beschäftigten, die Anfang des Jahres schon wieder weniger
Netto vom Brutto haben? Von den Rentnerinnen und
Rentnern, deren Kaufkraft seit Jahren sinkt, weil ihre
Renten, wenn sie überhaupt steigen, in geringerem Umfang als die Inflation steigen? Von den lächerlichen
5 Euro pro Monat mehr für Hartz-IV-Empfänger, die Sie
ihnen längst schon wieder zehnfach aus der Tasche gezogen haben? Das ist doch das, was läuft! Oder von den
Kleinunternehmern, die froh sein können, wenn sie vom
Kreditgeiz der Banken noch nicht in die Pleite getrieben
wurden? - Da soll Ihr Konsumrausch herkommen? Das
ist doch absurd!
Die Konjunktur des letzten Jahres wurde nahezu ausschließlich vom Export und von den Staatsausgaben getragen.
({7})
Beides wird sich nicht fortsetzen. Die Bestellungen aus
dem Euro-Raum sind bereits eingebrochen; schon Ende
letzten Jahres sind sie eingebrochen, und das ist auch
kein Wunder. Und von einer Ausweitung öffentlicher
Ausgaben kann angesichts überschuldeter Kommunen
und angesichts von Spardiktaten in Bund und Ländern
sowieso keine Rede sein. Wenn Export und Binnennachfrage in so einer Situation die, wie Sie im Jahreswirtschaftsbericht schreiben, stabilen Säulen bzw. stabilen
Standbeine dieses Aufschwungs sein sollen, dann heißt
das nichts anderes, als dass der Aufschwung auf verdammt tönernen Füßen steht.
Wenn Sie wirklich wollen, dass sich der Binnenmarkt
erholt, dann müssen Sie einen Mindestlohn von 10 Euro
pro Stunde einführen.
({8})
Erzählen Sie nicht immer wieder diesen elenden
Quatsch, dass dadurch Arbeitsplätze vernichtet würden.
Durch Einführung eines Mindestlohns wurden weder in
Frankreich noch in Großbritannien noch sonst wo Arbeitsplätze vernichtet, sondern Arbeitsplätze geschaffen. Verbieten Sie das Lohndumping via Leiharbeit, und
erhöhen Sie den Hartz-IV-Satz auf 500 Euro.
({9})
Das ist das Mindeste, was ein Mensch zum Leben
braucht. Sie alle könnten davon wahrscheinlich gar nicht
leben.
({10})
Sorgen Sie vor allem dafür, in Deutschland und in Europa, dass die explodierenden Staatsschulden denen in
Rechnung gestellt werden, die sie verursacht haben, und
nicht der Bevölkerung. Dafür sollten Sie sich einsetzen,
statt immer mehr Länder in die Depression zu treiben
und zugleich immer größere Risiken beim deutschen
Steuerzahler abzuladen. Das ist verantwortungslos.
({11})
Abschließend möchte ich Ihnen sagen: So wie ich Sie,
Herr Brüderle, bei Ihrer Regierungserklärung und die
Vertreter der Regierungsparteien hier erlebt habe, hatte
ich das eine oder andere Déjà-vu-Erlebnis. Die Art und
Weise, wie Sie die wirtschaftliche Realität wegreden,
wie Sie Instabilität und Krisenanfälligkeit wegreden und
den Leuten heile Welt vorspielen, und die Selbstgefälligkeit, die Sie zur Schau tragen,
({12})
erinnert mich - das muss ich sagen - wirklich sehr an die
letzten Ausgaben der DDR-Nachrichtensendung Aktuelle Kamera. Das ist das Niveau, auf dem Sie inzwischen
angekommen sind.
({13})
Man kann sich nur wünschen, dass die Menschen Ihnen
dafür bei den anstehenden Wahlen eine angemessene
Quittung verpassen werden.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat nun Kollegin Ingrid Nestle für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr
Präsident! Lieber Herr Brüderle, Sie jubilieren über die
Wachstumszahlen der letzten Monate. Ich glaube zwar
nicht, dass dies größtenteils Ihr Verdienst ist; aber es sei
Ihnen gegönnt, zu jubilieren
({0})
Der springende Punkt der heutigen Debatte ist jedoch
die Frage, welche Weichen Sie für die Zukunft stellen.
Sie als Politiker haben nicht die Aufgabe, die Vergangenheit zu beobachten. Sie haben die Aufgabe, die Zukunft zu gestalten und Warnsignale rechtzeitig wahrzunehmen.
({1})
Ein Warnsignal haben Sie, wie ich glaube, selbst erkannt. Herr Pfeiffer, Sie sprachen von steigenden Energiepreisen. Herr Brüderle, Sie haben gestern in der SZ,
weil Sie sich um die steigenden Benzinpreise Sorge machen, gefordert, Benzin solle von Discountern verkauft
werden. Sie haben argumentiert: Wenn es ein größeres
Angebot gäbe, dann würden die Preise fallen.
({2})
Aber leider habe ich den Eindruck, dass Sie an der Stelle
die Marktwirtschaft nicht ganz verstanden haben. Denn
nur weil Benzin von Discountern verkauft wird, ist natürlich auf dem Weltmarkt nicht ein größeres Angebot an
Rohöl vorhanden.
({3})
Hier haben wir eine ganz entscheidende Alarmlampe,
deren Leuchten Sie sehen und wahrnehmen müssten und
worauf Sie mit Ihrer Politik reagieren müssten.
Es ist wenige Jahre her, da gingen die allermeisten davon aus, dass der Ölpreis noch über Jahrzehnte bei
30 Dollar pro Barrel bleiben würde. Die Hochpreisszenarien gingen von 60 Dollar aus, und es wurde gesagt,
das sei richtig teuer und ein richtiges Problem für unsere
Wirtschaft - so hieß es damals. Die ganzen letzten Tage
lag der Ölpreis bei über 90 Dollar pro Barrel - 60 Dollar
sind schon ein Problem -, aber es hat sich an Ihrer Politik seit den Tagen, als er bei 30 Dollar lag, nichts verändert. Es hat sich nichts geändert in dem Sinne, dass Sie
mit einer Effizienzstrategie für mehr Effizienz gesorgt
hätten. Aber genau das müsste im Interesse der Wirtschaft passieren.
({4})
Bleiben wir bei dem Beispiel Auto. Es gibt gerade die
Anstrengungen, ein Effizienzlabel einzuführen. Das gibt
es auf deutscher und auf europäischer Ebene. Im Wirtschaftsausschuss wurde ganz offen und unverhohlen
klargestellt, dass die Regierung nur ein Interesse daran
hat, deutsche Autos zu fördern, nicht etwa effiziente Autos. Es ist Ihnen also völlig egal, ob die Autos effizient
oder ineffizient sind. Hauptsache, die deutschen Autos
kommen gut dabei weg. Das führt dazu, dass letztlich jemand, der eine Bleiplatte unter sein Auto schraubt, nach
den Vorstellungen, die Sie einbringen, mit seinem Auto
in eine bessere Effizienzklasse kommt. So kommen wir
nicht voran.
({5})
Ich möchte unsere Autos fit für die Zukunft machen.
Ihre Regierung geht davon aus, dass sich die Zahl der
Autos weltweit bis 2030 verdoppeln wird. Glauben Sie
ernsthaft, dass wir die Rohölproduktion bis 2030 werden
verdoppeln können? Sie können über Peak Oil glauben,
was Sie wollen. Fest steht, wir werden die Produktion
nicht verdoppeln. Wem wollen Sie dann die Autos verkaufen, wenn Sie heute für die Industrie Anreize schaffen, Spritfresser zu bauen? Wem wollen Sie dann in Zukunft die Autos verkaufen?
Ich weiß, dass Sie die heutigen Wirtschaftszahlen im
Kopf haben, aber denken Sie doch auch an die Zukunft.
Jetzt möchte ich noch zu dem Thema kommen, um
das es hier geht, nämlich den Jahreswirtschaftsbericht.
Sie leiten den Energieteil mit der Behauptung ein, das
Energiekonzept der Bundesregierung sei der Weg in eine
Zukunft mit erneuerbaren Energien. Das ist der Hohn.
Eigentlich ist das gelogen, aber ich fürchte, Sie wissen
an der Stelle einfach nicht, was Sie tun. Ihr Energiekonzept basiert auf Zahlen, nach denen der Ausbau von
Windanlagen an Land über die nächsten zehn Jahre im
Vergleich zu dem, was wir die letzten zehn Jahre hatten,
gedrittelt wird. Eine Drittelung des Ausbaus ist nicht der
Weg in die Zukunft der erneuerbaren Energien, das ist
das Gegenteil.
({6})
Konkret wird Ihr Konzept lediglich beim Thema
Atom, ansonsten fehlt es an Maßnahmen. Auch in einem
anderen Punkt ist der Jahreswirtschaftsbericht entlarvend: Er enthält einen Kasten „Ziele, Maßnahmen und
Überwachung“. In dem ganzen Kasten steht nicht eine
einzige Maßnahme, und das charakterisiert Ihr Energiekonzept, dass nämlich keine Maßnahmen darin enthalten
sind, nur Ziele und Konkretes zum Thema Atom.
({7})
Da ja unter anderem von Herrn Fuchs das Thema Netzausbau angesprochen worden ist, noch ganz kurz dazu:
Ich gebe Herrn Steinmeier recht, dass es die Bundesrepublik nicht voranbringt, sie in eine Dafür- und eine Dagegen-Ecke zu teilen. Aber an dieser Stelle muss ich das
doch korrigieren. Beim Stromnetzausbau ist die CDU/
CSU die Dagegen-Partei, die Dagegen-Partei sind Sie!
({8})
Wir können über die Leute reden, die vor Ort für oder
gegen Stromleitungen sind. Zig Landräte der Union
kämpfen zum Beispiel gegen Stromleitungen. Aber reden wir doch hier im Bundestag darüber, was wir auf
Bundesebene machen. Und da haben wir letzte Woche
ein Stromnetzkonzept vorgelegt, das deutlich detaillierter ist als alles, was Sie haben, das deutlich konkreter
wird als all das, was Sie vorlegen, und in dem wir uns
klar zum menschenfreundlichen Ausbau der Stromnetze
bekennen.
Sie dagegen blockieren seit Jahren den Ausbau der
Stromnetze, weil Sie bis heute den generellen Vorrang
der Erdverkabelung vor neuen Hochspannungsleitungen
nicht akzeptieren und den Ausbau der Erdkabel blockieren. Dagegen wehren Sie sich, dagegen haben Sie sich
immer gewehrt. Sie akzeptieren auch nicht den generellen Vorrang der Teilverkabelung bei neuen Höchstspannungsleitungen.
({9})
Sie blockieren das bis heute, wie Sie es schon seit unseren
Regierungszeiten gemacht haben. Sie haben damit jede
Menge Stromleitungen verhindert, die es heute schon geben könnte.
({10})
Sie sind die Dagegen-Partei, die Neinsager-Partei.
Herr Brüderle, ich freue mich, dass Sie unser Konzept
zur Kenntnis genommen und auch gelesen haben. Sie
haben es ja gestern in der Presse kommentiert. Sie haben
aber nur einen Punkt herausgegriffen und gesagt, wir
wollten mehr Verstaatlichung, Sie dagegen wollten mehr
Wettbewerb. Ja, nennen Sie es ernsthaft Wettbewerb,
wenn Sie verhindern, dass Netz und Erzeugung getrennt
werden? Das Netz ist ein natürliches Monopol, bei dem
es im Moment überhaupt keinen Wettbewerb gibt. Sollen
diese Netze angesichts der Tatsache, dass 80 Prozent der
Stromerzeugung bei nur vier Unternehmen liegen, bei
den Erzeugern bleiben? Nennen Sie es Wettbewerb
schaffen, wenn Sie zulassen, dass dieses Monopol in den
Händen der Großkonzerne bleibt? Vor diesem Hintergrund ist es nicht fair, uns vorzuwerfen, wir würden hier
nicht für Wettbewerb eintreten. Wir haben Ideen dafür
vorgelegt, wie man im Stromsektor - unter anderem im
Ausschreibungsverfahren - mehr Wettbewerb schaffen
kann.
({11})
Wir sind bei den Stromnetzen die Dafür-Partei, Sie
sind die Dagegen-Partei.
({12})
Sie wehren sich an dieser Stelle, und ich hoffe, dass Sie
hier mit etwas mehr Ehrlichkeit in die Zukunft gehen;
denn auch das ist für unsere Demokratie notwendig.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat nun Kollege Georg Nüßlein für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Kollegin Nestle, wenn wir gegen etwas sind, dann gegen dieses industrie- und energiepolitische Harakiri, das Sie uns
hier ständig anbieten. Es ist unglaublich, was Sie uns
hier auftischen wollen,
({0})
wie Sie hier mit ideologisch gefärbten Fantasien versuchen, uns weiszumachen, dass man schon morgen ohne
Verwerfungen und ohne Probleme in das Zeitalter der regenerativen Energien einsteigen könnte, und dass Sie
immer dann, wenn es zum Schwur kommt und wir sagen, wir müssen auch mit Blick auf die Preissituation an
der einen oder anderen Stelle eingreifen und etwas ändern, wieder dagegen sind.
({1})
Das werden wir demnächst wieder erleben. Ich bin mir
sehr, sehr sicher, dass uns das wieder blühen wird, dass
Sie dagegen sind und sagen: Nein, nein, 100 Prozent erneuerbare Energie ist möglich. - Das mag stimmen, aber
natürlich nicht zu Konditionen, die wirtschaftlich sind
und durch die unser Industriestandort vorangebracht
wird.
Liebe Kollegin Wagenknecht,
({2})
am meisten treibt mich die Definition von Armut um, die
Sie uns hier immer wieder auftischen. Die ist einfach unglaublich. Informieren Sie sich doch einmal, was die
Länder um uns herum unter Armut verstehen und wie sie
unser Sozialsystem einschätzen. Dann kommen Sie
nämlich zu einem ganz anderen Befund als dem, den Sie
hier vortragen. Ich weiß aber, dass Sie das nicht interessiert und dass Sie das nicht hören wollen. Sie haben wie
viele Ihrer Kommunistenfreunde - Lafontaine in der
Villa, Ernst im Porsche - ein besonderes Verhältnis zum
Vermögen. Ihre Brillanten, die mich vorhin geblendet
haben, als Sie hier vorne standen, sind auch verräterisch.
Dadurch zeigen Sie, wie Sie über diese Thematik denken.
({3})
Dass Sie dann auch noch die Statistiken komplett anzweifeln, mag ja vielleicht an Ihrer Erfahrung mit der
ehemaligen DDR liegen, wo die Statistiken in der Tat gefälscht waren. Dadurch zeigt sich Ihr besonderes Verhältnis zur Statistik und im Übrigen auch zur Stasi.
({4})
Dazu werden wir in der nächsten Zeit von Ihrer Seite ja
auch noch einiges hören. Es ist eine unglaubliche Dreistigkeit, mit der Sie sich regelmäßig hier an dieses Rednerpult stellen.
({5})
Die Dreistigkeit unseres Altkanzlers Gerhard
Schröder ist mir da deutlich lieber. Dadurch wird mir
schon wieder ein gewisses Maß an Respekt abgenötigt.
Direkt nach der Kanzlerwahl hat er verkündet: „Das ist
mein Aufschwung“, und jetzt, nachdem er nicht mehr
Kanzler ist, sagt er wieder: „Das ist mein Aufschwung.“
({6})
Das ist schon bemerkenswert. Mir ist diese Frechheit
aber lieber als die Selbstverleugnung, der Kleinmut und
der politische Opportunismus, den man hier und da spürt
und der bei Ihnen allgegenwärtig ist.
Ich glaube, wir alle miteinander verpassen hier eine
große Chance für die Demokratie. Es ist uns gelungen,
einen kurzen und direkten Weg aus der Krise zu finden.
Er ist gegangen worden von mutigen Arbeitnehmern, gegangen worden von mutigen Unternehmern, aber gepflastert worden von beherzten Politikern. Die Botschaft, dass nationale Politik im internationalen Konzert
etwas bewegt, müssten wir doch alle miteinander nach
draußen tragen, anstatt hier jetzt das eine oder andere
kleinzureden. Das ist wichtiger als die Debatte darüber,
wem dieser Aufschwung gehört. Wir haben Vertrauen in
die soziale Marktwirtschaft geschaffen. Es liegt an uns
allen miteinander, Vertrauen in die Politik zu schaffen.
({7})
Ich will an dieser Stelle kurz an die Zahlen erinnern:
3,6 Prozent Wachstum, 40,5 Millionen Beschäftigte, nur
noch 2,9 Millionen Arbeitslose.
({8})
Bei diesen Zahlen hätten Sie in Ihrer rot-grünen Regierungszeit Freudenfeuer angezündet. Heute sagen Sie:
Jetzt geht es darum, sicherzustellen, dass sich das fortsetzt. - Das stimmt, aber es gibt gute Indizien dafür, dass
das geschieht: Es wird einen weiteren Rückgang der Arbeitslosenquote geben. 41 von 46 befragten Wirtschaftsverbänden sagen, dass die Stimmung noch besser ist als
im letzten Jahr. 32 dieser Verbände rechnen mit besseren
Umsätzen. Viele Unternehmen wollen auch in diesem
und im nächsten Jahr mehr Arbeitsplätze schaffen. Ich
will aufgrund dieser Zahlen jetzt nicht in einen Freudentaumel verfallen. Das wäre sicherlich falsch.
Die Kollegin Andreae hat sicher recht: Wir müssen
insbesondere mit Blick auf das, was in Europa stattfindet, jetzt einen Weg finden, das alles und vor allem die
geniale Idee Europa zu stabilisieren. Aber mit dem, was
Sie gesagt haben, liebe Kollegin, haben Sie auch besondere grüne Positionen entlarvt, nämlich zum einen, dass
Krise, Angst und Sorge grundlegend zu grüner Politik
dazugehören, und zum anderen, dass Sie sich immer
noch damit schwertun, was nationale Politik ausmacht.
Die Kollegin Nestle hat vorhin darüber philosophiert,
dass wir sagen, dass es unser ureigenstes Interesse sei,
deutsche Autos zu verkaufen.
({9})
Da wir wissen, dass der konjunkturelle Aufschwung zu
einem wesentlichen Teil von der Automobilindustrie abhängt, haben wir in der Tat ein legitimes Interesse daran,
dass deutsche Automobile verkauft werden. Das ist eine
ganz klare Sache, und dafür stehen wir auch ein.
({10})
Ich meine, dass Europapolitik auch heißen darf, in
Brüssel nationale Interessen zu vertreten. Ein fundamentales nationales Interesse von uns ist es, keine Transferunion zu schaffen. Das ist ein zentraler Punkt.
({11})
Wir können zwar darüber diskutieren, ob es uns gelingt,
das zu vermeiden - darin bin ich ganz auf Ihrer Seite -,
aber wir müssen es zumindest versuchen.
Heute ist schon viel über Arbeitskräftemangel diskutiert worden. Wir sollten jetzt nicht in Panik und Aktionismus verfallen. Minister Brüderle hat in bemerkenswerter Weise deutlich gemacht - darin gebe ich ihm
ausdrücklich recht -, dass es darum gehen muss, das inländische Fachkräftepotenzial zu heben und in dem Zusammenhang unser duales Ausbildungssystem zu stärken.
({12})
Dieses System gibt uns einen Vorsprung gegenüber anderen Ländern. Dieses System gibt auch mir die Gewissheit, dass uns Freizügigkeit im zukünftig eine halbe Milliarde Menschen umfassenden Binnenmarkt nicht mit
Sorge erfüllen muss. Indem ich explizit darauf verweise,
dass wir ab Mai einen Arbeitsmarkt haben, der eine
halbe Milliarde Menschen umfasst, will ich zugleich zeigen, dass ich guter Dinge bin, dass wir aus diesem
Potenzial auch unseren Fachkräftebedarf decken können.
Diejenigen, die uns einreden wollen, ein Arbeitsmarkt
in dieser Größe werde nicht reichen, verfolgen entweder
spezielle Ziele, die nicht immer ehrenhaft sind, oder kennen schlicht und schlank das deutsche Ausländerrecht
nicht. Aus den USA oder aus Japan kann jeder kommen,
der bei uns Forschung und Lehre betreiben will. Jeder,
der mehr als 66 000 D-Mark verdient,
({13})
kann von außerhalb der Europäischen Union ohne Vorrangprüfung zu uns kommen. Derjenige, dessen Verdienst darunter liegt, kann mit Vorrangprüfung - die im
Übrigen meist positiv beschieden wird - zu uns kommen.
Das heißt doch ganz klar: Wir brauchen kein pseudogerechtes Punktesystem. Wir brauchen keine Änderungen im Ausländerrecht. Wir brauchen keine Multikultifantasien wie die der Grünen. Wir brauchen aber schon
gar keine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme.
({14})
Ich konzediere an dieser Stelle ausdrücklich, dass wir
Handlungsbedarf im Bereich der Zeitarbeit haben. Es
kann nicht in unserem Interesse liegen, den Arbeitnehmer zweiter Klasse zu institutionalisieren.
({15})
Flexibilität ist wichtig, darf aber auch etwas kosten.
({16})
Aus meiner Sicht geht es um das Abdecken von Spitzenkapazitäten und Spitzenbedarf. Es darf nicht zu Lohndumping kommen. Deshalb besteht hier dringender
Handlungsbedarf.
({17})
Seien Sie versichert, dass wir das Problem lösen werden.
Da sind wir eng beieinander.
({18})
- Meine Redezeit ist leider abgelaufen.
Stimmt, eigentlich ist Ihre Redezeit abgelaufen. Kollege Heil, bestehen Sie auf Ihrer Nachfrage? Das ist
keine Zwischenfrage mehr.
Ja.
Bitte schön.
Herzlichen Dank, Herr Präsident! - Herr Kollege
Nüßlein, da Ihre Redezeit vorbei ist, möchte ich Ihnen
gerne Gelegenheit geben, das, was Sie zum Schluss gesagt haben, gemeinsam mit mir zu konkretisieren. Sie sagen: Zeit- und Leiharbeit werden missbraucht. Zeit- und
Leiharbeit sollen auf die Auftragsspitzen von Unternehmen konzentriert werden.
Sind Sie mit mir der Meinung, dass man als Gesetzgeber dafür etwas an zwei Stellen tun muss, nämlich dass
wir zum einen das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“ durchsetzen müssen, damit das nicht tatsächlich
ein Einfallstor für Lohndumping ist, und dass wir zum
anderen einen Zeitarbeitsmindestlohn einführen müssen? Können Sie mir bestätigen, dass wir beides brauchen?
Schade ist, dass Sie meine Redezeit nicht so verlängern, wie ich mir das gewünscht und erhofft habe; denn
diese Frage kann ich schlicht und schlank mit Ja beantworten. Das werden und müssen wir tun.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Garrelt Duin für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Minister, das ist verschiedentlich
schon angesprochen worden: Sie haben heute hier den
Eindruck erweckt, dass die Krise überwunden ist. Ich
sage Ihnen: Sie blenden einen wesentlichen Teil der Realität aus.
({0})
- In NRW scheint es immerhin so zu sein, dass Sie als
FDP geradezu auf Knien betteln, in die Regierung zu
kommen. Das wird aber nach einer Neuwahl nicht funktionieren, weil Sie dann im Landtag gar nicht mehr vertreten sein werden. Genauso werden Sie auch in Hamburg nicht in die Bürgerschaft kommen.
({1})
Angesichts meiner kurzen Redezeit will ich darauf aber
nicht näher eingehen.
Herr Brüderle, der erste Punkt, wo Sie die Realität
ausblenden, sind die Geschehnisse in Griechenland. Natürlich ist es richtig, dass wir den Griechen gesagt haben:
Ihr müsst konsolidieren! - Natürlich ist es richtig, dass
wir bestimmte Auflagen machen, wenn dort geholfen
wird. Aber so, wie das jetzt konstruiert ist, wird die griechische Volkswirtschaft nicht wettbewerbsfähiger und
nicht erstarken. Vielmehr wird man das Ganze in kürzester Zeit fast zwangsläufig an die Wand fahren. Dann ist
der deutsche Steuerzahler richtig dran. Dann können Sie
alle Ihre Prognosen - verzeihen Sie mir den Ausdruck in den Papierkorb werfen, weil sie nichts mehr wert sind.
Es ist dringend notwendig, endlich anzufangen, eine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik zu initiieren.
Die Bundeskanzlerin hat es jetzt - so war es zu lesen begriffen. Herr Schäuble hat es begriffen. Der Einzige,
der sich dieser Realität verweigert, ist der Bundeswirtschaftsminister. Das ist tragisch.
({2})
Der zweite Punkt, wo Sie die Realität ausblenden, ist
das Datum 1. Mai. Ab 1. Mai dieses Jahres herrscht absolute Arbeitnehmerfreizügigkeit. Es ist absehbar, dass
sich das auf die Löhne gerade im Niedriglohnbereich
massiv negativ auswirken wird, weil Sie nichts tun. Sie
sagen: Da kommt keiner. - Das ist nicht die Antwort, die
wir auf diese Herausforderung brauchen. Vielmehr brauchen wir Mindestlöhne in Deutschland, und zwar gesetzlich und flächendeckend.
({3})
Der dritte Punkt, wo Sie sich der Realität verweigern,
ist das Krisenthema Investitionen und Innovation. Sie
haben noch im letzten Jahr ein industriepolitisches Konzept vorgelegt. Im nun vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht herrscht dazu Fehlanzeige. Sie machen eine
Energiepolitik, die Wettbewerb, aber vor allen Dingen
auch Investitionen verhindert. Jedes große Energieunternehmen und nicht zuletzt die Stadtwerke in Deutschland
bestätigen Ihnen, dass es sich hier um Investitionsbehinderungspolitik handelt und nicht das gemacht wird, was
wir in Deutschland wirklich brauchen.
({4})
Sie singen stattdessen immer das gleiche Lied: Wir müssen die Spielräume nutzen, um Steuern zu senken. - Die
Sachverständigen sagen Ihnen ohne Wenn und Aber,
dass das der falsche Weg ist und dass dafür keine SpielGarrelt Duin
räume bestehen. Herr Brüderle, Sie sind stolz darauf,
dass die Neuverschuldung nicht so hoch wie geplant ist
und nur bei 44 Milliarden Euro liegt. Bei einer Neuverschuldung von 44 Milliarden Euro über Steuersenkungen zu fabulieren, das passt einfach nicht zusammen,
und die Menschen wissen das.
({5})
Solange die Schulen in Deutschland nicht saniert und
personell entsprechend ausgestattet sind, solange die
Bahn aufgrund der mangelnden Infrastruktur an Frühling, Sommer, Herbst und Winter scheitert, solange es
Schlaglöcher gibt - nicht nur in Berlin, sondern leider in
ganz Deutschland -, die eine Gefahr für jeden Verkehrsteilnehmer sind, solange wir also die bauliche und soziale Infrastruktur in Deutschland nicht auf Vordermann
gebracht haben, solange ist kein Platz für Ihre Steuersenkungsfantasien.
({6})
Werter Herr Minister, Sie haben heute Morgen davon
gesprochen, dass der Aufschwung keine Kurzgeschichte,
sondern ein Fortsetzungsroman sei. Deswegen will ich
mit dem Auszug aus einem Gedicht schließen, das zu Ihnen passt wie die Faust aufs Auge. Es ist von Heinrich
Hoffmann aus dem Jahre 1844 und heißt Hans Guck-indie-Luft.
Wenn der Hans zur Schule ging,
Stets sein Blick am Himmel hing.
Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
Schaut er aufwärts allenthalben:
Vor die eignen Füße dicht,
Ja, da sah der Bursche nicht,
Also daß ein jeder ruft:
„Seht den Hans Guck-in-die-Luft!“
So ist es: Sie gucken nach der Schwalbe Steuersenkung,
anstatt sich um das zu kümmern, was in Deutschland
notwendig wäre, damit der jetzige Aufschwung von
Dauer ist.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die Fraktion
der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht 2011 zeigt, dass
Deutschland im vergangenen Jahr das größte Wachstum
seit Beginn der deutschen Einheit erreicht hat. Das ist
durchaus bemerkenswert; denn in den letzten 20 Jahren
hat Deutschland eine sehr unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung vollzogen.
Eine Überschrift im Jahreswirtschaftsbericht lautet:
„Durch Forschung und Innovationen Wohlstand sichern“. Genau auf diesen Punkt möchte ich zu sprechen
kommen; denn das Thema Forschung, Entwicklung und
Technologieentwicklung hat in der Debatte bisher überhaupt keine Rolle gespielt.
Deutschland ist nach wie vor Exportweltmeister.
China exportiert zwar inzwischen mengenmäßig mehr;
aber umgerechnet auf die Einwohnerzahlen ist Deutschland eindeutig Exportweltmeister. Dass wir das sein können, liegt ganz klar daran, dass es in Deutschland Unternehmen gibt, die hochinnovative Produkte herstellen
und hervorragende Verfahren exportieren können. Deswegen konnten wir nach der Krise ziemlich schnell wieder Exportweltmeister werden. Auch im Vergleich zu
Frankreich, Italien oder den anderen großen europäischen Ländern wird deutlich: Deutschland steht eindeutig an der Spitze.
Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass wir Forschung
und Entwicklung in Deutschland weiterhin stark fördern.
Man kann nicht leugnen, dass die schwarz-gelbe Regierung, aber auch die Große Koalition für das Thema Forschung und Entwicklung in den letzten Jahren Enormes
geleistet haben. Ich erinnere nur daran, dass 12 Milliarden Euro zusätzlich in Investitionen in Bildung und Forschung geflossen sind. Durch die Hightech-Strategie der
Bundesregierung sind die zukünftigen Technologiefelder
für die deutsche Entwicklung definiert worden und werden intensiv gefördert.
Natürlich gibt es noch Defizite, die in den nächsten
Jahren beseitigt werden müssen. Zum einen gilt das für
das Thema der steuerlichen FuE-Förderung. Hier konnte
eine Lösung bisher noch nicht herbeigeführt werden.
Zum anderen brauchen wir eine neue Gründerkultur. Wir
haben die Krise jetzt zwar erst einmal überwunden. Das
heißt aber nicht, dass diese Entwicklung in den nächsten
zehn Jahren so fortschreiten muss.
Die deutsche Industrie ist mittlerweile global aufgestellt. Überall auf der Welt gibt es Forschungseinrichtungen deutscher Unternehmen, die neue Verfahren und
neue Produkte entwickeln. Die Frage, die sich letztendlich stellt, ist: Werden diese neuen Produkte in Deutschland hergestellt? Wird hier investiert, oder investiert man
dort, wo man die Forschung angesiedelt hat? Das ist aus
meiner Sicht die grundsätzliche Frage, die wir in
Deutschland beantworten müssen. Wollen wir die Rahmenbedingungen für Investitionen in Deutschland und
damit für neue Arbeitsplätze schaffen?
Dadurch würde sich auch das Thema 1. Mai erübrigen, das Sie, Herr Duin, eben angesprochen haben.
Der linken Seite, die einen Mindestlohn von 10 Euro
fordert, möchte ich sagen: Reden Sie doch einmal mit
Ihren Freunden von der Gewerkschaft! Schauen Sie sich
einmal die Tarifverträge an, die von den Gewerkschaften
geschlossen worden sind! Zum Teil liegen diese weit unter dem Mindestlohn, den Sie jetzt fordern.
({0})
Der erste Schritt müsste sein, dass man sich auf tariflicher Basis auf eine Lohnuntergrenze einigt, die dann
auch Allgemeinverbindlichkeit erlangen kann.
({1})
Meine Damen und Herren, es ging um die deutsche
Einheit. Ich möchte darauf hinweisen, dass die ostdeutsche Wirtschaft zu dem Wachstum von 3,6 Prozent einen
ganz entscheidenden Beitrag erbracht hat. Es ist notwendig, auch das einmal zu würdigen, Herr Gysi. Positive
Entwicklungen sind aber nicht in Ihrem Sinne. Sie sind
eigentlich der Verfechter der negativen Meldungen.
In Sachsen hat der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts
3 Prozent betragen. Allein im Jahr 2010 sind 14 000
neue Beschäftigungsverhältnisse - davon 80 Prozent sozialversicherungspflichtig - geschlossen worden. Das ist
eine hervorragende Leistung, die zeigt, dass die Aufbauleistung der letzten 20 Jahre genau die Früchte trägt, die
wir alle erwartet hatten. Die Umsätze sind stark gestiegen. Die Wertschöpfung ist stark gestiegen. Auch die internationale Verflechtung der ostdeutschen Wirtschaft
hat sich in den letzten Jahren enorm verbessert.
Ein Thema, das im Jahreswirtschaftsbericht 2011
deutlich hervorgehoben worden ist, sind die Instrumente,
die in den vergangenen Jahren dazu geführt haben, dass
wir letztendlich dieses gute Ergebnis erreichen konnten.
An dieser Stelle möchte ich ganz speziell auf die GRW,
die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“, zu sprechen kommen. Das ist ein
Instrument, über das wir im Deutschen Bundestag schon
öfter diskutiert haben. Es zeigt sich, dass durch die Aufstockung der Mittel der GRW Investitionen angestoßen
werden konnten, die genau jetzt wirksam werden, die genau jetzt ihren Beitrag zur Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts erbringen. Es zeigt sich, dass die eingesetzten
staatlichen Mittel den Ertrag erbringen, den die Gesellschaft erwartet.
Eine Gefahr besteht allerdings für die GRW, nämlich
das Auslaufen der Förderperiode der Europäischen
Union im Jahre 2013. Wir brauchen hier eine Anschlusslösung, um auch in den nächsten Jahren die mittelständische Unternehmerschaft unterstützen zu können.
Nun zum Thema Fachkräftemangel, weil dieses
Thema hier verschiedentlich angesprochen worden ist.
Die Entwicklung mag regional unterschiedlich sein. Ich
will gar nicht abstreiten, dass das Thema möglicherweise in Bayern oder Baden-Württemberg keine Rolle
spielt. Aus meiner Sicht ist das in Ostdeutschland aber
ein sehr drängendes Problem.
({2})
Dazu liegen nicht nur politische Aussagen, sondern auch
klare Berechnungen, zum Beispiel des Ifo-Instituts, vor.
Wenn das Arbeitskräftepotenzial in den neuen Bundesländern bis 2015 definitiv um 5 Prozent zurückgeht - was
nicht mit Abwanderungsbewegungen, sondern mit den
nicht geborenen Kindern Anfang der 90er-Jahre zusammenhängt -, während der Rückgang in den alten Bundesländern weniger als 1 Prozent beträgt, dann bedeutet
das, dass sich dieses Problem in Ostdeutschland fünfmal
stärker auswirken wird als in manchen westdeutschen
Bundesländern. Deswegen brauchen wir eine Regelung
für eine gezielte Zuwanderung von Fachkräften. Das
möchte ich an dieser Stelle ganz klar betonen. Es geht
überhaupt nicht darum, Zuwanderung in die Sozialsysteme zu organisieren. Vielmehr brauchen wir gut ausgebildete Fachleute. Ich denke, darüber muss man reden.
Meine Damen und Herren, das Fazit: Zur Erreichung
eines Wachstums von 3,6 Prozent auch in den nächsten
Jahren müssen wir erstens die Konsolidierung des Haushaltes fortsetzen, um die stark angestiegene Verschuldung zu reduzieren, und zweitens die Themen Technologie und Innovationsförderung an die Spitze unserer
politischen Diskussion stellen; denn das ist die Grundlage der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung.
An die Linken gerichtet möchte ich sagen: Wir brauchen keine neuen Wege hin zum Kommunismus. Wir
wollen auch keine kleine neue DDR gründen, Herr Gysi,
sondern wir wollen im System der Marktwirtschaft weiter für wirtschaftliche Entwicklung kämpfen. Dafür haben wir gute Bedingungen geschaffen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Boom bei Geschäftsreisen, Erholung bei Urlaubsreisen“, so war es gestern einer Internetseite - der
FVW, der führenden Branchenzeitung für Touristik- und
Geschäftsreisen in Deutschland - zu entnehmen. Das ist
ein Grund zur Freude; denn sie bezieht sich auf eine Reisestudie, die gestern im Rahmen der CMT, der Touristikmesse in Stuttgart, vorgestellt worden ist. Freuen wir uns
jetzt einmal wirklich! Ich habe vor allem bei der Opposition heute das Gefühl gehabt, dass Freuen in unserem
Land verboten ist. Was gibt es Schöneres als so einen
Auftakt im neuen Jahr, nämlich positive Zahlen zu verkünden?
({0})
Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich und
ganz herzlich bei der Arbeitsgruppe Wirtschaft bedanken, dass ich den Bereich Tourismuswirtschaft wieder
einmal ins rechte Licht rücken darf, eine Branche, die
aus meiner Sicht vielfach unterschätzt wird, und das, obwohl sie weltweit zu den wenigen langfristigen Wachstumsbranchen zählt.
Ich erinnere an dieser Stelle aus aktuellem Anlass
ganz bewusst an ein Land, an Tunesien. Ich wünsche mir
für die Menschen vor Ort, dass es ganz schnell wieder
Stabilität und Sicherheit gibt. Ich danke auf der anderen
Seite unserem deutschen Reiseverband und dem Auswärtigen Amt, dass es hier eine sehr gute, eine professionelle Zusammenarbeit gab und dass alle deutschen Touristen, die aus dem Land reisen wollten, innerhalb
weniger Tage auch wirklich aus dem Land geholt worden sind.
Dass wir diese positiven Zahlen über unseren Tourismusstandort, Deutschland, verkünden können - es geht
uns so gut wie nie zuvor; ausländische Gäste kommen in
großer Zahl, und es werden immer mehr; wir Deutsche
haben unsere Heimat wieder lieb gewonnen -, kommt
nicht von ungefähr; vielmehr ist dabei das Thema „Sicherheit und Stabilität“ ein ganz wichtiger Faktor.
({1})
Wir sind Reiseweltmeister im eigenen Land, aber
auch im Ausland. Wenn wir über Tourismus reden, dann
reden wir über 2,8 Millionen Arbeitsplätze - nicht exportierbar, quer durchs Land -, dann reden wir über eine
Branche, die den dritten Platz hinter dem Handwerk und
hinter der Gesundheitswirtschaft einnimmt, und dann reden wir über 114 000 Ausbildungsplätze. Allein 100 000
Ausbildungsplätze stellt der Bereich Hotellerie und Gastronomie. Außerdem reden wir darüber, dass Deutschland EU-weit bei den Übernachtungen inzwischen auf
dem ersten Platz liegt, also vor den klassischen Urlaubsländern Italien und Frankreich. Mit 380 Millionen Übernachtungen pro Jahr steuern wir auf das beste Jahresergebnis aller Zeiten zu.
Wir sind weltweit Messestandort Nummer eins. Beim
Thema „Tagungen und Kongresse“ sind wir EU-weit
Nummer eins und weltweit hinter den USA Nummer
zwei. Darüber hinaus erwirtschaften wir in der Tourismusbranche einen Jahresumsatz von 233 Milliarden
Euro. Tourismus ist eben mehr als Wasser, Sonne,
Strand. Wenn ich diese 233 Milliarden Euro aufschlüssele, dann stelle ich fest, dass davon allein auf den Tagestourismus 163 Milliarden Euro entfallen. Der Rest,
70 Milliarden Euro, entfällt auf Übernachtungstourismus. Ein ganz wichtiges Segment ist und bleibt der Städtetourismus als umsatzstärkstes Segment mit 83 Milliarden Euro. Auch hier gilt: Freuen wir uns, dass wir in
diesem Jahr im Städtebereich teilweise sensationelle Zuwächse bis zu 13 Prozent erzielen konnten!
Seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 hat Deutschland zweifellos an Attraktivität gewonnen. Das ist nicht
nur der Freundschafts- bzw. Gastfreundschaftskampagne
geschuldet. Die Menschen haben nach der Fußball-WM
immer wieder zu mir gesagt: Du, Marlene, die Leute
sind ja immer noch freundlich! - Ich glaube, auch hier
hat sich etwas verändert.
Nun haben wir die Fußball-WM der Frauen. Ich freue
mich, dass wir mit Steffi Jones eine wirkliche Sympathieträgerin im Organisationsteam haben. Sie sagt: Wir
wollen mit der Fußball-WM der Frauen 2011 Geschichte
schreiben.
({2})
Wir alle können unseren Beitrag leisten, dass alle Spiele
an den neun Spielorten zwischen Berlin und Augsburg
vor ausverkauftem Haus stattfinden.
In 2011 haben wir noch weitere Großereignisse: die
Ski-WM in Garmisch, den Eurovision Song Contest in
Düsseldorf und den Papstbesuch in Berlin. Im Bereich
Kulturtourismus haben wir zum Beispiel „200 Jahre
Franz Liszt“ in Thüringen zu feiern.
An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die
Deutsche Zentrale für Tourismus, die mit unserer Hilfe
über Mittel in Höhe von 24 Millionen Euro aus dem
Bundeshaushalt verfügen kann und im Inland, aber vor
allem im Ausland taffe Werbung für unseren Standort
macht. Die DZT handelt nach dem Motto: Trends erkennen, aufgreifen, bewerben. Deshalb ist das Thema „Gesundheitsurlaub und Wellness“ heuer besonders wichtig.
Nächstes Jahr sind es Geschäftsreisen. 2012 geht es um
Weinkultur und Natur in Deutschland. Außerdem wollen
wir 2012 auf die vielfältigen Kulturlandschaften der
13 Weinanbaugebiete in Deutschland hinweisen, was ja
eine wunderschöne Sache ist.
({3})
2013 ist „Junges Reiseland Deutschland“ ein wichtiges Thema. 2014 geht es um UNESCO-WeltkulturerbeStätten in Deutschland. Uns ist viel zu wenig bewusst,
dass wir, wenn es um das Weltkulturerbe geht, über 2000
Jahre Kulturgeschichte in Deutschland sprechen. Diese
2000 Jahre haben Spuren hinterlassen. Es gibt weltweit
kein Land, das so viele einzigartige Natur- und Kulturstätten in solch einer Dichte vorzuweisen hat. Weitere
Stätten stehen Schlange.
({4})
Weil ich aus Franken komme, weiß ich, dass auch Nürnberg in dieser Schlange steht.
Wir haben aber nicht nur große Glanzlichter, sondern
auch viele kleine Leuchttürme. Deutschland-Tourismus
zeichnet sich vor allem durch eine große, attraktive Vielfalt aus. Dazu gehören Kreuzfahrten, Wandern, Camping, Wassersport, Radfahren, Urlaub auf dem Bauernhof und das Bedürfnis nach Naturnähe. Es ist aber auch
festzustellen, dass das Bedürfnis nach nachhaltigem
Tourismus im Bewusstsein der Verbraucher und Touristen erfreulich gestiegen ist.
Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht, wenn
man über Positives spricht.
({0})
Herr Präsident, ich komme in die Zielgerade und verweise noch auf die erste und einzige Möglichkeit,
Marktforschung in der Tiefe zu betreiben, nämlich auf
das sogenannte Sparkassen-Tourismusbarometer. Das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
Aber Frau Kollegin, ich habe Sie doch schon ermahnt.
- leistet allen Akteuren, egal auf welcher Ebene,
Hilfe. Wir Politiker werden unseren Beitrag leisten und
die Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige
Tourismuswirtschaft auch in Zukunft setzen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4450 und 17/3700 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Fachkräfteeinwanderung durch ein Punktesystem regeln
- Drucksache 17/3862 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Memet Kilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die vorangegangene Debatte ist für
die Bundesregierung signifikant. Sie rühmt sich mit den
Verdiensten der kleinen und mittelständischen Unternehmen, die mit Mühe und Not sich und unsere Wirtschaft
über Wasser gehalten haben, der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die mit Lohnverzicht die Finanzkrise geschultert haben, tut aber selbst nichts Signifikantes für
die Verbesserung unserer Wirtschaftslage und die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.
({0})
Daher wird das Thema der Fachkräfteeinwanderung ein
Lackmustest für die Bundesregierung sein.
Ohne kompensatorische Maßnahmen wird die demografische Entwicklung zu einem erheblichen Rückgang
nicht nur der allgemeinen Bevölkerungszahl, sondern
auch der Zahl der Erwerbspersonen in Deutschland führen. Nach den Berechnungen der statistischen Ämter soll
die Zahl der Erwerbstätigen bis 2030 auf 25 Millionen
sinken. Das Potenzial an Arbeitskräften in Deutschland
werde, so die OECD, in den kommenden zehn Jahren so
stark schrumpfen wie in keinem anderen Industrieland.
Schon jetzt haben wir in einigen Branchen Personalnot.
Allein im naturwissenschaftlich-technischen Bereich
fehlen bereits heute 65 000 Fachkräfte. Unter „Fachkräfte“ dürfen nicht nur IT-Spezialisten verstanden werden. Größte Not herrscht und wird herrschen bei den
Pflegekräften, insbesondere in der Altenpflege.
Als Reaktion auf die demografische Entwicklung und
den daraus resultierenden Rückgang an Arbeitskräften
brauchen wir eine kluge Mischung aus Bildung, Qualifizierung, Anerkennung ausländischer Qualifikationen
und Aktivierung der inländischen Fachkräftepotenziale.
({1})
Nach den Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute
und der Bundesagentur für Arbeit werden diese Maßnahmen allein aber nicht ausreichen. Für sie ist völlig klar:
Deutschland braucht Einwanderung, und zwar in weit
größerem Umfang als bisher angenommen. Deutschland
braucht pro Jahr eine Nettozuwanderung von 200 000
bis 400 000 Menschen.
Das geltende System wird diesen Bedürfnissen nicht
gerecht. Auf Grundlage der restriktiven Einwanderungsregelungen entscheiden sich zu wenige ausländische
Fachkräfte für ein Leben in Deutschland. So kamen etwa
im Jahr 2009 auf Grundlage der Hochqualifiziertenregelung lediglich 169 Personen nach Deutschland, mit Zustimmung vom Arbeitsamt sogar nur 41 Personen.
({2})
Wir Grüne plädieren für eine einladende Einwanderungspolitik für ausländische Fachkräfte. Dafür brauchen wir ein modernes und transparentes Auswahlverfahren mit einem Punktesystem. Mit dem
bedarfsorientierten Auswahlverfahren sollen einwanderungswillige Personen, die nach klaren Kriterien ihre
Qualifikation und Integrationsfähigkeit unter Beweis gestellt haben, eine dauerhafte Aufenthaltsperspektive in
Deutschland erhalten.
({3})
Für dieses Auswahlverfahren schlagen wir vor, dass
das Bundesamt für Migration in Zusammenarbeit mit einem Beirat eine Bedarfsanalyse und darauf aufbauend
ein Qualifikationsprofil erstellt sowie eine Quote vorschlägt. Ein solcher Punktekatalog kann beispielsweise
die Kriterien „Alter“, „Sprachkenntnisse“ und „Berufserfahrung“ enthalten. Sowohl das Qualifikationsprofil
als auch die Quotenregelung erfordern die Zustimmung
des Bundestages und des Bundesrates.
Die Wirtschaft, viele Verbände, der Gewerkschaftsbund und Wirtschaftsforschungsinstitute unterstützen
eine solche Forderung nach einem Punktesystem, das
deutlich unbürokratischer und einfacher gestaltet ist als
das heutige System. Ideologische Blindheit hilft nicht,
sondern schadet unserem Land.
({4})
Wir müssen entscheiden, ob wir ein weltoffenes und
modernes Deutschland in einer globalisierten Welt sein
wollen, das Einwanderinnen und Einwanderer willkommen heißt und als gleichberechtigte Bürger in unserer
Demokratie anerkennt. Wir sind für einen Klimawandel
in der Gesellschaft. Einwanderinnen und Einwanderer
sollen nicht mehr als Eindringlinge, sondern als Neudeutsche angesehen werden.
Eine einladende Einwanderungspolitik für Fachkräfte kann trotz vieler positiver Effekte auch die Gefahr
von Braindrain mit sich bringen. Mit der Abwanderung
von Arbeitskräften verlieren die Entwicklungsländer selber wichtige Fachkräfte. Diese Gefahr müssen wir ernst
nehmen. Um Härten zu vermeiden, sollte unser Punktesystem daher um Maßnahmen ergänzt werden, die die
Risiken für Entwicklungsländer minimieren.
Uns Grünen wird seit einigen Tagen vorgeworfen, die
Dagegen-Partei zu sein.
({5})
Wir sind seit Jahren für ein Punktesystem. Blockiert
wird die Einführung durch die Unionsparteien. Sie sind
die Dagegen-Parteien - nicht wir.
({6})
Sie wissen nicht, was Sie wollen. Sie haben keine Ideen
und bieten keine Lösungen für den wachsenden Fachkräftebedarf. Sie sind einfach nur dagegen. Das ist billig.
({7})
Während wir Gesetzentwürfe und Anträge in den
Bundestag einbringen, um Deutschland für ausländische
Fachkräfte attraktiver zu gestalten, verspielt die Bundesregierung Deutschlands Chancen. Außer Streit fällt
Schwarz-Gelb zur Beseitigung des Fachkräftemangels
und zu Maßnahmen mit Blick auf die Überalterung unserer Gesellschaft nichts ein. Bundesministerin von der
Leyen will sich mit marginalen Korrekturen wie der befristeten Aussetzung der Vorrangprüfung in bestimmten
Branchen begnügen. Selbst das ist in der Union umstritten. Der Bundesinnenminister kann sich ein Punktesystem überhaupt nicht vorstellen. Er möchte der Fachkräftezuwanderung lediglich „besondere Aufmerksamkeit“
widmen. Wie großzügig! Seehofer und Co. verweigern
jegliche Reformen auf diesem Gebiet. Die FDP kann
sich wieder einmal mit nichts durchsetzen. Das ist bezeichnend für sie.
({8})
Deswegen wurde bei den letzten beiden Koalitionsausschüssen im November und Dezember eine Entscheidung zur Fachkräfteeinwanderung vertagt. Mit der Verschiebung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zeigt die
Regierung, wie ineffizient sie arbeitet. Sie ist nicht einmal in der Lage, ihre eigenen Prüfaufträge aus dem Koalitionsvertrag abzuschließen. Seit mehr als einem Jahr
tut die schwarz-gelbe Koalition nur so, als ob sie regieren würde. Das ist aber nicht wahr.
({9})
Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich zu handeln. Die Einwanderungspolitik muss dem
21. Jahrhundert gerecht werden.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Wolfgang Bosbach für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Antrag der
Grünen nicht zustimmt, ist sicherlich
({0})
keine politische Sensation. Wir lehnen den Antrag aber
nicht ab, weil er von der Opposition oder speziell von
den Grünen kommt - ich füge hinzu: da habe ich schon
Schlimmeres von den Grünen gelesen -,
({1})
sondern wir lehnen den Antrag ab, weil er erstens aufgrund der darin enthaltenen Vorschläge nicht geeignet
ist, einen wirksamen Beitrag zur Behebung des Fachkräftemangels zu leisten. Sie lösen ja gerade die notwendige Verknüpfung von Zuwanderung und Zuwanderung
in den Arbeitsmarkt auf einen konkreten Arbeitsplatz
auf. Sie verlangen nicht, dass die Zuwanderung nur dann
erfolgen darf, wenn damit ein konkreter Arbeitsplatz besetzt werden kann.
Zweitens geht es Ihnen in dem Antrag - mein Kompliment für Ihre Ehrlichkeit - ausdrücklich um eine Ausweitung der Zuwanderung, insbesondere aus Entwicklungsländern. Auch das geht aus dem Antrag hervor.
({2})
Die Union ist jedoch der Überzeugung: Nicht mehr Zuwanderung, sondern mehr Integration ist das Gebot der
Stunde. Das ist für uns die wichtigste Aufgabe.
({3})
Im Grunde bietet der Antrag alten Wein in neuen
Schläuchen. Hier wird der alte § 20 des Gesetzentwurfes
von Rot-Grün zum Aufenthaltsgesetz reanimiert.
({4})
Das ist Ihr gutes Recht. Aber die Gründe, die damals
dazu geführt haben, diesen § 20 abzulehnen, sind die
gleichen, die heute zur Ablehnung führen.
Zunächst einmal zur Prognose. Es ist richtig, die Politik muss hören, was die betriebliche Praxis sagt. Es ist
richtig, die Politik muss hören, was die Wissenschaft
sagt. Wir müssen aber auch bedenken, was die Wissenschaft uns schon alles gesagt hat. Von dieser Stelle aus
haben wir vor zehn Jahren anlässlich der CeBIT 2000
um die Zuwanderung von IT-Fachkräften gerungen. Damals sagten uns sogenannte Experten: Deutschland hat
einen Bedarf von 200 000 IT-Fachkräften. Die Bundesregierung hat daraufhin gesagt: So viele müssen es auch
nicht sein. Wir rechnen mit der Zuwanderung von
70 000.
Dann hat Rot-Grün aus lauter Vorsicht bei 20 000
eine Obergrenze eingezogen. Schließlich haben Sie die
Sonderregelung für die Zuwanderung von IT-Fachkräften auf den Weg gebracht.
Jetzt schauen wir uns die Zahlen einmal an. Bei einem
prognostizierten Bedarf von 200 000 kamen 2001 6 400;
2005 kamen dann noch schlappe 2 300.
({5})
Was Sie fordern, ist längst geltendes Recht. Wer ITFachkraft ist, kann kommen. Es gibt keine Quoten, es
gibt keine Höchstzahlen, es gibt keine Begrenzungen.
({6})
- Für Drittstaatsangehörige. - IT-Fachkräfte können
kommen. Offensichtlich ist das Problem jedenfalls nicht
das Ausländerrecht. Möglicherweise sind andere Staaten
mit ihren Möglichkeiten attraktiver als die Bundesrepublik Deutschland und ihre Arbeitgeber.
({7})
Das hat aber erkennbar nichts mit dem Ausländerrecht
zu tun.
({8})
- Herr Kilic, ich habe Ihnen doch ganz ruhig zugehört.
Ganz interessant ist: Ihr Vorbild im Antrag hinsichtlich der Zuwanderung sind Kanada und die USA. Merkwürdigerweise sind Sie dann nicht konsequent und wollen die Sozialsysteme der USA und von Kanada nicht
bei uns einführen. Die wollen Sie natürlich nicht haben.
({9})
Sie können doch nicht gleichzeitig das Zuwanderungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, die Sozialsysteme der Bundesrepublik Deutschland und das Punktesystem angloamerikanischer Länder haben wollen.
({10})
Die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt dort funktioniert
gerade deshalb, weil diejenigen, die in die USA oder
nach Kanada gehen, genau wissen, dass diese Länder
nicht daran denken, Sozialleistungen zu zahlen, ohne
dass vorher durch Erwerbstätigkeit in die sozialen Sicherungssysteme eingezahlt worden wäre.
({11})
- Herr Kilic, es ist ja schön, dass Sie da Temperament
haben, aber ein wenig Respekt vor dem, der eine andere
Auffassung hat, sollten wir alle an den Tag legen.
Was ist das beste Mittel gegen den Fachkräftemangel?
Das beste Mittel ist erstens Qualifizierung und Vermittlung von Arbeitslosen. Wer den Antrag liest, muss ja
glauben, wir hätten fünfmal mehr offene Stellen als Arbeitslose. Es ist genau umgekehrt: Wir haben fünfmal
mehr Arbeitslose als offene Stellen.
({12})
Wir müssen doch zunächst einmal die inländische Erwerbsbevölkerung gleich welcher Staatsangehörigkeit in
Beschäftigung bringen, bevor wir nach mehr Zuwanderung rufen.
({13})
Zweitens ist eine gute Bildungspolitik zu nennen, und
zwar: nicht jedem Kind eine Bildung, sondern jedem
Kind seine Bildung. Wir lehnen die Einheitsschule nicht
aus ideologischen Gründen ab; wir lehnen sie ab, weil es
keine Einheitskinder gibt.
({14})
Kinder haben unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Talente, unterschiedliche Begabungen, und jedes
Kind soll individuell gefördert werden.
Drittens. Ein hoher Stellenwert sollte auch der beruflichen Bildung zukommen.
({15})
Der Mensch beginnt nicht mit dem Akademiker. Wir bewundern tolle Entwürfe von Architekten, aber wir brauchen auch fleißige Bauhandwerker, die in der Lage sind,
diese Bauwerke zu errichten. Wir konzentrieren uns fast
ausschließlich auf die wissenschaftliche Ausbildung und
die Hochschulpolitik. Die berufliche Bildung hat bei uns
nicht den Stellenwert, den sie eigentlich haben müsste.
({16})
Viertens. Es muss auch, bevor wir nach mehr Zuwanderung rufen, aufhören, dass wir systematisch ältere Arbeitnehmer aus dem Arbeitsmarkt verdrängen.
({17})
Wir alle haben doch Bürgersprechstunden. Ich kann
doch nicht der Einzige sein, bei dem 50- oder 55-Jährige
mit tollen Zeugnissen und langjähriger beruflicher Erfahrung erklären, dass sie keine Chancen mehr auf dem
heimischen Arbeitsmarkt haben. Es kann ja sein, dass
die Jüngeren schneller laufen, aber die Älteren kennen
die Abkürzungen. Da geht manche Erfahrung verloren.
({18})
Vieles steht in dem Antrag nicht, was in ihm aber stehen müsste.
({19})
Wir werden ab dem 1. Mai 2011 die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für die Menschen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten haben. Wir wissen doch noch gar nicht, wie
sich das in den nächsten Jahren auswirken wird. In unserem Land haben wir 167 000 arbeitslose Akademiker.
Sind sie alle keine Fachkräfte? Ich brauche jetzt keine
Belehrung; ich weiß selber, dass demjenigen, der einen
Maschinenbauingenieur sucht, mit einem Archäologen
nur begrenzt geholfen ist. Aber es kann doch nicht sein,
dass wir knapp 170 000 arbeitslose Akademiker haben
und gleichzeitig beklagen: Es gibt in unserem Lande
keine Fachkräfte.
Zwei Anmerkungen noch zum Schluss. Die für mich
problematischste Stelle in dem Antrag ist, wenn Sie davon schwärmen, dass es insbesondere in den USA und in
Großbritannien so viele Ärzte aus Afrika gibt.
({20})
- Ich muss Ihnen sagen, Herr Kollege Kilic, dass ich das
eher mit Sorgen sehe. Es arbeiten mehr Ärzte aus Mali in
England als in Mali selber. England hat eine Relation
von 35 Ärzten auf 10 000 Einwohner, in Mali ist es ein
Arzt auf 10 000 Einwohner. Sie problematisieren das
und lösen das Problem wie folgt - da muss man sich
wirklich beim Lesen festhalten -:
Wenn Migrantinnen und Migranten durch Rücküberweisungen, die Anbahnung von Geschäftsbeziehungen, Investitionen und Know-how-Transfer
zur wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Herkunftsländer beitragen …
({21})
Liebe Leute, welchen Know-how-Transfer soll denn ein
Arzt aus Mali, der in England arbeitet, für die Patienten
in Mali leisten? Denen ist doch nicht mit Geld geholfen,
sondern nur mit Zuwendung und ärztlicher Heilkunst.
({22})
Kommen wir zum Ärztemangel in Deutschland, den
es tatsächlich gibt. In manchen Regionen finden wir
keine sogenannten Landärzte mehr und rufen dann nach
mehr Zuwanderung. Das hat doch nichts mit Ausländerrecht zu tun, wohl aber jede Menge mit Inländerrecht.
Wir hatten 10 800 Zulassungen zum Medizinstudium
und über 40 000 Bewerber. Den Ärztemangel in
Deutschland beheben wir damit, dass wir jungen Leuten,
die Medizin studieren wollen, bei uns eine Chance geben. Dadurch beheben wir den Ärztemangel, aber nicht
dadurch, dass wir die Türen weiter aufmachen.
({23})
Der Arbeitsmarkt bei uns ist nicht verriegelt. In den
letzten drei Jahren haben über 270 000 Drittstaatsangehörige den Weg nach Deutschland gefunden. Deutschland ist ein weltoffenes und tolerantes Land. Aber wir
haben auch die Verpflichtung, zunächst diejenigen in
Beschäftigung zu bringen, die in Deutschland arbeitslos
sind, und das ist für uns die wichtigste Aufgabe.
({24})
Das Wort hat nun Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
einmal ist die Idee - Herr Kollege Bosbach, da haben Sie
recht -, die in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
verfolgt wird, so sensationell neu nicht. Interessanter
sind dann vielleicht schon die Debatte und die Positionierungen, die heute - so nehme ich es jedenfalls an eingenommen werden. Wo die Grünen nun einmal recht
haben, haben sie recht.
({0})
Wir werden in unserer Gesellschaft weniger, und wir
werden überdies auch älter. Die Geburtenrate ist zu niedrig; die entsprechende negative Statistik in Europa führen wir zusammen mit den Italienern vom Schluss her
an. Der Wanderungssaldo - das haben wir auch gestern
noch einmal gehört und besprochen - ist negativ. Herr
Kollege Kilic hat zu Recht darauf hingewiesen: Selbst
bei der Zuwanderung von Hochqualifizierten und Qualifizierten zum Teil auf sehr konkrete Arbeitsplatzangebote ist ein Rückgang im letzten Jahr im Vergleich zu
den Vorjahren zu verzeichnen.
Im Übrigen haben wir deswegen schon im Jahre 2001
in der Unabhängigen Kommission Zuwanderung, die
von Frau Professor Süssmuth geleitet wurde - Stellvertreter war Hans-Jochen Vogel -, es für richtig und gut
gehalten, ein Auswahlverfahren, ein Punktesystem zu
schaffen, mit dem wir Zuwanderung gezielt organisieren. Als rot-grüne Mehrheit haben wir dies damals im
Bundestag aufgegriffen und in der Tat, Herr Kollege
Bosbach, in dem § 20 umsetzen wollen, wohingegen die
Union uns dies mit dem Argument „Kinder statt Inder“
wieder herausgeschossen hat; der eine oder andere wird
sich vielleicht noch daran erinnern.
Ich war damals im Übrigen gar nicht so furchtbar
traurig darüber, dass dieser Punkt herausgenommen worden ist - jedenfalls nicht so traurig wie bei anderen
Punkten -, weil mir klar war: Eines Tages wird der Zeitpunkt kommen, an dem die Wirtschaft selbst oder ihre
Interessenvertreter hier im Bundestag, die FDP, angesichts der demografischen Entwicklung auf den Plan treten und sagen werden, dass wir dringend zusätzliche
Fachkräfte benötigen und deshalb Zuwanderung organisieren müssen. Diese Diskussion läuft jetzt seit dem letzten Herbst.
Schließlich haben wir, die SPD-Fraktion, in einem
Papier vom April 2009 zum Thema Migrationspolitik
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass wir ein Zuwanderungsverfahren nach Punktesystem für richtig halten.
So ist es, und so bleibt es auch. Damit aber klar wird,
welche Prioritäten wir setzen: Wir müssen uns zunächst
einmal all denjenigen widmen, die bereits in Deutschland leben. Da gibt es in der Tat gewisse Unterschiede zu
Bündnis 90/Die Grünen, auf die ich noch im Einzelnen
zu sprechen kommen werde, gerade was den vorliegenden Antrag angeht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, ich finde es - darf ich das so sagen? - vielleicht
ein kleines bisschen naiv, ausgerechnet von dieser Bundesregierung zu erwarten, dass sie uns einen Gesetzentwurf dazu vorlegt.
({1})
- Ich spreche aus der Erfahrung, die ich in über einem
Jahr gesammelt habe. Wir warten noch darauf, dass Sie
mit dem Regieren beginnen. Sie sind in einem Lernprozess begriffen, der selten von Erfolg gekrönt ist. Manchmal ist man über die Ergebnisse eher erschrocken. Herr
Kollege Dr. Uhl, damit das nicht vergessen wird: Ich bin
stolz auf gemeinsame Regierungsjahre; die Große Koalition war gelegentlich besser als ihr verbreiteter Ruf.
({2})
Wir wollen aber gar nicht nur allgemein über diese
Regierung und die Mehrheitsfraktionen reden, sondern
über die Frage, wie Sie sich hierzu positionieren. Nun
wurde unter der Überschrift „Zuwanderung: De
Maizière blockiert“ im Handelsblatt geschrieben, er sei
dagegen, grundsätzlich, zunächst. Am Schluss des Berichts wird richtigerweise gesagt, dass Deutschland nach
Auffassung der Regierung „an erster Stelle sein inländisches Arbeitskräftepotenzial besser ausschöpfen“ solle.
Darüber kann und muss man in der Tat reden.
({3})
- Ich höre sogar Zustimmung von der FDP. - In der Welt
vom 20. Januar, also von heute, liest es sich ganz anders:
Während die FDP massiv für eine verstärkte gesteuerte
Zuwanderung eintritt, so auch Herr Brüderle, der da zitiert wird, ist es nun ausgerechnet Frau Haderthauer, die
bayerische Arbeitsministerin, die gesagt hat - das muss
ich einfach zitieren -:
„Wir haben keinen echten Fachkräftemangel, solange die Rahmenbedingungen für unsere jungen
Leute gekennzeichnet sind von befristeten Arbeitsverträgen, unflexiblen Arbeitszeitmodellen und unbefriedigenden Gehältern.“ Was die Wirtschaft beklage, sei doch in Wirklichkeit „ein Mangel an
Arbeitnehmern, die bereit sind, zu diesen Bedingungen zu arbeiten“.
({4})
Das ist der Punkt. Diese Übereinstimmung mit der Einschätzung von Frau Haderthauer sollte einen eigentlich
nachdenklich stimmen.
Wir wollen Ihnen jedenfalls klar und deutlich sagen,
dass man zwar immer darüber reden kann, ob man mit
einer kleinen Zahl von Anwerbungen beginnt, um das
System auszuprobieren - das war auch 2001 und 2002
unsere Vorstellung -, man aber, bevor man in großer
Zahl Zuwanderung organisiert, daran denken muss und
soll: Wir haben trotz Aufschwung immer noch 3 Millionen Arbeitslose, von denen etwa ein Drittel länger als
ein Jahr arbeitslos ist. Wir haben in Deutschland immer
noch 1,5 Millionen Jugendliche ohne Berufsabschluss.
Wir haben - auch das ist eine Schande, eine Vergeudung
von Ressourcen und eine Beeinträchtigung menschlicher
Entwicklungen und Schicksale - immer noch 300 000,
400 000, 500 000 oder 600 000 Menschen ausländischer
Herkunft in Deutschland - lassen Sie uns nicht über die
Zahlen streiten -, deren Berufsabschlüsse nicht vernünftig anerkannt werden; da ist diese Koalition und diese
Regierung nunmehr endlich gefordert. Wir haben die
Problematik, die mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit für
Menschen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten ab dem
1. Mai verbunden ist; niemand kann eine Prognose dazu
abgeben, jedenfalls fühle ich mich dazu nicht imstande.
Wir haben immer noch - ich werde nicht müde, Ihnen
das auch an dieser Stelle zu sagen - eine fünfstellige,
vielleicht sogar eine sechsstellige Zahl von in Deutschland lebenden lediglich geduldeten Mitbürgerinnen und
Mitbürgern - wir haben dieses Thema schon gestern anRüdiger Veit
gesprochen -, die ohne Perspektive hier sind und denen
man erst einmal Gelegenheit geben sollte, in Deutschland ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele von ihnen sind bereits in Deutschland geboren oder hier aufgewachsen und haben Integrationsleistungen erbracht.
Man sollte auf die Gruppe der jetzt schon bei uns lebenden Menschen Rücksicht nehmen und sie mit entsprechender Bildung gezielt fördern, anstatt nur an die Zuwanderung von außen zu denken.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind
also nach wie vor für eine gesteuerte Zuwanderung nach
Punkten und mit Auswahlverfahren. Wir sagen aber
auch: Wir brauchen zunächst
({6})
eine inländische Allianz für Fachkräfte, eine Allianz
zwischen den Beteiligten im Wirtschaftsgeschehen, aber
auch aller staatlichen Ebenen, von Kommunen, Land
und Bund. Auch das tut not. Da gibt es einiges zu regeln.
Ich habe schon die Unterlassungen dieser Regierung
und der Koalitionsfraktionen bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse angesprochen. So könnte man das
beliebig fortsetzen. Wir brauchen flexible Arbeitszeitmodelle, eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die
durch entsprechende Kinderbetreuungsangebote noch
besser gelingt - auch das verweigern Sie -, und wir
brauchen für eine Reihe von Berufen attraktive Arbeitsbedingungen; das heißt vor allen Dingen attraktive
Löhne. Denn es geht ja nicht nur darum, dass es die
Leute nicht gibt, um bestimmte Arbeitsplätze zu besetzen; vielmehr werden Arbeitsplätze auch deswegen nicht
angenommen, weil sie nicht vernünftig entlohnt werden.
Wir brauchen auch Mindestlöhne. Das ist notwendig,
aber auch hier verweigert diese Koalition entsprechende
Taten. Wir haben hier mehr oder weniger nur hohle und
leere Worte gehört.
Noch einmal: In der Tendenz sind wir durchaus bei
Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollen vorher aber durch
eine Allianz für Fachkräfte, durch eine entsprechende
Offensive für die bereits in der Bundesrepublik lebenden
Menschen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass alle
Potenziale genutzt werden. Da sind wir uns mit manchem Diskussionsbeitrag wieder einig.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Stimmen für eine Zuwanderungssteuerung nach klaren, transparenten, zusammenhängenden und nachvollziehbaren
Kriterien mehren sich in allen Fraktionen und Parteien.
Die FDP freut sich darüber. Wir Liberalen haben in den
vergangenen Legislaturperioden dafür bereits entscheidende Anstöße gegeben. Nun steht dieses Ziel auch im
Koalitionsvertrag mit den Unterschriften von Angela
Merkel, Guido Westerwelle und Horst Seehofer.
Dabei geht es uns nicht einfach nur um die demografische Entwicklung. Es geht auch nicht einfach nur um
die Alterung der Gesellschaft oder andere statistisch darstellbare Prozesse. Uns geht es vor allem um die Menschen. Wir Liberale wollen Chancen eröffnen. Wir wollen nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer
Leute machen, sondern Perspektiven eröffnen. Wir wollen, dass die Menschen, die zu uns kommen, sich ihre
Zukunft selbst erarbeiten können.
Das bisherige Recht zur Arbeitsmigration ist voller
bürokratischer Hemmnisse,
({0})
und zwar nicht nur in der sachlichen Regelung selbst,
Herr Staatssekretär, sondern vor allem in seiner unübersichtlichen Struktur, die für einen Außenstehenden kaum
zu durchschauen ist.
({1})
Weder Menschen, die sich für die Zuwanderung nach
Deutschland interessieren, noch die Menschen hierzulande, die Ängste in Bezug auf die Zuwanderung haben,
können das gegenwärtige Zuwanderungsrecht abschätzen oder seine Wirkung durchschauen. Daraus resultieren häufiger Ablehnung und Skepsis in Bezug auf Zuwanderung nach Deutschland, und zwar auf beiden
Seiten - bei Inländern und Ausländern.
Wir meinen, Deutschland braucht klare, faire und einfache Regeln. Wir brauchen Vertrauen in eine verlässliche und sinnvoll gesteuerte Zuwanderung.
Die demografische Entwicklung lässt erwarten, dass
wir mittelfristig den wirtschaftlichen Standard nicht
mehr werden halten können, wenn wir uns nicht für qualifizierte Zuwanderung öffnen. Davon sind alle Menschen in unserem Land betroffen. Unser Wohlstand sowie unsere Fähigkeit, Menschen in Not etwa durch
Sozialleistungen zu helfen, gerät in Gefahr, wenn die dafür notwendige Wertschöpfung nicht mehr gelingt.
In Baden-Württemberg etwa hat sich die Koalitionsregierung aus Union und FDP und besonders der für Integration zuständige Minister Professor Goll mit diesen
Zukunftsfragen intensiv befasst. Hier fehlen bereits
heute rund 37 000 Fachkräfte.
McKinsey hat ermittelt: Deutschland benötigt 2020
- das ist in neun Jahren - rund 250 000 Akademiker und
250 000 Fachkräfte mehr als heute, davon die Hälfte in
den eher technisch geprägten Wachstumskernen. Zur
Hartfrid Wolff ({2})
Deckung dieses Bedarfs wäre bei heutiger Abbrecherquote ungefähr eine Verdopplung der Studienanfängerzahlen nötig. Lieber Kollege Bosbach und andere, es ist
absolut utopisch, zu glauben, eine Verdopplung der Studienanfängerzahlen bei anhaltend niedriger Geburtenquote im eigenen Land erreichen zu können. Das ist mathematisch schlicht nicht möglich.
({3})
Wir werden es selbst bei Verbesserungen im Bildungswesen in einem geradezu unvorstellbaren Ausmaß nicht
schaffen, diese Zahlen zu erreichen.
Deshalb hat die Koalition zu Recht vereinbart: Wir
brauchen ein System, dass die Zuwanderung nach klaren
Kriterien steuert und unsere Interessen und Erwartungen
an die Zuwanderer klar definiert. Entscheidend ist: Wen
wollen wir nach Deutschland einladen? Wer kann unsere
Gesellschaft weiterbringen? Für diese Menschen brauchen wir eine Willkommenskultur, die es Hochqualifizierten und Fachkräften aus dem Ausland leichter macht,
sich für Deutschland zu entscheiden.
({4})
Deutschland ist im Wettbewerb um die weltweit besten Köpfe weit zurückgefallen. Deutschland verliert derzeit sogar Fachkräfte: Es wandern mehr Fachkräfte ab
als zu. Andere Staaten wie Kanada und natürlich die
USA, aber auch Dänemark und Großbritannien ziehen
die Besten der Welt an. Wir hingegen erlauben es uns,
mit hohen bürokratischen Hürden, intransparenten Regeln und einer mangelhaften Zuwanderungskonzeption
die Besten der Welt an Deutschland vorbeiziehen zu lassen.
({5})
Wir erlauben es uns in Deutschland sogar, ausgebildete
Fachkräfte aus Drittstaaten auf dem Arbeitsmarkt nachrangig zu behandeln und sie lieber ziehen zu lassen, als
sie hier zu beschäftigen.
Es ist gut, dass diese Koalition verbindlich vereinbart
hat, diese kurzsichtige Kirchturmpolitik zu beenden. Wir
brauchen eine Systematisierung des bestehenden Rechts
zur Fachkräftezuwanderung: klarer, einfacher, transparenter.
({6})
Wir brauchen schnelle Entscheidungen, also eine Vorrangprüfung bei ausländischen Fachkräften innerhalb
von zwei Wochen. Wir brauchen eine Senkung des Mindesteinkommens und gezielte Anwerbemöglichkeiten.
({7})
- Wir reden nicht über Protektionismen, die Sie gerade
angesprochen haben, Herr Kollege Veit. - Als ersten
Schritt schlagen wir eine Genehmigungsfiktion für die
Vorrangprüfung und die Senkung des Mindesteinkommens auf 40 000 Euro vor.
({8})
Trotz des sympathischen Titels des vorliegenden Antrags der Grünen wollen die Grünen etwas anderes. Sie
wollen eine Erhöhung der Nettoeinwanderung. Sie wollen nur kompensatorische Maßnahmen für die befürchtete demografische Entwicklung. Die Grünen wollen die
Kriterien, die sie zunächst für die Zuwanderungssteuerung fordern, sofort wieder aushebeln. Bildungsanforderungen sollen nach Auffassung der Grünen nicht mehr
gestellt werden, wenn ein Zuwanderer sie, etwa aufgrund der Wahrnehmung von Familienpflichten, nicht
erfüllen konnte. Damit wird vor allem der unqualifizierten Zuwanderung aus Regionen mit aus unserer Sicht
nicht mehr zeitgemäßen Familienvorstellungen Tür und
Tor geöffnet.
({9})
Gesteuerte Zuwanderung ist kein Selbstzweck, sondern ökonomische und gesellschaftliche Notwendigkeit.
Verbindliche Kriterien sind notwendig.
({10})
Zuwanderung nach Deutschland ist keine Zuwanderung
in einen leeren Raum, sondern in eine gewachsene Kultur. Wer hierher zuwandert, muss sich auch hier integrieren wollen, das heißt sich unsere Sprache und unsere
Grundwerte überzeugend zu eigen machen. Nur so eröffnet sich für sie die Perspektive, Deutsche zu werden und
auch als solche anerkannt zu werden.
({11})
Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, dass wir
uns weiterentwickeln können, nicht stehen bleiben und
die entsprechenden Kapazitäten dafür haben.
({12})
Dazu müssen wir das Problem des Fachkräftemangels
dringend beheben. Lieber Herr Kollege Veit, Gewerkschaften und Arbeitgeber sind sich einig, dass der gesteuerte Zuzug von Fachkräften nach Deutschland nach
klaren, transparenten und richtig gewichteten Kriterien
einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bei
uns darstellt.
({13})
Der Einsatz jeder weiteren Fachkraft zieht weitere Arbeitsplätze nach sich.
({14})
Es geht aber nicht um ein schlichtes Mehr an Zuwanderung, sondern es geht um ein System, das für den
Deutschland-Interessierten durchschaubar ist, ihm seine
Chancen aufzeigt und deutlich macht, wen wir brauchen.
Hartfrid Wolff ({15})
Es geht um eine Regelung, die auch den Menschen hierzulande das Gefühl gibt, dass diese Zuwanderer unsere
Gesellschaft bereichern und uns alle gemeinsam voranbringen.
({16})
Diese Koalition hat dies im Koalitionsvertrag vereinbart und wird noch in dieser Legislaturperiode die Weichen dafür stellen.
({17})
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat nun Kollegin Sevim Dağdelen für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auf der Internetseite meines geschätzten Kollegen Kilic von den Grünen
({0})
steht zum Punktesystem Folgendes:
Hier geht es um die Einwanderung von Fachkräften, die Deutschland in einigen Branchen dringend
benötigt. Die in Arbeit stehenden ausländischen
Fachkräfte werden mit ihren Steuerzahlungen dazu
beitragen, unser Sozialversicherungssystem aufrechtzuerhalten.
Sie, Herr Kilic, und die Grünen insgesamt - so ist mein
Eindruck - verstehen Einwanderinnen und Einwanderer
anscheinend nur als Ware.
({1})
Sie beurteilen Migration bzw. Migrantinnen und Migranten nämlich fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des volkswirtschaftlichen Nutzenkalküls.
Dieses Zitat hört sich für viele Menschen in Deutschland gar nicht so schlimm an. In den 90er-Jahren war es
noch verpönt, unter Nützlichkeitserwägungen über Menschen zu sprechen. Damals, Anfang der 90er-Jahre, als
viele Asylbewerberheime brannten,
({2})
war es verpönt, darüber zu sprechen, ob Menschen für
unsere Gesellschaft nützlich sind oder nicht. Heute ist
das anders, weil der neoliberale Mainstream mittlerweile
überall fest verankert ist.
({3})
Ich kann den Grünen nur sagen: Eine auf der Basis
von Arbeitsmarktkriterien betriebene und nur ökonomisch legitimierte Migrationspolitik führt zu sozialer
Exklusion und rechtspopulistischen Ressentiments gegen Einwanderer und Minderheiten à la Sarrazin & Co.
({4})
Das ist die Erfahrung aus Kanada, meine Damen und
Herren.
({5})
Sie sagen: Es gibt einen Fachkräftemangel. Ich sage:
Das ist ein Mythos. Das denkt übrigens nicht nur die
Linke. So spricht zum Beispiel auch der Focus vom
„Mythos Fachkräftemangel“;
({6})
der Focus ist wahrlich kein linkes oder linksliberales
Blatt.
Hinzu kommt, dass es in Deutschland keinen flächendeckenden Fachkräftemangel gibt, weder aktuell noch
auf absehbare Zeit.
({7})
Das sagt selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin; auch das ist kein linksliberaler oder
linker Thinktank.
Lesen Sie sich ruhig einmal den Wochenbericht
Nr. 46 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
vom November letzten Jahres durch. Dann werden Sie
erfahren, dass es für ein derzeit generell knappes Arbeitskräfteangebot keine Belege gibt. Weder die untersuchte
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt noch die Lohnentwicklung noch die Ausbildungssituation lassen den
Schluss auf einen Fachkräftemangel zu. Die Studentenzahlen zeigen laut dieser Studie, dass der Bedarf in den
akademisch-naturwissenschaftlich-technischen Berufen
in den kommenden Jahren gedeckt werden kann.
Sevim Daðdelen
({8})
Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit sieht keinen flächendeckenden Fachkräftemangel. Ich kann Ihnen aber
sagen, woran es einen Mangel gibt: Es gibt einen Mangel an gut bezahlten Arbeitsplätzen in Deutschland. Der
Bedarf an Fachkräften könnte in Anbetracht der hohen
Erwerbslosigkeit problemlos gedeckt werden, wie selbst
das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sagt.
Doch wollen die deutschen Unternehmen - auch das
stellte dieses Institut fest - nicht den gerechten Preis für
eine gute Arbeit bezahlen.
An dieser Stelle verweist das DIW zu Recht auf die
Lohnentwicklung. Die Preise sind in Deutschland und
anderswo nach wie vor Indikator für Knappheiten auf
den Märkten.
({9})
Wenn es also einen allgemeinen Fachkräftemangel gäbe,
müsste er sich ja auch bei der Lohnentwicklung zeigen.
Es zeigt sich aber, dass die Löhne in Deutschland immer
noch sinken. Das heißt, die Lohnentwicklung in
Deutschland macht deutlich, dass es diesen Fachkräftemangel so nicht gibt.
({10})
Meine Damen und Herren von den Grünen, eines
finde ich unerträglich:
({11})
Mit dem Punktesystem sollen ausländische Fachkräfte
angezogen werden, um das deutsche Sozialversicherungssystem am Leben zu erhalten. War es nicht RotGrün, die mit der Agenda 2010, durch den Abbau von
Sozialleistungen und die Entlastung von Unternehmen
mehr Arbeitsplätze schaffen wollten? War es nicht RotGrün, die durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe
und die Einführung von Hartz IV Hunderttausende in
Armut und soziale Ausgrenzung getrieben haben,
({12})
die die Beschäftigten durch eine drastische Kürzung des
Arbeitslosengeldes und die Verschärfung der Zumutbarkeitsregelungen erpressbar gemacht haben
({13})
und Lohndumping Vorschub geleistet haben, vor allen
Dingen durch Leiharbeit?
({14})
Sie tun so, als würden ausländische Fachkräfte jetzt
das Problem beheben können, das Sie geschaffen haben.
Sie sagen: Deutschland braucht Fachkräfte. Wir als
Linke sagen: Deutschland hat Fachkräfte.
({15})
Das Problem ist aber, Fachkräfte drehen Deutschland
zunehmend den Rücken zu. Sie verlassen Deutschland.
Wir haben gestern hier mit Herrn Bundesinnenminister
de Maizière den Migrationsbericht 2009 beraten. Die
bittere Erkenntnis aus diesem Migrationsbericht ist, dass
Deutschland ein Auswanderungsland ist. Von den Deutschen, die aus Deutschland wegziehen und im Ausland
erwerbstätig sind, hat etwa die Hälfte einen Hochschulabschluss,
({16})
über 40 Prozent von ihnen besitzen einen mittleren Bildungsabschluss. Mehr als ein Drittel sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, knapp 20 Prozent Techniker und 17 Prozent Führungskräfte.
({17})
Mehr als die Hälfte der Deutschen, die im Jahr 2009 ins
Ausland gezogen sind, war zwischen 25 und 50 Jahre alt,
etwa ein Fünftel war jünger als 18 Jahre.
Es ist doch auch kein Wunder, dass diese Menschen
gehen. Deutschland ist inzwischen ein Niedriglohnland
geworden. Eine Ausbildung schützt längst nicht mehr
davor, im Niedriglohnsektor zu landen. Laut Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen
ist der Anteil der Betroffenen mit abgeschlossener Berufsausbildung zwischen 1995 und 2008 von 63,4 Prozent auf 71,9 Prozent gestiegen. Werden Erwerbstätige
mit Hochschulabschluss dazugerechnet, sind vier von fünf
„Niedriglöhnern“ so gut qualifiziert, um in Deutschland
als Fachkraft oder auch als hochqualifiziert zu gelten.
({18})
Sie wandern aus, weil sie keine gut bezahlte Arbeit finden. Auch vielen Ostdeutschen ist es in den letzten
20 Jahren so ergangen. Und ein Ende ist mit Ihrer Politik
einfach nicht in Sicht.
({19})
Für die Fachkräfte mit Migrationshintergrund, Herr
Kilic, ist ein Land einfach unattraktiv, in dem nicht erst
Sevim Daðdelen
die Sarrazin-Debatte rassistische Spuren hinterlassen
hat. In einem so ausländerfeindlichen gesellschaftlichen
Klima wie in Deutschland möchten viele Fachkräfte mit
Migrationshintergrund einfach nicht leben.
({20})
- Ja, Herr Winkler, das erzählen mir viele. Und was ist
Ihr Problem damit?
({21})
Das erzählen mir nicht nur viele, sondern es ist auch in
Studien mehrfach belegt worden, dass viele Menschen
auswandern, weil sie die Diskriminierungen in diesem
Land einfach satthaben.
({22})
Das könnten Sie auch einmal bestätigen; denn Sie wissen sehr genau, dass das so ist.
Sie sagen, Deutschland brauche Fachkräfte, und Sie
führen das auf die demografische Entwicklung zurück.
Das ist moderne Kaffeesatzleserei. Wir werden uns jedenfalls nicht daran beteiligen, Prognosen über einen
Zeitraum von knapp einem halben Jahrhundert abzugeben. Das ist einfach unseriös, und dies wird Ihnen jede
Expertin oder jeder Experte bestätigen.
({23})
Ich möchte vor allen Dingen noch einmal daran erinnern, dass Demografie auch immer wieder als Mehrzweckwaffe genutzt wird. Ich möchte daran erinnern,
dass Anfang der 90er-Jahre viele Medien, aber auch
viele Politikerinnen und Politiker die Demografie bemüht haben, um das Recht auf Asyl in Deutschland faktisch abzuschaffen. Damals hieß es: „Das Boot ist voll!“
Heute heißt es: „Raum ohne Volk“, wie der Spiegel
schon im Jahr 2000 in reichlich geschmackloser Art titelte. Ich finde: Demografie ist kein Problem, das man
überhaupt nicht beeinflussen kann.
({24})
Wenn es ein demografisches Problem gibt, liegt das daran, dass wir keine gute Familienpolitik, dass wir keine
gute Arbeitsmarktpolitik und keine gute Bildungspolitik
haben. Das alles ist veränderbar.
({25})
Wenn Sie von Demografie sprechen, dann müssen Sie
auch zur Kenntnis nehmen, dass vor 100 Jahren auf einen über 65-Jährigen noch zwölf Erwerbstätige kamen,
vor 50 Jahren waren es noch sieben, vor 20 Jahren waren
es vier. Ein Problem war das nicht; denn ein Problem mit
der Demografie besteht nur bei sinkender Produktivität.
Die Produktivität in Deutschland ist jedoch steigend und
bildet so die Basis für die sozialen Sicherungssysteme in
Deutschland, die nicht abgeschafft oder zerstört gehören
wegen des Mythos des demografischen Wandels.
({26})
Sie haben den Braindrain angesprochen. Ich kann nur
dazu ermuntern, sich auch einmal die Entwicklungsländer anzuschauen, die ganz klar und deutlich sagen, sie
wollen keine Fachkräfte, die sie in ihren Ländern unter
ganz schwierigen Bedingungen ausbilden und für ihr
Land und ihre Zukunft nutzen wollen, in die Industriestaaten schicken, damit sie dort dazu benutzt werden
können, die Länder des Südens noch mehr auszubeuten
und von den Industriestaaten ausgeplündert zu werden.
Das ist keine Entwicklungspolitik, an der sich die Linke
beteiligen kann.
({27})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja, ich komme zum Schluss. - Sie haben ein Problem
mit Fachkräften in Deutschland? Ich fordere, endlich
eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage zu beschließen
- das hatte Rot-Grün vor Jahren einmal versprochen,
aber nie eingeführt -,
({0})
damit jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz findet.
Beschließen Sie ferner einen gesetzlichen Mindestlohn
von 10 Euro; denn wir wollen nicht, dass Solidarität,
Gleichheit -
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja, das ist mein letzter Satz, Herr Präsident.
Bitte kommen Sie zum Ende.
Wir wollen nicht, dass Solidarität, Gleichheit, Gerechtigkeit und Humanität hier im Säurebad der Konkurrenz verschwinden.
Danke.
({0})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Ole Schröder.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es wird niemand die Notwendigkeit bestreiten,
dass wir uns um das Thema Fachkräfte kümmern müssen. Die Bundesregierung kümmert sich um dieses
Thema. Das haben wir in der Vergangenheit gemacht,
und das tun wir auch in der Zukunft.
Wir kümmern uns auch um die Qualifizierung. Noch
nie wurde so viel Geld für Bildung ausgegeben wie zu
Zeiten dieser Regierung. Wir sind offen für Hochqualifizierte, aber die Gewinnung von Fachkräften ist nicht alleine Aufgabe des Staates, nicht alleine Aufgabe der Regierung und auch nicht alleine Aufgabe des Parlaments.
Sondern in einer sozialen Marktwirtschaft ist es natürlich auch Aufgabe der Unternehmen, sich um Qualifizierung zu kümmern
({0})
und sich um die Qualifizierten auf dem inländischen und
dem europäischen Arbeitsmarkt zu bemühen, aber natürlich auch offen zu sein für Fachkräfte auf dem weltweiten Arbeitsmarkt.
Wenn man die Diskussionen der letzten Wochen verfolgt hat, dann hat man manchmal den Eindruck gehabt,
dass es alleine Aufgabe des Staates ist, den Unternehmen die Fachkräfte sozusagen frei zuzuführen. Das ist in
einer sozialen Marktwirtschaft mit Sicherheit nicht der
Fall, sondern es ist Aufgabe des Staates und der Unternehmen, einen attraktiven Standort zu schaffen.
Attraktivität schafft man natürlich auch mit anständigen Gehältern, die Fachkräften gezahlt werden müssen.
({1})
Attraktivität schafft man daneben natürlich auch dadurch, dass auch in den Unternehmen darauf geachtet
wird, dass Beruf und Familie miteinander vereinbar sind,
dass eine Willkommenskultur für Fachkräfte von außen
geschaffen wird, dass Beschäftigungsmöglichkeiten für
den Ehepartner, der mitkommt, geschaffen werden und
dass auch die Belange des Kindes mitberücksichtigt werden.
Einige behaupten nun, durch das Zuwanderungsrecht
werden die Unternehmen daran gehindert, Fachkräfte
nach Deutschland zu holen. Das ist doch nicht der Grund
dafür, weshalb zu wenige Fachkräfte nach Deutschland
kommen.
({2})
Das hängt doch vom Gehalt ab, das gezahlt wird, und
davon, ob eine Willkommenskultur in den Unternehmen
vorhanden ist. Auch Sprachbarrieren spielen sicherlich
eine wichtige Rolle.
In einem Punkt enthält unser Zuwanderungsrecht allerdings eine notwendige Filterfunktion. Wir wollen
nicht, dass ausländische Arbeitnehmer zu Dumpinglöhnen und damit auf Kosten von inländischen Arbeitnehmern nach Deutschland geholt werden,
({3})
wenn diese Arbeitsplätze auch durch Inländer oder Europäer besetzt werden können. Zu dieser Filterfunktion in
unserem Zuwanderungsrecht bekennen wir uns ausdrücklich.
Natürlich haben die Unternehmen ein Interesse daran,
aus einem möglichst großen Pool bzw. Angebot an Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt auszuwählen. Selbstverständlich ist das das Interesse der Unternehmen. Wir
holen Zuwanderer aber nur dann ins Land, wenn auch
wirklich eine Nachfrage besteht.
({4})
Gemäß unserem Zuwanderungsrecht ist die Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften schon heute
zulässig, wenn Fachkräftemangel herrscht und die Zuwanderung eben nicht zu mehr Arbeitslosigkeit führt.
In welchem Maße unser Zuwanderungsrecht schon
jetzt offen ist, ist offensichtlich vielen nicht bekannt.
({5})
Es wird auch viel vernebelt. Ich gebe zu, unser Ausländerrecht ist nicht immer leicht verständlich. Aber wenn
man die Regelungen genau liest, dann wird deutlich,
dass Zuwanderung möglich ist.
Es wird beispielsweise immer wieder behauptet, dass
die Einstellung ausländischer Hochqualifizierter mit einem Jahresgehalt unter 66 000 Euro nicht möglich ist.
Das ist schlichtweg Unsinn. Es gibt keine feste Gehaltsgrenze. In bestimmten Fallgruppen, zum Beispiel bei
Führungskräften, kann sogar auf die sogenannte Vorrangprüfung verzichtet werden. Das heißt, es kann komplett auf die Prüfung verzichtet werden, ob eine Stelle
nicht auch von einem Inländer oder einem Unionsbürger
besetzt werden kann.
({6})
Die Gehaltsgrenze von 66 000 Euro ist nur für die
Frage maßgeblich, ob von Anfang an ein unbefristetes
Aufenthaltsrecht erteilt wird. Mit dieser Regelung, dass
mit einem Jahresgehalt ab 66 000 Euro ab dem ersten
Tag ein unbefristetes Aufenthaltsrecht gewährt wird, stehen wir in Europa an der Spitze, was Offenheit angeht.
({7})
Hochqualifizierte Wissenschaftler können sogar unabhängig von jeglicher Gehaltsgrenze nach Deutschland
kommen und haben vom ersten Tag an den Anspruch auf
ein unbefristetes Aufenthaltsrecht.
({8})
Das deutsche Recht ist besser als sein Ruf. Auch
Fachkräfte mit einem Jahresgehalt unter 66 000 Euro
können kommen, wenn die Vorrangprüfung positiv beschieden wird. Sie erhalten dann aber zunächst eine auf
maximal drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis. Das
ist weltweit ähnlich geregelt. Denn wenn jemand nach
kurzer Zeit arbeitslos wird und sich nicht integriert, dann
müssen wir die Möglichkeit haben, die Aufenthaltserlaubnis nicht zu verlängern.
Wenn von dem Punktesystem die Rede ist, wird oft so
getan, als wäre unser Zuwanderungsrecht mit einem
Punktesystem modern und ohne dieses System total verstaubt. Das ist Ideologie. Es ist schlichtweg falsch.
({9})
Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir mit einem
Punktesystem eine bessere Steuerung erreichen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kilic?
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Schröder, Sie gehen in Ihrer Rede
davon aus, dass kein Zuwanderungsbedarf an Fachkräften existiert und mit den vorhandenen gesetzlichen Regelungen alles unter Dach und Fach ist. Als Regierungsmitglied müssten Sie wissen, dass die CDU vor ein paar
Tagen in ihrer Mainzer Erklärung festgestellt hat, dass
die CDU die Zuwanderung von Fachkräften steuern
möchte. Das klingt so, als ob Handlungsbedarf besteht.
Wo sehen Sie auf diesem Gebiet Handlungsbedarf, oder
glauben Sie, dass alles von geltendem Recht gedeckt ist?
Selbstverständlich sind wir offen für Fachkräfte aus
aller Welt,
({0})
die zu uns kommen, um zu arbeiten, wenn dies nicht zulasten derjenigen geht, die hier einen Arbeitsplatz haben.
Wir wollen keine Zuwanderung aus Drittstaaten außerhalb Europas, wenn dies zu höherer Arbeitslosigkeit
führt.
({1})
Die Frage ist, woran es liegt, dass wir für Fachkräfte
offensichtlich nicht so attraktiv sind, wie wir uns das
vorstellen. Sie meinen, das löst sich dadurch, dass wir
unser Zuwanderungsrecht ändern. Das Zuwanderungsrecht ist aber nicht unser Problem. Die Probleme liegen
ganz woanders. Sie hängen mit einer Willkommenskultur zusammen. Sie hängen auch damit zusammen, dass
wir ganz andere Sprachbarrieren haben als der angloamerikanische Raum. Diese Probleme müssen wir in
Angriff nehmen, nicht das Zuwanderungsrecht.
({2})
Ich meine, dass wir mit der Feinjustierung im bestehenden System besser in der Lage sind, die Zuwanderung zu steuern. Wir können damit viel besser arbeitsmarktorientiert steuern und präziser auf die Nachfrage
der Unternehmen reagieren. Wenn jemand eine offene
Stelle hat, die er nicht mit einem Inländer oder einem
Unionsbürger besetzen kann, dann ist es nach geltendem
Recht möglich, jemanden von außen zu holen und einzustellen.
Wir müssen aber sicherstellen, dass wir keine Fachkräfte nach Deutschland holen, die hier nicht gebraucht
werden. Ein Punktesystem schafft am Ende mehr Bürokratie. Sie müssen Behörden aufbauen, die Auswahlkriterien
schaffen und Auswahlverfahren in den Herkunftsländern
organisieren. Unser jetziges System ist bürokratieärmer.
Lassen Sie uns keine große Migrationsbürokratie aufbauen! Das macht keinen Sinn.
Stattdessen sollten wir unser jetziges System voranbringen. Wir sollten prüfen, ob die Vorrangprüfung im
Rahmen des jetzigen Systems beschleunigt werden
kann, zum Beispiel durch eine Genehmigungsfiktion.
Wenn ein Unternehmen meint, eine Stelle nicht besetzen
zu können und sich an die Bundesagentur wendet und
nach drei, vier Wochen keinen Bescheid bekommt, wird
eine Genehmigung fingiert, und es kann jemand von außerhalb der EU kommen. Wir müssen auch prüfen, ob
wir in einigen Branchen auf die Vorrangprüfung verzichten können. Wenn die Vorrangprüfung bloße Förmelei
ist, weil der Fachkräftemangel so offensichtlich ist, dann
ist diese Prüfung nicht notwendig. Das ist jedoch schon
auf der Grundlage des geltenden Rechts möglich. Dafür
brauchen wir überhaupt keine Rechtsänderung.
Wir sollten auch einen Blick auf das Fachkräftepotenzial in Europa werfen, insbesondere auf das in den in
letzter Zeit beigetretenen Staaten. Ab Mai haben alle
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ganz Europa,
zum Beispiel aus Polen, Ungarn, Slowenien und Tschechien - außer aus Bulgarien und Rumänien -, die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, um hier zu arbeiten. Lassen Sie uns doch erst einmal abwarten, was
dann passiert,
({3})
welche Migrationsströme dann entstehen und wie diese
auf den deutschen Arbeitsmarkt wirken, bevor wir solche Experimente durchführen, die Sie von uns verlangen!
Lassen Sie uns auch das Arbeitsmarktpotenzial der alten Mitgliedstaaten nutzen! In Spanien spricht man bereits von einer verlorenen Generation. Ich lese in der
FAZ, dass dort die Arbeitslosigkeit bei den unter 25-Jährigen bei rund 40 Prozent liegt. Warum holen wir denn
diese arbeitslosen Jugendlichen nicht nach Deutschland
und bilden Sie aus? Das ist doch viel naheliegender, als
auf anderen Kontinenten Anwerberstellen zu organisieren und ein Punktesystem einzuführen. Lassen Sie uns
doch nach Europa schauen!
({4})
Warum kümmern wir uns nicht um die arbeitslosen Jugendlichen in Spanien?
({5})
Warum bilden wir sie hier nicht aus, zumal wir mit Jugendlichen, die aus unserem Kulturkreis kommen, wesentlich weniger Integrationsprobleme haben, als mit
solchen aus anderen Kulturkreisen?
({6})
Lassen Sie uns diese Chance nutzen! Lassen Sie uns
den Menschen, die hier leben, eine Chance geben! Lassen Sie uns dafür sorgen, dass wir attraktiv für Fachkräfte sind! Ein neues Zuwanderungsrecht, insbesondere
ein Punktesystem, brauchen wir hierfür nicht.
({7})
Das Wort hat nun Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat ist der Fachkräftemangel, insbesondere im Zusammenhang mit Zuwanderung, eines der zentralen Themen im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Ich möchte gerne die Frage des Kollegen Veit
aufgreifen. Ist es denn wirklich klug, gerade dieser Regierung den Auftrag zu erteilen, ein Konzept für ein
Punktesystem vorzulegen? Ich kann mich gar nicht recht
entscheiden, welches der schlimmere Worst Case wäre:
wenn sich die CSU durchsetzt und wir dann überhaupt
keine Zuwanderung mehr haben oder wenn sich die FDP
durchsetzt, die sich in ihrer Politik einseitig an den Interessen der Unternehmen orientiert. Notwendig ist, ein
gesamtgesellschaftlich ausgewogenes Konzept vorzulegen, das sowohl die Interessen der Unternehmen und der
Wirtschaft in Deutschland als auch die Interessen der
Menschen, die hier leben - ob mit oder ohne Migrationshintergrund -, berücksichtigt.
Die Bundesregierung ist nicht nur beim Thema Zuwanderung zerstritten, sondern auch komplett blank,
wenn es darum geht, das Potenzial, das wir hier im Land
haben, zu heben und hier für mehr Fachkräfte zu sorgen.
Alles, was ich bisher zu diesem Thema gehört habe, waren Sonntagsreden.
({0})
Wenn Sie über Bildung reden, dann sind das Sonntagsreden. Sie versuchen weiterhin, Ihre Ideologie durchzusetzen, konkrete Konzeptionsvorschläge haben Sie nicht.
Herr Bosbach - ich weiß nicht, ob er noch da ist - hat
darüber gesprochen, dass man mehr für die Arbeitsvermittlung tun muss. Ich merke, dass ich bei diesem
Thema richtig sauer werde. War es nicht die schwarzgelbe Regierung, die die Mittel für aktive Arbeitsmarktpolitik massiv zusammengestrichen hat? Oder ist mir etwas entgangen?
({1})
Lassen Sie mich zu einer Gruppe von Personen kommen, die in den Reden bisher noch nicht vorgekommen
ist, nämlich die Menschen, die eingewandert sind, schon
länger hier leben und ein nicht zu unterschätzendes
Fachkräftepotenzial darstellen.
({2})
Wir erinnern uns: Die Ankündigungsministerin Frau
Dr. Schavan hat uns versprochen, dass es ein Gesetz zur
Anerkennung im Ausland abgeschlossener Berufsausbildungen oder akademischer Abschlüsse geben soll.
({3})
Das ist jetzt über ein Jahr her. Wir warten und warten
und bekommen Ankündigungen über Ankündigungen.
Das ist schlecht für die Unternehmen, und ich hoffe, es
ist Ihnen auch ein bisschen unangenehm, dass das so
lange dauert. Versetzen Sie sich einmal in die Lage der
Betroffenen. Überlegen Sie, wie frustrierend das für die
300 000 bis 500 000 Menschen ist, die in unserem Land
leben, ohne dass ihre bisherigen Leistungen in irgendeiner Weise anerkannt werden. Das ist eine Katastrophe.
({4})
Selbst wenn dieses Gesetz irgendwann verabschiedet
wird - ich weiß nicht, ob es überhaupt irgendwann verabschiedet wird -: Frau Schavan hat deutlich gemacht,
dass es eine Einschränkung geben wird, es wird nämlich
kein Recht auf Anschlussqualifizierung geben. Was dann
passiert, ist ziemlich klar: So wird zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrern aus der ehemaligen Sowjetunion teilweise nur das Abitur anerkannt, obwohl sie ein Lehramtsstudium absolviert haben. Zum Teil wird ihnen
gesagt: Studieren Sie ein Fach noch einmal komplett
nach; denn die meisten haben nur ein Fach studiert. Was
passiert, wenn wir das so handhaben? Es wird vielen anderen Personengruppen auch so gehen, dass sie nur eine
Teilanerkennung bekommen und dann im Regen stehen
gelassen werden. Liebe Bundesregierung, entweder ist
der Fachkräftemangel gar nicht so groß, oder Sie müssen
an dieser Stelle kräftig nachregeln.
({5})
Daniela Kolbe ({6})
Ein zweites Beispiel sind die ausländischen Studierenden, die ihr Studium in Deutschland absolviert haben.
Gestern haben wir uns alle miteinander über den
Migrationsbericht gefreut, der besagt, dass wir fast
250 000 Bildungsausländer im Land haben. Das sind
eine Viertelmillion Menschen, die hier studieren. Das ist
ein großes Kompliment und widerspricht der These, dass
niemand Interesse daran hat, in unserem Land zu studieren.
Die Absolventinnen und Absolventen, die in Deutschland ihr Studium absolvieren, sind Topleute, das sind
diejenigen, die wir unbedingt begeistern wollen, hierzubleiben und Arbeit aufzunehmen. Das hat schon RotGrün erkannt. Im Jahr 2005 haben wir im Zuwanderungsgesetz gemeinsam vereinbart, dass die Absolventinnen und Absolventen ein Jahr Zeit bekommen sollen,
um einen Arbeitsplatz zu finden. Selbst in der Großen
Koalition konnte sich die SPD noch durchsetzen. Olaf
Scholz hat durchgeboxt, dass für die Absolventinnen
und Absolventen die Vorrangprüfung nicht mehr gilt und
dass sie auch wieder einreisen können, wenn sie später
hier einen Arbeitsplatz finden. Das sind große Chancen,
die den meisten kaum bekannt sind. Das spiegelt sich in
den Zahlen wider. Nur wenige versuchen, überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden, noch weniger schaffen es.
Was tut die Regierung? Immerhin diskutiert sie das
Thema. Es ist gut, dass die Bundesregierung in die richtige Richtung diskutiert.
({7})
Das Problembewusstsein ist vorhanden, aber ich habe so
meine Zweifel, ob etwas dabei herauskommt. Der Minister hat schon wieder etwas ausgeschlossen. Er sagt, dass
die betroffenen Personen definitiv nicht länger als ein
Jahr Zeit bekommen sollen, um Arbeit zu finden. Ich
persönlich halte das für einen Fehler. Denn wenn wir betrachten, wie lange die Absolventinnen und Absolventen
in Deutschland brauchen, um einen Arbeitsplatz zu finden, dann stellen wir fest, dass nach einem Jahr nur
50 Prozent der Absolventinnen und Absolventen eine reguläre Beschäftigung gefunden haben. Sie wissen alle,
dass es Menschen aus Drittstaaten auf dem deutschen
Arbeitsmarkt aus Gründen, auf die ich jetzt nicht eingehen möchte, bedeutend schwerer haben.
({8})
Liebe Bundesregierung, insofern besteht auch hier
Handlungsbedarf. Ihre Ankündigungen sind bisher nur
vage. Außerdem gehen Sie mit Ihren Ankündigungen
nicht weit genug.
Es ist also viel zu tun, um das Problem des Fachkräftemangels und des Hebens des Potenzials im eigenen
Land anzugehen. Was ich dazu bisher gehört habe, hat
überhaupt nichts mit dem Titel „Fachkräftestrategie“ zu
tun.
({9})
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Analysiert man die Lage, dann muss man doch klar sagen: Es gibt heute einen Wettbewerb um die klügsten
Köpfe der Welt. Leider müssen wir hinzufügen:
Deutschland partizipiert hieran nicht gut genug. Wir sind
nicht gut genug aufgestellt.
Das sieht man an der Zahl der Hochqualifizierten, die
derzeit über die Einkommensgrenze springen. Im vergangenen Jahr waren es gerade einmal 169 Personen.
Das kann uns doch nicht zufriedenstellen.
Das sieht man außerdem am Anteil der Hochqualifizierten an den Zugewanderten insgesamt. Dieser Anteil
liegt bei uns bei 22 Prozent. In den USA sind es 43 Prozent. In Kanada sind es sogar 59 Prozent. Unsere Mitbewerber sind also doppelt so gut wie wir.
Das sieht man auch am Saldo. Seit dem Jahr 2000
verließen unser Land pro Jahr im Schnitt 16 000 Hochqualifizierte mehr, als gekommen sind. Der Auftrag ist
also klar: Wir brauchen mehr qualifizierte Zuwanderer,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Das gilt aber nicht nur aufgrund der heutigen Situation, sondern insbesondere aufgrund der Situation, die
sich infolge des demografischen Wandels in der Zukunft
zeigen wird. Bis 2030 werden uns 6 Millionen Erwerbspersonen - vor allem Fachkräfte - in Deutschland fehlen. Das ist so, als ob Hessen plötzlich einfach weg wäre.
Das kann Deutschland nicht verkraften. Deshalb ist der
Auftrag klar: Wir brauchen mehr qualifizierte Zuwanderer.
({1})
- Dass Hessen einfach weg wäre, das macht natürlich
besonders den hessischen Kollegen Sorgen. Das muss
uns aber auch insgesamt Sorgen machen.
Liebe Kollegin Kolbe, das ist keine Sache, die nur die
Unternehmen etwas angehen sollte. Das ist übrigens
auch kein Gegensatz zur Qualifikation der leider arbeitslosen Menschen, die wir heute in diesem Land haben.
Nicht Entweder-oder, sondern Sowohl-als-auch muss die
Devise sein; denn jeder Hochqualifizierte, der kommt,
schafft doch in Deutschland weitere Arbeitsplätze.
Liebe Kollegin Kolbe, dem Facharbeiter am Band bei
BMW ist es vollkommen egal, ob der leitende Ingenieur
ursprünglich aus Südamerika kommt oder in Deutschland geboren wurde. Wenn der Ingenieur jedoch fehlt
und die Ingenieurstelle nicht besetzt werden kann, sind
auch die Arbeitsplätze am Band gefährdet. Deshalb geht
es hier nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein So9392
Johannes Vogel ({2})
wohl-als-auch. Es geht um Qualifikation im Inland und
um mehr qualifizierte Zuwanderer aus dem Ausland.
({3})
Wir brauchen dafür ein einfacheres und transparenteres System, weil wir die Entwicklung anhand der Qualifikation der Zuwanderer und anhand der Bedürfnisse auf
dem Arbeitsmarkt steuern müssen und vor allem weil
das deutsche Kontensystem zu kompliziert ist.
Wenn sich ein junger Vietnamese beispielsweise dafür interessiert, in ein anderes Land zu gehen, dann ist es
unrealistisch, dass er nach Deutschland kommt, wenn es
auf der einen Seite ein System wie in Kanada gibt, wo er
innerhalb von fünf Minuten auf der Homepage der Botschaft ermitteln kann, ob er zuwandern darf oder nicht,
und wenn es auf der anderen Seite ein System gibt, wie
wir es heute in Deutschland haben, bei dem er erst den
Stellenteil einer deutschen Tageszeitung wälzen muss
und dann noch möglicherweise anwaltliche Beratung
braucht, um herauszufinden, wie er hierherkommen
kann. Das kann nicht so bleiben, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Deshalb brauchen wir ein einfacheres System.
({4})
Mir persönlich ist es ganz egal, wie das System heißt.
Mich überzeugt ein Punktesystem, weil die Erfahrungen
damit beispielsweise in Kanada so gut sind.
({5})
Deshalb halte ich das für einen guten Vorschlag. Mich
überzeugt auch, dass zum Beispiel die Arbeitsplatzfrage
dabei ganz smart in ein System integriert wird. Welches
System dies ist, ist aber nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, dass es funktioniert, dass es steuert
und dass es einfach ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
jetzt kommen wir zu den Unterschieden. Wir brauchen
nämlich nicht nur ein gutes Zuwanderungssystem. Sondern wir brauchen - und darüber schweigen Sie sich leider völlig aus - das Bewusstsein, dass wir aktiv um die
Fachkräfte in der Welt werben müssen. Natürlich geht es
um die deutsche Wirtschaft. Es geht aber auch um die
Politik. Wir müssen deutlich machen, dass wir diese
Menschen zu uns holen wollen. Daran hapert es bisher.
Dazu sagen Sie in dem Antrag leider überhaupt nichts.
({6})
Darüber hinaus - dabei hat das Innenministerium
vollkommen recht - brauchen wir eine Willkommenskultur. Wir brauchen eine Kultur, die deutlich macht,
dass wir wollen, dass die Menschen hier auch anerkannt
werden. Schauen wir uns doch einmal die Situation der
Fachkräfte an, die heute schon in Deutschland sind. Uns
berichtet nicht nur beispielsweise das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dass es immer wieder Probleme
mit deutschen Ämtern gibt. Die Betroffenen stehen vor
der Situation, dass etwa ihre Qualifikation hier nicht anerkannt wird. Dazu kann ich nur sagen: Wir brauchen ein
Ausländerrecht, das den Menschen deutlich macht, dass
sie hier willkommen sind.
Eine Bekannte von mir ist eine junge Philippinin, die
an einer amerikanischen Topuniversität gut ausgebildet
wurde. Sie hat mir gegenüber nicht gerade den Eindruck
vermittelt, dass sie von den deutschen Ausländerämtern
besonders hofiert worden sei. Dabei ist es eindeutig eine
junge Person, die unsere Gesellschaft bereichern könnte.
Außerdem müssen bei uns mehr Abschlüsse anerkannt werden. Da kann ich die Kritik der Opposition
nicht verstehen; schließlich ist es doch diese Bundesregierung, die sich vorgenommen hat, dieses Thema jetzt
anzugehen.
({7})
Ganz klar ist: Wir brauchen drei Ws. Wir müssen erstens den Wettbewerb aufnehmen; durch ein kluges System müssen die klügsten Köpfe ausgewählt werden. Wir
müssen zweitens Werbung für unser Land machen, und
wir müssen drittens eine Willkommenskultur schaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Formulierungshilfen von der Opposition, insbesondere von
Ihnen, brauchen wir dafür nicht. Dieses Thema hat die
Regierung sich längst vorgenommen; es ist bei der Koalition in guten Händen. Schwarz-Gelb schafft es am
ehesten, die Zuwanderungssteuerung, die Werbung und
die Willkommenskultur zusammenzubringen, eher als
Sie jedenfalls. Das zeigt sich an den Zahlen. Schaut man
sich einmal die Zahlen von 2009 an, stellt man fest, dass,
wie ich eben schon gesagt habe, leider mehr hochqualifizierte Menschen aus- als zugewandert sind. Trotzdem
sind viele gekommen.
({8})
Interessant ist, sich anzuschauen, in welche Bundesländer die Einwanderer im Jahre 2009 gegangen sind.
Für mich nicht überraschend standen an der Spitze der
Rangliste natürlich drei damals glücklicherweise
schwarz-gelb regierte Länder: Nordrhein-Westfalen,
Bayern und Baden-Württemberg. Das zeigt: Hochqualifiziertenzuwanderung und Fachkräftemangelbekämpfung sind bei Schwarz-Gelb in besseren Händen als bei
Ihnen. Deshalb werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Jutta Krellmann für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich wiederhole, was meine Kollegin Sevim Dağdelen
gesagt hat: Es gibt keinen Fachkräftemangel in Deutschland. Diese Aussage kommt nicht von mir - ich führe
nämlich keine Untersuchungen durch -, sondern sie beruht auf einer Untersuchung des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung.
({0})
- Wollen wir hinterher noch einmal reden? Rufen Sie
jetzt nicht dazwischen, bitte.
({1})
Worum geht es, wenn führende Unternehmen über
unbesetzte Ingenieurstellen klagen und sogenannte Experten schon eine Verlängerung der Arbeitszeit auf
50 Stunden in der Woche heraufbeschwören? Ich sage:
Fachkräfte sind da; aber der Wirtschaft sind sie zu teuer.
Persönlich habe ich mich die ganze Zeit über eine Diskussion über Fachkräftemangel gefreut, weil die Fachkräfte endlich einmal selbstbewusste Forderungen stellen konnten, zum Beispiel in Tarifrunden. Das geht nun
nicht, weil die Wirtschaft jetzt im Grunde schaut, wie
man dem Fachkräftemangel über Zuwanderung aus dem
Ausland begegnen kann; sie hat die Diskussion darüber
ganz einfach wieder entdeckt. Den Fachkräften aus dem
Ausland kann man weniger Gehalt als den heimischen
Beschäftigten zahlen, und darum drängen die Arbeitgeberverbände auf eine schnelle Lösung, die diesen Menschen einen leichten Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Das wird der Wirtschaft gerecht, aber nicht den
Menschen, weder denjenigen, die hier leben, noch denjenigen, die zu uns kommen.
Die Grünen fallen genau auf diesen Trick und diese
Überlegung herein. Die Debatte um Fachkräftemangel
ist nicht neu, die zweifelhaften Lösungen auch nicht.
Waren es vor gut zehn Jahren die IT-Spezialisten, sind es
heute Ingenieure und Techniker, und das auch nur in einigen Branchen. Wir erinnern uns an Rüttgers peinliche
Debatte um „Kinder statt Inder“. Die Greencard war ein
Reinfall. Anstatt über gesteuerte Fachkräftezuwanderung mit Karten und Punkten zu sinnieren, müssen wir
doch erst einmal über das eigentliche Thema reden, und
das ist im Grunde die verkorkste Arbeitsmarktpolitik.
({2})
Wir haben 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und
29 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung und
rund 4,1 Millionen Menschen ohne Arbeit. Dazu kommen viele verdeckte Erwerbslose; sie sind nicht mitgerechnet.
Jahrelang hat sich die herrschende Politik um die
junge Generation nicht gekümmert. Betriebliche Ausbildungsplätze wurden abgebaut, und stattdessen wurden
sinnlose Warteschleifen und Schmalspurausbildungen
eingerichtet. Nicht einmal ein Viertel der Betriebe bildet
aus. Die drei Viertel, die nicht ausbilden, schreien jetzt
am lautesten nach Facharbeitern.
Die Unterzeichnung des Ausbildungspakts ist keine
drei Monate her. Dort hätten Arbeitgeberverbände einfach die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze vereinbaren können. Das haben sie nicht getan. Es galt, lieber stillzuhalten und zu warten, ob es billige Fachkräfte
aus dem Ausland gibt.
({3})
Dazu muss man ja keine eigenen Investitionen tätigen.
Gerade für die 1,5 Millionen jungen Menschen, die sich
qualifizieren wollen, ist das wie ein Schlag ins Gesicht.
({4})
Bei der Qualifizierung der Beschäftigten sieht es auch
nicht besser aus. Dort haben viele Arbeitgeber in den
letzten Jahren einfach geschlafen und zu wenig in die
Weiterbildung investiert. Auch diese Betriebe rufen jetzt
nach qualifizierten Facharbeitern. Als Gewerkschafterin
sage ich den Betrieben: Übernehmen Sie endlich die
Verantwortung und bilden Sie Ihre Beschäftigten weiter
bzw. bilden Sie junge Menschen aus.
({5})
- Mit Ihnen rede ich auch hinterher noch mal gerne. ({6})
Das ist das beste Mittel gegen Fachkräftemangel.
Ich kenne einen jungen Industrieelektroniker, der sich
zum Techniker weiterqualifiziert hat. Aber sein Betrieb
hat ihn nicht entsprechend seiner höheren Qualifikation
beschäftigt. Der hat lieber Mitarbeiter von außen geholt.
Dieser junge Kollege hat sich dann entschieden: Ich
gehe nach Norwegen und suche mir da einen Arbeitsplatz. Er hat dort eine Perspektive gefunden.
({7})
Das kann ich absolut nachvollziehen. Ich sehe auch, dass
das kein Einzelfall ist. Ich persönlich kenne noch mehrere Kollegen, die hochqualifiziert sind und heute überlegen, ins Ausland zu gehen, um ihre Qualifikation, die
auch eine Halbwertzeit hat, entsprechend einzusetzen.
Deutschland ist mittlerweile - das ist auch schon gesagt worden - kein Einwanderungsland, sondern ein
Auswanderungsland. Da bilden sich Menschen ohne
staatliche oder betriebliche Hilfe weiter, und sie werden
trotzdem ignoriert. Ich kann es den jungen Leuten nicht
verdenken, wenn sie in Richtung Auswanderung denken.
Wenn wir Facharbeiter haben wollen, müssen wir den
Facharbeitern auch eine Chance geben.
({8})
Daneben gibt es noch Millionen von erwerbslosen
Menschen, die auf eine Chance warten, auch ausgebildet
zu werden. Gleichzeitig aber winkt die Bundesregierung
ihr Sparpaket mit massiven Einsparungen bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumenten durch.
Die Erwerbssituation in Deutschland befindet sich in
einer Schieflage. Ich gebe allen recht, die so darüber reden. Schuld daran ist eine verfehlte Arbeitsmarktpolitik,
die eher bereit ist, aus fähigen Beschäftigten Leiharbeitnehmer zu machen, als sie anständig zu bezahlen. Ihre
Arbeitsmarktpolitik macht Druck auf die Arbeitnehmer
und versucht, sie gegeneinander auszuspielen. Anstatt
junge und ältere Beschäftigte einzustellen, Frauen mit
Kindern zu unterstützen, Menschen mit Behinderung
eine Chance zu geben und nicht zuletzt den hier lebenden Migranten endlich ihre im Ausland erworbenen Abschlüsse anzuerkennen, werden nun wieder einmal internationale Fachkräfte gesucht.
({9})
Hauptsache, sie sind schneller und billiger als hier zu bekommen. Die Linke spielt da nicht mit. Die Menschen
dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir
brauchen keine Bewertung der Menschen nach Nützlichkeit.
({10})
Wir fordern freie Zugänge für alle Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer und den gleichen Lohn für gleiche
Arbeit - egal ob sie zu uns kommen oder schon bei uns
sind. Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn sowie gleichen Lohn für gleiche
Arbeit.
({11})
Vor allem brauchen wir eine Arbeitsmarktpolitik, die
den Menschen und nicht die Maximalprofite in den Mittelpunkt stellt.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich zitiere zunächst:
Der wachsende Fachkräftemangel ist in dieser Legislaturperiode das Megathema. „Er droht mittelfristig die gesunde wirtschaftliche Entwicklung
abzuwürgen und zum Treiber für neue Arbeitslosigkeit zu werden.“
Jetzt frage ich Sie mal: Von wem stammt wohl dieses Zitat?
({0})
- Das ist nicht von mir - Sie können jetzt nicht sagen:
Pothmer übertreibt mal wieder -, sondern das stammt
von Ihrer eigenen Arbeitsministerin Frau von der Leyen.
({1})
Ich finde, Frau von der Leyen hat recht. Sie werden ihr
doch jetzt den Applaus nicht verweigern.
Obwohl die Erkenntnis in dieser Regierung ganz offenbar da ist - mindestens in Teilen der Regierung -,
führt die Koalition hier eine richtige Geisterdebatte. Die
Union verweigert jede Einsicht in die gesellschaftlichen
Realitäten, und die FDP verleugnet sich.
({2})
Sie teilen hier voll und ganz das Konzept, das wir Ihnen
vorstellen, und gleichzeitig sagen Sie: Wir werden dem
nicht zustimmen. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der FDP, dann müssen Sie sich nicht wundern, dass
der gelbe Balken bei den Wahlumfragen sozusagen im
Nichts verschwindet.
Dabei ist eines doch wirklich längst klar: Es geht
nicht um ein Entweder-oder; es geht um ein Sowohl-alsauch.
({3})
Es geht auch um die Förderung Einheimischer. Sie dürfen nicht gegen Zuwanderer ausgespielt werden. Aber
was für eine Politik betreibt diese Bundesregierung? Sie
von der Bundesregierung betreiben nicht nur eine Politik
des Entweder-oder; Sie betreiben eine Politik des Wedernoch.
({4})
Sie sperren sich gegen eine notwendige und sinnvolle
Zuwanderung, und Sie tun nichts, aber auch gar nichts,
um Arbeitslosen tatsächlich die Chance zu geben, auf
die neu entstehenden Arbeitsplätze zu kommen.
({5})
Herr Bosbach sagte gerade, das sei jetzt die wichtigste
Aufgabe. Aber gleichzeitig kürzen Sie den Eingliederungstitel für Langzeitarbeitslose um 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
({6})
Wie soll denn dann die Eingliederung gelingen? Genau
in dem Moment, in dem das erste Mal die Arbeitsplätze
da sind, für die wir die Leute qualifizieren könnten, streichen Sie diesen Titel zusammen, berauben die Menschen
der Chancen und berauben die Wirtschaft der Chance,
weiter zu wachsen.
({7})
Aber auch die Potenziale der hier lebenden Menschen
mit Migrationshintergrund heben Sie nicht. Es gibt immer noch den Pizzaausfahrenden Ingenieur, und es gibt
immer noch die Ärztin, die als Putzfrau arbeitet. Dazu
sagt der Parlamentarische Staatssekretär Schröder: Wir
kümmern uns. - Ja, Sie kümmern sich. In dieser Regierung sind fünf Ministerien damit beschäftigt, sich diesem Thema zuzuwenden. Das bekommt dem Thema
ausdrücklich gar nicht.
({8})
Sie streiten sich wie die Kesselflicker, und in der Sache
bewegt sich nichts.
Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen: Der Fachkräftemangel fängt in dieser Bundesregierung an.
({9})
Ein Gesetzentwurf zur Anerkennung ausländischer Abschlüsse, Herr Schröder, wurde uns schon für das Jahr
2010 angekündigt.
({10})
Jetzt ist 2011, und es liegt immer noch kein Gesetzentwurf vor.
({11})
Sie kümmern sich, aber es passiert nichts. Hören Sie auf,
sich zu kümmern! Tun Sie endlich etwas!
({12})
Lassen Sie mich noch einen Punkt nennen. Das
Wachstum der Zukunft könnte weiblich sein. Wenn wir
die Potenziale nutzen würden, die in den hochqualifizierten Frauen stecken, dann wäre es möglich, dass
2,4 Millionen Frauen mehr auf dem Arbeitsmarkt tätig
werden. Sie könnten einen Beitrag leisten, auch zur Produktivität und zum wirtschaftlichen Wachstum. Wenn
wir, wie skandinavische Länder auch, die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf tatsächlich vorantreiben würden,
hätten wir da ein immenses Potenzial. Aber um das zu
erreichen, müssten wir natürlich auch die Kommunen
besser ausstatten. Sie rasieren die Kommunen und fordern gleichzeitig mehr Kinderbetreuungseinrichtungen.
Das funktioniert nicht.
({13})
Auch das Potenzial Älterer wird in Deutschland bei
weitem nicht genutzt. Es reicht aber nicht aus, einfach
die Rente mit 67 zu beschließen. Sie brauchen auch ein
Konzept, das es ermöglicht, die Älteren tatsächlich länger im Erwerbsleben zu halten. Auch da ist eine große
Leerstelle.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wenn wir nichts unternehmen, dann laufen wir sehenden
Auges auf das zu, was Frau von der Leyen immer ein
Horrorszenario genannt hat: auf einen exorbitanten
Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit. Das ist das zentrale Versagen Ihrer Politik.
Ich danke Ihnen.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl
für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Unbestritten ist, dass wir zwei Probleme haben. Wir haben zum Ersten ein demografisches Problem.
Die Gesellschaft wird - glücklicherweise - immer älter,
und die arbeitende Bevölkerung wird leider Gottes immer weniger. Das heißt, die Versorgung der Alten ist gefährdet. Zum Zweiten haben wir einen Fachkräftemangel, der - auch das ist erwiesen - zunimmt und nicht
abnimmt. In der Beschreibung dieser beiden Probleme
sind wir uns einig.
({0})
Bei der Lösung dieser Probleme gehen die Wege allerdings weit auseinander. In der Debatte war von den
Linken ein ganz einseitiger und wirtschaftsfeindlicher
Ansatz zu spüren. Um es auf den Punkt zu bringen: Die
Linken sind für eine Abschottung, sie wollen zum
Schutz der Arbeitslosen niemanden hineinlassen. Außerdem fordern sie eine Erhöhung der Löhne.
({1})
Auf der anderen Seite gibt es zu wirtschaftsfreundliche
Töne. Es wird so getan, als könne der Staat diese Probleme alleine lösen, indem er für Zuwanderung sorgt,
und die Wirtschaft müsse dann nur hochqualifizierte Arbeitnehmer einstellen.
Herr Veit, Sie als erfahrener Ausländerrechtler und
Gutmensch sind natürlich der alten Meinung: „Macht
hoch die Tür, die Tor macht weit! Lasst möglichst viele
Menschen herein! Die Qualifizierung überprüfen wir
später.“
({2})
Die Probleme sind aber sehr vielschichtig. Herr Kilic,
Sie sind ein Paradebeispiel für einen hochqualifizierten
Menschen, der sein Land verlassen hat und jetzt bei uns
ist.
({3})
Sie kommen aus einem Land, das durchaus Hochqualifizierte Ihres Schlages brauchen könnte.
({4})
Wir haben in Deutschland - das ist das Problem 3 Millionen Arbeitslose. Wir haben in der EU - wir müssen uns vorrangig um die dort lebenden Menschen kümmern - 20 Millionen Arbeitslose. Deshalb kann man
nicht einfach die Grenzen öffnen. Man muss sich sehr
kluge Gedanken machen, was die probaten Mittel der
Steuerung sind. Darüber sollten wir ruhig streiten.
({5})
Wenn die Deutschen oder die EU-Bürger, die hier leben, Vorrang haben sollen, dann müssen wir sehr sorgfältig auswählen, wer in unser Land herein darf und wer
nicht. Wenn wir das nicht tun, gefährden wir den sozialen Frieden. Der Herr Staatssekretär Schröder hat zu
Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht allein
Aufgabe des Staates, sondern auch Aufgabe der Wirtschaft ist, dafür zu sorgen, dass wir in diesem Bereich zu
Lösungen kommen. Sie von Rot-Grün hätten auch darauf kommen können, dass das nicht alleinige Aufgabe
des Staates ist.
Wir haben - das ist auch von Ihnen, Frau Pothmer,
schon angesprochen worden - ein großes Potenzial an
Arbeitslosen, an älteren Menschen, an Frauen und jungen Menschen, die nicht gut qualifiziert und ausgebildet
sind, um das wir uns erst einmal kümmern müssen, bevor wir die Grenzen öffnen.
({6})
An dieser Stelle haben Sie uns viele Vorwürfe gemacht.
Aber diese Vorwürfe richten sich auch gegen Ihre Partei,
die Grünen, weil Sie in den sieben Jahren Ihrer Regierung auf diesem Gebiet nicht viel bewirkt haben.
({7})
Das Problem zu erkennen, ist das eine, und das Problem
zu lösen, ist das andere. Mir fallen aus den sieben Jahren
keine Beispiele dafür ein, dass Sie erfolgreich an Lösungsvorschlägen gearbeitet hätten.
({8})
Ich möchte auf keinen Fall einer Abschottungspolitik
das Wort reden. Wir in Deutschland schotten uns nicht
ab. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache.
({9})
Einfältige Menschen behaupten allen Ernstes, man
müsse 66 000 Euro verdienen, um nach Deutschland hereinzukommen. Das ist - mit Verlaub - dummes Zeug.
({10})
Viele Menschen - im letzten Jahr waren es übrigens
25 000 - sind nach Deutschland gekommen, obwohl sie
weniger als 66 000 Euro verdienen. Wir haben eine sehr
kluge Differenzierung: Herausragende Wissenschaftler
sollen kommen. Lehrkräfte an Hochschulen sollen kommen, egal was sie verdienen. Führungskräfte mit hohem
Einkommen sollen kommen. Es gibt eine weitere Personengruppe, über deren Qualifikation wir nicht viel wissen, die aber sehr viel verdient, nämlich mehr als 66 000
Euro. Wenn die Wirtschaft für Arbeitskräfte aus dieser
Gruppe so viel Geld ausgeben will, dann müssen sie
nützlich und wichtig für den Betrieb und damit auch
nützlich und hilfreich für uns sein. Dann sollen sie kommen, egal welche Qualifikation sie haben.
Dieser Sonderfall von Menschen mit einem Verdienst
von über 66 000 Euro, den wir mit einer Niederlassungserlaubnis belohnen - dem höchsten Status, den man bekommen kann -, wird hier zur Norm erklärt. Es wird erzählt, dass man 66 000 Euro verdienen müsste und nur
dann kommen dürfte. Das - noch einmal - ist dummes
Zeug.
({11})
Lassen Sie mich einige Worte zur Vorrangprüfung sagen. Diejenigen, die weniger verdienen, die qualifiziert
sind und bei denen ein Arbeitgeber sagt: „Ich habe einen
Arbeitsplatz für ihn, bitte lasst ihn rein!“, unterliegen einer Vorrangprüfung. Ich kann nur von München berichten, wo ich mich mehrfach erkundigt habe. Die Arbeitsverwaltung da sagt: „Unsere Vorrangprüfungen dauern
maximal vier Wochen, und unsere Vorrangprüfung endet
zu über 90 Prozent positiv für den Arbeitgeber und für
den Drittstaatler.“
Es mag in Deutschland andere Fälle geben. Dann ist
es Aufgabe der Arbeitsverwaltung, da Abhilfe zu schaffen, aber nicht für uns als Gesetzgeber, Paragrafen zu ändern. Die Vorrangprüfung ist ein richtiges, wichtiges und
gutes Instrument.
({12})
Wenn es dann nötig sein sollte, irgendwelchen Arbeitsagenturen dazu zu verhelfen, dass sie etwas schneller arbeiten, dann kann man mit uns darüber reden, ob man
eine Zustimmungsfiktion einführt. Wenn alle Unterlagen
vom Betrieb bei der Arbeitsagentur angekommen sind,
tickt die Uhr. Wer zwei, drei oder vier Wochen lang
keine Antwort gibt, dem unterstellen wir die Zustimmung - eine Zustimmungsfiktion. Das kann man alles
machen. Das ist gar kein Problem.
({13})
- Machen wir das. Ebenso machen wir einige andere
Dinge, die uns wichtig sind. Wir wollen kein Lohndumping. Wir wollen nicht massenhaft Drittstaatler reinholen, damit der Lohn gedrückt werden kann.
({14})
Es ist nicht Aufgabe einer Christlich Demokratischen
und einer Christlich Sozialen Union, hier für sozialen
Unfrieden zu sorgen. Mit uns geht so etwas nicht.
({15})
Warum ist das Punktesystem, von dem die Grünen so
verliebt berichten,
({16})
kein gutes System? - Letztlich ist das Punktesystem ein
klassisch sozialistischer Zuteilungsansatz.
({17})
- Ja, natürlich. Das heißt, der Staat stellt fest, wofür man
Punkte bekommt und ab wie vielen Punkten man ins
Land darf. Das ist eigentlich ein klassisch sozialistischer
Denkansatz - Zuteilung!
Nein, wir knüpfen am konkreten Arbeitsplatz in der
Wirtschaft an. Wenn eine Firma einen Arbeitsplatz anbieten kann, dann schaut der Staat, ob es dafür einen
deutschen oder einen EU-Bürger gibt. Und wenn es keinen gibt, dann kommt der Drittstaatler rein. Das ist individuell, konkret und arbeitsplatzbezogen. Der Kollege
Bosbach hat es hervorragend dargestellt. Reden Sie einmal mit dem Zuwanderungsminister in Kanada.
({18})
Ich habe es getan und ihn gefragt: Was ist mit dem, der
die Punkte erfüllt hat, jetzt da ist und keinen Arbeitsplatz
hat? Das ist ja nicht arbeitsplatzbezogen, sondern kanadabezogen. Wer hilft dem? Der schläft unter der Brücke.
Der Staat hilft dem nicht. Machen Sie so etwas einmal in
Deutschland. Wer hier ist, bekommt alle Wohltaten dieses Staates. Darauf sind wir stolz. Wollen Sie so ein System nach Deutschland transferieren? Wir wollen es jedenfalls nicht.
Wir wollen auch nicht die soziale Kälte der Länder,
die das so machen: Wer keinen Arbeitsplatz hat, schläft
unter der Brücke. Das ist nicht unsere Politik.
({19})
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, auf
den wir sehr großen Wert legen. Ab dem 1. Mai dürfen
sehr viel mehr Menschen aus Osteuropa zu uns kommen
und bei uns arbeiten. Wir haben dann 200 Millionen Erwerbsfähige in Europa - 200 Millionen mit der genannten Zahl von 20 Millionen Arbeitslosen. Es ist unsere
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die 20 Millionen Arbeitslosen weniger werden. Es wurde schon auf Spanien und
andere Länder hingewiesen.
Lassen Sie mich zusammenfassen:
Erstens. Das hier lebende Potenzial an Arbeitskräften
besser nutzen - Junge, Alte, Frauen.
Zweitens. Abwanderung Hochqualifizierter ins Ausland stoppen.
({20})
Hochqualifizierte aus dem Ausland anwerben, Studenten
anwerben, Studenten, die hier ausgebildet worden sind,
in die Arbeitsverhältnisse bringen, und schließlich im
Ausland für qualifizierte Arbeitnehmer werben. Das ist
die Aufgabe Deutschlands. Den Rest muss die Wirtschaft erledigen. Das ist der Punkt, um den es uns geht.
({21})
Das Wort hat nun der Kollege Manfred Nink für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!
Deutschland diskutiert den Fachkräftemangel. Wir diskutieren heute das Thema Einwanderung von Fachkräften. Dabei ist bei den meisten Vorrednern unschwer zu
erkennen, dass Innenpolitiker hier die Federführung haben und in erster Linie Verfahren bezüglich der Zuwanderung im Blick haben. Ich möchte meine Ausführungen
deswegen mehr auf die arbeitsmarkt- und berufsbildungspolitischen Aspekte und mögliche Lösungsansätze
lenken.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, im Zuge des
wirtschaftlichen Aufschwungs und anderer Faktoren wie
der demografischen Entwicklung wird von verschiedenen Seiten ein Mangel an Fachkräften beklagt. Eine
Auswertung der Deutschen Industrie- und Handelskammer aus dem Jahr 2010 kommt zu dem Ergebnis, dass
derzeit 20 Prozent der Unternehmen generell und jedes
zweite Unternehmen zum Teil Probleme mit der Besetzung offener Stellen haben. Dabei wird darüber hinweggesehen - einige haben es schon erwähnt -, dass nach
wie vor 3 Millionen Bürgerinnen und Bürger arbeitslos
sind, davon ein Drittel länger als ein Jahr. Andere Veröffentlichungen besagen, dass 2009 bei den Ingenieurberufen circa 34 000 offenen Stellen rund 25 000 arbeitslose
Ingenieure gegenüberstanden. Der Verband Deutscher
Ingenieure nennt hierzu noch mehrere Tausend Absolventen mit Technikerausbildung. Fachkräftemangel?
Die genannte Berufsgruppe zählt zu den Fachkräften.
Also liegen möglicherweise doch andere Gründe vor.
Wir sollten uns deswegen hüten, den pauschalen Alarmrufen einiger Verbände nach mehr Potenzialeinwanderung leichtfertig zu folgen. Neutrale Untersuchungen des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, aber auch
des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
kommen ebenfalls zu einem differenzierteren Urteil. Sie
stellen fest, dass von einem allgemeinen Fachkräftemangel aktuell nicht gesprochen werden könne; vielmehr
unterschieden sich Engpässe nach einzelnen Berufsgruppen
und Regionen sowie nach kurz-, mittel- und langfristigem Bedarf.
Während in Zukunft mehr Fachkräfte im mittleren
Segment und Hochqualifizierte nachgefragt werden,
nimmt der Bedarf an Geringqualifizierten ab. Die demografische Entwicklung wird sich ebenfalls langfristig auf
den Arbeitsmarkt auswirken; auch das ist schon genannt
worden. Eine verantwortungsbewusste Politik zur Deckung des aktuellen und zukünftigen Fachkräftebedarfs
muss deshalb in der Tat differenziert und vorausschauend sein.
Da oft eine mangelnde Ausbildung durch die Unternehmen beklagt wird, ist der Fachkräftebedarf in Zukunft in erster Linie durch bessere Berufsausbildung zu
decken. Dieser Schritt hat für die SPD Vorrang vor der
weiteren Öffnung des Arbeitsmarkts für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus anderen Ländern.
({0})
Zwei Gründe sprechen dagegen. Erster Grund - auch
das wurde schon genannt -: Deutschland hat einen der
offensten Arbeitsmärkte für Akademiker weltweit. Seit
2009 können Hochqualifizierte weitgehend ohne Beschränkungen in Deutschland arbeiten. Es wird lediglich
überprüft, ob es geeignete Bewerber aus dem Binnenraum der EU gibt und ob die Arbeitskräfte einen für diesen Arbeitsplatz bei uns üblichen Verdienst erhalten
werden. Diese Möglichkeit wird in dem vorliegenden
Antrag wenig berücksichtigt.
Auch scheint mir der vorliegende Antrag ein weiterer
Versuch zu sein, frühere Anträge doch noch umsetzen zu
wollen; denn wenn man einen weiteren im thematischen
Zusammenhang zu sehenden Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen, die Bundestagsdrucksache 17/3039, „Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes“, betrachtet, wird das Ansinnen der Antragsteller
vielleicht deutlicher. Auch in der Begründung zum damaligen Antrag ging es im Wesentlichen um die Bekämpfung des Fachkräftemangels. Mit dem damaligen
Antrag wollte man seitens des Antragstellers die festgelegte Höhe des Gehalts für Hochqualifizierte von derzeit
66 000 Euro auf 40 000 Euro reduzieren, was damals im
Übrigen von der FDP abgelehnt wurde und heute als Ankündigung hier dargestellt worden ist.
Jetzt müsste man den Begriff Hochqualifizierte vielleicht einmal genauer definieren. Wir jedenfalls verstehen darunter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit
besonderen fachlichen Kenntnissen, Spezialisten oder
Personen, die leitende Führungsaufgaben übernehmen
können. Wir haben als Bundestagsfraktion den damaligen Antrag unter anderem deswegen nicht mitgetragen,
weil uns die Höhe der geforderten Gehaltssenkung willkürlich erschien und nur ein Aspekt der Gesamtthematik
betrachtet wurde. Auch barg der Antrag die Gefahr des
Lohndumpings und widersprach unserer Forderung nach
gutem Lohn für gute Arbeit. Nach der Rede des Kollegen Wolff von der FDP sollten sich die Grünen vielleicht
einmal überlegen, ob wir mit unserer damaligen Befürchtung nicht doch recht hatten.
Ein weiterer Grund - auch darauf wurde schon hingewiesen -: Dem vorliegenden Antrag fehlt völlig der Hinweis auf den erleichterten Zuzug von Fachkräften aus
dem Ausland, der bereits ab dem 1. Mai dieses Jahres
mit Arbeitnehmerfreizügigkeit für fast alle Mitgliedstaaten der EU die Möglichkeiten für die Gewinnung ausländischer Fachkräfte deutlich zunehmen lässt. Diese Arbeitnehmerfreizügigkeit bietet allen Angehörigen der
Europäischen Union neue Chancen. Sie bietet auch den
hiesigen Unternehmen die Chance, zusätzliche Fachkräfte zu gewinnen.
Wie kann man hier helfen? Wir alle wissen: Gerade
bei kleinen und mittelständischen Unternehmen mangelt
es aufgrund fehlender personeller und finanzieller
Ressourcen oft an einer mittel- und langfristigen Personalplanung. Diesen Unternehmen müssen wir mit Servicestellen, Beratungsangeboten und Unterstützungsleistungen helfen, eine langfristige Personalentwicklung zu
betreiben. Eine qualifizierte Beratung für kleine und
mittlere Unternehmen muss flächendeckend sichergestellt werden, damit der zukünftige Bedarf an Fachkräften richtig eingeschätzt und frühzeitig darauf reagiert
werden kann. Damit würde der Zugriff auf den deutschen Arbeitsmarkt erheblich erleichtert. Solche Möglichkeiten gilt es zuerst zu nutzen. Wir brauchen kein
neues System für die Einwanderung von Fachkräften.
Vielmehr geht es zunächst darum, vorhandene Ressourcen zu nutzen.
Wie können diese Voraussetzungen zukünftig geschaffen werden? Die vorhandenen Potenziale müssen
genutzt, die Erwerbsbeteiligung muss erhöht werden.
Mit der Nutzung der Potenziale der Menschen, die bereits in Deutschland leben, wird Vollbeschäftigung tatsächlich möglich. Die Möglichkeit eines beruflichen
Aufstiegs muss den Vorrang vor der Einwanderung von
Fachkräften haben. Dafür sind Verbesserungen notwendig. Hier ist die Berufsbildung zu nennen; denn der
Mangel an geeigneten Arbeitskräften mit klassischer Berufsausbildung beruht zum großen Teil darauf, dass nicht
genug ausgebildet wird. Hier stehen einige Forderungen
im Raum - Sie kennen sie sicherlich -; ich kann sie aus
Zeitgründen jetzt nicht wiederholen.
Das heißt also: Die Stärken der Erwerbstätigen müssen erkannt und ausgebaut werden. Wer bereits einen
qualifizierten Berufsabschluss hat, muss die Möglichkeit
zu Aufstiegsfortbildungen oder zum Hochschulzugang
bekommen. Die Bedingungen für ältere Fachkräfte müssen verbessert werden; flexible Arbeitszeiten und spezifische Weiterbildungsangebote sind notwendig. Weitere
Voraussetzungen sind attraktive Arbeitsplätze und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt.
Ein sich verstärkender Mangel an Fachkräften vor allen Dingen im Bereich Pflege und Erziehung beruht auf
vergleichsweise unattraktiven Arbeitsbedingungen, auf
Arbeitsplätzen ohne Zukunftsperspektive. Diese Arbeitsplätze müssen attraktiver werden. Man erreicht das
nicht mit Druck auf das Lohnniveau und mit einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Viele Unternehmen haben dies erkannt; sie stehen hier in der Verantwortung. Intelligente Arbeitszeitmodelle, vor allem für
Familien und ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sowie eine bessere Weiterbildungs- und Qualifizierungsberatung durch die Unternehmen selbst, damit die
Arbeitnehmer mit den beruflichen Anforderungen
Schritt halten können, sind für viele Unternehmen kein
Fremdwort.
Sicherlich brauchen wir auf bestimmten Berufsfeldern abgestimmte Fachkräfteoffensiven. Ich denke hier
beispielsweise an die MINT-Berufe. Wie eingangs erwähnt, sehen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, aktuell
grundsätzlich keinen Handlungsbedarf, neue Einwanderungsregelungen zu schaffen. Lassen Sie uns zunächst
Erfahrungen mit der neu geschaffenen Arbeitsnehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai sammeln.
({1})
Tatsache ist: Eine starke Wirtschaft braucht gut ausgebildete Menschen. Es ist die vorrangige Aufgabe im
Land, die Voraussetzungen für eine gute Ausbildung zu
schaffen, damit der zukünftige Bedarf an Fachkräften
gedeckt werden kann. Es gibt ein großes Potenzial in unserem Land; geben wir ihm eine Chance.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Martin Lindner.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren!
Ich möchte als Erstes dafür werben, hier kein künstliches
Gegeneinander zwischen der Qualifizierung einheimischer Arbeitskräfte auf der einen Seite und der benötigten Zuwanderung ausländischer Fachkräfte auf der anderen Seite zu schaffen; das bringt nichts. Wir brauchen
beides; wir werden ohne beides nicht auskommen. Da
können wir uns im Bundestag noch so viel Mühe geben
und persönliche Beiträge leisten: Ohne die Zuwanderung
qualifizierter Fachkräfte wird es nicht gehen.
Wenn wir eine seriöse Bestandsaufnahme vornehmen,
dann stellen wir fest, dass wir bisher Zuwanderer hatten,
die nicht in der Weise qualifiziert waren, wie wir uns das
vorstellen und wünschen. Die Menschen mit Migrationshintergrund bilden einen weit überproportionalen Anteil
der Gruppe der Erwerbslosen; sie bilden einen überproportional großen Anteil der Gruppe der Empfänger von
Sozialleistungen. Darüber müssen wir uns nicht wundern. Schauen Sie sich das Ausländerrecht an: Es ist ein
völliges Durcheinander von humanitärer Zuwanderung
auf der einen Seite und Zuwanderung von Menschen, die
hier ihr Glück machen wollen, auf der anderen Seite.
Das müssen wir dringend sortieren.
Wir haben ein System, das falsche Anreize schafft.
Wenn wir bedenken, dass eine Familie mit drei Kindern
hier eine Sozialleistung von etwas über 2 000 Euro pro
Monat bekommt - das ist der Betrag, den eine solche Familie in Ostanatolien für schwere körperliche Arbeit pro
Jahr bekommt -, dann können wir uns vorstellen, welche
Anreize wir setzen. Auf der anderen Seite machen wir es
Menschen, die gut ausgebildet und qualifiziert sind,
überproportional schwer, nach Deutschland zuzuwandern.
({0})
Es gibt hohe bürokratische Hürden. Wir behandeln Fachkräfte, Manager und andere in Ausländerbehörden teilweise so, als seien sie Bittsteller. Dies muss endlich in
Deutschland sortiert werden.
Auf der einen Seite haben wir die Einwanderung aus
humanitären Gründen.
({1})
Auf der anderen Seite muss für diejenigen, die aus wirtschaftlichen Gründen zuwandern, eine klare Geschäftsgrundlage geschaffen werden. Die heißt: Komm hierher,
mach dein Glück; aber Sozialunterstützung gibt es erst
einmal keine. Komm hierher, wir machen es dir einfach,
bring auch deine Familie mit. - Klar muss aber sein,
dass Zuwanderung in Arbeit stattfindet, dass Steuerzahler nach Deutschland kommen, aber nicht Steuergeldempfänger. Das muss die klare Direktive unserer Zuwanderungspolitik sein: keine Zuwanderung in Hartz IV.
({2})
Dafür müssen wir Fachkräften die Zuwanderung erleichtern. Es geht doch schon in den Schulen los. Wir
müssen für deutsche Schulen im Ausland werben. Dort
gibt es oft Sprachbarrieren, dort müssen die Grundlagen
für qualifizierte Zuwanderung gelegt werden. Wir müssen uns überlegen, ob wir an den großen deutschen
Universitäten die ingenieurwissenschaftlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Fächer auch in Englisch anbieten. Es gibt gerade von potenziellen Zuwanderern aus
dem asiatischen Raum aus sprachlichen Gründen eine
Zurückhaltung, die wir überwinden müssen.
Dann können wir die Zuwanderung über ein System
regeln. Sie können das Punktesystem nennen oder nicht;
das spielt gar keine Rolle. Die Kriterien für die Zuwanderung und die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft müssen aber sein: Ausbildung, Fachausbildung,
Sprachkenntnisse und auch - das finde ich - in Deutschland gezahlte Steuern. Das müssen die Grundlagen für
Zuwanderung sein. Wenn wir diese Grundlagen haben,
kommen wir dahin, dass wir attraktiv für die Richtigen
sind.
({3})
Dann vermeiden wir, dass wir zwar hohe Zuwanderung
haben, aber uns qualifizierte Menschen mit und ohne
Migrationshintergrund - das ist in den letzten Jahren geschehen - wieder den Rücken kehren und diejenigen zu9400
Dr. Martin Lindner ({4})
rückbleiben, die in den Argen stehen. Letzteres kann
nicht sinnvoll sein.
Deswegen meine Bitte auch an die Koalitionspartner:
Wir müssen versuchen, eine Systematik zu finden und
das Zuwanderungsrecht neu zu sortieren. Der Kollege
Bosbach hat recht, wenn er sagt, dass man nicht einfach
ein Punktesystem aufpfropfen kann, ohne diese Systematik geschaffen zu haben. Deshalb können wir dem
Antrag der Grünen nicht zustimmen. Er hat den richtigen
Ansatz und geht in die richtige Richtung; aber Sie lösen
die anderen Probleme nicht und beseitigen die Unsystematik im deutschen Ausländerrecht nicht. Sie fangen
schon wieder an - Kollege Wolff hat es thematisiert -,
Ihre eigenen Vorstellungen aufzuweichen und Ausnahmen zu schaffen. Das ist das Problem des bisherigen
Ausländerrechts. An sich führt der Zugriff auf die sozialen Sicherungssysteme zur Ausweisung. Durch die ganzen Ausnahmen, die auch Sie wieder schaffen wollen,
kreieren Sie ein wunderbares Beschäftigungsprogramm
für Rechtsanwälte,
({5})
aber Sie werden nie eine klare Regelung erreichen, die
die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt garantiert und
die in die Sozialsysteme verhindert.
({6})
Das aber muss unsere Zielrichtung sein. Dazu brauchen
wir neue Ideen und eine ganz neue Stoßrichtung. Diese
Regelung muss auch dazu dienen, dass Deutschland
seine wirtschaftliche Prosperität erhalten kann.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Swen Schulz
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir
über Fachkräfte und über Zuwanderung reden, dann
müssen wir mindestens genauso intensiv darüber sprechen, wie wir die Menschen, die bereits hier leben, besser fördern und ihre Potenziale besser nutzen können.
({0})
Diesen Gedanken enthält der Antrag der Grünen. So hat
auch die SPD immer agiert. Es geht um eine Balance
zwischen Zuwanderung und Investition in Bildung. So
haben wir unter der Regierung Schröder zum Beispiel
das Zuwanderungsgesetz gemacht und gleichzeitig
Ganztagsschulen gefördert. In der Großen Koalition hat
unser damaliger Arbeitsminister, Olaf Scholz, den Zuzug von Fachkräften erleichtert und gleichzeitig die
Qualifizierung von Jugendlichen und Arbeitsuchenden
verbessert.
Dieses Prinzip der Ausgewogenheit von Zuwanderung und Bildung gilt in der jetzigen Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP leider nicht mehr.
({1})
Ganz im Gegenteil: Der Kollege Lindner - ich sehe ihn
leider nicht; er scheint den Saal schon wieder verlassen
zu haben - und andere vor ihm haben gesagt, wir
brauchten beides, Zuwanderung und Bildung. Doch das,
was diese Koalition praktiziert, ist ein entschiedenes Weder-noch. Sie streiten über die Zuwanderung, bekommen
aber nichts auf die Reihe, und Sie kümmern sich nicht
um das Potenzial der Menschen, die hier leben.
({2})
Das will ich an einigen Beispielen zeigen. Wer den
Fachkräftemangel beklagt, der muss sich intensiv um die
Bildung, die Ausbildung und die Qualifizierung der Jugendlichen in Deutschland kümmern. Die Situation ist
schlimm: Jährlich verlassen etwa 65 000 Jugendliche die
Schulen ohne Abschluss. 1,5 Millionen Jugendliche sind
ohne Berufsausbildung. In diesem Bereich muss viel
mehr investiert werden. Der damalige Arbeitsminister
Olaf Scholz hat das Recht auf Nachholen eines Schulabschlusses verankert. Wir wollen Menschen eine zweite
Chance geben. Wir wollen ein entsprechendes Förderprogramm. Unser Ziel ist: Keiner darf ohne Abschluss
bleiben; keiner darf ohne Ausbildung bleiben. Da müssen wir hin.
({3})
Doch, sehr geehrter Herr Staatssekretär Schröder, die
Koalition streicht die Mittel für die Förderung im Arbeitsbereich zusammen. Bis 2014 sollen dort sage und
schreibe 16 Milliarden Euro eingespart werden.
({4})
Die Förderung soll dem Belieben der Agentur überlassen
werden. Demnach soll nur noch nach Kassenlage finanziert werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren
von der Regierungskoalition, es passt nicht zusammen,
dass Sie die Mittel für Qualifizierung in Deutschland zusammenstreichen, aber den Fachkräftemangel beklagen.
Das merken die Bürgerinnen und Bürger, und wir werden sie auch immer wieder darauf hinweisen.
({5})
Schauen wir uns die Schulen an. Wir als SPD haben
ein Ganztagsschulprogramm auf den Weg gebracht. Was
machen Sie? Sie lehnen unsere Initiativen rundweg ab.
Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion über Bildungsteilhabe. Wir wollen erreichen, dass an allen Schulen Sozialarbeiter eingesetzt werden. Das wäre ein erster
Schritt zu einer besseren Unterstützung und Förderung
von Schülerinnen und Schülern.
Swen Schulz ({6})
({7})
Was macht die zuständige Ministerin von der Leyen? Sie
zögert, sie ziert sich, sie taktiert und sucht Ausflüchte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, investieren Sie doch
einmal in diesem Bereich. Das wäre ein Beitrag. Das
wäre etwas anderes als die Ministeuersenkung, die Sie
gestern beschlossen haben. Das wäre etwas, wodurch
wir wirklich vorankämen.
({8})
Wer über den Fachkräftemangel redet, der muss sich
auch einmal die vorschulische Bildung und Betreuung
anschauen. Sie ist für Eltern, vor allem für Alleinerziehende, von großer Bedeutung, damit sie überhaupt arbeiten können.
({9})
Natürlich werden im vorschulischen Bereich Grundlagen für die Bildung und damit für die Fachkräfte von
morgen gelegt. Wir von der SPD haben eine engagierte
Politik für eine bessere und eine weiter gefasste vorschulische Bildung und Betreuung gemacht.
({10})
Diese Koalition hingegen macht nichts.
Seitdem die SPD aus der Regierungsverantwortung
- leider - raus ist, passiert auf diesem Gebiet überhaupt
nichts mehr. Die Arbeit ist eingestellt worden, mit einer
Ausnahme - ein Punkt ist insbesondere der CDU/CSU
wichtig -, dem Betreuungsgeld. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: In einer Zeit, in der
wir über Bildungsprobleme und Fachkräftemangel reden, wollen Sie Eltern Geld dafür geben, eine Prämie dafür auszahlen, dass sie
({11})
ihre Kinder nicht in eine Bildungseinrichtung schicken.
Das ist Wahnsinn.
({12})
Dann ist da noch die Sache mit der Anerkennung der
Abschlüsse; dieses Thema spielte auch in dieser Debatte
teilweise eine Rolle. In Deutschland leben bereits Zugewanderte, die qualifiziert sind, deren Qualifikation aber
nicht anerkannt wird. Es gibt in Deutschland 300 000 bis
500 000 Fachkräfte, die nicht adäquat eingesetzt werden.
Die SPD hatte mit ihrem Arbeitsminister Olaf Scholz bereits einen Vorschlag für ein Anerkennungsgesetz vorgelegt. Damals wollte die CDU/CSU davon überhaupt
nichts wissen. Jetzt steht es sogar in der Koalitionsvereinbarung. Wunderbar! Es stellt sich die Frage: Was ist
eigentlich passiert?
Ich habe ein paar Unterlagen mitgebracht. Am
9. Dezember 2009 hat Staatsministerin Böhmer gesagt:
Das Bundeskabinett hat grünes Licht für eine gesetzliche Regelung gegeben.
Wunderbar! In einem Zeitungsinterview sagte sie: Das
Problem brennt uns wirklich auf den Nägeln. Daher wollen und müssen wir 2010 zu Ergebnissen im Gesetzgebungsverfahren kommen. - Dann ist erst einmal gar
nichts passiert, sodass ich bei der Bundesregierung nachgefragt habe. Auf meine Frage hat mir Staatssekretär
Rachel, der auch anwesend ist, am 7. Juli 2010 geantwortet:
Nach derzeitigem Planungsstand soll ein … Referentenentwurf im auslaufenden Sommer 2010 vorgelegt werden.
Am 7. Oktober 2010 - man könnte sagen: das ist auslaufender Sommer - hat Staatsministerin Böhmer im Deutschen Bundestag gesagt: Wir brauchen dieses Gesetz
schnell. Es soll bis Dezember vorliegen.
({13})
Bis heute liegt gar nichts vor, weder ein Referentenentwurf noch ein Gesetzentwurf noch ein Gesetz.
({14})
Gestern haben wir hier im Deutschen Bundestag Innenminister de Maizière gefragt: Wann kommt der Gesetzentwurf? Er wusste es nicht. Er konnte uns keine Antwort geben. Was sind Sie für eine Chaostruppe?
({15})
Wenn Sie nur halb so viel Energie in die Lösung dieses
Problems investieren würden wie in Ihren Streit um Zuwanderung, dann kämen wir tatsächlich weiter.
Herzlichen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Zunächst kann man, wie ich glaube, in der Tat
feststellen, dass wir uns hier im Haus in der Analyse
weitestgehend einig sind. Die Analyse lässt sich auch
mit Adam Riese nicht betrügen. Die demografische Entwicklung ist, wie sie ist. All die Kinder, die in 15 oder
16 Jahren keinen Ausbildungsplatz suchen werden, sind
schon heute nicht geboren. Deshalb haben wir - das sagen uns die Zahlen - bis 2050 einen drastischen Rückgang des Erwerbspotenzials, insbesondere was die Zahl
der Erwerbstätigen anbelangt, zu verzeichnen. Dabei
geht es um eine Größenordnung von 5 bis 8 Millionen.
Dies kann in Tateinheit mit dem Fachkräftemangel
- darauf ist von verschiedenen Rednern schon eingegangen worden -, wie mir Professor Brücker vom IAB dieser Tage in einem Gespräch gesagt hat, zu ähnlichen
Limitierungen der Volkswirtschaft führen wie in der
Wirtschafts- und Finanzkrise.
({0})
Das bedeutet, dass man dieses Thema nicht nebenher behandeln kann und es kein Wohlfühlthema ist, sondern
dass es für das zukünftige Wohl und Wehe der deutschen
Volkswirtschaft und dieses Landes von entscheidender
Bedeutung ist.
({1})
Ich glaube, es ist notwendig und richtig, dass wir uns
in der gebotenen Tiefe und mit der gebotenen Sorgfalt
mit diesem Thema auseinandersetzen. Es ist schade,
wenn suggeriert wird, wir brauchten nur dem Antrag der
Grünen zur Einführung eines Punktesystems zuzustimmen oder an einer anderen Stellschraube zu drehen, und
dann werde alles gut. Das ist mit Sicherheit nicht der
Fall.
({2})
Wir brauchen eine umfassende Antwort, eine Gesamtstrategie zur Bewältigung der Herausforderungen.
Ich differenziere einmal zwischen dem Pflichtprogramm und der Kür. Was zum Pflichtprogramm gehört,
ist eindeutig - dazu sind wir gegenüber den Bürgerinnen
und Bürgern verpflichtet -: Erst einmal müssen wir das
Erwerbspotenzial in Deutschland optimal ausnutzen und
erschließen. Hier sind wir bisher nicht ganz untätig gewesen. Es sind richtige Wege eingeschlagen worden, die
es konsequent weiter zu beschreiten gilt.
Als ersten Schritt nenne ich die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung insbesondere der Älteren. Mit den
Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren ergriffen
wurden und die in die richtige Richtung zielten, ist erreicht worden, dass die Erwerbsbeteiligung der Älteren,
der 55- bis 64-Jährigen, in den letzten acht Jahren um
fast 20 Prozentpunkte gestiegen ist, von rund 38 Prozent
auf 58 Prozent. Dies müssen wir konsequent fortführen.
Wir dürfen die Rente mit 67 oder andere Maßnahmen
nicht rückgängig machen. Das Gegenteil ist notwendig:
Wir müssen das Erwerbspotenzial der Älteren für uns erschließen.
({3})
Wenn sie gesund, leistungswillig und -fähig sind, dann
müssen wir das nutzen. Es gibt dazu eine Berechnung,
die besagt, dass wir es allein mit dieser Maßnahme,
wenn wir sie konsequent genug umsetzen, schaffen, den
Rückgang des Erwerbspotenzials aufgrund der demografischen Entwicklung bis 2025 - nicht bis 2050 - auszugleichen. Das heißt, damit könnten wir das Erwerbsvolumen, das für die Volkswirtschaft erschlossen werden
kann, stabilisieren. Insofern müssen wir diesen Weg weiter gehen.
Es ist schon angesprochen worden - ich glaube, auch
da gibt es Einigkeit -, dass die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf weiter verbessert werden muss. Da sind die
Weichen richtig gestellt. Wir können es uns nicht mehr
leisten, insbesondere gut ausgebildete Frauen aus dem
Arbeitsprozess auszuschließen, sie zu verlieren und den
Kontakt zu ihnen in der Erziehungsphase nicht mehr zu
haben.
Wir müssen auch auf dem Ausbildungsmarkt den Gezeitenwechsel konsequent vorantreiben. Das haben wir
mit der veränderten Schwerpunktsetzung im Ausbildungspakt getan, den wir im letzten Jahr beschlossen haben. Bisher war es so, dass es für Hunderttausende Ausbildungswillige darum ging, Ausbildungsplätze zu
finden. Zukünftig wird es andersherum sein. Da wird
man hinter ihnen her rennen, weil wir weniger Ausbildungswillige und -fähige haben, als Ausbildungsplätze
in der deutschen Wirtschaft zur Erhaltung des Fachkräftepotenzials notwendig sind.
Deshalb müssen wir sehr schnell die Problemfälle angehen. Das sind diejenigen, bei denen wir noch nicht so
erfolgreich sind, die Mühseligen und Beladenen ohne
Abschluss, ohne Schulabschluss und ohne Berufsabschluss, häufig mit Migrationshintergrund. Wir müssen
sie bereits an den Schulen abholen und für uns erschließen. Da muss deutlich mehr gemacht werden. Das gehört
zu den Pflichtaufgaben, die wir auf jeden Fall erledigen
müssen. Aber wir werden natürlich nicht jeden ohne
Schulabschluss und ohne Berufsabschluss zum Luft- und
Raumfahrtingenieur weiterbilden können. Deshalb brauchen wir mit Sicherheit weitere Instrumente.
Bei den Erläuterungen des Parlamentarischen Staatssekretärs Schröder hat der Kollege Kilic gefragt: Warum
kommen denn so wenige Wissenschaftler zu uns, wenn
sie schon heute kommen könnten? Das liegt nicht nur an
den gesetzlichen Rahmenbedingungen. Das liegt auch an
der Sprache, weil manche lieber ins englischsprachige
Ausland gehen. Es liegt auch an den Verdiensten, weil
die, die gut sind, in Deutschland nicht so viel verdienen.
Vielleicht liegt es aber auch an der mangelnden Willkommenskultur in Deutschland, an fehlenden internationalen Schulen und sonstigen Rahmenbedingungen. Es
gibt nicht nur einen Grund; die Gründe sind vielfältig.
Vielleicht liegt es auch daran, wie wir mit Technik umgehen. Glauben Sie, dass die Besten im Bereich Gentechnologie nach Deutschland kommen, wenn wir das
Punktesystem einführen? Das glaube ich nicht. Sie wollen das ja auch gar nicht. Die Besten in der Kerntechnik
haben wir schon verloren - da waren wir einmal Weltspitze -; sie werden nicht mehr nach Deutschland zurückkommen.
({4})
Die Gründe sind insofern vielschichtig. Wir müssen uns
genau anschauen, was wir machen.
Mit Blick auf die Uhr muss ich leider schon zum
Ende meiner Rede kommen. Ich glaube, dass wir sowohl
das Pflichtprogramm als auch die Kür absolvieren müssen. Wir müssen uns sehr genau anschauen, welche
Fachpotenziale wir brauchen. Ich glaube, wir sollten die
Verknüpfung mit Arbeit nicht lösen - Kollege Uhl hat
das vorhin ausgeführt -; denn sonst haben wir vielleicht
nur eine Zuwanderung in die Sozialsysteme. Sie können
sicher sein: Diese Koalition ist auch in dieser Frage
handlungsfähig und wird eine Lösung erarbeiten, die die
Herausforderungen für die Menschen und die Chancen
für die Wirtschaft entsprechend optimiert. Wir müssen
die Probleme, über deren Lösung wir uns einig sind, im
Rahmen einer Gesamtstrategie lösen
({5})
und die Wachstumshemmnisse in Deutschland, wie wir
es heute Morgen beim Jahreswirtschaftsbericht besprochen haben, weiter abbauen.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Albert Rupprecht für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte
Herren! Die Debatte um das Punktesystem ist in der Tat
sehr symbolträchtig. Ich finde, es ist eine übersteigerte
und verengte Debatte, die für Zeitungsüberschriften gut
ist, uns aber aufgrund der Breite und Vielschichtigkeit
des Themas Fachkräftemangel leider Gottes nicht wirklich weiterhilft.
Noch einmal zur Prioritätensetzung - es ist mehrfach
gesagt worden, dass das für die Unionsfraktion die
Grundlage ist -: An erster Stelle steht, das nationale
Potenzial auszuschöpfen. Hier gibt es noch viel zu tun
und viel Potenzial zu heben.
({0})
Zum Zweiten geht es darum, die Abwanderung unserer
gut ausgebildeten Deutschen zu stoppen. Erst an dritter
Stelle kommt die Zuwanderung der besten Köpfe aus
dem Ausland. Hier sind in der Tat punktuelle Verbesserungen im Ausländerrecht notwendig, aber es braucht
keinen grundsätzlichen, radikalen Systemwechsel.
({1})
Zum ersten Punkt, zur Ausschöpfung des nationalen
Potenzials. Ausbildung, Qualifizierung und Bildung unserer Bevölkerung haben die höchste Priorität. Herr Kollege Schulz, mit Verlaub gesagt: Das, was Sie hier erzählt haben, gehörte schlichtweg in eine Märchenstunde.
Gemessen an 2005, als wir von Rot-Grün die Verantwortung übernommen haben, steigern wir den Bildungshaushalt auf Bundesebene um sage und schreibe 74 Prozent. Das ist unsere Prioritätensetzung.
({2})
Rot-Grün hat geredet, und wir handeln.
({3})
Herr Schulz, allein den Etat für die Studienfinanzierung,
von der Sie ständig reden, haben wir gegenüber dem
Endzeitpunkt von Rot-Grün bis heute um 53 Prozent gesteigert, und obwohl es nicht unsere originäre Aufgabe
ist, unterstützen wir die Hochschulpolitik der Länder mit
sage und schreibe 6 Milliarden Euro. Das ist unsere Prioritätensetzung in der Bildung.
({4})
Die Erfolge lassen sich sehen: Mit 46 Prozent eines Jahrganges, die an eine Hochschule gegangen sind, haben
wir die höchste Quote erreicht, die es je gab. Das ist eine
dramatische positive Steigerung und bedeutet mehr
Know-how und mehr Qualifizierung für unsere jungen
Menschen.
PISA hat gezeigt, dass Deutschland durch viele Anstrengungen beim Lesen, beim Rechnen und bei den Naturwissenschaften Schritt für Schritt wieder an die
Weltspitze zurückkehrt.
({5})
Es wurde im Übrigen auch bestätigt, dass die Ergebnisse
der Bildungspolitik in den Ländern Bayern, BadenWürttemberg und Sachsen meilenweit besser sind als in
den SPD-Ländern. Wir können gerne über Bildungspolitik auf Bundesebene reden; hier tun wir vieles. Es ist
aber auch notwendig, die Diskussion darüber zu führen,
was in den einzelnen Ländern getan wird und welche
Modelle wirklich erfolgreich sind. Es ist eindeutig, dass
die unionsgeführte Bildungspolitik wesentlich erfolgreicher ist.
({6})
Es geht an allererster Stelle um eine gute Politik, um
die Stärken und die Fähigkeiten der Menschen in
Deutschland zur Geltung zu bringen. Sie haben die Zahl
erwähnt: 2,7 Millionen Deutsche sind ohne Schulabschluss. Das ist der eigentliche Skandal. Ich sage aber
auch: Das SPD-geführte Bundesland Brandenburg hat
eine doppelt so hohe Schulabbrecherquote wie beispielsweise die Länder Baden-Württemberg und Bayern.
({7})
Das ist der Unterschied. An den Ergebnissen zeigt sich
letztendlich, welche Konzepte vernünftig sind, welche
zu Erfolgen führen und welche nicht.
({8})
Albert Rupprecht ({9})
Wir geben uns damit aber nicht zufrieden. Wir stemmen uns mit aller Kraft gegen die Tatsache, dass bis zu
20 Prozent unserer Kinder durchs Raster fallen. Deswegen werden wir die Länder durch Bildungsketten - dafür
haben wir in diesem Jahr 100 Millionen Euro im Haushalt eingestellt - und viele andere Maßnahmen bei ihrer
originären Aufgabe unterstützen. Wir geben hier vonseiten des Bundes erheblich Gas.
Wir sorgen dafür, dass die Berufsabschlüsse der in
Deutschland lebenden Ausländer anerkannt werden.
({10})
Man kann gerne darüber reden, ob Dezember, Januar,
Februar oder März der richtige Zeitpunkt dafür ist; aber
das ist nicht die entscheidende Debatte. Entscheidend ist,
dass wir darüber in dieser Legislaturperiode beschließen.
Das ist ein hochkomplexes Thema und muss mit hoher
Qualität umgesetzt werden.
({11})
- Mit Verlaub gesagt: Sie hatten elf Jahre Zeit und haben
nichts gemacht.
({12})
Wir werden es machen. Ob das im Februar oder im März
geschieht, ist nicht entscheidend. Es geht darum, hier für
eine hohe Qualität zu sorgen.
Zum Zweiten. Wir müssen die Abwanderung unserer
heimischen Leistungsträger stoppen. Es ist widersinnig,
wenn unsere teuer ausgebildeten Ärzte in die Schweiz
oder nach England gehen, weil wir sie aus dem Land
vertreiben, und wir dann über ein Punktesystem Ärzte
aus Russland und Afrika, die dort dringend gebraucht
werden, nach Deutschland holen. Das ist absurd und widersprüchlich.
Deswegen ist es in der Tat richtig - darüber muss
auch debattiert werden -: Wir brauchen Konditionen,
Arbeitsbedingungen, Löhne sowie Abgaben- und Steuerstrukturen, mit denen Deutschland auch in Zukunft für
die Leistungsträger attraktiv ist. Daran mangelt es zurzeit. Das ist in der Tat ein Riesenproblem. Daran müssen
wir arbeiten.
({13})
Zum Dritten. Wir brauchen auch Leistungsträger aus
dem Ausland und ein Stück mehr Willkommenskultur.
Das ist richtig. Es gibt einen weltweiten Wettbewerb um
die besten Köpfe. Das haben wir im Forschungsbereich
seit 2005, als Annette Schavan Ministerin wurde, präzise
und konkret angepackt, und wir haben bereits Erfolge erzielt. Über den DAAD, die Alexander-von-HumboldtStiftung und andere Einrichtungen holen wir Schritt für
Schritt top ausgebildete, hochqualifizierte Wissenschaftler nach Deutschland. Wir sind in diesem Bereich wieder
wettbewerbsfähig. Das kostet Geld und erfordert Mühe
und Anstrengung, aber es ist erfolgreich.
({14})
- Das ist richtig. Aber all das, was ich gerade aufgeführt
habe, ist im Grundsatz schon mit dem bestehenden Ausländerrecht ohne Probleme möglich.
Trotzdem müssen wir - auch das ist richtig - das Ausländerrecht punktuell nachbessern. Wir müssen es beispielsweise in folgendem Punkt nachbessern: Wenn nur
6 000 von 260 000 ausländischen Studenten in Deutschland nach ihrem Abschluss hierbleiben, dann ist das
ohne Zweifel ein schlechtes Ergebnis. Das Ausländerrecht weist in der Tat in diesem Punkt Barrieren auf, die
zu diesem schlechten Ergebnis beitragen. Deswegen haben wir in der Unionsfraktion vereinbart, dass wir in diesem Punkt nachjustieren und das Ausländerrecht punktuell ändern wollen, weil wir die jungen Menschen, die
in Deutschland ausgebildet wurden oder studiert haben
und die deutsche Sprache beherrschen, im Land behalten
wollen.
Wir brauchen punktuelle Änderungen des Ausländerrechts. Das ist richtig. Wir brauchen aber keinen grundsätzlichen Systemwechsel. Es geht in allererster Linie
darum, die Kräfte zu mobilisieren, die wir im Land haben. Da ist in der Tat ein Riesenpotenzial gegeben.
Herzlichen Dank.
({15})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max
Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Der Antrag der Grünen, der unter dem Deckmantel vorgelegt wurde, dem Fachkräftemangel in Deutschland
entgegenzuwirken, ist meines Erachtens nur ein verdeckter Versuch, die Einwanderung nach Deutschland
insgesamt zu verstärken.
({0})
Das ist der Hintergrund. Es geht nicht um den Fachkräftemangel - um den haben sich die Grünen in der Regel nie großartig gekümmert -, sondern darum, ihren eigenen parteipolitischen Vorstellungen etwas Nachdruck
zu verleihen.
({1})
Unter diesem Gesichtspunkt werte ich auch diesen Antrag.
Auch wenn die prognostizierten Zahlen richtig sind
und die Bevölkerungszahl in Deutschland abnehmen
wird, ist es für uns, glaube ich, entscheidend, dass die
demografischen Probleme im Inland gelöst werden müsMax Straubinger
sen. Sie können nicht mit vermehrter und vor allen Dingen zügelloser Zuwanderung bewältigt werden. Ich bin
überzeugt: Dadurch werden nur mehr Probleme in unserem Land entstehen, aber keine Probleme gelöst werden.
({2})
Ein weiterer Punkt ist die Sorge um unseren Industriestandort und die Frage, ob wir den Fachkräftebedarf
der Wirtschaft decken können, die sicherlich eine weitere Erleichterung der Zuzugsmöglichkeiten fordert.
Trotzdem möchte ich voranstellen: Wir haben 3 Millionen Arbeitslose. Das sind zwar 2 Millionen weniger als
zur rot-grünen Regierungszeit, aber das lässt uns nicht
auf diesen Erfolgen ausruhen. Wir wollen zuerst die bei
uns arbeitslos gemeldeten Menschen in Brot und Erwerbsarbeit bringen.
({3})
Es ist bedeutsam, dass diesem Vorrang gegeben wird,
bevor Zuwanderung erfolgt und Zuwanderer in Konkurrenz zu den in unserem Land arbeitslos gemeldeten qualifizierten Menschen treten.
Für mich ist auch folgende Frage entscheidend: Wie
viele Menschen brauchen wir? Wie viele Fachkräfte benötigen wir? Der Kollege Bosbach hat bereits darauf
hingewiesen, dass es einmal die Prognose gab, wonach
wir 200 000 IT-Kräfte brauchen. Diese Zahl wurde dann
auf 100 000 IT-Kräfte reduziert. Die damalige Bundesregierung hat 20 000 Greencards ausgestellt. Glatte
10 000 wurden tatsächlich in Anspruch genommen. Das
zeigt sehr deutlich: Die Ansprüche, die die Wirtschaft
stellt, und die Realitäten klaffen weit auseinander.
Es ist sehr eindrucksvoll, wenn es heute in Prognosen
heißt, 35 000 Ingenieurstellen könnten nicht besetzt werden, weil es nicht genügend Fachkräfte gebe. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, das von der Programmatik her den Unionsparteien nicht unbedingt
nahesteht, hat eine bemerkenswerte Statistik veröffentlicht. Wenn man sich die „normalen“ Vergleichszahlen,
die dort niedergelegt sind, zu Gemüte führt, stellt man
Folgendes fest: Im Oktober 2010 waren 5 250 Maschinen- und Fahrzeugbauingenieure arbeitslos gemeldet.
({4})
- Das Alter darf doch nicht als Kriterium angeführt werden, wenn Stellen zu besetzen sind. Sie haben ja Ansprüche! Das ist ja noch schöner.
({5})
Die Zahl der tatsächlich als offen gemeldeten Stellen
lag in diesem Bereich bei 3 366. Im Oktober 2010 waren
des Weiteren 3 490 Elektroingenieure arbeitslos gemeldet. Die Zahl der tatsächlich als offen gemeldeten Stellen
lag bei 2 159. 6 317 Architekten und Bauingenieure waren im Oktober 2010 arbeitslos gemeldet. Dem standen
1 734 offene Stellen gegenüber. 2 657 Chemiker und
Chemieingenieure waren arbeitslos gemeldet. Dem standen 288 offene Stellen gegenüber.
({6})
1 683 Physiker, Physikingenieure und Mathematiker waren im Oktober 2010 arbeitslos gemeldet. Dem standen
262 offene Stellen gegenüber. Das ist die Realität. Wenn
die Unternehmen sagen: „Wir melden nicht alle offenen
Stellen“, dann kann ich nur sagen, dass sie alle offenen
Stellen melden sollten, um damit den tatsächlichen Arbeitskräftebedarf zu untermauern.
({7})
Hinzu kommt eine verfehlte Bildungspolitik. Sie alle
von der linken Seite streben immer die Akademisierung
der verschiedensten Berufe an und qualifizieren einige
Bundesländer, insbesondere Bayern, mit dem Hinweis
ab, dass diese die geringsten Abiturientenquoten aufzuweisen hätten. Aber aus der oben genannten Statistik
geht auch hervor, dass im Oktober 2010 zum Beispiel
12 280 arbeitslosen Elektromonteuren und -installateuren 17 054 offene Stellen gegenüberstanden. Das zeigt
sehr deutlich: Nur berufliche Bildung und akademische
Bildung zusammen können die Probleme auf dem Arbeitsmarkt lösen. Dazu sind wir aufgefordert und nicht
dazu, mehr Zuzugsregelungen zu schaffen.
({8})
Zum geltenden Recht. Ich darf aus der FAZ zitieren,
in der es unter der schönen Überschrift „Der offenste Arbeitsmarkt für Akademiker“ heißt:
Deutschland hat den offensten Arbeitsmarkt für
akademisch qualifizierte Arbeitskräfte. Seit dem
Beginn des Jahres 2009 können Hochqualifizierte
weitgehend ohne große Beschränkungen freie Arbeitsplätze besetzen.
Weiter heißt es:
Auch wer außerhalb der EU ein Hochschulstudium
absolviert hat, darf in Deutschland arbeiten.
Zum Schluss noch eine Überschrift:
Die Beitragsbemessungsgrenze als Einkommensgrenze ist plausibel.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Wer hat dies niedergeschrieben? Was glauben Sie?
({0})
Das war der ehemalige Bundesarbeitsminister Olaf
Scholz. Die SPD muss erst noch in ihren eigenen Reihen
darüber philosophieren, was sie in dieser Frage überhaupt will, weil dies konträr zu den Aussagen des Kollegen Veit und nachfolgender Redner steht. Deshalb ist die
Bewältigung des Fachkräftemangels bei CDU, CSU und
FDP bestens aufgehoben.
Ich bedanke mich bei der Präsidentin.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der
Drucksache 17/3862 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich darf darauf hinweisen, dass wir jetzt einige Abstimmungen haben.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 sowie Zusatzpunkt 5 a und b auf:
26 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 17/4231 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Gesundheit
ZP 5 a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das ungarische Mediengesetz - Europäische
Grundwerte und Grundrechte verteidigen
- Drucksache 17/4429 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Ingrid Hönlinger, Volker Beck ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bestellerprinzip in die Mietwohnungsvermittlung integrieren
- Drucksache 17/4202 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Es geht dabei um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. - Auch damit sind Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 b auf:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 29. März 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und St. Vincent und
die Grenadinen über die Unterstützung in
Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/3959 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 7. Juni 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und St. Lucia über den Informationsaustausch in Steuersachen
- Drucksache 17/3961 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom
17. Juni 2010 zur Änderung des Abkommens vom 8. März 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malta zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen
- Drucksache 17/3962 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksache 17/4280 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({5})
Dabei geht es um die Beschlussfassung zu einer Vorlage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen
vom 29. März 2010 mit St. Vincent und die Grenadinen
über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen
durch Informationsaustausch. Der Finanzausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4280, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/3959 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion bei Enthaltung der Kolleginnen und Kollegen
aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen
vom 7. Juni 2010 mit St. Lucia über den Informationsaustausch in Steuersachen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4280, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3961 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei EntVizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
haltung der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die
Linke.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll
vom 17. Juni 2010 zur Änderung des Abkommens vom
8. März 2001 mit Malta zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4280, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/3962 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Standpunkt und Konsequenzen der Bundesregierung zum ungarischen Mediengesetz
Ich eröffne die Aussprache.
Als erstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen
Michael Roth für die SPD-Fraktion.
({6})
Liebe Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Seit vielen Jahren bin ich Berichterstatter
meiner Fraktion für Ungarn. Seit vielen Jahren bin ich
stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Ungarischen
Parlamentariergruppe. Vor diesem Hintergrund können
Sie sich vielleicht vorstellen, dass mir die heutige Auseinandersetzung alles andere als leichtfällt. Es bleibt das
große ungarische Verdienst. Wenn wir den Mut zur Freiheit mit einem Land Mittelosteuropas verbinden, dann
zuerst und vor allem mit Ungarn.
({0})
Ungarn hat sich zu einem Zeitpunkt für Demokratie,
Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt, als andere
noch verängstigt zu Hause geblieben sind. Wir, unser
Land, unsere Bürgerinnen und Bürger, haben den Ungarinnen und Ungarn viel zu verdanken.
Wir erwarten sicherlich auch von der ungarischen
Ratspräsidentschaft Erfolg und Professionalität. Unsere
besten Wünsche, auch die meiner Fraktion, begleiten die
Verantwortlichen, die für Ungarn und mit Ungarn dafür
arbeiten, dass Europa besser gelingt und dass wir die
Probleme, nicht nur die Finanzkrise, gemeinsam bewältigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wichtiger als der
Euro und wichtiger als der Binnenmarkt sind aber unsere
Grund- und Freiheitsrechte. Das ist unser wertvollstes
Gut.
({1})
Das ist das Rückgrat der europäischen Identität. Das ist
nicht irgendeine Frage unter ganz vielen sachpolitischen
Fragen, sondern das ist der Kern der europäischen Zusammenarbeit. Es ist für uns als Europäerinnen und Europäer auch eine Frage der Selbstachtung und eine Frage
der Glaubwürdigkeit im Umgang mit totalitären Staaten,
mit Diktaturen auf dieser Welt. Wie ernst nehmen wir
die Freiheitsrechte? Wie ernst nehmen wir die individuellen Menschenrechte? Nur dann, wenn wir sie selbst zu
100 Prozent ernst nehmen und wenn wir über jeden
Zweifel und über jede Relativierung erhaben sind, können wir selbstbewusst und kämpferisch allen diktatorischen und autoritären Systemen dieser Welt offensiv entgegentreten.
({2})
Umso unverständlicher - das sage ich sehr deutlich ist das lange Schweigen des Kommissionspräsidenten,
ist das lange Schweigen und Relativieren des Ratspräsidenten Van Rompuy, aber auch das Schweigen und Relativieren der Bundesregierung.
Es ist gestern im Europaausschuss schon einmal darüber gesprochen worden; ich will das hier für meine
Fraktion noch einmal deutlich machen: Wir haben es auf
diese Aktuelle Stunde überhaupt nicht angelegt. Wir haben Ihnen eine vereinbarte Debatte zum schnellstmöglichen Zeitpunkt angeboten. Wir haben Ihnen angeboten,
über einen interfraktionell zu erarbeitenden gemeinsamen Entschließungsantrag zu reden und zu verhandeln.
Sie haben diese beiden Angebote ausgeschlagen. Deswegen haben wir es als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Bundestag als unsere Pflicht angesehen,
jetzt diese Diskussion zu führen. Wir wollen keine juristische Diskussion, sondern wir wollen eine politische
Bewertung vornehmen, wie sie im Übrigen anderswo
auch vorgenommen wird.
({3})
Das dänische Parlament beispielsweise hat einen
Antrag gestellt, der darauf abzielt, dass sich auch die
COSAC, die Konferenz der Europaausschüsse der Mitgliedstaaten, kritisch mit der Frage des ungarischen
Mediengesetzes auseinandersetzt. Wir stehen dabei nicht
alleine. Es ist unsere Pflicht als nationales Parlament,
klar und deutlich unsere Stimme zu erheben.
({4})
Dass das keine parteipolitische Diskussion ist, liebe
Kolleginnen und Kollegen, haben wir doch spätestens
nach der Lektüre des lesenswerten Beitrags des Vorsitzenden des Europaausschusses, Gunther Krichbaum,
festgestellt.
({5})
Michael Roth ({6})
Was Gunther Krichbaum in einem Interview gesagt hat,
findet unsere uneingeschränkte Zustimmung. Damit ist
der Vorwurf seitens der ungarischen Regierung, aber
auch aus der Mitte dieses Parlaments, wir würden hier
unsere parteipolitischen Spielchen treiben, völlig unerheblich.
Ich frage einmal: Was wäre, wenn eine sozialdemokratische oder eine linke Regierung in Europa so etwas
getan hätte? Sie wären auf den Bäumen, Sie wären auf
dem Mount Everest, wenn wir eine solche Situation hätten.
({7})
Sie können sich darauf verlassen, wir wären gemeinsam mit Ihnen auf den Bäumen, egal welche Regierung
mit welcher parteipolitischen Färbung die Medienrechte
bzw. die Freiheitsrechte in Zweifel zieht.
({8})
Das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten gilt ausdrücklich nicht in der Europäischen
Union. Im Gegenteil: Es gibt die Pflicht zur Einmischung. Das hat der ungarische Ministerpräsident Orban
offensichtlich auch verstanden; denn er hat angekündigt
- wir werden ihn sicherlich an seinen Taten messen -,
dass nach Überprüfung der Kommission dieses Gesetz
überarbeitet wird, wenn kritische Punkte festgestellt
werden.
Damit ist es keine innerstaatliche Angelegenheit, es ist
eine europapolitische Angelegenheit, und deswegen gehört es auch hierher.
({9})
Wir kritisieren überhaupt nicht das ungarische Volk.
Wir kritisieren die Entscheidung der ungarischen Regierung. Wir kritisieren die Entscheidung der über eine
Zweidrittelmehrheit verfügenden Regierungsfraktionen
im ungarischen Parlament. Wir respektieren und wir verneigen uns vor den Demonstrantinnen und Demonstranten in Budapest und in Ungarn, den Intellektuellen, den
Journalisten, den Kulturschaffenden, die in diesem demokratischen Rechtsstaat Ungarn ihre Meinung zu diesem Gesetz kritisch geäußert haben. Darauf sind wir gemeinsam stolz.
Aber wir müssen auch selbstkritisch anfügen - das
sage ich zumindest für mich; für Sie von Union und FDP
kann ich das vielleicht nicht sagen -: Möglicherweise
haben wir in der EU zu oft in den vergangenen Jahren
geschwiegen oder uns desinteressiert gezeigt. Die Qualität des Rechtsstaates, die Qualität der Demokratie bemessen sich vor allem am Umgang mit den Minderheiten, und wir haben bereits zu oft geschwiegen
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
- bei der Diskriminierung von Roma, bei der Diskriminierung von Homosexuellen. Wir haben zu oft geschwiegen beim grassierenden Antisemitismus. Wir haben geschwiegen zu den Hasskampagnen gegen den
Islam. Wir führen keine Kampagne gegen Ungarn. Wir
führen eine Kampagne für die Grundrechte.
Herr Kollege, haben Sie meine Einlassung gehört?
Ich habe sie gehört, und deswegen mein letzter Satz:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union
zerbricht nicht an einem schwachen Euro; die Europäische Union zerbricht am Unernst im Umgang mit den
Grund- und Freiheitsrechten, die täglich neu erkämpft
und erstritten werden müssen, in Ungarn, in Italien, in
den Niederlanden und auch in Deutschland.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann David
Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Roth, nicht nur die letzten
Sätze waren, weil sie über die Redezeit etwas hinausgingen, überflüssig. Wir sind der Auffassung, dass diese
Debatte im Deutschen Bundestag und insbesondere Ihr
Antrag zum jetzigen Zeitpunkt unangemessen und voreilig sind und dass diese Debatte dem deutsch-ungarischen Verhältnis deswegen nur schadet.
({0})
- Herr Sarrazin, ich werde es gleich begründen.
Es bestreitet doch niemand, dass die Meinungsäußerungsfreiheit zu den Grundwerten und Grundrechten auf
der Welt gehört, zum europäischen Wertekanon, spätestens seit der Französischen Revolution. Dieser Wertekanon gilt selbstverständlich auch in der Europäischen
Union.
({1})
- Dass jetzt die Linkspartei anfängt, uns zu belehren,
was Grundfreiheiten angeht, das erstaunt mich gerade in
dieser Stunde sehr, Herr Kollege.
({2})
Es waren die Ungarn, die überhaupt dafür gesorgt haben, dass ganz Deutschland frei wurde
({3})
und dass der Teil, den ein Teil Ihrer Vorgänger in Ihrer
Partei geknechtet hat, seine Meinung überhaupt sagen
konnte. Insofern sollten Sie zu dieser ganzen Debatte
heute schweigen.
({4})
Ausgangspunkt muss für uns sein, dass wir den Freiheitswillen des ungarischen Volkes würdigen und wissen, dass dieses Volk in freier Selbstbestimmung eine
Regierung gewählt hat, die eine große Mehrheit bekommen hat.
({5})
Ungarn ist 1956 für Freiheit eingestanden. Ungarn hat
1989 die deutsche Wiedervereinigung, die Freiheit aller
Deutschen wesentlich ermöglicht. Im Geiste und im Bewusstsein dieser Entwicklungen und dieser Leistungen
des ungarischen Volkes sollten wir Deutschen uns benehmen und uns vielleicht an der einen oder anderen
Stelle auch mit Belehrungen, wie ich sie gerade eben
vom Kollegen Roth gehört habe, zurückhalten.
({6})
Pressefreiheit ist nirgendwo grenzenlos, auch in
Deutschland nicht. Sie findet ihre Grenze in der Verletzung der Rechte anderer.
({7})
Deswegen haben wir Pressegesetze. In Nordrhein-Westfalen gibt es ein neues Pressegesetz, das an Schärfe
kaum zu überbieten ist. Das hören Sie zwar ungern, aber
es ist so.
({8})
Es ist Sache des nationalen Gesetzgebers, zu prüfen,
was er tut, um Rechte zu gewährleisten. Herr Roth, Sie
haben darauf hingewiesen: Es gab schwerste Menschenrechtsverletzungen, auch durch die Medien, in Ungarn.
Wie dort - ich sage es einmal auf diese Art und Weise Kinderschutz nicht gewährleistet wurde, wie dort die
Leugnung des Holocausts nicht verboten war, das hat ein
Einschreiten notwendig gemacht. An dieser Stelle sollten wir uns gar nicht als Besserwisser aufstellen.
({9})
Nun ist die entscheidende Frage: Wie gehen wir mit
der Überprüfung dieses Gesetzes um? Dazu gibt es ein
Verfahren - wir leben in einer Rechtsunion, in der Europäischen Union -: Die Europäische Kommission prüft
jetzt diese Gesetze. Herr Kollege Roth, Sie selber haben
politisch ein wenig schizophren argumentiert.
Sie haben selber gesagt: Wenn es denn Verstöße gibt,
dann muss man handeln. In der Tat, wenn es Verstöße
gibt, wird die Europäische Kommission diese auch
öffentlich machen. Ich begrüße, dass Ungarn auch durch
den Premierminister gesagt hat, dass man dann korrigieren wird. Man kann nur nicht zu Vorfestlegungen und
Vorurteilen kommen. Sie legen aber schon jetzt einen
Antrag vor, in den Sie hineinschreiben, Sie kennten
diese Verstöße, relativiert durch das Wort „zahlreich“.
({10})
Schon heute stellen Sie zahlreiche Verstöße fest. Das ist
aus unserer Sicht falsch, meine sehr verehrten Damen
und Herren.
({11})
Ich möchte noch etwas klarstellen: Der Kollege
Stübgen hat dazu gestern in der Europaausschusssitzung
etwas gesagt. Ich finde es etwas traurig, dass Sie das hier
nicht wiederholen, sondern den falschen Vortrag von
gestern noch einmal bringen. Wir haben gesagt: Wir sind
zu diesem Punkt in dem Moment zu einer vereinbarten
Debatte bereit, wo der Bericht der Kommissarin Kroes
vorliegt, wenn wir also Ergebnisse haben und wissen,
worüber wir reden. Deswegen verweise ich Sie an dieser
Stelle - das fällt mir ja nicht leicht - einmal an den Kollegen Martin Schulz, „den großen Sozialdemokraten aus
Deutschland“, der auf europäischer Ebene auch mit großen Ankündigungen gestartet ist und dann insbesondere
den Antrag der Grünen im Europäischen Parlament mit
den Worten zurückgewiesen hat: Man braucht erst einmal sattelfeste juristische Argumente, bevor man zu Urteilen kommt. Meine sehr verehrten Damen und Herren,
das hätten Sie an dieser Stelle auch einmal beachten sollen.
({12})
Deswegen muss ich sagen: Es ist vollkommen legitim
und auch in Ordnung, dass man unter Freunden in der
Europäischen Union auch kritische Punkte anspricht.
({13})
Es gibt ja keine Form der Distanzierung seitens der
CDU/CSU-Fraktion zu dem, was der Ausschussvorsitzende gesagt hat.
({14})
Er hat sich dazu geäußert und gesagt, in dieser Stunde
sei es richtig gewesen, es dabei zu belassen, die Prüfungen der EU-Kommission abzuwarten und danach im
Deutschen Bundestag gegebenenfalls darüber zu diskutieren und auch Anträge einzubringen. Dieser Schuss
ging zu schnell los, und deswegen lehnen wir ihn ab.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Dieter Dehm für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Es gibt in Ungarn eine nur von den
rechten Machthabern besetzte Zensurbehörde, die gegen
kritische Journalisten Strafen bis zu 720 000 Euro verhängen darf. Ich sage Ihnen: Wenn da nicht die Alarmglocken läuten! Wehret den Anfängen!
({0})
Wir als linke Partei wissen, was es bedeutet, wenn die
Medien des Großkapitals, wie die Bild-Zeitung und der
Spiegel, unsere Lösungsvorschläge gegen die Finanzkrise rücksichtslos unterdrücken und uns nur erwähnen,
wenn sie uns verleumden können.
Die Linken in Italien spüren es, wenn Berlusconi die
Meinungsvielfalt abwürgt: als staatlicher Machthaber
die öffentlichen Medien und als kapitalistischer Medienmafioso bei den Privaten. Aber Ungarns Rechte wollen
noch mehr: Sie wollen die totale Macht! Hauptleidtragende sind kritische Journalisten und Gewerkschafter,
aber auch Wertkonservative und Priester, die die Bergpredigt ernst nehmen, und mutige mittelständische Verleger. Dies geschieht nicht in irgendeiner Bananenrepublik, sondern im wirtschaftlich entwickelten Ungarn mit
dieser großen humanistischen und künstlerischen Tradition. Das ist der Skandal.
({1})
Und weil in Ungarn vor allem Linke betroffen sind,
bin ich besonders den konservativen Kollegen dankbar,
die wie Gunther Krichbaum - jetzt zitiere ich ihn mal,
und das hat er nach reiflicher Überlegung gesagt - das
ungarische Mediengesetz in der Frankfurter Rundschau
„inakzeptabel“ nennen, weil damit Regimekritiker mit
- ich zitiere - „vagen und willkürlichen Begriffen wie
‚ausgewogener politischer Berichterstattung‘“ verfolgt
werden können.
Ein Wort zur SPD: Ich finde es hilfreich, dass Ihre Sozialdemokratische Internationale den tunesischen Diktator Ben Ali und seine Staatspartei RCD ausgeschlossen
hat - wenn auch erst am Montag, was ein bisschen so ist,
als wäre jemand am 7. Mai 1945 entschlossen dem antifaschistischen Widerstand beigetreten. Bitte, setzen Sie
sich etwas früher dafür ein, dass im tunesischen Nachbarland Ägypten jetzt die politischen Gefangenen - vor
allen Dingen die vielen Tausend Linken - freigelassen
werden.
({2})
Das würde auch mancher Lektion in Sachen Menschenrechte von Herrn Gabriel und Herrn Steinmeier an unsere Adresse etwas mehr Nachdruck verleihen.
Frau Merkel, nehmen Sie Ihren Parteifreund Viktor
Orban härter in die Pflicht, wenn sein Regime linke Intellektuelle bis ins Ausland verfolgt! Solcher Antikommunismus - das hat uns Thomas Mann gelehrt - ist die
größte Grundtorheit unserer Epoche, und dabei bleibt es.
({3})
Wie lange wollen Sie noch wegschauen, wenn die
rechte Regierung de facto die Grenzen der ungarischen
Nachbarländer infrage stellt und im Ratsgebäude in
Brüssel jetzt auch noch symbolisch einen Teppich aufhängt, der Großungarn in den Grenzen von 1848 zeigt?
({4})
- Von 1848!
Weil Sie diejenigen erwähnt haben, die in Ungarn
mutig die Grenze aufgemacht haben: Einer davon war
György Konrad, einstiger Präsident der Berliner Akademie der Künste und Träger des Friedenspreises des
Deutschen Buchhandels. Er sagt jetzt, auch nach reichlicher Prüfung: Die 1989 erkämpfte Pressefreiheit wurde
rückgängig gemacht. Gibt Ihnen denn das nicht zu denken?
({5})
Der populäre Rundfunkmoderator Attila Mong, der
wegen seiner Kritik an dem Mediengesetz schon suspendiert wurde - das ist bereits geschehen -, wie übrigens
die Journalisten Ivan Andrassew und Sandor Jaszberenyi,
sagt:
Der Grund, warum die deutschen Medienkonzerne
zu allem schweigen, ist, weil sie „bekommen haben, was sie wollten, wirtschaftlich betrachtet. Was
Product Placement, Werbung und die Digitalisierung der Medienlandschaft angeht, haben die
Machthaber alle Wünsche der privaten Fernsehsender erfüllt.“
Meine Damen und Herren, auch Kommerz kann Freiheit
töten.
({6})
Ob es gegen die Macht von Verlagskonzernen geht
oder gegen Zensurbehörden und omnipotente Parteienwirtschaft, ob es um linke Künstler in Ungarn geht oder
um den chinesischen Nobelpreisträger Liu Xiaobo: Demokratische Gewaltenteilung, unabhängige Rechtsprechung und Meinungsvielfalt bedürfen noch viel mehr der
Verankerung auf allen Seiten parlamentarischer Sitzordnungen in der EU, und darüber und darunter hinaus.
Die Kommunistin Rosa Luxemburg hat das so ausgedrückt, dass sie damit hier an diesem Mikrofon schon
von Vertretern fast aller Parteien zitiert wurde: Freiheit
ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden.
({7})
Ich übersetze das einmal: Meinungsvielfalt beginnt dort,
wo es einem selbst wehtut. Es muss dann auch Ihnen
wehtun, Meinungsvielfalt einzuräumen.
({8})
Die Kritik am ungarischen Zensurgesetz und an diktatorischen Maßnahmen in Italien und anderswo, also die
Vision eines reinen Ideenstreits um die besten Lösungen
gegen diese Krise, ohne Angst und Terror
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
- ich bin beim letzten Satz -,
({0})
ist ein so zartes Gewächs, dass ich fürchte: Wir können
es nur parteiübergreifend pflegen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege
Dr. Stefan Ruppert.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich freue mich zunächst einmal darüber, dass
der stellvertretende Botschafter Ungarns hier ist und
diese Debatte verfolgt,
({0})
also sehr aufmerksam registriert, was wir hier diskutieren. Ich fürchte, er hat beim letzten Beitrag einen sehr
schlechten Eindruck gewonnen.
({1})
Das tut mir ausgesprochen leid.
({2})
An erster Stelle sollte man betonen, dass Ungarn zu unseren befreundeten Nationen gehört und Kern der Europäischen Gemeinschaft ist. Eine solche Beschimpfung,
wie Sie sie hier eben geäußert haben, hat dieses Land
nicht verdient.
({3})
Insofern: Achten Sie bitte auf die Tonlage, wenn Sie
hier Kritik äußern! Ich finde, das ist im ersten Redebeitrag, also von Herrn Roth, deutlich besser gelungen als
jetzt bei Ihnen, Herr Dehm.
Ich gehöre sicherlich nicht zu den Scharfmachern,
sondern eher zu den nachdenklichen Politikern in meiner
Fraktion.
({4})
Scharfmacher gibt es bei uns sowieso nicht.
({5})
- Herr Dehm, ich haue auf niemanden drauf, nur weil er
Mitglied der Linken ist. Aber wenn Sie mit Ihrer überall
dokumentierten Vergangenheit
({6})
und als jemand, der mit der Stasi konkret zusammengearbeitet hat, über die Frage reden, wie man mit Andersdenkenden umgeht, dann sollten Sie sich sehr genau
überlegen, welche Tonlage Sie wählen.
({7})
Auch das gehört zu Ihrer Glaubwürdigkeit.
({8})
Mir persönlich fehlt der missionarische Drang, den Sie
anscheinend haben. Wenn ich eine Vergangenheit hätte
wie Sie, könnte ich niemals mit diesem moralischen Impetus argumentieren, wie Sie das vorhin getan haben.
({9})
Nachdem wir uns lange genug mit Ihnen, Herr Dehm,
in dieser Debatte aufgehalten haben,
({10})
möchte ich zur Sache zurückkommen.
({11})
Natürlich kann keinerlei Zweifel daran bestehen, dass
wir die Grundrechte in Europa ganz ernst nehmen müssen. Sie sind Teil unserer Identität. Immer dann, wenn
wir das Gefühl haben, dass die Grundrechte in einzelnen
Mitgliedstaaten - es wurden neben Ungarn auch andere
Staaten genannt - nicht ernst genommen werden, oder
wenn es Tendenzen gibt, sie zu relativieren, müssen wir
dem mit aller Entschiedenheit entgegentreten.
({12})
Mir als Jurist ist manche Klausel in diesem Gesetz zu
schwammig. Es gibt Klauseln, die man nach meiner
Meinung viel zu weit dehnen kann. Ich habe auch Probleme mit der formalen Art, wie dieses Gesetz zustande
gekommen ist.
({13})
Ich finde, man muss diesen Punkt sachlich und in aller
Freundschaft zu Ungarn ansprechen. Wir können nämlich in Europa nicht akzeptieren, dass es einen Bereich
gibt, in dem die Grundrechte ernster genommen werden
als in einem anderen.
Ich möchte am Ende noch darauf hinweisen, dass
mich diese Entwicklung - nicht nur die Entwicklung in
Ungarn - etwas mit Sorge erfüllt. Wenn man sich die Berichte der OSZE anschaut, dann kann man sagen, dass
auch andere Länder in Europa die Pressefreiheit nicht so
ernst nehmen, wie wir das eigentlich erwarten können.
Wenn man sich die Rangliste in puncto Pressefreiheit anschaut, dann stellt man besorgniserregende Tendenzen
fest.
Ich warte mit Neugier und Interesse, aber auch mit
Hoffnung auf den Bericht, den die Europäische Kommission dazu erstellen wird. Auf der Grundlage konkreter Ergebnisse und Berichte und im Hinblick auf die
Frage, was juristisch zu beanstanden ist, sollten wir - das
hat Herr Wadephul schon angekündigt - über dieses
Thema in aller Ruhe und Sachlichkeit reden. Wegen unserer Freundschaft mit den Ungarn dürfen wir dies nicht
im Ton missionarischer Belehrung tun. Aber in der Sache müssen wir glasklar argumentieren und dürfen keinen Millimeter von unserer Grundrechtsüberzeugung abweichen.
({14})
Wenn wir das tun, werden wir die ungarischen
Freunde
({15})
- Sie vielleicht nicht, aber wir - an unserer Seite behalten. Wir werden gleichwohl die Grundrechte in Europa
stärken und dafür sorgen, dass sie weiterhin durchgesetzt
werden. Ich glaube, es kommt sehr auf die Tonlage an.
Es kommt auf die Sachlichkeit und nicht auf den Affekt
an, den Sie hier gezeigt haben. Ich wünsche mir daher,
dass die weitere Debatte etwas sachlicher als Ihre Rede
verläuft.
Vielen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidt
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ungarn blickt in der Tat auf eine stolze Geschichte des
Widerstandes gegen Unterdrückung zurück. Es ist hier
schon an den ungarischen Volksaufstand von 1956 erinnert worden. Wir wissen alle: Ohne die ungarische
Grenzöffnung wäre die deutsche Wiedervereinigung
nicht so schnell gekommen. Europa und gerade wir
Deutsche verdanken Ungarn viel. Das muss hier mit aller Klarheit gesagt werden.
({0})
Deshalb ist es eigentlich ein Grund zur Freude, dass
Ungarn jetzt die Präsidentschaft des Europäischen Rates
hat. Und dann das: Es gibt in Ungarn ein neues Mediengesetz, das eine Gefahr für die Pressefreiheit darstellt.
Natürlich gehört dieses Thema hierher. Was, wenn nicht
das?
({1})
Ein Gesetz, das ganz offensichtlich in wichtigen
Punkten gegen Wort und Geist der europäischen Grundrechtecharta verstößt, das können Sie doch politisch bewerten. Verstecken Sie sich da nicht hinter juristischen
Prüfverfahren, so langsam sind Sie doch sonst auch
nicht.
({2})
Ich will nur drei Punkte aus diesem Gesetz nennen, die
es in sich haben, und das wissen Sie auch.
Erstens werden die Medien in Ungarn verpflichtet,
„ausgewogen“ zu berichten, was immer „ausgewogen“
genau heißen mag. Darüber entscheidet nicht etwa ein
Gericht, sondern ein Medienrat, der auch sehr hohe
Geldstrafen verhängen kann. Der ungarische Schriftsteller György Dalos, Träger des Leipziger Buchpreises, hat
sehr deutlich davor gewarnt, was das heißen könnte
- das sollten Sie zur Kenntnis nehmen -, nämlich zum
Beispiel den Ruin kleinerer Zeitungen und natürlich dadurch auch eine Abstrafung von Kritik. Das ist ein ungarischer Demokrat; der weiß durchaus, worüber er in seinem eigenen Land redet.
({3})
Zweitens wurde der Medienrat ausschließlich mit
Persönlichkeiten besetzt, die der Regierung nahestehen.
Eine Vertretung der Zivilgesellschaft oder der Opposition ist also für die nächsten neun Jahre nicht gegeben.
Das könnte also - einmal ganz vorsichtig formuliert darauf hinauslaufen, dass die Regierungsmehrheit die
Medien überwacht, ob sie auch ausgewogen im Sinne
dieser Mehrheit berichten. Sonst gibt es halt Sanktionen.
Drittens kann dieses neue Mediengesetz nur mit
Zweitdrittelmehrheit verändert werden. Demokratische
Korrekturen sind also nur äußerst schwer erreichbar. Das
können Sie nun wirklich nicht gut finden oder ignorieren, dass das gegen den Geist der europäischen Grundrechtecharta verstößt. Um so etwas festzuschreiben,
wurde extra die Verfassung geändert.
Das alles ist ein Affront gegen die demokratische Gesellschaft Ungarns, die wir sehr schätzen.
({4})
Es ist auch ein Affront gegen die Europäische Union;
denn ein Land, das so gegen den Geist der Grundrechtecharta verstößt, kann die Europäische Union international nicht glaubwürdig repräsentieren.
({5})
Es ist doch klar: Eine solche Ratspräsidentschaft erschüttert die Glaubwürdigkeit Europas, wenn es darum
geht, undemokratische Zustände in anderen Teilen der
Welt zu kritisieren. Gerade deshalb sollten wir alle die
Proteste dort in Ungarn mit besonderem Engagement unterstützten. Das kann niemand als antiungarisch bezeichnen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, da
irritiert es schon, wenn Ihr Fraktionsvorsitzender im Europaparlament, Herr Daul, sich über die „politisch motivierten Vorwürfe gegen die ungarische Regierung“ mokiert. Ich verstehe ja sein politisches Problem, dass Herr
Orban auch zur Europäischen Volkspartei gehört. Aber
bei der Verteidigung der Pressefreiheit darf es eine solche politische Rücksichtnahme nicht geben.
({7})
Ich sage Ihnen das ganz direkt, denn Sie können hier
mit der Europäischen Volkspartei und durch die Europäische Volkspartei helfen. Nehmen Sie Einfluss auf Herrn
Orban! Fordern Sie doch wenigstens, dass er das Gesetz
sofort und so lange aussetzt, wie die Europäische Union
es prüft. Das wäre doch einmal eine Forderung, wenn
Sie sich schon hinter dem Prüfprozess verstecken. Warum tun Sie das eigentlich nicht?
({8})
Wir müssen uns gemeinsam dafür starkmachen, dass
die ungarische Regierung dieses Gesetz zurücknimmt
und sich darüber hinaus in Wort und Tat an die europäischen Grundwerte hält. Falls Ungarn die beanstandeten
Passagen nicht zurücknimmt, muss nach unserer Überzeugung ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet
werden.
Europa ist für viele Menschen überall auf der Welt
durchaus ein Vorbild, was Demokratie und Freiheit angeht. Aber nur, wenn wir selbst uns gegen Einschränkungen von demokratischen Rechten in der Europäischen Union zur Wehr setzen, erhalten wir uns diese
demokratische Ausstrahlung. Das ist die Aufgabe, die
wir auch hier und heute haben. Deshalb haben wir gemeinsam mit der SPD-Fraktion zusätzlich diese Woche
den Antrag in den Bundestag eingebracht.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Karl Holmeier für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Zu Beginn dieses Jahres hat Ungarn die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union übernommen. Das ist
eigentlich ein bedeutendes Ereignis für die EU. Bedauerlicherweise wird es aber in der europäischen Öffentlichkeit und leider auch in Deutschland von einem ganz
anderen Thema überschattet, dem ungarischen Mediengesetz.
Bei der Debatte um dieses Gesetz redet so ziemlich
jeder mit, und jeder meint plötzlich, ein Fachmann im
Medienrecht zu sein. Das Urteil steht dabei für viele
- vor allem für das linke Lager - bereits von Anfang an
fest. Das ungarische Mediengesetz verstößt gegen EURecht, es verstößt gegen völkerrechtliche Verträge und
bedroht die Medienfreiheit. Ich möchte zu diesem
Thema keine langen Ausführungen machen und hier weder als Anwalt Ungarns auftreten noch den Eindruck erwecken, mir sei die Freiheit der Medien egal. Ich will Ihnen aber gerne drei Punkte zum Nachdenken ans Herz
legen:
Erstens. Eigentlich sollten wir in diesem Rahmen
wichtige Themen für unser Land, für Deutschland, diskutieren. Stattdessen reden wir über ein ungarisches Gesetz,
({0})
zu dem es noch dazu nicht einmal eine vollständige
Übersetzung gibt. Es entspricht meines Erachtens nicht
gerade gutem parlamentarischen Stil, im Deutschen
Bundestag über ungarische Gesetze zu debattieren.
({1})
Ungarn ist ein souveräner Staat genau wie Deutschland.
({2})
Genauso, wie wir nicht wollen, dass Ungarn sich in unsere Gesetzgebung einmischt, sollten wir den Ungarn
auch nicht in ihre Gesetzgebung hineinreden.
({3})
Zumindest sollten wir eine endgültige Prüfung durch die
zuständigen Gremien abwarten.
Zweitens. Ungarn ist im Gegensatz zu vielen anderen
Ländern tatsächlich eine lupenreine Demokratie. Ich zitiere einen deutschen Journalisten, der in Ungarn eine
deutschsprachige Zeitung herausgibt:
Orbán ist kein Antidemokrat. Und Ungarn ist nicht
Nordkorea, …
Wir können doch einem demokratischen Land wie Ungarn nicht vor Abschluss einer eingehenden juristischen
Prüfung unterstellen, rechtswidrige Gesetze zu schreiben
und Grundrechte wie die Freiheit der Medien zu verletzen.
Der SPD-Europaabgeordnete Martin Schulz hat selbst
gesagt, Sorgfalt gehe vor Schnelligkeit. Wenn das so ist,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, warum
sind Sie denn so vorschnell dabei, zu erklären, das Gesetz sei rechtswidrig, obwohl es gerade erst geprüft
wird? Hier findet eine Vorverurteilung statt, die einem
souveränen Staat gegenüber überaus unangemessen ist.
Sie ist jedoch gegenüber einem Staat, der mit Deutschland freundschaftlich verbunden und zugleich ein Partner in der Europäischen Union ist, ein offener Schlag ins
Gesicht. So geht man mit Freunden nicht um.
({4})
Dies führt mich zu meinem letzten Punkt: Bei aller
möglicherweise berechtigten Kritik sollte man nie vergessen, dass der Ton die Musik macht.
({5})
Der Ton gegenüber den Ungarn ist in dieser Debatte inakzeptabel. Hier wird eine Kampagne gegen Ungarn gefahren, die nicht nur die eingangs erwähnte Ratspräsidentschaft überschattet,
({6})
sondern im Rahmen derer Ungarn sogar die Fähigkeit
zur Übernahme der Ratspräsidentschaft abgesprochen
wird. Das ist das eigentlich Skandalöse.
({7})
Hier wird eine bürgerlich-konservative Regierung an
den Pranger gestellt.
({8})
Hier wird Schaden an freundschaftlichen Beziehungen
angerichtet.
Hier werden die ungarischen Bürger, die in der Mehrheit die Kritik an dem Gesetz nicht teilen,
({9})
provoziert und gegen Bürger anderer EU-Staaten, auch
Deutschlands, aufgebracht. Dies gilt übrigens auch für
ungarische Journalisten. Die Journalisten in Ungarn sind
es letztlich, die von dem Gesetz betroffen sind.
({10})
Sie fühlen sich jedoch anders als viele vermeintliche
Retter der Medienfreiheit nicht durch das neue Mediengesetz eingeschränkt. Sie halten den Aufschrei gegen
das Gesetz für überzogene Hysterie. Die viel zitierte
Selbstzensur wird in Ungarn jedenfalls nicht befürchtet.
Diese Kampagne ist unverantwortlich, und damit befassen wir uns in einer Aktuellen Stunde. Die Ratspräsidentschaft und die Schwerpunkte, die Ungarn setzen
möchte, wären ein würdiger Anlass für eine Debatte gewesen;
({11})
ein in der Prüfung befindliches nationales Gesetz Ungarns ist es aus meiner Sicht nicht.
Abschließend wünsche ich der ungarischen Regierung viel Erfolg bei ihrer Ratspräsidentschaft.
({12})
Ungarn hat sich viel vorgenommen und steht vor großen
Herausforderungen.
({13})
Es möchte Europa stärken und stabiler machen, es
möchte Europa bürgernäher machen,
({14})
und es möchte dabei als ehrlicher Makler auftreten.
Meine Unterstützung hat die ungarische Regierung hierbei.
Vielen Dank.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Martin Dörmann für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, ausgerechnet Ungarn! Ungarn, dem Deutschland und
die anderen europäischen Länder so viel zu verdanken
haben, Ungarn, das 1989 zu jenen Ländern gehörte, die
einen entscheidenden Anteil an der Überwindung des Eisernen Vorhangs hatten, Ungarn, das wir alle als ein
Symbol für den Kampf um Meinungsfreiheit und andere
Freiheitsrechte verstehen. Europa - da sind wir uns,
denke ich, alle einig - sähe ohne das entschiedene Handeln der Ungarn im Jahre 1989 anders aus.
Ich freue ich mich, dass heute der stellvertretende
Botschafter Ungarns unter uns ist. Wir begrüßen es sehr,
dass Ungarn die Ratspräsidentschaft hat, weil es uns die
Chance gibt, gemeinsam mit den Ungarn auch über diese
Themen zu diskutieren. Denn so wie wir den Ungarn für
ihren damaligen Mut dankbar sind, so können die Ungarn heute von uns umgekehrt erwarten, dass wir uns zur
Bedrohung der Meinungsfreiheit in ihrem Land deutlich
zu Wort melden.
({0})
Warum hat Ungarn einen Antrag auf Beitritt zur Europäischen Union gestellt? Weil die Menschen in die Europäische Union aufgenommen werden wollten, damit
auch in die europäische Werteordnung. Heute sind sie
angekommen. Jetzt steht auf dem Prüfstand, ob wir das
ernst nehmen, ob wir uns als diejenigen verstehen, die
die Rechte, die das ungarische Volk an dieser Stelle hat,
auf europäischer Ebene durchsetzen. Darum geht es
heute.
({1})
Es ist nicht das ungarische Volk, das dieses Gesetz beschlossen hat; es ist in einer Nacht-und-Nebel-Aktion
von der konservativen Regierung Orban mit ihrer Zweidrittelmehrheit, die sie nun einmal im Parlament hat,
durchgedrückt worden, wie ich meine, ohne Rücksicht
auf Verluste.
Ich will eine ungarische Stimme zitieren. Der ungarische Autor György Konrad beschreibt die Folgen dieses
Mediengesetzes wie folgt:
Wir sprechen von einem Mediengesetz, doch im
Wesentlichen geht es um die Erstickung der Presseund kulturellen Freiheit. Gestohlen wird uns das,
was das Ziel und die Errungenschaft der öffentlichen und illegalen demokratischen Bewegung sowie das Wunder von 1989 war. …
Die Rede ist von einer neuartigen Diktatur. Ihre
Neuartigkeit besteht darin, dass sie versucht, innerhalb der Europäischen Union zu existieren und zu
wirken.
Lassen wir nicht zu, dass die Werte Europas auf diese
Weise ausgehöhlt werden. Schweigen wir nicht, wenn
die Berlusconis und Orbans in Europa selbst bestimmen
wollen, ob Kritik an ihnen erlaubt ist oder eben nicht.
Eine staatliche Kontrolle der Medien, so wie es das ungarische Mediengesetz vorsieht, steht im Widerspruch
zur Charta der Grundrechte der EU, zur Europäischen
Menschenrechtskonvention und zu den Grundrechtstraditionen der Mitgliedstaaten. Angriffe auf die Presseund Medienfreiheit und auf das Prinzip der Gewaltenteilung sind Angriffe auf den Wesenskern der Europäischen Union. Alle demokratisch gesinnten Kräfte sind
aufgerufen, sich derartigen Entwicklungen entschieden
entgegenzustellen. Deshalb ist das weitgehende Schweigen der Bundesregierung in der Tat kaum nachvollziehbar.
Herr Dr. Hoyer, ich schätze Sie als Kölner Kollege
und - Sie wissen das - als einen sehr bedächtig und angemessen redenden Menschen. Ich habe Sie beobachtet;
ich interpretiere das. Ich glaube, es kann Ihnen bei den
Wortbeiträgen, die heute sowohl aus Reihen der FDPFraktion als auch der Unionsfraktion gekommen sind,
nicht wohl gewesen sein.
({2})
Ich finde es schon skandalös, wenn hier, wie schon
gestern im Europäischen Parlament, ein Vergleich zwischen dem nordrhein-westfälischen Mediengesetz und
dem ungarischen Mediengesetz gezogen wird. Gegen einen Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen vorzugehen, ist doch etwas anderes, als in einem Gesetz die
Pflicht zur ausgewogenen Berichterstattung zu konstatieren, wie es in Ungarn geschieht, zumal ein einseitig
regierungsnah besetztes staatliches Gremium - der Kollege Dr. Schmidt hat zu Recht darauf hingewiesen - definieren, kontrollieren und sanktionieren kann, unter klarer Missachtung der Gewaltenteilung. Dabei gehört doch
die Möglichkeit, in der Berichterstattung eine Tendenz
zum Ausdruck zu bringen, zum Wesen der Meinungsfreiheit. Deshalb sage ich auch: Es ist bedauerlich, dass
sich die deutschen Medien, die sehr stark in Ungarn vertreten sind, bisher sehr zurückhaltend geäußert haben.
Ich hoffe nicht, dass das ein erstes Zeichen dafür ist, dass
dieses Gesetz wirkt; denn wir alle wissen: Gerade Mediengesetze wirken nicht erst dann, wenn der erste Journalist eine Strafe zahlen muss oder wenn die erste Zeitung geschlossen wird. Ein solches Mediengesetz wirkt
bereits dann, wenn alle die Gefahr sehen und wenn die
Schere im Kopf da ist. Genau das ist das Ziel dieses Gesetzes.
({3})
Deshalb müssen wir uns hier und heute äußern. Es reicht
nicht, wenn die FDP sagt, wir müssten sachlich debattieren. Sie haben hier nicht sachlich debattiert, weil Sie am
Kern des Problems vorbeigegangen sind.
({4})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die SPD-Fraktion
fordert von der ungarischen Regierung und dem ungarischen Parlament nicht nur die inzwischen halbwegs
zugesagte Überprüfung, sondern tatsächlich die Aufhebung, zumindest aber die Aussetzung des undemokratischen und europarechtswidrigen Mediengesetzes.
({5})
Wir erwarten von der Bundesregierung, von der EUKommission und auch vom EU-Parlament, dass diese
sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln für
dieses Ziel einsetzen.
({6})
Dafür haben wir sie geschaffen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das wäre im Interesse eines freien und demokratischen Ungarn und im Interesse eines zukunftsfähigen
Europas. Darum geht es hier.
Vielen Dank.
({0})
Für die Bundesregierung hat nun Herr Staatsminister
Dr. Werner Hoyer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie alle waren wahrscheinlich noch mit dem Aufhängen
der Weihnachtskugeln befasst, als ich in den Tagen vor
Heiligabend in deutlicher Form zu den Sorgen über das
ungarische Mediengesetz Stellung genommen und damit
in Budapest zweifellos nicht nur Freude ausgelöst habe.
Aber ich war der Auffassung, dass es erforderlich ist,
frühzeitig darauf hinzuweisen, wenn man Bedenken hat.
Man muss kein endgültiges Urteil abgeben, aber man
muss Fragen stellen, und die müssen vom Adressaten
befriedigend beantwortet werden. Wenn sie nicht befriedigend beantwortet werden, muss man gegebenenfalls
etwas ändern. Das ist deutlich geworden.
Ich möchte mich bei all denen bedanken - Sie eingeschlossen -, die das Thema, über das wir heute diskutieren, in einen größeren Rahmen stellen. Der große Rahmen ist durch das geprägt, was wir an den Ungarn
bewundern und was wir ihnen zu verdanken haben. Ich
spreche von dem unbändigen Freiheitswillen, der in Ungarn als dem ersten Land zum Ausdruck gekommen ist,
als es zu einem großen Aufstand kam. Er ist auch
dadurch zum Ausdruck gekommen, dass die Ungarn
Deutschen den Weg über Österreich in die Freiheit ermöglicht haben. Das war eine großartige Leistung. Wir
haben in den 90er-Jahren immer gesagt: Wir werden
euch das nie vergessen. - Nach einiger Zeit haben mir
ungarische Freunde gesagt: Wir können es nicht mehr
hören. Ihr müsst einmal konkret werden. Ihr dürft nicht
immer nur Worte machen. - Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass wir die Ungarn, die jetzt erfreulicherweise in unserer Wertegemeinschaft der aufgeklärten,
rechtsstaatlichen europäischen Demokratien angekommen sind, darauf hinweisen, dass wir wegen einer möglichen Fehlentwicklung Sorge haben. Wir sollten das aber
bitte in einem Umgangston tun, der diesem besonderen
Verhältnis Deutschlands zu Ungarn angemessen ist.
({0})
Wir haben - auch das ist bereits gesagt worden - ein
Interesse an einer starken und erfolgreichen ungarischen
Ratspräsidentschaft, zumal in einer für die Europäische
Union herausfordernden Zeit. Bei den im letzten Jahr gestellten Weichen ist jetzt Entschlossenheit das Gebot der
Stunde, Entschlossenheit bei der Umsetzung der Beschlüsse des Europäischen Rates, zum Beispiel um unsere Währung sturmfest zu machen, Entschlossenheit,
um den zum Teil sehr schmerzlichen Weg der Konsolidierung, auch der Haushaltskonsolidierung, fortzusetzen, und Entschlossenheit, neue Wege bei der Vertiefung
und bei dem Zusammenwachsen Europas zu gehen. Daher ist die Ratspräsidentschaft wichtig.
Eine Ratspräsidentschaft ist aber kein Orden, den man
sich ans Revers heftet, sondern Ratspräsidentschaft
heißt: gründliche Vorbereitung und sehr viel Arbeit. Wir
wünschen unseren ungarischen Freunden viel Erfolg bei
dieser kräftezehrenden Aufgabe, und wir werden sie
nach Kräften unterstützen.
({1})
Die Durchführung der Ratspräsidentschaft bringt eine
besondere Verantwortung mit sich. Trotz des Inkrafttretens des Vertrages von Lissabon ist das jeweilige Mitgliedsland, das die Ratspräsidentschaft wahrnimmt, die
Stimme Europas. Ungarn spricht in diesem ersten Halbjahr für die ganze Europäische Union, für uns alle. Es ist
daher leicht nachvollziehbar, dass sich der Fokus in dieser Zeit auf die Ratspräsidentschaft richtet. Niemand
kann ein Interesse daran haben, dass sich auf die exzellent vorbereitete Ratspräsidentschaft ein Schatten legt,
der die bisherigen Bemühungen überlagert.
Europa - das ist Einheit in Vielfalt: Vielfalt im Sinne
eines toleranten Miteinanders, das pluralistische Strömungen zulässt und die Rechte der Minderheiten ganz
besonders schützt. Dies war das Leitmotiv der Antrittsrede von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Europäischen Parlament zu Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft 2007. Es sollte uns auch heute noch leiten.
Vereint sind wir in Europa auch als Gemeinschaft der
Werte, auf die wir alle verpflichtet sind: Freiheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit. Das sind die Säulen.
Sie wurden vor langer Zeit erkämpft und tragen Europa.
Eines ist klar: Die Freiheit der Presse ist ein fundamentaler Wert in diesem Kontext.
({2})
Nicht für Pressefreiheit einzustehen, hieße, dieses Fundament zu gefährden. Wir würden an Glaubwürdigkeit
verlieren, auch und gerade im Gespräch mit Staaten, die
wir von diesen Werten zu überzeugen versuchen.
({3})
Wenn Bedenken aufkommen, dass die Freiheit der
Presse in einem Mitgliedsland der Europäischen Union
irgendeiner inhaltlichen Kontrolle unterworfen sein
könnte - sei es auch nur in Form einer antizipierten
Selbstzensur, gewissermaßen einer Schere im Kopf -,
dann ist das für die Union als Ganzes Grund zur Besorgnis, ganz besonders, wenn dieses Land die Ratspräsidentschaft innehat. Dieser Anspruch, den wir hier erheben, richtet sich an ein bereits in Kraft getretenes und
damit in seinem Anwendungsbereich allgemeingültiges
Gesetz und nicht erst an mögliche Formen der konkreten
Anwendung. Es zeugt übrigens von einem merkwürdigen rechtsstaatlichen Verständnis, wenn man das anders
sieht. Die Bundesregierung hat sich von daher klar positioniert. Wir haben unserer Erwartung Ausdruck verliehen, dass die Stellen im Mediengesetz geändert werden,
die mit fundamentalen Werten in Konflikt stehen.
Ich halte auch nichts davon, dass wir zulassen, dass
das ungarische Gesetz mit Gesetzen verglichen wird, die
im Bundestag oder in unseren Landesparlamenten verabschiedet wurden. Damit tun wir uns selbst unrecht.
({4})
Ich habe mir heute die Mühe gemacht, das nordrheinwestfälische Mediengesetz noch einmal genau zu lesen.
Es ist zwischen 1966 und 2008 von 27 auf sympathische
17 Paragrafen reduziert worden. Das ungarische Mediengesetz ist dagegen im Original ein richtiger Wälzer.
Kein Wunder, dass noch nicht jeder die Übersetzungen
gelesen hat. Im nordrhein-westfälischen Mediengesetz
kann ich wirklich nichts Angreifbares bezüglich des
Sachverhaltes finden, über den wir hier sprechen.
({5})
Wir müssen ehrlich mit uns selbst sein. Ich finde es nicht
angemessen, den Kolleginnen und Kollegen aus Nordrhein-Westfalen, gleich welcher Fraktion, solche Vorwürfe zu machen.
Ich möchte deutlich machen, dass durchaus einzelne
Elemente des ungarischen Mediengesetzes in verschiedenen Gesetzen der Europäischen Union vorhanden sein
können und dort möglicherweise sogar Sinn machen.
Datenschutzvorschriften zum Beispiel nehme ich außerordentlich ernst. Diese wurden auch beim nordrheinwestfälischen Gesetz inkriminiert; das kann ich überhaupt nicht verstehen. Erst die Kumulation von Einzelvorschriften zu einem Gesamtwerk kann Bedenken auslösen oder Probleme verschärfen.
Ich möchte einige unserer Zweifel konkret benennen.
Dazu gehören die umfassenden Kompetenzen des neu
geschaffenen Medienrates zur Kontrolle von Inhalten
der Berichterstattung, die einseitige personelle Besetzung dieses Gremiums für einen Zeitraum von immerhin
neun Jahren,
({6})
die im Gesetz verankerte Pflicht zur Offenlegung von
Quellen - das ist ein im Hinblick auf die Freiheit von
Journalisten ganz elementarer Satz -, die inhaltlichen
Vorgaben durch zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe,
verknüpft mit weitreichenden Sanktionsmöglichkeiten,
und der den öffentlich-rechtlichen Sendern obliegende
Zwang zur Übernahme der Nachrichten einer einzigen
staatlichen Nachrichtenagentur.
({7})
Unser Rat an unsere guten ungarischen Freunde ist,
die bestehenden Zweifel in enger Zusammenarbeit mit
der Kommission und der OSZE auszuräumen. Die
OSZE hat gestern durch ihre Medienbeauftragte eine
erste, weitgehend mit unseren vorsichtigen Analysen
übereinstimmende Bewertung abgegeben. Ich finde, dies
ist nicht nur vor dem Hintergrund der im Befreiungsprozess von Mittel- und Osteuropa begründeten historischen
Kompetenz der OSZE von besonderer Bedeutung. Wir
sind nicht nur den Grundsätzen der Europäischen Union,
sondern auch denen der OSZE verpflichtet.
({8})
Die Kommission wird in den nächsten Tagen zu den
Punkten, an denen sie Nachbesserungsbedarf vermutet,
Fragen stellen. Ehrlicherweise muss man mit Offenheit
an diese Prüfung herangehen; denn wir bewegen uns auf
dem Gebiet einer sehr schwierigen Rechtsmaterie. Es ist
weiß Gott viel zu früh, endgültige Festlegungen zu treffen. Aber die richtigen Fragen müssen von der Kommission gestellt werden.
Wir sind zuversichtlich, dass es hier zu substanziellen
Verbesserungen kommen kann. Gleichzeitig sehen wir
natürlich das Problem des maßgeblichen Prüfungsmaßstabes. Eine solche Einschränkung der Pressefreiheit
wäre eben nicht nur eine Verletzung sekundärrechtlicher
Vorschriften. Eine solche Einschränkung würde den
Kern unserer Grundwerte und Grundrechte berühren. Sie
muss daher auch unter diesem Gesichtspunkt, das heißt
primärrechtlich, behandelt werden.
({9})
Auch hier ist die Kommission als Hüterin der Verträge
gefordert. Übrigens ist und war die Beachtung dieser
Grundwerte auch Voraussetzung für einen Beitritt zur
Europäischen Union.
({10})
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Die Bundesregierung hat die Dimension und das Gewicht dieser
Problematik erkannt, zumal die innenpolitische Entwicklung in Ungarn nicht nur von diesem Gesetzgebungsvorhaben geprägt ist. Als große und überzeugte
Freunde Ungarns stehen wir jederzeit zur Unterstützung
bereit. Wir bitten unsere Freunde in Ungarn, das nicht
als Angriff auf Ungarn misszuverstehen. Das ist eine
ganz konkrete Hilfe unter Partnern und Freunden in der
Europäischen Union, bei der es darum geht, Fehlentwicklungen zu vermeiden und Schaden von Ungarn und
der Europäischen Union abzuwenden.
Jetzt ist die Kommission am Zuge. Ich habe Vertrauen
darauf, dass die Kommission ihrer Pflicht zur sorgfältigen Analyse vollumfänglich nachkommt. Und: Ich begrüße die von Außenminister Martonyi geäußerte Bereitschaft, auf den Rat guter Freunde einzugehen.
Vielen Dank.
({11})
Der Kollege Frank Hofmann hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatsminister Hoyer, ich möchte Ihnen ganz persönlich recht
herzlich für diese Rede und die Offenheit danken,
({0})
mit der Sie die Verbundenheit zum ungarischen Volk,
aber auch die möglichen Kritikpunkte deutlich angesprochen haben. Ich frage mich, wie es sein kann, dass Herr
Holmeier zu einer völlig anderen Einschätzung kommt;
({1})
auch er gehört doch, wie ich glaube, dieser Regierungskoalition an.
({2})
Ich habe festgestellt, dass die FDP nach dieser Rede regungslos dasaß.
An dieser Stelle möchte ich auch Herrn Wadephul ansprechen. Sie haben dieses Thema aus meiner Sicht behandelt, als gehe es um so etwas wie einen Verwaltungsakt, den man erst einmal abwarten sollte. Ich hoffe, dass
Sie, nachdem Sie die Rede des Staatsministers gehört
haben, zu einer anderen Einschätzung kommen werden.
({3})
Es geht nämlich um den Kern der europäischen Grundrechte. Diese Formulierung hat der Staatsminister gebraucht, und ich greife sie gerne auf.
({4})
- Es ist eine politische Aufgabe, sich über dieses Thema
zu unterhalten. Dazu sind wir hier. Wir sind kein Verwaltungsgericht, sondern wir müssen Politik machen.
({5})
Ich möchte einige weitere Punkte ansprechen. Ich war
zusammen mit Axel Schäfer am 5. Januar dieses Jahres
in Budapest. Dort haben wir uns mit zwei Chefredakteuren zweier Zeitungen und mit dem stellvertretenden
Staatssekretär Pröhle unterhalten. Ich möchte Ihnen von
meinen Eindrücken aus diesen Gesprächen berichten.
Die Partei Fidesz erhielt bei den Wahlen einen Anteil
von etwa 52 Prozent der abgegebenen Stimmen und verfügt durch Direktmandate über eine Zweidrittelmehrheit.
Wir hören immer nur von einer Zweidrittelmehrheit der
Partei. Sie stellt inzwischen aber nicht nur die Regierung
und beherrscht das Parlament, sondern sie besetzte auch
sämtliche Verfassungsorgane und nahezu alle Einrichtungen des öffentlichen Lebens. Im Moment gibt es noch
eine Ausnahme, nämlich die Zentralbank. In der Ministerialbürokratie wurden bereits sämtliche Leitungsposten
bis zur Ebene der Referatsleiter neu besetzt. Die bisherigen Amtsinhaber wurden entlassen. Ohne Angabe von
Gründen kann das Personal in der öffentlichen Verwaltung mit einer Frist von zwei Monaten entlassen werden.
Wenn wir bei uns von Beamten reden, wissen wir, was
das bedeutet.
Trotz Neubesetzung durch zwei Fidesz-treue Richter
wies das Verfassungsgericht eine rückwirkende 98-prozentige Sondersteuer auf Abfindungen im öffentlichen
Sektor einstimmig zurück. Was machen Herr Orban und
seine Regierung? Sie brachten das Gesetz mit kleinen
Änderungen erneut ein und entzogen gleichzeitig dem
Verfassungsgericht de facto die Normenkontrollbefugnis
für den Fiskalbereich. Vor diesem Hintergrund kann ich
nur davor warnen, darauf zu vertrauen, dass es im Medienbereich schon nicht so schlimm kommen werde, wie
die Kritiker befürchten.
Das Mediengesetz und die Medienverfassung sind
aus meiner Sicht ein weiterer Schritt, um allein die Partei
in den Vordergrund zu stellen. Es wurde schon erwähnt,
dass nun für neun Jahre eine Fidesz-Repräsentantin den
Vorsitz im neu geschaffenen Medienrat führt. Dabei geht
es nicht um die Kontrolle des Wettbewerbs, sondern um
die Medieninhalte. Durch regierungstreues Personal
wird das Ganze dann kontrolliert und sanktioniert, gesellschaftliche Gruppierungen sind nicht vertreten, das
sprachen Sie ja schon an. Es geht um die erklärten Ziele,
nationale Werte zu vermitteln und die kulturelle Identität
der Ungarn zu stärken. Es sind die unbestimmten
Rechtsbegriffe, deren Auslegung von der Medienbehörde und deren Medienpolizei vorgenommen wird, die
die Presse- und Medienfreiheit beeinträchtigen.
In einem Gespräch im Deutschlandradio gestern
Morgen berichtete Hans-Gert Pöttering, dass Orban in
der Fraktion der Christdemokraten eingestanden habe,
dass er das Mediengesetz schon früher hätte einbringen
müssen, aber mit Rücksichtnahme auf die Opposition
dies erst im Dezember erfolgt sei. Das stimmt nicht mit
dem überein, was wir in Ungarn erfahren haben. Dieses
Gesetz wurde nicht durch Orban eingebracht, auch nicht
durch die Regierung, sondern durch einen einzelnen Abgeordneten. Üblich ist dieses Verfahren der Einbringung
durch einen einzelnen Abgeordneten, wenn es um kleine
Änderungen einzelner Paragrafen in einem Gesetzeswerk geht, das nur von regionaler Bedeutung ist. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, wer von uns wäre in der
Lage, so ein Gesetz wie dieses Mediengesetz zu schreiben und einzubringen? Es sind im Original 120 Seiten,
und die Übersetzung umfasst fast 200 Seiten.
Charme hat diese Einbringung durch einen einzelnen
Abgeordneten aus der Sicht der Regierung und von
Orban deshalb, weil es so verkürzte Fristen gibt, und
nicht deshalb, weil man der Opposition entgegenkommen wollte, wie Orban gestern suggeriert hat. Über das
Mediengesetz fand praktisch keine öffentliche Diskussion statt. Die Diskussion im Parlament wurde auf ein
Minimum beschränkt. Von 220 Änderungsanträgen wurFrank Hofmann ({6})
den nur 22 zur Abstimmung gestellt. Zwischen der Einbringung des Entwurfs und der Verabschiedung ist nur
ein knapper Monat vergangen.
Am 3. oder 4. Januar 2011 legte die Regierung eine
erste englische Übersetzung vor. Dummerweise fehlten
entscheidende Passagen, in denen es gerade um einschneidende Sanktionsmöglichkeiten ging. Deshalb bestand Barroso nun darauf, eine Übersetzung in der EUKommission anfertigen zu lassen. Meine Damen und
Herren, Vertrauen sieht anders aus.
({7})
Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende?
Ja. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, die ungarische
Medienverfassung atmet nicht den Geist der europäischen Verfassung und von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Spitzen der EU haben versäumt, frühzeitig
auf die Probleme hinzuweisen. Die Zurückhaltung war
keine vornehme Zurückhaltung, sondern aus meiner
Sicht eine politische Dummheit.
Herr Kollege!
Dafür, dass es zu dieser Konfrontation im Europäischen Parlament gekommen ist, tragen die konservativen
Regierungschefs, auch Bundeskanzlerin Merkel, Verantwortung. Das Ganze war alles andere als eine Glanzleistung. Wer meint, man könne so etwas aussitzen, muss
nachsitzen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Der Kollege Johannes Selle hat nun das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren hier im Zuge der ersten Aufregung ein
ungarisches Mediengesetz. Es gilt seit dem 1. Januar 2011. Die englische Fassung gibt es erst seit 14 Tagen.
Sie ist 225 Seiten lang.
Das neue Gesetz löst ein altes Gesetz von 1996 ab,
das unter der alten sozialistischen Regierung entstanden
war. Mit dem Gesetz war es nicht möglich, die Jugend
vor rassistischer Hetze und pornografischem Unrat zu
schützen. Es war auch nicht möglich, die Holocaustleugnung zu verbieten.
({0})
Wiederholte Verletzungen von Menschenrechten und
Menschenwürde ausreichend zu ahnden, war ebenfalls
nicht möglich.
Die privaten Sender - im Wesentlichen RTL - haben
in Ungarn einen Marktanteil von 45 Prozent, die öffentlich-rechtlichen Sender einen von 10 Prozent.
Ein strengeres Mediengesetz wurde von Fidesz, der
Partei des Ministerpräsidenten, vor der Wahl angekündigt. Fidesz errang die Mehrheit der Parlamentssitze und
setzte das Wahlversprechen um.
({1})
Eine führende ungarische Zeitung hat das Verfassungsgericht angerufen, um das Mediengesetz zu überprüfen. Von großen Teilen der ungarischen Medienwirtschaft wird es aber völlig unaufgeregt behandelt.
({2})
Zum weiteren gesellschaftlichen Umfeld gehört, dass
das Land in den letzten vier Jahren unter sozialistischer
Ägide am Rand der Insolvenz entlangschrammte.
({3})
Es gehört auch zum gesellschaftlichen Umfeld, dass
Ungarn begeistertes Mitglied der EU ist und seit Beginn
des Jahres 2011 die Ratspräsidentschaft innehat.
Es ist eine Tugend, Mediengesetze sensibel zu betrachten und kritisch zu hinterfragen.
({4})
Die Freiheit der Medien ist für uns wesentlich für die Sicherung der politischen Freiheit und der Demokratie.
({5})
Der gesellschaftliche Fortschritt unseres demokratischen
Gemeinwesens ist ohne die Freiheit der Meinungsäußerung und ohne Freiheit bei der Veröffentlichung der Meinung nicht denkbar. Wir haben in Deutschland einschlägige Erfahrungen damit gemacht, und wir wollen nicht
mehr in dunkle Zeiten zurückfallen.
({6})
Deshalb ist es verständlich, dass wir hellhörig sind,
({7})
ganz besonders wenn es um die eigene Familie geht,
nämlich um die Staaten der EU.
Die Freiheit des öffentlichen Beitrages, die unerlässlich für den politischen Dialog und das politische Ringen
um den richtigen Weg, zur Aufklärung von Hintergründen und Verstrickungen und von vorteilhaften und nachteiligen Wirkungen ist, wird auch kommerziell genutzt,
und zwar mit vielen beklagenswerten Nebenerscheinungen. Terror, Rassismus, Gewaltverherrlichung, NeonaziIdeologie, Pornografie und Entwürdigung von Frauen
und Minderheiten gehören dazu.
({8})
Durch solche Themen kann ein demokratisches Gemeinwesen Schaden nehmen und ausgehöhlt werden.
Wir sind in Deutschland noch nicht am Ende mit der
Diskussion über das Löschen und Sperren von Internetseiten. Wir haben in Europa einen guten Grund, weiter
über die Freiheit der Medien zu diskutieren, solange es
für besonders mutig gehalten wird, wenn die Bundeskanzlerin anlässlich der Verleihung eines Medienpreises die Laudatio auf den dänischen Karikaturisten
Westergaard hält. Es ist eine Tugend, die Freiheit der
Medien zu beobachten, aber es ist keine Tugend, in
heftigste Kritik zu verfallen, ohne den vollständigen
Gesetzestext überhaupt gelesen haben zu können.
({9})
Nach dem, was ich zum Beispiel über den so viel gescholtenen Medienrat im ungarischen Gesetz gefunden
habe - das habe ich im Original gelesen -, ist er von der
Regierung unabhängig, vom Parlament mit zwei Dritteln
zu wählen und dem Parlament jährlich rechenschaftspflichtig.
({10})
- Hören Sie doch einmal genau zu. Sie haben gerade die
Dominanz und die unausgewogene Berichterstattung angegriffen. - Außerdem wird er nur auf Anforderungen
von Bürgern tätig, die geltend machen, dass ihre politischen Argumente nicht dargestellt wurden. Ich kann es
mir nur schwer vorstellen, dass ich es gut fände, wenn
radikale Gruppen in Deutschland die Darstellung ihrer
Argumente erzwingen könnten. Schließlich können Entscheidungen des Medienrates gerichtlich überprüft werden, und zwar mit aufschiebender Wirkung.
Aufgrund einiger Stellen, die ich in dem Gesetz gefunden habe, könnten wir aus diesem Gesetz sogar noch
etwas lernen:
({11})
In Art. 27 wird Parteien und politischen Bewegungen
verboten, einen Mediendienst oder ein Programm zu finanzieren.
({12})
Das sollten wir auf Italien und auch auf Deutschland anwenden.
Gemäß Art. 28 ist es verboten, dass audiovisuelle
Nachrichtensendungen und politische Informationssendungen Sponsoring annehmen.
Art. 38 verpflichtet audiovisuelle Mediendienstleister mit signifikantem Einfluss, zu Hauptsendezeiten
wichtige Nachrichten zu senden. Hier drängt sich die Erinnerung an den Appell unseres Bundestagspräsidenten
auf, den er mehrfach an das ZDF gerichtet hat.
Ein solch komplexes Gesetz, das auch Begriffe enthält, die einer Interpretation unterliegen, lässt sich nicht
sofort umfassend beurteilen. Die EU-Kommission ist
mit ihrem Apparat bis jetzt noch nicht zu einer Einschätzung gekommen, und es bedarf auch Beispiele der Anwendung in der Praxis und der dazugehörigen Rechtsprechung, um eine ernste und berechtigte Kritik an
Ungarn zu richten.
({13})
Möglicherweise gibt es Nachbesserungsbedarf hinsichtlich des Quellenschutzes und des Umgangs mit ausländischen Medienanbietern. Der ungarische Staatspräsident Schmitt, der das Gesetz unterzeichnet hat,
({14})
äußerte in diesem Zusammenhang, dass sein Land alles,
was es tue, an den gemeinsamen europäischen Standards
messe.
Herr Selle, kommen Sie bitte zum Ende.
Ja, gleich. - Der ungarische Ministerpräsident bestätigte mehrfach wie gerade erst gestern wieder, dass er
nach der juristischen Analyse zu Änderungen bereit ist.
Dies in aller Gelassenheit abzuwarten, ist das Gebot der
Stunde.
({0})
Eine Beeinträchtigung der EU-Ratspräsidentschaft durch
Vorurteile wollen wir jedenfalls nicht gelten lassen.
Herr Selle!
Unser Vertrauen gilt der ungarischen Demokratie und
seinen Repräsentanten.
({0})
Dem sollten sich die Fraktionen anschließen und die
Freundschaft mit Ungarn festigen.
({1})
Der Kollege Axel Schäfer hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach dem Beitrag meines Vorredners kann ich zunächst
einmal nur feststellen: Er hat all das, was der Kollege
Hoyer zum ungarischen Mediengesetz ausgeführt hat
und was ich Wort für Wort unterstreiche, entweder nicht
gehört, oder er ist völlig anderer Meinung.
({0})
Was dann die Freundschaft anbelangt, so hat einmal
ein wichtiger bayerischer Ministerpräsident gesagt: Es
geht immer auch um die Tapferkeit vor dem Freund. Genau darum geht es: dass man auch unter Freunden in
kritischen Fragen offen und solidarisch miteinander redet, statt kritikwürdige Punkte unter den Teppich zu kehren.
({1})
Dass wir diese Debatte führen, hat auch damit zu tun,
dass fast alle Journalistinnen und Journalisten in
Deutschland, viele aus der Kultur, aber auch aus anderen
Bereichen, seit dem 23. Dezember dieses ungarische Gesetz kritisieren, und das auch in vielen europäischen
Ländern. Aus Sicht meiner Fraktion ist es unsere Pflicht,
das auch in unserem Parlament zum Thema zu machen.
Genau das machen wir heute.
({2})
Ich war mit dem Kollegen Hofmann in Budapest. Wir
haben mit Regierungsvertretern, Abgeordneten und Medienvertretern gesprochen. Er hat bereits alles gesagt.
Ich brauche das nicht zu wiederholen. Insofern spare ich
wieder etwas seiner ein bisschen überzogenen Redezeit
ein.
Es ist aber wichtig, dass wir das Gesetz auch im Kontext sehen. Die Regierung wird von 43 Prozent der
Wahlberechtigten getragen. Sie hat 53 Prozent der Stimmen und 68 Prozent der Mandate, beansprucht aber
100 Prozent der Macht. Das geht in keinem europäischen Land. Das geht nirgendwo.
({3})
Was die Kolleginnen und Kollegen von der CSU angeht, die das in besonderer Weise verteidigen, kann ich
nur sagen: Glück gehabt, Deutschland! Auch nachdem
die CSU in Bayern mal eine Zweidrittelmehrheit hatte,
funktioniert die Demokratie.
({4})
- Überwiegend, okay. - Wir sind in Sorge, dass angesichts der Maßnahmen dieser Mehrheit die Demokratie
in Ungarn auf Dauer nicht mehr funktioniert. Die Demokratie bemisst sich nämlich nicht nur an der Möglichkeit,
als Regierung etwas gestalten zu können, sondern auch
an der Möglichkeit, als Opposition und Minderheit Meinungen zu vertreten.
({5})
All das ist wirklich besorgniserregend. Auch wir
mussten ja unsere eigene demokratische Tradition erst
lernen und entwickeln. Selbstverständlich gibt es auch
bei uns zu Recht bei Regierungswechseln Veränderungen im Personalbereich. Aber wir können immer noch
auf die Loyalität und Gesetzestreue derjenigen bauen,
die bei uns in der öffentlichen Verwaltung und den Regierungsapparaten tätig sind.
({6})
Aber Gesetze zu machen, aufgrund derer man selbst die
weniger wichtigen Referenten oder Referentinnen mit
einer zweimonatigen Kündigungsfrist ohne Angabe von
Gründen einfach auswechseln kann, hat nichts mit einer
demokratischen Kultur zu tun, die von Vielfalt lebt.
({7})
Es ist auch ein bisschen besorgniserregend, dass in einem Parlament - wir kritisieren schließlich kein Land,
sondern eine politische Partei - in sieben Monaten
120 Gesetze teilweise nach dem Verfahren verabschiedet
wurden, das der Kollege Hofmann beschrieben hat. Es
gab acht Verfassungsänderungen, darunter eine, nach der
das Verfassungsgericht seiner Aufgabe nicht mehr nachkommen darf. Nämlich: Gesetze auf ihre Verfassungskonformität zu prüfen und gegebenenfalls Parlament und
Regierung zu erklären, dass sie einen Gesetzentwurf
vorgelegt oder verabschiedet haben, der nicht verfassungsgemäß ist. Das haben die Parlamentsmehrheit und
die Regierung in Ungarn so gemacht. Auch dazu müssen
wir etwas sagen.
({8})
Wir befinden uns in Europa - das ist wichtig - in einer demokratischen Gemeinschaft. Wir diskutieren hier
als Europäerinnen und Europäer. Es war richtig, dass
wir, als die Sozialdemokraten in der Slowakei mit einer
populistischen Partei koaliert haben,
({9})
Axel Schäfer ({10})
nicht gesagt haben: „Wartet ab“, sondern diesen Sozialdemokraten das Stimmrecht in der sozialdemokratischen
Familie entzogen haben, weil wir Sorgen haben. Es ist
gut, dass wir nun das in Ungarn verabschiedete Mediengesetz zumindest kritisieren, weil wir Sorgen haben.
({11})
Das drücken wir heute aus. Deshalb ist diese Debatte so
gut und so wichtig.
Vielen Dank.
({12})
Der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen hat jetzt das
Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für uns Liberale ist die Freiheit der Medien nicht verhandelbar; das sollte hier vorweg gesagt sein.
({0})
Lieber Herr Dr. Dehm, ich bin beschämt, dass Sie
versuchen, dieses ernste und wichtige Thema in Europa
auf Kommunismusschelte oder Kommunismushatz zu
reduzieren. Das hat dieses Thema nicht verdient.
({1})
Dass Sie versuchen, dieses Wort des Jahres - für mich
jedenfalls ist es ein Unwort - zum Diskussionsgegenstand zu machen, ist unanständig. Belasten Sie diese
Diskussion nicht mit diesem Wort!
({2})
Ich danke Staatsminister Hoyer für seinen Beitrag,
den ich für sehr ausgewogen halte. Ich verstehe ihn so,
dass er damit im Interesse Deutschlands und Europas,
aber auch - ohne bevormundend sein zu wollen - im Interesse Ungarns einen Rat unter Freunden geben wollte.
Das ist genau das, was wir tun und den Ungarn in großer
Dankbarkeit zurückgeben können. Genauso positiv
nehme ich auf, dass der ungarische Ministerpräsident
Viktor Orban angekündigt hat, man sei bereit, das umstrittene Mediengesetz zu ändern, falls dies aus juristischen oder politischen Gründen notwendig sein sollte.
({3})
Angesichts der immer schärfer werdenden Kritik sollte
er dieser Ankündigung auch Taten folgen lassen.
Die ungarische Opposition, Journalisten jeglicher
politischen Couleur, Künstler und Internetaktivisten demonstrieren gegen das umfangreiche Gesetzeswerk.
Obwohl es umfangreich ist, sprechen wir bereits heute
darüber. Lassen Sie uns zu einem späteren Zeitpunkt
nach gründlicher Analyse hierauf zurückkommen! Das
EU-Parlament und auch wir im Bundestag sorgen uns
fraktionsübergreifend um die Meinungsvielfalt und die
Meinungsfreiheit in Ungarn. Die ungarische Regierung
darf den erfolgreichen Weg hin zu einer tragfähigen
demokratischen Struktur nicht verlassen, indem sie die
Unabhängigkeit der Medien zur Disposition stellt.
({4})
Für mich als Liberalen sind die Freiheit der Presse
und die Unabhängigkeit aller Medien unverzichtbare
Voraussetzung demokratischer Meinungsbildung. Die
FDP versteht sich in langer Tradition als Hüter der Medienfreiheit. Wir sind alarmiert und setzen uns seit Wochen auf EU-Ebene und, wie Staatsminister Hoyer soeben anschaulich beschrieb, über die deutsche Außenpolitik vehement für Änderungen am ungarischen Mediengesetz ein.
Die EU-Kommission prüft derzeit die Vereinbarkeit
des Mediengesetzes mit den EU-Verträgen. Dieser Prüfung sollten wir keinesfalls vorgreifen. Aber es geht
nicht nur um eine juristische, sondern auch um eine politische Überprüfung. Wir sollten immer der politischen
und nicht der juristischen Bewertung den Vorrang geben.
Wir sollten eben nicht allein auf die Kommission
schauen,
({5})
sondern aufzeigen, wo das ungarische Mediengesetz demokratische Werte verletzt, und entsprechende Änderungen einfordern.
({6})
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa, OSZE, weist auf die Verletzung ihrer Kriterien
zur Medienvielfalt hin. Staatsminister Hoyer hat eben
schon ausgeführt, dass es dort Ansatzpunkte der Kritik
gibt.
Lassen Sie mich konkrete Beispiele nennen. Nunmehr
gibt es in Ungarn eine nationale Medien- und Kommunikationsbehörde. Diese Zentralbehörde bündelt alle Regulierungs- und Aufsichtsaufgaben unter einem Dach.
Die Leitung dieser mächtigen Behörde wird auf neun
Jahre direkt vom Ministerpräsidenten ernannt. Erste
Amtsinhaberin ist - für mich wenig überraschend - eine
langjährige Medienpolitikerin der Regierungspartei. Neben der Leitung der Medienbehörde obliegt ihr ebenfalls
die Leitung des Medienrates, der für die Programmkontrolle der Medien zuständig ist. Wenn Regulierung und
Inhaltskontrolle in den Händen einer einzelnen Person
liegen, die ihr Amt auch noch vom politischen Mehrheitsführer erhält, ist es um die Meinungsvielfalt sehr
schlecht bestellt.
({7})
Die ungarische Regierung verteidigt sich mit dem
Hinweis auf vergleichbare Strukturen in anderen europäischen Ländern. Zwar kritisiere ich als medienpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion die Staatsnähe einiger deutscher Medien immer wieder scharf. Wir
streiten in Deutschland aber darüber, wie die Selbstkontrolle der Medien noch staatsferner organisiert werden
kann. Bereits jetzt werden die Aufsichtsgremien pluralistisch durch die gesellschaftlich relevanten Gruppen
gebildet. Insofern verbietet sich glücklicherweise ein
Vergleich Ungarns mit Deutschland, nicht nur mit Nordrhein-Westfalen.
Dies gilt auch für Vergleiche im Hinblick auf journalistischen Quellenschutz. Im Gegensatz zur ungarischen
Regierung haben wir diesen Schutz erst kürzlich erhöht.
Wir vertrauen darauf, dass der investigative Journalismus einen unverzichtbaren Beitrag zur demokratischen
Kontrolle unseres Staates liefert. In Ungarn hingegen
dürfen seit dem 1. Januar 2011 Informationen über die
Identität der Quelle geheimer Daten nicht mehr vertraulich gehalten werden, sofern es sich um widerrechtlich
qualifizierte Daten handelt oder nationale Interessen davon berührt sind.
Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben uns schon einmal über eine - nennen wir es einmal so - unausgewogene Berichterstattung
in den Medien geärgert. Diese müssen wir aber aushalten. Die Medien leisten einen unverzichtbaren Beitrag
zum demokratischen Meinungsaustausch. Wer die Freiheit der Medien beschneidet, der schadet der Demokratie.
Vielen Dank.
({8})
Jürgen Hardt hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was Herr Dehm hier heute vorgetragen hat, hat mich von
allen Beiträgen am meisten erschüttert.
({0})
Denn er hat sich hier als der Hüter und Wächter der
Menschenrechte weltweit profiliert.
({1})
Vor zehn Tagen habe ich in der Zeitung gelesen, dass
anlässlich einer Demonstration von sieben Personen bei
einer großen Veranstaltung der Linken hier in Berlin
diese sieben Kritiker weggeprügelt wurden, darunter
auch unsere frühere Kollegin Vera Lengsfeld. So geht
die Linke mit Menschen, die in Deutschland demokratische Rechte für sich in Anspruch nehmen, um. Deswegen finde ich Ihren Beitrag nicht besonders glaubwürdig.
({2})
- Ich muss mich korrigieren. Das war eine Veranstaltung
der Linken-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung.
({3})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dehm zulassen?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Dehm.
({0})
Ich bin froh, dass meine Zwischenfrage zugelassen
wird. - Herr Hardt, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es weder eine Veranstaltung der Partei Die
Linke noch der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sondern der
unabhängigen linken Zeitung Junge Welt war?
({0})
Herr Dehm, Gegenfrage: Sind Sie bereit, sich von der
Gewalt gegen die Demonstranten bei dieser Veranstaltung zu distanzieren?
({0})
Nein, das können Sie nicht. Das dürfen Sie nicht.
({0})
Ich möchte an die Adresse der Linken einfach Folgendes sagen: Die mit dem Zaun durch Europa waren
die Kommunisten, und die mit der Zange waren die Ungarn. Deswegen lassen wir auf die Ungarn nichts kom9424
men. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Ungarn ein
Volk sind, das mit seinen demokratischen Grundrechten
gut umgehen kann.
({0})
Ich komme zum Thema zurück. Angesichts der langen Geschichte, die Deutschland und Ungarn gemeinsam haben, und der Tatsache, dass die Ungarn gegenwärtig die enorme Verantwortung haben, Europa in
dieser schwierigen Zeit zu führen, sollten wir in dieser
Phase sehr sorgfältig mit Vorurteilen im Hinblick auf bestimmte demokratische Entwicklungen in Mitgliedstaaten der Europäischen Union umgehen. Es ist geradezu
ein Beispiel für das Funktionieren der Europäischen
Union, dass bei einem Projekt wie der Mediengesetzgebung in Ungarn, das nicht nur bei mir, sondern, wie ich
denke, bei allen hier im Hause Bauchgrummeln auslöst,
({1})
der Ministerpräsident von Ungarn in einem kurzen Gespräch mit dem Kommissionspräsidenten zu folgendem
Ergebnis kommt: Die Kommission prüft das, und wir
setzen uns anschließend damit auseinander und werden
auf der Grundlage einer freundschaftlichen, sachlichen
und juristischen Bewertung die Dinge beurteilen.
({2})
Ich finde, das ist eine ausgezeichnete Vorgehensweise.
Der Deutsche Bundestag ist nicht der Aufsichtsrat des
ungarischen Parlaments.
({3})
Ich bin auch nicht als Abgeordneter des Deutschen Bundestages gewählt worden, um mir die 200-seitige englische Übersetzung eines ungarischen Mediengesetzes
durchzulesen.
({4})
Ich finde es wunderbar, dass man solche Dinge in der
Europäischen Union mittlerweile auf diese friedliche
Weise regelt.
Ich glaube, mit ein bisschen weniger Schaum vor dem
Mund bei diesem Thema könnten wir zu guten, konkreten, freundschaftlichen Ratschlägen an die Ungarn kommen, die vielleicht sogar ihre Unterstützung und Zustimmung finden könnten.
Wir haben zum Beispiel in Deutschland gute Erfahrungen mit den Mechanismen von freiwilligen Selbstbindungen der Presse, von Ehrenkodexen, von Pressekodexen gemacht, in denen steht, was sauberer und
ordentlicher Journalismus ist. Da gibt es das Recht der
Gegendarstellung; man fühlt sich zur Wahrheit verpflichtet und verzichtet auf die Anwendung unlauterer
Methoden. Vielleicht ist das ein Weg, den die ungarische
Politik gehen könnte, wenn es darum geht, dieses Gesetz
ein Stück weit zu ergänzen und sicherzustellen, dass es
tatsächlich nicht gegen die Medien eingesetzt werden
kann.
Ich erwarte von den Entscheidungen der nächsten
Tage, genauer gesagt von der Vorlage des Berichts der
Kommissarin Kroes, wesentliche Aufschlüsse darüber,
an welchen Punkten wir uns näher mit dem Gesetz befassen müssen. Das werden wir sicherlich in aller Ausführlichkeit tun, ohne dass wir hier eine polemische Veranstaltung durchführen, wie wir es vor einigen Jahren im
Fall Österreichs getan haben,
({5})
und zwar ohne dass es den Österreichern oder uns oder
der europäischen Idee in irgendeiner Weise genutzt
hätte.
Danke schön.
({6})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie
zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/4401 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Rüdiger Veit, Daniela Kolbe ({1}), Gabriele
Fograscher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes für ein erweitertes Rückkehrrecht im
Aufenthaltsgesetz
- Drucksache 17/4197 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Volker Beck ({3}), Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam
schützen durch bundesgesetzliche Reformen
und eine Bund-Länder-Initiative
- Drucksache 17/2491 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({5}), Memet
Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Residenzpflicht abschaffen - Für weitestgehende Freizügigkeit von Asylbewerbern und
Geduldeten
- Drucksache 17/3065 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenrecht auf Freizügigkeit ungeteilt
verwirklichen
- Drucksache 17/2325 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, eine
Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ole Schröder.
({8})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Gesetzentwurf, über den wir heute beraten,
dient der Präzisierung unserer Rechtsordnung, um noch
vorhandene Defizite bei der Integration zu beheben.
Immer noch sind zu viele Menschen, die schon lange
bei uns leben, nicht ausreichend integriert. Integration ist
die Voraussetzung für tragbare Lebensperspektiven. Eine
Integration der Migrantinnen und Migranten ist aber
auch Voraussetzung für Akzeptanz in der Bevölkerung
in Bezug auf Zuwanderung in unser Land.
Es ist nicht zu akzeptieren, wenn durch mangelnde Integration, insbesondere durch mangelnde Deutschkenntnisse, Menschen mit Migrationshintergrund nicht am
gesellschaftlichen Leben teilhaben können, wenn Menschen mit Migrationshintergrund keinen Zugang zum
Arbeitsmarkt haben und dadurch abhängig von Sozialleistungen sind.
Die Bundesregierung und die Koalition reagieren auf
diese Mängel mit dem Prinzip des Forderns und Förderns. Auf der einen Seite machen wir den Integrationsund Leistungswilligen Angebote, um ihnen die Integration bei uns zu erleichtern. Wir verbessern den Schutz
der Menschen in unserem Land, die schutzbedürftig
sind. Auf der anderen Seite sanktionieren wir diejenigen,
die nicht bereit sind, sich bei uns zu integrieren, die unsere Werteordnung ablehnen.
Integrationsverweigerer müssen damit rechnen, dass
sie Sanktionen spüren. Diejenigen, die unsere ausgestreckte Hand ausschlagen, müssen mit Sanktionen rechnen. Das wird an unserem Gesetzentwurf deutlich. Wir
verbessern die Regeln zur Bekämpfung von Zwangsheirat. Wir führen ein eigenständiges Rückkehrrecht für
Verschleppte ein, wenn sie in Deutschland integriert
waren. Opfer von Zwangsheirat sollen drei Jahre die
Möglichkeit haben, die Aufhebung der Zwangsehe zu
beantragen. Außerdem schaffen wir einen eigenen
Straftatbestand Zwangsheirat. Das ist ein deutliches Signal, dass Zwangsheirat in unserem Land auch nicht
durch kulturelle Differenz entschuldbar ist.
({0})
Zwangsheirat ist strafbares Unrecht, das mit unserer
Werteordnung nicht vereinbar ist. Es ist richtig, dass wir
hier einen eigenen Straftatbestand schaffen,
({1})
um auch der Appellfunktion des Strafrechts Ausdruck zu
verleihen. Es ist eben ein Unterschied,
({2})
ob es sich um einen Teil eines anderen Straftatbestandes
handelt oder ob künftig jedes Mädchen sagen kann: Es
gibt hier den Straftatbestand der Zwangsheirat; das ist
Unrecht.
({3})
Zur Politik des Förderns gehört, dass wir die räumlichen Beschränkungen für Asylbewerber und Geduldete
zur Ermöglichung der Aufnahme einer Beschäftigung,
einer Ausbildung oder eines Studiums weiter lockern.
Zur Politik des Forderns gehört die neue Regelung zur
Bekämpfung von Scheinehen. Der Nachzug von Ehegatten ist einer der häufigsten Zuwanderungsgründe. Wir
haben in unserem Land in erheblichem Umfang Scheinehen, durch die ein Aufenthaltstitel erschlichen wird.
Die Dunkelziffer ist erheblich.
({4})
Die Mindestbestandszeit der Ehe, die erforderlich ist, um
einen eigenständigen Aufenthaltstitel zu begründen,
werden wir daher auf drei Jahre verlängern. Dadurch
wird der Anreiz, eine Scheinehe einzugehen, verringert.
Auch die Möglichkeit der Aufdeckung von Scheinehen
wird erheblich gesteigert.
Herr Schröder, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kilic zulassen?
Bitte.
Bitte schön.
Herr Schröder, Sie haben uns mit einem wunderbaren
Satz beglückt: Die Dunkelziffer ist erheblich. Wie hoch
soll diese Dunkelziffer sein? Wenn es dunkel ist, ist es
dunkel. Wie haben Sie bemerkt, dass sie so hoch ist?
({0})
Wie haben Sie das erkannt? Welche Datenlage hatten
Sie, um feststellen zu können, dass diese Dunkelziffer
hoch ist?
Das ergibt sich allein aus dem Delikt. Wenn sich zwei
Personen einig sind, eine Scheinehe einzugehen, um einen Aufenthaltstitel zu erschleichen, ist der Fall anders
als bei Delikten, bei denen es einen Täter und einen Geschädigten gibt; in letzterem Fall hat der Geschädigte einen großen Anreiz, sich an die Polizei zu wenden. Bei
Straftatbeständen, bei denen zwei Personen zusammenarbeiten, um eine Straftat zu begehen, und keine Persönlichkeit da ist, der unmittelbar ein Schaden entstanden
ist, ist die Dunkelziffer extrem hoch.
({0})
Das gleiche Phänomen tritt beispielsweise auch bei
Rauschgiftdelikten auf; auch da gibt es keinen unmittelbar Geschädigten. Insofern ist es eine kriminalistische
Selbstverständlichkeit, dass die Dunkelziffer bei solchen
Straftaten hoch ist.
Herr Kollege, auch Herr Montag würde Ihnen gerne
noch eine Zwischenfrage stellen.
Ich möchte jetzt gerne fortfahren.
({0})
- Bitte, Herr Montag. Wenn Sie noch einen weiteren Aspekt haben, gerne.
Herr Montag, bitte schön.
Ich danke Ihnen sehr, dass Sie die Zwischenfrage
doch zulassen. - Sie haben auf die Frage meines Kollegen Kilic geantwortet, dass dieses Delikt - zwei Personen vereinbaren eine Scheinehe - strukturell im Dunkeln
ist, solange nicht einer von beiden etwas offenlegt. Das
ist selbstverständlich; das bestreiten wir nicht. Wenn so
etwas geschieht, dann geschieht es im Dunkeln. Aber Sie
sagen, dass es oft geschieht, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Wir haben Sie nicht gefragt, aus welchen
Gründen Sie der Meinung sind, dass das eine Tat ist, die
sich im Dunkeln abspielt, sondern wir haben Sie gefragt:
Wie kommen Sie eigentlich dazu, zu sagen, dass dies so
oft passiert? Könnten Sie das beantworten?
({0})
Dass die Dunkelziffer hoch ist, sieht man daran, dass
allein die Zahl der aufgeklärten Straftaten erheblich ist.
Es sind über 1 000 im Jahr. Daraus lässt sich die
Schlussfolgerung ziehen, dass natürlich auch die Dunkelziffer entsprechend hoch ist.
({0})
Ich denke, das ist eine Selbstverständlichkeit, lieber Herr
Kollege Montag.
Ich möchte aber deutlich machen, dass auch an besondere Härten gedacht ist. Wenn keine Scheinehe besteht,
wird natürlich eine Ausnahme von dem Erfordernis der
Mindestbestandszeit gemacht, zum Beispiel bei körperlicher und psychischer Gewalt. Das war auch bisher schon
der Fall.
Unsere Rechtsordnung enthält die Verpflichtung zur
Integration. In den Integrationskursen werden daher
Sprachkenntnisse, das Alltagswissen sowie Kenntnisse
unserer Rechtsordnung, Kultur und Geschichte vermittelt. Deshalb ist der Besuch solcher Integrationskurse
auch so wichtig. Die Kontrolle des Besuchs dieser Integrationskurse wird durch den Gesetzentwurf verbessert.
Die Feststellung der Ausländerbehörden, ob ein Ausländer seiner Pflicht nachkommt, wird verpflichtend. Wichtig ist, dass der Nichtbesuch der Integrationskurse Sanktionen nach sich zieht, bis hin zur Ablehnung der
Verlängerung des Aufenthaltstitels.
Ich möchte gerne noch auf den Vorschlag eingehen,
der im Bundesrat verabschiedet wurde, nämlich dass ein
eigenständiges Aufenthaltsrecht für Jugendliche geschaffen werden soll, die schon lange in Deutschland leben und hier die Schule besucht haben, einen Schulabschluss gemacht haben und dadurch gut integriert sind.
Diese Jugendlichen sollten eine Perspektive haben.
Auch das entspricht wieder unserem Prinzip des Förderns und Forderns. Diese Jugendlichen sind gut
integriert. Sie haben eine Perspektive in Deutschland.
Deshalb unterstützen wir auch den Vorschlag des Bundesrates, diesen Jugendlichen einen eigenständigen Aufenthaltstitel zu geben.
({1})
Der Kollege Rüdiger Veit hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir sprechen heute über eine Reihe von Gesetzgebungsvorschlägen aus den Reihen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und Linkspartei, aber auch über einen Vorschlag
der Bundesregierung, der das Ganze sozusagen thematisch zusammenbindet. Ich will versuchen, so abgewogen, wie mir das möglich ist, dazu Stellung zu nehmen.
Zunächst einmal, Herr Kollege Dr. Schröder: Wenn
Sie in diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung Dinge
geregelt haben wollten oder wollen, die entweder eine
Verbesserung der Integration bedeuten oder aber zusätzliche Sanktionen schaffen, dann hätte ich etwas überlesen. Das würde mir leidtun; dem könnte ich möglicherweise nur sehr bedingt, nämlich was die Verbesserung
der Integrationskurse angeht, zustimmen.
Ich habe das bisher so verstanden, dass es sich dabei
im Wesentlichen um den Hinweis an die Verwaltungsbehörden - vor allen Dingen die Ausländerbehörden - handelt, dass sie das Gesetz anzuwenden haben; denn dass
die Frage der Integration bei der Verlängerung oder Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen eine Rolle spielt,
steht bereits drin. Soweit es hier um eine neue Rechtsgrundlage für den Datenaustausch zwischen den Beteiligten geht oder gehen soll, habe ich nichts dagegen. Allerdings ist der Nutzen nur schwer zu erkennen; denn im
Grunde genommen spricht auch jetzt nichts dagegen,
dass sich die Betroffenen über Daten austauschen. Spätestens wenn ein Integrationskurs abgerechnet werden
muss, ist klar, wer wo teilgenommen hat und wer nicht.
Aber gut, es ist Ihre Sache, wenn Sie das noch einmal
ausdrücklich ins Gesetz hineinschreiben wollen. Es
schadet nichts, es nützt aber auch nichts.
Zweitens. In Bezug auf die Frage des Rückkehrrechts
werden Sie mir nicht verübeln, dass ich dafür eintrete,
den SPD-Gesetzentwurf, der sich nämlich genau auf diesen Punkt beschränkt, zu präferieren und letztendlich
auch zu verabschieden. Ich bin zunächst einmal froh,
dass Sie die Frage des Rückkehrrechts überhaupt aufgegriffen haben. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als wir
in der Großen Koalition darum gerungen haben. Da ist
uns immer gesagt worden: Das machen wir als Union
nur mit einem Gegengeschäft, nämlich gegen die Verlängerung der Mindestbestandszeit der Ehe bei der Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts.
({0})
- So kommt es. Ich habe seinerzeit immer die Meinung
vertreten - die Auffassung hat sich nicht geändert, Herr
Kollege Grindel -: Das ist eigentlich ein ziemlich unsittliches Verlangen. Das erinnert mich ein bisschen an
Koalitionsverhandlungen mit den Grünen auf kommunaler Ebene: Genehmigung der Umgehungsstraße gegen
Förderung des Frauenhauses oder so etwas Ähnliches. Beides hat miteinander überhaupt nichts zu tun!
Wenn Sie gegen Zwangsheirat sind, dann müssen Sie
konsequenterweise in erster Linie den Opfern helfen und
dafür sorgen, dass sie sich aus dieser Zwangslage befreien können.
({1})
Dazu gehört nun einmal zwingend das Rückkehrrecht.
Dabei nehmen Sie im Gesetzentwurf Einschränkungen vor, die ich nicht nachvollziehen kann. Warum muss
eine Person, die schon hier gelebt hat und einen Aufenthaltstitel hatte, dann aber Opfer von Zwangsheirat
wurde, erst noch einmal nachweisen, dass sie eine positive Integrationsprognose hat? Ich dachte, es gehe darum, den Opfern zu helfen, ohne zusätzliche Hürden aufzubauen. Insofern würde ich sagen: Sie sind da zwar auf
dem richtigen Weg, aber ein bisschen zu kurz gesprungen. Ähnliches gilt übrigens auch bei dem Punkt, dass
das nur innerhalb von fünf bzw. zehn Jahren möglich
sein soll.
Ich komme zum nächsten Punkt: Strafbarkeit. RotGrün hat bereits im Februar 2005 den § 240 Abs. 4 des
Strafgesetzbuchs geändert und Zwangsheirat dort ausdrücklich unter Strafe gestellt. Sie wollen das jetzt unter
einer neuen Überschrift zusammenfassen. Ich sage Ihnen
dazu einmal meine höchstpersönliche Auffassung und
die einiger, aber bei weitem nicht aller Rechtspolitiker:
Notwendig ist das nicht, aber es schadet auch nichts. Unter generalpräventiven Gesichtspunkten wird möglicherweise gedacht: Jemand, der diese Überschrift im Strafgesetzbuch und auch im Inhaltsverzeichnis liest, lässt
sich eher davon abhalten, eine Zwangsheirat zu arrangieren oder eine solche als Beteiligter und Täter zugleich
einzugehen. - Das ist ein frommer Wunsch. Dass das
letztendlich eine entsprechende Wirkung hat, kann man
bezweifeln, aber, wie gesagt, man kann eigentlich auch
nichts dagegen haben.
Dann komme ich zu einem weiteren Punkt, der Residenzpflicht. Da gehen die Anträge von Bündnis 90/
Die Grünen und von der Linkspartei ganz offensichtlich
weiter als der Regierungsentwurf. Auch hierzu meine
persönliche Auffassung. Ich glaube, auch als ehemaliger
Kommunalpolitiker: Man kommt nicht umhin, gerade
im Zuge einer gerechten Verteilung auf die Gebietskörperschaften, zu sagen: Eine Wohnortzuweisung - eine
Wohnortzuweisung! -, verbunden mit der Regelung, wo
und durch wen Unterstützung geleistet wird, ist in Ordnung. Die wollen wir auch gar nicht abschaffen; sonst
gibt es Verwerfungen, auch und gerade zwischen manchen Flächenländern und Stadtstaaten. Aber ich persönlich habe eigentlich nie den Nutzen der Regelung gesehen, nach der jemand, der beispielsweise in Potsdam
oder etwas südlich davon wohnt und einmal ins nördliche Brandenburg will und zu dem Zweck mit öffentlichen Verkehrsmitteln sinnvollerweise das Berliner Stadtgebiet durchquert, im Prinzip schon einen Verstoß gegen
seine Residenzpflicht begeht. Von daher könnte ich mir
vorstellen, dass die Residenzpflicht, also die Anordnung:
„Du darfst dich nur in einem bestimmten Bezirk, einer
Stadt, einer Gemeinde, einem Landkreis aufhalten“, ersatzlos abgeschafft werden kann.
({2})
Wohlgemerkt: Korrespondieren muss das mit einer klaren Wohnsitzzuweisung, damit die Frage der Kostenträgerschaft eindeutig ist.
Von daher enthält dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung Licht und Schatten. Er geht in manchen Punkten - ich nannte schon die Residenzpflicht und das
Rückkehrrecht - nicht weit genug. Zur Datenübermittlung hatte ich schon etwas gesagt. Ich fasse zusammen:
Das ist im Prinzip nicht schädlich, geht auch heute schon
so; dazu bräuchte man das Gesetz eigentlich nicht zu ändern.
Noch einmal zu der unseligen Verknüpfung von Wiederkehrrecht und Ehebestandszeit: Das ist eigentlich
eine unsittliche Verknüpfung, ein unsittliches Ansinnen.
Dazu wird meine Kollegin Aydan Özoğuz anschließend
noch eingehend sprechen, sodass ich mir jede weitere
Ausführung hierzu versage und Sie herzlich bitte, vielleicht den einen oder anderen Punkt aus den Gesetzentwürfen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei in die Beratung aufzunehmen. Sie könnten auf dem
richtigen Wege noch ein wenig gute Begleitung, Hinweise und Mitwirkung gebrauchen. Wir jedenfalls wären
dazu gern bereit.
Danke sehr.
({3})
Hartfrid Wolff hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Zwangsheirat ist kein Kavaliersdelikt.
({0})
Oft hat sie schreckliche Folgen für die Betroffenen. Die
Gleichberechtigung der Frau ist einer der wesentlichen
Bestandteile unserer Rechts- und Werteordnung, deren
Vermittlung auch eine der entscheidenden Integrationsaufgaben ist. Integration funktioniert nur bei Respekt vor
dieser Werteordnung.
In großfamiliären Strukturen mit altertümlichen Bräuchen bestehen zusätzliche Zwangslagen für junge Menschen. Falsche Traditionen oder intolerante kulturelle
Konventionen verhindern eine unabhängige Lebensgestaltung - vielfach lebenslänglich. Zwangsheiraten sind
dabei kein Einzelphänomen - auch nicht in Deutschland.
Erfahrungen zum Beispiel aus Berlin, aber auch aus Flächenländern wie Baden-Württemberg oder Bayern zeigen, dass es leider viel zu viele junge Frauen gibt, die in
einer Zwangsehe leben müssen. Der besondere psychische Druck, der auf Mädchen und jungen Frauen in der
Zwickmühle zwischen familiärer Solidarität und eigener
Selbstbestimmung lastet, ist hier sehr groß.
Auch wenn die Zwangsheirat bereits jetzt im Rahmen
der Nötigung strafbar ist, ist den betroffenen Familien
meist nicht bewusst, dass elterliche oder geschwisterliche Vorschrift des Ehepartners in der deutschen Rechtsordnung nicht toleriert wird. Den Eltern und Familienangehörigen muss ausdrücklich die kriminelle Dimension
solchen Tuns klar sein. Die selbstbestimmte Lebensgestaltung, die Freiheit, einen Ehepartner selbst aussuchen
zu können, braucht den besonderen Schutz eines eigenen
Straftatbestandes.
Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion ist allerdings
die Verbesserung des Opferschutzes besonders wichtig.
Wir werden eben nicht nur die Täter bestrafen, sondern
auch den Opfern wieder eine Perspektivchance geben.
Es muss ein eigenständiges Wiederkehr- bzw. Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsverheiratungen
geben. Gerade die Verschleppung in ein fremdes Land
verschärft diese Zwangslage noch.
Die bisherige Regelung, wonach der Aufenthaltstitel
auch für verschleppte junge Frauen nach sechs Monaten
automatisch erlischt, ermöglicht es, diese Zwangslage
noch stärker auszunutzen und Frauen jede Fluchtperspektive zu nehmen. Nachdem über das Rückkehrrecht
nun schon sehr lange diskutiert wird und es weder RotGrün noch Rot-Schwarz gelungen ist, diese Probleme
anzupacken, ist es der christlich-liberalen Koalition nun
zu verdanken, dieses wichtige Opferschutzrecht für die
Betroffenen geschaffen zu haben.
({1})
Jetzt erhalten Opfer von Zwangsheirat und Verschleppung wieder eine Chance, sich zu befreien. Dem dient
auch die Verlängerung der Antragsfrist für die Aufhebung der Ehe.
({2})
Der Gesetzentwurf ist ein Signal für eine Abkehr von
ideologischer Zuwanderungs- und Integrationspolitik.
Die Koalition aus FDP und CDU/CSU geht ohne Scheuklappen die bestehenden Defizite der Integrationspolitik
an, um die Chancen der Zuwanderung für unser Land
besser zu nutzen. Dazu gehört auch, die Grundwerte unserer Rechtsordnung gegenüber Praktiken aus Herkunftsländern durchzusetzen, die mit dem deutschen
Recht nicht vereinbar sind.
Im Zuge dieser Verbesserungen haben wir der Verlängerung der Ehemindestbestandszeit auf drei Jahre zur
Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltstitels zugeHartfrid Wolff ({3})
stimmt. Das ist auf Kritik bei Opferverbänden, Kirchen
und Nichtregierungsorganisationen gestoßen.
({4})
Wir nehmen diese Besorgnis sehr ernst und werden auch
in Zukunft auf die Wirkung dieser Regelung genau achten. Leider hat die im Jahre 2000 von Rot-Grün durchgesetzte Absenkung der Ehemindestbestandszeit von vier
auf zwei Jahre die Möglichkeit für Scheinehen erweitert.
Dem will die Koalition entgegensteuern.
({5})
Opfern häuslicher Gewalt, die es leider in viel zu großer Zahl gibt und die in der Regel als Argument gegen
die Anhebung der Ehemindestbestandszeit angeführt
werden, kann durch die Härtefallregelung nach wie vor
geholfen werden. Wir mahnen an, dass die Ausländerbehörden zu einer großzügigen Handhabung gerade im
Sinne der Opfer von Zwangsheirat kommen.
Wir lockern die Residenzpflicht für Geduldete und
Asylbewerber, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung, Ausbildung oder eines Studiums bzw. den Schulbesuch zu erleichtern. Damit steigern wir die Chancen
von jungen Migranten, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu
fassen und sich in unsere Gesellschaft zu integrieren.
Die Koalition wird durch Fördern und Fordern die
Chancen der Zuwanderung für unser Land besser erschließen. Ziel bleibt, den Zusammenhalt unserer durch
Zuwanderer bereicherten Gesellschaft zu stärken.
Ich danke Ihnen.
({6})
Sevim Dağdelen spricht jetzt für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um eines vorwegzunehmen: Ihnen, sehr geehrte Damen und
Herren von der Bundesregierung und von den Regierungsfraktionen, geht es nicht um die betroffenen
Frauen, wie es hier immer wieder gesagt wurde. Nein,
Sie haben kein Herz für zwangsverheiratete Personen.
({0})
Sie wollen auch nicht ernsthaft etwas gegen Zwangsverheiratungen tun.
Es nimmt Ihnen auch niemand ab, dass Sie plötzlich
für die Rechte von Frauen kämpfen, wo doch gerade Sie
seit Jahren alles an Gleichstellungspolitik verhindert haben und immer noch verhindern. Deshalb protestierten
heute vor dem Reichstag zahlreiche Frauenrechtsorganisationen und andere Vereine aufgrund des Aufrufs von
Terre des Femmes gegen Ihren frauenfeindlichen Gesetzentwurf. Die Linke ist auf der Seite dieser Frauenrechtsorganisationen.
({1})
Ihnen geht es nur um eines: Sie wollen die Notlagen
von Frauen dafür nutzen, um Ihre hässliche Abschottungspolitik zu kaschieren; denn Sie wollen immer noch
Familienzusammenführungen in Deutschland verhindern.
Bereits im August 2007 wurde das Argument der Bekämpfung von Zwangsverheiratungen angeführt, um den
Ehegattennachzug einzuschränken. Da führte die Große
Koalition aus CDU/CSU und SPD den Zwang ein, die
deutsche Sprache bereits im Ausland zu erlernen.
({2})
Das vorgegebene Motiv war die Bekämpfung von
Zwangsverheiratungen, und das war scheinheilig. Denn
durch diese Maßnahme wurde bis heute kein einziger
Fall von Zwangsverheiratung verhindert. Es fehlt jeglicher Beweis seitens der Bundesregierung, dass diese
Maßnahme irgendeine Zwangsverheiratung verhindert
hätte.
({3})
Was hier als Opferschutz getarnt war, Herr Grindel,
zielte ganz einfach auf die Verhinderung von Einwanderung. Und Ihr Ziel haben Sie auch erreicht: Vor der
Verschärfung des Ehegattennachzugs konnten noch
40 000 Menschen von ihrem Grundrecht auf Ehe- und
Familienzusammenführung Gebrauch machen.
({4})
2009 waren es nur noch 33 000. Das ist ein Rückgang
um 16 Prozent.
({5})
Wir sagen: Das ist keine familienfreundliche Politik,
nein, das ist eine familienfeindliche Politik der Bundesregierung.
Die Bundesregierung zeigt erneut, dass es ihr weiterhin nicht um die betroffenen Frauen geht. Denn was
schlägt sie vor? Sie schlägt vor, die Ehebestandszeit von
zwei auf drei Jahre zu erhöhen. Damit werden Frauen,
die in gewalttätigen Beziehungen oder Gewaltverhältnissen leben, aus Angst vor dem Verlust des Aufenthaltstitels oder vor einer Abschiebung gezwungen, ein Jahr
länger in dieser Gewaltsituation auszuharren. Ich verstehe einfach Ihre Logik nicht. Sie begründen Ihre Gesetzesmaßnahme damit,
({6})
Sevim Daðdelen
dass Sie behaupten, die Anzahl der Scheineheverdachtsfälle sei höher als im Jahr 2000. Auch das stimmt nicht.
Das ist glatt gelogen. Auf meine Anfrage an die Bundesregierung vom 25. November 2010 konnte sie nicht
leugnen, dass die Zahl der Tatverdächtigen bei Scheinehen im Jahr 2009 mit 1 698 Personen nicht einmal ein
Drittel so hoch war wie im Jahr 2000 mit 5 269 Fällen,
also in dem Jahr, in dem die Ehebestandszeit von vier
auf zwei Jahre reduziert wurde. Jetzt wollen Sie die Zeit
verlängern, obwohl die Zahl der Verdachtsfälle wesentlich weniger geworden ist. Wo ist eigentlich die Logik
bei Ihnen? Es gibt gar keine Logik. Sie nehmen in Kauf,
dass die Frauen länger in Gewaltsituationen bleiben.
Deshalb finde ich das nicht nur unlogisch, sondern unmenschlich. Es ist skandalös, was Sie hier vorhaben.
Sie verstoßen nicht nur gegen jedweden Grundsatz
von Humanität, Sie verstoßen auch gegen europäisches
Recht. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs
vom 9. Dezember 2010 verstößt die Erhöhung der Ehebestandszeit gegen Europarecht. Das europäische Assoziationsrecht sieht seit Ende 1980 ein sogenanntes
Verschlechterungsverbot, zum Beispiel für türkische Arbeitnehmer, vor. Danach darf die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nicht erschwert werden. Das heißt, seit
1980 gewährte Erleichterungen dürfen nicht mehr zurückgenommen werden. Genau das tun Sie aber hier mit
Ihrem Gesetzentwurf. Deshalb muss er sofort gestoppt
werden, wenn schon nicht aus Rücksicht auf die Frauen,
dann aus europarechtlichen Gründen, sagt die Linke.
Deshalb fordert die Linke auch flächendeckende
niedrigschwellige Beratungsangebote und Notfallunterbringungen, die von Zwangsverheiratung bedrohten
Frauen oder zwangsverheirateten Frauen helfen würden.
Außerdem fordern wir verfahrensrechtliche Veränderungen zur Gewährleistung der Sicherheit und Anonymität
der Opfer in den Gerichtsverfahren. Das sagen sehr viele
Menschen, die in den Opferberatungsstellen oder Anwaltsvereinen arbeiten und seit Jahren mit dem betroffenen Personenkreis zu tun haben.
Wir fordern ein wirksames Rückkehrrecht für
zwangsverheiratete oder verschleppte Personen. Diese
Menschen müssen vor allen Dingen ein uneingeschränktes Recht auf Wiederkehr haben, das ihnen unabhängig
vom Nachweis eigenen Erwerbseinkommens zustehen
muss.
({7})
Wir fordern auch, dass in Fällen einer Verschleppung der
Aufenthaltstitel grundsätzlich nicht erlischt.
Ferner fordern wir die Bundesregierung auf, auf die
geplante Verlängerung der Mindestehebestandszeit zu
verzichten. Statt einer Verlängerung ist es endlich an der
Zeit, in einer großen Industrienation wie Deutschland
ein dem 21. Jahrhundert gemäßes eigenständiges Aufenthaltsrecht von Ehegatten zu schaffen.
Ich komme zum letzten Punkt. Gestern war ich zu einer Podiumsveranstaltung zum Thema Asylbewerberleistungsgesetz bei der Katholischen Akademie eingeladen. Die Bundesregierung hat ja selbst zugegeben, dass
das Asylbewerberleistungsgesetz im Lichte des Bundesverfassungsgerichtsurteils zu Hartz IV vom Februar letzten Jahres eigentlich verfassungswidrig ist und den Anforderungen des Gerichts nicht entspricht. Dort wurde
auch das Problem der Residenzpflicht angesprochen.
Deshalb halte ich das, was Sie vorgelegt haben, für etwas Halbherziges, für ein Teilstück. Ich fordere Sie auf,
endlich auch allen Menschen mit Migrationshintergrund
die Bewegungsfreiheit in Deutschland zu ermöglichen.
Die Mobilität ist nicht nur für die Erbringung von
Dienstleistungen und den Warenverkehr zu gewährleisten, sondern auch die Menschen müssen ein Recht haben, sich in Deutschland frei bewegen zu können.
({8})
Memet Kilic hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zwangsverheiratungen sind schwerwiegende
Menschenrechtsverletzungen. Sie verletzen die Würde
der Betroffenen, ihre persönliche Freiheit und selbstbestimmte Lebensführung sowie den Grundsatz der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Sie sind
in Deutschland zu Recht unter Strafe gestellt und geächtet.
Es ist schäbig, was die Bundesregierung uns heute zur
Bekämpfung von Zwangsheirat vorlegt. Sie ist offenbar
nicht gewillt, für adäquaten Schutz für die Betroffenen
zu sorgen. Als Alternative haben wir ein eigenes Konzept vorgelegt, damit Betroffene den Schutz und die Unterstützung erhalten, die sie wirklich brauchen.
({0})
Schwarz-Gelb betreibt mit dem Gesetzentwurf puren
Etikettenschwindel: Im Jahr 2005 hat Rot-Grün die
Zwangsverheiratung ausdrücklich als einen besonders
schweren Fall der Nötigung im Strafgesetzbuch verankert. Nun will die Koalition den Opferschutz angeblich
dadurch erhöhen, dass Zwangsverheiratung in einem eigenständigen Paragrafen unter Strafe gestellt wird. Diese
Umbenennung ist reine Symbolpolitik und wird wohl
kaum einen Täter mehr abschrecken, meine Damen und
Herren.
({1})
Herr Kilic, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolff zu?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Kilic, Sie sagten gerade, es sei Etikettenschwindel, weil die Strafbarkeit, da das ein besonders
schwerer Fall der Nötigung ist, vorher schon gegeben
sei. Stimmen Sie mir zu, dass auch eine Handlung wie
das Zuparken eines anderen Fahrzeugs als Nötigung
strafbar ist, und ist das wirklich aus Ihrer Sicht mit einer
Zwangsverheiratung vergleichbar?
({0})
Herr Kollege Wolff, ich schätze Sie sehr; aber ich
kann diese Frage nur als unqualifiziert zurückweisen.
({0})
Zwischen einer Zwangsehe und dem Zuparken eines Autos besteht ein Unterschied.
({1})
Deshalb haben wir die Zwangsheirat als einen besonders
schweren Fall von Nötigung verankert und ein Strafmaß
von bis zu fünf Jahren vorgesehen. Damit haben wir
deutlich gemacht, dass es kein Kavaliersdelikt ist. Sie
ändern an diesem Strafmaß von fünf Jahren gar nichts,
sondern schaffen nur ein neues Etikett. Das nenne ich
deshalb Etikettenschwindel. - Vielen Dank.
({2})
Die zweite Neuregelung betrifft die Verlängerung des
Rechts auf Wiederkehr für Personen, die gegen ihren
Willen in das Ausland verschleppt und verheiratet wurden. Die Bundesregierung macht die vorgesehene Rückkehrmöglichkeit aber von einer positiven Integrationsprognose abhängig. Will die Bundesregierung den
Menschenrechtsschutz tatsächlich vom Portemonnaie
oder Bildungsniveau der Betroffenen abhängig machen?
Da sieht man, wie ernst es der Koalition mit diesem
Thema wirklich ist. Das ist schäbig.
({3})
Es ist geradezu erbärmlich, dass Schwarz-Gelb die
Mindestbestandszeit einer Ehe für ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht ausländischer Ehegatten von zwei auf
drei Jahre verlängern will. Schauen wir einmal in den
Gesetzentwurf. Dort heißt es im Hinblick auf diese Regelung, sie sei erforderlich, da Wahrnehmungen aus der
ausländerbehördlichen Praxis auf eine Erhöhung der
Scheineheverdachtsfälle hindeuteten. Was soll diese
schwachsinnige Begründung? Es gibt überhaupt keine
gesicherten Daten, die für die Notwendigkeit und Effektivität dieser drastischen Maßnahme sprechen. Die Bundesregierung setzt haltlose Verdächtigungen in die Welt
und glaubt hinterher auch noch selber daran. Das hat bei
ihr System; das ist schäbig.
({4})
Die Bundesregierung wurde wegen dieser Neuregelung nicht nur von Terre des Femmes, von der Caritas,
vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften
sowie vom Deutschen Anwaltsverein heftig kritisiert,
sondern auch vom Bundesrat düpiert: Sogar der Bundesrat bezweifelt in seinem Beschluss vom 17. Dezember
2010, „ob die Anhebung der Mindestbestandszeit einer
Ehe … mit der Zielsetzung des Gesetzentwurfs in Einklang steht, zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat beizutragen“.
Der Beschluss des Bundesrates für eine Bleiberechtsregelung bei gut integrierten Jugendlichen ist für viele
bislang nur Geduldete ein Schritt in die richtige Richtung. Die Regelung bezieht sich aber nur auf Jugendliche, die „erfolgreich … eine Schule besucht“ haben.
Was machen wir mit den Kindern, die aus unterschiedlichen Gründen keinen Erfolg in der Schule gehabt haben?
Werden wir diese Kinder für das Schicksal ihrer Eltern
verantwortlich machen? Die Regelung ist nur ein halber
Schritt; das muss korrigiert werden. Eine stichtagsunabhängige Regelung ist das einzig richtige Instrument, um
humanitären Härtefällen vorzubeugen.
Wir fordern die Koalition auf, bei der Umsetzung des
Bundesratsbeschlusses weitere humanitäre Härten zu
vermeiden, etwa im Hinblick auf alte und kranke Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen haben.
Im Hinblick auf europarechtliche Vorgaben ist eine
grundsätzliche Überprüfung der nur in Deutschland
praktizierten Residenzpflicht dringend geboten.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist skandalös; er ist ein Armutszeugnis für die Regierung. Wir erwarten, dass die Bundesregierung die allseitige Kritik
ernst nimmt und die sinnvollen Vorschläge unseres Antrags übernimmt.
Vielen herzlichen Dank.
({5})
Der Kollege Reinhard Grindel hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist das gute Recht der Opposition, zu kritisieren, was
die Regierung und die sie tragenden Fraktionen vorschlagen. Herr Kollege Veit und Herr Kollege Kilic, auf
eines will ich aber schon hinweisen: Sowohl beim
Thema der Residenzpflicht für Asylbewerber als auch
beim Thema des Rückkehrrechts für Zwangsverheiratete
und Zwangsverschleppte haben Sie zu Zeiten der rotgrünen Bundesregierung nichts, aber auch gar nichts zustande gebracht.
({0})
Wir handeln jetzt. Diesen Unterschied wird man doch
betonen dürfen.
Herr Kollege Veit, zur Frage des Rückkehrrechts. Wir
haben jetzt eine Regelung vorgesehen, mit der wir auf
das entscheidende Problem der Zwangsverschleppten
eingehen: Wir lassen hier die Pflicht zur Lebensunterhaltssicherung fallen. Um das klar auf den Punkt zu bringen - Sie sind langjähriger Experte -: Das heißt, wir
nehmen aus humanitären Gründen in diesem Fall sogar
die Gefahr einer Rückwanderung in die Sozialsysteme
hin. Es kann sein, dass die Frauen, die zurückkehren, in
die Sozialsysteme wandern. Das ist etwas, das wir
grundsätzlich nicht wollen. Es muss doch einsichtig sein,
dass wir sagen: Wenn wir schon dieses Risiko eingehen,
dann muss es eine differenzierte Lösung geben. Natürlich haben wir eine besondere soziale Verantwortung gegenüber denjenigen, die schon sehr lange in Deutschland
gewesen sind. Es macht doch einen Unterschied, ob jemand schon sechs oder acht Jahre in Deutschland gelebt
hat, ob er hier zur Schule gegangen ist oder ob er nur wenige Monate hier war und dann zwangsverschleppt worden ist, also keinen näheren Bezug zum Land hat. Insofern geht es bei der Integrationsprognose darum, dass
wir auch sichergehen können, dass es tatsächlich eine
Verwurzelung hier in Deutschland gibt und dass diese
Frauen daher ein Anrecht darauf haben - und der Staat
korrespondierend eine soziale Verantwortung hat -, dass
ihnen eine Perspektive für ein Leben in Deutschland gegeben wird. Dass hier differenziert werden muss und
dass das für diejenigen gilt, die besonders lange in
Deutschland gewesen sind, das kann eigentlich nicht
streitig sein. Das ist eine richtige und von uns klar so angestrebte Regelung in der Differenzierung der verschiedenen Fälle von Frauen, mit denen wir es hier zu tun haben.
({1})
Es ist auch nicht in Ordnung, dass Sie hier die Vorschriften über die Integrationskurse schlechtreden.
Herr Grindel, der Kollege Veit würde Ihnen gern eine
Frage stellen.
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Grindel, wir sind ja offenbar in der Bewertung unterschiedlicher Auffassung. Ich würde diesen
Unterschied nicht machen bei Opfern von Zwangsheirat,
die entweder zum Zwecke der Eingehung der Ehe oder
aber aus dem Grund, um eine Zwangsheirat aufrechtzuerhalten, ins Ausland verschleppt worden sind und die
vorher rechtmäßig in Deutschland gelebt haben. Warum
soll ich da noch einmal differenzieren und sagen: „Ich
verlange von den Betroffenen auch noch eine besonders
gute Integrationsprognose, damit ihnen die Wohltat zuteilwerden kann, eventuell in das Sozialsystem einzuwandern“? Diese Differenzierung innerhalb der Gruppe
von zwangsverheirateten Opfern kann ich nicht nachvollziehen.
({0})
Lieber Herr Kollege Veit, das ist nun bemerkenswert,
dass Rot-Grün hier klatscht. So war nämlich die Rechtslage. Unter Rot-Grün war die Rechtslage, dass nur die
zwangsverschleppte, zwangsverheiratete Frau zurückkehren darf, die in der Lage ist, ihren Unterhalt selber zu
bestreiten. Daran sind 95 Prozent aller Fälle gescheitert.
Das ist die Rechtsgrundlage zu Ihrer Zeit gewesen. Wir,
die christlich-liberale Koalition, obwohl wir eigentlich
den Grundsatz verfolgen, eine Zuwanderung in Sozialsysteme nicht zulassen zu wollen, sagen: Aus humanitären Gründen lassen wir es zu. Aber wir differenzieren
dann auch. Wenn ich nach acht oder nach zehn Jahren
noch eine solche Rückkehr nach Deutschland zulasse,
dann muss eine positive Integrationsprognose vorliegen,
es muss ein Anknüpfungspunkt gegeben sein, sodass ich
sagen kann: Der Betreffende, auch wenn er schon so
lange aus Deutschland weg war, wird in der Lage sein,
sich wieder in Deutschland zu integrieren und irgendwann auch ohne soziale Transferleistungen zu leben.
Deswegen knüpfen wir daran an, dass zum Beispiel der
Schulbesuch erfolgreich war. Das ist integrationspolitisch, sozialpolitisch und auch hinsichtlich der Akzeptanz bei der deutschen Bevölkerung für das, was wir hier
tun, von zentraler Bedeutung. Ich halte es für richtig,
dass wir hier differenzieren. Es macht einen Unterschied, ob sich jemand schon zehn Jahre in Deutschland
aufgehalten hat oder nur ein paar Monate. Das muss einsichtig sein, lieber Herr Kollege Veit.
({0})
Wie gesagt, wir verbessern die Qualität der Integrationskurse. Jetzt müssen die Ausländerbehörden nämlich
nachhaltig prüfen,
({1})
ob der Kurs tatsächlich besucht worden ist. Das fällt vielen Ausländerbehörden sonst erst bei der Beantragung
der Niederlassungserlaubnis auf. Wir wollen, dass sie
nach einem Jahr, also dann, wenn die Zuwanderer gerade erst in Deutschland sind, wenn sie noch besonders
integrationsbereit sind, schnell nachprüfen, ob der Verpflichtung, den Kurs zu besuchen, auch tatsächlich nachgekommen worden ist. Der Datenaustausch zwischen
den Kursträgern, den Ausländerbehörden und dem
BAMF wird dazu führen, dass Kurse zum Beispiel
schneller anfangen können. Das ist eindeutig eine qualitative Verbesserung.
({2})
- Nein, das gibt es heute noch nicht.
({3})
Jetzt zum Thema Dunkelziffer. Sie müssten sich einmal, Herr Kilic, mit denjenigen in den Visastellen in Ankara, in Istanbul auseinandersetzen,
({4})
die täglich dieses Geschäft machen. Die werden Ihnen
sagen: Bei 30 Prozent der Fälle müssen Sie davon ausgehen, dass es eine Scheinehe ist. Das Problem ist nur: Sie
können es denen nicht nachweisen, weil die Ausländerbehörden - das sind insbesondere die in NordrheinWestfalen; da kann ich sogar die Städte benennen, mit
denen es die größten Probleme der Zusammenarbeit gibt aus Gründen der begrenzten personellen Kapazitäten zunehmend nicht bereit sind, gleichzeitige Befragungen
des einen Ehegatten in der Visastelle und des anderen
Ehegatten in Deutschland durchzuführen.
Zu den Zahlen, die Frau Dağdelen hier genannt hat.
Es ist ja geradezu absurd, zu sagen: Das Problem ist kleiner geworden, weil die Zahl der Tatverdächtigen kleiner
ist.
({5})
Im Jahr 2000 galt eine Ehebestandszeit von vier Jahren.
Damals hatten die Ausländerbehörden vier Jahre Zeit,
um das Vorliegen einer Scheinehe aufzudecken. Dass
man in vier Jahren mehr Fälle aufdeckt, als wenn man
dazu nur zwei Jahre Zeit hat, ist doch wohl einsichtig.
Ihre Argumentation ist völlig absurd. Ihrer Logik zufolge gäbe es, wenn die Ausländerbehörden überhaupt
nicht mehr prüfen würden, null Verdachtsfälle. Dann
gäbe es das Problem gar nicht mehr. Das ist Ihre Logik,
liebe Kollegin Dağdelen. Das ist völlig absurd. Das Gegenteil ist richtig: Mit der Verlängerung der Ehebestandszeit erreichen wir, dass die Ausländerbehörden
eine größere Chance haben, illegale Zuwanderung, auf
die die Migranten kein Recht haben, aufzudecken. Diese
Möglichkeit wollen wir unseren Behörden eröffnen.
({6})
Herr Grindel, auch der Kollege Kilic möchte eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese zulassen?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Grindel, stimmen Sie mir zu, dass es einen Europaratsbeschluss von 1996 gibt, welcher zur Bekämpfung von Scheinehen vorschreibt, dass Eheleute
oder Verlobte zeitgleich angehört werden - einer im Ausland und der andere hier, bei der Ausländerbehörde -,
weil man bei fast allen Ehen unterstellt, dass es sich um
eine Scheinehe handelt und die Prüfungen in dieser Gefühlslage stattfinden?
Habe ich das richtig verstanden, dass Sie von der Gefühlslage der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Botschaften ausgehen? Welche Daten liegen Ihnen vor? Das
ist die Frage. Rechtsstaatliches Handeln muss bei so
wichtigen Themen, bei denen es um das Glück der Menschen, um das Leben der Menschen und Familienzusammenführung geht, auf gesicherten Daten basieren und
darf nicht nur auf Verdächtigungen und Vermutungen
beruhen.
Herr Kilic, ich finde, ich habe das klar gesagt. Ich
habe gesagt, dass die Mitarbeiter der Visastellen in
vielen Fällen Ausländerbehörden gebeten haben, zum
Beispiel die Ausländerbehörden in Duisburg, Gelsenkirchen, Köln und Bochum, eine solche zeitgleiche Einvernahme durchzuführen. Die Ausländerbehörden sehen
sich aus personellen Gründen dazu nicht in der Lage.
({0})
Diese getrennte Einvernahme findet nicht statt. Das ist
das Problem. Das habe ich hier angesprochen.
Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen: Der Kollege
Veit und ich waren bereits vor mehreren Jahren auf einer
Tagung des Bundesinnenministeriums im Bundesverwaltungsamt. Damals hat - Herr Kollege Veit, es wäre nett,
wenn Sie das durch Kopfnicken bestätigen würden - die
damalige Leiterin der Ausländerbehörde in München geschildert - ich weiß nicht, ob sie heute noch im Amt ist;
das Phänomen wird einem auch von anderen Ausländerbehörden bestätigt -, dass es eine Vielzahl von Fällen
gibt, in denen Ehefrauen oder Ehemänner - in aller Regel sind es Ehefrauen - nach zwei Jahren und wenigen
Monaten die Scheidung beantragen und ihren Ehemann,
mit dem sie in erster Ehe in der Türkei verheiratet waren,
wieder heiraten und diesen dann, weil sie ein eigenständiges Aufenthaltsrecht haben, nach Deutschland nachholen. Die Kinder, die in der Zwischenzeit geboren worden
sind, werden vom ersten Ehemann als eigene Kinder anerkannt. Wenn ich sage, dass man in diesem Zusammenhang von einer Dunkelziffer und dem Verdacht reden
darf, dass es sich dabei um Scheinehen handelt, obwohl
es mir nicht möglich ist, das vollkommen nachzuweisen,
dann halte ich das für eine zulässige politische Bewertung, Kollege Kilic.
({1})
- Das ist wohl wahr. Das ist ein wunderbarer Zwischenruf. Deswegen waren wir für eine vierjährige Ehebestandszeit und damit für die Wiedereinführung der alten
gesetzlichen Regelung. Sie haben dazu die Ausführungen des Kollegen Wolff gehört. Wir haben uns in der
Koalition schiedlich-friedlich auf eine dreijährige Ehebestandszeit verständigt.
Frau Dağdelen, ich will noch einen Punkt erwähnen,
der, wie die Kollegin Jelpke immer so gerne sagt, zynisch war. Sie haben hier gesagt, dass all das, was wir
beim Thema Zwangsehe vorhaben, nicht in Ordnung ist.
Es sei zum Beispiel falsch, bei einem Ehegattennachzug
Deutschkenntnisse zu fordern. Sie sagten, dass man niederschwellige Beratungsangebote und Notfallmaßnahmen braucht. Das wäre die Lösung. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wie bitte soll eine von Zwangsehe betroffene Frau niederschwellige Beratungsangebote annehmen? Wie soll sie denn Hilfe holen und Notfallmaßnahmen annehmen, wenn sie noch nicht einmal über
einfache deutsche Sprachkenntnisse verfügt? Das ist
doch das Problem, mit dem wir es in der Vergangenheit
immer wieder zu tun hatten.
({2})
Diese Beratungsangebote laufen doch völlig ins Leere,
wenn nicht zumindest einfache Sprachkenntnisse vermittelt worden sind. Insofern geht die Bemerkung, die
Sie hier gemacht haben, völlig ins Leere und hilft den
Frauen überhaupt nicht.
({3})
Letzte Bemerkung, Frau Präsidentin. Ich begrüße
sehr, dass Sie, Herr Staatssekretär Schröder, erwähnt haben, dass wir uns um ein gesetzliches Bleiberecht für integrierte Kinder und Jugendliche bemühen wollen. Wir
als CDU/CSU-Fraktion sind dafür. Wir haben keine Talente zu verschenken. Wir brauchen jeden, gerade denjenigen, der seine Integrationsbereitschaft dadurch bewiesen hat, dass er schulischen Erfolg hat, dass er eine
Berufsausbildung macht ({4})
Herr Kollege.
- und dass er sich um eine gute berufliche Perspektive
bemüht.
Es ist auch ein Anreiz für die Eltern - Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss -, dafür zu sorgen, dass die
Kinder in die Schule gehen und eine Ausbildung machen. Insofern sage ich für unsere Fraktion, Kollege
Schröder: Wir sind dabei. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist für ein gesetzliches Bleiberecht
Herr Kollege!
- ohne jede Stichtagsregelung für gut integrierte Jugendliche.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({0})
Die Kollegin Aydan Özoğuz hat jetzt für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
wünsche mir erst einmal ein bisschen mehr Ruhe und
eine Versachlichung der Diskussion. Es geht immerhin
um ein ernstes Thema.
({0})
- Nein. Sie sind derjenige, der Krawall macht und das
komischerweise noch nicht einmal merkt; das ist das Eigenartige.
({1})
Vielleicht direkt am Anfang zwei Worte zu Ihnen. Die
Ansichten von Visastellen zur Basis der Integrationsund Zuwanderungsarbeit in unserem Land zu machen,
halte ich für abenteuerlich.
({2})
Gleichzeitig möchte ich sagen, dass man schlechte Erfahrungen, die es auch gibt, die aber nicht der Mehrheit
anzurechnen sind, nicht zur Grundlage der parlamentarischen Arbeit machen kann.
({3})
- Warum haben Sie das dann so breit ausgeführt?
({4})
Ich möchte es einmal andersherum versuchen. Wir
sind jahrzehntelange Blockadepolitik von Ihnen gewohnt. Jetzt sehen wir, dass Sie durchaus kleine Schritte
machen. Das ist wichtig und gut. Es gibt zwar auch andere Entwicklungen, auf die ich noch eingehen werde.
Aber erst einmal möchte ich festhalten, dass es auch eine
gute Nachricht gibt: Sie haben endlich eingesehen, dass
es ein eigenständiges Rückkehrrecht für Opfer einer
Zwangsheirat geben muss. Wir als SPD-Fraktion haben
jahrelang darauf hingewiesen. Unser Gesetzentwurf zielt
in diese Richtung. Möglicherweise bewegt sich bei Ihnen an dieser Stelle etwas. Das wird man bei den Beratungen im Ausschuss sehen.
Aydan Özoðuz
Ich möchte auch daran erinnern, dass Zwangsverheiratungen auf Bestreben der SPD-Fraktion seit 2005
- eben kam zum Ausdruck, dass das strittig ist - als besonders schwerer Fall der Nötigung - es geht also nicht
nur ums Zuparken, Herr Wolff ({5})
in § 240 Strafgesetzbuch aufgenommen wurde.
Jetzt wollen Sie dafür in § 237 Strafgesetzbuch einen
eigenen Straftatbestand einführen. Sie wundern sich,
dass dies den Eindruck erweckt, als würden Sie ein
Stück weit Symbolpolitik machen. Das Eigenartige ist
doch: Das Strafmaß ändert sich nicht. Es ändert sich eigentlich nichts, außer dass diese Regelung nicht mehr in
§ 240, sondern in § 237 Strafgesetzbuch steht, an einer
eigens dafür geschaffenen Stelle. Dass Leute, die sich
Gedanken über eine Zwangsheirat machen, dadurch sofort massenweise davon abgehalten werden, kann man,
wie ich glaube, durchaus bezweifeln. Es stellt sich also
die Frage, worauf Sie eigentlich abzielen, wenn Sie dafür einen eigenen Paragrafen schaffen.
({6})
Die Praxis zeigt, dass der Opferschutz bei einer
Zwangsheirat nach der bisherigen Rechtslage noch nicht
vollständig gewährleistet ist. Wir haben mit unserem Gesetzentwurf versucht, diese Lücke zu schließen, gerade
im Hinblick auf ungelöste Konstellationen. Dies gilt
zum Beispiel für den etwas komplizierten Fall, dass eine
Person aus Deutschland ohne deutschen Pass im Ausland zur Eingehung einer Ehe oder zur Fortsetzung einer
bereits bestehenden Ehe genötigt wird. In diesem Fall
müsste man sich nach Ihren Vorstellungen mit einem
Katalog von Kriterien befassen. Da mein Kollege
Rüdiger Veit schon auf die Nachteile Ihres Gesetzentwurfes hingewiesen hat, nutze ich meine Redezeit, um
auf einige andere Aspekte einzugehen. Ich glaube nämlich, dass unser Gesetzentwurf sehr viel umfassender
und besser ist.
Wir begrüßen - das sage ich Ihnen gerne -, dass Sie
über den Umweg des Bundesrates und den Beschluss der
Innenministerkonferenz im Aufenthaltsgesetz einen eigenen Aufenthaltstitel für gut integrierte Jugendliche
einführen wollen. Herr Grindel, das war nicht immer so;
auch das muss man einmal deutlich sagen. Bisher hat Sie
zum Beispiel nicht sonderlich interessiert, ob die Jugendlichen gut integriert sind. Wir hatten ja gerade in
Hamburg einen sehr pressewirksamen Fall. In der Regel
ist es jedoch so, dass diese Fälle nicht in der Presse stehen und keine Aufmerksamkeit erfahren. Es ist absurd,
dass junge Menschen, die bei uns groß werden, fast ihr
ganzes Leben bei uns verbringen, sehr häufig deutsch
sprechen und unser ganzes System kennen, plötzlich abgeschoben werden. Diese absurde Situation bestand jahAydan Özoğuz
relang. Da waren Sie nicht gerade die Vorreiter dafür,
das zu ändern.
Ich sage deshalb hier ganz bewusst: Es ist gut, dass
sich offensichtlich auch bei Ihnen ein Stück weit etwas
ändert. Wir werden sehen, ob das auch tatsächlich so geschehen wird.
({7})
Schade finde ich - hier komme ich zu einem ganz
wichtigen Punkt, der hier schon genannt worden ist, den
ich aber ganz ausdrücklich noch einmal nennen möchte -,
dass Sie die Themenkomplexe Schutz vor Zwangsheirat
und Scheinehe verknüpfen. Diese Konstellation richtet
sich wieder ein Stück weit gegen die angeheirateten Ehepartner, insbesondere dadurch, dass Sie die Ehebestandszeit für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht von zwei auf
drei Jahre hochsetzen. Ich finde, man muss auch deutlich
sagen, dass Sie damit sowohl symbolisch als auch ganz
praktisch einen Generalverdacht gegen alle aus dem
Ausland angeheirateten Ehepartner richten. Es ist überhaupt nicht in Ordnung, dass Sie ein solches Signal aussenden.
({8})
Es heißt in Ihrem Gesetzentwurf dazu reichlich
schwammig, dass die Wahrnehmung aus der ausländerbehördlichen Praxis darauf hindeuten würde, dass eine
Mindestbestandszeit von drei Jahren den Anreiz zur Eingehung einer Scheinehe vermindern würde. Belastbare
Zahlen dazu können Sie uns nicht nennen. Das haben
wir jetzt mehrfach mitbekommen. Das BMI hat das auf
Anfrage der Frankfurter Rundschau auch noch einmal
bestätigt. Und Innenminister de Maizière sagte in einer
Befragung genau an dieser Stelle am 27. Oktober 2010
- ich zitiere -:
Insofern finde ich drei Jahre besser als zwei, und
drei Jahre sind ein Kompromiss zwischen zwei und
vier Jahren.
Das nächste Mal können wir dann auch würfeln. Ich
finde, absurder geht es überhaupt nicht mehr.
({9})
Zum Zweck des Paragrafen, Zwangsehen zu verhindern - Sie vertreten das ja auch sehr deutlich, und das
wird auch von all den Organisationen unterstützt -, muss
man sagen: Sie sagen zwar, Sie wollten den Opfern helfen, Sie wollten denen helfen, die in einer Zwangsehe
leben, sagen ihnen aber gleichzeitig: Ihr müsst in dieser
Ehe jetzt nicht zwei, sondern drei Jahre verharren.
({10})
Aydan Özoðuz
- Warten Sie noch einen Augenblick mit Ihrer Frage,
denn ich komme ganz sicher jetzt auf das, was Sie gerade fragen wollen.
Aber wollen Sie die Frage trotzdem zulassen?
Nein, ich würde das gern erst ausführen. Er kann dann
ja immer noch fragen.
Es gibt die Ausnahmen, auf die Sie gerade in Ihrer
Frage sicherlich hinweisen wollten. Dazu sagen die
Frauenorganisationen und alle anderen Organisationen
ganz deutlich, dass die Frauen davon häufig nicht profitieren können, weil ihnen nicht geglaubt wird, weil sie
die Nachweise, die verlangt werden, wie Fotos oder irgendwelche Zeugen, nicht beibringen können. Dies wird
nicht von uns, sondern von denen, die mit diesen Frauen
sprechen, gesagt. Deswegen greifen diese Möglichkeiten
häufig gar nicht. Man muss also feststellen, dass Sie mit
dieser Erhöhung der Mindestbestandszeit der Ehe genau
denen dieses eine zusätzliche Jahr aufbürden, die sich in
einer ganz furchtbaren Lage befinden. Es bringt also eigentlich überhaupt nichts.
Leider muss ich gleich schon zum Ende kommen.
Deshalb möchte ich hier gern nur noch einen letzten Satz
zu den Integrationskursen sagen. Der Begriff Integrationsverweigerer, der eben auch noch einmal vom Parlamentarischen Staatssekretär genannt wurde, ist bei der
Wahl zum Unwort des Jahres auf dem zweiten Platz gelandet. Das finde ich übrigens sehr angemessen.
({0})
Die Juroren sagten, das Wort unterstelle, dass Migranten
in größerem Umfang selbst ihre Integration verweigerten, dass für diese Behauptung aber die notwendige Datenbasis fehle; dass die Bundesregierung selbst zu wenig
für die Integration tue, werde dabei ausgeblendet. - Sehr
richtig, kann ich da nur sagen.
Vielen Dank.
({1})
Der Kollege Serkan Tören hat jetzt das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
wird unter anderem in dem Antrag der Grünen als - ich
zitiere - „ein weiterer Fall schwarz-gelber Symbolpolitik“ bezeichnet. Vorsichtig gesprochen ist das angesichts
der darin enthaltenen Vorschläge kühn und selbstgefällig.
Wir machen hier unmissverständlich klar: Menschen
zu einer Heirat zu zwingen oder gegen ihren Willen ins
Ausland zu verfrachten, ist weder mit unseren Werten
noch mit unserem Recht vereinbar. Das ist schlichtweg
kriminell.
({0})
Wir belassen es auch nicht bei Mahnungen und Gesten.
Damit haben Sie sich während Ihrer Regierungsverantwortung begnügt, liebe Kolleginnen und Kollegen der
SPD und der Grünen.
({1})
So etwas nennt man Symbolpolitik.
({2})
Wir betreiben eine Politik der Tat und stärken zudem den
Opferschutz, indem wir den Betroffenen endlich ein eigenständiges Rückkehrrecht einräumen.
({3})
Auch hier zeigt sich unser pragmatischer Ansatz;
denn aktuell scheitert eine Rückkehr der Betroffenen
nach Deutschland oft an der Anforderung der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung. Diese Hürde ist für
viele Frauen und Männer unüberwindbar. Wir haben daher auf diese Anforderung verzichtet. Das ist keine Symbolpolitik, das ist ein echter Fortschritt für die Opfer.
Natürlich wird die Zwangsheirat durch diese Regelungen nicht gänzlich verhindert werden können. Dieser
Illusion geben wir uns auch nicht hin. Wir setzen damit
aber ein Zeichen und eröffnen dem Rechtsstaat und den
Betroffenen neue Möglichkeiten, gegen diesen gewaltsamen Akt vorzugehen.
Es gab auch Kritik - das ist hier ja schon mehrmals
angesprochen worden - an der Verlängerung der Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahren. Unser Ziel ist es,
Scheinehen deutlich zu erschweren. Es ist nicht unser
Ziel, eine Not- und Gewaltsituation in einer Ehe zu verlängern.
({4})
Wir wissen um die schlimmen Fälle, in denen aus
Angst vor einer Abschiebung untragbare Zustände in einer Ehe hingenommen werden. Genau dafür gibt es die
Härtefallregelung, durch die es dem Ehepartner möglich
ist, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht vor Ablauf der
drei Jahre zu erlangen.
({5})
Dieser Notausgang ist richtig und notwendig.
({6})
Das bedeutet aber gleichzeitig auch: Die Möglichkeit
muss effektiv und vernünftig genutzt werden.
Frau Özoğuz, es stimmt eben nicht, dass es aufgrund
der Beweisanforderungen immense Schwierigkeiten gibt,
sondern man kann durch einen substantiierten Vortrag
vor den Verwaltungsgerichten
({7})
durchaus nachweisen, dass die Härtefallregelung greift.
({8})
Das sage ich insbesondere auch mit Blick auf die Arbeit
der Ausländerbehörden und der Beratungsstellen.
Meine Damen und Herren, ich freue mich auch über
die Fortschritte beim Thema Residenzpflicht. Auch hier
hat Rot-Grün in eigener Verantwortung nie etwas schaffen können.
({9})
Die aktuelle Praxis hat sich aus liberaler Sicht nicht bewährt. Es wurden hier unnötige Strafverfahren eingeleitet, viele Ausländer kriminalisiert und die Verwaltungen
unverhältnismäßig belastet. Auch aus volkswirtschaftlichen Gründen ist eine restriktive räumliche Beschränkung unklug.
Wieso sollten Asylbewerber nicht eigenständig für ihren Lebensunterhalt aufkommen? Warum sollte der
Steuerzahler hier belastet werden? Warum sollte man
den Betroffenen ein Stück Würde, Auskommen und
Ausbildung versagen? Warum sollte man ihnen diese
Wege zur gesellschaftlichen Teilhabe versperren? Ich
sehe hier keine Gründe dafür. Deswegen haben wir diese
Änderungen vorgenommen, zu der Sie sieben Jahre lang
während der Regierungsverantwortung von Rot-Grün
nicht bereit waren.
({10})
Ich hätte mir sicherlich noch mehr vorstellen können,
vielleicht auch eine gänzliche Abschaffung der Residenzpflicht.
({11})
Dennoch gehen wir mit dem Gesetzentwurf weit über
den Koalitionsvertrag hinaus. Wir schaffen nämlich
nicht nur eine hinreichende Mobilität hinsichtlich einer
Arbeitsaufnahme, sondern wir stellen auch die Mobilität
zum Zwecke eines Schulbesuchs oder einer Ausbildung
sicher. Hier haben wir in dieser christlich-liberalen Koalition eine sehr vernünftige Lösung gefunden.
Der vorliegende Gesetzentwurf steht für eine moderne Integrationspolitik jenseits ideologischer Scheuklappen. Darauf bauen wir auf.
Vielen Dank.
({12})
Monika Lazar hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mein Kollege Memet Kilic hat sich ja schon ausführlich
mit der Kritik am Gesetzentwurf der Bundesregierung
auseinandergesetzt. Selbstverständlich sind wir uns in
diesem Hause einig, dass Zwangsverheiratungen bekämpft werden müssen, weil sie in eklatantem Widerspruch zu den Werten sowohl unseres Grundgesetzes als
auch der Menschenrechte stehen.
Bündnis 90/Die Grünen waren es, die 2003 als erste
Fraktion überhaupt mit einer Anhörung auf diese Problematik aufmerksam gemacht haben. Rot-Grün hat dann
2005 die Zwangsverheiratung ausdrücklich als besonders schweren Fall der Nötigung im Strafrecht verankert.
Man kann das nicht oft genug sagen. Von daher ist es
nicht viel, was hier an Neuerungen vorgelegt wird.
Eigenständige Aufenthaltsrechte und Rückkehrrechte
sind effektive Maßnahmen, um Migrantinnen wirksam
zu helfen, die von Zwangsverheiratungen betroffen sind.
({0})
Das geht auch aus den verschiedenen Stellungnahmen
der Verbände hervor. Sie teilen auch unsere Ansicht,
dass der schwarz-gelbe Gesetzentwurf inhaltlich viel zu
dünn ist.
Wir Grünen schlagen in unserem Antrag nicht weniger als neun Gesetzesänderungen vor. Denn Migrantinnen brauchen rechtlich einwandfreie und unbürokratische Möglichkeiten, um im Fall einer Zwangsverheiratung aus einem Drittstaat wieder einzureisen und in
Deutschland ein sicheres Aufenthaltsrecht zu bekommen. Diesen zweiten Teil haben die Kolleginnen und
Kollegen von Union und FDP leider vergessen.
({1})
In unserem Antrag „Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam schützen durch bundesgesetzliche Reformen und eine Bund-Länder-Initiative“ schlagen wir wesentlich mehr vor, als der Gesetzentwurf vorsieht. Wir
legen einen vollständigen Aktionsplan vor, der mit den
Betroffenenverbänden intensiv diskutiert wurde und von
ihnen ausdrücklich gewünscht wird. Unter anderem
wollen wir eine dauerhafte Bund-Länder-Arbeitsgruppe
„Zwangsverheiratungen“ initiieren. Denn Frauen, die
sich einer Zwangsverheiratung entziehen wollen, muss
schnell, kompetent und effektiv geholfen werden. Wir
brauchen endlich verbindliche Absprachen zwischen
Bund, Ländern und NGOs, klare Zuständigkeitsregelungen und Hilfsangebote.
Gut gemeint ist nicht gut gemacht, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Regierung. Ich rate Ihnen dringend, Ihren ersten Entwurf zu überarbeiten. Anregungen
können Sie gerne unserem Antrag entnehmen. Wir sind
gespannt auf die Beratungen.
So weit erst einmal vielen Dank.
({2})
Ute Granold hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte aus der Sicht der Rechts- und Menschenrechtspolitik einiges zu dem heutigen Thema sagen. Es
geht mir um einen ganzheitlichen Ansatz, und dabei
möchte ich mich hier im Wesentlichen auf den Straftatbestand der Zwangsheirat und die zivilrechtlichen Folgen der Aufhebung einer Ehe beschränken.
Es ist richtig, dass die Zwangsheirat heute unter
Strafe steht. Nach § 240 Abs. 4 Strafgesetzbuch ist sie
ein besonders schwerer Fall der Nötigung. Ein besonders
schwerer Fall der Nötigung liegt auch dann vor, wenn
ein Amtsträger seine Befugnisse überschreitet. Ich glaube
nicht, dass das mit der Zwangsheirat, einer schweren
Menschenrechtsverletzung, vergleichbar ist.
({0})
Deshalb halte ich es für ein richtiges Signal an diejenigen, die an Zwangsverheiratung denken, dass dies in unserer Rechtsordnung und unserem Staat nicht geduldet
wird. Insofern ist es richtig, dass wir einen eigenständigen Straftatbestand mit der Überschrift „Zwangsheirat“
vorsehen. Ich meine, das ist ein richtiger und guter Weg.
({1})
Das ist aber nur ein Punkt. Denn einem Opfer von
Zwangsverheiratung ist alleine mit der Bestrafung des
Täters in der Regel nicht geholfen. Es soll eine Abschreckung sein, diesen Weg zu gehen. Wenn es zu einer
Zwangsheirat kommt, ist zu hoffen, dass das Opfer zumindest in geringem Maße die deutsche Sprache kennt
und integriert ist. Denn nur dann ist es in der Lage, die
Hilfsangebote, die es gibt - das Familienministerium hat
eine Onlineberatung eingerichtet; es gibt Handreichungen für die Organisationen und Ämter, die damit befasst
sind, und es wurde eine neue Studie in Auftrag gegeben,
um das Phänomen näher zu beleuchten -, zu nutzen.
Ich kenne aus meiner Tätigkeit als Anwältin - ich
praktiziere seit 30 Jahren - selbst Opfer von Zwangsverheiratungen. Ich hatte aber jüngst auch den Fall einer
Scheinehe, auf den ich kurz eingehen will. Es ging um
eine junge Frau, die für 7 000 Euro einen Türken geheiratet hat. Sie hatten nur pro forma einen gemeinsamen
Wohnsitz, den sie aber nie gemeinsam genutzt haben.
Sie haben sich erst bei der Hochzeit auf dem Standesamt
kennengelernt, und das war es schon. Ich habe dann die
Scheidung begleitet. Dass es eine Scheinehe gegen Geld
war, wurde mir erst später von der Frau gesagt. Sie sagte,
mit zwei Wohnsitzen sei es schwierig gewesen, die
Scheinehe schon über zwei Jahre aufrechtzuerhalten,
weil von anderen - zum Beispiel Nachbarn - Fragen
kommen, wo denn der Mann sei, und Ähnliches.
Ich sehe die vorgesehene Verlängerung der Mindestehebestandszeit auf drei Jahre als eine richtige Lösung
an, um die Eingehung der Scheinehe gegen Geld zur Erlangung eines Aufenthaltstitels zu erschweren. Das ist
mitten in Deutschland Tatsache; es ist ein Fall aus meiner Praxis.
({2})
Diese Ehen werden dann später relativ leicht geschieden.
Nehmen wir die Zwangsheirat. Ich komme aus
Mainz. Eine Frau, die in meine Kanzlei kam, sagte, sie
habe es nach zwölf Jahren endlich geschafft, aus der
Zwangsehe herauszukommen. Zuerst war sie in ihrer
Wohnung isoliert gewesen. Der erste Schritt war, dass
ihre Kinder in die Kita oder Schule gekommen sind und
sie erstmals die Möglichkeit hatte, Kontakte nach außen
zu knüpfen und ein bisschen die deutsche Sprache zu lernen. Diese Frau hat es dann - wohlgemerkt: nach zwölf
Jahren - mithilfe des Frauenhauses bzw. der damaligen
Interventionsstelle geschafft, aus dieser Ehe herauszukommen und für sich eine Lösung zu finden. Es ist für
solche Frauen, die aus einem ganz anderen Kulturkreis
kommen, sehr schwierig, sich gegen die eigene Familie
und gegen die des Mannes zu stellen und ganz isoliert zu
sein.
({3})
Diese Frauen - ganz nebenbei, es sind auch Männer von
Zwangsverheiratung betroffen - brauchen jedenfalls
eine Chance. Erst nach einer langen Zeit der Prüfung
sind sie bereit, diesen steinigen Weg aus der Ehe zu gehen. Dann muss eine Begleitung da sein. Dabei geht es
unter anderem um folgende Fragen - ich spreche aus der
Praxis -: Bin ich - da ich keinen Beruf ausüben kann in der Lage, den Unterhalt sicherzustellen? Wie sieht es
mit meinen Ansprüchen im Alter aus?
Wir wollen uns daher in den folgenden Beratungen
- auch im mitberatenden Rechtsausschuss - mit der
Frage befassen, wie die Rechtslage aussieht, wenn die
Ehe aufgelöst wird.
Wir wollen die Antragsfrist zur Aufhebung der Ehe
verlängern, damit die betroffenen Frauen nach Beendigung der Zwangslage, wenn sie zum Beispiel die eheliche Wohnung verlassen haben, prüfen können, ob sie
den Weg der Aufhebung der Ehe oder den der Scheidung
gehen wollen und welche Möglichkeiten bestehen, Unterstützung vom gewalttätigen Ehemann zu bekommen.
Unser Zivilrecht muss begleitend die Möglichkeit eröffnen, Unterhaltsansprüche zu realisieren, und sicherstellen, dass das Erbrecht des anderen ausgeschlossen ist.
Wenn es um Ehen geht, bei denen beide Partner aus dem
Ausland kommen und alleine ausländisches Recht - zum
Beispiel das türkische, das marokkanische oder das algerische - Anwendung findet, muss geprüft werden, welche Möglichkeiten die betroffenen Menschen haben, die
in Deutschland leben, hier ihre Rechte durchsetzen,
wenn das Heimatrecht keine rechtliche Grundlage dafür
bietet, etwa Ansprüche betreffend den Unterhalt und den
Versorgungsausgleich geltend zu machen. Wir müssen
den Menschen, denen das Leid einer Zwangsehe widerfährt - das sind in der Regel Frauen -, eine Absicherung
geben, wenn sie einen Weg aus der Zwangsverheiratung
finden.
Zur Härtefallregelung. Eine besondere Härte rechtfertigt ein eigenständiges Aufenthaltsrecht in Deutschland
auch bei einer Aufenthaltsdauer unterhalb der Grenze
von drei Jahren.
({4})
Ich empfehle, die Verwaltungsvorschriften zum Gesetz
zu lesen. Dort steht - das hat der Kollege Tören eben
ausgeführt -: Eine besondere Härte stellt zum Beispiel
die Zwangsehe dar. Genau so ist es. Man muss substantiiert vortragen, wie die Umstände der Zwangsheirat aussahen. Wir können diesen Weg - ich hatte einen solchen
Fall schon - ohne Weiteres gehen. Das eine oder andere
können wir während der Beratungen noch vertiefen. Wir
sollten ohne jede Polemik versuchen, den Menschen, die
sich in einer Zwangsehe befinden - das ist eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung; das ist nichts anderes als Sklaverei -, zu helfen.
Frau Kollegin.
Ich bin gleich fertig. - Wir sollten nicht polemisch
werden und nicht Schritte zurück gehen.
Vielen Dank.
({0})
Stephan Mayer hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die christlich-liberale
Koalition legt Ihnen heute einen guten, einen gelungenen Gesetzentwurf vor. Er stellt eine ausgewogene Mischung entsprechend dem Grundsatz „Fördern und fordern“ im Bereich der Integration dar. Er umfasst
wichtige Änderungen des Strafgesetzbuches, des Aufenthaltsgesetzes sowie des Asylverfahrensgesetzes. Ich
möchte gleich zu Beginn auf die aktuelle wissenschaftliche Untersuchung des Bundesfamilienministeriums zum
Thema Zwangsverheiratung in Deutschland hinweisen.
Diese Studie belegt eindrucksvoll, dass und in welcher
Form Zwangsverheiratung in Deutschland vorkommt.
Ich muss ehrlich gestehen, meine werten Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, da Sie die Dunkelziffer
in Zweifel ziehen und behaupten, man könne nicht
genau sagen, wie hoch die Zahl der Zwangsehen tatsächlich sei: Ich halte es für reichlich zynisch und sarkastisch, dass Sie die Lösung dieses Problems so unterminieren.
({0})
Ausgerechnet Sie, die Sie sich immer den Mantel der
Humanität, der Empathie und des Gutmenschentums
umlegen, gehen mit diesem Thema nicht mit der gebotenen Seriosität und Fairness um. Dass Zwangsverheiratung in Deutschland vorkommt und ein Problem darstellt, ist doch unbestreitbar.
({1})
Es gibt zahlreiche Fälle, die beweisen, welch schlimmes
und katastrophales Unrecht insbesondere Frauen in
Deutschland widerfährt und wie menschenunwürdig die
Umstände sind.
({2})
Nicht nur in Berlin, sondern auch in der bayerischen
Idylle haben Zwangsverheiratungen teilweise zu Ehrenmorden und anderen Verbrechen geführt. Deswegen
möchte ich Sie bitten, hier mit diesen gravierenden Problemen nicht so sarkastisch und lapidar umzugehen.
({3})
Man muss diesem Thema mit Sicherheit in zweierlei
Hinsicht begegnen. Wenn wir präventiv vorgehen wollen, ist es notwendig, dass die Integration gelingt. Denn
eines ist klar: Das Phänomen der Zwangsverheiratung
kommt vor allem in patriarchalischen Familienstrukturen vor.
({4})
Deswegen ist es das beste Mittel zur Prävention, um
Zwangsheiraten zu verhindern, Frauenrechte zu stärken
und den Frauen ein entsprechendes Selbstbewusstsein zu
geben. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist es, dass
Frauen über ordentliche und ausreichende Deutschkenntnisse verfügen.
({5})
Nur eine Frau, die sich in Deutschland selbstbewusst behaupten kann, weil sie die deutsche Sprache spricht, ist
gegen Zwangsverheiratung gefeit.
Stephan Mayer ({6})
Es ist schön, zu sehen, dass wir im Rahmen des Modellprojekts zur anonymen Onlineberatung in den vergangenen drei Jahren - von Juni 2007 bis Juni 2010 sehr gute Erfahrungen gemacht haben. Diesen Weg sollten wir weiter beschreiten.
Ein weiterer Fortschritt ist, dass ein eigenständiges
Rückkehrrecht bis zu einer maximalen Dauer von zehn
Jahren geschaffen wurde. Ich möchte betonen, dass wir
als christlich-liberale Koalition unserer christlich-sozialen Verantwortung gerecht werden, indem wir nicht auf
den Geldbeutel schauen und nicht darauf blicken, ob die
betreffende Person in der Lage ist, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Dass wir das Angebot unterbreiten, nach Deutschland zurückzukommen und ein
eigenständiges Aufenthaltsrecht in Deutschland zu erwerben, auch wenn man sieben oder acht Jahre nicht hier
gelebt hat, ist meines Erachtens ein großer Schritt in die
Zukunft.
({7})
Ein weiterer Fortschritt ist, dass wir den eigenen
Straftatbestand der Zwangsheirat schaffen, und zwar den
§ 237 StGB. Ich muss auch sagen: Mich befremdet Ihre
Reaktion nach dem Motto: Warum schafft ihr einen eigenen Straftatbestand? Zwangsverheiratung ist doch nach
§ 240 Abs. 4, dem Nötigungsparagrafen, bereits unter
Strafe gestellt. - Ich möchte diesen Fall einmal mit den
Straftatbeständen Totschlag und Mord vergleichen.
Mord könnte man theoretisch auch als einen besonders
schweren Fall des Totschlags deklarieren und in diesen
Straftatbestand einbeziehen. Ich glaube, wir sind uns
hier im Raum alle einig, dass es gut ist, dass dem besonderen Unwert, der in einem Mord zum Ausdruck kommt,
durch einen eigenen Straftatbestand Rechnung getragen
wird.
({8})
Herr Kollege, die Kollegin Monika Lazar und der
Kollege Jerzy Montag möchten eine Zwischenfrage stellen.
Sehr gerne. Selbstverständlich. Bitte schön.
Wir ziehen das zusammen, und dann antworten Sie
auf beide Fragen. Frau Lazar, bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege, würden Sie bitte die Stellungnahme vom Caritasverband zur Kenntnis nehmen,
wenn Sie schon die Stellungnahmen von Terre des Femmes oder vom Verein Frauenhauskoordinierung nicht so
christlich-sozial bzw. christlich-demokratisch nah empfinden?
Die Caritas schreibt in ihrer Bewertung des eigenständigen Straftatbestandes: Dieser hat vor allem symbolische Funktion. Er führt nicht zu einer unmittelbaren
Besserstellung der Opfer. Die Erfahrung unserer Mitarbeiterinnen aus der Beratungstätigkeit zeigt, dass die
Opfer ihre Familien zumeist nicht anzeigen. Der Caritasverband hält insbesondere praktische Maßnahmen für
notwendig: eine möglichst flächendeckende und niedrigschwellige Erreichbarkeit professioneller Beratung und
den Ausbau von Notfallunterbringungsmöglichkeiten
etc.
Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen und uns
nicht immer irgendetwas zu unterstellen.
({0})
- Sie tun so, als ob das selbstverständlich wäre.
({1})
Ich möchte, dass der Kollege das zur Kenntnis nimmt,
weil der eigenständige Straftatbestand einfach nichts ändert. Bitte nehmen Sie die Stellungnahme der Caritas zur
Kenntnis.
Herr Kollege Montag.
Herr Kollege Mayer, ich finde, Sie haben mit Ihrem
mit Emphase vorgetragenen Beispiel von Mord und Totschlag einen richtigen Tiefpunkt juristischer Dogmatik
erreicht.
({0})
Ich würde Sie gern fragen, ob es in Ihren Augen einen
Unterschied darstellt, ob man darüber debattiert, zwei
seit vielen Jahrzehnten getrennt voneinander vorhandene
Straftatbestände wie Totschlag und Mord mit verschiedenen Strafrahmen in einem Paragrafen zusammenzufügen - niemandem in diesem Haus außer Ihnen ist dies
bisher eingefallen -, oder ob man einen Straftatbestand
auseinanderzieht und den Strafrahmen dabei völlig
gleich lässt?
Nachdem der Kollege von der FDP mit dem etwas abseitigen Beispiel des Zuparkens im Straßenverkehr argumentiert hat und nachdem die Kollegin Granold völlig
zu Recht einen anderen besonders schweren Fall der Nötigung gemäß § 240 - das Verhalten eines Amtsträgers als Vergleich herangezogen hat, möchte ich Sie gerne
fragen, warum eigentlich die Tatsache, dass die Nötigung zu einem Schwangerschaftsabbruch ebenfalls in
§ 240 Abs. 4 und somit nicht als selbstständiger Straftatbestand geregelt ist, Ihre Fraktion nicht längst dazu bewogen hat, zu fordern, die Nötigung zu einem Schwangerschaftsabbruch zu einem neuen Straftatbestand zu
machen. Das entspräche der Logik, mit der Sie uns hier
anbieten, die Zwangsverheiratung aus § 240 herauszuholen, um sie dann zu einem eigenständigen Straftatbestand zu erklären.
Jetzt muss ich Frau Lazar bitten, sich wieder zu erheben, damit sie eine Antwort bekommen kann.
Von mir aus könnten Sie gerne sitzen bleiben.
Wir legen schließlich Wert auf die Würde, gerade hier
vorne.
Ich möchte Sie nicht nötigen, stehen zu müssen. Vielen herzlichen Dank für die beiden Fragen.
Liebe Frau Kollegin Lazar, ich nehme natürlich gerne
die Stellungnahme der Caritas sowie auch die Stellungnahmen anderer Organisationen zur Kenntnis. Ich
möchte nur ganz offen sagen, dass ich am Ende in der
Abwägung zu einem anderen Ergebnis komme. Ich bin
der Auffassung, dass die Schaffung eines eigenen
Straftatbestandes Zwangsheirat - § 237 - keine reine
Symbolpolitik ist.
({0})
Meines Erachtens wird mit der Schaffung eines eigenständigen Straftatbestandes auch der besondere Unwertgehalt dieser Tat zum Ausdruck gebracht.
Ich habe deshalb den Vergleich zu Mord und Totschlag gezogen, weil ich klarmachen möchte, dass das
Ergebnis leider Gottes das Gleiche ist: Es kommt ein
Mensch ums Leben. Wir sind uns aber doch alle, inklusive meiner Person, vollkommen einig, dass es widersinnig wäre, den Straftatbestand des Mordes unter den
Straftatbestand des Totschlags zu subsumieren.
Ebenso bin ich der Meinung, dass dem Gesetzgeber
zugestanden werden muss, zu sagen: Diese schrecklichen Straftaten, dieses schreckliche Unrecht, das insbesondere Frauen im Zusammenhang mit einer Zwangsverheiratung angetan wird, verdient die Schaffung eines
eigenen Straftatbestandes. Meine werten Kolleginnen
und Kollegen - an dieser Stelle darf ich auch den Kollegen Montag ansprechen -, das ist doch überhaupt kein
Grund, einander hier so echauffiert zu begegnen. Wir
schaffen einen eigenen Straftatbestand. Wir gliedern einen Absatz aus dem Nötigungsparagrafen aus und schaffen einen eigenen neuen Straftatbestand. Das ist mehr als
Symbolpolitik. Damit wird der besondere Unrechtscharakter der Taten zum Ausdruck gebracht und sonst
nichts.
Zum Abschluss darf ich noch eines ansprechen, was
mir aufgefallen ist. Der Antrag der Linksfraktion impliziert teilweise eine Diktion, die für mich mehr als befremdlich ist. Ich halte es sogar für unerträglich und für
widerwärtig, meine Kolleginnen und Kollegen von der
Linksfraktion, wenn Sie in Ihrem Antrag Deutschland
mit dem Apartheidsystem in Südafrika vergleichen. Um
es in aller Deutlichkeit zu sagen: Das ist wirklich bodenlos.
Genauso unerträglich finde ich es, dass Sie der Polizei
in Deutschland pauschal rassistische Vorbehalte gegenüber Ausländern unterstellen, insbesondere mit Blick auf
die Kontrolle ihrer Legitimationspapiere. Dies kommt
ausgerechnet von einer Fraktion, die, wie wir gerade in
diesen Tagen wieder haben erleben können, intensive
Verknüpfungen zu einem früheren Unrechtsregime in
Teilen Deutschlands hat, in der tatsächlich noch Mitarbeiter beschäftigt sind, die ehemalige Stasi-Informanten
waren.
Hierzu empfehle ich die Dokumentation über den
Kollegen Gysi mit dem Titel „Die Akte Gysi“, die am
kommenden Donnerstag in der ARD ausgestrahlt wird.
Dass gerade aus den Reihen dieser Fraktion Deutschland
der Vorwurf gemacht wird, wir würden ein System unterhalten, das vergleichbar mit dem Apartheidsystem in
Südafrika sei, das schrecklich war, das menschenunwürdig war, das halte ich für unerträglich. Ich kann Sie hier
nur auffordern, sich insoweit von der Diktion in Ihrem
Antrag zu verabschieden.
Ansonsten handelt es sich um einen guten Gesetzentwurf, der heute von der Bundesregierung vorgelegt wird.
Seine Verabschiedung wird mit Sicherheit dazu führen,
dass wir einen weiteren Schritt in Richtung Willkommenskultur in Deutschland gehen.
Danke schön.
({1})
Es folgt jetzt eine Kurzintervention des Kollegen
Josef Winkler.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Mayer,
Sie haben uns als Fraktion vorgeworfen, wir verhielten
uns zynisch und sarkastisch, wenn wir uns mit der Frage
beschäftigen, was es zu bedeuten hat, dass Staatssekretär
Dr. Schröder sagt, bei Zwangsverheiratungen gebe es
eine besonders hohe Dunkelziffer. Ich finde, man darf
doch wohl einmal nachfragen, was es damit auf sich hat,
wenn die Bundesregierung sagt, hier sei eine Änderung
im Strafgesetzbuch notwendig, weil eine besonders hohe
Dunkelziffer vorhanden ist - anscheinend im Unterschied zu normalen Dunkelziffern -, und ob es für diese
Aussage eine Datengrundlage gibt. Da diese Grundlage
offensichtlich nicht da war, ist die Begründung für die
Änderung des Strafgesetzbuches denkbar dünn.
Ich will Ihnen einmal sagen, was ich zynisch finde
- das ist normalerweise nicht meine Wortwahl; aber Sie
haben sie in die heutige Debatte eingeführt -: dass Sie
sagen, Sie veränderten qualitativ etwas für die von
Zwangsheirat betroffenen Frauen und Männer; meistens
sind es ja Frauen. Denn es ändert sich ja nichts. Durch
die Einfügung eines eigenen Paragrafen in das Strafgesetzbuch wird nicht einmal die Strafnorm erhöht. Wenn
es Ihnen um die Androhung einer höheren Strafe ginge,
dann hätten Sie einen Straftatbestand wählen können,
der mit mehr Jahren Haft als Höchststrafe versehen wird,
als es bisher der Fall war. Haben Sie das gemacht? Nein!
Es ist zynisch und sarkastisch, so zu tun, als würde die
Aufnahme eines Paragrafen in das Inhaltsverzeichnis des
Strafgesetzbuches für die Frauen, die von Zwangsverheiratung betroffen sind, einen qualitativen Vorteil bedeuten.
Was einen Vorteil bedeuten würde - eine Antwort
bleiben Sie schuldig -, sind nämlich massive aufenthaltsrechtliche Verbesserungen. All die Forderungen der
Frauenverbände berücksichtigen Sie nicht. Sie sagen:
Wir tun etwas für die Frauen. Wo ist denn die Qualitätsoffensive der Bundesregierung für die Frauenhäuser in
dieser Republik?
({0})
Wo stehen denn die Millionen im Haushalt, um das Verbrechen der Zwangsheirat endlich besser zu bekämpfen?
Wo sind die Millionen für bessere niedrigschwellige Angebote? Wo werden die damit einhergehenden Forderungen erfüllt? Nichts von alledem machen Sie. Sie betreiben reine Symbolpolitik. Das ist zynisch und sarkastisch.
({1})
Herr Kollege Mayer, zur Erwiderung. Bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Winkler, ich habe Ihnen
den Vorwurf des Zynismus und des Sarkasmus gemacht
- ich rücke davon auch nicht ab -, weil ich es für vollkommen neben der Sache liegend halte, darauf zu insistieren, dass jetzt endlich gesagt wird, wie hoch die Dunkelziffer an Zwangsverheiratungen in Deutschland ist.
Wie wollen Sie denn reagieren? Es gibt offenkundig
- die Zahlen liegen auf dem Tisch - 1 000 Tatverdächtige, gegen die schon offiziell ermittelt wurde. Jetzt sagt
Herr Staatssekretär Schröder - das ist auch meine Meinung -, man könne annehmen, die Dunkelziffer sei weitaus höher.
({0})
Sehen Sie gesetzgeberischen Handlungsbedarf dann
nicht mehr gegeben, wenn die Dunkelziffer 1 000 Fälle
unterschreitet oder 2 000 Fälle unterschreitet? Es ist
doch zynisch - ich bleibe ganz bewusst bei dieser Wortwahl -, sich jetzt an der Frage festzuklammern, wie hoch
die Dunkelziffer tatsächlich ist.
Dass die Problematik der Zwangsverheiratung in
Deutschland evident und offenkundig ist, ist unbestreitbar; die Fälle liegen doch auf dem Tisch. Ich würde Ihren Vorwurf uns gegenüber zwar nicht verstehen, aber
vielleicht erklären können, wenn die Schaffung eines eigenen Straftatbestandes - § 237 StGB - die einzige Antwort wäre, die wir auf die mit dem Problem der Zwangsverheiratung verbundenen Fragen gäben. Ich habe auch
in meinen Ausführungen deutlich gemacht: Man muss
natürlich im Rahmen eines Maßnahmenpaketes gegen
die Zwangsverheiratung vorgehen, sowohl präventiv,
durch eine Stärkung der Frauenrechte, durch verbesserte
Integrationsangebote, vor allem durch ein verstärktes
Angebot an Deutschkursen, die man den jungen Frauen
angedeihen lässt, als auch repressiv, zum Beispiel im
Wege des Strafrechts, durch die Schaffung eines eigenen
Straftatbestandes, aber auch - ich möchte noch einmal
Ihrem Einwand entgegnen - durch die Schaffung eines
selbstständigen Rückkehrrechts mit einer Geltungsdauer
von bis zu zehn Jahren für Frauen, die zwangsverheiratet
oder verschleppt wurden.
Ich glaube, wenn man sich das Maßnahmenpaket der
Bundesregierung bzw. der christlich-liberalen Koalition
ansieht, stellt man fest, dass das wirklich Hand und Fuß
hat. Das kann sich sehen lassen. Dass man daneben natürlich auch noch mehr für Frauenhäuser tun kann, ist
vollkommen richtig. Aber, lieber Herr Kollege Winkler,
dafür ist nicht der Bund zuständig, dafür sind die Länder
zuständig. Jeder muss vor seiner Haustür kehren. Ich
glaube, der Bund hat seine Hausaufgaben mit dem Gesetzentwurf, der heute in der ersten Lesung beraten wird,
ordentlich gemacht.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksache 17/4401, 17/4197, 17/2491, 17/3065
und 17/2325 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Burkhard Lischka, Lars Klingbeil, Christine
Lambrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Zugangserschwerungsgesetz aufheben - Verfassungswidrigen Zustand beenden
- Drucksache 17/4427 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Burkhard Lischka von der SPD das
Wort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt
ganz sicher kaum Straftaten, die abscheulicher sind als
der sexuelle Missbrauch von Kindern. Wir müssen alles,
aber auch wirklich alles tun, um solche Straftaten bzw.
die Täter zu verfolgen, und wir müssen alles tun, damit
solche Bilder, und zwar für immer, aus dem Netz verbannt werden.
({0})
Mit Scheinlösungen aber sollten wir uns nicht zufrieden geben. Deshalb sage ich deutlich: Internetsperren
sind hier nicht der richtige Weg. Sie verbannen nicht ein
einziges Bild aus dem Netz, sie verstecken es bestenfalls
nur. Darüber hinaus sind sie wenig effektiv, ungenau und
leicht zu umgehen. Sie schaffen eine Infrastruktur, die
grundsätzliche Bedenken hervorruft und verfassungsrechtlich höchst problematisch ist. Das ist eine Erkenntnis, die sich zunehmend durchgesetzt hat und uns in vielen Anhörungen in letzter Zeit von den Experten immer
und immer wieder bestätigt worden ist.
Wir brauchen eine komplexe Strategie gegen Verbrechen an Kindern. Wir brauchen keine Stoppschilder, die
Aktion suggerieren, das Leid aber nur ein bisschen besser verstecken. Da, wo vor allem kinderpornografische
Bilder gehandelt werden - zum Beispiel an Tauschbörsen -, bringen Internetsperren überhaupt nichts. Was wir
brauchen, ist deshalb ein effektiver Einsatz der Strafverfolgungsbehörden und ein effektives Löschen der Bilder,
die Kinder zum zweiten Mal zum Opfer machen.
({1})
Eines geht aber nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ein von diesem Parlament in einem geordneten parlamentarischen Verfahren verabschiedetes Gesetz, das
Zugangserschwerungsgesetz, kann und darf doch nicht
durch die Verwaltung eines Ministeriums einfach par
ordre de mufti ausgesetzt werden.
({2})
Das Parlament selbst, wir müssen doch das Gesetz aufheben. Alles andere ist ein glatter Verfassungsbruch.
({3})
Es gibt Jahrestage, die wirklich kein Grund zum Feiern sind, sie sind vielmehr ein Grund, verschämt zum
Boden zu schauen. Einen solchen Jahrestag bescheren
uns jetzt Bundesregierung und Regierungsfraktionen,
nämlich am 17. Februar. Dann ist es ganz genau ein Jahr
her, dass der Bundesinnenminister das Bundeskriminalamt angewiesen hat, ein von diesem Parlament verabschiedetes Gesetz nicht anzuwenden. Das ist ein Unding,
ein Verfassungsbruch. Es dreht jedem Parlamentarier
- einschließlich des Bundestagspräsidenten, der sich
hierzu deutlich geäußert hat - den Magen um.
({4})
Da wird ein Gesetz nicht angewendet, nur weil
Schwarz und Gelb wie so oft nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Das wird dann eben mal auf Kosten der Verfassung ausgesessen. Das ist unwürdig.
Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, beenden Sie diesen Zustand, und zwar schnellstmöglich. Machen Sie Nägel mit Köpfen. Heben Sie das
Zugangserschwerungsgesetz auf und lassen Sie uns dann
gemeinsam Kinderpornografie im Internet bekämpfen.
Es ist doch weiß Gott alles andere als stringent, auf
der einen Seite am Zugangserschwerungsgesetz festzuhalten, auf der anderen Seite das Gesetz im Erlasswege
auszusetzen, um sich dann auf europäischer Ebene
- vollkommen zu Recht - wiederum gegen Internetsperren einzusetzen. Es würde doch die deutsche Verhandlungsposition in Europa, nämlich „Löschen statt sperren“, ganz maßgeblich unterstützen, wenn Sie dieses
Hickhack endlich beenden würden. Handeln Sie endlich
und versuchen Sie nicht, das Thema weiter auszusitzen,
meine Damen und Herren!
({5})
Schaffen Sie Wege, dass das Löschen von Kinderpornografie schneller und effektiver durchgesetzt werden
kann: durch engmaschigere Kontrollen, durch internationale Vereinbarungen, durch eine gute Zusammenarbeit
zwischen den Beschwerdestellen der Polizei und den
Strafverfolgungsbehörden. Mir will jedenfalls nicht in
den Kopf, warum Banken anscheinend erreichen können, dass Betrugsseiten innerhalb kürzester Zeit vom
Netz genommen werden, uns aber das Gleiche bei solchem Schmutz, bei Bildern gepeinigter Kinder, angeblich nicht gelingen kann.
({6})
Dabei wissen doch alle: Die Server, auf denen solche
Bilder sind, befinden sich nicht in erster Linie in irgendwelchen Bananenrepubliken, sondern in den USA und in
Westeuropa. Da muss ein schnelles Löschen möglich
sein.
({7})
Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass die Zahlen, mit
denen Bundeskriminalamt, Verbände, einschlägige Beschwerdestellen operieren, nach wie vor so extrem unterschiedlich sind und dass noch immer eine Vereinbarung fehlt, wer wem kinderpornografische Seiten meldet
und wie schnell und stringent auf eine Löschung gedrängt wird. Wir brauchen endlich einheitliche Richtlinien. Wir brauchen eine Harmonisierung. Die Bemühungen, dies alles zu erreichen, dauern schon viel zu lange,
und sie haben noch nicht zu irgendeinem Ergebnis geführt.
Deshalb, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, Herr Ahrendt, Frau Bundesjustizministerin: Beim Kampf gegen Kinderpornografie haben Sie
uns wirklich an Ihrer Seite, bei dem Possenspiel, das Sie
im Augenblick aufführen, ganz sicher nicht.
Recht herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Ansgar Heveling von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bis vor etwa fünf Jahren habe ich noch gedacht, wir
bekommen das Internet in den Griff. Wir müssen
nur einen großen Verfolgungsdruck aufbauen, und
dann sind wir raus. Aber heute weiß ich, das werden wir nicht hinbekommen. Den Kampf haben wir
schon verloren.
Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist die
resignative Einschätzung eines Oberstaatsanwalts, der
sich viele Jahre intensiv mit der Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen befasst hat.
Sie ist nachzulesen in einem sehr lesenswerten Artikel,
der im vergangenen Jahr in der Zeitschrift Emma erschienen ist.
Der Oberstaatsanwalt hat den Kampf tatsächlich aufgegeben. Er ist heute für allgemeine Kriminalität zuständig.
({0})
Und wir? Haben wir den Kampf auch schon verloren
oder gar aufgegeben?
({1})
Ich hoffe, nein.
Lassen Sie mich dennoch mit etwas Unerhörtem beginnen, dem Eingeständnis von Hilflosigkeit. Ich weiß,
das gehört sich in der Politik nicht. Schwäche und deren
Eingeständnis haben hier normalerweise nicht viel zu suchen. Ich gestehe das aber trotzdem an der Stelle ein. Ich
fühle mich bei der Frage nach der richtigen Strategie für
die Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen oftmals hilf- und machtlos. Ich fühle mich
auch bei der heutigen Debatte nicht wohl. Vielleicht geht
es Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von hier bis da
in diesem Hause, genauso wie mir, vor allem angesichts
der doch manchmal bestehenden Aussichtslosigkeit unseres Tuns. Gleichgültig, welche Strategie wir verfolgen machen wir uns bewusst: Während wir hier debattieren,
machen andere mit ihrem ekelhaften und schändlichem
Tun annähernd ungehindert weiter, werden Kinder missbraucht, wird die Darstellung des Missbrauchs ins Internet gestellt oder werden solche Darstellungen ausgetauscht. Während wir darüber debattieren, ob die
Nichtanwendung einer gesetzlichen Alternative verfassungswidrig sei oder nicht, werden alle diese Straftaten
weiterhin begangen.
Ich glaube, wir sollten darüber reden, wie wir Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen gemeinsam
entschieden bekämpfen können. Natürlich könnten die
Oppositionsparteien es mit der heutigen Debatte vor allem auf eines anlegen: zu zeigen, dass die Regierungsfraktionen unterschiedliche Vorstellungen haben und die
Sache noch nicht abschließend geklärt ist. Ja, Sie haben
recht. So ist das. Wir haben da divergierende Vorstellungen, die schwer überein zu bringen sind. Und? Bringt es
uns in der Sache weiter, wenn nun der Finger in diese
vermeintliche Wunde gelegt wird? Ich glaube, nein. Das
gilt zugegebenermaßen genauso für den Hinweis darauf,
dass wir in der Koalition daran arbeiten, dieses Problem
zu lösen.
Natürlich könnte ich auch parieren, indem ich die
Schwächen der SPD bei diesem Thema deutlich mache,
die sich auch bei diesem Antrag naturgemäß zeigen.
Denn das Gesetz, dessen Aufhebung Sie jetzt begehren,
ist von Ihnen selbst mit eingebracht und beschlossen
worden. Sie sind damals für das eingetreten, wogegen
Sie nun sind.
({2})
Ich kann dazu aus einem Beitrag der SPD-Fraktion in
einer Debatte von 2009 zitieren.
Die Bekämpfung der Kinderpornografie durch Zugangssperren im Internet braucht eine klare gesetzliche Grundlage. Ich bin froh, dass sich die SPD mit
ihrer Forderung durchgesetzt hat. Nur eine gesetzliche Regelung schafft Rechtssicherheit und genügt
verfassungsrechtlichen Anforderungen.
In einer anderen Debatte über das Zugangserschwerungsgesetz sagte der Kollege Dörmann:
Die Politik ist in der Pflicht, beiden Themen gerecht zu werden: dem Kampf gegen die Verbreitung
kinderpornografischer Inhalte im Internet und dem
Einsatz für ein freies Internet. … Ich finde, mit diesem Gesetzentwurf ist uns das gelungen.
Weil sich die damalige CDU/FDP-Regierung in
Nordrhein-Westfalen nach Auffassung der SPD nicht
ausreichend für Sperren ausgesprochen hat, hatte die
SPD-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen unter Führung von Frau Kraft, heute Ministerpräsidentin,
seinerzeit sogar beantragt - das können Sie in der Landtagsdrucksache 14/7830 nachlesen -, die Landesregierung von CDU und FDP aufzufordern,
die Initiative des Bundeskriminalamtes zu unterstützen, eine gesetzliche Verpflichtung für Provider
zu schaffen, Internet-Webseiten mit kinderpornografischen Inhalten zu sperren.
Nur zu sperren: Von löschen findet sich in diesem Antrag kein Wort.
({3})
Selbstverständlich ist es jedem zugestanden, nach einiger Zeit seine Meinung zu ändern. Mit dem heutigen
Antrag suggerieren Sie, dass dies auf der Grundlage
neuer Erkenntnisse geschehen sei; denn Sie behaupten,
zwischenzeitlich habe sich die Erkenntnis durchgesetzt,
dass Internetsperren wenig effektiv, ungenau und technisch ohne größeren Aufwand zu umgehen seien. Lassen
Sie uns ehrlich sein. Das „zwischenzeitlich“ ist doch
nichts anderes als Autosuggestion. Tatsache ist doch,
dass es keine wirklich grundlegend neuen Erkenntnisse
gibt. Schon im Jahr 2009, während der Diskussion um
den Erlass des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen, wurden bereits genau diese Punkte in den Anhörungen ins Feld geführt.
({4})
Und jetzt? Steht es unentschieden, weil Sie Ihre Meinung geändert haben und wir unterschiedlicher Auffassung sind? Letztlich kann man sich nicht des Eindrucks
erwehren, als würden wir uns alle seit 2009 wunderbar
im Kreis drehen. Ich nehme mich und uns dabei nicht
aus. Nur: Diejenigen, denen wir ans Fell wollen, können
sich derweil die Hände reiben.
Nutzen wir deshalb die heutige Debatte um das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderpornografie doch auch
für ein paar grundsätzliche Überlegungen. Denn im Stellungskampf um politische Symbolbegriffe und angesichts der Neigung, gegenseitig mit dem Finger aufeinander zu zeigen, mag nach zwei Jahren hitziger Debatte
die Notwendigkeit dafür ein wenig aus dem Blick geraten zu sein.
Erstens. Wir alle wollen Instrumente, mit denen effektiv gegen Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen vorgegangen werden kann. Da sind wir uns alle einig. Das zieht sich seit der ersten Lesung des
Gesetzentwurfs durch die gesamte Diskussion.
Zweitens. Stichwort: Zusammenarbeit und Selbstregulierung. Hierauf zielt eine Forderung des SPD-Antrags ab. Fraglos ist das erst einmal hilfreich, und jede
solcher Maßnahmen ist zu begrüßen. Aber es bleibt die
Frage: Ist das ausreichend?
Ich zitiere an dieser Stelle beispielhaft den Kollegen
Wieland bei der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs im
Juni 2009:
Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, es darf aber
auch nicht zum bürgerrechtsfreien Raum verkommen.
({5})
- Herr Kollege Wieland, völlig d’accord. Ich war damals
noch nicht dabei, deswegen geht mir das jetzt auch leicht
über die Lippen. Aber ich bin völlig d’accord.
Aber das bedeutet doch auch genau das: Freiwillige
Vereinbarungen reichen dann ja nicht aus. Wir brauchen
eine gesetzliche Regelung mit klar definierten Eingriffsbefugnissen, rechtsstaatlichen Kontrollmechanismen
und Rechtsschutzmöglichkeiten.
({6})
Mit einem bloßen Aufhebungsgesetz wäre also an dieser
Stelle rein gar nichts gewonnen.
Drittens. Stichpunkte wie „Löschen statt Sperren“,
„Löschen vor Sperren“ und „Löschen und Sperren“ und,
und, und. Wir können uns die Argumente zu der Wirksamkeit jetzt gegenseitig um die Ohren hauen. Ich
glaube, wir haben da alle kein Erkenntnisproblem. Es
mag auf den ersten Blick auch hilflos erscheinen, nach
wie vor dafür einzutreten, sich die Möglichkeit des Sperrens als Ultima Ratio offenzuhalten. Das kann aber rasch
abgelöst werden, dann nämlich, wenn wirklich wirksame
Alternativstrategien erkennbar werden. Das ist - aus
meiner Sicht jedenfalls - valide noch nicht der Fall.
Heinrich Wefing hat dazu in einem ZEIT-Artikel im
Jahr 2009 schon bei der damaligen Diskussion bedenkenswert formuliert:
Nun könnte man die lärmende Ablehnung jeder
staatlichen Regulierung und Rechtsdurchsetzung
vielleicht sogar als romantische Utopie belächeln,
wenn die Ideologen der Freiheit gelegentlich einmal selbst einen Gedanken darauf verwenden würden, wie sich der Missbrauch des Mediums eindämmen ließe.
Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Gottlob besteht
weder die analoge noch die digitale Welt nur aus Ideologen. Von daher ist nicht von der Hand zu weisen - das ist
vielleicht der Erfolg der nach wie vor intensiven Debatte
in dieser Wahlperiode -, dass sich gegenüber dem Jahr
2009 doch auch schon einiges verbessert hat. Aber es
bleibt dabei: Nach wie vor sind keine wirklich wirksamen anderen Strategien erkennbar. Solange das so ist,
sollte man jedenfalls nicht gänzlich auf die Möglichkeit
des Sperrens verzichten.
({7})
Der Antrag der SPD hilft nicht. Er hilft nicht in der
Sache, und er bringt keine neuen Erkenntnisse. Deshalb
lehnen wir ihn ab.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass sich die SPD-Fraktion endgültig für die Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes
einsetzt. Sie hat aus ihren Fehlern gelernt.
({0})
In der Großen Koalition 2009 stimmte sie noch wider
besseres Wissen für die Einführung von Internetsperren.
Angesichts der überwältigenden Argumente gegen die
Netzsperren ist es heute aber eigentlich nicht mehr möglich, klaren Verstandes für dieses Gesetz einzutreten.
Der Verband der deutschen Internetwirtschaft eco hat
am Dienstag erneut belegt, dass mit einem schnellen
und effektiven Vorgehen kinderpornografische Inhalte
zügig - auch international - aus dem Netz gelöscht werden können. Dazu braucht man keine Netzsperren. Was
man aber nicht braucht, braucht man nicht. Lassen Sie
das Gesetz einfach!
({1})
Um nicht alle Argumente zu wiederholen, nur ein
paar Stichworte: Das Verstecken strafrechtlich relevanter
Inhalte hinter technisch leicht zu umgehenden Stoppschildern bringt gar nichts. Schon das Betreiben von
Sperrlisten ist kontraproduktiv. Die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass diese Listen nie dauerhaft
geheim bleiben. Einmal öffentlich geworden, können sie
geradezu als Wegweiser zu diesen strafrechtlich relevanten Inhalten dienen.
Stoppschilder werden so zu Hinweisschildern. Sie
warnen die Betreiber dieser Seiten davor, dass ihnen die
Strafverfolgungsbehörden auf der Spur sind. Außerdem
bringen die geplanten Netzsperren auch die Gefahr mit
sich, dass es ein Overblocking gibt. Es wird also möglicherweise der Zugang zu allen Inhalten eines Servers gesperrt - damit auch zu unbedenklichen.
Die Einführung von Netzsperren bringt erhebliche
Kollateralschäden für die Freiheit des Internets mit sich.
Nicht mit uns!
({2})
Das ständige Werben der innenpolitischen Hardliner der
CDU/CSU für Netzsperren macht eines deutlich:
({3})
Es geht längst nicht mehr um die notwendige Bekämpfung von Kinderpornografie, sondern um die Errichtung
einer universalen Sperrinfrastruktur. Schon heute werden immer wieder Stimmen laut, die den Einsatz von
Netzsperren unter anderem auch bei Urheberrechtsverletzungen fordern. Die Linke stellt sich solchen Entwicklungen entgegen. Eine Zensur des Internets wird es
mit uns nicht geben.
({4})
Die geplante Einführung von Internetsperren ist aber
nicht die einzige Bedrohung für das freie Internet. Parallel dazu wird auch die Debatte über das Ende der Netzneutralität geführt.
Wenn es nach den Vorstellungen der Netzbetreiber
geht, sollen der Zugang zum Internet und die Nutzung
verschiedener Dienste zukünftig vom Geldbeutel der
Nutzer abhängen. Die Netzbetreiber möchten selbst entscheiden, welche Inhalte sie zu welchen Preisen und
welchen Geschwindigkeiten durch ihre Netze leiten. Die
Koalition geht hier unkritisch mit der Lobby der Netzbetreiber Hand in Hand. Wir müssen stattdessen aufhören,
das Internet als Bedrohung wahrzunehmen, der nur mit
Gesetzen und Regulierungen begegnet werden kann. Wir
müssen die emanzipatorischen Potenziale des Internets
erkennen und nutzen. Wir müssen Strukturen für freie
Kommunikation und für freies Verbreiten von Informationen sowie die Möglichkeit zur Demokratisierung der
Gesellschaft gegen alle Angriffe verteidigen.
({5})
Reden wir über uns, das Parlament.
({6})
Was können wir tun? Wir könnten die demokratischen
Potenziale des Internets noch besser nutzen. Die Onlinepetition ist bereits ein Schritt in die richtige Richtung.
({7})
Wir brauchen aber mehr. Gerade in Zeiten sinkender
Wahlbeteiligung und steigender Politikverdrossenheit
sollten wir das Internet nutzen, um mehr Bürgerbeteiligung zu ermöglichen. Wir könnten beispielsweise die interessierte Öffentlichkeit bereits in der Entstehungs- und
Beratungsphase von Gesetzen beteiligen. Lassen Sie uns
hier mutig vorangehen. - Meine Damen und Herren von
der FDP, ich kann ja verstehen, dass sie mir vorschreiben
wollen, was ich sage. Es wird Ihnen nur nicht gelingen,
dass ich mich daran halte.
({8})
Wir sollten das Internet nicht ausschließlich als einen
Wirtschaftsraum, sondern als einen globalen Kulturraum
begreifen. Das Einhegen und Abschotten sowie die Errichtung eines weitgehend regulierten „deutschen“ oder
„europäischen“ Internets lehnt die Linke ab. Auf der
EU-Ebene wird zurzeit intensiv über Internetsperren diskutiert. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich auch in
Europa gegen verpflichtende Netzsperren der Mitgliedstaaten einzusetzen.
({9})
Dafür brauchen wir jede denkbare Unterstützung, auch
und gerade aus dem außerparlamentarischen Bereich.
({10})
Ich freue mich daher über die Kampagne von European
Digital Rights zum Stoppen der europäischen Netzsperrenpläne. Auf netzpolitik.org wurde am Dienstag auf
diese Kampagne hingewiesen, und ich empfehle diese
Lektüre vor allen Dingen den Kolleginnen und Kollegen
der Koalition.
Die Linke fordert ein Umdenken und Umsteuern der
deutschen Netzpolitik weg von Regulierung und Bevormundung und hin zu einem dauerhaft geschützten offenen und freiheitlichen Internet. Aus diesem Grunde prüfen wir wohlwollend eine Zustimmung zum Antrag der
SPD-Fraktion.
({11})
Das Wort hat der Kollege Jimmy Schulz von der
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sie von der SPD legen hier erneut
einen Antrag vor, um ein Gesetz abzuschaffen, das Sie
selbst vor gerade einmal 18 Monaten hier eingebracht
und beschlossen haben. Sie tun dies, weil Sie glauben, es
habe sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass
dieses Gesetz den gesetzten Zielen nicht gerecht wird
oder, wie wir glauben, nicht gerecht werden kann. Sie
sagen jetzt das, was wir schon immer gesagt haben: Löschen und nicht Sperren funktioniert bei der Bekämpfung von Kinderpornografie. Aber besser spät als nie; es
kommt mir vor, als hätten Sie mit einiger Reaktionszeit
von der Standspur auf die rechte Spur, den rechten Weg,
gewechselt.
({0})
Wir haben gute neue Belege dafür erhalten - das haben wir gerade gehört -, dass Löschen statt Sperren
funktioniert. Der Verband der deutschen Internetbranche
eco hatte im Jahr 2010 eine Erfolgsquote von 99,4 Prozent beim Löschen dieser Dateien. Auch die internationale Zusammenarbeit konnte deutlich verbessert werden: Bilder können jetzt auch im Ausland sehr schnell
gelöscht werden. Von 208 Webseiten konnten 204 innerhalb von kürzester Zeit gelöscht werden, davon 84 Prozent innerhalb einer Woche und 91 Prozent binnen zwei
Wochen. Genau deswegen haben wir im Koalitionsvertrag eine Jahresfrist festgelegt. Wir wollen das Löschen
dieser Webseiten ein Jahr lang anwenden und dann evaluieren, genau das werden wir auch tun.
Wir können doch ein Gesetz nicht einfach vor Abschluss der Überprüfung aufheben und damit den Ergebnissen vorweggreifen.
({1})
Zudem wird das im Koalitionsvertrag vereinbarte
Verfahren erst seit Oktober 2010 angewendet; denn erst
seit diesem Zeitpunkt leitet jugendschutz.net, eine der
Meldestellen, die vom Bundeskriminalamt erhaltenen
Hinweise an die jeweiligen internationalen Partner weiter. Die Evaluierung muss auch im Lichte dessen betrachtet werden.
({2})
Sie fordern in Ihrem Antrag die schnellstmögliche
Unterzeichnung des Harmonisierungspapiers, also des
Papiers, in dem die Prozesse der Zusammenarbeit der
Meldestellen und der internationalen Partner geregelt
werden. Aber genau das steht gerade an; das Papier befindet sich doch schon längst in der Fertigstellung und
wird demnächst unterzeichnet. Ihre Panikmache ist also
vollkommen unbegründet.
({3})
Zu guter Letzt muss ich auf Folgendes zu sprechen
kommen. Ich kann Ihren Antrag aus gutem Grund nicht
wirklich ernst nehmen, war es doch gerade einer Ihrer
Kollegen, der kaum zwei Tage nach der Verabschiedung
des Gesetzes gefordert hat, die Internetsperren nicht nur,
wie vorher angekündigt, gegen kinderpornografische
Webseiten anzuwenden, sondern auch gegen digitale
Falschparker. Gewundert hat mich diese Forderung allerdings nicht; denn damals fuhren Sie noch auf der
Standspur, und dort stören Falschparker natürlich nur.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eines vorweg: Diese Debatte verläuft bisher etwas schief. Während der Kollege Heveling hier eine
eher nachdenkliche bis moderate Rede hält, sieht es in
der Öffentlichkeit ganz anders aus. Man erkennt Flügelbewegungen: Der Kollege Siegfried Kauder und unser
Bundestagspräsident Lammert haben angekündigt, dass
ihnen sozusagen gerade heute aufgefallen ist, dass die
Aussetzung eines vom Bundestag erlassenen Gesetzes
per Ministererlass verfassungsrechtlich irgendwie problematisch sein könnte.
({0})
Dabei handelt es sich aber leider nicht um eine Umkehr
der Union bei den Bürgerrechten; denn der fragliche Erlass kommt aus dem CDU-geführten Innenministerium.
Sie wussten doch von Anfang an, dass es so nicht geht:
Die Verfassungswidrigkeit dieses Vorgehens war völlig
offensichtlich; es stand dem Erlass geradezu neongelb
auf der Stirn geschrieben.
({1})
Das ist jetzt reine Taktik: Sie wollen Ihren Koalitionspartner, die FDP, erneut vor das Brett schnallen, Herr
Kauder, und die Sperren durchdrücken. Das ist die traurige Wahrheit Ihrer im Gewand der Rechtsstaatlichkeit
daherkommenden Argumentation.
Zur Geschichte unserer Diskussion hier im Hohen
Haus. Nachdem wir einen fraktionsübergreifenden Konsens gefunden hatten - wir erinnern uns, dass selbst der
Kollege Uhl zu Beginn der Legislaturperiode hier in einer Sitzung reuig davon sprach, man habe beim ursprünglichen Sperrgesetz „ein bisschen mit der Stange
im Nebel gestochert“ -,
({2})
rudern Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Union,
seit Monaten kräftig zurück und fordern Stoppschilder,
anstatt an der notwendigen Verbesserung der Löschvorgänge zu arbeiten. Dabei hat der Bundestag keinen Aufwand und keine Kosten gescheut, um Sachverstand zu9448
rate zu ziehen. Dieser hat sich mehrheitlich klar gegen
Netzsperren positioniert. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, man würde sich doch sehr wünschen,
dass Sie die Anhörungen dazu nutzen, um die dort gewonnenen Einsichten in die Arbeit als Gesetzgeber einfließen zu lassen. Herr Heveling, Sie haben in Ihrer
nachdenklichen Rede valide Alternativstrategien gefordert. Diese sind in der Anhörung genannt worden. Sie
lassen aber die Einsichten, die dort gewonnen wurden,
nicht in Ihre Argumentation einfließen.
({3})
Es gab Anhörungen im Unterausschuss Neue Medien,
im Rechtsausschuss und, nicht zu vergessen, anlässlich
der Onlinepetition gegen Netzsperren. Wir haben von
der ganz überwiegenden Mehrheit der geladenen Fachleute eindeutig ins Protokoll diktiert bekommen, dass
erstens Sperren grundsätzlich der falsche Weg, ja sogar
kontraproduktiv sind, wenn man effektiv gegen Missbrauchsdarstellungen im Netz vorgehen will, zweitens
das Gesetz als solches schwerwiegende verfassungsrechtliche Fragen aufwirft, drittens der von der Bundesregierung verfolgte Weg des Aussetzens eines ordnungsgemäß im Bundestag verabschiedeten Gesetzes par ordre
du mufti mit unserer Verfassung unvereinbar ist und wir
viertens endlich eine mehrdimensionale Strategie brauchen, die selbstverständlich das Löschen, nicht aber das
Sperren umfasst.
Bereits am Anfang der Legislaturperiode haben
meine Fraktion und ich Sie aufgefordert, eine solche
Strategie vorzulegen. Geschehen ist seitdem nichts. Dabei wissen Sie doch genau, was es braucht, Herr
Heveling: Es braucht valide Optionen. Es braucht internationale Abkommen zur effektiven Bekämpfung des
Kindesmissbrauchs und der Entfernung seiner Darstellungen im Internet.
({4})
Es braucht verbesserte technische und personelle Ausstattungen der Strafverfolgungsbehörden und eine Verbesserung der Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden mit den Internetbeschwerdestellen, Stichwort
Harmonisierungspapier. Hier, bei diesen effektiven,
drängenden, allgemein anerkannten Handlungsoptionen
haben Sie nichts gemacht. Das ist ein Armutszeugnis,
meine Damen und Herren.
({5})
Auf einen Aspekt des hier vorliegenden zustimmungswürdigen Antrags der SPD möchte ich ausdrücklich eingehen. Dort heißt es, dass hinsichtlich der betreffenden
europäischen Richtlinie Handlungsbedarf bestünde. Das
ist einerseits richtig - genau aus diesem Grund haben wir
als Oppositionsfraktionen entsprechende Anträge ins
Verfahren eingebracht -; andererseits scheint es seit
Dienstag so zu sein, als bestünde die Möglichkeit, dass
dieser Handlungsbedarf so bald nicht mehr besteht.
Denn im Beschlussentwurf des Innenausschusses des
Europäischen Parlaments zur entsprechenden Richtlinie
ist die konservative Berichterstatterin von einer generell
die Mitgliedstaaten verpflichtenden Linie abgerückt,
weil sie keine Mehrheit mehr für die verpflichtende Regelung sieht.
({6})
Bei den heute bekannt gewordenen Änderungsanträgen
zum Bericht des Europäischen Parlaments wird deutlich,
dass sich alle Fraktionen - alle Fraktionen - gegen verpflichtende Sperren aussprechen, selbst die Konservativen. Nur die deutschen Konservativen im Europäischen
Parlament beharren isoliert und uneinsichtig weiterhin
auf einer Verpflichtung.
({7})
Mit dieser Position stehen Sie in Brüssel genauso wie
hier im Parlament alleine da.
({8})
Das liegt an der Erkenntnis aus allen Beratungen, dass
die Sperren nicht der falsche Weg zur Bekämpfung des
Missbrauchs von Kindern und seiner Darstellung im Internet, sondern gar kein Weg sind, um effektiv etwas
zum Schutz der Kinder zu unternehmen.
Ich komme zum Schluss. Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der FDP, haben den Koalitionsvertrag schlecht
ausgehandelt. Das wurde schon häufiger gesagt; aber das
beweist sich eben immer wieder. Sie werden von der
Union seit Monaten getrieben. Ihre Wahlkampfversprechungen im Bereich der Bürgerrechte waren wohl für die
Verhandelnden - unter ihnen die Freiheitsstatue der Republik, Guido Westerwelle - nicht ganz so wichtig. Die
Agenda des Koalitionsausschusses heute Abend, Frau
Justizministerin, liest sich wie Ihr ganz persönliches
Sündenregister des Versagens im Koalitionsvertrag: Vorratsdatenspeicherung, Netzsperren, ELENA. Man hat
begründete Sorge, was da heute Abend und in den kommenden Wochen ausgedealt werden soll. Ich hoffe das
Gegenteil; aber es steht zu befürchten, dass die Menschen in diesem Land auch im Bereich der Bürgerrechte
unter Schwarz-Gelb nicht mehr, sondern weniger Netto
vom Brutto haben werden.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Der Antrag der SPD, den wir heute beraten, spricht Bände über den Zustand der SPD.
({0})
Wenn die Grünen die Dagegen-Partei sind
({1})
und die Linkspartei mittlerweile die K-Partei ist, dann ist
die SPD die Heute-so-und-morgen-anders-Partei. Vor
gerade einmal eineinhalb Jahren hat die SPD-Bundestagsfraktion in diesem Haus dem Zugangserschwerungsgesetz fast geschlossen zugestimmt - bei nur drei Gegenstimmen und drei Enthaltungen. Heute fordern Sie
nachdrücklich und lautstark die Aufhebung desselben
Gesetzes.
({2})
Ich gestehe zu, dass Sperren allein kein Königsweg
sind.
({3})
Die Debatte heute zeigt wieder - sie wird Gott sei Dank
auch sehr ernsthaft geführt -, dass wir alle um den richtigen Weg zur Bekämpfung dieser schrecklichen Inhalte
im Internet und vor allem der Verbrechen, die diesen Bildern vorangehen, ringen. Gerade weil es in diesem
Hause einen Konsens darüber geben sollte, dass wir alles
tun, um diese widerwärtigen, diese abscheulichen Verbrechen zu verhindern und die Verbreitung ihrer Darstellung zu vermeiden, sollten wir doch auch von diesem
Geist getragen die Debatte führen.
Die christlich-liberale Koalition hat deshalb beschlossen, es ein Jahr lang mit dem Löschen zu probieren.
Dann wollen wir evaluieren, und danach wollen wir weiterschauen. Lassen Sie uns dieses eine Jahr doch erst
einmal abwarten. Die Vorabergebnisse zeigen ganz deutlich: Das Löschen funktioniert im Inland. Fast alle Seiten mit kinderpornografischen Darstellungen, die auf
Servern im Inland platziert werden, können durch einen
Auftrag zum Löschen eliminiert werden. Anders verhält
sich das leider bei Servern, die im Ausland stehen, und
zwar unabhängig davon, ob in der westlichen Welt, in
den USA, Kanada oder den Niederlanden, oder in Russland.
({4})
Die Vorabergebnisse der Untersuchung der ersten Monate zeigen ganz klar, dass nach einer Woche noch
44 Prozent der Seiten aufrufbar sind.
({5})
Von über 1 500 Seiten, die von den Ermittlungsbehörden
ausfindig gemacht wurden, waren nach einer Woche leider Gottes immer noch über 600 Seiten im Netz einsehbar.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
ich bitte Sie, einmal mit dem Präsidenten des BKA, mit
Herrn Ziercke, zu sprechen, der bekanntermaßen weder
ein Mitglied der FDP noch ein Mitglied der CDU oder
der CSU ist. Er bittet händeringend darum, dieses Zugangserschwerungsgesetz mit allen Komponenten, also
sowohl dem Löschen als auch dem Sperren, anzuwenden. Das sagt ein Fachmann. Ich finde, darauf sollte man
hören. Ich bitte Sie, auch zur Kenntnis zu nehmen, dass
nach Schätzungen von UNICEF jeden Tag ungefähr
200 neue Bilder mit diesen widerwärtigen Inhalten in
das Netz gestellt werden.
({7})
Ich habe schon eingestanden, dass wir mit dem Sperren allein nicht zum Erfolg kommen werden. Die bisherigen Erfahrungen zeigen aber, dass wir auch mit dem
Löschen allein nicht zu einem befriedigenden Ergebnis
kommen werden. Deswegen muss doch die Conclusio
sein, auf beide Mittel zurückzugreifen. Dabei muss man
natürlich nach einem Subsidiaritätsprinzip vorgehen. Ich
sage ganz offen: Mir ist es lieber, wenn diese Inhalte
komplett aus dem Netz gelöscht werden. Wenn das Löschen allein aber nicht zu einem annähernd hundertprozentigen Erfolg führt - das ist erwiesen; das ist evident;
die Zahlen liegen teilweise schon vor -, dann muss man
doch redundant auf das Mittel des Sperrens zurückgreifen können. Daran wollen wir festhalten.
({8})
Wir sind der Auffassung, dass man diesen widerwärtigen kinderpornografischen Inhalten im Netz durch Einsatz aller effektiven und technisch verfügbaren Möglichkeiten begegnen muss. Daneben müssen natürlich auch
die Kooperationen mit bzw. die Beziehungen zu ausländischen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden intensiviert werden. Wir unterstützen das Bundeskriminalamt
ganz ausdrücklich bei seinen dahin gehenden Bemühungen. Es wird schon sehr eng mit den ausländischen Sicherheitsbehörden kooperiert.
Natürlich müssen wir auch ein Auge darauf werfen,
dass die Sicherheits- und Ermittlungsbehörden sowohl in
personeller als auch in technischer Hinsicht ausreichend
gut ausgestattet sind. An dieser Stelle dürfen wir uns
aber keinem Trugschluss hingeben. Momentan sind acht
oder zehn Mitarbeiter beim BKA mit diesem Thema betraut. Diese Arbeit ist für die einzelnen Mitarbeiter mit
Sicherheit auch psychisch anstrengend. Aber auch, wenn
man die Zahl der Mitarbeiter dieser Abteilung verdoppeln oder verdreifachen würde, würde man die Inhalte
im Netz allein dadurch nicht tilgen, insbesondere nicht,
wenn sie auf ausländischen Servern liegen.
Ich glaube, wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz. Wir sind noch Suchende. Ich hoffe, dass wir alle
von dem Geist getragen sind, alles Mögliche unternehmen zu wollen, um diesem schrecklichen Verbrechen zu
Stephan Mayer ({9})
begegnen, und dass wir weiterhin darüber debattieren
werden. Der Antrag der SPD-Fraktion ist daher aus meiner Sicht zu diesem Zeitpunkt falsch. Ich finde das Vorhaben, dieses Gesetz abzuschaffen, auch nicht unterstützenswert.
({10})
Wir werden das eine Jahr abwarten. Dann wird evaluiert,
und dann werden wir nach vorne schauen.
Ich finde, man sollte sich in der Debatte ohne Schaum
vor dem Mund begegnen. Was mich, ehrlich gesagt, etwas befremdet, ist - das sage ich zum Abschluss -, dass,
obwohl wir alle dasselbe Ziel haben, nämlich diese
schrecklichen Inhalte aus dem Netz zu tilgen, teilweise
unheimlich ideologisch aufeinander losgegangen wird.
Die einen sind für Sperren, die anderen für das Löschen.
({11})
Man ist in unterschiedlichen ideologischen Lagern. Wir
sollten uns auf den Sinn konzentrieren und alles tun, damit diese schrecklichen und widerwärtigen Fotos von einer Straftat aus dem Internet gelöscht werden.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Regierungsfraktionen haben in ihrem
Koalitionsvertrag vereinbart, das Zugangserschwerungsgesetz zunächst für ein Jahr nicht anzuwenden. Das Bundeskriminalamt wurde durch einen Erlass zur faktischen
Nichtanwendung des Gesetzes angewiesen. Die Fraktion
der SPD hat im Februar 2010, also vor beinahe einem
Jahr, den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen in den Deutschen Bundestag eingebracht. In diesem Gesetzentwurf haben wir gefordert,
dieses Gesetz zurückzunehmen.
Es ist bereits erwähnt worden - ich will das in aller
Klarheit sagen -: Indem die SPD-Fraktion diesen Gesetzentwurf eingebracht hat, hat sie eingeräumt, dass es
ein Fehler war, dem Zugangserschwerungsgesetz in der
Großen Koalition zuzustimmen.
({0})
Wir haben zugehört, wir haben diskutiert, wir haben gelernt, und am Ende haben wir eine klare Linie gezogen.
Sie können mir glauben: Das war für die SPD nicht immer einfach. Aber ich sage in aller Klarheit: Politik muss
den Mut haben, Fehler ohne Wenn und Aber einzugestehen.
({1})
Herr Heveling, Ihnen will ich sagen: Ihre Rede fing
bemerkenswert an. Es hätte eine große Rede werden
können, wenn auch Sie diesen Fehler eingestanden hätten, wenn Sie gesagt hätten, dass auch CDU und CSU
hier einen Fehler gemacht haben.
Bereits in der Begründung unseres Gesetzentwurfes
haben wir Sozialdemokraten darauf hingewiesen, dass
im Hinblick auf den Erlass des Ministeriums ein verfassungswidriger Zustand besteht. Damals hat dies offensichtlich kaum jemanden interessiert. Aber wenn nun sogar Bundestagspräsident Lammert die Regierung dazu
auffordert - ich zitiere -, „einen offensichtlich verfassungsrechtlich fragwürdigen Zustand schnellstmöglich
zu beenden“, dann zeigt das doch, wie dringend es ist,
dass wir heute über das Zugangserschwerungsgesetz und
den Erlass diskutieren.
({2})
Es ist durchaus denkbar, dass sich noch nicht in allen
Fraktionen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Internetsperren wenig effektiv, ungenau und technisch ohne
größeren Aufwand zu umgehen sind. Diese Einschätzung wurde allerdings im Rahmen einer öffentlichen
Anhörung im federführenden Rechtsausschuss und in einer Anhörung im Unterausschuss Neue Medien nachdrücklich bestätigt. Wer die mittlerweile gereiften Erkenntnisse also pragmatisch, unideologisch und objektiv
bewertet und sich mit ihnen auseinandersetzt, der kann
zu keinem anderen Schluss kommen, als dass Netzsperren keine wirkliche Hilfe im ernsthaften Kampf gegen
Kinderpornografie sind.
({3})
Wir als Sozialdemokraten plädieren für einen nachhaltigen Kampf gegen die Darstellung von Kindesmissbrauch im Internet. Wir sagen: Löschen und effiziente
Strafverfolgung müssen unsere Leitlinien sein. Wir brauchen keine Symbolpolitik durch Netzsperren. Wir müssen die Inhalte an der Quelle abschalten. Gleichzeitig
müssen wir dafür sorgen, dass Beweise für die Strafverfolgung sichergestellt werden.
Erst in diesen Tagen hat der Verband der deutschen
Internetwirtschaft, eco, die neuesten Zahlen bezüglich
der Löschung von Internetseiten vorgelegt. Diese Zahlen
belegen eindrucksvoll, dass „Löschen statt Sperren“ erfolgreich ist. Über 99 Prozent der bei deutschen Providern gemeldeten Seiten wurden innerhalb einer Woche
gelöscht.
({4})
Die Masse davon wurde in der Regel innerhalb einiger
Stunden bzw. spätestens innerhalb eines Werktages gelöscht. Auch bei der Bekämpfung von Inhalten im Ausland wurde im Vergleich zu 2009 ein deutlicher Erfolg
erzielt. Der Ausbau der Kooperation zwischen Beschwerdestellen, Internetserviceprovidern und Strafverfolgungsbehörden hat zu einer deutlich verbesserten ReLars Klingbeil
aktionszeit geführt. Innerhalb einer Woche waren über
84 Prozent der gemeldeten Seiten abgeschaltet, nach
zwei Wochen waren es über 91 Prozent.
Gerade in den USA und in Russland, also in den Ländern, in denen die meisten kinderpornografischen Inhalte entdeckt wurden, entwickelt sich die Löschgeschwindigkeit überaus erfreulich. In den USA waren
87 Prozent der gemeldeten Inhalte binnen einer Woche
offline, in Russland sogar 98 Prozent. Die Provider machen auch deutlich, dass sie das Prinzip „Löschen statt
Sperren“ durch internationale Kooperationen, beispielsweise im Rahmen des Netzwerkes Inhope, ernsthaft verfolgen und auch weiter ausbauen wollen. Die Faktenlage
ist also eindeutig: Netzsperren sind für den Kampf gegen
Kinderpornografie nicht geeignet. Das Löschen funktioniert, wenn man es richtig macht.
Es bleibt zu fragen, was die Regierung eigentlich tut.
Es wird immer beschwichtigend gesagt: Wir evaluieren
und warten ein Jahr ab. - Auch der Kollege Mayer hat
gerade gesagt: Lassen Sie uns doch ein Jahr abwarten. Aber wenn ich dann die Äußerungen von Herrn
Lammert lese - auch Herr Kauder hat sich dahin gehend
geäußert -, der darauf verweist, dass dieser Zustand
möglicherweise verfassungswidrig sei, dann glaube ich,
dass es doch genau richtig ist, dass wir hier heute darüber diskutieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, es ist doch nicht so, dass bei Ihnen ein Erkenntnisdefizit besteht. Nach knapp einem Jahr muss man schon
sagen, dass es auch kein Handlungsdefizit mehr sein
kann; denn Sie wissen eigentlich, was zu tun ist. Ich befürchte, die FDP wird langsam ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen. Wer sich in der Opposition laut gegen Netzsperren ausspricht, dann aber in der Regierung
taktiert und abwartet, der muss sich schon fragen lassen:
Was ist eigentlich aus den guten Ansätzen geworden?
Herr Kollege Klingbeil, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich von den Linken?
Ja, gerne.
Herr Wunderlich, bitte.
Schönen Dank. - Herr Kollege Klingbeil, ich habe
eine Frage an Sie. Sie sagten, das Gesetz sei per Ministerialerlass ausgesetzt worden, die Koalition warte ab und
wolle evaluieren. Das heißt, das Gesetz wird - wenn ich
das richtig verstehe - nicht angewendet;
({0})
gleichwohl soll es evaluiert werden. Ihnen dürften die
verfassungsrechtlichen Bedenken, die seinerzeit vom
jetzigen Staatssekretär Stadler und auch von der jetzigen
Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger gegenüber
diesem Gesetz geäußert worden sind, bekannt sein,
ebenso wie dem Rest der FDP-Fraktion. Gehe ich recht
in dieser Annahme?
In dieser Annahme gehen Sie recht. Umso dringender
ist es, dass heute unser Antrag behandelt und nicht noch
weiter abgewartet wird. Wir befinden uns in einem Zustand, der schnellstens geklärt werden muss. Sie haben
darauf hingewiesen; es gibt bereits entsprechende Äußerungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss kommen. In einem Argumentationspapier,
das vier junge FDP-Abgeordnete - lassen Sie mich anmerken, dass ich diese vier jungen, dynamischen Kollegen alle sehr schätze - in dieser Legislaturperiode vorgestellt haben, heißt es:
Die FDP-Fraktion der 16. Wahlperiode hat im Juni
2009 geschlossen gegen das Zugangserschwerungsgesetz gestimmt. Dies hat uns in der Internet Community, bei Fachleuten und insbesondere auch bei
zahlreichen Jung- und Erstwählern viel Sympathie
und Respekt verschafft.
Liebe FDP, das waren noch Zeiten.
({0})
Was ist nur aus dieser klaren Linie geworden?
Ich wünsche viel Glück bei den Verhandlungen und
sage auch: Linke, Grüne und SPD laden ein, an dieser
Stelle Spur zu halten. Ich hoffe, die FDP wird nicht zum
netzpolitischen Geisterfahrer.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Christian Ahrendt von der FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Kollege Klingbeil, Spurhalten ist
immer gut, wenn es eine klare Spur gibt. Wenn es aber
einen solchen Zickzackkurs, einen solchen Wendekurs in
einer Geschwindigkeit gibt, wie ihn die SPD an den Tag
legt, dann ist das Spurhalten wirklich schwierig. Insofern
haben Sie sich vielleicht gerade bei diesem Gesetz ein
Stück weit den Begriff des Wendehalses verdient.
({0})
Was mich an dieser Debatte aber viel mehr stört, ist
ein ganz anderer Punkt. Hören Sie zu! Eigentlich sind
die Auffassungen bekannt. Die einen möchten weiterhin
sperren, die anderen möchten das Sperrgesetz aufheben.
Man beklagt, dass die Regelung, die gefunden worden
ist, um das Gesetz derzeit nicht anzuwenden, nicht verfassungskonform sei. Man kann die Debatte auch weiter
führen; aber sie geht an einem ganz zentralen Punkt vorbei, über den wir uns wirklich Gedanken machen sollten.
Wenn Sie bei der Telekom nachfragen, wie viele Urheberrechtsverletzungen in einem bestimmten Zeitraum
im letzten Jahr verfolgt worden sind, bekommen Sie als
Antwort eine sehr spannende Zahl. Im Zeitraum von Januar bis September letzten Jahres sind 2,6 Millionen IPAdressen bei der Telekom abgefragt worden, um Urheberrechtsverletzungen zu verfolgen. Im selben Zeitraum
- das ist das Ergebnis einer Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke - sind 1 407 Internetseiten, die dem Bundeskriminalamt bekannt geworden sind, durch die entsprechenden Stellen gelöscht worden. Das ist doch ein
spannendes Verhältnis: Fast 2,7 Millionen Urheberrechtsverletzungen, aber nur 1 407 Internetseiten kinderpornografischen Inhalts, die vom Netz genommen
worden sind.
Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit ist: Das Problem ist nicht so groß, wie wir glauben.
Dafür steht ein Argument, das wir immer anführen, nämlich dass die kinderpornografischen Inhalte in Netzwerken außerhalb des World Wide Web ausgetauscht werden und dass das, was wir mit den Sperren zu greifen
versuchen, ganz woanders stattfindet, dass sich die Kriminalität an einer ganz anderen Stelle aufgebaut hat.
({1})
Die zweite Möglichkeit ist, dass wir das ganz andere
Problem haben, gar nicht alle Fälle aufklären zu können,
wenn es im World Wide Web wesentlich mehr Internetseiten mit kinderpornografischem Inhalt gibt. Auch dann
haben wir nicht das Problem, zu entscheiden, ob wir die
Seiten sperren oder löschen, sondern dann haben wir das
Problem, dass wir gar nicht genug Beamtinnen und Beamte haben, um das durchführen zu können. Um das
Problem zu lösen, müssen die Seiten nämlich aufgespürt,
identifiziert und gelöscht werden.
Nachdem Sie hier einen Gesetzentwurf eingebracht
haben, wollen Sie ihn nun durch einen Initiativantrag in
irgendeiner Form befördern. Liebe Kollegen von der
SPD, wenn Sie sich mit dem Thema wirklich auseinandersetzen wollen und es diese zahlenmäßige Differenz
gibt, wäre es wichtig gewesen, einmal vorzuschlagen,
wie das Problem eigentlich gelöst werden soll. Darum
geht es. Kinderpornografie im Internet bekämpft man
nicht, indem wir uns hier über das Löschen oder das
Sperren unterhalten, sondern indem wir die Vollzugsdefizite beseitigen, um diese grausamen Seiten aus dem
Netz zu nehmen.
({2})
Das ist der eigentliche Punkt, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.
Wir befinden uns in der entsprechenden Diskussion
mit unserem Koalitionspartner. Deswegen werden die
Ergebnisse, zu denen wir in diesen Beratungen kommen,
wesentlich erfolgversprechender sein als das, was Sie
von der Opposition hier vortragen.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 17/4427 zur federführenden Beratung an
den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Innenausschuss, an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend sowie an den Ausschuss für Kultur und Medien zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 6 auf:
Vereinbarte Debatte
Weißrussland - Repressionen beenden, Menschenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache wiederum eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Gibt es Widerspruch dazu? Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Michael Link von der FDPFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Alle
Fraktionen des Bundestages haben sich gemeinsam zu
dieser vereinbarten Debatte zusammengefunden - ich
danke insbesondere Marieluise Beck für die ursprünglich von ihr ausgegangene Initiative -, um geschlossen
ihr Entsetzen über die brutale Gewalt des belarussischen
Regimes gegen seine eigene Bevölkerung auszudrücken.
Wir sind schockiert über das Verhalten Lukaschenkos.
Noch Anfang November hatte er dem besuchenden Bundesaußenminister Westerwelle und seinem polnischen
Kollegen Radek Sikorski vollmundig versprochen:
Diese Wahlen werden frei; Sie können selber nachzählen. Er hat sein Versprechen auf zynische Art und Weise
gebrochen. Dieses Versprechen war nichts wert. Die Bilder der exzessiven Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten verursachten einen Schock, der nachwirkt.
Es kam zu blanker Unterdrückung, purer Willkür und einem Wüten der Sicherheitsdienste auf einem auf europäischem Boden lange nicht mehr gesehenen Niveau.
Es fällt schwer, zu glauben, dass so etwas gerade einmal eineinhalb Flugstunden von Berlin entfernt stattfinMichael Link ({0})
det, in fast gleicher Entfernung wie Paris. Die gemessene
Entfernung nach Belarus, nach Minsk mag klein sein;
die gefühlte Entfernung entspricht zurzeit dem Durchmesser eines Kontinents. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass es nicht zu einer Eiszeit kommt, die
letzten Endes noch stärker auf dem Rücken der belarussischen Bürger, der Zivilgesellschaft, ausgetragen wird.
Die OSZE hat in einer Klarheit, wie es in der Geschichte der OSZE selten der Fall war, erklärt, dass die
Wahlen weder frei noch fair waren, sondern dass elementare Grundsätze transparenter und demokratischer
Wahlen verletzt worden sind. Zehntausende Bürger demonstrierten am Wahlabend und in den Tagen danach
für ein Ende des Autoritarismus und eine Annäherung an
demokratische Strukturen. Sie wurden brutal niedergeknüppelt. Es gab Hunderte Festnahmen, Razzien, KGBGewalt, Verrat, Unterdrückung jeglicher Kritik im Keim,
systematische Verfolgung, einen kalten Wind der Unterdrückung, Geruch eines Regimes aus spätstalinistischer
Zeit.
Sieben der neun Präsidentschaftskandidaten der Opposition wurden verhaftet, einige wie Andrej Sannikow
zum Teil schwer verletzt und bewusstlos geschlagen. Einige befinden sich immer noch im Krankenhaus bzw. in
Kontakt mit den Anwälten. Wir sollten alles tun, um ihnen Rechtshilfe zu leisten, soweit es unter diesen Umständen möglich ist.
({1})
Wenn ich von den Präsidentschaftskandidaten rede,
dann will ich die mutigen Journalisten und Vertreter der
Zivilgesellschaft ausdrücklich hinzufügen. Allen voran
möchte ich stellvertretend Irina Chalip nennen. Ich
glaube, wir als Deutscher Bundestag müssen all jenen,
die dort mutig auf die Straße gegangen sind, unseren
Respekt und unsere Solidarität ausdrücken und daran arbeiten, ihnen konkret zu helfen.
({2})
Kolleginnen und Kollegen, letztes Jahr erweckte die
Entwicklung in Belarus den Eindruck, es gäbe eine Art
Tauwetter. Ich glaube, wir alle sind uns darin einig. Viele
traditionelle Besucher des Minsk-Forums sind anwesend. Ich selber konnte leider im letzten November nicht
teilnehmen. Ich habe das nach dem, was geschehen ist,
umso mehr bedauert, weil man den Eindruck hat, dass es
sicherlich wichtig gewesen wäre, mit jeder menschlichen Begegnung die dortigen Vertreter und Freunde zu
unterstützen. Wir alle haben gehofft, dass es eine Art
Tauwetter gibt.
Es gab immerhin real die Möglichkeit, im belarussischen Fernsehen Wahlspots zu senden. Es gab auch eine
Live-Debatte. Das alles waren immerhin kleine Fortschritte. Doch alles in allem war es eine Fehleinschätzung. Lukaschenko hat niemals auch nur im Traum daran gedacht, die Macht aus den Händen zu geben.
Dennoch war es, glaube ich, den Versuch wert, den Weg
zu gehen, alles auszutesten, was ging.
Bei diesen tastenden Versuchen hat es sich allerdings
erneut als Fehler herausgestellt, naiv heranzugehen. Ich
glaube, einige von uns - ich schließe mich davon nicht
aus - haben auch immer wieder einmal gedacht, dass wir
schon mehr erreicht haben, als es tatsächlich der Fall
war. Lukaschenko wollte testen, was er von Europa bekommt. Als er aber immer wieder - erfreulich klare Signale bekommen hat wie beim Westerwelle/SikorskiBesuch und beim Besuch vieler anderer Außenminister
und die vielen Signale aus den Parteien, die hier vertreten sind, und aus den vielen Gesprächen, die er mit Vertretern aus Brüssel in Belarus geführt hat, dass er ohne
echte Fortschritte bei Menschenrechten nicht so einfach
durchkommt, hat er sich doch wieder dort Hilfe geholt,
wo er in der Vergangenheit leider schon sehr oft Unterstützung bekommen hat, um sein Regime weiter zu verlängern, in Russland.
Dieser Versuch, sich tatsächlich zu öffnen und nicht
mehr so stark auf russische Hilfe angewiesen zu sein, ist
misslungen. Er hat leider von russischer Seite wieder
sehr viel mehr Hilfe bekommen, als wir es vermutet hatten.
Trotzdem sollten wir uns gemeinsam mit allen, auch
in Moskau, die bereit sind, daran zu arbeiten, darum bemühen, neue Wege zur Öffnung in Belarus zu finden.
Denn ich glaube, es ist klar, dass er mit seinem Regime
mittlerweile für alle Nachbarn ein Problem darstellt. Wir
können deshalb keine einseitigen Schuldzuweisungen
machen.
({3})
Was können wir tun? Wir haben nicht sehr viele Hebel, aber einige sind sehr effizient. Wir müssen aber bei
allen Methoden und Entscheidungen prüfen, ob sie nicht
die Falschen treffen würden.
Zunächst die politischen Hebel. Wir haben die OSZE.
Kollegin Zapf wird nach mir reden. Liebe Frau Zapf, Sie
haben sich wie kaum jemand sonst in diesem Hause
- Marieluise Beck habe ich schon genannt; Roland
Pofalla hat sich mit seinen Einsätzen im Bereich Minsk
sehr verdient gemacht - mit dem Bereich Belarus beschäftigt. Sie leiten die Arbeitsgruppe Belarus in der
OSZE-PV. Damit haben wir einen Hebel. Lassen Sie uns
darüber nachdenken, ob wir nicht auf der anstehenden
OSZE-PV eine Generaldebatte zum Thema Belarus führen und ob wir als Deutscher Bundestag einen Antrag
zum Thema Belarus einbringen sollten. Das wäre eine
schöne Gelegenheit, die in Kürze bevorsteht, nämlich
am 24./25. Februar. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten.
({4})
Wir sollten auch über Wege nachdenken, wie wir den
Dialog mit der Zivilgesellschaft möglichst weitgehend
an den offiziellen Stellen vorbei führen können, um die
Richtigen zu ermutigen. Wir sollten so oft wie möglich
auch selbst hinfahren und unsere Hilfe nicht denjenigen
Michael Link ({5})
in der Regierung zukommen lassen, die sie den wirklich
Bedürftigen und Betroffenen vorenthalten.
Bei den konkreten Maßnahmen über das Politische
hinaus sollten wir darüber nachdenken, inwiefern wir im
Bereich des Internationalen Währungsfonds tätig werden. Nach dem, was geschehen ist, geht es nicht an, dass
Lukaschenko weiter IWF-Kredite erhält, als ob nichts
geschehen sei. Darüber müssen wir verstärkt nachdenken. Dieser Hebel würde an der richtigen Stelle ansetzen, um Verhaltensänderungen zu bewirken. Aber er erfordert die Entschlossenheit sehr vieler Mitspieler.
Daran müssen wir klug, aber sehr entschlossen arbeiten.
Wir müssen uns bei allen anderen Maßnahmen, die
anstehen, aber auch an die eigene Nase packen, zum Beispiel bei der Östlichen Partnerschaft. Wir müssen klare
Worte finden. Wenn Ungarn tatsächlich wie geplant den
Gipfel zur Östlichen Partnerschaft in Budapest abhält,
dann müssen wir mit Belarus, wenn nötig vor oder hinter
den Türen, in einer klaren Sprache sprechen. Das müssen wir aber auch - das sage ich uns allen - bei anderen
schwierigen Partnern der Östlichen Partnerschaft wie der
Ukraine tun, wo die Entwicklungen nicht erfreulich sind;
das sage ich ausdrücklich für meine Partei. Die uns nahestehende Stiftung ist - das geht vielen hier im Hause
so - über die Situation in der Ukraine extrem besorgt.
Das müssen wir rechtzeitig ansprechen. Das Gleiche gilt
für die drei Länder des Südkaukasus, und das gilt auch
für Fälle wie Usbekistan. Präsident Karimow ist auf Einladung von Herrn Barroso gerade in Brüssel. Auch dort
müssen wir deutliche Worte sprechen. Wir dürfen weder
naiv noch mit Schaum vor dem Mund an die Dinge herangehen, sondern wir müssen die Dinge mit Augenmaß
und dennoch sehr deutlich ansprechen.
Letzte Bemerkung. Der nächste konkrete Schritt für
uns sollte sein, im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Antrag, den wir, CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne,
erarbeiten wollen, über dieses Thema zu sprechen.
Lukaschenko mag es vielleicht gelungen sein, sein Volk
für den Moment einzuschließen. Aber wir dürfen und
werden nicht wegsehen. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass Belarus den Weg zurück in die europäische Wertegemeinschaft findet, in der es von 1990 bis
1994 schon einmal war, bevor Lukaschenko an die
Macht kam und das Land de facto aus dem Europarat
ausgeschlossen werden musste. Das sind wir insbesondere den tapferen Demonstranten in Minsk schuldig.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
Dienstag, den 18. Januar, erschien in der FAZ ein Artikel
mit der Überschrift „Nichts hat funktioniert“. Der Untertitel war: „Europa und der Umgang mit Weißrussland eine Geschichte der Ratlosigkeit“. Seit dem 19./20. Dezember ist es auch eine Geschichte der Fassungslosigkeit, der Trauer, der Wut und des tiefen Erschreckens
über die Brutalität, mit der Lukaschenko nach der gefälschten Wahl protestierende Bürger niederknüppeln
ließ und seine Gegenkandidaten und ihre Kampagnenhelfer wegen Anstiftung zum Aufruhr anklagen lässt.
Seit diesem Tag hören und lesen wir täglich von Repression und Verfolgung, Durchsuchungen und Anklagen, Einschüchterungen, Racheakten an Oppositionellen, sogar vom Verschwinden von Familienangehörigen.
Studenten werden von den Universitäten verwiesen.
Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz und sind Bedrohungen ausgesetzt, und das jeden Tag. Wenn Sie auf die
Internetseite von Belapan gehen, dann lesen Sie von vielen solchen Fällen. Das geschieht systematisch und
reicht bis in die tiefste Provinz. Dies ist in der Tat ein
„Schlag ins Gesicht der Annäherungspolitik“, wie es jemand aus dem Auswärtigen Amt genannt hat.
Die OSZE und die EU müssen natürlich reagieren.
Kollege Link, das, was Sie im Hinblick auf die OSZE
vorgeschlagen haben, würde ich gerne machen. Aber es
gibt rigide Regeln, die festlegen, was auf der Wintertagung zu passieren hat. Dort gibt es überhaupt keine Resolutionen oder Ähnliches. Kollege Wellmann, wir werden das natürlich in der Generaldebatte und in den
Komitees an erster Stelle erwähnen. Da geht es darum,
was wir auf der Jahressitzung im Sommer machen. Dann
wäre es möglich, eine Resolution einzubringen. Kollege
Wellmann, wir müssen uns auch darüber verständigen,
wie wir mit der Arbeit der Working Group on Belarus im
Rahmen des OSZE umgehen sollen. Business as usual
geht nicht.
Mich hat - das empfinde ich als eine regelrechte Unverschämtheit - am 21. Dezember der neue Vorsitzende
der belarussischen OSZE-Delegation angeschrieben:
Wir wollen doch zusammenarbeiten. Wir wollen das Seminar, das Sie vorgeschlagen haben und das bisher immer verschoben wurde, jetzt machen. - Das geschah am
21. Dezember 2010, nachdem die Knüppelei am 19. und
20. Dezember 2010 losgegangen war. Das ist etwas, was
mir sehr nahegeht.
({0})
- Das ist wahr. Und Pralinen. - Noch am 3. Dezember
2010 - Herr Link, Sie erwähnten den Besuch des Außenministers - hat Lukaschenko mit seinem eigenen Füllfederhalter seine Unterschrift unter das Astana-Dokument
gesetzt und somit die OSZE-Prinzipien Demokratie,
Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und
Versammlungsfreiheit sowie freie und faire Wahlen unterschrieben. Aber diese Werte sind durch die Polizei in
den Dreck geknüppelt worden.
Es ist richtig, dass wir deshalb ratlos sein dürfen. Wir
wissen aber auch, dass das, was wir gemacht haben,
nicht funktioniert hat. Gerade Deutschland hat viel gemacht. Ich erinnere an die Extraprogramme, die wir
noch bis letztes Jahr mit finanziellen Mitteln von bis zu
5 Millionen Euro versehen haben, um unterschiedlichste
Gruppen in Belarus zu unterstützen. Dies geschah auch
in dem Bewusstsein, dass wir mit einem solchen
menschlichen Verhalten für Demokratie, für Freiheit und
für Menschenrechte werben. Ich habe aber schon öfter
gesagt: Die Sticks and Carrots haben nichts geholfen.
Wir haben keine Sticks mehr, und die Karotten wollen
sie nicht nehmen. Deshalb sind wir ratlos.
Dennoch müssen wir den Dialog aufrechterhalten; ich
unterstreiche das, was Sie gesagt haben, Herr Kollege
Link. Natürlich müssen wir alles unternehmen, damit
wir den Kolleginnen und Kollegen in Belarus, die in der
Opposition zurzeit unterdrückt werden wie noch nie,
Unterstützung geben. Die Hoffnung auf Verbesserungen
sind zerstoben. Ich denke trotzdem, dass der Schock
nicht dazu führen wird, dass wir in Schockstarre verharren. Es wird zu einem gemeinsamen Antrag kommen.
Wir werden genau überlegen, welche Forderungen
wir aufstellen sollen und müssen. Dazu gehört als Erstes
die Freilassung der Gefangenen, das Fallenlassen der
Anschuldigungen, der Rechtsbeistand, der Zugang zu
den Verhafteten und die medizinische Versorgung der
Hungerstreikenden und der Verletzten. Ich denke, das
versteht sich von selbst. Zwei der Kandidaten sind verletzt worden: Nekljajew und Sannikow. Lebedko hat seinen Hungerstreik abgebrochen, Statkevich meines Erachtens noch nicht. Auch an dieser Stelle ist unsere volle
Solidarität ganz wichtig.
Wir wollen das Reiseverbot aufleben lassen und auf
diejenigen, die an der Knüppelei teilgenommen haben,
ausweiten. Wir wehren uns auch nicht dagegen, die Auslandskonten zu sperren. Wir wollen die Schuldigen sanktionieren, aber nicht das Volk. Deshalb fordern wir auf
der anderen Seite Visa-Erleichterungen für all diejenigen, die an diesen Maßnahmen nicht beteiligt waren.
Wir wollen die Studenten unterstützen, die unsere Unterstützung brauchen. Wir müssen für diese Studenten auf
alle Fälle mehr Stipendien als bisher bereitstellen. Wir
wollen neue Wege finden, die Zivilgesellschaft zu schützen.
Ich möchte auf einige Möglichkeiten hinweisen. Wir
wollen Menschenrechtler, Journalisten und Rechtsanwälte unterstützen, die die schwierige Arbeit in den Organisationen, die ich aus ganzem Herzen bewundere,
leisten. Sie leisten eine hervorragende Arbeit. Außerdem
müssen wir die vorhandenen Finanzinstrumente nutzen.
Es gibt ein Finanzinstrument, das zur Unterstützung solcher Gruppen angewandt werden kann, ohne dass wir
deshalb mit der Administration und der Regierung einen
Vertrag abschließen müssen. Das ist das European Instrument for Democracy and Human Rights, also für Demokratie und Menschenrechte. Das müssen wir nutzen,
aber bitte nicht so bürokratisch, wie sonst die Finanzinstrumente gehandhabt werden. Wenn die Leute zwei
Jahre lang auf Geld warten müssen, dann ist das Ganze
natürlich sinnlos.
Wir müssen auch versuchen, die Familien zu unterstützen, die jetzt ihrer Existenzgrundlage beraubt sind,
weil die Oppositionellen im Gefängnis sitzen. Diese
werden möglicherweise 15 Jahre lang weggesperrt, oder
es kommt möglicherweise sogar noch schlimmer, wenn
es um eine Anklage wegen Hochverrats geht. Deshalb
müssen wir schauen, wie wir dort agieren können.
Das Europäische Parlament - das habe ich auch in
dem Entwurf gesehen, in dem alle schon ein bisschen
etwas hineingeschrieben haben - fordert eine unabhängige internationale Untersuchungskommission unter
Leitung der OSZE. Ich denke, gerade die OSZE bietet
durch den Moskauer Mechanismus die Möglichkeit, eine
solche Untersuchungskommission zu installieren, die für
solche Fälle gedacht ist. Herr Staatsminister Hoyer, deshalb fordern wir, dass die Bundesregierung innerhalb der
OSZE darauf hinwirkt, dass dieser Moskauer Mechanismus in Kraft gesetzt werden kann. Ich hoffe, dass das
auch klappt.
Herr Link, Sie haben gesagt: Wir wollen mit Russland
zusammen etwas erreichen. - Ehrlich gesagt habe ich
daran so meine Zweifel. Inwieweit ist denn auch Russland daran beteiligt, dass Wahlbetrug honoriert worden
ist? Wieso sagt Russland und wieso sagen einige Abgeordnete wie Sjuganow, der sich auch dort aufgehalten
hat, das sei eine innere Angelegenheit? Diese Argumentation unter diesen Brüdern kennen wir doch. Deshalb
bin ich nicht sicher, dass Russland, das von dem profitiert, was an Annäherung von Belarus in die Arme Russlands geschehen ist, sich jetzt auf die Menschenrechtsseite schlagen wird. Es gibt zwar in Russland
Menschenrechtler, die sich auch gemeldet haben. Ich
glaube aber nicht, dass Medwedew, Putin oder andere
dies tun.
Lassen Sie mich als Letztes noch einmal diese etwas
groteske Geschichte aufgreifen, dass Polen und Deutschland diejenigen sind, die offensichtlich die Kalaschnikows
wieder unter dem Bett hervorgeholt haben und die diese
Umstürze versucht haben zu provozieren. Das ist bereits
dreimal wiederholt worden. Allmählich wird es schon
ein bisschen merkwürdig. Wenn man etwas drei Mal
wiederholt, dann meint man es offensichtlich ernst. Ich
denke, dagegen müssen wir angehen.
Sjuganow hat gesagt, Lukaschenko habe richtig gehandelt, weil er sich rechtzeitig gegen die Tendenzen der
Aufständischen gewehrt habe. Sonst wäre nämlich dasselbe passiert wie in Jugoslawien, wie in Georgien oder
wie in Moldova, dass dann nämlich der Sturz der Regierung geklappt hätte.
Ich denke, genau das ist die Paranoia, die dort
herrscht. Deshalb wird es umso notwendiger sein, dass
wir eine sehr gradlinige Stellungnahme entwickeln und
trotzdem die Hand an der richtigen Stelle ausstrecken
und mehr tun, liebe Freunde, als wir bisher getan haben,
was Stipendien und was Visa betrifft. Darum bitte ich
sehr.
({1})
Das Wort hat der Kollege Karl-Georg Wellmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
in Minsk im Dezember eklatante Menschenrechtsverletzungen gesehen. Das, was wir an polizeilicher Gewalt
und Brutalität gesehen haben, hat alles, was wir bisher
dort wahrgenommen haben, in den Schatten gestellt.
Wir verlangen - ich glaube, in der großen Mehrheit
dieses Hauses - gemeinsam mit der zivilisierten Staatengemeinschaft erstens die sofortige Freilassung der politischen Gefangenen und zweitens deren Zugang zu medizinischer Versorgung und zu anwaltlicher Betreuung.
Der OSZE-Gipfel in Astana ist keine zwei Monate her.
Lukaschenko hat persönlich teilgenommen. Ich darf Ihnen einmal vorlesen, was in der Resolution steht, die er
unterschrieben hat:
Wir unterstreichen, dass nur ein echter politischer
Dialog in Belarus den Weg zu freien und demokratischen Wahlen ebnen kann, die ihrerseits die
Grundlage für die Entwicklung einer echten Demokratie sind.
Das hat er unterschrieben. Einen Dreck schert er sich darum und lässt die Demonstranten niederknüppeln.
Wegen dieser Verhaltensweise, weil er 14 Tage vor
den Wahlen diese OSZE-Resolution unterschrieben hat,
hat er im Augenblick jegliches Vertrauen zerstört. Keiner will mit ihm im Moment reden. Das System in Weißrussland ist unvereinbar mit den Anforderungen der
modernen Welt. Ohne Flexibilität, ohne freien Informationsfluss, ohne Beteiligung der Bürger an den Entscheidungen fehlen diesem Land und diesem System die entscheidenden Voraussetzungen für eine Entwicklung.
Viele von uns, auch die Bundesregierung, auch die
Europäische Union haben in den letzten Jahren den Versuch unternommen, Weißrussland in die europäische
Normalität zu begleiten. Auch viele, die hier sitzen, haben sich daran beteiligt. Es bleibt richtig, dass noch im
November der Chef des Kanzleramts, Roland Pofalla,
und der Außenminister, Guido Westerwelle, dort waren
und mit ihm geredet haben. Sie sind von Lukaschenko
desavouiert worden. Aber es ist richtig, dass dieser Versuch unternommen wurde. Es wird auch künftig - da hat
Herr Link recht - Gesprächskanäle geben müssen.
Die EU-Außenminister werden in drei Tagen Sanktionen gegen Weißrussland beschließen. Das ist richtig und
wird, glaube ich, von einer breiten Mehrheit in diesem
Hause unterstützt. Aber mit diesen Sanktionen dürfen
wir nicht - das will ich ganz deutlich sagen - die Bevölkerung und vor allem nicht die junge Generation bestrafen. Wir dürfen sie nicht aussperren. In Diskussionen in
Minsk wurde uns immer wieder mitgeteilt: Wenn wir denen sagen: „Ihr seid hier eingesperrt“, dann entgegnet
man: Nein, ihr sperrt uns aus.
({0})
Vergessen wir bitte nicht, dass die demokratischen
Parteien in diesem Haus von alters her für Freizügigkeit
eingetreten sind, nicht nur für die Menschen in der DDR,
vor dem Mauerfall auch für die Menschen in Polen, in
den baltischen Ländern, in Russland, in Weißrussland, in
der ganzen früheren Sowjetunion. Dies dürfen wir nicht
vergessen. Die Europäische Union gehört zum freien
Teil Europas. Sie ist die Hoffnung für viele, die außerhalb leben; wir merken das immer wieder, wenn wir außerhalb der Europäischen Union reisen. Wir müssen uns
öffnen für die Verzweifelten in Weißrussland, für die, die
jetzt ihren Studienplatz verloren haben und die verfolgt
werden, eingesperrt werden oder zum Militär eingezogen werden, weil sie ihre politische Meinung gesagt
haben.
({1})
Wir sollten alle darauf dringen, das Visaregime zu erleichtern. Wir sollten leichten Zugang, zu uns zu kommen, insbesondere für die junge Generation schaffen, für
Studenten, für Schüler, für Wissenschaftler.
({2})
Außerdem sollten wir dafür sorgen, dass wir hinreichend
Studienplätze und auch Stipendien schaffen, damit diese
Leute hier ein Auskommen haben.
({3})
Man bedenke neben dem humanitären Aspekt auch,
dass es sich in aller Regel in Weißrussland um hervorragend qualifizierte Personen handelt, gerade in den technisch-naturwissenschaftlichen Bereichen. In der Welt
von heute habe ich folgende Überschrift entdeckt:
„Brüderle: Fachkräfte verzweifelt gesucht“. Das ist für
diejenigen, die wir noch überzeugen müssen, ebenfalls
ein Aspekt: dass gute Leute kommen.
({4})
- Herr Altsenator Wieland, es gibt immer noch einige
bei uns - ich weiß das -, die befürchten ({5})
- nun hören Sie doch erst einmal zu -, dass Europa von
Wellen von Schwerstkriminellen und Prostituierten
überschwemmt wird, wenn wir eine Visa-Erleichterung
vornehmen.
({6})
Ich darf hier einmal sagen: Diese Kriminellen kommen
sowieso zu uns; sie finden ohnehin Wege zu uns, wie
auch immer.
({7})
- Frau Müller, wir haben doch Konsens. Wir müssen uns
an dieser Stelle doch nicht streiten.
({8})
Ich spreche doch ganz in Ihrem Sinne. Keine Reflexe! Die Frage der Kriminalitätsbekämpfung - wie halten wir
Kriminelle draußen? - darf uns nicht davon abhalten,
diejenigen hereinzulassen, die wir hier haben wollen.
Lieber Herr Staatsminister Hoyer, fühlen Sie sich
doch bitte durch die Stimmung in diesem Plenum ermutigt. Helfen Sie dem Kabinett über die Hürde, was Visaerleichterungen angeht.
({9})
Lassen Sie uns die Tür etwas weiter aufmachen. Das ist
gut für uns und gut für die Menschen in Osteuropa.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Link, Frau Zapf, Herr Wellmann, wir sind uns in
den allermeisten Fragen einig. Herr Wellmann hat gerade über Konsens und Reflexe gesprochen. Weil wir
uns in den allermeisten Fragen einig sind, gehe ich davon aus, dass wir jetzt auch umgehend in die Gespräche
einbezogen werden. Wir würden uns gerne daran beteiligen. Sie werden doch bei einem so ernsten Thema hier
nicht mit den Albernheiten der Vergangenheit weitermachen wollen. Ich denke, es ist wichtig, dass es ein gemeinsames Signal des Hauses gibt. Wir möchten an diesem Signal gerne mitwirken.
({0})
Die Ereignisse nach den Präsidentschaftswahlen in
Belarus werfen ein bezeichnendes Licht auf Präsident
Lukaschenko. Es gibt ein Klima der Angst in Minsk und
im Land. Es gibt ein gewaltsames Vorgehen gegen Demonstranten. Unmittelbar nach der Wahl erfolgte die
Verhaftung mehrerer Präsidentschaftskandidaten. Es gab
eine Verhaftungswelle, die über 700 Menschen betraf.
Das ist nicht zu akzeptieren. Damit nicht genug: Studenten und Dozenten, die protestieren, fliegen von der Uni.
Das Büro der OSZE musste schließen, obwohl Belarus
Mitglied der OSZE ist.
Frau Zapf, ich kann Ihnen nur recht geben: Der Vorwurf von Lukaschenko, in Minsk seien polnische und
deutsche Spezialeinheiten an einer Umsturzvorbereitung
beteiligt, ist an Absurdität einfach nicht zu überbieten.
Unsere Partnerpartei in der Europäischen Linkspartei,
die United Party of the Left in Belarus, ist, was das Vorgehen gegen die Opposition angeht, Betroffene. Unser
Parteivorsitzender Lothar Bisky hat mit deren Vertretern
gerade vor einigen Tagen über das repressive Vorgehen
der Regierung gegen die Demonstranten gesprochen.
Diese Partei fordert selbstverständlich harte Sanktionen
und bezweifelt die Wahlergebnisse. Ich sage das auch
deshalb, weil entgegen anderslautenden Gerüchten unsere Partei, Die Linke, mit den Leuten, die dort regieren,
nichts zu tun hat und auch nichts zu tun haben will.
({1})
Für uns ist klar: Eine freie Meinungsäußerung muss
möglich sein, Wahlen müssen frei und fair sein, und das
Ergebnis ist - und zwar sowohl vom Westen, wenn der
Wahlsieger Lukaschenko hieße, als auch von den bisherigen Machthabern, wenn ein alternativer Kandidat gewinnen würde - zu akzeptieren.
Die Charta von Paris, die im Jahr 1990 - auch mit
Belarus - beschlossen wurde, hält fest:
… niemand darf: willkürlich festgenommen oder in
Haft gehalten werden, der Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden; jeder hat
auch das Recht: seine Rechte zu kennen und auszuüben, an freien und gerechten Wahlen teilzunehmen, auf ein gerechtes und öffentliches Verfahren,
wenn er einer strafbaren Handlung beschuldigt
wird …
Diese Prinzipien der OSZE wurden von Belarus unterschrieben und gerade erneut von Lukaschenko bekräftigt. Frau Zapf hat darauf hingewiesen. Wir dürfen natürlich nicht hinnehmen, dass diese Rechte mit Füßen
getreten werden.
({2})
Das Ganze ist besonders tragisch; denn - darauf
wurde hingewiesen - es gab ja klitzekleine Verbesserungen. Es gab winzige demokratische Standards. Und jetzt
sind wir so weit zurückgeworfen worden. Nun gibt es
natürlich die Frage, wie Deutschland reagieren soll. Das
kann selbstverständlich nur im Verbund mit der Europäischen Union geschehen. Hier ist eine gemeinsame, deutliche Sprache erforderlich. Auch sollte es keine doppelten Standards geben.
Meinen Vorrednern muss ich schon sagen - sie erwähnten kurz Astana; dabei muss ich verweilen -: Auch
in Astana wird regiert. Der Staatschef von Kasachstan,
Nursultan Nasarbajew, hat in den Häusern seines Parlaments nur Abgeordnete einer Partei, seiner eigenen Partei.
Die Wahlen, die dazu geführt haben, haben nicht den
Standards entsprochen, die die OSZE für Wahlen vorsieht.
Gibt es eine Einreisesperre gegen Herrn Nasarbajew? Im
Gegenteil: Kürzlich haben sich 56 Staats- und Regierungschefs in Astana bei ihm die Klinke in die Hand gegeben, um den ungefähr überflüssigsten OSZE-Gipfel
durchzuführen, den es je gegeben hat. Auf weitere Beispiele will ich nicht hinweisen, die kennen Sie ja alle selber.
Mir scheint es wichtig zu sein, dass wir in Belarus den
Dialog mit der Zivilgesellschaft weiter ermöglichen,
dass es eine zügige Visaliberalisierung gibt. Ja, ich bin
skeptisch bei Sanktionen. Da bin ich nicht der Einzige.
Diese Diskussion gibt es auch im Europäischen Parlament und hier im Hause. Ich teile die Sorge von Herrn
Wellmann, dass diese Sanktionen die Falschen treffen.
Aber ganz klar ist: Die Linke tritt für demokratische
und Freiheitsrechte ein. Wir fordern die sofortige Freilassung von politisch motiviert Inhaftierten. Das Büro
der OSZE in Minsk muss wieder eröffnet werden. Das
Land darf nicht isoliert werden; im Gegenteil: Der Dialog mit der Zivilgesellschaft muss verstärkt werden.
({3})
Lassen Sie mich mit der Charta von Paris schließen:
Wir bekräftigen,
jeder Einzelne hat ohne Unterschied das Recht auf:
Gedanken-, Gewissens- und Religions- oder Glaubensfreiheit, freie Meinungsäußerung, Vereinigung
und friedliche Versammlung …
Dem haben wir nichts hinzuzufügen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marieluise Beck von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
besteht Fassungslosigkeit über die ungehemmte Gewalt
und Brutalität in Minsk. Das scheint uns alle zu überraschen. Das fällt aber auf uns zurück, nämlich auf unser
kurzes Gedächtnis. Dieser dicke Bericht, den ich mitgebracht habe, ist eine Untersuchung mit dem Titel
„Willkür im Lukaschenko-Staat“. Es geht um vier Menschen - ich möchte auch die Namen noch einmal nennen, damit sie nicht vergessen werden: Juri Sacharenko,
Viktor Gontschar, Anatoli Krasowski und Dimitri
Sawatzki -, die in den Jahren 1999 und 2000 verschwunden sind, in Minsk, zu einer Zeit, als die OSZE vor Ort
war und mit vielen diplomatischen Gesprächen und Initiativen versuchte, das Regime zu begleiten und auch zu
verändern. Der Berichterstatter des Europarats, Christos
Pourgourides, hat in seinem Sonderbericht mit der Aussage geendet, dass er starke Anhaltspunkte dafür fand,
dass die Personen offenbar auf Weisung und mit Billigung von Verantwortlichen der Staatsführung in Belarus
verschwanden und möglicherweise getötet wurden.
Das ist nicht Chile, und das ist nicht Argentinien, sondern das ist Minsk 1999 und 2000. Das heißt, wir haben
genau gewusst oder wir konnten wissen, mit wem wir es
zu tun haben.
Nun kann man sagen: Gut, es ist legitim, dann, wenn
man mit einer Politik der Isolation nicht weiterkommt,
im Interesse der Menschen im Land eine andere Strategie zu versuchen. - Da sind zu nennen die erneuten Initiativen der OSZE und die Politik der östlichen Partnerschaft. Trotzdem haben wir uns 2006 geirrt, als wir
sagten: „Es gibt Fortschritte“, während Kasulin, einer
der beiden Präsidentschaftskandidaten, zu fünf Jahren
verurteilt worden ist.
Heute müssen wir uns darüber klar sein, dass wir uns
in einem Wettlauf mit der Zeit befinden. Herr Kasulin,
der in der vergangenen Woche hier in Berlin gewesen ist,
hat uns gesagt: Ein KGB-Gefängnis kann man kaum
physisch oder psychisch überleben. Das heißt, wir arbeiten gegen die Zeit. Die Menschen, zu denen niemand
Zugang hat - nicht das Internationale Rote Kreuz, keine
OSZE-Beobachter, keine medizinischen Betreuer, keine
Anwälte, keine Verwandten -, sind in großer Lebensgefahr. Das müssen wir hier noch einmal deutlich sagen.
Verantwortlich ist ein Diktator, der offensichtlich durch
nichts, aber auch gar nichts zu beeinflussen ist. Er kann
für uns kein Partner mehr sein.
({0})
Es stellen sich auch Fragen an Russland. Während der
Wahlkampagne, die wir als politischen Frühling gesehen
haben und sehen wollten, gab es eine massive Medienkampagne gegen Lukaschenko, eine Schmutzkampagne.
Es wurden Kandidaten in Moskau empfangen und von
Moskauer Seite auch massiv unterstützt, unterstützt dabei, gegen den Präsidenten Lukaschenko anzutreten.
Zehn Tage vor der Wahl reist Lukaschenko nach Moskau. Er unterschreibt 17 Verträge. Daraufhin erklärt
Putin, dieser Staatsmann, der vorher in übelster Weise
denunziert worden war, sei durchaus respektabel.
Ich frage, ob in Russland, einem Land, das Mitglied
des Europarats ist, sich eigentlich jemand für die Kandidaten verantwortlich fühlt, die von dort unterstützt wurden und jetzt in einer KGB-Haft sitzen, die an die Lubjanka erinnert. Wir müssen die Regierenden und unsere
Partner in Russland das sehr deutlich fragen. Es ist nicht
so, dass ich da Illusionen hätte, aber wir dürfen sie nicht
aus der Verantwortung entlassen.
({1})
Marieluise Beck ({2})
Nun kurz zu dem, was wir tun können. Ich hätte mir
vorstellen können - und da hätte es nicht um Gesichtsverlust gehen dürfen -, dass eine Außenministerin
Ashton oder die Außenminister Polens und Deutschlands im Rahmen einer gemeinsamen Initiative in Minsk
vorstellig geworden wären und die sofortige Entlassung
der Häftlinge verlangt hätten.
({3})
Ich teile die Einschätzung von Staatsminister Hoyer,
dass es um die Isolation des Regimes, aber nicht um die
der Menschen im Land geht. Darin sind wir uns alle einig.
Es gibt noch eines, was wir tun können, nämlich
wirklich Reisefreiheit herzustellen. Als Honecker die
Menschen eingesperrt hat, haben wir uns nicht mit Visaerleichterungen und niedrigeren Gebühren für diesen
oder jenen zufriedengegeben. Ich verweise in diesem
Zusammenhang auch auf unsere gemeinsamen Anträge
aus diesem Haus von vor drei Jahren.
Es geht um die Herstellung von Reisefreiheit. Schaffen wir dies nicht, helfen wir dem Diktator dabei, seine
Leute einzusperren. Das kann nicht die Botschaft sein,
die wir den Menschen geben. Wir wollen ihnen vielmehr
sagen: Für euch, für die Bevölkerung sind die Türen in
den freien Westen offen. Wir warten auf euch und werden alles tun, damit ihr eines Tages wieder in Freiheit
mit uns verbunden seid.
Schönen Dank.
({4})
Jetzt hat der Kollege Philipp Mißfelder von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Nach der engagierten Rede von Kollegin
Beck und auch nach den Initiativen, die sie und unser
Kanzleramtsminister Ronald Pofalla in den vergangenen
Wochen ergriffen haben, muss ich daran erinnern, dass
dies heute kein Schlusspunkt unserer Aktivitäten sein
kann. Wir sollten auch nicht einfach abwarten, was der
Europäische Rat - hoffentlich - in den nächsten Tagen
beschließen wird. Vielmehr muss es sich heute um einen
Beitrag handeln, der aufzeigt, was folgen muss.
({0})
Die Gefahr ist natürlich, dass das Kalkül von
Lukaschenko aufgeht, dass die prominenten Kritiker
sukzessive in Vergessenheit geraten, wenn sie eingesperrt sind. Deshalb ist jegliche Initiative von uns Parlamentariern und auch von der Regierung, die dann hoffentlich auf europäischer Ebene fortgesetzt wird,
hilfreich, um das Thema im Bewusstsein der Menschen
zu halten.
Ich bin auch dafür - Sie wissen, dass das an anderer
Stelle schwieriger ist; da spreche ich auch für die Außenpolitiker unserer Fraktion -, dass wir das Thema Visaregelung auf die Tagesordnung setzen und damit deutlich machen, dass das leuchtende Bild des Westens, das
von Freiheit und Meinungsfreiheit geprägt ist, auch für
diejenigen erfahrbar ist, die sich jetzt in dieser schwierigen Situation befinden.
({1})
Diese Debatte gehen wir engagiert an und wollen entsprechende Maßnahmen so schnell wie möglich auf den
Weg bringen.
Alles, was möglich ist, um die demokratische Opposition zu unterstützen, tun wir. Wir führen entsprechende
bilaterale Gespräche. Der frühere Präsidentschaftskandidat Milinkewitsch war vergangene Woche bei Kanzleramtsminister Ronald Pofalla. Er hat uns eindringlich gebeten, unsere Aktivitäten fortzusetzen. Das wollen wir
auch tun.
Wir waren in den vergangenen Monaten sicherlich
nicht blauäugig, was Lukaschenko angeht. Angesichts
der Berichte aus Minsk und seiner Äußerungen hatte
man, obwohl man etwas anderes hoffte, den Verdacht im
Hinterkopf, dass sein Handeln nur Show ist. Am Ende
war es so. Er hat die Weltöffentlichkeit getäuscht. Insbesondere in Astana - Kollege Wellmann, Sie haben es angedeutet, Sie waren dabei - hat er versucht, die Weltöffentlichkeit hinters Licht zu führen. Deshalb müssen
sich die OSZE und diejenigen, die sich mit dieser Region verbunden fühlen - dazu gehört in erster Linie
Russland -, dazu verpflichten, mit uns gemeinsam jetzt
mehr Druck zu machen.
Sosehr ich es begrüße, dass es in der Europäischen
Union gelungen ist - anders als es noch vor einigen Jahren der Fall war -, Sanktionen auf den Weg zu bringen
und beispielsweise den italienischen Ministerpräsidenten
davon zu überzeugen, dass es richtig ist, eine härtere
Gangart einzuschlagen, bin ich doch gleichzeitig der
Meinung, dass man unter bestimmten Bedingungen die
Sanktionen noch weiter verschärfen sollte. Zumindest
sollte man darüber diskutieren.
Ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist, die
Wirtschaftsbeziehungen so fortzusetzen, wie es momentan der Fall ist.
({2})
Ich teile zwar die Sorge, dass Sanktionen eventuell zu einer Solidarisierung mit Lukaschenko führen könnten.
Andererseits sagen unsere Analysen über Weißrussland
aus, dass der Hebel von harten Wirtschaftssanktionen
unter Umständen helfen kann, dieser Regierung das
Rückgrat zu brechen. Denn in der Tat ist es doch so, dass
so viele in Weißrussland raffinierte Produkte in der westlichen Welt und auch in Russland gekauft werden, dass
man ernsthaftere Wirtschaftssanktionen bis hin zu einem
gänzlichen Einfrieren jeglicher Wirtschaftsbeziehungen
diskutieren sollte, zumindest bis zur Erfüllung der Bedingung, dass die Präsidentschaftskandidaten freigelassen werden.
({3})
Dauerhafte Sanktionen würden natürlich auch die Bevölkerung treffen. Das will ich natürlich auch nicht, weil
sonst die Wohlstandsentwicklung des Landes gefährdet
werden könnte. Aber wir müssen eben - Marieluise
Beck hat es eindringlich gesagt - alle Register ziehen
und alle öffentlichen und diplomatischen Möglichkeiten
nutzen, um dort aktiv zu sein, weil die Zeit wegläuft.
Es gibt einen qualitativen Unterschied zum früheren
Vorgehen von Lukaschenko, denn er hat eine Zeit lang
versucht, unliebsame Gegner wegzusperren, die dann
aber auch wieder freigelassen wurden. Aber nach alledem, was wir heute wissen, geht es heute nicht mehr um
einfaches Wegsperren, sondern darum, die Menschen
wirklich zu brechen und für immer von der politischen
Bildfläche verschwinden zu lassen.
Herr Kollege Mißfelder, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich von den Linken?
Ja bitte, natürlich.
Bitte.
Herr Kollege Mißfelder, vielen Dank. Ich möchte auf
die Frage der Sanktionen zu sprechen kommen.
({0})
Ich kann nachvollziehen, dass es den Wunsch gibt, mit
möglichst harten Maßnahmen zu reagieren. Ihr Kollege
Wellmann hat die Sorge formuliert, wie auch Sie, dass es
unter Umständen dann auch diejenigen treffen könnte,
die es - auch aus Ihrer Sicht - nicht treffen soll. Was
sagen Sie zu dem Argument, dass, wenn wir harte Sanktionen beschließen, wir einfach nur einen Beitrag dazu
leisten, dass die Entscheidungen in Moskau getroffen
werden und immer weniger hier? Es ist ja jetzt schon so,
dass sich die Frage nach IWF-Krediten dadurch erledigen könnte, dass sich Russland entscheidet, Belarus zu
helfen. Es klingt erst einmal gut, zu sagen, wir beschließen harte Sanktionen. Aber praktisch führt es dazu, dass
wir in einem noch geringeren Maße Ansprechpartner
sind, als wir es ohnehin schon sind.
Sie kennen ja meine grundsätzlich eher russlandfreundliche Haltung. Gerade deshalb, weil ich an vielen
Stellen mit russischen Politikern vertrauensvoll zusammenarbeite und zahlreiche Gespräche geführt habe, gehe
ich davon aus, dass es auch dieser russischen Regierung
nicht egal sein kann, was gerade vor ihrer Haustür passiert. Selbst wenn man unterschiedliche Vorstellungen
davon haben mag, zu welchem Ergebnis man in Weißrussland kommen möchte, hat Lukaschenko aus meiner
Sicht - auch was die russischen Partner angeht - jeglichen Kredit verspielt. Wenn die Entscheidung in Moskau
liegt, müssen wir dafür sorgen, dass wir gemeinsam mit
Moskau den Druck erhöhen. Ich erwarte von dieser Debatte heute, dass als Signal nach Moskau und an die russischen Vertreter in Deutschland geht, dass wir uns natürlich von unseren russischen Partnern erhoffen, dass
sie bei diesen Aktivitäten mitmachen, damit
Lukaschenko das Handwerk gelegt wird. Ich glaube,
dass an dieser Stelle Ihre Frage beantwortet ist.
Herr Kollege Mißfelder, auch die Kollegin Beck
möchte gerne eine Frage stellen. - Bitte schön.
Ich muss jetzt zu dem Trick 17 greifen: Herr Kollege
Mißfelder, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
ich dem Kollegen Liebich sagen möchte, ({0})
Aber nicht in dieser Debatte, weil diese Rundumdiskussionen nicht möglich sind.
- dass wir bei der Konstruktion eines IWF-Kredites in
der Aufstellung einen Anteil von 270 Millionen Euro
eingestellt haben, der aus dem Haushalt der Europäischen Union kommt, und dass dieses Geld dann in ein
Land fließt, in dem es kein Parlament gibt, und dass es in
die Hände einer Regierung fällt, über die es keine parlamentarische Kontrolle gibt, also mittelbar mit diesen
IWF-Geldern und mit dem EU-Budget der Polizeiapparat und der Polizeiterror finanziert werden könnten, mit
dem die Menschen zusammengeknüppelt werden?
Ja, ich bin gerne bereit, das auch dem Herrn Kollegen
Liebich zur Kenntnis zu geben.
({0})
Er hat es jetzt aber nicht überhören können. Ich halte es
für einen wichtigen Hinweis, den Sie gerade gegeben haben, weil natürlich in der Tat die bisherige Strategie war,
dass er sich trotz Sanktionsmöglichkeiten so durchlavieren konnte, weil er irgendwie doch noch einen Ausweg
gefunden hat. Solange sein Regime und die Finanzierung dessen so hält, hat er das geschafft. Weißrussland
ist ja kein per se armes Land. Er hat es geschafft, sich
dort geschickt an der Macht zu halten.
Ich möchte zum Abschluss vier Forderungen aufstellen, die uns wichtig sind.
Erstens. Kurzfristig muss unser Ziel sein, dass die
politischen Gefangenen freigelassen werden. Deshalb
setzen sich die Bundesregierung und auch der Deutsche
Bundestag mit Nachdruck dafür ein.
Zweitens fordere auch ich ein Einreiseverbot für Präsident Lukaschenko und seine regimetreuen Freunde und
zugleich Visaerleichterungen für all diejenigen, die gegen ihn arbeiten und damit die Demokratie stärken.
Drittens fordern wir die Bundesregierung auf, für die
Freilassung der politischen Gefangenen und für die weitere Unterstützung oppositioneller Gruppen und rechtsstaatlicher Gruppierungen, zum Beispiel NGOs, in
Weißrussland selbst zu werben.
Viertens können wir die Probleme in Belarus nur
dann lösen, wenn wir tatsächlich - ich habe es gerade
schon angedeutet - die Visabeschränkung auch generell
neu definieren, weil nur Reisefreiheit, Austausch, langjährige persönliche Kontakte und Erfahrungen dazu führen können, dass Vertrauen wächst und wir eine Anbindung an die Europäische Union hinbekommen, um dem
letzten Diktator in Europa das Handwerk zu legen.
Herzlichen Dank.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Jürgen Klimke von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Im Dezember hatte ich zusammen mit dem Kollegen Schirmbeck die Gelegenheit,
als offizieller Wahlbeobachter der OSZE in Minsk, in
der letzten Diktatur Europas, dabei zu sein und den Vorkommnissen bei der Wahl beizuwohnen. Dabei ist uns
vor Augen geführt worden, wie effektiv eine Diktatur
Einfluss auf eine Wahlentscheidung nehmen und dies
auch organisieren kann.
({0})
Zu unserer Beobachtungsmission gehörte auch eine
kurze Diskussion mit dem Präsidenten Lukaschenko, in
der wir unsere Vorstellungen von einer funktionierenden
Demokratie deutlich machen konnten. Interessanterweise nahm Lukaschenko dies stillschweigend zur
Kenntnis. Er ging in seinem nachfolgendem Statement
nicht auf unsere Argumente ein. Im Gegenteil, er erzählte uns, wie man es von einem guten Diktator erwarten kann, wie erfolgreich das Land unter seiner Führung
ist, welche Wege er in Zukunft einschlagen will und dass
er alternativlos sei.
Herr Kollege Klimke, die Frau Kollegin Beck würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Bitte.
Herr Kollege Klimke, ich halte diesen Punkt für nicht
ganz unwichtig und bitte Sie, mir bei der Aufklärung
dieses Besuchs im Wahllokal mit Lukaschenko Nachhilfe zu leisten. Sind Sie bereit, das zu tun?
Nach den Gerüchten und meinen Informationen hatte
der Kollege Schirmbeck ein Kuscheltier für das Söhnchen von Herrn Lukaschenko dabei und gab später ein
Interview, in dem er sagte, dass man hier sehen könne,
dass diese Wahlen nach den Vorgaben der OSZE ablaufen würden. Wir alle waren über diese Stellungnahme
ziemlich entsetzt. Sie stellen das jetzt vollkommen anders dar. Ich glaube, es ist wichtig, dass dieses Parlament
weiß, was in diesem Wahllokal wirklich passiert ist.
Frau Kollegin, ich gebe meinen ganz persönlichen
Eindruck von vier Tagen wieder, in denen wir zunächst
von der OSZE in die Voruntersuchungen eingeführt wurden. Es ist sodann ein Eindruck vom Wahltag selbst, den
wir in zwölf Wahllokalen verbracht haben, und es ist
auch bei der Auszählung der Stimmen ein Eindruck entstanden. Das alles ist ein sehr ambivalenter Eindruck,
weil uns an diesen Tagen vorgeführt wurde, wie man etwas organisieren kann und wie man versuchen kann,
vorzuführen, dass man demokratisch ist, ohne es tatsächlich zu sein. Das ist, glaube ich, das Entscheidende.
({0})
Dieser Versuch ist misslungen; das kann ich eindeutig
sagen. Aber es ist immerhin ein Versuch, den man auch
zur Kenntnis nehmen muss.
Man muss auch die ernüchternden Gespräche zur
Kenntnis nehmen, die wir in Einzelterminen mit verschiedenen Oppositionskandidaten hatten. Dabei ist die
Scheindemokratie auch wieder deutlich geworden. Diesen Kandidaten sind 30 Minuten im Fernsehen zur Verfügung gestellt worden, in denen sie ihre politischen
Grundlagen darstellen konnten. Aber 90 Prozent der
politischen Fernsehsendungen wurden von Lukaschenko
bestimmt; das ist die andere Seite. Während von jedem
Kandidaten 100 000 Unterstützerunterschriften mühsam
herbeigebracht werden mussten, wurden die 1,1 Millionen, die Lukaschenko bekommen hat, natürlich in den
öffentlichen Unternehmen und den Behörden unter Ausübung von Druck gesammelt. Die Menschen wurden genötigt, zu unterschreiben. Das ist doch das Entscheidende.
Frau Kollegin Beck, am Wahltag selbst sollte uns vorgeführt werden, wie Wahlen frei und fair ablaufen können. Wir hatten freien Zugang. Wir konnten mit Wählern
und Wahlhelfern sprechen und an der Auszählung teilnehmen. Aber das war eben nur eine Fassade. Wir konnten auch hinter die Fassade schauen. Wir haben festgestellt, dass Wahlurnen nicht bewacht wurden. Uns kam
zu Ohren, dass Kandidaten mit Zwang eingeschüchtert
wurden, dass Wähler genötigt wurden, das Kreuz bei Lukaschenko und nirgendwo anders zu machen.
Man hatte in der kurzen Zeit eine gute Chance, die
tatsächliche Situation zu analysieren. Das hat mir noch
einmal deutlich gemacht, wie wichtig die Aufgabe der
OSZE ist, Wahlbeobachtungen durchzuführen und entsprechende Rückschlüsse zu ziehen. Wir haben nur ein
Sechstel eines Eisberges gesehen; er wurde uns schön
vorgeführt. Wir haben aber auch die anderen, die gefährlichen, negativen fünf Sechstel unter Wasser erahnen
können. Das ist bei solch einem kurzen Besuch das Entscheidende.
Ich unterstütze ausdrücklich das Außenministerium,
das auf Grundlage der Erkenntnisse die richtigen Ideen
für den mittelfristigen Umgang mit der Situation in Belarus entwickelt hat. Für mich ist es wichtig, dass wir die
Isolierung der Verantwortlichen vorantreiben. Die Isolierung der Bürger Weißrusslands ist aus meiner Sicht nicht
der richtige Weg. Die Menschen in Weißrussland sind
Bürger Europas. Aus diesem Grund ist es nicht richtig,
die Tür endgültig zuzuschlagen. Unser Plan muss sein
- es wurde hier gesagt -, die Opposition zu stärken, ihre
Schlagkraft einzufordern und vor allen Dingen sicherzustellen, dass die neun Oppositionskandidaten vereinter
auftreten. Wir müssen Universitätspartnerschaften auflegen, den Studenten und der Jugend des Landes neue
Chancen in Europa eröffnen, damit sie Europa besser
kennenlernen können. Zudem müssen wir das Regime
für die verhängten Strafen sanktionieren; das ist der richtige Weg. Ich nenne das Stichwort Visa; auch so etwas
gehört aus meiner Sicht dazu.
Zugleich ist es mir wichtig, noch einmal zu sagen,
dass umfassende, langfristige Sanktionen aus meiner
Sicht nicht richtig sind, weil dadurch das diplomatische
Porzellan eher endgültig zerschlagen würde und wir keinen Einfluss mehr nehmen könnten.
({1})
Als Entwicklungspolitiker weiß ich, wie es ist, mit Staaten umzugehen, die eine schlechte Regierungsführung
haben. Die grundlegende Erfahrung, die man sammeln
konnte, war: Mit Sanktionen kann man nur einen kurzfristigen Erfolg haben; mit einem Boykott kann man nur
kurzfristig etwas bewegen. Langfristig macht man damit
aber die Chancen der Menschen in dem Lande kaputt,
und genau das sollten wir in Weißrussland nicht tun.
Wir sollten also den Fuß in der Tür behalten. Wir haben die Möglichkeit, dies mit Initiativen des Bundestages, die hier besprochen worden sind, kurzfristig zu erreichen. Ich halte es für völlig richtig, eine Strategie, ein
Konzept zu entwickeln, das klar definierte Fortschritte
bei der Durchsetzung der Menschenrechte, der Demokratisierung und der Einbindung in die westliche Sicherheitsarchitektur als prioritär ansieht. In gleichem Maße
geht es darum, ein Konzept zu entwickeln, das es
Deutschland und der EU erlaubt, langfristig aus unseren
östlichen Nachbarn befreundete strategische Partner zu
machen.
Danke sehr.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf:
Vereinbarte Debatte
Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das Jahr 2011
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Werner
Hoyer, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Vorschau auf die kommenden Monate gebietet natürlich
auch, kurz auf das vergangene Jahr zurückzublicken. In
diesen Wochen arbeiten wir intensiv daran, die Beschlüsse des Europäischen Rates vom Dezember umzusetzen und weitere Wege zu suchen, wie wir unsere
Wirtschaftspolitiken noch besser untereinander abstimmen können.
Im letzten Jahr mussten wir immer wieder sehen, dass
wir in unruhiges Fahrwasser gerieten und reagieren
mussten. Ich sage ganz bewusst „reagieren“, weil dies ja
auch in einem Begründungszusammenhang mit dem
noch in der Hauptsache laufenden Verfahren in Karlsruhe steht, Stichwort Ultima Ratio.
Wir wissen nicht, was noch kommen mag, aber wir
wissen, was wir verhindern müssen und was wir verhindern werden. Wir werden verhindern, dass die drei Säulen, die Europa in den vergangenen Jahrzehnten getragen
haben, ernsthaft beschädigt werden: Versöhnung, Wohlstand und schließlich die Überwindung der Teilung Europas.
Wir dürfen uns nicht auf die Verteidigung dieser drei
Säulen beschränken, so schwer dies schon sein mag. Wir
müssen den Blick nach vorn richten, und das heißt zunächst, wir müssen den Euro sturmfest machen,
({0})
auch um die zentrale Herausforderung, um die es in dieser Zeit geht, zu bestehen. Das ist die Selbstbehauptung
der Europäer in der Globalisierung.
Wir brauchen eine starke Wirtschafts- und Währungsunion, in der Haushaltsdisziplin an erster Stelle steht.
Wir brauchen europaweit eine Politik, die auf die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, auf neues Wachstum
und Beschäftigung ausgerichtet ist.
Der Maßstab für unsere Wettbewerbsfähigkeit und für
unsere Fähigkeit, im globalen Maßstab zu bestehen, ist
der globale Wettbewerb und nicht der Wettbewerb der
EU-Staaten untereinander. Hierfür müssen wir unsere
Hausaufgaben erledigen, und dazu gehört, dass wir dafür
sorgen, dass sich eine solche Krise nicht wiederholt.
Damit sie sich nicht wiederholt, müssen die Fehler im
System ausgemerzt werden. Die Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und die Einrichtung eines
dauerhaften Krisenmechanismus sind zwei der grundlegenden Aufgaben, die die Europäische Union in den
kommenden Monaten zu bewältigen hat.
Es ist erfreulich festzustellen, dass wir uns hier gemeinsam mit unseren Partnern auf die wesentlichen Eckpunkte geeinigt haben. Ich sage ausdrücklich Beibehaltung des Bail-out-Verbots, Gläubigerhaftung und die
notwendige Vertragsänderung.
Deutschlands Stimme wird in Europa gehört. Unsere
Nachbarn schätzen unsere Meinung, und sehr häufig
- nicht immer verständlicherweise - teilen sie sie auch.
Deswegen werden wir uns bei vielen weiteren wichtigen
Vorhaben, die in 2011 zur Entscheidung anstehen,
ebenso engagiert und konstruktiv wie bisher einbringen
als überzeugte Europäer und in Verantwortung vor den
Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, zum Beispiel
bei der weiteren Reform der Finanzmärkte, um Stabilität
und Vertrauen in die Märkte zurückzubringen. Hier sind
bereits wichtige Fortschritte erzielt worden. Wir sind bei
weitem noch nicht am Ziel.
Die Kommission hat nun das Ziel ausgegeben, das gesamte Reformpaket für den Finanzsektor bis Ende 2011
auf EU-Ebene zu verabschieden. Wir unterstützen dieses
ehrgeizige Vorhaben, und die Bundesregierung wird mit
ihrem Sachverstand, ihren Ideen zum Gelingen beitragen; ich denke, der Deutsche Bundestag auch.
Dasselbe gilt für die kommenden Verhandlungen über
den mehrjährigen Finanzrahmen 2014 bis 2020, die uns
allerdings auch noch weit über 2011 hinaus beschäftigen
werden. Manche Nervosität bei dem Thema ist also etwas voreilig, wie ich glaube, weil erste wesentliche Entscheidungen und ein erstes Aufeinanderzugehen erst im
Jahr 2012 und - ich sage mal voraus - wahrscheinlich
auch eher in der zweiten Hälfte des Jahres 2012 zustande
kommen werden. Dabei reden wir ja dann über die
grundsätzliche Ausrichtung und die politische Prioritätensetzung der Europäischen Union über den Zeitraum
von sieben Jahren und über Haushaltsmittel immerhin in
einer Größenordnung von zusammen nicht weniger als
1 000 Milliarden Euro.
Mit dem mehrjährigen Finanzrahmen entscheiden wir
darüber, wofür dieser Betrag ausgegeben wird, und damit nicht zuletzt über die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union insgesamt. Denn diese Entscheidungen
werden ja Einfluss darauf haben, in welchen Spitzentechnologien und Wachstumsbranchen zukünftig in
Europa geforscht, gearbeitet und Geld verdient wird.
Wenn wir Zukunft gestalten wollen, ist es wichtig,
dass wir diese Möglichkeit der Beeinflussung dieser Fragen über den Haushalt der Europäischen Union im Auge
haben. Im Kontext werden natürlich auch dann intensiv
Gespräche über die Neugestaltung der Gemeinsamen
Agrarpolitik und der Kohäsionspolitik zu führen sein;
beide zusammen machen immerhin drei Viertel des Gesamthaushalts der Europäischen Union aus. Deshalb erfordern sie unsere größte Aufmerksamkeit, und wir dürfen jetzt den Reformelan nicht verlieren.
({1})
Der Europäischen Kommission kommt bei all diesen
Vorhaben eine Schlüsselrolle zu. Sie ist nicht nur die Hüterin der Verträge, sie muss auch Motor der Integration
sein. Deshalb ist die Veröffentlichung des Arbeitsprogramms der Kommission mit rund 200 Einzelvorhaben
weit mehr als ein verwaltungstechnischer Routinevorgang, der jährlich aufs Neue vollzogen wird. Das Arbeitsprogramm der Kommission gibt einen wichtigen
Ausblick. Mit manchem hat man gerechnet, manches
seit langem herbeigewünscht, anderes kommt dagegen
vielleicht etwas unerwartet und zeigt uns, wo Gesprächsund Klärungsbedarf gegenüber der Kommission besteht.
Insgesamt begrüßt die Bundesregierung die Inhalte
und die Ausrichtung des Arbeitsprogramms für 2011.
Die Schwerpunktsetzung ist richtig, weil sie entlang der
neuen Wachstums- und Beschäftigungsstrategie „Europa
2020“ aufgebaut ist und Impulse zur Überwindung der
Krise setzt. Wir werden uns die einzelnen Dossiers natürlich sehr genau anschauen und darüber mit dem Deutschen Bundestag diskutieren müssen. Sofern wir die
Verhältnismäßigkeit eines angekündigten Vorhabens infrage stellen oder Bedenken hinsichtlich der Einhaltung
des Subsidiaritätsprinzips haben, werden wir dies deutlich benennen und auch darüber hier im Deutschen Bundestag debattieren.
Uns geht es darum, dass der Gestaltungsspielraum nationaler Politik und nationaler Parlamente nicht ohne
Not eingegrenzt wird, und zwar nicht, weil wir etwas gegen Europa hätten, sondern gerade deswegen, weil wir
ein wirkungsvolles, funktionsfähiges Europa wollen, das
sich auf diejenigen Aufgaben konzentriert, bei denen nationales Handeln allein an seine Grenzen stoßen würde,
aber durch gemeinsames, europäisches Handeln tatsächlich ein Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger herbeigeführt werden kann.
({2})
In diesem Sinne blicken wir auf ein Jahr 2011, in dem
die entscheidenden Weichen dringend gestellt werden
müssen, in dem effektive Schritte zur Überwindung der
Finanzkrise und zur Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion unternommen werden müssen, in dem um9464
wälzende Reformen in den öffentlichen Haushalten anstehen, in dem der Europäische Auswärtige Dienst in
vollem Umfang seine Arbeit aufnehmen und zu einem
angemessenen und kohärenteren Erscheinungsbild Europas in der Welt beitragen kann. Von diesem Jahr 2011
wird es später vielleicht einmal heißen, dass Europa in
diesem Jahr seine Fähigkeit demonstriert hat, Fehler zu
beheben und aus einer schwierigen Situation heraus zu
neuer Stärke zu finden; denn die Europäische Union ist
und bleibt der Garant für Frieden, Stabilität und Wohlstand auf unserem Kontinent. Die Europäische Union
wird deswegen auch weiterhin von der christlich-liberalen Koalition in vollem Umfang unterstützt.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Michael Roth für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Arbeitsprogramm der Kommission gibt uns Gelegenheit, auch wenn es dafür jetzt schon ein bisschen spät
sein mag - wir hatten dieses Thema schon einmal im
Dezember auf der Tagesordnung -, das Jahr 2011 in den
Blick zu nehmen, über die Rolle der Kommission gemeinsam nachzudenken, aber sicherlich auch - ich
nehme den Ball von Staatsminister Hoyer gerne auf darüber zu sprechen, welche Rolle die Bundesregierung
wahrnimmt; denn die Bundesregierung ist für den Deutschen Bundestag der erste Ansprechpartner, wenn es um
die Gestaltung und die Kontrolle der Europapolitik geht.
Insofern möchte ich zu dem einen oder anderen Punkt
gerne Stellung nehmen.
Herr Hoyer, Ihre europapolitische Märchenstunde
eben hat mich schon ein wenig irritiert. Sie will so gar
nicht zu dem passen, was wir Bundestagsabgeordnete einerseits auf den Fluren in Brüssel hören und andererseits
als besorgte Anfragen fraktionsübergreifend wahrnehmen, nämlich, dass die Europapolitik der Bundesregierung in weiten Teilen ein Totalausfall ist.
({0})
Sie ist wankelmütig. Sie ist ideenlos. Solidarische Führung in Europa sieht anders aus. Das greift über. Man
hört nicht nur vom Auswärtigen Amt als dem zentralen
Europaministerium wenig Konzeptionelles und Wegweisendes. Auch die deutsch-französische Zusammenarbeit
- das ärgert mich wirklich -, von der in den vergangenen
Jahrzehnten viele wichtige Impulse ausgegangen sind,
funktioniert nicht mehr. Das zeigte sich spätestens auf
dem Gipfel in Deauville. Ihre Politik trägt eher zur Spaltung bei als dazu, dass zukunftsweisende und tragfähige
Kompromisse in der Europäischen Union, in der EU der
27, geschmiedet werden.
Damit, Herr Staatsminister, müssen Sie, Ihr Bundesminister und die Bundeskanzlerin sich schon einmal auseinandersetzen. Der Konflikt innerhalb der EVP-Familie, zwischen Ministerpräsident Juncker und der
Bundeskanzlerin, stellt dabei nur die Spitze des Eisbergs
dar.
Ich würde mit Ihnen auch gerne über die Rolle der
Kommission sprechen; denn auch da sehe ich einiges mit
Sorge. Ich bin mir sicher, Sie als überzeugter Europäer,
Herr Hoyer - das würde ich niemals in Abrede stellen -,
sehen das wahrscheinlich sogar ähnlich. Die Intergouvernementalisierung der Europäischen Union hat zugenommen. Die EU-Politik wird immer exekutivlastiger.
Da stellt sich für uns schon die Frage, inwieweit die EUKommission ihre Rolle als die zentrale Institution der
Gemeinschaftsinteressen und als Hüterin der Verträge
überhaupt noch wahrnehmen kann, wenn sie ständig und
in immer stärkerem Maße am Gängelband der nationalen
Regierungen geführt wird.
({1})
In der Regel sieht es heute so aus, dass auf den Gipfeln etwas entschieden wird und die Kommission als
bloße Befehlsempfängerin fungiert und man dann
schauen muss, was aus den verschiedenen Vorschlägen
und Überlegungen der Staats- und Regierungschefs
wird. Ich sehe das insgesamt mit Sorge, weil wir trotz
des Vertrages von Lissabon überhaupt nicht in der Lage
sind - das haben jedenfalls die vergangenen Jahre gezeigt -, hier die entsprechenden Kontrollen, die innerhalb der vergemeinschafteten EU-Politik zentral vom
Europäischen Parlament wahrgenommen werden, zu
leisten.
Ich wünsche mir, dass wir die EU-Kommission nicht
schwächen, sondern stärken. Ich könnte es mir jetzt relativ einfach machen und sagen: Die EU-Kommission ist
eine eher konservativ-liberal besetzte Kommission; gerade einmal 6 von 27 Kommissarinnen und Kommissaren sind Sozialdemokraten. Das geht uns nichts an. - Allerdings ist die EU-Kommission diejenige Institution,
die noch am ehesten in der Lage ist, das europäische Gemeinwohl in den Blick zu nehmen.
An dem, was die Kommission in diesem Bereich in
den vergangenen Monaten geboten hat, kann ich leider
kein gutes Haar lassen. Wie sehen denn die Vorschläge
der Kommission zur Bewältigung der Krise aus? Sie entsprechen alle dem hinlänglich bekannten neoliberalen
Dreisatz: Sozialabbau gepaart mit Steuersenkungen und
Rückführung staatlicher Leistungen. Ich habe überhaupt
nichts dagegen, dass die Kommission zum Beispiel ein
Grünbuch zur Rente herausgibt. Aber wenn versteckt darin steht, dass auf der nationalen Ebene Leistungsabbau
im Sozialbereich betrieben werden muss, um die nationalen Haushalte auszugleichen, wird doch klar, wes
Geistes Kind die Politik der Europäischen Kommission
größtenteils ist. Das ist nicht unsere Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Austeritätspolitik hemmt das Wachstum. Wir brauchen aber in der Europäischen Union Wachstum, um solidarische und nachhaltige Wege aus der Krise zu finden,
Michael Roth ({3})
auf die wir die Bürgerinnen und Bürger trotz ihrer wachsenden Skepsis gegenüber der EU mitnehmen können.
Ich will auch ein paar positive Aspekte benennen. Wir
unterstützen ausdrücklich die Schwerpunktsetzung der
Kommission hinsichtlich Wachstumsbelebung und
Schaffung von Arbeitsplätzen. Diese wird zwar noch
nicht durch konkrete politische Projekte untermauert;
aber das ist der richtige Weg. Wenn es uns gelingt, die
entsprechenden Schwerpunkte mit der Strategie EU 2020
zu verknüpfen, kann daraus sicherlich etwas Gutes werden.
Positiv finde ich auch - das fordern die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im EP und hier im Bundestag schon seit Jahren - den konsequenten Kampf gegen Steueroasen. Ich betrachte den Vorschlag der EUKommission, eine gemeinsame konsolidierte Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage einzuführen, als eine
Initiative, die in die richtige Richtung weist. Ich fordere
die Bundesregierung, das Kanzleramt, das Bundesfinanzministerium und das Bundeswirtschaftsministerium, auf, diese Politik und diese Vorschläge konsequent
zu unterstützen.
({4})
Ich finde es sehr schade, dass es uns noch nicht gelungen ist, die notwendige Verordnung für die zumindest
von uns als wichtig erachtete Europäische Bürgerinitiative auf EU-Ebene zu implementieren; sie ist immer
noch nicht in Kraft getreten. Hier hätte ich mir von der
Bundesregierung ein etwas beherzteres Vorgehen gewünscht.
Insgesamt kann die Europäische Union nur erfolgreich arbeiten, wenn sie eine starke Kommission hat, die
die Zeichen der Zeit erkennt. Aus unserer Sicht erfordern sie ein solidarisches gemeinsames Handeln sowie
eine konsequent soziale und nachhaltige Ausrichtung der
Politik. Das vermissen wir sowohl bei der Bundesregierung als auch bei der Kommission. Da muss dringend
nachgebessert werden. Das soll unser Signal in der heutigen Debatte sein.
Vielen Dank.
({5})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Thomas
Dörflinger das Wort.
({0})
Danke schön, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir vorausgegangene Debatten aus den
zurückliegenden Jahren über Arbeitsprogramme der Europäischen Kommission ins Gedächtnis rufe, komme ich
nicht an der Feststellung vorbei, dass sich durch viele der
Debattenbeiträge der unterschiedlichen Fraktionen - freilich mit unterschiedlicher Akzentuierung - als roter Faden ein bisschen der Vorwurf zog, dass angesichts der
Fülle dessen, was da aufgeschrieben worden ist, vielleicht weniger mehr gewesen wäre und man sich vielleicht besser auf das konzentriert hätte, was politisch
prioritär und in einer bestimmten zeitlichen Spanne
machbar war, anstatt all das aufzuschreiben, was
schlussendlich wünschenswert war.
Das vorliegende Arbeitsprogramm der Europäischen
Kommission unterscheidet sich in diesem Punkt wohltuend von seinen Vorgängern. Das ist selbstredend und
logischerweise auch der Tatsache geschuldet - Ironie des
Schicksals -, dass die Kommission - Herr Staatsminister, Sie haben darauf hingewiesen - beim Thema Bewältigung der Folgen der Finanz- und Bankenkrise einen
ganz besonderen Schwerpunkt setzt. Dadurch sind logischerweise andere Themen in den Hintergrund geraten.
Das tut dem Programm insgesamt gut. Ich will an dieser
Stelle auf diesen Themenkreis, weil das schon dargestellt
wurde und der Kollege Silberhorn darauf auch noch zu
sprechen kommen wird, gar nicht detaillierter eingehen,
sondern ein paar Punkte nennen, zu denen ich mir den
einen oder anderen kritischen Unterton nicht verkneifen
kann.
Meine Damen und Herren, wer schon einmal in seinem Wahlkreis das Vergnügen gehabt hat, ein mittelständisches Unternehmen mit wenigen Beschäftigten bei
dem Vorhaben zu begleiten, einen Antrag nach dem Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Kommission zu stellen, der weiß, dass aus einem mehrseitigen
Antragsformular innerhalb weniger Monate ein Vorgang
wird, der mehrere Leitz-Ordner umfasst und das Unternehmen zu der Erkenntnis bringt, dass die Beantragung
von Mitteln aus diesem Programm ohne Konsultation eines Unternehmens zur Beratung gar nicht zu leisten ist.
Deshalb ist Entbürokratisierung ein wichtiges Thema.
In dem Zusammenhang möchte ich ein kritisches
Wort zu dem Thema Vergabewesen sagen. Wenn ich mir
vorstelle, dass zukünftig durch die Verknüpfung der Vergabe mit sachfremden Argumenten, die mit der eigentlichen Dienstleistung, um die es in einem Vergabeverfahren geht, nur bedingt etwas zu tun haben, die Gefahr
besteht, dass das Vergabeverfahren selbst länger dauert
als die Auftragsabwicklung, stelle ich mir schon die
Frage, ob wir an dieser Stelle auf dem richtigen Weg
sind. Ich rate der Kommission, darüber noch einmal
nachzudenken.
({0})
Der Kollege Roth hat das Weißbuch Pensionen angesprochen. Nun kommt es - da weiß ich als BadenWürttemberger, wovon ich rede ({1})
in einer global strukturierten Arbeitswelt nicht so selten
vor, dass jemand heute in Deutschland, morgen in Frankreich und übermorgen in Österreich arbeitet. Obwohl die
Schweiz nicht zur Europäischen Union gehört, nenne ich
auch sie in diesem Kontext; denn sie gehört sehr wohl zu
Europa. Nachdem also jemand im Laufe eines langen
Arbeitslebens in vier oder fünf unterschiedlichen Staaten
gearbeitet hat, stellt sich für ihn bei Eintritt in das Rentenalter die Frage: Wie sieht es mit der Portabilität von
Rentenansprüchen aus? Das ist für den Rentenantragsteller bzw. die -antragstellerin nicht selten ein ziemlicher
bürokratischer Aufwand. Deshalb ist der Ansatz richtig,
das Verfahren an dieser Stelle zu beschleunigen und im
Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu entschlacken. Ich
wage aber, die These aufzustellen, dass wir das durch bilaterale Vereinbarungen zwischen den Staaten mindestens genauso gut hinbekommen wie die Kommission,
die hier ja selbst einen Legislativbedarf sieht und diesen
dann möglicherweise noch durch Gründung einer eigenen Behörde zu untermauern versucht.
({2})
Der deutsche Kommissar Günther Oettinger hat vor
einigen Wochen sehr plastisch die Summe von
1 Billion Euro als notwendige Finanzinvestitionen für
den gesamten Energiesektor in die Diskussion geworfen.
Herr Staatsminister Hoyer hat vorhin zu Recht das Faktum betont, dass wir Europäer uns in einem globalen
Wettbewerb auf allen möglichen Sektoren befinden. Das
gilt nach meiner festen Überzeugung nicht nur, sondern
sogar in erster Linie auch für den Energiesektor. Wenn
wir die Technologie, die es uns ermöglicht, Energie
nachhaltig zu produzieren, nicht nur selbst nutzen, sondern auch zu einem Exportschlager machen wollen,
dann müssen wir notwendigerweise nicht nur in diese
Technologie, sondern insbesondere auch in die Netze investieren. Ich prognostiziere auch vor dem Hintergrund
der einen oder anderen Diskussion, die wir in Deutschland dazu schon geführt haben: Das wird nicht konfliktfrei abgehen. Da aber die Netze auch im Wettbewerb mit
anderen Regionen in der Welt einen zentralen Standortfaktor für Europa darstellen, rate ich den Kolleginnen
und Kollegen im Deutschen Bundestag, diese Debatte
mit großer Ernsthaftigkeit zu führen und damit auch gegenüber der eigenen Bevölkerung zu dokumentieren,
dass wir mit diesem Faktum, dass das ein zentraler Wettbewerbsfaktor ist, politisch umzugehen wissen. Dazu
müssen wir die notwendigen Entscheidungen sachgerecht treffen und anschließend auch umsetzen.
({3})
Fazit: Ich habe zu Beginn gesagt, das Arbeitsprogramm unterscheidet sich hinsichtlich der Effektivität
und der Struktur wohltuend von seinen Vorgängern. Lassen Sie uns gemeinsam dieses Arbeitsprogramm in den
kommenden Monaten zusammen mit der Bundesregierung und der Europäischen Kommission tatkräftig umsetzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Andrej Hunko für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
hier heute Morgen ja vom Sitzungspräsidium ausgeschlossen worden. Deshalb bin ich froh, dass ich jetzt
noch reden darf.
({0})
- Okay.
Wir sprechen ja über das Arbeitsprogramm der EUKommission. Welche Frage stellen sich die Menschen,
wenn sie vom Arbeitsprogramm der EU-Kommission
für 2011 hören? Sie werden fragen, ob das Arbeitsprogramm dazu beiträgt, die drängendsten Probleme zu lösen. Aber genau das tut es unserer Auffassung nach
nicht.
Der Kommission ist zwar bewusst, dass das Programm „zu einem für die EU besonders kritischen Zeitpunkt“ vorgelegt wird, aber ein wirkliches Umsteuern
im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik ist
nicht festzustellen. Im Gegenteil: Die gescheiterte Lissabon-Strategie aus dem Jahre 2000 wird jetzt in der EU2020-Strategie fortgesetzt. Das ist ja das Gerüst dieses
Arbeitsprogramms. Das bedeutet noch mehr Deregulierung und noch mehr Privatisierung. Dieser Weg hat mit
in die Krise geführt und wird die Krise weiter verschärfen.
Dagegen beschwört die Kommission geradezu den
Aufschwung. Durch die unsozialen europaweiten Kürzungsprogramme wird die EU-Binnenkonjunktur aber
abgewürgt. Wenn bald noch weitere Länder aus der
Euro-Gruppe dazu gedrängt werden, Milliarden aus dem
sogenannten Euro-Rettungspaket abzurufen, werden sie
zu neuen Kürzungsprogrammen und Schocktherapien
verpflichtet. Dazu passt dann auch die Verschärfung des
dummen Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Das ist
schlicht inakzeptabel.
({1})
All dies bedeutet: Die Menschen zahlen jeden Tag für
die Folgen der Wirtschafts- und Bankenkrise, und die
Profiteure werden nicht zur Kasse gebeten. Nicht nur die
Linke sagt: „Profiteure endlich zur Kasse!“, sondern das
sagt auch die Mehrheit der Bevölkerung.
({2})
Deshalb gehen in vielen Ländern Europas immer wieder Hunderttausende auf die Straße - zuletzt in Irland
und in Portugal. Dabei zeigt sich immer deutlicher - ich
sage das hier sehr eindringlich -: Europa wird sozial
sein, oder es wird nicht sein. Ein soziales Europa wird es
nur mit einem echten Neustart der EU auf demokratischer und sozialer Grundlage geben. Ohne eine Komplettrevision und Veränderung der Grundlagenverträge
in die richtige Richtung - sie werden ja gerade in die falAndrej Hunko
sche Richtung verändert - wird es leider so weitergehen
wie bisher.
Schauen wir uns aber das Programm an einigen Punkten noch einmal konkret an:
Erstens. Die Kommission gewährt zusammen mit den
Mitgliedstaaten und dem IWF die sogenannten Hilfspakete. „Hilfe“ klingt erst einmal solidarisch, aber diese
Pakete sind in erster Linie Bankenrettungspakete. Die
Mitgliedstaaten verdienen durch die Zinsen sogar noch
an der Hilfe für bedürftige Staaten. Darüber hinaus sind
diese Pakete aber vor allem Spardiktate auf Kosten der
Bevölkerung. Sie führen zu mehr Armut und zu mehr sozialer Ausgrenzung. Ironischerweise wurde 2010 ja zum
Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung proklamiert. In Wirklichkeit war es genau andersherum. Ich glaube, 2010 wird als Jahr für Armut und soziale Ausgrenzung in die Geschichte eingehen.
Zweitens. Die Kommission arbeitet an der Umsetzung der sogenannten Solidaritätsklausel, die in Art. 222
des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen
Union geregelt ist. Aber auch hier geht es nicht um Solidarität zwischen den Menschen. Es geht schlichtweg um
den Einsatz von Militär in anderen Mitgliedstaaten, und
zwar nicht nur bei Terroranschlägen oder Naturkatastrophen, sondern, wie es im Vertrag heißt, auch bei „einer
vom Menschen verursachten Katastrophe“. Was kann
das sein? Aufgrund dieser vagen Definitionen könnte
EU-Militär auch zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt
werden, wenn sich die sozialen Konflikte in einem Mitgliedstaat weiter zuspitzen. In Griechenland und Spanien
zum Beispiel gab es in den letzten Monaten Situationen,
in denen Militär mit eingesetzt wurde. Die Linke lehnt
einen solchen Einsatz von Militär grundsätzlich ab, auch
dann, wenn er als Solidaritätsakt verkleidet wird.
({3})
Drittens plant die Kommission eine „Mitteilung über
stärkere Solidarität innerhalb der EU“. Auch hier findet
sich wieder der Begriff Solidarität. Aber was verbirgt
sich dahinter? Es geht um die Solidarität zwischen den
Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung von illegalisierten
Migrantinnen und Migranten. Aktuelles Beispiel: Griechenland soll nicht mehr allein gegen die Flüchtlinge
kämpfen, sondern bekommt Unterstützung von der EU
mittels FRONTEX-Soforteinsatzteams. Besonders angesichts der katastrophalen und menschenverachtenden
Zustände in den überfüllten Lagern ist das nur noch zynisch zu nennen.
({4})
Wir fordern stattdessen die Solidarität mit Menschen in
Not, und zwar - in dem Fall ist der Begriff sinnvoll - bedingungslose Solidarität.
({5})
Ich komme zum Schluss. Fragen Sie die Menschen in
Europa, welches Arbeitsprogramm sie der Kommission
geben würden. Der Auftrag wäre ganz klar: Profiteure
zur Kasse bitten, Regulierung der Finanzmärkte und ein
soziales Europa. Die Menschen müssen in Europa wieder im Mittelpunkt der Politik stehen. Dafür stehen wir
ein.
Ich danke.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Manuel Sarrazin das Wort.
Herr Hunko, eine ganz so große Rede mit Vorschlägen zu einer Komplettrevision der Grundlagenverträge
wird mir heute nicht gelingen. Viele Punkte sind zu besprechen. Ich möchte meine Redezeit aber vor allem unserer liebsten Freundin seit über einem Jahr widmen,
nämlich der Krise.
Herr Staatsminister Hoyer, Sie wissen, dass wir Sie
im Europaausschuss für Ihre Arbeit schätzen.
({0})
Ich möchte aber daran anknüpfen, was Sie gesagt haben.
Sie haben gesagt, die Bundesregierung werde sich 2011
ebenso engagiert einbringen wie 2010, was die Bewältigung der Krise angehe.
Nehmen wir als Beispiel die von Herrn Juncker vorgeschlagenen Euro-Bonds. Herr Juncker steht deutschen
Interessen ja durchaus positiv gegenüber. In dem Vorschlag von Bruegel, Juncker und Tremonti ist so offenkundig auf Art. 3 und Art. 119 AEUV eingegangen worden, dass Sie alle das eigentlich freudestrahlend als
Beitrag zur deutschen Stabilitätskultur hätten begrüßen
müssen. Was aber kommt von der Bundesregierung?
Dieser von deutschem Geist durchtränkte Vorschlag,
Euro-Bonds im Rahmen der jetzigen Verträge möglich
zu machen, wird als Angriff aus dem Süden abgetan. Da
habe ich verstanden, warum Herr Juncker beleidigt ist:
weil Sie zwar sehr engagiert, aber in dem Fall völlig am
Kern vorbei debattiert haben.
({1})
Ich denke, es ist uns allen klar, dass wir dort, wo die
Fazilität nicht funktioniert, nachbessern müssen. Es
macht keinen Sinn, eine Fazilität, die ein Problem mit
dem Triple A hat, was seinerzeit in der Diskussion noch
nicht absehbar war, nur deshalb unverändert beizubehalten, weil man sich nicht bewegen will.
Ich habe Verständnis für die Bedenken, was Konditionalität und Ultima Ratio angeht. Das muss in die Verträge passen. Es müssen auch weiterhin Verstöße gegen
die No-bail-out-Klausel eingeschränkt werden. Ich erwarte aber von der Bundesregierung Bewegung in dieser
Frage. Ich glaube, um eine solche Bewegung zu ermöglichen, ist es wichtig, dass sich die Koalition endlich auf
eine Position einigt, damit wir in dieser Debatte eine
Vorreiterrolle einnehmen können. Das wünsche ich mir
von Ihnen. Denn aus meiner Sicht verpassen Sie gerade
eine Chance.
Theo Waigel hat wie andere Deutsche auch in den
Verhandlungen über den Euro die Grundentscheidung
durchgesetzt, das Wirtschaftsmodell der Europäischen
Union sozusagen nach dem deutschem Zielmaßstab der
Preisstabilität auszurichten. Dieses Ziel ist gerade im
Hinblick auf den Euro - ich verweise auf Art. 119
AEUV - so fest in den Verträgen verankert worden wie
kaum ein anderes Ziel. Natürlich ist die Entscheidung
bislang nicht handlungsmächtig gewesen. Diese Krise
mit ihren großen Schwierigkeiten, Herausforderungen
und Gefahren bietet aber sowohl Ihnen als auch uns die
Chance, diese Grundsatzentscheidung auf dem Papier zu
einer in der Realität zu machen. Deshalb verstehe ich die
zaudernde und zögernde Haltung nicht, die die Bundesregierung an den Tag legt.
({2})
Wirtschaftsregierung und Wirtschaftskoordinierung
sind ein großes Thema. Das europäische Semester hat
jetzt mit dem Bericht der Europäischen Kommission begonnen. Wir wollen, dass sich daran auch der Deutsche
Bundestag engagiert beteiligt. Eine Wirtschaftsregierung
kann nur funktionieren, wenn man nicht nur über Instrumente redet, sondern sie auch mit Leben erfüllt. Im nun
begonnenen europäischen Semester kann der Deutsche
Bundestag den Beweis liefern, dass er sich dieser Sache
annimmt. Deswegen wollen wir am 9. Februar eine
möglichst hochrangige Unterrichtung durch die Bundesregierung über dieses Thema in den Ausschüssen haben.
Wir Grüne werden, wenn es um Fragen betreffend eine
Wirtschaftsregierung und den Euro-Rettungsschirm
geht, immer auf die parlamentarischen Rechte und die
parlamentarische Beteiligung achten,
({3})
und zwar auch an den Stellen, wo es uns selber wehtut,
wenn zum Beispiel zu viele Informationen oder unbequeme Wahrheiten kommen. Der Deutsche Bundestag
ist dafür da, dass die schwierigen Entscheidungen, die
anstehen, legitim getroffen werden, und zwar so, dass sie
von der Bevölkerung als legitim angesehen werden. Danach werden wir uns weiterhin richten.
Herr Hoyer, Ihr Haus hat einen Minister, der in seiner
Eigenschaft als normalerweise beliebtester Politiker des
Landes besonders gut für etwas, das nicht so beliebt ist,
eindringlich werben kann. Es darf gerne auch pathetisch
werden. In dieser Debatte fragen wir uns: Ist der Außenminister nicht auch Europaminister? Ich habe Herrn
Brüderle vor einer seltsamen Europaflagge auf der
Treppe gesehen. Aber ich habe in der ganzen Krise kein
richtig mahnendes oder klares Wort des Außenministers
vernommen. Er ist nicht als wortgewaltiger Verfechter
der weiteren notwendigen proeuropäischen Schritte,
sondern eher als reiner Dementiminister aufgefallen.
({4})
Ich komme zum Schluss. Wenn in dieser schwierigen
Zeit, in der so viel passiert, der Außenminister nicht bereit ist, die Gunst der Stunde zu nutzen, dann hoffe ich,
dass wenigstens der Deutsche Bundestag die Bundesregierung vor sich hertreibt und dafür sorgt, dass die
Gunst der Stunde nicht ungenutzt bleibt.
({5})
- Sie sind da und hören uns zu. Das entschädigt mich für
alles.
Danke sehr.
({6})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Thomas Silberhorn.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist völlig richtig, dass wir über das Arbeitsprogramm der Kommission für 2011 vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise diskutieren.
Die Kommission legt deswegen völlig zu Recht einen
Schwerpunkt auf die Wachstumsbelebung und auf die
Schaffung von Arbeitsplätzen. Das steht am Beginn ihres Arbeitsprogramms für 2011. Wir müssen zu einem
stabilen Wachstum zurückkehren. Die Zahlen sind
durchaus erfreulich. Wir haben laut dem Herbstgutachten der Kommission in der gesamten Europäischen
Union ein Wachstum von 1,7 Prozent in diesem Jahr und
2,0 Prozent im nächsten Jahr zu erwarten. Die deutschen
Zahlen sind weit besser. Das heißt, Deutschland ist die
Wachstumslokomotive der Europäischen Union. Wir
müssen von daher klare Impulse für Wachstum, die Belebung der Wirtschaft und neue Arbeitsplätze setzen.
Damit finden wir den schnellsten Weg aus der Wirtschaftskrise heraus.
Wir sind wirtschaftlich gesund; aber die Euro-Krise
stellt natürlich eine erhebliche Gefährdung dar. Ich habe
überhaupt kein Verständnis dafür, wenn ständig an die
Solidarität appelliert wird, dabei aber unter Solidarität
verstanden wird, dass insbesondere wir Deutschen die
Schulden aller anderen in der Europäischen Union aufkaufen sollen. Die Geschäftsgrundlage - das steht in den
Verträgen - ist, dass es keine Transferunion gibt, dass jeder Staat für seine Schulden einsteht.
({0})
- Selbstverständlich steht das so in den Verträgen. Deswegen muss die Solidarität in der Europäischen Union
darin bestehen, dass wir uns gemeinsam auf den Weg
machen, um in einer globalisierten Weltwirtschaft wieder wettbewerbsfähig zu werden. Wir müssen Anreize
dafür schaffen, dass die Mitgliedstaaten in der EuroZone ihre strukturellen Reformen angehen. Daran hapert
es doch. In vielen Staaten der europäischen WirtThomas Silberhorn
schaftsunion gab es in den letzten Jahren keine strukturellen Reformen in den sozialen Sicherungssystemen
und auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb sind sie in die Verschuldung abgeglitten.
({1})
Dort muss angesetzt werden, um in diesen Staaten eine
Ordnung zu schaffen, die stabiles Wachstum ermöglicht.
({2})
Ihr Vorschlag, wir sollten Euro-Bonds auflegen, ist
abenteuerlich. Haben Sie sich einmal ausgerechnet, was
das alles kostet?
({3})
Wenn wir Schuldenagenturen schaffen, die alle Staatsanleihen in Europa aufkaufen, dann werden alle Schulden,
die irgendwo in Europa gemacht werden, vergemeinschaftet. Somit würde eine gesamtschuldnerische Haftung für alle Schulden in der Europäischen Union geschaffen.
({4})
Das Ergebnis wäre nicht nur, dass Deutschland den
größten Teil dieser Schulden tragen muss, sondern auch,
dass wir die Europäische Union selbst verschulden würden.
({5})
Der Charme der Europäischen Union ist doch, dass sie
aufgrund ihrer sehr soliden Haushaltspolitik im Gegensatz zu fast allen Mitgliedstaaten der Euro-Zone keine
Schulden macht.
Deswegen sagen wir Nein zu Schuldenagenturen,
Nein zu Euro-Bonds, Nein zur Schuldenübernahme. Das
darf auch nicht durch die Hintertür geschehen. Deswegen sage ich - adressiert an die Bundesregierung und namentlich an das Bundesministerium der Finanzen -: Dafür gibt es nach meiner Wahrnehmung in dieser
Regierungskoalition zu Recht keine Mehrheit.
({6})
Wir müssen natürlich auch die wirtschaftspolitische
Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten in der
Euro-Zone verbessern. Das ist gar keine Frage.
Kollege Silberhorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Sarrazin?
Aber gerne. Bitte schön.
Herr Silberhorn, offenkundig ist es Ihnen noch nicht
bekannt; deswegen formuliere ich es so: Sind Sie bereit,
etwas von mir anzunehmen, zu lernen bzw. mir zu glauben?
({0})
Würden Sie mir glauben, dass die Vorschläge im Hinblick auf das Modell der Euro-Bonds, die Juncker und
Tremonti sowie Bruegel gemacht haben, nicht zu Ihrer
Umschreibung passen, sondern sowohl vereinbar sind
mit den bestehenden Vertragsmerkmalen als auch mit
der Funktionsweise des Art. 125 des EU-Vertrages sowie
der individuellen Bonitätsbewertung jedes einzelnen
Landes? Da es deutlich schwieriger ist, Red Bonds zu finanzieren, würde man sogar einen starken Anreiz für solide Haushaltsführung setzen, und zwar einen stärkeren
Anreiz, als er bisher im Sanktionsmechanismus des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verankert ist.
Nein, Herr Kollege Sarrazin, ich glaube Ihnen kein
Wort.
({0})
- Ich bin noch nicht fertig mit meiner Antwort.
({1})
Bei allem Respekt - auch vor dem Ministerpräsidenten
Juncker und Herrn Tremonti -: Es ist naiv, anzunehmen,
man könne Schulden in 60 Prozent, für die man EuroBonds auflegt, und 40 Prozent, die die Mitgliedstaaten
selber tragen, splitten. Die Reaktion der Finanzmärkte ist
doch offenkundig: Man würde testen, wie weit die Solidarität der Mitgliedstaaten der Eurozone geht. Man
würde die 60 Prozent ausschöpfen und dann fragen: Wie
sieht es jetzt mit den 40 Prozent aus? - Was geschieht,
wenn die 40 Prozent der Mitgliedstaaten, etwa Griechenlands oder anderer Staaten, nicht getragen werden können? Ist die Europäische Union dann weiterhin solidarisch - dann wäre Ihr Modell bereits gescheitert -, oder
ist sie nicht solidarisch? In diesem Fall würde man Umschuldungen vornehmen müssen. Dafür haben wir aber
noch kein Modell. Das funktioniert also hinten und
vorne nicht.
Ich sage Ihnen, was funktionieren würde: Man muss
genau das tun, was der Internationale Währungsfonds
mit seinen Experten seit Jahren betreibt. Man muss den
hochverschuldeten Staaten die Möglichkeit eröffnen,
umzustrukturieren und umzuschulden.
({2})
Meine Prognose ist: Je später wir das hinbekommen,
desto teurer wird es werden. Wir sind durch die Akteure
auf den Finanzmärkten einem permanenten Stresstest
ausgesetzt. Wir werden diesen Stresstest nicht dadurch
bestehen, dass wir immer frisches Geld in die Märkte
pumpen. Wir müssen uns vielmehr den strukturellen Reformen, die die Ursache für die Krise sind, widmen und
in den Mitgliedstaaten der Euro-Zone eine stabile Haushaltspolitik verfolgen.
({3})
Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir müssen den Stabilitäts- und Wachstumspakt schärfen. Wir müssen die
strukturellen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in den
sozialen Sicherungssystemen angehen.
({4})
Wir müssen es am Ende auch ermöglichen, dass sich
hochverschuldete Staaten restrukturieren und umschulden, teilweise zulasten der privaten Gläubiger,
({5})
die auf einen Teil ihrer Forderungen werden verzichten
müssen.
({6})
Hinzu kommt, dass wir die wirtschaftspolitische Koordinierung und Überwachung in den Mitgliedstaaten
der Euro-Zone verbessern müssen. Dabei müssen wir
uns an den Wachstumstreibern in der Europäischen
Union orientieren. Wir können doch nicht die Starken
künstlich schwächer machen und glauben, dass wir dann
in der Europäischen Union insgesamt besser dastehen.
Ich weise darauf hin, dass wir bei der Feinsteuerung
nicht den Fehler machen dürfen, zu meinen, alles europäisch regeln zu wollen. Das wird nicht gelingen. Wir
müssen die makroökonomische Überwachung besser koordinieren. Die mikroökonomischen Fragen aber müssen
in der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten bleiben.
Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, noch in einem
Satz darauf hinzuweisen, dass uns die Europäische
Kommission ein konkretes Angebot gemacht hat, den
Dialog mit den nationalen Parlamenten zu vertiefen. Die
Kommission hat uns zugesagt, jede Stellungnahme der
nationalen Parlamente ernsthaft zu prüfen. Das bedeutet,
die Kommission wird nicht nur Subsidiaritätsstellungnahmen prüfen, also Stellungnahmen, die einen Verstoß
gegen das Subsidiaritätsprinzip rügen, auch nicht nur
Stellungnahmen zu Rechtsetzungsvorschlägen, sondern
generell jede Stellungnahme.
Ich finde, das ist ein großartiges Angebot. Wir sollten
davon Gebrauch machen,
({7})
indem wir uns intensiv einmischen in die Rechtsetzungsvorhaben und in die weiteren Vorhaben der Europäischen Union. Ich weise darauf hin, dass wir im letzten
Jahr deutlich mehr Stellungnahmen im Deutschen Bundestag verabschiedet haben, als das vor dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages vorher der Fall war. Insbesondere der Rechtsausschuss, aber auch der
Europaausschuss sind dabei fleißig gewesen.
({8})
Herzlichen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen, die
hieran mitgewirkt haben und Europapolitik durch Mitgestaltung der Europäischen Union den Bürgern näherbringen.
Vielen Dank.
({9})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Barchmann
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das Jahr 2011 erscheint auf den ersten Blick ambitioniert. Mehr als 40 Initiativen werden vorgestellt, um
die Krisen der letzten Jahre zu bewältigen und einen
neuen Aufschwung zu unterstützen, damit neue Arbeitsplätze entstehen.
Ein zentraler Bestandteil dieses Arbeitsprogramms ist
der Binnenmarkt. Damit komme ich jetzt ein bisschen
von den Finanzen weg. Es gibt schließlich noch mehr in
der Europäischen Union.
({0})
In fast allen Bereichen des Arbeitsprogramms wird
auf den Binnenmarkt Bezug genommen. Der ehemalige
Kommissar Professor Mario Monti hat in seinem Bericht
zum Neustart des Binnenmarktes wichtige Aspekte und
auch Probleme aufgezeigt. Monti stellte zum Beispiel
fest, dass der Binnenmarkt notwendiger sei als jemals
zuvor, aber bei den Menschen in Europa auch unbeliebter als jemals zuvor.
Ich denke, beides ist richtig. Daraus darf man allerdings nicht den Schluss ziehen, nun alles den vier
Grundfreiheiten des Binnenmarktes zu unterwerfen, und
dann würde schon alles gut. Nein, gerade jetzt, nach
solch schweren Krisen - der Euro hat sich immer noch
nicht stabilisiert, und daran hat auch die Bundesregierung ihren Anteil -, müssen wir erkennen, dass der
Markt ohne eine soziale Flankierung ein Irrweg ist.
Deshalb fordern wir als SPD seit Jahren, die soziale
Fortschrittsklausel in die europäischen Verträge aufzuHeinz-Joachim Barchmann
nehmen. Immer wieder wurde uns vonseiten der Regierungskoalition vorgehalten, dass der Vertrag von Lissabon nicht neu zu verhandeln sei und man keine Chance
habe, daran etwas zu ändern. Was wir aber im Dezember
in Brüssel erlebt haben, zeigt, dass durchaus noch Möglichkeiten vorhanden waren. Dort wurde nämlich kurzfristig eine Änderung des Vertrages vom Europäischen
Rat beschlossen.
Verstehen Sie mich in dieser Beziehung bitte nicht
falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dieser Akt
europäischer Solidarität in finanzpolitischen Fragen war
wichtig und richtig. Deutschland hat schließlich auch ein
massives Interesse an der Stabilität der Gemeinschaftswährung. Zu diesem Zeitpunkt hat die Bundesregierung
aber wieder einmal die Chance verpasst, endlich die soziale Fortschrittsklausel in die Verträge hineinzuverhandeln.
({1})
Das alleinige Starren auf die Euro-Krise und etwaige
Krisenmechanismen greift einfach zu kurz. Wir müssen
in der Tat die Europäische Union weiterentwickeln.
Dazu gehört neben der politischen Union und einer koordinierten Wirtschafts- und Finanzpolitik ein verbindlicher sozialer Rahmen. Dieser muss in ganz Europa Mindeststandards setzen und den Bürgerinnen und Bürgern
Europas Schutz und Sicherheit bieten. Genau das wäre
die soziale Fortschrittsklausel. Leider hat auch die Kommission nicht den Mut bewiesen, diese Klausel im
Single Market Act vorzuschlagen, sondern sie hat sich
auf einen butterweichen Kompromiss verständigt. Hier
enttäuscht uns Sozialdemokraten die Kommission. Hier
hatten wir auch nach dem Bericht von Professor Monti
mehr erwartet.
Wirtschafts- und Sozialpolitik sind keine Gegensätze.
Deshalb darf es nicht sein, dass vor dem Europäischen
Gerichtshof wirtschaftliche Grundfreiheiten Vorrang vor
sozialen Rechten erhalten. Die soziale Fortschrittsklausel ist ein Schritt, um die Bürgerinnen und Bürger Europas mit dem Binnenmarkt zu versöhnen. Das ist genauso
wichtig wie die Maßnahmen zur Stabilisierung des Euros. Nur wenn die Menschen der Europäischen Union ihren Institutionen vertrauen und sich in ihr sicherfühlen,
können sie ihre kreativen Fähigkeiten entfalten. Vertrauen in die soziale Sicherheit ist für die soziale Marktwirtschaft ein wichtiges konstitutives Element. Dieses
notwendige Vertrauen wird gerade in den Ländern, die
unter der Euro-Krise am meisten zu leiden haben, massiv beschädigt.
Woher kommen denn die Schwierigkeiten des Euros?
Zum einen haben einige Länder über ihre Verhältnisse
gelebt. Sie müssen jetzt sparen; aber sie dürfen sich natürlich nicht kaputtsparen, wie es in Griechenland und in
Irland, nicht zuletzt auf Druck der Bundesregierung, vorgeführt wird.
({2})
Hartes Sparen allein reicht nicht aus, um die Krise zu bewältigen, nein, sie verschärft sie nur noch. Das ist auch
für die deutsche Wirtschaft gefährlich; denn wenn unsere europäischen Nachbarn als unsere Kunden ausfallen, dann schlagen deren Sparbemühungen auch bei uns
negativ durch.
Zum anderen ist die gemeinsame europäische Währung auch durch stark unterschiedliche Leistungsbilanzen der einzelnen Länder belastet. Wo einige Länder
hohe Defizite einfahren, erwirtschaftet Deutschland
enorme Überschüsse. Diese Ungleichheiten werden von
den Finanzmärkten erkannt und erbarmungslos ausgenutzt. Der Euro wird als unsicher bewertet.
Was macht die Bundeskanzlerin? Anstatt mit klaren
Maßnahmen für Ruhe in den Märkten zu sorgen, zaudert
und zögert sie weiter. Sie führt über die Presse Debatten
mit Kommissionspräsident Barroso über die Ausweitung
des Rettungsschirmes, der, so hört man zumindest, intern
schon zugestimmt wurde. So beruhigt man die Finanzmärkte nicht, sondern so lädt man Spekulanten dazu ein,
gegen den Euro zu wetten.
Zur Bewältigung der Krise brauchen wir eine stärkere
wirtschaftspolitische Koordinierung der Europäischen
Union, sodass die Leistungsbilanzungleichgewichte innerhalb des Euro-Raumes nicht so stark auftreten können. Es geht nicht darum, Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit zu schwächen, sondern darum, die Leistungsbilanzüberschüsse durch die Steigerung der Binnennachfrage zu verringern. Wir brauchen eine schrittweise
Angleichung der Lebensverhältnisse in Europa: mit hohem Beschäftigungsniveau, stetigem Wirtschaftswachstum und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht. Auf diesem Weg kann die soziale Fortschrittsklausel intensiv
helfen.
({3})
Es ist heute zu früh, um das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für dieses Jahr abschließend zu
beurteilen. Das kann man erst, wenn die konkreten Vorschläge auf dem Tisch liegen.
Kollege Barchmann, achten Sie bitte auf das Signal.
Ja. - Eines allerdings hat die Kommission der Bundesregierung voraus: Sie hat schon einmal ein Programm
für die Weiterentwicklung Europas. Die Bundesregierung scheint nicht einmal eine genaue Vorstellung von
Europa zu haben. Das ist wirklich ein Problem für
Deutschland und Europa.
Danke.
({0})
Der Kollege Detlef Seif hat für die Unionsfraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese
Debatte hat eines gezeigt: dass der Schwerpunkt des Arbeitsprogramms der Kommission richtig gelegt ist. Wir
alle sind bewegt nach der schwersten Wirtschaftskrise,
der Finanzmarktkrise und den erheblichen Anstrengungen im letzten Jahr, um die Stabilität des Euros sicherzustellen. All dies sind Gründe dafür, dass das ganz oben
auf der Agenda der Kommission steht.
Die Kommission will - das ist ein Schlagwort - die
„wirtschaftspolitische Steuerung“ stärken. Ich denke,
dieser Begriff, der harmlos aussieht, zeigt den Widerspruch, der auch in diesem Hause herrscht. Wir haben
unterschiedliche politische Auffassungen. Die einen sind
der Meinung, man muss mehr regulieren und steuern;
der Staat soll sich möglichst bis ins Detail einmischen.
Die anderen sagen, die Kräfte werden durch den Markt
freigesetzt; sie sind zu bändigen und in gesunde Rahmenbedingungen zu fassen. Deshalb muss das Motto
- das gilt auch für die Kommission - lauten: Sinnvolle
Rahmenbedingungen ja, aber kontraproduktive und bürokratische Überregulierung nein.
Das war meine Feststellung zu dem Teil, der jetzt eigentlich die gesamte Debatte ausgefüllt hat. Es gibt aber
noch ein paar weitere Punkte in dem Arbeitsprogramm
der Kommission. Die „Agenda für Bürgernähe: Freiheit,
Sicherheit und Recht“ soll fortgeschrieben werden. Hier
ist besonders die Unsicherheit für Unternehmen zu erwähnen, welches Recht bei Vertragsabschlüssen überhaupt zur Geltung kommt. Das ist ganz wichtig; denn die
Unsicherheit führt nicht nur zu rechtlichen Schwierigkeiten, sondern kann auch handfeste wirtschaftliche
Konsequenzen haben.
Ganz wichtig ist auch die Richtlinie über die Rechte
von Opfern von Straftaten. Erstmals soll in den EU-Staaten insgesamt das Opfer der Straftaten im Fokus stehen.
Ihm sollen die notwendigen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen in allen EU-Ländern zuteilwerden.
Die Kommission legt ihren Fokus auch auf die Stärkung der Präsenz Europas auf der internationalen Bühne.
Ausdrücklich heißt es in dem Programm: Der Europäische Auswärtige Dienst, EAD, soll unterstützt werden. In diesem Jahr wird es darauf ankommen, ob die Kommission die Kompetenzen der Hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik tatsächlich anerkennt oder ob
es hier zu erheblichen Reibungsverlusten innerhalb der
EU kommen wird.
({0})
Die Frage ist: Wird hier eventuell eine Doppeldiplomatie
eröffnet, die im Nachhinein belegen würde, dass es sich
bei dem Satz in diesem Programm lediglich um eine
leere Phrase handelte? Das bleibt abzuwarten.
Einige Umweltverbände haben den Kommissionspräsidenten Barroso kritisiert und gesagt: Das Programm ist
wirtschaftslastig. Das soll im Ergebnis bedeuten: Energiepolitik und Umweltpolitik spielen in diesem Programm kaum eine Rolle. Aber der Teufel steckt im Detail. Das Arbeitsprogramm besteht nicht nur aus den
zwölf Seiten Text, sondern auch aus den 40 strategischen
Initiativen. Es gibt vier Initiativen, die im Bereich der
Umwelt- und Energiepolitik einschlägig sind: der Fahrplan für eine CO2-arme Wirtschaft bis 2050, der europäische Energieeffizienzplan bis 2020, der Fahrplan für
erneuerbare Energien bis 2050 und die Richtlinie zu
Energieeffizienz und Energieeinsparung.
Was mir aber völlig fehlt, ist wenigstens ein Satz zu
der Frage: Welche Reduktionsziele verfolgt die Kommission? Gilt das Ziel der Reduktion um 20 Prozent bis
zum Jahr 2020 im Verhältnis zum Referenzjahr 1990
noch? Oder hat sich da irgendetwas getan? Wird immer
noch die Erhöhung des Reduktionsziels auf 30 Prozent
- unter der Bedingung, dass auch andere Volkswirtschaften mitziehen - angestrebt? Das Europäische Parlament
hat mit Blick auf Cancún durch eine Entschließung ein
Zeichen gesetzt, nämlich: bedingungslose Erhöhung auf
30 Prozent.
Ich teile ausdrücklich die Meinung des Bundesumweltministers Norbert Röttgen, dass sich die Europäische Union hier als Vorreiter positionieren sollte. Ein
„Weiter so“ hilft uns in der Klimapolitik nicht. Nachdem
die Kopenhagener Konferenz gescheitert und Cancún
„wenig mehr als nichts“ ist - so ein Originalzitat im
Handelsblatt -, wird es Zeit, dass hier deutliche Zeichen
- von Deutschland und auch von der Europäischen
Kommission ausgehend - gesetzt werden. Wir sollten
uns deshalb für das bedingungslose Reduktionsziel von
30 Prozent einsetzen.
Als Argument gegen diese Ansicht wird angeführt,
die Wettbewerbsfähigkeit Europas sei gefährdet.
({1})
- Ja. - Meines Erachtens fehlt der Mut, und es fehlt die
Innovationsbereitschaft, hier auch mal einen Schritt nach
vorne zu gehen.
({2})
Das sage ich als Abgeordneter.
Die europäische Automobilindustrie hat schon einmal
gezeigt, dass sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat.
Sie ist über eine gewisse Zeit in einen Tiefschlaf verfallen. Während andere Antriebs- und Hybridtechnik entwickelt haben, die jetzt im Kommen ist - China will ein
Joint Venture mit Toyota eingehen -, müssen wir darauf
achten, dass wir noch den Anschluss finden.
Meine Damen und Herren, lernen wir daraus! Wer
heute nicht begreift, dass morgen nur die Volkswirtschaften und nur die Unternehmen wettbewerbsfähig
sind, die das berücksichtigen, ist nicht zukunftsfähig.
Wir müssen Ressourcen sparen, und wir müssen die Umwelt schützen. Machen wir Europa zukunftsfähig und
helfen wir der EU-Kommission in diesem Punkt auf die
Sprünge!
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dagmar Enkelmann, Roland Claus, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Fortsetzung der Braunkohlesanierung in den
Ländern Brandenburg, Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen nach dem Jahr 2012
- Drucksache 17/3046 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Roland Claus für die Fraktion Die Linke.
({1})
Glück auf, liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! Wir reden hier über ein gutes Stück deutscher
Einheit. Beim plötzlichen Ende der DDR waren da viele
Mondlandschaften: Braunkohletagebaue, die keiner
mehr wollte oder brauchte, geschundene Erde, schlechte
Luft und Hunderttausende Arbeitslose.
Wir erinnern: Nach dem Krieg war im Osten nichts
zur Energiegewinnung und zum Heizen - kein Öl, keine
Steinkohle -, gab es keinen Marshallplan, aber Reparationszahlungen an die Sowjetunion. Blieb nur die Braunkohle im Bitterfelder, im Lausitzer und im Zeitzer Revier, und damit entstanden die Folgen der Tagebaue.
Unser Antrag ist ein Vorschlag an das Parlament, die
Braunkohlesanierung fortzusetzen und dafür ein weiteres Bund-Länder-Abkommen abzuschließen.
({0})
Es geht um ein Abkommen des Bundes mit den Braunkohleländern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt
und Thüringen. Um die Dimension einmal zu verdeutlichen: Seit 1992 wurden hier Flächen im Umfang von
über 120 000 Hektar saniert und bewirtschaftet. Da das
niemand von uns sinnlich erfühlen kann, will ich Ihnen
sagen: Das ist etwa die Fläche von Berlin und Potsdam
zusammengenommen.
In diesem Jahr wird in meinem Wahlkreis und den
beiden umliegenden Wahlkreisen im Süden Sachsen-Anhalts mit dem Geiseltalsee der größte künstliche Binnensee in Deutschland entstehen - natürlich verbunden mit
unendlich vielen Herausforderungen zur Gestaltung einer solchen Aufgabe, aber auch mit Erwartungen zur
künftigen wirtschaftlichen und touristischen Nutzung.
Dabei kann inzwischen an sehr viele gute Erfahrungen der letzten fast 20 Jahre angeknüpft werden, die in
der LMBV, der Lausitzer und Mitteldeutschen BergbauVerwaltungsgesellschaft, gesammelt wurden. Aber es
gibt auch eine Reihe neuer Herausforderungen. Wir erinnern an die tragischen Ereignisse bei der Böschungsrutschung bei Nachterstedt und die vielleicht weniger bekannten, aber doch komplizierten Vorgänge beim
Grundwasseranstieg in den Sanierungsgebieten.
Deshalb lautet die Forderung der Bergbausanierer,
mit denen wir im guten Kontakt sind: Lasst uns den
Finanzbedarf aktuell, also auch anhand der neu gewonnenen Erkenntnisse ermitteln und nicht nur eine
schlichte Fortschreibung vornehmen! Geologie, meine
Damen und Herren, hält sich nicht an Legislaturperioden.
Seit unserer Antragstellung im September 2010 ist
das Leben natürlich weitergegangen. Das haben auch wir
verstanden, weil wir im ständigen Kontakt mit den Sanierern stehen. Es gab Verhandlungen zum Abkommen
im September und im Dezember des vergangenen Jahres. Just am nächsten Donnerstag, am 27. Januar, erwarten wir die abschließenden Beratungen. Insofern macht
es ausdrücklich Sinn, mit der heutigen Überweisung in
die Ausschüsse und den Endverhandlungen zu dem Abkommen eine Übereinkunft herzustellen. Unser Antrag
- das merken Sie - hat also bereits gewirkt. Ich will es
einmal sehr zurückhaltend formulieren: Wenn Herr Bundesminister Brüderle den Antrag zu begründen hätte,
hätte er zumindest gesagt: Der Antrag hat den Verhandlungen Flügel verliehen.
Wir fordern Sie auf: Geben Sie sich einen Ruck!
Stimmen Sie dem Antrag zu! Möglicherweise stört Sie
daran nur der Absender. Wenn es Ihnen nicht passt, dass
der Antrag von uns kommt, haben wir auch dafür einen
Lösungsvorschlag: Wir können in dem damit befassten
Ausschuss daraus sehr wohl einen interfraktionellen Antrag machen. Stimmen Sie also unserem Antrag zu!
Stimmen Sie damit für ein weiteres gutes Stück deutscher Einheit!
Glück auf!
({1})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Michael
Luther das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Linken haben einen Antrag zum Thema
Fortsetzung der Sanierung der Braunkohlealtstandorte
vorgelegt. Ich kann diesem Antrag auch etwas Gutes abgewinnen; denn Sie stellen am Anfang fest, dass die Sanierungen der letzten 20 Jahre eine Erfolgsgeschichte
der deutschen Einheit darstellen. Sie loben damit die Regierungen der letzten 20 Jahre.
({0})
Da die CDU/CSU an diesen Regierungen viele Jahre beteiligt war, halte ich das für erfreulich. Das sollten Sie
als Opposition öfter tun.
Die Braunkohlesanierung ist, wie gesagt, eine Erfolgsgeschichte. Sie wurde 1992 unter einer schwarzgelben Bundesregierung begonnen. Alle weiteren Regierungen haben sie fortgesetzt. Ich denke, wir werden sie
in dieser Legislaturperiode unter einer schwarz-gelben
Bundesregierung zu einem guten Ende bringen.
({1})
Die Braunkohlesanierung hat den Steuerzahler viel
Geld gekostet, bis Ende 2012 rund 8,5 Milliarden Euro.
An dieser Stelle will ich einmal Danke sagen für die Solidarität, die hier gezeigt worden ist.
({2})
Das Lob im Antrag ist in Ordnung. Allerdings ist der
nachfolgende Teil in Ihrem Antrag ziemlich überflüssig.
Warum ist das so? Auch ohne Ihren Antrag haben die
Verhandlungen längst begonnen. Daran kann man eine
gewisse Kontinuität erkennen. Schließlich handelt es
sich bei dem Abkommen, das jetzt geschlossen werden
soll, um das fünfte Abkommen seiner Art. Man kann am
zeitlichen Verlauf deutlich erkennen, dass man immer
rechtzeitig angefangen hat, darüber nachzudenken, was
der nächste Schritt ist, welche Maßnahmen fortgesetzt
werden müssen und welche neuen Aufgaben hinzukommen. Man hat sich dementsprechend über die notwendigen Finanzierungen verständigt.
Aus diesem Grunde sage ich: Was im Antrag gefordert wird, ist für mich nicht neu. Die Bundesregierung
verhandelt über das 5. Verwaltungsabkommen seit dem
letzten Sommer. Ich bin mir sicher, dass wir die Verhandlungen in diesem Jahr zu einem guten Ende führen
werden. Ihr Antrag ist nicht notwendig; denn es gibt
überhaupt keinen Grund, am Handlungswillen der Bundesregierung zu zweifeln. Ich denke, die letzten 20 Jahre
haben bewiesen, dass für uns die Sanierung immer ein
wichtiges Thema war.
({3})
Bis Ende 2012 werden rund 97 Prozent der bergmännischen Sicherungsarbeiten abgeschlossen sein. In Zukunft geht es maßgeblich um andere Themen wie die
Wiedernutzbarmachung und die Verwertung der sanierten Flächen. Es geht aber auch um die Abwehr von Gefahren, die sich für Häuser und Gebäude durch den Wiederanstieg des Grundwassers ergeben.
1990 wurde das ganze Ausmaß der notwendigen Sanierungsaufgaben sichtbar. Im Ergebnis gab es bislang
- ich habe das schon gesagt - vier Verwaltungsabkommen über die Regelung zur Finanzierung der Beseitigung der ökologischen Altlasten. Bund und Länder haben sich damals darauf geeinigt - das gilt auch heute
noch -, dass der Bund 75 Prozent und die Länder 25 Prozent der Kosten tragen.
Aber mit dem Fortschreiten der bergbaulichen Sicherungsmaßnahmen wurden neue Aufgaben erkannt, insbesondere diejenigen, die sich aus den Gefahren des
Wiederanstiegs des Grundwassers ergeben. Wir brauchen hier einen ausgeglichenen Wasserhaushalt. Dafür
zu sorgen, ist eine entscheidende Aufgabe, die vor uns
liegt. Der schon erwähnte Böschungsrutsch in Nachterstedt im Sommer 2009, bei dem leider drei Todesopfer zu beklagen waren, aber auch Erdrutsche beispielsweise im Spreetal im letzten Jahr zeigen, dass es
notwendig ist, hier zu einer Normalisierung der wasserwirtschaftlichen Verhältnisse zu kommen. Hier haben
sich Bund und Länder verständigt, abweichend von der
Sanierungskostenaufteilung zu einer Kostenaufteilung
von 50 zu 50 für Bund bzw. die Länder zu gelangen.
Diese Einigung gilt; diese Einigung steht. Ich habe noch
niemanden gehört, der das anders will - bis jetzt zum
Antrag von den Linken. Ich weiß auch nicht, warum wir,
wenn diese Kostenaufteilung akzeptiert ist, in Zukunft
zu einer anderen Kostenaufteilung kommen sollen. Ich
sehe hier also keinen Grund, etwas zu verändern. Deshalb halte ich den Antrag für einen reinen Schaufensterantrag, wo hinter der Scheibe lauter alte Hüte ausgestellt
werden.
Aber erlauben Sie mir an dieser Stelle noch ein Wort
dazu. Ich habe mir bei der Vorbereitung auf diese Rede
natürlich die Frage gestellt, warum wir um Himmels willen sanieren und so viel Geld ausgeben müssen. Ich will
es mit einer anderen Sache verknüpfen. Die Linke hat
mit ihrer Kommunismusdebatte in den letzten Tagen
wieder einmal gezeigt, worum es hier in Wahrheit geht,
nämlich - die Vorsitzende hat es erklärt -: Sie wollen
den Kommunismus. Die Braunkohlesanierung ist ein typisch ostdeutsches Thema. Sie ist für mich eine direkte
und unmittelbare Folge der DDR-Misswirtschaft. Wer
hat diese verursacht? Das passierte unter der Führung
der Staatspartei SED, in deren Tradition sich die Linken
heute stellen.
({4})
Raubbau an natürlichen Ressourcen, Umweltzerstörung in riesigem Ausmaß, Nichtrekultivierung von zerstörten Landschaften - das sind für mich Folgen des real
existierenden Sozialismus auf dem Weg zum Kommunismus.
({5})
Ich habe immer fein aufgepasst, was im Neuen Deutschland stand.
Der real existierende Sozialismus hat diejenigen
mundtot gemacht, die versucht haben, genau auf diese
Probleme hinzuweisen; die SED hat sie ins Gefängnis
gesteckt. Die Linken stellen sich in die Tradition dieser
Partei und wollen letztendlich das Gleiche.
({6})
Ich muss sagen: Ich bin froh, dass wir im letzten Jahr
20 Jahre deutsche Einheit feiern konnten und dass ich
nicht im 60. Jahr der Diktatur des Kommunismus leben
muss.
({7})
Der Braunkohleabbau, die Art und Weise, wie er betrieben wurde, und die damit in Verbindung stehende Umweltzerstörung waren für mich als Ostdeutscher real erlebter Kommunismus, und diese Erfahrung will ich nicht
wiederholen müssen.
({8})
Die Braunkohlesanierung unter marktwirtschaftlichen
Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland ist
eine Erfolgsgeschichte. Das 5. Verwaltungsabkommen
wird diese Erfolgsgeschichte fortsetzen. Dafür brauchen
wir den Antrag der Linken nicht und erst recht keine Belehrungen durch sie.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Peter
Danckert das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal möchte ich Ihnen gute Besserung wünschen. Das ist wirklich ein lang andauernder Prozess,
den Sie durchmachen müssen.
Danke. Ich arbeite daran.
Ich weiß nicht, ob Sie sich bei der Kanzlerin angesteckt haben. Ich hoffe nicht.
Ich fürchte, es war eher umgekehrt, wenn ich das im
zeitlichen Ablauf betrachte.
Wir haben heute einen Antrag zur Braunkohlesanierung vorliegen. Lieber Kollege Luther, ich finde es eigentlich gar nicht schade, dass man auch im Rahmen der
Beratung eines solchen Antrags über dieses Thema redet. Wann sollten wir sonst darüber reden, wenn nicht
anhand eines Antrags? Wenn er von den Linken kommt,
finde ich das überhaupt nicht schädlich. Es ist - das haben Sie auch hervorgehoben - ein gesamtdeutsches Erfolgsprojekt. Es handelt sich um ein Riesenareal, das
hier peu à peu saniert worden ist und saniert wird. Wir
haben inzwischen über 8 Milliarden Euro investiert, und
wir sind noch nicht am Ende. Wir haben vier sehr erfolgreiche Verwaltungsabkommen hinter uns. Ich finde, das
ist schon eine gute Leistung. Bei aller grundsätzlichen
Zuständigkeit des Bundes haben die Länder Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen mitgemacht. Es war in den letzten Abkommen nicht immer
ganz einfach, einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Aber ich finde, das ist eine Erfolgsgeschichte. Über die
kann man im Parlament auch reden.
Ich gebe zu, dass da nicht alles neu ist. Verehrter Kollege Claus, auch ohne Ihren Antrag hätten sich der Bund
und die vier Länder damit beschäftigen müssen. Das haben sie übrigens zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Antrag
verfasst worden ist, schon längere Zeit getan. Außerdem
gibt es die Verpflichtung aus § 5 des 4. Verwaltungsabkommens, sich damit zu beschäftigen und rechtzeitig ein
neues Abkommen zu erarbeiten. Von daher ist der Antrag nicht so fundamental, dass ohne ihn diese Dinge
nicht zur Sprache gekommen wären.
Hier ist eine ökologische Meisterleistung - sie ist
noch nicht abgeschlossen - vollbracht worden. Die
Braunkohlesanierung bringt tagtäglich auch neue Probleme mit sich; wir haben von den Vorfällen in den letzten Monaten gehört. Aber hier muss auch - ich wende
mich an den Staatssekretär Steffen Kampeter als einfachen Abgeordneten ({0})
ein gewaltiger Kraftakt vollbracht werden. Im letzten
Verwaltungsabkommen für die Jahre von 2008 bis 2012
sind es etwa 1 Milliarde Euro. Wir Brandenburger profitieren in einer Größenordnung von 480 Millionen davon,
allerdings sind es auch 180 Millionen aus Landesmitteln.
Es ist also ein gemeinsames Projekt.
Die LMBV hat einen Bericht über den Status quo erarbeitet, der genau sagt, wo wir uns im Hinblick auf die
bergrechtliche und wasserrechtliche Situation im Moment befinden, und daraus eine Plausibilitätsplanung gemacht, um das Sanierungsgeschehen weiter zu begleiten.
In dieser Etappe hat sich gezeigt, dass wir nicht nur sanieren müssen, sondern auch sanierte Flächen nacharbeiten müssen, damit die Sicherheit für unsere Bürgerinnen
und Bürger an dieser Stelle gegeben ist. Wir haben ganz
erhebliche wasserrechtliche Probleme zu lösen - dabei
geht es um die Wasserqualität -, was ebenfalls eine
große ökologische Herausforderung ist. Auch dies
kommt den Menschen in der Region zugute.
Die Abwehr von Gefahren aus dem Grundwasserwiederanstieg muss fortgeführt werden. Diese Gefahren, die
sich aus einer Kombination von Altbergbau und Grundwasserwiederanstieg ergeben, sind natürlich in die Sanierungsbemühungen einzubeziehen, um - ich habe es
eben schon gesagt - auch das Hab und Gut der Bürgerinnen und Bürger sowie Gewerbeflächen sicher zu schützen. Dies ist wirklich eine große Herausforderung.
In Ihrem Antrag beziffern Sie den Abarbeitungsstand
mit etwa 97 Prozent. Dies werden wir in der Beratung im
Haushaltsausschuss noch einmal zur Sprache bringen;
denn das ist nach dem, was ich aus dem Kreis der auf der
Arbeitsebene Tätigen höre, bei weitem noch nicht erreicht. Das heißt, es gibt hier auch zusätzliche finanzielle
Verpflichtungen für den Bund und die Länder. Ich hoffe,
Herr Staatssekretär, dass diese Aufgabe, die primär beim
Bund liegt, ernst genommen wird und sich darüber keine
größere Debatte ergibt, damit dieses riesige Projekt auch
zu Ende geführt werden kann.
Wir werden das Jahr 2011 abwarten müssen, um einen zwischen Bund und Ländern abgestimmten Entwurf
hinzubekommen. Dann wird sicherlich noch einmal hier
im Parlament darüber debattiert werden. Ich vermute,
dass in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres eine Lösung gefunden werden kann. Im Haushaltsausschuss und
in den mitberatenden Ausschüssen werden wir noch genügend Gelegenheit haben, diese Dinge im Detail zu erörtern und die historische Aufgabe hinreichend zu würdigen. Immerhin ist dies eines der ganz großen
gesamtdeutschen Projekte, das für viele andere Regionen beispielhaft ist, die mit Braunkohlebergbau zu tun
haben. Ich freue mich auf die Debatte in den Ausschüssen.
Vielen Dank.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Haustein das
Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Braunkohle ist ein fossiler
Brennstoff; das ist bekannt.
({0})
Ihr Wasseranteil beträgt 50 Prozent. In den festen Bestandteilen sind ungefähr 70 Prozent Kohlenstoff und
3 Prozent Schwefel enthalten; der Rest ist Erde. Deshalb
hatte die Rohbraunkohle bei uns im Osten den Spitznamen „Heilerde“. Es ist öfter mal passiert, dass das Feuer
im Kessel ausgegangen ist, anstatt schön weiterzubrennen.
Stellt euch vor, es gab einen Staat, der praktisch über
eine einzige Energiequelle verfügte, nämlich die Braunkohle.
({1})
Es gab riesige Tagebaue, große Schaufelradbagger und
Eimerkettenbagger. Es gab kilometerlange Transportstrecken, um die Rohbraunkohle zu den Kraftwerken zu
schaffen, wo sie verstromt wurde, oder um sie zu den
Verladebahnhöfen zu bringen, von wo aus die Braunkohle im Land zum Verfeuern verteilt wurde.
({2})
Besser war es, die Rohbraunkohle zu veredeln und sie zu
Briketts oder zum BHT-Koks, zum Braunkohlehochtemperaturkoks, zu verarbeiten.
Die Braunkohle bildete die Grundlage der Energiewirtschaft der DDR. Dies hatte zur Folge, dass auf einer
Fläche von 1 400 Quadratkilometern, ungefähr von hier
bis nach Dresden, auf einem 10 Kilometer breiten Streifen Tagebaue angelegt wurden. Damit wurde Raubbau
an der Natur und am Menschen betrieben. Es wurde
rücksichtslos abgebaut; man hatte nur die Produktion
von bis zu 300 Millionen Tonnen pro Jahr im Blick. Das
war Fakt; so war es bis 1990: öde Landschaften, Unland,
Umweltverschmutzung hoch fünf.
Dann kam die Wende, und damit kamen glücklicherweise ein verehrter Herr Bundeskanzler Kohl und ein
Außenminister Genscher, die das Problem erkannt haben
und die Weichen richtig gestellt haben. Das war entscheidend. In den ersten beiden Jahren wurden über
112 000 Menschen im Rahmen von ABM in den Braunkohletagebauen beschäftigt. Mit dem 1. Verwaltungsabkommen von 1993 wurde die Braunkohlesanierung geregelt. Das ist wirklich eine Erfolgsgeschichte: 97 Prozent
der Flächen sind bereits bergmännisch saniert,
87 Prozent sind rekultiviert. Es tut gut, so etwas Schönes
sagen zu können.
Zum Antrag der Linken. Sie mahnen verschiedene
Punkte an, die sowieso schon überholt sind. Die Verhandlungen, deren Abschluss Sie fordern, laufen bereits
- mein verehrter Herr Kollege Michael Luther hat es gesagt -;
({3})
in der nächsten Woche, am 26. oder am 27. Januar,
kommt die Gruppe zusammen und wird die Weichen für
das 5. Verwaltungsabkommen richtig stellen.
Sie fordern, die Braunkohlesanierung „als öffentliche
Aufgabe zu betrachten.“ Sie wird zwar von einem Privatbetrieb durchgeführt, aber der Bund ist einziger Gesellschafter des Unternehmens und hält 100 Prozent.
Also wird die Braunkohleförderung schon jetzt als eine
öffentliche Aufgabe durchgeführt.
Sie fordern, genug Geld zur Verfügung zu stellen. Das
ist selbstverständlich notwendig, um hier zu einem guten
Ende zu kommen. Wir sollten aber nur so viel Geld wie
nötig bereitstellen. Nur das, was sein muss, was wir unbedingt machen müssen, sollte gemacht werden, nicht so
viel wie möglich.
({4})
Eine weitere Forderung bezieht sich auf „Maßnahmen
zur Abwehr von Gefährdungen … im Zusammenhang
mit einem Wiederanstieg des Grundwassers“. Das ist natürlich so eine Sache. Sie wissen ja: Der Erzfeind des
Bergmanns ist das Wasser, egal ob in den Erzgruben
oder in den Tagebauen. Sie müssen es sich so vorstellen:
Ein Tagebau mit den verschiedenen Stufen ist manchmal
200 oder 300 Meter tief. Die Wasserhaltung hat natürlich
zu Verwerfungen geführt. Der Grundwasserspiegel
wurde kilometerweise abgesenkt. Zum Teil wurde auf
den Flächen neu gebaut. Durch das Fluten der Tagebaue
steigt jetzt der Grundwasserspiegel. Dadurch kommt es
zu Schäden an Häusern, Straßen und Brücken; es kommt
auch zu Gefährdungen. Der Bergbau im Erzgebirge ist
gut 800 Jahre alt. Noch immer - auch heute noch - gibt
es Einstürze an Straßen und auf Feldern; noch heute entstehen Bingen. Der Bergbau ist also sehr langfristig angelegt.
Ich fasse zusammen: Das ist wirklich eine Erfolgsgeschichte, die die christlich-liberale Koalition schon 1990
begonnen hat.
({5})
Mir gibt dieser Antrag, eben weil er von den Linken
kommt, Gelegenheit, den Leuten zu sagen: Auch das ist
eine Seite des Kommunismus - Raubbau an der Natur,
Missachtung der Schöpfung. Da spielt das überhaupt
keine Rolle. Umwelt- und Naturschutz: gleich null.
Auch das muss einmal gesagt werden.
Wenn Sie letzte Woche gesagt haben, Sie wollen den
Kommunismus wieder, dann kann ich nur entgegnen:
Ich habe es ja schon immer geahnt; denn Sie halten ja
am Kommunistischen Manifest als Grundlage Ihrer Politik fest. Meine Sache ist das nicht. Ich habe, ganz ehrlich
gesagt, vom Kommunismus die Schnauze voll.
SPD und Grünen in NRW möchte ich noch sagen:
Seid vorsichtig, von wem ihr euch tolerieren lasst, sonst
steckt es euch irgendwann auch noch an.
({6})
Liebe Freunde, in diesem Sinne ein herzliches „Glück
auf!“ aus dem Erzgebirge.
({7})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Krischer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, es fiele mir schon etwas ein zu dem letzten Debattenbeitrag, aber ich glaube, das hätte weniger mit dem
Thema Braunkohlesanierung zu tun. Deshalb will ich
mich lieber mit diesem Thema auseinandersetzen.
({0})
Man kann sich in der Tat fragen, warum dieser Antrag
jetzt hier eingebracht wird. Denn eigentlich war klar:
Die Haushaltsmittel waren schon in die mittelfristige Finanzplanung eingestellt. Soweit ich informiert bin, gab
es auch keinen großen Dissens darüber, dass das fortgesetzt wird. Da kann man schon fragen: Warum bringt
man einen solchen Antrag ein? Aber ich will die Gelegenheit nutzen, einfach Bilanz zu ziehen.
Hier ist sehr viel gelobt worden. In der Tat ist da eine
Menge geleistet worden. Das ist ein positives Beispiel,
ohne Zweifel. Aber es ist nicht alles gut gelaufen, und es
gibt eine ganze Reihe von Problemen. Das Unglück in
Nachterstedt ist nur das augenfälligste, das mit den
schlimmsten Folgen gewesen. Wir haben in den Sanierungsgebieten eine ganze Reihe von Problemen. Erst im
Oktober dieses Jahres hat es im ehemaligen Tagebau
Spreetal einen schweren Grundbruch gegeben, bei dem
- man glaubt es nicht - 80 Schafe umgekommen sind.
Darüber kann man jetzt vielleicht lachen,
({1})
aber man darf sich nicht vorstellen, was passiert wäre,
wenn an der Stelle Menschen gewesen wären. Das zeigt
eben, ganz so optimal läuft diese Sanierung nicht.
({2})
Es gibt eine Reihe von weiteren Fällen. Zum Beispiel hat
es in der Weihnachtszeit im ehemaligen Tagebau Lohsa
einen weiteren Grundbruch gegeben. Wir haben riesige
Probleme mit den Grundwasserständen. Wir haben Schwefel im Wasser, es gibt Versauerungen. Wenn ich mir die
Stellungnahmen der Naturschutzverbände vor Augen führe,
dann sehe ich: Es gibt auch eine ganze Menge Kritik,
({3})
dass da die Kriterien der Biodiversität, des Naturschutzes nicht immer vollständig berücksichtigt worden sind.
Auch das, denke ich, muss man in dieser Debatte sagen;
auch darauf muss man hinweisen.
({4})
Ich finde auch, es ist zu wenig, nur über die Vergangenheit zu reden. Denn es gibt ja auch noch laufende
Braunkohletagebaue, im Osten und im Westen Deutschlands.
({5})
Zu den Problemen, die damit verursacht werden, den
Altlasten und Ewigkeitskosten, die dort bestehen bzw.
noch entstehen werden, finde ich leider in diesem Antrag
nichts. Ich würde mir wünschen, dass wir uns auch damit
auseinandersetzen. Nur Geldforderungen für Folgen der
Vergangenheit zu stellen, das ist meines Erachtens zu
wenig.
({6})
Wir müssen darauf achten, dass wir hier nicht in ein paar
Jahren über die Folgeschäden und die Folgekosten der
Tagebaue, die heute laufen, diskutieren werden, dann
nämlich, wenn sich RWE und Vattenfall, die diese Tagebaue heute betreiben, möglicherweise aus dem Staub gemacht haben und ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. Dann haben wir die nächsten Altlasten. Dazu wären
jetzt eigentlich Forderungen zu stellen; dazu würde ich
mir auch mal einen Antrag wünschen.
({7})
- Die rot-grüne Regierung, das kann ich Ihnen sagen, hat
eine sehr gute Entscheidung getroffen, indem sie sich
nämlich dafür entschieden hat, dass es nach dem Auslau9478
fen der vorhandenen Tagebaue keine neuen mehr geben
wird, weil wir der Meinung sind, dass die Braunkohleverstromung nicht nur die klimaschädlichste Form der
Energieerzeugung ist, sondern auch die schädlichste in
Bezug auf die Landschaftszerstörung. Es werden Menschen vertrieben; sie verlieren ihre Heimat. Das alles ist
nicht zukunftsfähig. Das ist auch völlig klar. Vor dieser
Frage drücken Sie sich natürlich.
Sie akzeptieren - das muss man leider auch der rotroten Landesregierung in Brandenburg sagen -, dass der
Braunkohletagebau weitergeht und für die Zukunft Altlasten produziert werden.
({8})
Das sollte nicht unser Thema sein. Es sollte uns eine
Warnung sein, dass in der DDR derart viele Altlasten
produziert worden sind, dass wir bisher schon 9 Milliarden Euro in die Sanierung stecken mussten. Sie selbst
sagen, dass das noch lange nicht das Ende ist, sondern
noch eine ganze Menge hinzukommen wird. Daraus
sollten wir lernen und auf die Braunkohle in Zukunft insgesamt verzichten. Wir sollten den Betrieb dieser Tagebaue in einem geordneten Verfahren auslaufen lassen
und die umweltverträgliche Alternative, die erneuerbaren Energien, nutzen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Koeppen das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich konnte beim Lesen des PDS-Antrags
({0})
nicht erkennen, was die genaue Zielrichtung dieses Antrags ist.
({1})
Herr Claus, auch durch Ihre Rede ist mir das nicht deutlicher geworden. Die Kollegen vom Haushaltsausschuss
hingegen haben deutlich gemacht, dass es keinerlei parlamentarischer Korrekturen bedarf, weil das 5. Verwaltungsabkommen auf dem Weg ist. Außerdem brauchen
wir keine Hinweise von Ihnen in dieser Debatte.
Der Antrag ist aber trotzdem sehr gut, weil er mir Gelegenheit gibt, kurz die Gründe hervorzuheben, warum
ein Milliardenaufwand der Bundesbürger zur Braunkohlesanierung notwendig geworden ist. Von Ihrer Seite wird
immer wieder versucht, zu unterstellen, dass die Lasten
der öffentlichen Hand mit der heutigen Nutzung verbunden sind. Das ist schlichtweg falsch. Heute haften die Unternehmen für jeden Eingriff. Sie bilden Rückstellungen
für die erforderliche Renaturierung. Diese Renaturierung
wird von den Unternehmen, die dort tätig sind, selbst
finanziert. Das ist so. Sie brauchen gar keine anderen
Spuren zu legen.
Die PDS-Vorsitzende Lötzsch hat auf ihrer verzweifelten Suche nach dem Kommunismus vor kurzem gesagt: Manchmal lohnt sich ein Blick in die Geschichte,
um etwas zu verstehen. - Dann machen wir das einmal,
um die Notwendigkeit von Verwaltungsabkommen zur
Regelung der Finanzierung der ökologischen Altlasten
zu erklären. Es handelt sich um fast 9 Milliarden Euro.
Eines ist ganz klar: Über diese Verwaltungsabkommen
wird ausschließlich die Bewältigung der Altlasten der
desaströsen Energie- und Umweltpolitik des SED-Regimes finanziert.
({2})
Meine Damen und Herren, Sie haben nicht nur einen
politischen Scherbenhaufen hinterlassen, sondern Sie
haben auch in den Bereichen Wirtschaft und Energie und
insbesondere im Bereich der Umwelt einen Scherbenhaufen hinterlassen. Und jetzt stellen Sie sich selbst als
Umweltengel dar, wettern gegen die Braunkohle, beschimpfen die Kraftwerke als Dreckschleudern und würden sie lieber heute als morgen schließen und Tausende
Menschen, die dort arbeiten, auf die Straße schicken.
Davon wären insbesondere die Menschen in Ostdeutschland betroffen.
Wäre ein Verständnis für nachhaltige Politik - ich
sage das in Anführungsstrichen - bei Ihnen und Ihren
Funktionären, die alle noch bei Ihnen hocken, in den
Jahren vor 1990 in irgendeiner Art und Weise vorhanden
gewesen, hätte es diese gewaltigen Umweltzerstörungen
niemals gegeben. Sie haben Raubbau betrieben. Sie haben die Umwelt geschändet. Sie haben Wälder vernichtet. Sie haben den Dreck in die Luft geschleudert und die
Menschen am Rande von riesigen Mondlandschaften
wohnen lassen. Es ist absolut unredlich, jetzt solche Anträge zu schreiben.
({3})
Die Menschen in den neuen Ländern haben in den
letzten beiden Jahrzehnten eine unglaubliche Leistung
vollbracht, auch mithilfe - das ist richtig - öffentlicher
Mittel und einer großen Solidarität. Herr Claus, das versteckte SED-Vermögen hätte vielleicht auch geholfen,
diese Umweltsünden zu beseitigen,
({4})
aber das haben Sie über den Durst gerettet. Die Regionen, die mit den SED-Hinterlassenschaften umzugehen
haben, können auch in Zukunft auf die gesamtdeutsche
Unterstützung vertrauen.
({5})
Noch ein Wort zur Braunkohle - Herr Krischer, diesbezüglich bin ich überhaupt nicht bei Ihnen -: Dass in
den Braunkohleregionen eine Akzeptanz für eine weitere
Braunkohlenutzung vorhanden ist, hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass man die Abbaugebiete vernünftig saniert und die Menschen nicht, wie zu DDRZeiten, mit der Umweltzerstörung alleinlässt.
Wir finden, dass die Braunkohle auch heute eine
wichtige Funktion im Energiemix hat,
({6})
und zwar in Bezug auf Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz. Wenn man das alles
zugleich im Blick hat, wird man sehen - auch Sie werden es sehen -, dass man in absehbarer Zeit nicht auf den
Energieträger Braunkohle verzichten kann.
Im Hinblick auf die Versorgungssicherheit hat die
subventionsfreie Verstromung der heimischen Braunkohle gerade in Ostdeutschland eine wichtige Funktion.
({7})
Natürlich muss sie - da gebe ich Ihnen recht - klimaschonender werden. Wir brauchen effiziente Kraftwerkstechnologien - dafür wird unser brillantes deutsches Ingenieurwesen, über das wir verfügen, schon sorgen -,
aber auch ein CCS-Gesetz, das wir in Kürze verabschieden werden.
({8})
Hier sollten Sie sich einbringen.
Da Sie in Brandenburg leider in Regierungsverantwortung sind, sage ich Ihnen: Sie sollten sich nicht immer wegducken und hier das eine, dort das andere sagen.
Sie dürfen nicht immer schreien: „Haltet den Dieb!“;
denn Sie sind die Räuber. Sie rufen nach dem Staat, den
Sie auf dem Weg zu Ihrem Kommunismus beseitigen
wollen. Ich finde das armselig und beschämend, meine
Damen und Herren.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3046 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbericht 2010 des Statistischen Bundesamtes
und
Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012
zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der
Bundesregierung
- Drucksache 17/3788 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Marcus Weinberg für die Unionsfraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
passt ja ganz gut. Jetzt gehen wir von der alten Braunkohle zum Thema Nachhaltigkeit über. Mein Vorredner,
Herr Koeppen, hat den Bogen zu dem, was nachhaltige
Politik im Jahre 2011 bedeuten könnte, schon gespannt.
Ich habe einleitend eigentlich sagen wollen, dass die
Mitglieder des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige
Entwicklung glücklich sind, den Indikatorenbericht 2010
schon am Donnerstag der ersten Sitzungswoche dieses
Jahres zu einer Topzeit vorstellen zu können.
({0})
Zumindest beim Donnerstag und bei der ersten Sitzungswoche ist es geblieben. Der Beginn der Debatte hat sich
allerdings etwas verzögert. Dass diese Debatte ursprünglich so angelegt war, beweist aber, dass der Aspekt der
Nachhaltigkeit dem Deutschen Bundestag im Jahre 2011
noch wichtiger ist, als er ihm in der Vergangenheit bereits war. Schließlich haben wir schon im Jahre 2010
viele gute Debatten zu diesem Thema geführt und die
Arbeit des Bundestages damit, wie ich hoffe, befruchten
können.
Natürlich stellt sich die Frage: „Wie bewertet man in
sechs Minuten den Indikatorenbericht 2010?“, zumal in
dieser Debatte auch der Fortschrittsbericht, die Struktur
des Parlamentarischen Beirats und unsere Arbeit zum
Thema Nachhaltigkeit insgesamt eine Rolle spielen. Es ist
sehr ambitioniert, alle Indikatoren - es sind 21 plus x in 30 Minuten zu behandeln.
Lassen Sie mich versuchen, in ein, zwei Sätzen zu sagen, was uns der Indikatorenbericht über die Entwicklung der Nachhaltigkeit in der Bundesrepublik verrät.
Ich glaube, man kann sagen, dass die Nachhaltigkeit auf
einem guten Weg ist. Man muss klar feststellen: Bei einzelnen Indikatoren besteht noch Nachbesserungsbedarf
- im Indikatorenbericht sieht man in diesem Fall einen
bösen Blitz -, bei vielen Indikatoren haben wir bereits
Marcus Weinberg ({1})
gute Entwicklungen hinter uns - in diesem Fall ist im Indikatorenbericht eine Sonne zu sehen -, und bei einigen
Indikatoren ist die Situation noch problematisch.
An dieser Stelle vielen Dank an die Obleute. Wir haben es geschafft, diesen Bericht gemeinsam und mit nur
wenigen Sondervoten zu verabschieden und ihn dem
Bundestag vorzulegen.
Ich will nur zwei, drei Beispiele für Indikatoren, die,
wie ich glaube, signifikant Positives, aber auch Problematisches aufzeigen, benennen. Wichtig ist, dass wir uns
zwei Ziele gesetzt haben. Zunächst werten wir die Indikatoren in den jeweiligen Fachbereichen aus. Dann überlegen wir, wo wir unsere Anstrengungen verstärken und
nacharbeiten müssen, um die Nachhaltigkeit immer wieder ins Bewusstsein der Menschen zu rücken. Ich
glaube, insgesamt sind wir auf dem richtigen Weg.
Ein sehr positives Beispiel ist der Anteil der erneuerbaren Energien am Energieverbrauch in Deutschland;
dieses Thema ist gerade schon ansatzweise erwähnt worden. Ich will exemplarisch darauf hinweisen, dass sich
die Bundesregierung für das Jahr 2010 zum Ziel gesetzt
hat, einen Anteil von 4,2 Prozent zu erreichen. Der Anteil der erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch betrug bereits im Jahre 2009 8,9 Prozent. Dieses
Ziel wurde also weit übertroffen.
Ein weiteres Beispiel ist die Stromerzeugung. Es wurde
das Ziel formuliert, der Anteil der erneuerbaren Energien
an der Stromerzeugung solle bis 2010 12,5 Prozent betragen. Mittlerweile liegt ihr Anteil bei 16,1 Prozent. Dieser
Indikator sagt also: Hier liegt ein Erfolg vor. Da kann man
auch einmal sagen, dass sich gewisse Handlungen der
Politik in diesem Bereich nachhaltig auswirken. Ich
erinnere an gewisse Gesetzesvorhaben, das EEG oder
EE-Wärmegesetz. Darüber kann man en détail diskutieren, aber sie haben eins bewirkt: Sie haben den Anteil der
erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch deutlich nach oben steigen lassen. Das ist ein gutes Ergebnis,
eine gute Botschaft.
({2})
Man könnte jetzt jeden einzelnen Indikator durcharbeiten, das mache ich aber nicht. Ich möchte nur noch
zwei oder drei herausarbeiten, die für meinen Bereich,
nämlich für die Bildung, gewisse Probleme mit sich
bringen. Da haben wir zum Beispiel die Schulabbrecherquote, die Quote der 18- bis 24-Jährigen, die keinen
Schulabschluss haben. Das ist eine für den Bildungsbereich hochbrisante und hochwichtige Quote. 1990 hatten
wir sozusagen als Ausgangsbasis einmal 14,9 Prozent.
Jetzt liegt die Quote bei 11,8 Prozent. Richtig ist, dass
wir das Ziel von 9 Prozent nicht erreicht haben, richtig
ist aber auch, dass der Prozess als solcher positiv zu bewerten ist. Wir müssen dennoch darüber diskutieren,
weil dieser Indikator zu spät ansetzt. Dieser Indikator
bewertet das Ergebnis der zuvor erfolgten frühkindlichen, vorschulischen und schulischen Bildung, wenn das
Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Diesen Indikator
kann man auch nicht alleine stehen lassen, man muss ihn
immer durch einzelne Bildungsberichte ergänzen. In der
letzten Sitzungswoche haben wir hier beispielsweise
über PISA diskutiert. Das alles zusammen muss dann ein
rundes Bild ergeben. Ich glaube aber auch, dass der Bildungsbereich deutlich macht, welche Anstrengungen die
letzten Bundesregierungen gerade in diesem Bereich unternommen haben.
Gut ist auch die Studienanfängerquote. Dabei muss
man jedoch darüber diskutieren, was eigentlich der Begriff Studienanfängerquote bedeutet. Die Studienanfängerquote in Australien liegt bei 86 Prozent, die in Polen
übrigens bei 78 Prozent. Sie ist natürlich nicht allein signifikant und aussagefähig hinsichtlich der Frage, wie
sich der Bildungsbereich entwickelt hat. Wir haben einmal das berühmte 40-Prozent-Ziel festgesetzt - man
muss Ziele definieren -, das bedeutet: 50 Prozent der
Schüler erreichen die Hochschulzugangsberechtigung,
40 Prozent gehen an die Hochschulen und 30 Prozent
sollen dann auch einen Abschluss machen. Mit 39,8 Prozent haben wir ein sehr, sehr gutes Ergebnis, sozusagen
knapp vor der Zielmarke. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass wir einen doppelten Abiturjahrgang hatten,
dass wir die geburtenstarken Jahrgänge hatten, muss
man diese Quote noch wesentlich positiver sehen. Sie ist
übrigens bei den Frauen mit 40,3 Prozent leicht höher als
bei den Männern. Auch das ist bemerkenswert.
Aber es sind in einigen Bereichen noch weitere Anstrengungen erforderlich, das macht dieser Bericht deutlich. Ich nenne als Beispiel die Energieproduktivität. Es
klingt gut, wenn man sagt: Wir liegen im Vergleich zum
Basisjahr 1990 bei über 140 Prozent, das Bruttoinlandsprodukt liegt bei 125,7 Prozent, die Energieproduktivität
bei 140 Prozent; die Entwicklung geht also in die richtige Richtung. - Richtig.
Aber worin liegt der Mehrwert - in Anführungszeichen -, wenn wir energiesparende Lampen oder Fernseher produzieren, ich in meinem Haus aber das Dreifache
an Fernsehern und brennenden Lampen habe? Der Deutsche Bundestag - wenn man sich so umschaut - könnte
auch einmal überlegen, wie man möglicherweise hier
oder da bei der Einsparung ein Vorbild sein könnte.
Auch darüber wird zu sprechen sein. Dieser Indikator ist
also durchaus auch problematisch zu sehen, wenn es
nämlich nicht im Bewusstsein verankert ist, dass das
Beste in Bezug auf Lampen ist, wenn sie gar nicht erst
zum Brennen kommen.
Leider sind die sechs Minuten Redezeit tatsächlich so
schnell zu Ende, wie ich das fast befürchtet hatte. Ziel
wird es sein, das Bewusstsein zu erweitern und positive
Beispiele aufzunehmen. Ich glaube, zu diesem Indikatorenbericht kann man sagen, dass er zeigt, dass wir auf
dem richtigen Weg sind. Jeder setzt seinen Schwerpunkt,
die einen bei der ökologischen Entwicklung, die anderen
bei der sozialen Entwicklung, wieder andere bei der ökonomischen Entwicklung. Insgesamt sind wir auf dem
richtigen Weg. Wenn wir jetzt das Bewusstsein - auch
durch solche Debatten und ausführliche Diskussionen
innerhalb des Beirates - weiter stärken, dann wird die
Nachhaltigkeit im Deutschen Bundestag auch nachhaltig
vertreten sein.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin
Gottschalck das Wort.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte
Frau Präsidentin! Wie definieren wir Nachhaltigkeit?
Was erwarten wir vom Fortschritt? Der Begriff Nachhaltigkeit ist in aller Munde, wird zwischenzeitlich für meinen Geschmack auch etwas zu inflationär benutzt, aber
auf dem Plenarplan steht er nicht ganz so oft. Deshalb
freue ich mich, dass der Punkt heute aufgerufen wird
- wenn auch spät - und wir dieses elementare Thema
Nachhaltigkeit behandeln.
Die Nachhaltigkeitsdebatte wird jenseits parteipolitischer Grenzen seit längerem geführt. Wichtig ist aber
auch, dass die Politik ihre Kräfte bündelt, um zukunftsweisende und praxisgerechte Grundlagen für eine wirklich nachhaltige und solidarische Gesellschaft der Zukunft zu schaffen. Genau dies versuchen die Mitglieder
des Beirates. Es geht hier sozusagen um Grundlagenarbeit.
Wir versuchen im Beirat durchaus, über den Tellerrand zu schauen und parteipolitisches Geplänkel außen
vor zu lassen.
({0})
Ich will gerne zugeben: Das ist nicht immer ganz einfach. Wir arbeiten im Parlamentarischen Beirat sozusagen mit diplomatischen Samthandschuhen, weil wir
gerne in langen Linien denken wollen, eben auch über
Legislaturperioden hinaus; denn ich denke, das ist wichtig. Ich denke, es spiegelt sich auch in den meisten unserer Stellungnahmen wider, dass wir alle - alle Partien sehr bemüht sind, einen Konsens herzustellen, um wirklich etwas voranzubringen.
({1})
Ich möchte drei Thesen aufzeigen, die uns besonders
wichtig sind:
Erstens ist das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung in der Gesellschaft zu verankern. Herr Weinberg hat
das eben auch angesprochen. Diesem Ziel sind wir alle
verpflichtet, insbesondere im Hinblick auf zukünftige
Generationen.
Zweitens. Die empirische Messung der Nachhaltigkeit anhand der Indikatoren kann selbstverständlich nur
dann sinnvoll sein, wenn die Ergebnisse quasi als Ausschlag eines Seismografen oder Frühwarnsystems angesehen werden und wir negativen Entwicklungen entgegentreten können.
Drittens. Die Erwartungen an den Fortschrittsbericht
2012 der Bundesregierung sind zu Recht hoch. Wir dürfen hier gemeinsam nicht lockerlassen; denn durch die
Ergebnisse in dem Indikatorenbericht 2010 wird doch
noch ein immenser Handlungsbedarf in einigen Bereichen aufgezeigt.
Auch wenn der Begriff Nachhaltigkeit aus der Forstwirtschaft kommt - es geht darum, den Wald nachhaltig
zu bewirtschaften -, hat er doch nicht nur etwas mit der
Umwelt zu tun, sondern er hat ökonomische, ökologische, soziale und gesellschaftliche Dimensionen. Die
Nachhaltigkeit wird uns im politischen Alltag zukünftig
noch weiter beschäftigen.
Seit einiger Zeit werden die Entwicklungen mit Indikatoren statistisch erfasst, gemessen und bewertet.
Damit erhält der Begriff Nachhaltigkeit auch eine empirische Grundlage. An dieser Stelle möchte ich das Statistische Bundesamt einmal ausdrücklich loben, das diesen
Bericht wirklich schön aufbereitet hat. Er ist übersichtlich und wirklich für jeden verständlich. Daher ein Lob
an dieser Stelle.
({2})
Der Parlamentarische Beirat fordert die Bundesregierung auf, Indikatoren, die sich in den letzten Jahren einfach nicht bewährt haben, durchaus auch zu überarbeiten
und gegebenenfalls auszutauschen. Solche Änderungen
müssen eng zwischen dem Bund, den Ländern und den
Kommunen abgestimmt werden, damit es dann wirklich
eine gemeinsame Nachhaltigkeitsstrategie gibt.
An die Länder appelliere ich daher, das Thema Nachhaltigkeit wirklich zur Chefsache zu machen und bei den
Staatskanzleien anzusiedeln; denn mit diesem populären
und nach außen getragenen Beispiel könnte man die
Nachhaltigkeit auch in den Ländern besser verankern.
({3})
Wie Herr Weinberg eben auch schon gesagt hat, können wir hier keine 21 Indikatoren aufzeigen. Ich greife
drei ganz kurz heraus:
Der Klimaschutz nimmt in der öffentlichen Debatte
bereits einen wichtigen und präsenten Platz ein.
Deutschland hat sich ambitionierte Ziele gesetzt. Das Erreichen dieser Ziele müssen wir nun aber gemeinsam erkämpfen. Wir vom Beirat fordern deshalb ganz eindeutig: Alle Programme zum Einsparen von CO2 müssen
weiterentwickelt werden. Gerade in diesem Bereich
hätte ein Versagen dramatische Konsequenzen für zukünftige Generationen.
({4})
Bei den Staatsfinanzen müssen wir nachhaltiger denken; denn die Zinsen und die Tilgung unserer Schuldenlast müssen künftig von immer weniger Steuerzahlerinnen
und Steuerzahlern geschultert werden. Wir empfehlen
dringend eine qualitative Ausgaben- und Einnahmeanalyse.
Ich muss ein bisschen Gas geben, damit meine Redezeit reicht. - Bei dem Indikator Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern muss ich allerdings deutliche
Worte finden. Denn ich finde die Gewitterstimmung bei
diesem Indikator besorgniserregend. Es dürfte unstreitig
sein, dass Männer und Frauen gleichen Lohn für gleiche
Arbeit am selben Ort und auch dieselben Aufstiegschancen bekommen sollten.
({5})
Daher fordern wir die Bundesregierung auf, hier Verbindlichkeiten zu schaffen, damit wir an dieser Stelle gegenwirken und bis 2015 konkrete Maßnahmen umsetzen
können.
Fortschritt ist Zukunft. Aber der Begriff Fortschritt
muss mit Leben gefüllt werden. Deshalb haben wir Sozialdemokraten in der letzten Woche ein Fortschrittsprogramm diskutiert und unsere Vorstellungen formuliert,
wie wir uns Deutschland im Jahr 2020 vorstellen. Wir
wollen Fortschritt mit Gerechtigkeit. Das ist unser Arbeitsplan, und den werden wir umsetzen.
Genau das machen auch die Mitglieder des Beirats.
Hier schließe ich ausdrücklich alle Mitglieder ein. Wir
wollen Wege ebnen und gerechten Fortschritt forcieren.
Wir müssen vorausschauend denken und komplexen
Problemlagen begegnen. Wir müssen alle Beschlüsse
auch daraufhin prüfen, ob sie unsere Kinder und nachfolgende Generationen entlasten oder sogar belasten.
Wir müssen Nachhaltigkeit und Fortschritt mit Leben
füllen und in konkretes Handeln umsetzen. Wir müssen
Nachhaltigkeit leben.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es sind
zwar nicht gerade viele Zuschauer auf den Rängen,
({0})
aber dennoch ist es, glaube ich, wichtig, das Wort Nachhaltigkeit etwas bürgernäher zu übersetzen. Es geht
nämlich letztendlich darum, dass wir von den Zinsen leben müssen statt vom Kapital: weder vom Naturkapital
noch vom Finanzkapital oder dem Kapital, das in unseren Infrastrukturen liegt. Es geht darum, dass künftige
Generationen faire und vergleichbare Lebenschancen
haben.
Mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie haben
Parlament und Bundesregierung 2002 Leitlinien aufgestellt, die über die Legislaturperioden hinweg ein roter
Faden für die Politikentwicklung sind. Deshalb ist es
wichtig, dass wir in diesem Haus zu einem möglichst
breiten Konsens kommen.
Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie setzt Ziele; sie
misst aber auch Indikatoren. Damit schafft sie Transparenz mit einem Managementsystem, wie es neben
Deutschland und Großbritannien nicht viele andere Länder in Europa haben. Gerade auch die Nachhaltigkeitsstrategie der Europäischen Union kann, was Transparenz
und Managementsystem angeht, von Deutschland noch
einiges lernen.
Ein Blick auf die Indikatoren zeigt, dass wir beim Klimaschutz und den erneuerbaren Energien sehr gut sind.
Wir gehören zu den wenigen Ländern, die die KiotoZiele erreichen werden. Wir haben bei den erneuerbaren
Energien die Ziele in den letzten Jahren sogar noch übertroffen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat sich als
effektives Instrument der Förderung erneuerbarer Energien bewährt. Deshalb steht auch meine Fraktion nachdrücklich zum EEG.
({1})
Wir haben gleichzeitig die Situation, dass die Kosten
für den Ausbau der erneuerbaren Energien insbesondere
in den letzten Monaten aus dem Ruder gelaufen sind. Zu
einer Politik der Nachhaltigkeit gehört auch, dass man
die soziale und wirtschaftliche Dimension von Nachhaltigkeit nicht vergisst. Deshalb ist es richtig, dass wir
heute einen Vorschlag vorgelegt haben, um die Solarförderung an die veränderten Weltmarktbedingungen anzupassen.
({2})
Im Indikatorenbericht ist die Bilanz in einem weiteren
Punkt positiv, und zwar im Bereich der Beschäftigung.
Wenn wir uns anschauen, wo wir jetzt stehen und wo wir
zum Beispiel 2002 standen, als die Nachhaltigkeitsstrategie auf den Weg gebracht wurde, dann erkennen wir,
dass wir sukzessive - daran sind alle Regierungen seit
diesem Zeitpunkt beteiligt gewesen - Reformen auf dem
Arbeitsmarkt durchgeführt haben, die dazu geführt haben, dass wir zum einen die Krise besser als andere Länder durchgestanden haben und zum anderen den Aufschwung besser als andere Länder genutzt haben. Das ist
positiv für die Menschen hier im Land. Es ist auch positiv, dass wir uns im Bereich der Beschäftigung nicht nur
konjunkturell, sondern auch strukturell verbessert haben.
Wir sind vorne in Europa. Das ist ein Verdienst nicht nur
der Politik in den vergangenen Jahren, sondern auch der
aktuellen Politik.
Es gibt aber auch Bereiche, in denen sich Deutschland
verbessern muss. Ich möchte den Bereich der Artenvielfalt herausgreifen. Wir haben es in den vergangenen
zehn Jahren nicht geschafft, unsere Ziele in diesem Bereich zu erreichen. Das betrifft übrigens nicht nur
Deutschland, sondern die ganze Welt. Die Konvention
über die biologische Vielfalt hat sich vergleichbare Ziele
auf UN-Ebene gesetzt und ist genauso dramatisch gescheitert wie die deutsche Politik in diesem Bereich. Genauso wie in Nagoya auf internationaler Ebene müssen
wir auf nationaler Ebene ernsthaft darüber nachdenken,
wie wir die genetischen Ressourcen, die für die MenMichael Kauch
schen auch in Zukunft wertvoll sind, erhalten können.
Das ist ebenso eine Herausforderung wie die Staatsverschuldung. Wir haben zwar mit der Schuldenbremse und
der daraus folgenden Politik eine Abkehr von der hemmungslosen Verschuldung auf Bundesebene erreicht.
({3})
Wir haben es aber noch immer nicht geschafft, alle Bundesländer dazu zu bringen. Wenn Nordrhein-Westfalen
nun vom Landesverfassungsgerichtshof gezwungen werden muss, die Kreditaufnahme einzustellen, dann ist das
kein Zeichen für Nachhaltigkeit im föderalen System.
({4})
Zur Überarbeitung der Indikatoren. Es gibt insbesondere einen Indikator, bei dem sich die Bundesregierung
fragen lassen muss, ob sie die Empfehlungen des Parlamentes in den letzten Jahren ignoriert hat. Wir möchten,
dass die Bundesregierung endlich wahrnimmt, dass der
Indikator für Kriminalität aus Sicht des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung völlig ungeeignet ist.
({5})
Man kann die Sicherheitslage der Menschen nicht nur an
der Zahl der Wohnungseinbrüche messen, wenn es gerade die Gewaltdelikte sind, die den sozialen Zusammenhalt gefährden. Wir müssen die Indikatoren in diesem Bereich neu ausrichten.
({6})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt des
Fortschrittsberichts ansprechen, den die Bundesregierung jetzt erarbeitet. Wir haben - das habe ich bei der
Staatsverschuldung kurz angerissen - ein großes Problem in der Nachhaltigkeitspolitik in Deutschland. Wir
verabschieden eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie.
Aber in Wirklichkeit handelt es sich um eine Nachhaltigkeitsstrategie des Bundes. Wenn wir eine wirklich nationale Nachhaltigkeitsstrategie erreichen wollen - das
ist gerade beim Thema Bildung von elementarer Bedeutung -, dann müssen wir die Bundesländer dazu bringen,
gemeinsam mit uns vergleichbare Strategien zu erarbeiten. Das ist eine Herausforderung für die nächsten Jahre.
Auf Bundesebene sind wir sehr weit vorangekommen.
Auf Länderebene gibt es noch viel zu tun. Außerdem
fehlt bisher völlig eine Verlinkung zu dem, was der Bund
macht.
Vielen Dank.
({7})
Die Kollegin Dorothee Menzner spricht nun für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nachhaltigkeit scheint mir ein Modewort zu
sein. Wenn ich mir nur die Mails dieser Woche anschaue, dann stelle ich fest: Da ist von nachhaltig zertifizierter Biomasse ebenso die Rede wie von nachhaltigen
Geldanlagen. In meinem Fachbereich, der Energie- und
Klimapolitik, ist die Forderung nach Nachhaltigkeit
schon lange in den Präambeln aller Dokumente verankert, egal aus welchem politischen Lager sie stammen.
An sich könnte dies ein Grund zur Freude sein. Doch
manchmal scheint mir der Verweis auf Nachhaltigkeit
eher eine Art verkaufsförderndes Argument zu sein.
Nicht überall, wo Nachhaltigkeit draufsteht, ist auch
Nachhaltigkeit drin.
({0})
Das gilt nicht zuletzt für die Politik der Bundesregierung.
({1})
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auf einige grundlegende Widersprüche aufmerksam zu machen, die mich
als Umweltpolitikerin bewegen. Der Parlamentarische
Beirat für nachhaltige Entwicklung, dessen Indikatorenbericht wir heute diskutieren, hat einen sehr unterstützenswerten Satz an den Anfang seines Berichts gestellt:
Damit eine Gesellschaft sich nachhaltig entwickeln
kann, muss dieses Leitbild in sämtliche Bereiche
des Lebens integriert werden. Es braucht eine Kultur der Nachhaltigkeit, die helfen soll, die Kluft
zwischen Wissen und Handeln zu schließen.
Wie aber sieht es in unserer politischen Realität mit
dieser Kluft zwischen Wissen und Handeln aus?
({2})
Wir stehen am Ende des Zeitalters, in dem wir Energie
durch Verbrennen fossiler Stoffe gewonnen haben. Diese
Erkenntnis hat sich mittlerweile durchgesetzt und ist
nicht mehr zu verdrängen. Die Aufgabe der Politik muss
also darin bestehen, konsequent die notwendigen
Schritte - und zwar schnelle Schritte - in Richtung Energiewende zu gehen. Das gebietet nicht nur der Klimaschutz, sondern auch die Verantwortung gegenüber
nachfolgenden Generationen.
({3})
Sie erinnern sich sicherlich an die Debatten, die wir
hier in diesem Haus zum Energiekonzept der Bundesregierung geführt haben. Das Energiekonzept war diktiert
von Profitinteressen der großen Energiekonzerne und
dekoriert mit irreführenden Floskeln wie jene von der
Atomenergie als Brückentechnologie. Dieses Gesetz
bremst den Ausbau der erneuerbaren Energien, anstatt
ihn zu befördern. Wir erleben, dass es so weitergeht. Gerade heute - der Kollege Kauch hat das angesprochen hat die Bundesregierung verkündet, dass sie die Mittel
zur Solarförderung im Rahmen eines „Europaanpas9484
sungsgesetzes“ kürzen will. Das ist wieder ein Schritt,
der nicht in Richtung Nachhaltigkeit geht.
Mit der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes wird uns mit Gewissheit ein nächster RollbackVersuch beschert. In der Präambel wird garantiert wieder
stehen, alles geschehe zum Nutzen der Nachhaltigkeit.
Machen wir doch endlich Schluss mit dieser Augenwischerei. Wo Profitinteressen von Konzernen die Politik bestimmen, bleiben ökologische und soziale Notwendigkeiten zwangsläufig auf der Strecke.
({4})
Die kleine Schicht der ökonomisch Herrschenden dieser Erde ist weder gewillt noch in der Lage, die Interessen der gesamten Menschheit zu vertreten. Das zeigt
sich tagtäglich aufs Neue. Nachhaltigkeit in der gesellschaftlichen Entwicklung zu garantieren, heißt, die
„Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und
politischen Leben zu ermöglichen“. Das ist übrigens
kein Zitat von Karl Marx, sondern stammt aus dem Bericht, über den wir heute diskutieren.
({5})
Mit anderen Worten: Demokratie und nicht Lobbyismus ist die Grundlage für nachhaltige Politik. Mein
Optimismus, dass das mit einer schwarz-gelben Bundesregierung in die Tat umzusetzen ist, ist allerdings nicht
besonders ausgeprägt.
Ich danke.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Dr. Wilms das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir widmen uns heute nach längerer Zeit wieder einmal
dem Thema nachhaltige Entwicklung. Das ist auch gut
so; denn das sollten wir nicht in Vergessenheit geraten
lassen. Nachhaltigkeit ist für uns Mitglieder im Parlamentarischen Beirat nun wirklich keine Floskel. Es geht
schließlich darum, wie wir mit den Ressourcen der Erde
so umgehen, dass wir jetzt und nachfolgende Generationen zukünftig gut leben können.
({0})
Schon Anfang der 70er-Jahre, noch vor dem ersten
Ölschock, legte der Club of Rome unter der Federführung von Dennis Meadows das berühmte Buch Die
Grenzen des Wachstums vor. Die Diskussion führte
schließlich zur Konferenz der Vereinten Nationen über
Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio. Um ihrer Verpflichtung von Rio nachzukommen, hat die damalige
rot-grüne Bundesregierung im Jahre 2002 die nationale
Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt. Wir wollen heute
eine Zwischenbilanz ziehen.
Ich möchte einige jener Bereiche nennen, die mir dabei besonders wichtig erscheinen. Kolleginnen und Kollegen haben das mit einigen anderen Bereichen auch
schon gemacht. Ich habe vor allem solche Bereiche ausgesucht, bei denen es noch viel zu tun gibt.
Schauen wir erstens auf den Umgang mit begrenzten
Ressourcen. Der Indikatorenbericht 2010 zeigt: Wir sind
zwar etwas effizienter mit importierten Rohstoffen umgegangen. Wir haben aber auch erheblich mehr Fertigteile importiert. Denken Sie nur an die vielen Handys
und Computer, die wir alle paar Jahre durch neue ersetzen.
Da wir als rohstoffarmer, aber auch hochentwickelter
Industriestaat auf Importe angewiesen sind, wird es Zeit,
über Alternativen nachzudenken.
({1})
Diese Alternative muss lauten: sukzessive Verwendung
nachwachsender Rohstoffe sowie Kaskadennutzung und
Recycling von Erzeugnissen, die aus fossilen Rohstoffen
hergestellt sind. Das ist der Weg in die Zukunft.
({2})
Auch wenn das geltende Regelwerk den Export von
Elektroschrott verbietet, landet viel Müll im unterentwickelten Ausland. Dort sorgen dann Kinder unter miserablen Bedingungen dafür, dass wertvolle Metalle wieder in den Kreislauf gelangen. Ist das der richtige Weg?
Wohl kaum. Wir müssen dabei umdenken.
({3})
Von den jährlich verkauften circa 1,9 Millionen Tonnen Elektrogeräten werden lediglich 0,6 Millionen Tonnen - also ein Drittel - gesammelt. Da stimmt doch irgendetwas nicht. Da müssen wir noch weiter vorgehen.
Schauen wir uns zweitens die Energieproduktivität
an. Diese hat Kollege Weinberg auch schon kurz angesprochen. Wir müssen höllisch aufpassen, dass wir den
Reboundeffekt, den Kollege Weinberg angesprochen
hat, tunlichst vermeiden.
Die Industrie benötigt wachstumsbedingt mehr Energie, die durch Effizienzmaßnahmen nur teilweise kompensiert werden kann. Ich glaube nicht, dass wir in diesem Zusammenhang mit freiwilligen Verpflichtungen
unsere Ziele erreichen können.
({4})
Schauen wir drittens auf die Mobilität. Güterverkehr
und Personenverkehr nehmen weiter zu. Mobilität ist
wichtig und belastet uns zugleich mit verstopften Straßen, Lärm und Emissionen. Dabei gibt es wirklich gute
Alternativen: Stärkung der Schiene für den Fernverkehr,
kombiniert mit einem weitaus stärkeren Carsharing-Netz
vor Ort.
({5})
Ich appelliere an dieser Stelle an die Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass das Verursacherprinzip sukzessive angewendet wird. Wer für Lärm, verstopfte Straßen und Umweltverschmutzung bezahlen muss, wird es
sich beim nächsten Mal überlegen, ob nicht ein anderer
Transportweg günstiger ist.
Gerne würde ich noch weitere Bereiche ansprechen,
zum Beispiel die zunehmende Flächenversiegelung,
aber auch die hohe Staatsverschuldung, die Kollegin
Gottschalck schon angesprochen hat.
Im Beirat betreiben wir gerne Arbeitsteilung. Das haben wir heute hier auch bei unseren Redebeiträgen gezeigt. Wir sind uns bei wichtigen Dingen meist einig.
Kolleginnen und Kollegen, langfristige Politikziele können nur über die Fraktionsgrenzen hinweg festgehalten
werden. Deshalb stehen wir im Parlamentarischen Beirat
für nachhaltige Entwicklung. Das haben wir auch bei
diesem Bericht wieder gezeigt.
Herzlichen Dank.
({6})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Daniela
Ludwig das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Nach vielen inhaltlichen Aspekten hinsichtlich
der unterschiedlichen Indikatoren würde ich gern einen
Schritt zurück in Richtung Nachhaltigkeitsmanagement
gehen. Auch das beschäftigt uns immer wieder.
Wie bereits zum Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie und in der Unterrichtung
zum Peer-Review 2009 haben wir uns auch in unserer
Stellungnahme zum Indikatorenbericht 2010 dafür ausgesprochen, dass das Thema nachhaltige Entwicklung
und auch die nationale Nachhaltigkeitsstrategie beim
Zuschnitt der Referate im Bundeskanzleramt endlich seinen Niederschlag finden muss. Unser langandauerndes
Drängen und Bohren wurde nun endlich erhört. Es ist ein
eigenständiges Referat „Nachhaltige Entwicklung“ im
Bundeskanzleramt geschaffen worden.
Ich gratuliere der Bundesregierung ausdrücklich zu
diesem weisen Entschluss. An dieser Stelle möchte ich
aber auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass
dieses Referat - gerne auch mit tatkräftiger Unterstützung des Beirats - nunmehr auch mit Leben gefüllt wird.
({0})
Wir können nur helfen, die Arbeit dieses Referates mit
Leben zu füllen, wenn es unseren Beirat weiterhin gibt,
wenn er zu einem dauerhaften Gremium wird.
Wir, der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung, haben völlig zu Recht - das sage ich ganz bewusst - eine herausgehobene Stellung im Vergleich zu
den vielen Ausschüssen in diesem Haus. Diese Stellung
ist deshalb herausgehoben - das ist mittlerweile mehrfach angesprochen worden -, weil wir uns bei allem
Hauen und Stechen, das wir uns zwischendurch auch
einmal leisten, immer wieder durch Überparteilichkeit
und gute Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen auszeichnen. Wir haben hervorragende Grundlagenarbeit
geleistet. Um das zu verstetigen, wäre es ein ausgesprochen sinnvolles und sehr bewusstes Signal, wenn unser
Beirat endlich fest verankert würde, möglichst in der Geschäftsordnung des Bundestages oder darüber hinaus.
Ich denke, dieses Thema ist wichtig genug, um dieses Signal endlich zu geben.
({1})
Wie bereits angesprochen wurde, wird es wenig helfen, wenn der Bund allein beim Thema Nachhaltigkeit
vorturnt. Gebraucht werden die Länder und vor allem
die Kommunen. Als ein Beispiel verweise ich auf das
Thema Flächenversiegelung/Flächenverbrauch. Es nutzt
relativ wenig, wenn der Bund immer wieder darauf aufmerksam macht, man möge bitte berücksichtigen, dass
nicht allzu viel Fläche verbraucht wird. Wenn eine solche Vorgabe letztlich durch die überehrgeizige Ausweisung von neuen Bau- und Gewerbegebieten vor Ort unterminiert wird, dann strampeln wir wie der Hamster im
Rad, arbeiten also, ohne dass es etwas bringt. Deswegen
sage ich: Die Verzahnung über alle Ebenen hinweg ist
unerlässlich dafür, dass sich eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie bis ganz nach unten auswirkt.
({2})
Liebe Frau Kollegin Gottschalck, ich habe sehr gerne
geklatscht, als Sie gesagt haben, das Bundeskanzleramt
gäbe ein gutes Beispiel und die Regierungschefinnen
und -chefs der Länder könnten dem gern folgen. Ich
wünsche mir, dass auch auf Länderebene an prominenter
Stelle ein entsprechendes Referat eingerichtet wird, dass
es dann mit Leben gefüllt wird, dass sich auch unsere
Kollegen in den Landtagen mit dem Thema Nachhaltigkeitsstrategie intensiv auseinandersetzen. Ich habe in
den letzten Tagen vom Kollegen Stefan Mappus gehört,
dass er im Rahmen einer Ministerpräsidentenkonferenz
das Thema Nachhaltigkeit aufgreifen möchte. Ich bin
optimistisch, dass er das auch tun wird. Aber auch hier
reicht es nicht, das einmal zu tun, sondern dieses Thema
muss kontinuierlich Tagesordnungspunkt sein, der ebenfalls immer wieder mit Leben gefüllt werden muss; denn
sonst ist „Nachhaltigkeit“ wirklich nur eine Floskel. Wir
sind die Letzten, die genau dies unterstützen wollen.
({3})
Zur Weiterentwicklung der Indikatoren ist einiges gesagt worden. Herr Kauch, unser liebstes Beispiel ist in
der Tat der Wohnungseinbruchsdiebstahl. Weiter daneben liegen kann man nicht, wenn man über das Sicherheitsgefühl von Bürgerinnen und Bürgern spricht. Natür9486
lich sind wir dafür, dass wir auch im Rahmen der
Indikatoren eine gewisse Beständigkeit haben, um die
Bewertung immer wieder nachvollziehen zu können.
Aber Beständigkeit sollte nicht dazu führen, dass letztlich die Zielschärfe der Strategie komplett getrübt wird.
Das heißt, wir erwarten von der Bundesregierung eine
eindeutige Überarbeitung der Indikatoren. Auch hierbei
sind wir mit unserem Fach- und Sachverstand gern behilflich.
({4})
Eine solche Überarbeitung wünsche ich mir. Der Fortschrittsbericht 2012 bietet die beste Gelegenheit dazu.
Vielleicht ist damit die Chance verbunden, das neue Referat im Kanzleramt entsprechend einzusetzen, lieber
Herr Bauernfeind; Sie sind ja anwesend.
Das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung beeinflusst
alle Politikfelder. Technologischer, ökonomischer und
gesellschaftlicher Fortschritt müssen sich immer an diesem Prinzip messen lassen. Wir, der Parlamentarische
Beirat für nachhaltige Entwicklung, werden die Aktivitäten der Bundesregierung zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie weiter durchaus kritisch begleiten, und wir
werden in unserem Wirkungskreis für eine stärkere Berücksichtigung von Nachhaltigkeit in der gesamten politischen Praxis, also von ganz oben bis ganz unten, werben. Wir laden alle Kolleginnen und Kollegen in diesem
Hohen Hause gern dazu ein, dabei mitzumachen.
Vielen herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3788 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Crone, Angelika Graf ({0}), Bärbel Bas,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehrgenerationenhäuser erhalten und weiterentwickeln - Prävention stärker fördern
- Drucksache 17/4031 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe
Stunde zu diskutieren. Ich sehe, dass Sie auch damit einverstanden sind. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Petra Crone für die SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Im Herbst 2006 hat die damalige Familienministerin,
Frau Ursula von der Leyen, mit Pauken und Trompeten
die ersten Mehrgenerationenhäuser eingeweiht. So kennt
man sie. Aber - „Chapeau!“ - es ist etwas Gutes daraus
geworden. Die meisten der nun existierenden 500 Mehrgenerationenhäuser haben sich zu wichtigen Treffpunkten und Wirkungsstätten für Jung und Alt entwickelt,
und zwar genau nach den Bedürfnissen in den jeweiligen
Städten, Stadtteilen und Gemeinden. Aber dennoch - leider, leider! - haben sie einen eklatanten Geburtsfehler.
Frau von der Leyen hat vor lauter Öffentlichkeitsarbeit
bei der Geburt der Häuser vergessen, sich um eine gute
Weiterfinanzierung zu kümmern.
({0})
Es gab keine Vereinbarung - weder mit den Ländern
noch mit den Kommunen, noch mit den Trägern. Nun
stehen die Mehrgenerationenhäuser vor einem großen
Dilemma. Schon im Herbst laufen für 45 Häuser die Zuschüsse aus, für weitere 112 am Jahresende. Sie, Frau
Ministerin Schröder, sind heute Abend nicht da und lassen die Verantwortlichen für die Häuser im Regen stehen.
Viele wissen nicht, wie es weitergehen soll. Die Häuser drohen als Projektruinen zu enden. Darum haben
wir, die SPD-Fraktion, die Initiative ergriffen und diesen
Antrag für ein Folgeprojekt vorgelegt,
({1})
das einen ganz wichtigen neuen Schwerpunkt als Grundlage für die Mehrgenerationenhäuser, die Prävention, benennt; denn wir wollen die Häuser nicht nur erhalten,
sondern auch weiterentwickeln.
Prävention in der Gesundheit betrifft Ernährung und
Bewegung. Prävention in der Bildung betrifft lebenslanges Lernen. Prävention in der Integration bedeutet das
soziale Miteinander. Alle bestehenden Häuser können
ihre selbstgewählte Ausrichtung beibehalten, und weiterhin sind alle Generationen angesprochen.
Ich habe mich gefreut, als die Ministerin ankündigte,
ein Anschlusskonzept vorzulegen. Aber wo bleibt es?
Sollen die Pressemitteilung und der mündliche Bericht
im Ausschuss alles gewesen sein? Auf jeden Fall war der
Inhalt sehr erschreckend. Ohne ausreichende Absprache
mit den Betroffenen soll den Mehrgenerationenhäusern
ein enges Korsett angelegt werden, das ihnen die Luft
zum Atmen nimmt. Alle sollen über einen Kamm geschoren werden, egal ob sie in Berlin-Neukölln oder in
Olpe im Sauerland stehen. Gleichzeitig sprengt die Anzahl der geforderten neuen Leistungen alle Ketten.
Da sollen die Pflegestützpunkte plötzlich in die Mehrgenerationenhäuser integriert werden. Ich frage: Was
soll das? Warum soll da eine gut etablierte und wichtige
Infrastruktur zerschlagen werden?
({2})
Da sollen die Häuser Dienstleistungsdrehscheiben zur
Unterstützung und Beratung von Pflegebedürftigen, für
Demenzkranke und für die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf werden. Da sollen die Häuser Knotenpunkte
werden für bürgerschaftliches Engagement und - hört,
hört! - für die neuen Bundesfreiwilligendienste. Da sollen die Häuser Integrationsaufgaben leisten. Damit, liebe
Kollegen und Kolleginnen, habe ich nur einiges aufgezählt.
Ich frage die Ministerin: Wie, bitte, sollen diese Aufgaben mit den von Ihnen genannten 30 000 Euro Zuschuss bewältigt werden? Ich gebe dem Expertennetzwerk recht, wenn es fordert, dass die 40 000 Euro
Zuschuss nur die unterste Grenze sein können. Wie soll
ein Mehr an Angeboten und Aufgaben - und damit auch
an Personal - mit weniger Geld machbar sein? Oder sollen die Kosten auf die Städte und Kommunen abgewälzt
werden? Wie viele von Ihnen sind heute noch in der
Lage, diese freiwillige Leistung zu erbringen? Sollen
sich nur noch reiche Städte und Gemeinden die Mehrgenerationenhäuser leisten können? Wie sollen die Modalitäten für eine neue Bewerbung aussehen? Es gibt heute
keine detaillierte Beschreibung der neuen Förderung.
Die Träger fühlen sich alleingelassen und warten.
Wieso halten Sie die Information zurück, dass das
Ministerium einen geringeren Zuschuss, befristet auf
drei Jahre Laufzeit, für weniger Häuser vorsieht? Wieso
wird vorgegaukelt, es könne für die Mehrgenerationenhäuser so weitergehen wie bisher?
Meine Herren und Damen, es wird Neubewerbungen
geben und auch neue Mitbewerber. Darum fordern wir
Sozialdemokraten die Bundesregierung auf: Legen Sie
ein Anschlusskonzept vor, das diesen Namen auch verdient!
({3})
Erarbeiten Sie gemeinsam mit den Betroffenen, mit Ländern, Kommunen und Trägern, ein Konzept, in dem die
Finanzierung klar geregelt ist! Übernehmen Sie unseren
Vorschlag und richten Sie es nach Angeboten der Gesundheitsförderung und Prävention aus, damit sich die
Mehrgenerationenhäuser in ihrem jeweiligen Umfeld
passgenau weiterentwickeln können.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, gerade im ländlichen Raum, gerade in sozialen Brennpunkten, gerade in
finanziell schwachen Kommunen müssen wir unbedingt
verhindern, dass Mehrgenerationenhäuser schließen.
Vielmehr müssen sie Vorbildfunktion für ein generationenübergreifendes Miteinander haben.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat nun die Kollegin Katharina Landgraf für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Der Antrag der SPD ist in Teilen durchaus begrüßenswert. Glücklicherweise ist er jedoch schon überholt. Dank unseres Einsatzes in der christlich-liberalen
Koalition stand bereits Anfang Dezember letzten Jahres
fest, dass es ein Folgeprogramm für die Mehrgenerationenhäuser geben wird. Dieses ist auch nicht, wie von Ihnen behauptet, längst überfällig; denn der erste Teil Ihrer
Forderungen, ein Folgeprogramm, ist schon erfüllt. Die
öffentliche Ausschreibung beginnt in diesem Jahr. Das
Folgeprogramm startet dann Anfang 2012 für die Dauer
von drei Jahren. Das bedeutet auch, dass sich die Mehrheit der Mehrgenerationenhäuser ohne Leerlauf für das
neue Programm bewerben kann. Zusätzliche können
sich ebenso bewerben. Dies ist eine Anerkennung für die
Leistungen der engagierten und größtenteils ehrenamtlichen Mitarbeiter in den Häusern.
Das neue Programm wird vier inhaltliche Schwerpunkte haben:
Erstens. Alter und Pflege. Hier wird es darum gehen,
gut funktionierende und aufeinander abgestimmte Netzwerke und Kooperationen zu schaffen sowie auf regionale Besonderheiten einzugehen. Gerade für Ältere und
Gebrechliche wäre zum Beispiel ein Begleitservice für
den Weg zum Arzt eine gute Sache.
Zweitens. Integration und Bildung. Im Fokus sind
unter anderem der Auf- und Ausbau der Betreuung sowie die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen.
Außerdem soll das Potenzial von Migrantinnen und Migranten beim bürgerschaftlichen Engagement verstärkt
und gezielt genutzt werden. Auch das gehört zu unserer
Willkommenskultur.
Drittens. Haushaltsnahe Dienstleistungen. Hier sollen die Mehrgenerationenhäuser vor allem Anlauf- und
Vermittlungsstelle sein. In Sachsen hat sich bereits jetzt
ein Verständnis der Mehrgenerationenhäuser als Vermittler und Anbieter unterstützender Leistungen wie Leihomas, Einkaufshelfer und Betreuer für Kinder und Ältere entwickelt.
({0})
Die vierte Säule ist das freiwillige Engagement. Dabei sollen die Mehrgenerationenhäuser als Knotenpunkte
des neuen Bundesfreiwilligendienstes und des bürgerschaftlichen Engagements in den Kommunen etabliert
werden.
Damit haben wir die verpflichtenden Anforderungen
an die Mehrgenerationenhäuser von ursprünglich sieben
auf vier gekürzt. Damit sollen das Profil geschärft und
eine Überforderung der Häuser vermieden werden.
Der Vorschlag der SPD, einen neuen verpflichtenden
Schwerpunkt im Bereich der gesundheitlichen Prävention zu setzen, wäre meiner Ansicht nach eine Überforderung.
({1})
Das heißt natürlich nicht, dass dieses Thema im Folgeprogramm überhaupt nicht berücksichtigt wird. Das Ziel,
insbesondere älteren Menschen möglichst lange ein mobiles und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, haben
die Akteure bereits jetzt im Blick. Hier können die
Mehrgenerationenhäuser tatsächlich einen qualifizierten
Beitrag leisten. Sie tun dies vielfach bereits heute. Das
gilt genauso für die Angebote im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention für Menschen jeden
Alters. Viele Mehrgenerationenhäuser sind hier - zum
Beispiel im Bereich Kindergesundheit - sehr aktiv. Ihre
Erkenntnisse und Erfahrungen geben die Häuser bereits
heute über die internen Vernetzungsstrukturen weiter.
Die SPD fordert weiterhin den Erfahrungsaustausch,
die Vernetzung zwischen den Mehrgenerationenhäusern
und Qualifizierungen der Akteure vor Ort. Diese Punkte
werden im Folgeprogramm der Regierung natürlich auch
Berücksichtigung finden. Die enge Beratung und Begleitung der Mehrgenerationenhäuser hat sich bereits im laufenden Programm bewährt. Die Aktiven in den Mehrgenerationenhäusern haben mir gesagt, dass sie sehr viel
von dem Voneinander-Lernen profitieren. Auch zukünftig wird deren Qualifizierung einen hohen Stellenwert
haben.
Meine Damen und Herren der SPD-Fraktion, Ihr Antrag ist, wie schon erwähnt, durchaus gut gelungen. Allerdings ist er überfrachtet mit Ideen, die nicht für jedes
Mehrgenerationenhaus umsetzbar sind. Statt hochgestochener Ziele wie zum Beispiel soziale Inklusion von einkommensschwachen und benachteiligten Menschen ist
es viel wichtiger, genau hinzuschauen, was von den
Menschen vor Ort nachgefragt wird. Dabei ist vor allem
auf die regional unterschiedliche Prägung der schon jetzt
existierenden Mehrgenerationenhäuser zu achten.
Es sollte nicht zuallererst darauf geschaut werden
müssen, ob den neuen Schwerpunkten entsprochen wird.
Es wäre also noch zu klären, ob die Bewerber alle Programmschwerpunkte erfüllen müssen oder ob eigene
Schwerpunkte innerhalb der vorgegebenen möglich sind.
Ich werde mich dafür einsetzen. Beispielsweise sollte es
möglich sein, nur drei der genannten Schwerpunkte zu
erfüllen. Außerdem ist zu fragen, ob wirklich alle Angebote der Mehrgenerationenhäuser direkt in dem jeweiligen Haus verortet sein müssen oder ob nicht eine Vernetzung mit Partnern außerhalb der eigenen vier Wände
wirkungsvoller ist.
Für die Praktiker in den Mehrgenerationenhäusern
wäre es zudem wünschenswert, die Art und Weise der
Abrechnung und Dokumentation effektiv und effizient
zu gestalten. Ein Verwaltungsaufwand wie im bisherigen
Programm bindet zu viel Kraft und Zeit.
Unerlässlich ist bei alldem die Unterstützung durch
die Kommunen. Dies ist der entscheidende Indikator dafür, ob und wie die Mehrgenerationenhäuser im kommunalen Angebot verankert sind. Ich hätte außerordentlich
große Bedenken, wenn der Bund eine verstärkte finanzielle Beteiligung der Kommunen fordern sollte. Da
werden wohl einige Mehrgenerationenhäuser auf der
Strecke bleiben. Viele Häuser werden bereits jetzt nach
Möglichkeit von den Kommunen unterstützt. Eine festgeschriebene finanzielle Beteiligung würde in manchen
Fällen sogar eine Kürzung an anderen Stellen bedeuten,
zum Beispiel bei Jugendklubs. Das kann nicht in unserem Interesse sein.
Trotzdem ist es unser gemeinsames Ziel, dass die
Mehrgenerationenhäuser langfristig auch ohne Bundesförderung und ohne Schaffung von Modellprojekten
existieren können. Daher werden schon nächsten Dienstag, also am 25. Januar, erste Gespräche mit den Bundesländern und Kommunen geführt, um gemeinsam eine
dauerhafte Eingliederung der Häuser in die lokale Infrastruktur erreichen zu können. Die spürbare Wertschätzung der Mehrgenerationenhäuser in Familien, Gemeinden und Regionen bestärkt uns darin.
Meine Damen und Herren von der SPD, Sie sehen:
Wir sind schon mitten in der praktischen Arbeit angelangt.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun die Kollegin Heidrun Dittrich für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der SPD geht es in ihrem Antrag um die
Anschlussfinanzierung der 500 Mehrgenerationenhäuser
in Deutschland; denn dieses Projekt läuft 2011 in der Tat
aus.
Was findet in einem Mehrgenerationenhaus statt? Ältere Menschen betreuen im Tagestreffpunkt zeitweise
Kinder. Die Kinder unterhalten die Senioreninnen und
Senioren. Ehrenamtliche unterstützen die Begegnung
der Generationen. Die Fördermittel reichen leider nur für
eine halbtagsbeschäftigte Sozialpädagogin. Aber die
Menschen haben sich mit diesen Einrichtungen angefreundet. Diese Beziehungen einfach abzubrechen, die
Enttäuschung der Kinder und Senioren, wenn ihr Treffpunkt wegfällt, bewusst einzuplanen, ist menschlich gesehen ein Skandal.
({0})
Aber das schert die Regierung wenig. Es war von Anfang an auf fünf Jahre geplant - basta! Die Leute sollen
doch sehen, wo sie bleiben.
({1})
Die von der Familienministerin vorgelegte Anschlussförderung bedeutet nicht, dass die bisherigen MehrgeneHeidrun Dittrich
rationenhäuser erhalten bleiben. Nein, das neue Projekt
richtet sich auch an neue Nutzer. Es sollen Pflegestützpunkte aufgebaut werden, und die Jugendlichen, die keinen Ausbildungs- oder Studienplatz erhalten, dürfen sich
darin im Rahmen des neuen Bundesfreiwilligendienstes
bewähren. Wieder wird mit einem neuen Konzept ein
neuer Personenkreis gewonnen, wieder werden Vertrauensverhältnisse beendet. Wie kann eigentlich soziale Arbeit gelingen?
Ich will Ihnen ein Beispiel aus meiner Tätigkeit im
Jugendamt der Stadt Hannover schildern. Im Treffpunkt
Allerweg in Hannover waren einst zwei städtische Sozialarbeiterinnen in Vollzeit beschäftigt und boten von
morgens bis abends Mietschuldnerberatung und Hilfestellung bei Erziehungsfragen an und schufen Raum für
ein selbstverwaltetes Bürgercafé mit Kinderbetreuung.
40 Kinder wurden wöchentlich im Tagestreffpunkt betreut. Die Eltern entwarfen im Stadtteilcafé ihre Stadtteilzeitung. Türkische und spanische Migranten mit Kindern trafen sich zum Spieleabend. Die Spiele waren die
Brücke, um sich generationen- und sprachübergreifend
zu unterhalten.
Als Mitte der 90er-Jahre die städtischen Sozialarbeiter eingespart wurden,
({2})
sollte der Treffpunkt von Ehrenamtlichen weitergeführt
werden. Das aber scheiterte am Geldmangel. Die Kinderbetreuung fiel weg. Als die Kinder wegblieben, war
der Treffpunkt gestorben. Später machte der Stadtteil negative Schlagzeilen: 12-Jährige fielen durch fortgesetzte
Sachbeschädigung auf, und die Polizei war hilflos. Sollen diese verödeten Städte jetzt Programm der Bundesregierung werden? Genau das macht die Regierung. Sie
kürzt zusätzlich noch die Mittel beim Programm „Soziale Stadt“ um zwei Drittel und schafft damit vor allem
Treffpunkte von Migranten ab.
({3})
Soziale Arbeit ist nur dann erfolgreich, wenn dauerhaft
vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut werden können,
und pädagogische Arbeit gibt es nicht zum Nulltarif.
({4})
Verankern Sie die Mehrgenerationenhäuser dauerhaft.
Sozialer Zusammenhalt soll in einer Bürgergesellschaft organisiert werden. Das klingt gut, aber was steckt
dahinter? - Die nationale Engagement-Strategie und die
Abschaffung des Sozialstaates. Die Finanzierung der
Mehrgenerationenhäuser zeigt, wie es gehen soll. Ein
Drittel bezahlt die Stadtverwaltung, ein Drittel ein finanzkräftiges Unternehmen mit dem Schwerpunkt
Pflege. Wenn sich das eingefunden hat, zahlt das letzte
Drittel der Bund. Mit dieser Einsicht unterscheiden wir
uns in der Tat von allen anderen Parteien. Hierzu zitiere
ich den Sachverständigen Rupert Graf Strachwitz der
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages:
Die Bürgergesellschaft ist nicht Zustands- oder Lebensumstandsbeschreibung, sondern die Vision einer Gesellschaftsverfassung als Gegenmodell zum
gegenwärtigen Versorgungs- und Verwaltungsstaat.
Im Klartext heißt das: die Abschaffung des Sozialstaates ohne Wenn und Aber. Mit Ihrer Agenda 2010 haben Sie, meine Damen und Herren von den Grünen und
der SPD, begonnen, den Sozialstaat noch mehr auszuhöhlen. Die jetzige Regierung aber versetzt ihm den Todesstoß. Damit wird die Demokratie untergraben. Denn
die Unternehmen entscheiden nun über den Inhalt und
die Fortsetzung der sozialen Arbeit.
({5})
Aus unserer Sicht darf die öffentliche Daseinsvorsorge nicht privatisiert werden. Der Staat muss das Gemeinwohl organisieren. Die Regierung verzichtet auf die
Besteuerung der Millionäre, mutet den Menschen die soziale Wüste zu und entlässt die Reichen in die Steueroase.
({6})
Sichern wir zum Beispiel mit der Millionärsteuer den
Sozialstaat.
({7})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole BrachtBendt für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mehrgenerationenhäuser sind sinnvolle Einrichtungen. Die FDP-Fraktion fand die Idee, die dahintersteht, immer gut, nicht aber das Finanzierungsmodell
und schon gar nicht das Modell, das die SPD-Fraktion in
ihrem vorliegenden Antrag fordert. Mehrgenerationenhäuser sollen nach Auslaufen des Pilotprojektes nach
dem Gießkannenprinzip weiter mit Steuergeldern des
Bundes am Leben erhalten werden. Da machen wir
Liberale nicht mit.
Vor sechs Jahren hat die damalige Familienministerin
von der Leyen das Modellprojekt der Mehrgenerationenhäuser gestartet. Ich betone: Modellprojekt. Der Bund
wollte klammen Ländern und Kommunen auf die
Sprünge helfen, wichtige Vorhaben anzustoßen. Ziel war
es, Orte zu schaffen, in denen sich Männer und Frauen,
Kinder und Jugendliche generationenübergreifend treffen. Schon damals war also klar, dass es sich um eine
Anschubfinanzierung für Projekte handelte, die wichtig
sind und die das Land und die die Stadt nicht alleine
schultern können. Jedes Land und jede Kommune
wusste also von Anfang an, dass nach fünf Jahren der
warme Regen aus Berlin aufhören wird.
({0})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Ziegler?
Nein, ich möchte bitte zum Ende kommen.
Fünf Jahre hatten die Städte und Gemeinden Zeit, sich
darauf einzustellen und nach Sponsoren oder Spendern
Ausschau zu halten, von denen es noch welche gibt. Genau aus diesem Grund hat die FDP-Bundestagfraktion
bisher auch daran festgehalten, dass es sich lediglich um
ein Pilotprojekt handelt.
Wir haben viel Kritik aus den Kommunen erfahren,
weil wir diese Unterstützung durch den Bund nicht als
Dauereinrichtung wollten. Es gab auch Kritik aus den
Ländern. Diese Reaktion fand ich besonders bemerkenswert, da es normalerweise doch gerade die Länder sind,
die laut aufschreien, wenn der Bund sich in ihre Angelegenheiten mischt.
({0})
Als Ministerin Schröder Ende letzten Jahres eine Neuausschreibung der Mehrgenerationenhäuser ankündigte,
habe ich keine kritischen Töne aus den Bundesländern
gehört.
Im Übrigen sieht das Konzept der Bundesregierung
vor, dass bestehende Einrichtungen nicht automatisch einen Freibrief für weitere Bundesmittel erhalten. Nur
Einrichtungen, die ein überzeugendes und langfristig
tragfähiges Konzept haben und dabei sind, eigenständige
finanzielle Strukturen aufzubauen, sollen weiter gefördert werden, und zwar nicht nur bestehende, sondern
auch neue Häuser.
Ohne Zweifel sind in den zurückliegenden fünf Jahren viele interessante Einrichtungen entstanden. Ich habe
Häuser mit tollen Angeboten für alte Menschen gesehen,
aber auch solche, in denen eine bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf durch Kinderbetreuung, Hausaufgabenhilfe und Frühförderung erreicht werden sollte.
Über die Hälfte der Mehrgenerationenhäuser arbeitet zudem in ländlichen Gebieten oder Kleinstädten, und das
ist gut.
Die Stadt Buchholz, in der ich wohne, ist ein typisches Beispiel. Bewährt hat sich dort zum Beispiel der
Kindernotfalldienst; aber auch die Angebote für die Älteren und Migranten werden gut angenommen. Wir haben zwar Hamburg mit seiner Infrastruktur direkt vor der
Tür. Aber ältere Menschen wissen oft nicht, wie sie dort
hinkommen sollten. Deshalb sind Infrastrukturangebote
für alte Menschen besonders in den Regionen wichtig.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion,
in Ihrem Antrag fordern Sie als Schwerpunkt der künftigen Arbeit der Mehrgenerationenhäuser die Integration
von Migrantinnen und Migranten. Diesem wichtigen
Thema widmet sich auch das Folgeprogramm der Bundesregierung. Ihre weiteren Schwerpunktthemen Gesundheitsförderung und vor allen Dingen Prävention
sind natürlich gut und wichtig. Deshalb arbeitet das Gesundheitsministerium gerade an einer Präventionsstrategie. Aber Themen wie Alter und Pflege, die im Konzept
von Familienministerin Schröder vorgesehen sind, sind
drängender. Wir brauchen mehr Unterstützungs- und Beratungsangebote für ältere Menschen, vor allem für Pflegebedürftige und Demenzkranke und deren Angehörige;
denn die Zahl der Betroffenen wird, wie wir alle wissen,
in jedem Jahr größer.
Unabhängig von künftigen Schwerpunkten sind für
uns Liberale Mehrgenerationenhäuser ein wertvolles
Modell, das sich in vielen Regionen bewährt hat. Dennoch kann es nicht sein, dass der Bund auf Dauer das
Füllhorn mit Wohltaten ausschüttet. Wir sind ganz klar
der Auffassung, dass sich die Länder und Kommunen
bei neuen Modellprojekten stärker als bislang an der Finanzierung beteiligen müssen. Als Kommunalpolitikerin
im Buchholzer Stadtrat weiß ich, wie schwer es für
Kommunen ist, solche Einrichtungen zu finanzieren.
Dies erfordert eine ausführliche öffentliche Debatte darüber, wie wichtig dem Ort eine solche Begegnungsstätte
ist und wie diese finanziert werden kann. Die Kommunalpolitiker müssen hier Flagge zeigen. Wenn sie es wollen und kreativ sind, gibt es Lösungen. Sie hatten fünf
Jahre lang Zeit, finanzielle Strukturen zu entwickeln,
und viele von ihnen bekommen nun sogar noch mehr
Zeit, in der der Bund Zuschüsse bereitstellt.
Pilotprojekte sind, wie gesagt, keine Dauereinrichtung. Ziel muss es sein, dass der Bund aus der Finanzierung herauskommt. Wir Liberale werden dem SPD-Antrag nicht zustimmen. Uns ist wichtig, dass der warme
Regen aus Berlin nicht zum Dauerregen wird.
Danke schön.
({2})
Nun hat sich Frau Kollegin Ziegler zu einer Kurzintervention gemeldet. - Bitte.
Sehr geehrte Kollegin, es hat mich schon etwas gewundert, dass Sie unterstellt haben, die Kommunen hätten von vornherein gewusst, dass es sich hier nur um ein
Modellprojekt handelt und die Weiterfinanzierung ihnen
obliegen soll. Ich kann Ihnen als ehemalige Familienministerin von Brandenburg eines sagen: Wir haben von
Anfang an kritisiert, dass Frau von der Leyen durch die
Lande gezogen ist und Mehrgenerationenhäuser als Modellprojekte etabliert hat, ohne dass die Länder in die
konzeptionelle Arbeit und bei der Frage, wo Mehrgenerationenhäuser angesiedelt werden sollten, einbezogen
worden sind. Wir haben Frau von der Leyen mit einem
einstimmigen Beschluss der Fachministerkonferenz,
also aller 16 Familienministerinnen und -minister, eindringlich darum gebeten, von diesem Verfahren Abstand
zu nehmen und dafür zu sorgen, dass die Länder einbezogen werden; denn auch die Länder leisten in diesem
Bereich konzeptionelle Arbeit. Die MehrgenerationenDagmar Ziegler
häuser sind aber völlig losgelöst von den Ministerien mit
den Kommunen vereinbart worden.
Ich habe mich geweigert, an der Eröffnung von Mehrgenerationenhäusern teilzunehmen,
({0})
weil genau das abzusehen war: Der Bund zieht sich nach
Ablauf des Zeitraums zurück; dann stehen die Vertreter
der Mehrgenerationenhäuser bei den Kommunen und
den Ländern vor der Tür und bitten um Weiterfinanzierung der sehr sinnvollen Projekte, die dort durchgeführt
werden. Wir alle haben vorher gewusst, dass das Geld
weder auf der kommunalen Ebene noch auf der Länderebene vorhanden sein wird. Insofern verstehe ich Ihren
Vorwurf überhaupt nicht, dass wir auf diesen Ebenen
fünf Jahre Zeit gehabt hätten, „finanzielle Strukturen zu
entwickeln“, um die Weiterfinanzierung vorzubereiten.
Diese Ebenen werden sich mit Ihnen damit auseinandersetzen, und zwar parteiübergreifend; denn das war gelogen.
({1})
Nun hat der Kollege Kai Gehring für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Bundesfamilienministerium hat die Mehrgenerationenhäuser viel zu lange über eine mögliche Weiterförderung im Unklaren gelassen; das ist einfach Fakt.
({0})
Daher begrüßen wir, dass wir uns heute hier im Parlament mit diesem Thema und mit der Zukunft dieser Häuser beschäftigen. Die schwarz-gelbe Koalition muss jetzt
endlich für Planungssicherheit, Klarheit und echte
Transparenz in der Frage sorgen, ob und wie es mit den
Mehrgenerationenhäusern weitergehen soll.
({1})
Offensichtlich fehlt aber bis heute ein wirklich sinnvolles Übergangsmanagement, damit wir von einem
Modellprojekt zu einer nachhaltigen Etablierung erfolgreicher Mehrgenerationenhäuser kommen. Das Ministerium hat zwar erste Eckpunkte per Pressemitteilung der
Öffentlichkeit bekannt gegeben; aber die darin genannten Schwerpunkte sind schlichtweg willkürlich gewählt.
Die Mehrgenerationenhäuser dürfen nicht in Konkurrenz zu bestehenden Strukturen vor Ort treten; das ist
uns ganz wichtig. Dieses Risiko könnte jedoch beim vorgesehenen Schwerpunkt „Alter und Pflege“ durchaus bestehen. Die Große Koalition hat in der vergangenen
Legislaturperiode die Pflegestützpunkte auf den Weg gebracht. Die Pflegeversicherung leistet hierfür eine Anschubfinanzierung in Höhe von 60 Millionen Euro. Es
wurde ein Rechtsanspruch auf die in Länderverantwortung durchgeführte Pflegeberatung und vieles mehr geschaffen. Da stellt sich doch die Frage, ob hier eine Doppelstruktur geschaffen wird.
({2})
Diese Frage stellt sich auch beim Bereich „Freiwilliges Engagement“. Dort, wo es vor Ort eine gut funktionierende, tolle Ehrenamtsagentur gibt, braucht man vielleicht kein Mehrgenerationenhaus mit dem Schwerpunkt
„Freiwilliges Engagement“. Man muss sehr genau hinschauen, wie das auf bestehende Strukturen vor Ort
wirkt, damit Doppelstrukturen nicht vorprogrammiert
sind und die Zielgruppen, die Sie erreichen wollen, nicht
irritiert, sondern orientiert sind.
({3})
Wir müssen bei jedem neuen Modellprogramm von
vornherein darauf achten, dass keine Modellruinen entstehen. Bei den Mehrgenerationenhäusern muss man
sehr deutlich sagen: Die große Mehrzahl der Häuser leistet eine hervorragende Arbeit; einzelne Häuser können
aber nicht überzeugen. Wenn man Mehrgenerationenhäuser zukunftsfähig gestalten will, dann muss man sich
fragen: Wie unterscheiden sich die Häuser von den
vorhandenen Strukturen, die es vor Ort gibt, in der Jugendhilfe, in der Altenhilfe etc.? Welche sinnvollen Ergänzungen zur kommunalen Infrastruktur können sie eigentlich leisten? Welchen dauerhaften Mehrwert gibt es
für die Menschen vor Ort? Die Koalition muss diese Fragen noch beantworten. Wenn Sie ein Folgeprogramm
vorlegen, dann müssen Sie sich ein Vorbild an den guten,
erfolgreichen Mehrgenerationenhäusern nehmen.
({4})
Aus Sicht der Grünen muss es das zentrale Ziel der
Häuser sein, dass ein Miteinander von Alt und Jung
stattfindet. Wo Mehrgenerationenhaus draufsteht, muss
Kontakt und Dialog zwischen den Generationen tatsächlich drin sein und tagtäglich stattfinden; denn sonst wird
ja mit dieser Überschrift etwas vorgegaukelt. Viele glauben immer noch, es findet ein Mehrgenerationenwohnen
statt. Aber es ist sozusagen eine Kontaktstelle, wo unterschiedliche Menschen zusammenkommen. Wenn dort
tatsächlich ein Mehrgenerationendialog stattfindet, dann
kann das auch ein Beitrag dazu sein, den demografischen Wandel aktiv zu gestalten. Dieser generationenübergreifende Gedanke zwischen Alt und Jung, zwischen Jugendlichen, Erwachsenen und älteren Menschen
muss in allen Mehrgenerationenhäusern viel stärker zum
Tragen kommen. Dann wird man dem Namen auch gerecht.
({5})
Grundsätzlich kann man der Koalition sagen: vielleicht
ein bisschen weniger Leuchtturmprojekte und mehr
wirklich nachhaltige Strukturen. Eine gute Infrastruktur,
eine gute Förderung würden wir uns wünschen.
Wenn man sich in die Evaluation vertieft, dann wird
deutlich, dass die Mehrgenerationenhäuser vor allem
dann erfolgreich sind, wenn sie kommunal gut verankert
sind und wenn sie sich mit der Förderung und Unterstützung von Familien beschäftigen. Das ist etwas, worauf
man aufbauen sollte.
Aber zwei Fragen muss die Koalition noch beantworten; vielleicht kann Herr Geis dazu etwas sagen. Wenn
Sie jetzt schon festlegen, dass sich die Kommunen künftig in einem viel stärkeren Maße an der Finanzierung
beteiligen sollen, wie wollen Sie dann eigentlich verhindern, dass in armen, in finanzschwachen Kommunen
kein Mehrgenerationenhaus mehr gegründet, geschweige denn finanziert werden kann? Wie wollen Sie
sicherstellen, dass alle Kommunen ein solches Mehrgenerationenhaus kofinanzieren können?
Sie betonen auch - das ist die zweite Frage -, dass es
ein neues nachbarschaftliches Miteinander und eine
Netzwerkarbeit im Sozialraum gibt. Das wird zu Recht
gelobt. Aber wenn Sie das Programm Soziale Stadt zusammenstreichen, dann passt das nicht zusammen; denn
hier hat ein wirklich gutes Quartiersmanagement in
Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf stattgefunden.
Deshalb ein ganz klarer Appell an die Regierung:
Schaffen Sie endlich Transparenz über die Konzeption
und die Fördermodalitäten für ein Nachfolgeprogramm!
Zentral bleibt für uns die Frage der Nachhaltigkeit dieser
Häuser, damit wir auch diese Debatte nicht alle paar
Jahre führen müssen.
Vielen Dank.
({6})
Nun hat der Kollege Norbert Geis für die CDU/CSUFraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich gebe Herrn Gehring recht, dass die Mehrgenerationenhäuser dann in der Zukunft Bestand haben
werden, wenn sie einen wichtigen Beitrag für den Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft leisten können.
Das tun sie im Augenblick; jedenfalls ist das auch heute
bei dieser Debatte zum Ausdruck gekommen.
Was heißt „Beitrag zum Zusammenhalt“? Das soziale
Klima in einer Gesellschaft wird dadurch bestimmt, dass
die Menschen aufeinander zu gehen. Es geht um die Zuwendung zum anderen, insbesondere zu den älteren
Menschen, die oft krank sind und oft auch verbittert daheim allein in ihren Wohnungen leben, ohne Kontakt zur
Außenwelt. Aber es geht auch um den Kontakt der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit den deutschen. Es geht um Integration, eine der wichtigsten Aufgaben der Gesellschaft in der nächsten Zeit überhaupt.
Es geht aber auch um den Kontakt von Jung und Alt. Es
geht darum, dass die Menschen zueinanderfinden. Dann
herrscht ein Klima vor, in dem es sich zu leben lohnt.
Darum geht es den Mehrgenerationenhäusern.
Natürlich haben wir viele Institutionen, und es besteht
schon ein wenig die Frage, ob da nicht Doppelfunktionen entstehen. Wir haben die Vereine, die dergleichen
leisten; wir haben auch andere Institutionen. Insbesondere die Familie ist nach wie vor das stabilisierende Element in einer Gesellschaft.
({0})
Aber wir erleben auch, wie die Familien mehr und mehr
ins Hintertreffen geraten. Viele Bindungen zerbrechen.
Viele Verbindungen werden als Ehe gar nicht mehr aufgenommen. Das heißt schon, dass wir uns Gedanken
darüber machen müssen, wie wir darüber hinaus die
Chance haben, dass in der Gesellschaft genug Bindungskräfte sind und die Menschen nicht nebeneinanderher leben. Daher kann es, so meine ich, durchaus richtig sein,
solche Mehrgenerationenhäuser zu installieren. Sie sind
- das ist heute schon zur Genüge gesagt worden - Anlaufstellen, insbesondere für ältere Menschen. Sie können dort das finden, was ihnen im Alltag fehlt, den Kontakt zu Mitmenschen, insbesondere zu jungen Leuten.
Hier können auch ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, was in vielen Mehrgenerationenhäusern der Fall
ist, Kontakt zu Einheimischen aufnehmen. Hier können
Jung und Alt zusammenfinden. Diese Häuser bieten also
tatsächlich die Chance, innerhalb der Gesellschaft Bindungskräfte zu entwickeln, die wir dringend brauchen.
Wir müssen uns deshalb Gedanken darüber machen,
wie und ob wir den Bestand dieser Häuser in Zukunft
garantieren wollen. Es ist richtig, dass die Bundesregierung die Einrichtung dieser Häuser initiiert hat, und es
ist auch richtig - da gebe ich Ihnen recht -, dass dabei
versäumt worden ist, sich mit den Gemeinden und insbesondere den Ländern in Verbindung zu setzen, um eine
finanzielle Grundlage für diese Häuser zu finden.
({1})
Deswegen müssen wir das jetzt in der Folgevereinbarung nachholen. Die Koalition will diese Häuser erhalten, weil sie als gute Einrichtung erkannt worden sind.
Aber wir müssen eine vernünftige finanzielle Grundlage
finden. Deswegen kommt es jetzt darauf an, dass man
diesen Fehler, den man vor fünf Jahren gemacht hat,
nicht wiederholt.
Sicherlich haben wir den Trägern der Mehrgenerationenhäuser vor fünf Jahren gesagt, dass die Förderung in
fünf Jahren ausläuft. Aber man kann sich sehr leicht ausrechnen, dass man die Kontakte, die entstanden sind,
nachdem ein solches Haus eingerichtet worden ist, nicht
einfach beenden kann, weil die Finanzierung fehlt. Es
kommt entscheidend darauf an, dass Bund, Länder und
Gemeinden gemeinsam vorgehen. Ich teile die Auffassung, dass man den Gemeinden nicht zu viel aufbürden
kann, Herr Gehring. Die Gemeinden haben wirklich die
größte Last zu tragen, wenn es um die soziale Absicherung geht. Das kann auf Dauer so nicht weitergehen. Wir
müssen uns auch in anderer Hinsicht Gedanken darüber
machen, wie wir die Gemeinden stärker entlasten können, oder wir müssen ihnen einen größeren Anteil am
Etat zukommen lassen.
Die Länder müssen ebenso wie der Bund begreifen,
dass die Mehrgenerationenhäuser eine hervorragende
Chance bieten, um innerhalb der Gesellschaft Bindungskräfte entstehen zu lassen, die notwendig sind, damit die
Menschen nicht nebeneinanderher leben, sondern aufeinander zu gehen.
Danke schön.
({2})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Angelika Graf für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe in den letzten Jahren eine ganze Reihe von
Mehrgenerationenhäusern besucht und immer feststellen
können, wie unterschiedlich sie aufgestellt sind, immer
gerade richtig für den Ort, an dem sie entstanden sind.
Ich habe auch feststellen können, welch wichtige Rolle
sie inzwischen für die soziale Infrastruktur spielen. Sie
waren ein Impulsgeber für Jugend-, Familien- und
Altenhilfestrukturen vor Ort. Oft findet man dort Kinderbetreuungseinrichtungen, Hausaufgabenhilfen, Vorlesedienste, Integrationsangebote oder auch einen günstigen Mittagstisch für sozial schwache Familien oder
Alleinstehende. Die Arbeit dort steht und fällt mit dem
bürgerschaftlichen Engagement. Anders wäre das bei der
schwachen Finanzierung, die schon jetzt gegeben ist, definitiv nicht zu machen. Die Menschen gehen aufeinander zu. Herr Geis, die Bindungskräfte werden durch
diese Häuser zweifellos größer.
Schon heute gibt es in vielen Mehrgenerationenhäusern präventive Grundansätze. Diese wollen wir ausbauen. Darauf bauen wir in unserem Antrag. Wir wollen
die gesundheitliche Prävention zu einem neuen Schwerpunkt der Mehrgenerationenhäuser machen. Wir wollen,
dass die Prävention nicht nur in die Hände der Ärzte gelegt wird, wie es der Gesundheitsminister vorhat - er führt
eine entsprechende Honorarabrechnungsziffer ein -,
sondern wir wollen eine Prävention im Sinne eines
Präventionsgesetzes, wie es bereits die rot-grüne Bundesregierung verfolgt hat. Aktiv sein, Vorsorge treffen,
Prävention ernst nehmen und nutzen, das sind, wie ich
denke, die Schlüsselbegriffe für ein gesundes Leben.
Insbesondere die Prävention im Alter können wir so stärken.
Wir möchten durch die Verknüpfung der Mehrgenerationenhäuser mit Prävention und Gesundheitsförderung
die Potenziale der Prävention vor Ort über niederschwellige Angebote heben. Wir wollen eine gesundheitliche
Prävention, die im alltäglichen Leben greift, gerade für
Personen aus einem sozial schwachen Umfeld sowie für
Ältere, zum Beispiel durch vermehrte Ernährungs- und
Bewegungsberatung. Wir wollen mit unserem Antrag
dazu beitragen, die Mehrgenerationenhäuser in diesem
Aufgabenbereich zu stärken.
Wir freuen uns, dass Bundesfamilienministerin
Schröder nach langem Zögern nun ebenfalls Vorschläge
zur Weiterfinanzierung und zum Erhalt der Mehrgenerationenhäuser gemacht hat. Was die Bundesfamilienministerin zum Schwerpunkt der künftigen Mittelvergabe machen möchte, geht meines Erachtens allerdings
weit über die Möglichkeiten eines Mehrgenerationenhauses hinaus. Da soll ein Knotenpunkt für Bundesfreiwilligendienste entstehen, da soll eine Ehrenamtsbörse
entstehen, und es geht um die Beratung und Betreuung
von Pflegebedürftigen und Demenzerkrankten. Das ist
noch lange nicht alles. Hier steht nicht „Entweder-oder“,
sondern „und, und, und“. Ich denke, die Mehrgenerationenhäuser werden überfordert. Die Beratung und Betreuung von Pflegebedürftigen und Demenzerkrankten
zum Beispiel braucht qualifiziertes Fachpersonal. Das
kann ein Mehrgenerationenhaus mit einem Zuschuss des
Bundes in Höhe von 40 000 Euro pro Jahr definitiv nicht
leisten, zumal die Bundesförderung nach dem Willen der
Familienministerin sogar sinken soll.
Mit den Pflegestützpunkten, die Sie im Rahmen der
Mehrgenerationenhäuser schaffen wollen, haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode den Aufbau einer
Beratungsinfrastruktur in der Pflege gestartet.
Frau Kollegin, ich muss Sie auf die Redezeit aufmerksam machen.
Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin. Pflegestützpunkte und Mehrgenerationenhäuser sind
zwei sehr unterschiedliche Konzepte. Beide brauchen
wir, aber nicht miteinander verwurschtelt. Wir brauchen
keine Doppelstrukturen.
Ich rate Ihnen: Bringen Sie die Möglichkeiten, die wir
Ihnen mit diesem Antrag eröffnet haben, in die Beratungen ein. Vielleicht kommen Sie ja doch noch zu dem
Schluss, dass unser Vorschlag der richtige ist.
Vielen herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4031 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, damit
sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zu einer ganzen Reihe von Abstimmungen zu Tagesordnungspunkten, zu denen die Reden
zu Protokoll gegeben wurden. Sind Sie damit einverstanden, dass ich darauf verzichte, die Namen der Redner zu
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
nennen? Das können Sie dann im Protokoll nachlesen. Ich sehe, das ist der Fall. Dann sparen wir uns einige Minuten.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
12. Sportbericht der Bundesregierung
- Drucksachen 17/2880, 17/3110 Nr. 5, 17/4420 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Martin Gerster
Dr. Lutz Knopek
Katrin Kunert
Viola von Cramon-Taubadel
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportausschusses auf Drucksache 17/4420. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis des 12. Sportberichts auf Drucksache 17/2880 eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist
damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4448. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür haben
die Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen die Koalitionsfraktionen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen registrieren und kontrollieren
- Drucksache 17/4198 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auch zu diesem Tagesordnungspunkt wurden die Re-
den zu Protokoll gegeben.2)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4198 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind
1) Anlage 3
2) Anlage 4
Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den
Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren
- Drucksache 17/3802 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben.3)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3802 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich
sehe, sind Sie auch damit einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3})
zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
Christine Buchholz, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Beziehungen der Europäischen Union mit
Afrika solidarisch und gerecht gestalten
- Drucksachen 17/3672, 17/4466 Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer ({4})
Karin Roth ({5})
Joachim Günther ({6})
Niema Movassat
Ute Koczy
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.4)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache
17/4466, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/3672 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Gibt es Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.5)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung des deutschen Rechts an die
Verordnung ({7}) Nr. 380/2008 des Rates vom
18. April 2008 zur Änderung der Verordnung
3) Anlage 5
4) Anlage 6
5) Anlage 2
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
({8}) Nr. 1030/2002 zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatenangehörige
- Drucksache 17/3354 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({9})
- Drucksache 17/4464 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Daniela Kolbe ({10})
Hartfrid Wolff ({11})
Jan Korte
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Wie ich bereits in der ersten Lesung dieses Gesetzes
betont habe, setzen wir mit dem elektronischen Aufenthaltstitel eine EU-Verordnung um. Wenn jetzt etwa die
Grünen die Erfassung von Fingerabdrücken auf diesem
einheitlichen Dokument in Kartenform kritisieren, dann
geht das in doppelter Hinsicht ins Leere. Zum einen
müssen wir die Verordnung eins zu eins bis zum 21. Mai
2011 umsetzen und haben gar keinen Handlungsspielraum, auf die Fingerabdrücke zu verzichten. Zum anderen zeigt sich an dieser Verordnung, dass offenbar viele
Staaten in Europa die Bedenken der Opposition an der
Erfassung von Fingerabdrücken nicht teilen. Insoweit
sollte nicht die Regierungskoalition ihre Position überdenken und einen Verstoß gegen EU-Recht riskieren,
sondern die Grünen sollten ihre Ablehnung der Erfassung von Fingerabdrücken überdenken, weil sie damit in
Europa ziemlich allein dastehen.
Denn die EU-Staaten haben aus gutem Grund auf
dieses Instrument der Erfassung des Fingerabdrucks gesetzt. Der elektronische Aufenthaltstitel bietet dadurch
eine Menge Vorteile:
Die Identitätsfeststellung wird europaweit einheitlich
geregelt und schafft deutlich mehr Sicherheit, weil durch
die biometrischen Erkennungsmerkmale eine verlässlichere Verbindung zwischen dem Ausländer und seinem
tatsächlichen Aufenthaltstitel geschaffen wird.
Die für alle EU-Staaten einheitliche Aufenthaltskarte
erfüllt sehr hohe technische Anforderungen, die Fälschungen ausschließen. So können wir besser illegale
Einwanderung verhindern und illegalen Aufenthalt in
Deutschland bekämpfen.
Für Ausländer hat der elektronische Aufenthaltstitel
gleichzeitig den Vorteil, dass er wie der deutsche Personalausweis als elektronische Identitätsfeststellung genutzt werden kann.
Nun haben die Länder Bedenken gegen die neue Aufenthaltskarte wegen möglicher hoher Kosten geäußert.
Das ist nicht ganz unberechtigt; denn für die Ausländerbehörden entsteht ein gewisser Mehraufwand durch die
Abnahme der Fingerabdrücke, zusätzliche Datenerfassungen, mindestens eine zusätzliche Vorsprache des
Antragstellers und sicher auch einen gewissen Beratungsaufwand in Sachen Zusatzfunktionen der „elektronischen Signatur“ und des „elektronischen Identitätsnachweises“. Die Koalitionsfraktionen haben in den
Ausschussberatungen deshalb entschieden, dass der gesetzliche Gebührenrahmen um 60 Euro anzuheben ist.
Wir liegen damit um 10 Euro höher, als das Bundesinnenministerium ursprünglich vorgesehen hat, und tragen den Bedenken des Bundesrates insoweit Rechnung.
Ich will an dieser Stelle aber auch mit allem Nachdruck darauf verweisen, dass der neue Aufenthaltstitel
den Kommunen natürlich eine Menge Vorteile bringt,
die sich auch vor Ort finanziell auswirken werden.
Erst einmal werden die Karteien der Ausländerbehörden um solche Personen bereinigt werden können,
die Deutschland verlassen haben, ohne den Behörden
davon Kenntnis zu geben. Das wird jetzt auffallen. Man
bekommt also einen besseren Überblick, wie viele Drittstaatsangehörige sich in der Kommune aufhalten und
welchen Aufenthaltsstatus sie haben.
Außerdem werden jetzt EU-weit Doppelanmeldungen
verhindert werden können und damit auch das doppelte
Abkassieren von Sozialleistungen. Wanderungsbewegungen innerhalb der EU kann man durch die Aufenthaltskarte leichter ermitteln. Diese Argumente haben
offenbar auch die SPD überzeugt, deren kommunalpolitische Experten im Unterausschuss Kommunales unserem Gesetzentwurf immerhin zugestimmt haben.
Eine zweite Änderung, die wir im Ausschuss vorgenommen haben, will ich hier nur kurz erwähnen. Die EU
hat mit der Schweiz ein Abkommen über Freizügigkeit.
Danach gilt zwischen Deutschland und der Schweiz in
Fragen des Aufenthaltsrechts das Prinzip der Gegenseitigkeit. Die Schweiz hat uns nun mitgeteilt, dass sie nicht
beabsichtigt, deutschen Staatsbürgern einen elektronischen Aufenthaltstitel auszuhändigen. Deshalb haben
die Koalitionsfraktionen entschieden, dass Schweizern
der elektronische Aufenthaltstitel optional auf Antrag
ausgestellt wird. Sicherheitsprobleme sind damit ersichtlich nicht verbunden.
Einen dritten Änderungspunkt will ich auch nicht verschweigen. Die in den elektronischen Aufenthaltstitel
eingebrachten Chips brauchen eine Zertifizierung. Die
Bundesdruckerei hat uns während des laufenden Gesetzgebungsverfahrens mitgeteilt, dass eine rechtzeitige Zertifizierung nicht möglich ist. Etwaige Zwischenlösungen
wären mit einem unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand verbunden. Deshalb haben wir uns entschieden,
das Datum für das Inkrafttreten des Gesetzes auf den
1. September 2011 festzulegen. Ich sage ausdrücklich,
das ist nicht schön. Wir hätten uns hier eine rechtzeitige
Zertifizierung seitens der Bundesdruckerei gewünscht.
Aber die zeitliche Überschreitung ist gerade noch hinnehmbar, zumal auch andere EU-Länder noch nicht
startklar sind. Das gibt den kommunalen Ausländerbehörden auch noch etwas mehr Vorbereitungszeit.
Der elektronische Aufenthaltstitel sorgt für mehr
Sicherheit und hilft im Kampf gegen den Missbrauch von
Sozialleistungen. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion
stimmen dem Gesetzentwurf deshalb gerne zu.
Zum 1. Mai 2011 sollte nach bundesgesetzlicher
Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben der elektronische Aufenthaltstitel, eAT, im Scheckkartenformat
eingeführt werden. Die mit dem eAT verbundenen Zusatzfunktionen elektronischer Identitätsnachweis und
qualifizierte elektronische Signatur sind neue und für
die Ausländerbehörden untypische Aufgaben, Aufgaben,
die mehr Kosten produzieren und signifikant mehr Verwaltungsaufwand.
Nun sind auch fast zwei Monate vergangen, seit wir
den vorliegenden Gesetzentwurf in einer ersten Lesung
hier im Bundestag beraten und diskutiert haben. Man
könnte annehmen, damit wären zwei Monate Zeit für die
schwarz-gelbe Bundesregierung gewesen, in Bezug auf
den Gesetzentwurf Kritik, Anmerkungen oder Hinweisen, sei es von anderen Fraktionen, von Experten oder
von den Ländern und Kommunen, nachzugehen, ernst zu
nehmen und auch Änderungen vorzunehmen.
Nur wieder einmal muss man hier und heute feststellen: Nichts, aber auch gar nichts Positives ist passiert.
Im Gegenteil.
Beginnen wir damit, dass das Gesetz urplötzlich und
aus heiterem Himmel erst zum 1. September 2011 - also
4 Monate später als geplant - in Kraft treten soll. Als
Grund wird laut Bundesregierung und Bundesdruckerei
angegeben, dass ein fristgerechter Abschluss der notwendigen Zertifizierung durch T-Systems und das beauftragte Zertifizierungsinstitut nicht mehr möglich sei.
Das kommt jetzt aber sehr plötzlich. Planungssicherheit
für alle Beteiligten sieht anders aus. Ich kann nur hoffen, dass die entsprechende Software dann aber zum
1. September 2011, zum nächsten Einführungstermin,
funktioniert und nicht noch beim Start für Chaos in den
jeweiligen Ausländerbehörden sorgen wird.
Doch zurück zu den Inhalten. Laut dem zweiten vorliegenden Änderungsantrag von FDP und Union soll
der vorgegebene gesetzliche Gebührenrahmen in § 69
Abs. 3 Nr. 1 bis 3 des Aufenthaltsgesetzes um jeweils
60 Euro erhöht werden, also noch über die bisher schon
vorgesehene Steigerung im Gesetzentwurf der Bundesregierung hinausgehen. Zur Begründung heißt es kurz,
dass damit die hohen Verwaltungskosten bei den Ausländerbehörden kompensiert und obendrein für die Zukunft
noch mehr Spielraum für künftige Korrekturen geschaffen werden sollen.
Wer muss also die Kosten des entstehenden Mehraufwandes tragen? Einerseits sind das die Antragstellerinnen und Antragsteller eines Aufenthaltstitels. Aber vor
allen Dingen werden die Kommunen noch stärker als
bislang belastet. Denn was die schwarz-gelbe Bundesregierung und auch die schwarze und die gelbe Fraktion
übersehen, ist die Tatsache, dass bereits heute über
40 Prozent der Antragsteller von den Gebühren befreit
sind oder Ermäßigungen in Anspruch nehmen können.
Die dabei entstehenden Mehrkosten fallen dann auf
die Kommunen zurück. Tatsache ist, bereits heute ist die
Situation der kommunalen Haushalte äußerst kritisch
und die Bilanz negativ zwischen den Gebühreneinnahmen einerseits und den Kosten für die Erteilung des Aufenthaltstitels andererseits. Denn nach der jetzt gültigen
Aufenthaltsverordnung können Ausländer unter bestimmten Bedingungen Gebührenermäßigung oder auch
eine Gebührenbefreiung erhalten, die wiederum von den
Kommunen kompensiert werden müssen.
Hier knüpft der von uns als SPD vorgelegte Entschließungsantrag an.
Befreiungstatbestände müssen aus unserer Sicht auf
Personengruppen reduziert werden, bei denen eine Befreiung wirklich geboten ist. Dazu zählen für uns nicht
unbedingt die pauschale Befreiung von beispielsweise
Lebenspartnerinnen und -partner minderjährigen Kindern Deutscher oder Eltern minderjähriger Deutscher.
Diese Besserstellung von Menschen lediglich aufgrund eines engen Verwandtschaftsverhältnisses zu einem deutschen Staatsangehörigen geht zulasten der
Kommunen. Wir wollen, dass dieser Privilegierungstatbestand abgeschafft wird.
Den Kommunen entstehen durch den elektronischen
Aufenthaltstitel hohe Mehrkosten, vor allem durch die
stark erhöhten Verwaltungskosten, durch ein Mehr an
Aufgaben wie die Abnahme der Fingerabdrücke, die zusätzliche Datenerfassung, mindestens eine zusätzliche
Vorsprache je Antragsteller, Informations- und Beratungsaufwand zu den Zusatzfunktionen „elektronischer
Identitätsnachweis“ und „elektronische Signatur“. Eine
Stadt wie Leipzig rechnet mit circa sieben zusätzlichen
Verwaltungsstellen, und das bei einer Kommune mit verhältnismäßig geringem Ausländeranteil.
Wir fordern die Bundesregierung nochmals eindringlich dazu auf, zu überprüfen, ob weitere Möglichkeiten
bestehen oder Maßnahmen ergriffen werden können, die
Kosten für Kommunen und Antragstellerinnen und Antragsteller zu senken. Ebenso ist es für uns noch immer
bedenklich, dass der Bund sich nicht in der Lage sieht,
die tatsächlichen Produktionskosten der Bundesdruckerei transparent zu gestalten.
Auch wenn die SPD-Fraktion die grundsätzliche Intention einer einheitlichen Gestaltung von Aufenthaltstiteln im Chipkartenformat sehr begrüßt, so können wir
dem vorliegenden Gesetzentwurf, der die Lasten einseitig den Kommunen aufbürdet, nicht zustimmen.
Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, bis spätestens
21. Mai 2011 den elektronischen Aufenthaltstitel für
Drittstaatsangehörige einzuführen. Dieser Pflicht wird
durch den vorgelegten Gesetzentwurf entsprochen. Angesichts der Probleme bei der Zertifizierung mussten
wir den Zeitpunkt des Inkrafttretens für das Gesetz auf
den 1. September 2011 verschieben. Die BundesdruckeZu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
rei hatte mitgeteilt, dass der Abschluss der Zertifizierung nicht vor Ende Juli 2011 möglich ist. Es hätte keinen Sinn gemacht, für einen derart kurzen Zeitraum
noch eine andere Lösung zu suchen.
Verbindlich ist von europäischer Seite vorgeschrieben, entsprechende Karten mit einem Chip auszustatten.
Darauf werden neben Daten des Titelinhabers, wie beispielsweise Name und Staatsangehörigkeit, auch ein
Lichtbild und zwei Fingerabdrücke gespeichert werden.
Vor einigen Wochen hat dies zu einem großen Aufschrei
bei der Opposition geführt - und das, obwohl das Vorhaben schon lange bekannt ist. Bereits vor zwei Jahren
wurde der entsprechende Beschluss auf europäischer
Ebene gefasst. Aber wie so oft hat die Opposition vorher
keinen Ansatzpunkt für Kritik gefunden. Die Grünen
versuchen in ihrem Entschließungsantrag, ein großes
Fass aufzumachen: keine Umsetzung mit Fingerabdrücken, Neuverhandlung der Richtlinie, bis die Fingerabdrücke herausverhandelt sind. Dieses Petitum zeigt nur
die Realitätsferne der Grünen und ihre grundsätzliche
Dagegen-Haltung.
Ich möchte nicht verhehlen, dass die FDP-Bundestagsfraktion seit jeher der Speicherung biometrischer
Daten im Pass, im Personalausweis und an anderen
Stellen kritisch gegenübersteht. Dabei handelt es sich
um sehr sensible Daten. Allerdings steht jetzt die europäische Vereinbarung; wir müssen sie nun umsetzen.
Dies tut der Gesetzentwurf. Die Kritik der Opposition ist
daher unangebracht. Von einer Stigmatisierung der Betroffenen, wie dies von der Opposition in der öffentlichen Diskussion dargestellt worden ist, kann nun wirklich nicht die Rede sein. Auch werden sie nicht, wie
behauptet wurde, unter Generalverdacht gestellt. In der
Stellungnahme des Bundesrates wurden bedenkenswerte
Aspekte angesprochen: Die Herstellungskosten für diesen neuen elektronischen Aufenthaltstitel werden sich
erhöhen; der Arbeitsaufwand bei den Ausländerbehörden wird ansteigen. Insgesamt wird der Belastungsaufwand für die Kommunen steigen. Deshalb haben wir den
im Gesetzentwurf vorgesehenen Gebührenrahmen zur
Abdeckung der Kosten erhöht. Die Bedenken des Deutschen Städtetages sind dabei in unsere Überlegungen
einbezogen worden.
Ein weiteres Wort zu dem Entschließungsantrag der
Grünen: Diesen lehnen wir - wie bereits angedeutet selbstverständlich ab. Den Kommunen helfen wir konkret durch die Anhebung der Gebühren. Den Vorschlag
der Grünen, die finanzielle Unterstützung von Bundesseite zu prüfen, verbirgt hinter einer vorgetäuschten
guten Absicht nur den Eingriff in die grundgesetzlich
geschützte Selbstständigkeit der Kommunen. Diesen lehnen wir ab. Wir bekennen uns zu dieser Selbstständigkeit. Wir haben überdies dafür gesorgt, dass Schweizer
Staatsbürger nach Antrag fakultativ diesen elektronischen Aufenthaltstitel erhalten können. Durch dieses
Gesetz wird europäisches Recht in nationales umgesetzt.
Wir debattieren heute abschließend über die Einführung eines elektronischen Aufenthaltstitels für Bürgerinnen und Bürger, die aus Staaten außerhalb der EU kommen und in Deutschland einen befristeten oder
unbefristeten Aufenthaltstitel besitzen. Sie sollen in Zukunft eine Karte mit maschinenlesbarem Chip erhalten,
der alle ihre persönlichen Daten, ein digitalisiertes Foto
und die Fingerabdrücke enthält. Die Koalition ist eine
Antwort auf die Frage schuldig geblieben, ob die Einführung dieses elektronischen Aufenthaltstitels angesichts des enormen technischen Aufwandes und der damit verbundenen Kosten wirklich notwendig ist.
Ich will noch einmal auf die wesentlichen Bedenken
der Linksfraktion zur Einführung des elektronischen
Aufenthaltstitels eingehen.
Wie bei der Einführung des elektronischen Personalausweises und des elektronischen Reisepasses mitsamt
der digitalisierten Erfassung von Bildern und Fingerabdrücken bezweifeln wir die sicherheitspolitische Notwendigkeit des elektronischen Aufenthaltstitels. Weder
in der zugrunde liegenden EU-Verordnung noch im Gesetzentwurf der Bundesregierung wird substanziell dargelegt, welche Sicherheitslücken bisher bestanden haben oder welchen quantitativen Umfang Fälschungen
und Verfälschungen von EU-Aufenthaltstiteln aufgewiesen haben. Man hat den Eindruck, es ist wie bei vielen
aktuellen sicherheitspolitischen Forderungen: Eine
reale Gefahr besteht nicht, aber ein von den Sicherheitsbehörden und zahlreichen profitierenden Unternehmen
entworfenes Szenario. Gehandelt wird nicht auf Basis
der realen Gefahrenlage, sondern aufgrund der entworfenen Szenarien. Diese Politik lehnen wir ganz grundsätzlich ab.
Die Ablehnung resultiert auch aus den Risiken und
Gefahren der elektronischen Erfassung sensibler persönlicher Daten. Wo Daten erfasst und verarbeitet werden, besteht auch immer die Gefahr von Sicherheitslücken bei der Übermittlung und des Datendiebstahls.
Auch die Karten selbst sind für jeden auslesbar, der über
die entsprechenden technischen Mittel verfügt. Es werden aber auch weitere Begehrlichkeiten bei den staatlichen Behörden selbst geweckt: Wenn doch ohnehin
Passbilder und Fingerabdrücke digital erfasst werden,
warum diese dann nicht speichern? Ich sage Ihnen, wir
werden eines Tages hier stehen und darüber debattieren,
welche dieser biometrischen Daten von den kommunalen Behörden oder sogar dem Ausländerzentralregister
dauerhaft gespeichert und den Sicherheitsbehörden zugänglich gemacht werden sollen!
Schließlich lehnen wir den Gesetzentwurf auch wegen des diskriminierenden Charakters ab, alle Menschen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines EU-Staates besitzen und zum Teil ja dauerhaft in Deutschland
leben, zur Abgabe ihrer Fingerabdrücke zu zwingen. Ich
will darauf hinweisen, dass davon ja nicht nur Erwachsene betroffen sind. Kinder ab dem sechsten Lebensjahr
sollen ihre Fotos und Fingerabdrücke ebenfalls digital
erfassen lassen. Es ist schlicht skandalös, hier eine erkennungsdienstliche Behandlung von Kindern durchführen zu wollen. Das sicherheitspolitische Argument ist an
dieser Stelle nicht einfach zweifelhaft, sondern geradezu
absurd. Das Signal, das von diesem Vorgang an die KinZu Protokoll gegebene Reden
der und Jugendlichen ausgesandt wird, ist integrationspolitisch verheerend.
Auch die Kostenfrage muss ich hier noch einmal ansprechen: Hier sind vor allem die betroffenen Ausländer
die Leidtragenden, denn sie haben die immens hohen
Kosten dieser Ausweiskarte zu tragen. Statt bislang bis
zu 200 Euro zahlen sie für eine Niederlassungserlaubnis
bis zu 260 Euro, bei einer Aufenthaltserlaubnis werden
zukünftig 140 statt 80 Euro fällig. Schon allein die Produktionskosten liegen weit oberhalb der derzeitigen
Kosten: Bislang erhielten Ausländer einen Aufkleber in
ihren Pass, aus dem der Aufenthaltstitel hervorging.
Diese Aufkleber kosteten in der Produktion 78 Cent. Die
elektronische Karte kostet in der Produktion 30 Euro.
Hinzu kommt der deutlich gestiegene Aufwand bei den
Behörden: Sie müssen nun eine neue technische Infrastruktur für die digitale Erfassung der Passfotos und der
Fingerabdrücke und die Weiterverarbeitung der Daten
bereithalten. Die tatsächlich entstehenden Kosten können noch gar nicht exakt eingeschätzt werden.
Noch einmal kurz zusammengefasst: Die Einführung
des elektronischen Aufenthaltstitels ist sicherheitspolitisch überflüssig. Sie ist eine Belastung der kommunalen
Verwaltung. Sie kommt die Kommunen und vor allem die
Betroffenen teuer zu stehen. Die Erfassung und Digitalisierung der persönlichen Daten, besonders der biometrischen Daten, schafft neue Sicherheitslücken und Begehrlichkeiten der Sicherheitsbehörden. Die digitale
Erfassung ganzer Familien aufgrund ihres Aufenthaltsstatus und ihrer Herkunft von außerhalb der EU ist diskriminierend und integrationspolitisch verheerend. Die
Linke lehnt diesen Gesetzentwurf daher ab.
Es ist unbegreiflich, dass ausgerechnet die FDP, die
sich immer wieder als Bürgerrechtspartei rühmt, diesen
Gesetzentwurf mit zu verantworten hat. Mit diesem Ge-
setzentwurf werden ausländische Staatsangehörige samt
ihrer Kinder dazu verpflichtet, für den Erhalt einer Auf-
enthaltskarte - wie in einem Strafverfahren - ihre Fin-
gerabdrücke abzugeben. Hier wird das Selbstbestim-
mungsrecht mit Füßen getreten. Das lehnen wir Grüne
entschieden ab. Der Standard, der deutschen Staatsan-
gehörigen garantiert wird, muss allen hier lebenden
Menschen gewährt werden. Wir sind gegen einen Zwei-
klassendatenschutz und wollen nicht, dass sechsjährige
Kinder wie Straftäter erkennungsdienstlichen Maßnah-
men unterzogen werden.
Es ist ein Beweis für die fehlende politische Sensibili-
tät, dass die Bundesregierung der Europäischen Verord-
nung zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels
für Drittstaatsangehörige im Jahr 2008 zugestimmt hat,
obwohl ihr bekannt war, dass Fingerabdrücke für den
Personalausweis heftig in Deutschland diskutiert wur-
den. Aus guten Gründen fand der obligatorische Finger-
abdruck für den Personalausweis keine Mehrheit im
Bundestag. Die Bundesregierung scheint die Einwande-
rinnen und Einwanderer als Türöffner für solche Maß-
nahmen zu missbrauchen. Die Aufnahme von Fingerab-
drücken in die Aufenthaltskarte ist überflüssig. Es ist
nicht bekannt, dass bisher in nennenswertem Umfang
Missbrauch und Fälschungen von Aufenthaltstiteln
stattgefunden haben.
Es verwundert nicht, dass die ersten technischen
Schwierigkeiten bei der elektronischen Aufenthaltskarte
schon aufgetreten sind, bevor die Aufenthaltskarte über-
haupt eingeführt wurde: Wegen diverser Probleme bei
der Zertifizierung der Chipkarte und der darin enthalte-
nen Software soll die Einführung der Aufenthaltskarte
um mehrere Monate verschoben werden. Das wird kein
Einzelfall bleiben. Die Verwendung der Aufenthaltskarte
als elektronischer Identitätsnachweis ist äußerst proble-
matisch. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informa-
tionstechnik, BSI, empfiehlt den Ausweisinhaberinnen
und -inhabern, zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen zu
ergreifen. Seitens der Regierung hört man außer wenig
hilfreichen Empfehlungen, wie die Antivirensoftware
stets auf dem aktuellen Stand zu halten, nichts. Was kön-
nen Betroffene jedoch tun, wenn die Betreiber der Anti-
virensoftware nicht schnell genug Updates anbieten
oder die Anwenderinnen und Anwender mit der Software
nicht klarkommen? Außerdem kann eine Antivirensoft-
ware nicht vor allen Risiken schützen. Darauf hat die
Bundesregierung keine Antwort.
Schließlich bedeuten die mit der neuen Aufenthalts-
karte einhergehenden Kostensteigerungen für Betrof-
fene und Kommunen eine besondere Härte. Der Gesetz-
entwurf der Bundesregierung sieht für die neuen Aufent-
haltstitel eine Gebührenerhöhung von 60 Euro vor. Da-
mit verdoppelt sich die Gebühr für die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis, während die Gebühr für die Ertei-
lung einer Niederlassungserlaubnis auf bis zu 260 Euro
erhöht wird. Die Kommunen gehen davon aus, dass der
durch die Einführung der Aufenthaltskarte verursachte
Mehraufwand nicht durch die im Gesetzentwurf der
Bundesregierung vorgesehene Gebührenerhöhung aus-
geglichen werden kann. Vielmehr werden die Kommu-
nen selber mit erheblichen Mehrkosten konfrontiert sein.
Die Bundesregierung muss prüfen, durch welche Maß-
nahmen sie die Antragstellenden und Kommunen finan-
ziell entlasten kann. Sie darf die durch ihre Entscheidun-
gen verursachten Zusatzkosten für die Erteilung eines
Aufenthaltstitels nicht auf Dritte abwälzen und sich aus
der Verantwortung stehlen.
Daher fordern wir die Bundesregierung mit unserem
Entschließungsantrag erstens auf, unverzüglich im Rah-
men der Europäischen Union darauf hinzuwirken, dass
die Verordnung zur einheitlichen Gestaltung des Aufent-
haltstitels für Drittstaatsangehörige dahin gehend geän-
dert wird, dass für die Erteilung des Aufenthaltstitels
Fingerabdrücke nicht erfasst werden, und bis dahin auf
die Erfassung von Fingerabdrücken zu verzichten.
Zweitens fordern wir die Bundesregierung auf, zu
prüfen, auf welche Weise der Bund die Ausstellung des
Aufenthaltstitels finanziell unterstützen kann, damit die
Antragstellenden und Kommunen durch die Einführung
des Aufenthaltstitels nicht über Gebühr belastet werden.
Es ist für einen Rechtsstaat äußerst bedenklich, wenn
bereits sechsjährige Kinder sich wie Straftäter erken-
Zu Protokoll gegebene Reden
nungsdienstlichen Maßnahmen unterziehen müssen.
Das können wir nicht akzeptieren.
Wir kommen damit zur Abstimmung.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/4464, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3354 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthal-
tung der SPD-Fraktion.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie bei der
zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
der Drucksache 17/4465. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Dafür hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ge-
stimmt, dagegen haben die Koalitionsfraktionen und die
SPD-Fraktion gestimmt, enthalten hat sich die Fraktion
Die Linke.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Priska Hinz ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs und zukunftsfähige Personalstrukturen an den Hochschulen initiieren
- Drucksache 17/4203 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wissenschaft als Beruf attraktiv gestalten Prekarisierung des akademischen Mittelbaus
beenden
- Drucksache 17/4423 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gege-
ben.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/4203 und 17/4423 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christine Lambrecht, Sonja Steffen, Dr. Peter
Danckert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Zivilprozessordnung
({3})
- Drucksache 17/4431 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben.
Lassen Sie mich mit einem klaren Bekenntnis anfan-
gen: Ich halte den aktuellen Rechtszustand tatsächlich
für unbefriedigend! Gerade gestern Abend konnte man
in der ARD-Dokumentation „Patient ohne Rechte“ am
vielen von Ihnen sicherlich bekannten Schicksal der
kleinen Deike nachvollziehen, dass die Anwendung des
Beschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO tatsächlich
manchmal zu Ergebnissen führt, die niemand von uns
will. Hier etwas zu ändern ist daher absolut richtig und
berechtigt. Das ist also einer der seltenen Fälle, in de-
nen ich der SPD inhaltlich zustimmen kann. Bevor Sie
sich aber zu früh freuen, meine Damen und Herren von
der SPD: Das gilt freilich allein für Ihr Grundanliegen,
aber keineswegs für die von Ihnen vorgeschlagene Lö-
sung!
In der Tat ist das schon ein bemerkenswerter Vor-
gang: Die SPD schlägt uns hier die ersatzlose Strei-
chung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO vor, die Streichung
einer Regelung, die im Rahmen der ZPO-Reform 2001
geschaffen wurde. Sie schlägt also die Streichung einer
Regelung vor, die in Verantwortung der damaligen rot-
grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder ins
Werk gesetzt wurde. Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen von der SPD, Sie waren es selbst, die § 522 ZPO in
seiner heutigen Form eingeführt haben! Es ist schon er-
staunlich, mit welcher Geschwindigkeit Sie sich heute
von vormals für richtig erachteten Positionen verab-
schieden. Wenn ich an die Hartz-IV-Gesetzgebung oder
an die Rente mit 67 denke, scheint das neuerdings ein
Muster bei Ihnen zu sein. Das kann man alles machen -
nur, mit konsistenter und glaubwürdiger Politik hat das
dann nichts mehr zu tun!
Wir von der Union haben die Neuregelung des § 522
ZPO im Übrigen damals kritisiert, weil wir durch die
ZPO-Reform mehr Bürgernähe und nicht weniger
1) Anlage 7
Rechtsschutz erreichen wollten. Nun könnte man natürlich meinen, zehn Jahre sind eine lange Zeit, in zehn
Jahren kann viel passieren, da kann man dazulernen und
als falsch erkannte Entscheidungen revidieren. Nur trifft
das leider für die SPD-Kollegen so nicht zu; denn man
muss gar nicht zehn Jahre zu den Beratungen über die
rot-grüne ZPO-Reform zurückgehen; vielmehr ist es ist
noch keine zwei Jahre her, da hat Ihre Justizministerin
Zypries hier im Plenum bei der Debatte über einen
FDP-Antrag zur Einführung einer Rechtsbeschwerde
vehement die rot-grüne Regelung der Zurückweisung
durch Beschluss als - wörtlich - „ordentliche Reform“
mit einem „gutem Ergebnis“ verteidigt, die „voll akzeptiert“ werde. Welche bahnbrechenden Rechtserkenntnisse Sie nun allerdings in den letzten zwei Jahren gewonnen haben, die nicht schon bei der Debatte 2009
vorlagen, ist mir nicht ersichtlich.
Was auch immer der Grund sei - nun wollen Sie jedenfalls eine Rolle rückwärts machen: zurück auf den
Anfang, ohne den bisher zurückgelegten Weg zu betrachten. Die Politik im Allgemeinen und die Rechtspolitik im Speziellen sind aber meistens zu komplex, um
sie in richtig oder falsch einzuteilen oder sie schwarz
oder weiß zu malen. Genau das machen sie aber jetzt,
wenn sie nicht genau hinsehen, wo es bei der Regelung
des § 522 Abs. 2 ZPO Defizite gibt und wo Erfolge durch
die ZPO-Reform erreicht worden sind.
Lassen Sie mich mit den Defiziten beginnen. Ich habe
anfangs ja bereits ausgeführt, dass ich den aktuellen
Rechtszustand für unbefriedigend halte und dass ich
hier gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehe. Seit der
rot-grünen ZPO-Änderung muss das Berufungsgericht
gemäß § 522 Abs. 2 ZPO eine Berufung durch Beschluss
zurückweisen, wenn es davon überzeugt ist, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache
keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung
des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts
nicht erfordert. Eine mündliche Verhandlung findet in
diesen Fällen nicht statt. Der Beschluss ist zudem unanfechtbar. Obwohl der § 522 Abs. 2 ZPO die kumulativen
Voraussetzungen des Zurückweisungsbeschlusses abschließend und ohne Eröffnung eines gerichtlichen Ermessens definiert, bestehen in der Praxis erhebliche regionale Unterschiede in seiner Anwendung. Nach der
Zivilgerichtsstatistik bewegen sich die Quoten der Erledigung durch Zurückweisungsbeschluss auf der Ebene
der Landgerichte im Jahr 2009 zwischen 6,4 Prozent im
OLG-Bezirk Karlsruhe und 23,8 Prozent im OLG-Bezirk
Braunschweig und auf der Ebene der Oberlandesgerichte zwischen 9,1 Prozent beim OLG Hamm und
27,1 Prozent beim OLG Rostock.
Wir brauchen uns jetzt nicht über Zahlen oder darüber zu streiten, welche Umstände man bei der Evaluierung der unterschiedlichen Quoten berücksichtigen
muss, etwa inwieweit auch einbezogen werden muss,
wenn nach einem Hinweisbeschluss im Verfahren nach
§ 522 ZPO die Berufung zurückgenommen wird. Unter
dem Strich bleibt eine regional deutlich unterschiedliche
Handhabung. Das führt aber dazu, dass je nachdem, wo
gegen ein erstinstanzliches Urteil Berufung eingelegt
wird, ein Rechtsschutzsuchender ganz unterschiedliche
Chancen hat: Einmal kann er mündlich über das erstinstanzliche Urteil verhandeln und ein dann gegen ihn ergehendes Urteil anfechten, das andere Mal gibt es keine
mündliche Verhandlung, und er erhält einen unanfechtbaren Beschluss.
Diese Ungleichheit in der Rechtsanwendung ist ein
Problem. Sie ist ein Gerechtigkeitsproblem. Anders als
die SPD in ihrer Antragsbegründung zu insinuieren versucht, ist sie aber kein verfassungsrechtliches Problem.
Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr mehrfach
die Verfassungsgemäßheit des Beschlussverfahrens nach
§ 522 Abs. 2 ZPO bestätigt. Es hat allein - und darauf
nehmen Sie Bezug - beanstandet, dass eine den Zugang
zur Revision erschwerende Auslegung und Anwendung
des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO mit dem Gebot effektiven
Rechtsschutzes unvereinbar sei, nämlich wenn sie sachlich nicht zu rechtfertigen ist, sich damit als objektiv
willkürlich erweist und dadurch den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar einschränkt. Diese sich im konkreten Fall möglicherweise stellende Frage hat mit der
Regelung als solcher aber nichts zu tun.
Dennoch - es bleibt das Gerechtigkeitsproblem.
Wenn auch nicht verfassungsrechtlich zwingend notwendig, so ist dies doch ein rechtsstaatlich gebotener Auftrag an uns, zu handeln. Überdies halte ich in vielen Fällen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung
- auch wenn der Fall rechtlich eindeutig und von der
ersten Instanz richtig entschieden sein mag - für angemessen; denn eine mündliche Verhandlung dient nicht
allein der Rechtsfindung und des Erkenntnisgewinns.
Sie gibt auch einen besseren Rahmen für eine gütliche
Einigung auf dem Vergleichswege und ermöglicht zudem
ein Rechtsgespräch zwischen den Parteien, aber auch
zwischen dem Gericht und den Parteien. Hierüber kann
so manches Mal mehr Überzeugungskraft erzeugt werden als durch schriftliche Ausführungen. Eine mündliche Verhandlung schafft Akzeptanz in die gerichtliche
Entscheidung und erfüllt auf diese Weise die Befriedungsfunktion des gerichtlichen Verfahrens in hervorragender Weise. Dies ist ein rechtsstaatlicher Wert an sich,
der durch das Beschlussverfahren des § 522 Abs. 2 ZPO
bislang ausgeschlossen wird.
Berücksichtigt man zudem, welche gravierenden Auswirkungen die fehlsame oder sogar missbräuchliche Anwendung des Verfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO im Einzelfall haben kann - ich erinnere nochmals an das
Schicksal der kleinen Deike -, dann kann man nicht anders, als festzustellen, dass die derzeitige Regelung angepasst werden muss. Aber wo Schatten ist, da muss
auch irgendwo Licht sein. Deswegen gehört es zu einer
seriösen Diskussion dazu, zu fragen, welche positiven
Aspekte das Beschlussverfahren des § 522 Abs. 2 ZPO
seit 2001 bewirkt hat und welche Folgen dessen ersatzlose Streichung nach sich zöge. Und da gibt es durchaus
einige Dinge, die man nicht vernachlässigen sollte.
Die Reform der ZPO - da waren sich Union und SPD
in der 13. Legislaturperiode einig - war notwendig.
Menge und Länge der Verfahren sollten ein gesundes
Maß erreichen, um jedem Bürger den ihm zustehenden
Zu Protokoll gegebene Reden
Rechtsschutz zukommen zu lassen. Zuvor war es so, dass
auch solche Berufungen terminiert werden mussten, die
offensichtlich unbegründet waren und die keinerlei Aussicht auf Erfolg hatten. Das ist nicht effizient und bindet
richterliche Arbeitskraft, die an anderer Stelle nicht
mehr zur Verfügung steht. Das verzögert nicht nur das
konkrete Verfahren, sondern mittelbar auch alle anderen, für die dann keine oder weniger Zeit mehr ist. Guter,
effizienter Rechtsschutz setzt aber voraus, dass er in angemessener Zeit gewährt wird.
Meine Damen und Herren von der SPD, Ihre eigene
Ministerin Zypries hat 2009 ausgeführt, dass es vor der
Möglichkeit einer Zurückweisung durch Beschluss kein
gutes - weil nur langsames - Recht gab. Im Kern ist das
richtig. Und die Daten zeigen uns ja auch, dass es durch
das Beschlussverfahren tatsächlich zu einer Verfahrensbeschleunigung gekommen ist. Die wollen wir - im Interesse aller Rechtssuchenden - nicht wieder völlig aufgegeben. Man darf in der Diskussion auch nicht vergessen,
dass es die Interessen von zwei Parteien zu berücksichtigen gilt: das Interesse des weiteren Rechtsschutzsuchenden, des Berufungsklägers, aber auch das Interesse des
Berufungsbeklagten. Der in der ersten Instanz erfolgreiche Berufungsbeklagte hat verständlicherweise ein Interesse daran, das erstrittene Urteil möglichst schnell um-,
nämlich durchsetzen zu können. Dafür benötigt er die
schnelle Rechtskraft des Urteils, die unmittelbar durch
einen Zurückweisungsbeschluss eintritt. Wenn man diesen - so wie die SPD das will - ersatzlos abschaffte,
steht zu befürchten, dass es vermehrt Anreize gibt, Berufung nur deswegen einzulegen, um das Verfahren zu verzögern, nämlich die Vollstreckung eines zu Recht titulierten Anspruchs zu vereiteln. Für die in erster Instanz
erfolgreiche Partei ist es aber wichtig, möglichst schnell
Klarheit über die Endgültigkeit ihres Obsiegens, also
Rechtssicherheit zu haben. Das alles würden wir negieren, wenn wir dem SPD-Antrag folgen würden. Die Ziele
der ZPO-Reform 2001 waren aber im Kern richtig und
haben sich auch - das zeigen die empirischen Daten und
Umfragen - weitgehend verwirklicht.
Deswegen verfolgt die christlich-liberale Koalition
einen anderen Weg. Wir erkennen, dass der gegenwärtige Zustand unbefriedigend ist. Und wir anerkennen,
dass mehr Rechtsschutz gewährleistet sein muss. Wir
haben daher einen Gesetzentwurf erarbeitet, der die
Schwächen des jetzigen §-522-Verfahrens beseitigt und
gleichzeitig die Vorteile der ZPO-Reform bewahrt. Unsere Lösung soll alle Prozessbeteiligten - Kläger und
Beklagte, Richter und Berufungsrichter sowie die Bundesländer als Träger der Landesjustiz - unter einen Hut
bringen. Mit unserem Gesetzentwurf werden wir den
zwingenden Charakter des § 522 Abs. 2 ZPO klarer formulieren und für Zurückweisungsbeschlüsse mit einer
Beschwer über 20 000 Euro das Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde einführen. Damit gewährleisten
wir, dass eine bundeseinheitliche Handhabung der Voraussetzungen des Beschlussverfahrens nach § 522
Abs. 2 ZPO und darüber die rechtsstaatlich gebotene
Rechtsanwendungsgleichheit befördert wird. Zugleich
ermöglichen wir die Durchführung einer mündlichen
Verhandlung in den Fällen, wo dies angemessen ist und
dem Rechtsfrieden und der Akzeptanz einer gerichtlichen Entscheidung dienlich ist. Dieser Gesetzentwurf
wird in der kommenden Woche im Bundeskabinett beraten und kann dann von uns im Detail debattiert werden.
Zum Schluss bleibt also festzuhalten: Die SPD hat mit
ihrem Antrag den Finger in die Wunde gelegt; diese
Wunde hat sie allerdings selbst geschlagen. Wir verschließen uns dem Anliegen nicht; es ist in der Tat berechtigt. Allein der Lösungsvorschlag, den Sie uns hier
unterbreiten, negiert die positiven Effekte des Beschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO und schießt
daher über das Ziel hinaus. Wir als christlich-liberale
Koalition werden daher den skizzierten eigenen Gesetzentwurf einbringen, der ausgewogen ist und allen Interessen gerecht wird. Ihrem Antrag werden wir daher
nicht zustimmen.
Wir debattieren heute in erster Lesung über den von
meiner Fraktion eingebrachten Gesetzentwurf zur Streichung des § 522 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO. Danach kann
das Berufungsgericht eine Berufung ohne mündliche
Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückweisen, wenn es davon überzeugt ist, dass die Berufung
keine Aussicht auf Erfolg hat. Der Beschluss ist unanfechtbar. Diese Vorschrift ist im Januar 2002 im Zuge
der ZPO-Reform in Kraft getreten. Hauptziele der Reform waren es, gütliche Lösungen zu fördern sowie stärkere Transparenz und Akzeptanz der Entscheidungen zu
schaffen. Diese Ziele wurden in weiten Teilen mit der
Reform erreicht - im § 522 Abs. 2 ZPO wurden sie verfehlt.
Zunächst ist festzustellen, dass die Vorschrift besonders anfällig für Verletzungen des verfassungsrechtlichen Anspruchs der Parteien auf rechtliches Gehör ist.
Der Rechtsuchende empfindet sich im Verfahren des
§ 522 Abs. 2 ZPO nicht als Rechtssubjekt, sondern fühlt
sich der Willkür und der alleinigen Entscheidungsbefugnis der Richter ausgeliefert. Entgegen der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers führt die Vorschrift darüber hinaus zu keiner spürbaren Entlastung der
Gerichte; denn wenn die Regelung ernst genommen
wird, bereitet eine aussagekräftige Hinweisverfügung
vor der Beschlussfassung, wie sie das Gesetz vorsieht,
den Richtern nicht weniger Arbeit als ein Votum für eine
mündliche Verhandlung. Auch der Zurückweisungsbeschluss ist ausführlich zu begründen, wobei es mit einer
bloßen Wiederholung der Hinweisverfügung nicht getan
ist. Wodurch also sollte eine Entlastung eintreten? Aber
selbst wenn § 522 Abs. 2 ZPO zu einer Beschleunigung
und Entlastung der Gerichte beitragen würde: Diese
darf niemals zulasten der Einzelfallgerechtigkeit und
der Transparenz der Rechtsprechung gehen.
§ 522 Abs. 2 ZPO wird nämlich in der Praxis völlig
unterschiedlich und teilweise widersprüchlich gehandhabt. So werden etwa in Bremen nur 5,2 Prozent, in
Mecklenburg-Vorpommern hingegen 27,1 Prozent der
Berufungssachen nach § 522 Abs. 2 ZPO entschieden.
Im Ergebnis führt das zu Gerechtigkeitsdefiziten und
Justizverdrossenheit der betroffenen Kläger, nicht dageZu Protokoll gegebene Reden
gen zur Beschleunigung der Verfahren. Würde eine
mündliche Verhandlung durchgeführt, könnte die unterliegende Partei ihre Stellungnahme in öffentlicher Verhandlung vortragen und damit die Richter vielleicht zu
einer anderen Beurteilung bewegen. Die mündliche Verhandlung ist das Herzstück eines jeden Zivilprozesses.
Sie räumt oft Missverständnisse aus, schafft Rechtsfrieden und kann gegebenenfalls auch den Unterlegenen
überzeugen.
Der vom Justizministerium vorgelegte Referentenentwurf sieht in seiner aktuellen Fassung vor, dass gegen
den Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO eine Nichtzulassungsbeschwerde eingeführt wird. Diese soll jedoch der
gleichen Grenze für die Beschwer unterliegen wie das
Berufungsurteil selbst, ist also nur statthaft, wenn die
Beschwer über 20 000 Euro liegt. Damit wird an dem
bisherigen Zustand jedoch wenig geändert; denn die
meisten Beschlüsse, zumindest im Zuständigkeitsbereich
der Landgerichte, werden auch nach Einführung der
Nichtzulassungsbeschwerde nicht anfechtbar sein.
Letztlich unterstützt das BMJ mit dem nun vorgelegten
Referentenentwurf einen nicht zielführenden Weg und
verbessert die Situation für den Rechtsuchenden nur unzulänglich. Die Abschaffung dieser Vorschrift ist der
sinnvollste Weg. Er beseitigt das Problem der zersplitternden Rechtsanwendung der verschiedenen Spruchkörper, behebt die gegenwärtig zu beklagenden Gerechtigkeitsdefizite und trägt damit zum Rechtsfrieden und
zur Transparenz bei.
Gegenstand dieses Tagesordnungspunktes ist ein Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Änderung der Zivilprozessordnung. Offensichtlich war man sich in der SPD
sehr unsicher, ob man diesen Entwurf überhaupt einbringen sollte; denn er erreichte uns, obwohl schon auf
der Plenartagesordnung für den heutigen Donnerstag
angekündigt, erst am Mittwochmorgen, also gestern.
Nun ist der Gesetzentwurf zugegebenermaßen sehr kurz.
Er enthält nur den einzigen inhaltlichen Satz: „In § 522
werden die Abs. 2 und 3 gestrichen.“
Wer die Diskussionen zur Änderung des § 522 ZPO in
der letzten Legislaturperiode verfolgt hat, wird sich aber
verwundert die Augen reiben. Im März 2009, genauer
gesagt am 5. März 2009, verteidigte die SPD noch im
Deutschen Bundestag mit der geballten Kraft ihrer Bundesjustizministerin Frau Zypries und ihres damaligen
Obmannes im Rechtsausschuss die bestehende Regelung
in § 522 ZPO und lehnte jedwede Änderung kategorisch
ab. Die FDP, die damals einen Änderungsentwurf eingebracht hatte, gehe von falschen Voraussetzungen aus.
Eine unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte in
den Ländern bei Berufungsentscheidungen ohne mündliche Verhandlung durch unanfechtbaren Beschluss sei
nicht in relevantem Ausmaß gegeben, so die damalige
Bundesjustizministerin. Jedenfalls habe sich das Rechtsinstitut der Berufungszurückweisung durch Beschluss
bewährt und stelle auch keine Rechtsschutzverkürzung
dar.
Das liest sich in der Begründung zu dem heute eingebrachten Entwurf der SPD ganz anders. Nunmehr lassen
die unterschiedlichen Zurückweisungsquoten von
5,2 Prozent in Bremen und 27,1 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern es auch für die SPD fraglich erscheinen, ob die in § 522 Abs. 2 und 3 ZPO statuierte Möglichkeit des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses
noch rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht.
Lehnte Frau Zypries es noch ausdrücklich ab, die Erfolgsquote der Zulassungsrevision beim Bundesgerichtshof zur Beurteilung der Frage heranzuziehen, ob
der BGH bei einer Überprüfung der Zurückweisungsbeschlüsse zu einer anderen Bewertung käme, ist diese Erfolgsquote heute für die SPD-Fraktion ausdrücklich die
Begründung für den Gesetzentwurf.
Nun könnte man sich ja darüber freuen, wenn auch
die SPD-Fraktion zur besseren Einsicht kommt. Leider
schießt sie aber mit ihrem Streichungsantrag über das
Ziel hinaus. Der Vorschlag lässt nämlich völlig außer
Acht, dass die Vorschrift auch dazu dienen sollte, raschen und effektiven Rechtsschutz zu gewähren. Das
Berufungsgericht sollte bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Berufung durch Beschluss ohne
mündliche Verhandlung zurückweisen. Dies hat - so
auch die Landesjustizminister - zur Beschleunigung der
Verfahren und auch zur Entlastung der Gerichte geführt.
Diesen für alle Beteiligten positiven Effekt darf ein Änderungsvorschlag zu § 522 ZPO nicht vernachlässigen.
Es sollte daher eine Regelung gefunden werden, die einerseits der bisher unterschiedlichen Anwendungspraxis entgegenwirkt und andererseits die Entscheidung
nach § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss hinsichtlich der
Rechtsfolgen einer Entscheidung durch Urteil gleichstellt. Genau einen solchen abgewogenen Gesetzentwurf
wird die Bundesjustizministerin in der nächsten Woche
dem Kabinett vorlegen. Wenn dieser anschließend das
Parlament erreicht hat, werden wir im Rechtsausschuss
ausreichend Gelegenheit haben, die Vor- und Nachteile
der unterschiedlichen Regelungen zu diskutieren.
Mit der Reform der Zivilprozessordnung hat RotGrün im Jahre 2002 versucht, die Rechtsmittelmöglichkeiten neu zu gestalten, um die Gerichte zu entlasten.
Hinsichtlich einer Änderung schossen sie jedoch weit
über das Ziel hinaus: die Einfügung der Abs. 2 und 3 in
§ 522 der Zivilprozessordung. Nach nunmehr über acht
Jahren der Erprobung müssen wir leider feststellen,
dass die Änderung des § 522 ZPO eher ein Fluch als ein
Segen für die Rechtsschutzsuchenden darstellt und auch
die gewünschte Entlastung der Gerichte verfehlt wurde.
Sie haben damit den Rechtsschutzsuchenden Steine statt
Brot gegeben. Deshalb ist der vorliegende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion sehr zu begrüßen. Die Sozialdemokraten haben eingesehen, dass die damalige Reform
fehlerhaft war. Nun sollte die heutige Bundesregierung
der SPD und den Grünen die Möglichkeit geben, ihren
Fehler zu korrigieren. Ganz nebenbei wird damit ein
verfassungswidriger Zustand korrigiert. Art. 103 Abs. 1
GG sichert jedermann vor Gericht einen Anspruch auf
rechtliches Gehör zu. Wenn aber eine Berufung durch eiZu Protokoll gegebene Reden
nen einfachen, unanfechtbaren Beschluss zurückgewiesen werden kann, so stellt dies meines Erachtens eine
Verletzung eines durch die Verfassung zugesicherten
Grundrechts dar.
Der Gesetzentwurf sieht nun eine vollständige Streichung der beiden damals eingeführten Abs. 2 und 3 des
§ 522 ZPO vor und geht somit viel weiter, als der von der
Bundesregierung vorgelegte Referentenentwurf. Der Referentenentwurf versucht lediglich, kosmetisch zu kaschieren, und übernimmt so die früheren Fehler von RotGrün! Er sieht neben den drei bestehenden noch eine
weitere Bedingung für die Zurückweisung der Berufung
vor. Und als kleine zusätzliche Verbesserung sollen dem
Betroffenen nun Rechtsmittel gegen den ablehnenden
Beschluss zugestanden werden. Das ist nicht genug und
damit inakzeptabel!
Durch den Entwurf der SPD soll diese überflüssige
Regelung beseitigt werden. Mit der Einführung des § 522
Abs. 2 ZPO wurde dem Berufungsgericht die Möglichkeit eröffnet, die Berufung zurückzuweisen, wenn es zu
der Überzeugung gelangte, dass die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung aufweist und weder die Rechtsfortbildung
noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Dieser Beschluss ist bisher nach § 522 Abs. 3 ZPO unanfechtbar. Entschiede aber das Gericht in dem gleichen
Rechtsstreit durch Urteil, ist gegen die Zurückweisung
der Berufung eine Nichtzulassungsbeschwerde möglich.
Zu Recht wird eine solche Vorgehensweise von vielen Juristen als „kurzer Prozess“ bezeichnet.
Gerade in Arzthaftungsfällen ist die Anwendung des
§ 522 ZPO in seiner heutigen Form im Hinblick auf die
finanzielle und gesundheitliche Belastung der Geschädigten eine wirkliche Zumutung. Da ist es nur verständlich, wenn der Glaube der Bürgerinnen und Bürger an
die Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in diesem
Lande verloren geht. Wenn man sich die Intention des
damaligen Gesetzgebers anschaut, kommt man zu dem
Schluss: Kosteneinsparung im Justizsektor führt zu ungerechten Entscheidungen und lässt das Vertrauen in die
Justiz und den Rechtsstaat schwinden. Dies dürfen wir
nicht länger zulassen. Die Linke stimmt darum dem vorliegenden SPD-Entwurf zu.
Heute diskutieren wir über den Gesetzentwurf der
SPD zur Änderung der Zivilprozessordnung - konkret
über die Änderung von § 522 ZPO, der einen Teil der
Rechtsmittel regelt. Dies beinhaltet eine äußerst wichtige Angelegenheit: den Zugang der Bürgerinnen und
Bürger zum Recht. Die Regelung des § 522 ZPO wurde
mit der Zivilprozessreform 2002 eingeführt. Es wurden
damals neben anderen Strukturänderungen die Rechtsmittel neu gestaltet. Ziel der Neugestaltung war die Entlastung der Gerichte. Zudem sollten die Rechtsmittelverfahren beschleunigt werden. Beides sind wichtige und
begrüßenswerte Ziele, die aber nicht um jeden Preis
durchgesetzt werden dürfen, vor allem dann nicht, wenn
dadurch der Zugang zum Recht für die Bürgerinnen und
Bürger erschwert wird.
Um zu verstehen, inwiefern der Rechtsweg für Bürgerinnen und Bürger durch § 522 Abs. 2 ZPO verkürzt
wird, müssen wir uns diese Norm etwas genauer ansehen. Sie besagt, dass die Berufungsgerichte verpflichtet
sind, eine Berufung durch einstimmigen Beschluss zurückzuweisen, wenn sie davon überzeugt sind, dass die
Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat. Das bedeutet
konkret: In diesen Fällen findet keine mündliche Verhandlung statt. Gegen den im schriftlichen Verfahren gefassten Beschluss besteht kein weiteres Rechtsmittel, der
zurückweisende Beschluss ist unanfechtbar. Damit ist
der Rechtsweg für die Berufungsklägerin bzw. den Berufungskläger vor den ordentlichen Gerichten erschöpft.
Sie haben keine weitere Möglichkeit, in ihren Angelegenheiten weiter gerichtlich vorzugehen!
Für die Rechtsuchenden stellt es einen großen Unterschied dar, ob ihre Berufung im schriftlichen Verfahren
zurückgewiesen wird oder ob eine mündliche Verhandlung stattfindet, in der sie sich äußern können. Ohne
mündliche Verhandlung in einem Gerichtssaal vor einem Richter kann bei den Bürgerinnen und Bürgern das
Gefühl entstehen, von der Justiz nicht wirklich gehört zu
werden und nur „eine Akte“ unter vielen zu sein. Ein
weiteres Problem ist die unterschiedliche Anwendung
der Vorschrift in der Praxis. Im Gesetz steht, dass durch
schriftlichen Beschluss über die Berufung entschieden
wird, wenn alle Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO
nebeneinander vorliegen. Die Vorschrift hat also einen
zwingenden Charakter.
Daraus könnte man folgern: Alle Berufungsgerichte
wenden diese Vorschrift in der gleichen Art und Weise
an. Schauen wir uns aber die Statistiken an, müssen wir
feststellen, dass es große Differenzen in der praktischen
Handhabung bei den Oberlandesgerichten gibt. 2005
wurden am Oberlandesgericht Rostock 23,1 Prozent aller erledigten Berufungssachen nach § 522 Abs. 2 ZPO
entschieden, am Oberlandesgericht Saarbrücken waren
es dagegen nur 4,3 Prozent. 2009 lagen die Prozentzahlen beim Oberlandesgericht Hamm bei 8,3 Prozent, das
Oberlandesgericht Rostock erledigte im Vergleich dazu
ganze 27,1 Prozent der Verfahren nach § 522 Abs. 2
ZPO. Damit lag in beiden Fällen eine Diskrepanz von
18,8 Prozent vor. Das sind Missstände, die so nicht hingenommen werden dürfen. Die Bürgerinnen und Bürger
haben einen Anspruch auf gleichen Zugang zum Recht.
Das schließt auch die Rechtsmittelinstanzen mit ein. Angesichts der regional sehr unterschiedlichen Verfahrensweisen ist dieses jedoch nicht gewährleistet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
schlagen vor, § 522 Abs. 2 ZPO zu streichen. Das würde
das Problem der unterschiedlichen Handhabung durch
die Gerichte endgültig lösen; denn die Bürgerinnen und
Bürger hätten dann regelmäßig den Zugang zum Recht
über die mündliche Verhandlung. Jedoch gilt es auch zu
bedenken, dass die Gerichte dieses nicht ohne Weiteres
werden leisten können. Im Zuge der Einführung von
§ 522 Abs. 2 ZPO wurden Richterstellen abgebaut.
Wenn wir diese Vorschrift jetzt streichen, müssten weiZu Protokoll gegebene Reden
tere Richterinnen und Richter eingestellt werden. Bevor
das geschieht, könnte mit einer längeren Prozessdauer
zu rechnen sein. Auch das liegt nicht im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger. Es gilt also, noch einiges abzuwägen, bevor wir hier zu einer Neuregelung kommen.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen: Die
Beschleunigung von Rechtsmittelverfahren sowie die
Entlastung der Justiz sind wichtige und begrüßenswerte
Ziele. Aber nicht um jeden Preis. Der gleiche Zugang
zum Recht und die Wahrung des Rechtsfriedens sind so
bedeutend, dass sie nicht immer hinter Einsparargumenten zurücktreten können.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4431 an den Rechtsausschuss
vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenwürdiges Existenzminimum für
alle - Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen
- Drucksache 17/4424 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke
knüpft an die zahlreichen Initiativen von Linken und
Grünen zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes, AsylbLG, an. Bereits im Juni des vergangenen
Jahres haben wir über einen Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, der fast wortgleich schon im
November 2008 im Deutschen Bundestag debattiert
worden ist, beraten.
Meine Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, mit Ihrer Forderung nach Abschaffung des
AsylbLG stellen Sie die Grundkonzeption dieses Gesetzes infrage und begründen dies mit „einem diskriminierenden Ausschluss von Asylsuchenden aus der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende“. Für
eine solche Diskriminierung kann ich keine Anhaltspunkte erkennen; denn unser Asylrecht in Deutschland,
das unser Grundgesetz im Übrigen als eine von wenigen
Verfassungen der Welt jedem politisch Verfolgten gewährt, verfolgt einen ganz anderen Zweck als unser Sozialhilferecht. Kerngedanke des AsylbLG ist es, die Leistungen für Asylbewerber gegenüber der Sozialhilfe zu
vereinfachen und auf die Bedürfnisse eines, in aller Regel nur vorübergehenden, Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland abzustellen. Wir sprechen hier von
Asylbewerbern, die einen Asylantrag gestellt haben und
sich bis zur Entscheidung über diesen Antrag bei uns
aufhalten dürfen.
Da gerade die Grünen immer wieder so tun, als ob sie
schon immer in der Opposition gewesen wären und nicht
sieben Jahre lang mit der SPD in Regierungsverantwortung gestanden hätten, möchte ich noch einmal auf den
Ursprung dieses AsylbLG zu sprechen kommen. Erinnern wir uns: Anfang der 1990er-Jahre stieg die Zahl
der asylbegehrenden ausländischen Staatsangehörigen
stark an, von rund 438 000 Personen im Jahr 1992 bis
auf den Höchststand im Jahr 1996 mit 490 000 Personen. Für viele Migranten war der wirtschaftliche Wohlstand in Verbindung mit der günstigen geografischen
Lage und der verfassungsrechtlich verankerten Asylgarantie der Bundesrepublik Deutschland Hauptursache
ihres Kommens; die politische Verfolgung stand ausweislich der Anerkennungszahlen im Asylverfahren weniger im Vordergrund. Vor diesem Hintergrund verständigten sich die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU,
SPD und FDP am 6. Dezember 1992 in dem sogenannten Asylkompromiss auf eine Neugestaltung des
Asylrechts. Unter anderem sollte dadurch der Anreiz für
nicht politisch Verfolgte reduziert werden, Asyl in
Deutschland zu suchen. Daher einigten sich die Fraktionen auch darauf, ein Gesetz zur Regelung des
Mindestunterhalts von Asylbegehrenden und anderen
ausländischen Staatsangehörigen ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu schaffen.
Wenn Sie nun behaupten, dass 17 Jahre nach Inkrafttreten des AsylbLG festzustellen sei, dass dieses Gesetz
weder damals noch heute dazu geeignet war und ist, die
Asylsuchenden bzw. Geduldeten zu einer schnellen Ausreise aus Deutschland zu bewegen, dann haben Sie die
Zahlen nicht verfolgt. Das Statistische Bundesamt stellt
in seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung vom
4. Mai 2009 fest, dass die Empfängerzahlen sowie die
Ausgaben für Hilfeleistungen nach dem AsylbLG seit
Mitte der 1990er-Jahre stark rückläufig sind. Waren es
Ende 1994 noch 446 500 Menschen, die Leistungen nach
dem AsylbLG erhielten, waren es zum 31. Dezember
2009 nur noch 121 235 Personen. Das ist der niedrigste
Stand seit Einführung des AsylbLG. Die Bruttoausgaben
nach dem AsylbLG sind von rund 2,8 Milliarden Euro im
Jahr 1994 auf rund 789 Millionen Euro im Jahr 2009 zurückgegangen. Im Jahr 2008 erhielten 128 000 Personen
in 73 000 Haushalten Leistungen nach dem AsylbLG.
Zu den Auswirkungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils zu Hartz IV möchte ich Folgendes sagen:
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große
Anfrage der Linken festgestellt, dass die Leistungssätze
im AsylbLG nicht den Anforderungen des Urteils des
Bundesverfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010 entsprechen. Deshalb prüft die Bundesregierung eine Anpassung der Leistungssätze und wird dabei auch den Anpassungsmechanismus im AsylbLG mit einbeziehen.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung - wie es im
Koalitionsvertrag vereinbart worden ist - eine Evaluation des Sachleistungsprinzips bereits eingeleitet. Die
CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, das AsylbLG
sobald wie möglich anzupassen und so für eine verfasDr. Johann Wadephul
sungsfeste Lösung zu sorgen. Nach Abschluss der Leistungsreform des Sozialgesetzbuches II werden wir diese
Anpassungen gesetzlich regeln. Mit den Einzelheiten
werden wir uns bei einer Anhörung im Ausschuss für
Arbeit und Soziales Anfang Februar dieses Jahres befassen.
Eine Abschaffung des AsylbLG lässt sich aus den Erwägungen des Bundesverfassungsgerichtes jedoch nicht
folgern. Vielmehr hat es das Bundesverfassungsgericht
in früheren Entscheidungen gerade dem Gesetzgeber
überlassen, ein eigenes Konzept zur Sicherung des Lebensbedarfes für Asylbewerber zu entwickeln. Dies räumen Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, in Ihrem Antrag auch ein. Der Ausschluss von
Asylsuchenden aus der Sozialhilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende hat besondere Gründe, die eine
andere Beurteilung der Situation rechtfertigen. Dies hat
auch das Bundesverwaltungsgericht so bestätigt. Der
Grund hierfür ist, dass es bei Asyl zunächst nicht um einen dauerhaften Aufenthalt, sondern um eine vorübergehende Versorgung der Betroffenen bis zur Entscheidung
über ihren Asylantrag geht. Es kann nicht in erster Linie
darum gehen, diese Menschen hier bei uns aufzunehmen, ohne dabei die Ursachen für ihren Aufenthalt zu
bekämpfen. Vielmehr liegt die Ursache doch offensichtlich in den schlechten Verhältnissen vieler Länder, wo
Millionen Menschen vor Ort zurückbleiben und Not leiden müssen. Dieses Problem kann nicht allein auf nationaler Ebene, sondern nur mit internationaler Abstimmung gelöst werden. Hier spielt die Entwicklungspolitik
eine entscheidende Rolle.
Fazit: Das schwierige globale Problem steigender
Flüchtlingsströme werden wir nicht durch eine Abschaffung des AsylbLG lösen. Eine ausreichende Versorgung
der Asylbewerber bei uns in Deutschland steht bei uns in
Deutschland außer Frage; dafür sorgt das AsylbLG.
Deshalb werden wir die Leistungssätze des AsylbLG
auch im Hinblick auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil des vergangenen Jahres anpassen, sobald wir die
Leistungsreform im Sozialgesetzbuch II abgeschlossen
haben.
Bereits seit Inkrafttreten des Asylbewerberleistungsgesetzes, meine lieben Kolleginnen und Kollegen der
Linken, kritisieren Sie dieses - leider immer mit den
gleichen, nicht überzeugenden Argumenten. Damit verschwenden Sie wertvolle Energie für konstruktive politische Arbeit.
Verabschiedet wurde das Gesetz 1992 von den Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP, da in jenem Jahr
95 Prozent der Asylsuchenden nicht politisch verfolgt
waren, sondern andere oder häufig wirtschaftliche
Gründe für ihren Aufenthaltswunsch in Deutschland
hatten. Dieser Zustand belastete unsere Sozialkassen so
erheblich, dass Regelungen zu einem Mindestbedarf von
Asylsuchenden nötig wurden. Wie die Entwicklungen der
letzten Jahre zeigten, wirkt das Gesetz diesem Asylmissbrauch erfolgreich entgegen und erfüllt auch seinen zentralen Zweck: Es gewährt politisch Verfolgten und unmenschlich Behandelten die nötige Unterstützung.
Zudem gebe ich zu bedenken, dass wir mit Maßnahmen gegen einen Missbrauch des Asylrechts, auf welchen das Asylbewerberleistungsgesetz abzielt, den
tatsächlich politisch verfolgten und misshandelten Menschen in ihren menschenrechtlichen Bedürfnissen anerkennen, bekräftigen und unsere staatsrechtlichen Plichten ernst nehmen.
Und, meine sehr geehrten Damen und Herren der
Linken, die Bundesregierung prüft derzeit genau, welche
Bedeutung die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010 zu den Hartz-IV-Regelsätzen auf das Asylbewerbergesetz hat. Dabei handelt es
sich um komplexe Sach- und Rechtsfragen, deren Prüfung noch nicht abgeschlossen ist.
Keinesfalls kann, wie in Ihrem Antrag, von einem
„andauernden verfassungswidrigen Umgang mit
Schutzsuchenden“ gesprochen werden - dies möchte ich
deutlich zurückweisen. Diskussionen vor Abschluss des
Prüfergebnisses bringen uns leider keinen Schritt weiter!
Doch lassen Sie mich auf einzelne Punkte eingehen.
Der Antrag der Linken beschreibt ein „Existenzminimum zweiter Klasse“ und bemängelt, dass Asylsuchende
nicht die gleichen Sozialleistungen wie deutsche Staatsbürger erhalten. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts macht deutlich, dass der Gesetzgeber für die
Hilfeleistung gruppenbezogene Differenzierungen vornehmen kann. Wir befassen uns mit einer Übergangsregelung für Asylsuchende, die nur solange Gültigkeit
behält, bis die Entscheidung über den Asylantrag gefallen ist - oder eben maximal vier Jahre. Es handelt sich
um keine Dauerregelung.
Sie sprechen in Ihrem Antrag von einer „systematischen Desintegration“. Es ist auch sinnvoll, dass systematische Integrationsmaßnahmen erst beginnen, wenn
dem Antrag auf Asyl stattgegeben wurde. Asylsuchende,
deren Anträge abgelehnt werden, müssen zu einer Ausreise aus Deutschland bewegt werden. Sie können nicht
umgehend sozial integriert und den inländischen Bedürftigen gleichgestellt werden.
Hier gebe ich auch zu bedenken, dass Leistungszahlungen, die sich aus inländischen Steuereinnahmen ergeben, in einem angemessenen Verhältnis verteilt werden müssen. Die Steuerzahler in unserem Land sind
bereits enorm belastet. Überdies würde eine Aufhebung
des Asylbewerberleistungsgesetzes den Druck auf unsere Sozialkassen nur noch weiter erhöhen.
Außerdem bemängelt ihr Antrag die Sachleistungsversorgung und kritisiert gleichzeitig, dass Preissteigerungen nicht berücksichtigt wurden. Durch die vornehmliche Gewährung von Sachleistungen wird doch in
vollem Maße der Preisentwicklung Rechnung getragen:
Der Staat trägt in diesem Fall die Preissteigerungen
selbst, wenn beispielsweise Bekleidung oder Hausrat als
Sachleistung gewährt werden. Dies ist wohl eher bei den
Pauschalbeträgen, die das SGB XII und das SGB II vorZu Protokoll gegebene Reden
sieht, der Fall. Ihr Vorwurf, dass die Preisentwicklungen
seit 1993 nicht mehr angepasst wurden, ist also zurückzuweisen.
Es ist eine wichtige staatliche und auch moralische
Pflicht, Menschen, die politisch verfolgt und misshandelt werden, zu unterstützen, aufzunehmen und so ihr
Leid zu mindern. Es ist wichtig, die Asylgesuche möglichst zügig zu bearbeiten, um Menschen nicht unnötig
lange in einem ungewissen Zustand zu lassen.
In Deutschland besteht für Flüchtlinge in dieser
Übergangsphase eine gute Versorgung. Für weitere Entwicklungsmaßnahmen müssen wir die Ergebnisse des
Vermittlungsausschusses abwarten. Der vorliegende
Antrag ist hierfür weder konstruktiv noch zielführend
und muss deshalb abgelehnt werden.
Heute debattieren wir über das Asylbewerberleistungsgesetz. Das ist gut so; denn das Thema brennt unter den Nägeln. Leider werden unsere Reden, wie in der
letzten Debatte auch schon, wieder nur zu Protokoll gegeben. Die Grünen hatten bereits im Sommer ihren Gesetzentwurf eingebracht. Nun kommt die Fraktion Die
Linke mit ihrem Antrag. Das Ziel beider Initiativen ist,
das Asylbewerberleistungsgesetz aufzuheben bzw. abzuschaffen. Das wollen wir nicht. Wir werden uns mit einem Forderungskatalog einbringen, um die Lage der
Betroffenen zu verbessern. Die Expertenanhörung am
7. Februar steht ebenfalls noch bevor. Ich hoffe, dass es
wenigsten dann gelingen wird, dem Thema die Beachtung zu verschaffen, die es verdient.
Wenn wir über das Asylbewerberleistungsgesetz sprechen, dann reden wir auch über 120 000 Menschen, die
davon betroffen sind. Diese Menschen dürfen in
Deutschland nicht arbeiten, sie sind also auf Grundsicherung angewiesen. Sie müssen aber mit deutlich weniger auskommen als Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeld-II-Bezieher, und das, obwohl sie zum großen Teil
bereits viele Jahre in Deutschland leben. Spätestens seit
Februar 2010 wissen wir, dass das verfassungswidrig
ist. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben
ein klares Urteil zu den Regelsätzen im Sozialgesetzbuch II und XII - also zum ALG II und der Sozialhilfe gesprochen. Und natürlich gilt dieses Grundsatzurteil
genauso auch für das Asylbewerberleistungsgesetz. Dies
habe ich bereits in meiner Rede zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sommer deutlich gemacht.
Das Verfassungsgericht fordert, dass der Gesetzgeber
alle existenzsichernden Aufwendungen in einem transparenten Verfahren ermittelt und diese Berechnungen
nachvollziehbar offenlegen muss. Außerdem müssen
sich die zu erbringenden Leistungen an den bestehenden
Lebensbedingungen orientieren und dementsprechend
beständig aktualisiert werden. Dies hat die Bundesregierung inzwischen auch offiziell eingestanden - mehr
ist allerdings seitdem nicht geschehen. Wir fordern die
Bundesregierung und insbesondere die zuständige
Ministerin von der Leyen deshalb erneut auf, endlich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die derzeitige verfassungswidrige Leistungspraxis des Asylbewerberleistungsgesetzes durch ein nachvollziehbares Verfahren zur
Bemessung der Leistungen beendet. Wir haben diese
Forderung bereits in unserem Antrag zur Neufestsetzung
der Regelsätze vom 2. März 2010 formuliert und in unserem Antrag zur transparenten Bemessung der Regelbedarfe vom 10. November 2010 erneuert. Ich frage die
Ministerin: Frau von der Leyen, wollen Sie so lange abwarten, bis Sie vom Bundesverfassungsgericht durch ein
explizites Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz mit
Frist zum Handeln aufgefordert werden? Sollen die
Bundesrichter zukünftig Ihre Antreiber sein? Nur zu Ihrer Information: Das Landessozialgericht NordrheinWestfalen hat bereits ein Verfahren zum Asylbewerberleistungsgesetz an die Bundesverfassungsrichter überwiesen. Warten Sie also nicht länger, handeln Sie endlich!
Nicht nur die Regelsätze selbst müssen neu berechnet
werden, auch deren fortlaufende Aktualisierung muss sichergestellt werden. Seit Einführung des Asylbewerberleistungsgesetz 1993 gab es keinerlei Erhöhung der Regelsätze. Der Kaufkraftverlust betrug allein zwischen
1994 und 2009 etwa 25 Prozent. 2001 haben wir gemeinsam mit den Grünen versucht, die Leistungen für
Asylsuchende anzupassen. Die damalige Mehrheit im
Bundesrat von CDU, CSU und FDP lehnte unsere Gesetzesinitiative jedoch ab. Darüber hinaus sehe ich in
weiteren Bereichen des Asylbewerberleistungsgesetzes
Handlungsbedarf: Das Sachleistungsprinzip sollte abgeschafft und die Regelleistungen in voller Höhe ausgezahlt werden. Gutscheine für Kleidung und Lebensmittel
sind diskriminierend und menschenunwürdig! Auch das
Zusammenstellen von Essenspaketen ist kein würdiger
Umgang mit den Hilfebedürftigen. Es ist zudem äußerst
fragwürdig, ob durch das Sachleistungsprinzip, wie behauptet, tatsächlich Kosten eingespart werden oder im
Gegenteil es nicht wegen des Verwaltungsaufwandes
teurer wird. Überdenken müssen wir auch den Zugang
zu medizinischen Leistungen. Auch hier liegt einiges im
Argen.
Ganz wichtig ist darüber hinaus, dass der Kreis der
Leistungsberechtigten überprüft wird. Er sollte wieder
auf den ursprünglich Personenkreis, für den das Asylbewerberleistungsgesetz 1993 geschaffen wurde, zurückgeführt werden, nämlich auf Asylsuchende und Flüchtlinge,
die unser Land in absehbarer Zeit wieder verlassen werden. Zurzeit fallen außerdem Geduldete unter das Asylbewerberleistungsgesetz. Auch deshalb haben wir bereits
Ende 2009 eine Gesetzesinitiative - Drucksache 17/207 ins parlamentarische Verfahren eingebracht, um die
Zahl der bislang Geduldeten zu reduzieren und damit
vielen eine Perspektive für die gesellschaftliche und
ökonomische Integration in Deutschland zu eröffnen.
Auch die Dauer des Leistungsbezuges sollte von den
derzeit 48 Monaten wieder abgesenkt werden. Denn bei
4 Jahren kann nicht mehr von einer vorübergehenden
Aufenthaltsdauer gesprochen werden. Außerdem beträgt
die durchschnittliche Dauer aller rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahren lediglich 15 Monate.
Wir setzen uns für die grundsätzliche Abschaffung der
heutigen Residenzpflicht für Asylbewerber und für geZu Protokoll gegebene Reden
duldete Ausländer ein. Sie müssen sich, wie alle anderen
Menschen auch, in unserem Land frei bewegen können.
Wir wollen stattdessen, dass Asylbewerber und Geduldete einen festen zugewiesenen Wohnsitz haben, dann
aber keinen Mobilitätseinschränkungen mehr unterliegen. Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften
sollte ebenfalls überdacht werden, da dies für die Betroffenen meist belastend ist; denn oftmals befinden sich
diese außerhalb von Ortschaften, was zu Isolation führt
und Mobilitätskosten erhöht. Die Unterbringung in
Wohnungen kann zudem kostengünstiger sein. Da es jedoch auch bereits heute möglich ist, die Betroffenen in
Wohnungen unterzubringen, sollten die Kommunen davon Gebrauch machen. Diese Themenkomplexe werden
Gegenstand unserer parlamentarischen Initiative sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen und der Linken, Sie fordern eine komplette Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Dafür sehen
wir nach wie vor keine politischen Mehrheiten, weder
hier im Bundestag noch im Bundesrat. Sie fordern in Ihrem Antrag, dass Asylsuchende und deren Angehörige
Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch erhalten sollen. Das würde bedeuten, dass
erwerbsfähige Asylsuchende sofort eine Förderung zur
Eingliederung in den Arbeitsmarkt erhalten. Bei ungeklärtem Aufenthaltsstatus ist das aus unserer Sicht jedoch kein geeigneter Weg. Ich bin sehr gespannt, was
uns die Bundesregierung vorlegen wird. Ich hoffe sehr,
dass wir die Diskriminierung von Menschen im Asylbewerberleistungsgesetz endlich überwinden. Dieses Gesetz ist kein Ruhmesblatt - das haben uns auch die Verfassungsrichter ins Stammbuch geschrieben.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar letzten Jahres hat auf die politische Arbeit der
letzten Monate große Auswirkungen gehabt. Und selbst
wenn wir das Vermittlungsverfahren zur Neuberechnung
der Regelbedarfe bald abgeschlossen haben werden,
wird das Urteil noch weitere Auswirkungen für unsere
Arbeit haben; denn viele der Kritikpunkte, die das Bundesverfassungsgericht an den rot-grünen Hartz-IV-Gesetzen hatte, betreffen wohl auch das Asylbewerberleistungsgesetz. Daher werden wir jetzt, bevor uns ein
Gericht dazu konkreten Anlass geben wird, das Asylbewerberleistungsgesetz so ändern, dass es den Ansprüchen, die wir an gute Politik haben, gerecht wird. Wir
werden die Leistungen für Asylbewerber genauso transparent und nachvollziehbar darlegen, wie wir das jetzt
für die Bezieher von Arbeitslosengeld II gemacht haben.
Der Gesetzgeber ist 1993 bei der Festsetzung der
Leistungssätze im AsylbLG von dem in den Verhandlungen zum Asylkompromiss vereinbarten Ziel ausgegangen, dass im ersten Jahr des Leistungsbezugs eine Absenkung der Leistungen für Asylbewerber gegenüber
den Leistungen nach dem damaligen Bundessozialhilfegesetz erfolgen sollte. Der Umfang der Leistungen nach
dem AsylbLG wurde als zumutbar und zur Ermöglichung eines Lebens, das durch die Sicherung eines Mindestunterhalts dem Grundsatz der Menschenwürde gerecht werden soll, als ausreichend angesehen. Dass sich
dies in der Zwischenzeit verändert haben dürfte, möchte
ich nicht infrage stellen, und genau deshalb werden wir
die Sache auch angehen. Es ist jedoch auch klar, dass
wir eine Neufestsetzung der Leistungssätze des Asylbewerberleistungsgesetzes erst dann vornehmen werden,
wenn die Neufestsetzung der Regelbedarfe nach dem
Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch durch das
Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
abgeschlossen ist. Sie wird dann auf Grundlage der daraus gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse erfolgen.
Wenn die Linke nun aber fordert, das Asylbewerberleistungsgesetz ganz abzuschaffen, dann geht das eindeutig zu weit. Es gibt natürlich einen gerechtfertigten
Unterschied, auch in der Höhe, zwischen den Leistungen für Asylbewerber und denen von Menschen in der
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Dass dies so ist,
werden wir im Rahmen der Neufestsetzung offen und
transparent darlegen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat
sich in der Vergangenheit übrigens dafür stark gemacht,
dass die Hürden, die Asylbewerber haben, um selbst für
ihren Lebensunterhalt zu sorgen, weiter abgesenkt werden. Dies ist, wie überall in der Sozialpolitik, der wesentlich bessere Ansatz: Hilfe zur Selbsthilfe statt reiner
Alimentierung. Ich kann Ihnen daher zusagen, dass wir
das Asylbewerberleistungsgesetz nach Abschluss der
Neuregelung der Leistungen des Sozialgesetzbuchs II direkt neu regeln werden. Eine Abschaffung kommt für uns
jedoch nicht infrage.
Die Linke hat dem Bundestag einen Antrag vorgelegt,
mit dem die Fraktion die Abschaffung des diskriminierenden Asylbewerberleistungsgesetzes fordert. Der Antrag ist eine Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der sogenannten
Hartz-IV-Sätze. Das Gericht hat in seinem aufsehenerregenden Urteil unterstrichen, dass das Grundrecht auf
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums universale Gültigkeit besitzt. Damit gilt es auch
für Asylbewerber und andere Menschen mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus, die bislang unter das Asylbewerberleistungsgesetz fallen. Das Verfassungsgericht
hat außerdem die Anforderung aufgestellt, dass dieses
Existenzminimum auf Grundlage realitätsnaher, transparenter und nachvollziehbarer Kriterien berechnet
werden muss.
Beides trifft auf das Asylbewerberleistungsgesetz
nicht zu. Weder wird ein menschenwürdiges Existenzminimum gewahrt, noch liegen den Leistungssätzen
nachvollziehbare Kriterien zugrunde. Sie sind schlicht
und ergreifend politisch festgelegt worden, ohne Rücksicht auf die realen Bedürfnisse der betroffenen Asylbewerber, geduldeten Ausländer und Flüchtlinge. Die pauschalierte Festlegung der Leistungssätze steht in klarem
Widerspruch zum genannten „Hartz-IV-Urteil“ des
Bundesverfassungsgerichts. Dies musste mittlerweile
auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine
Große Anfrage der Fraktion Die Linke einräumen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes wurden die Sätze der sogenannten Grundleistungen
im Gesetz festgelegt und seitdem nicht der Preisentwicklung angepasst. Sie liegen damit mittlerweile über
30 Prozent unter den Hartz-IV-Sätzen. Die Bezugsdauer
der abgesenkten Sozialleistungen wurde von zunächst
einem Jahr schrittweise auf mittlerweile vier Jahre ausgedehnt. Der Bezug dieser sogenannten Grundleistungen schließt gleichzeitig den Zugang zum Gesundheitssystem aus, medizinische Leistungen gibt es nur in
akuten Notfällen. Die Behandlung chronischer Krankheiten und psychischer Traumatisierungen ist damit
nicht möglich. Der Schulbesuch der Kinder ist erschwert, die Wohnsituation in maroden Sammelunterkünften eine zusätzliche und andauernde Belastung. Das
geltende Sachleistungsprinzip verschärft den diskriminierenden Charakter noch zusätzlich. Dieses Prinzip
bedeutet, dass die Existenzsicherung in Form von
Essens- und Kleidungspaketen oder über Gutscheine abgewickelt wird. Wenigstens die Mittel des täglichen Bedarfs selbst einkaufen zu können, bedeutet, ein Minimum
an Selbstbestimmung und Würde zu bewahren. Selbst
diesen Rest von Würde und Anstand nimmt das Asylbewerberleistungsgesetz den Betroffenen.
Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz wurde ein Existenzminimum zweiter Klasse eingeführt. Unverhohlen
wurde und wird von seinen Verteidigern ins Feld geführt, es solle „missbräuchliche Asylantragstellung“
und „Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme“
verhindern. Abschreckung als Ziel eines Gesetzes, das
nach dem Grundgesetz eine menschenwürdige Existenz
sichern soll - dieser Widerspruch ist allzu offensichtlich.
Diese beiden Ziele sind absolut unvereinbar. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist die in Gesetzesform gegossene Unterstellung, Flüchtlinge kämen nicht aus Angst
vor Verfolgung und Unterdrückung, sondern aus rein
ökonomischen Interessen. Von dort aus ist es nicht weit
bis zu rechtsextremen Parolen gegen vermeintliche
Schmarotzer und Parasiten, die schleunigst außer Landes geschafft werden sollten.
Das Asylbewerberleistungsgesetz ist diskriminierend
und trägt zur Stigmatisierung von Asylbewerbern und
Flüchtlingen bei. Es ist Ausdruck einer fatalen Abschreckungspolitik, die de facto den Schutzanspruch von
Flüchtlingen verneint. Und schließlich ist es gleich in
mehrfacher Hinsicht ein Verstoß gegen das Menschenwürdegebot des Grundgesetzes. Es muss abgeschafft
werden.
Es ist gut und richtig, dass nun auch endlich die Linke
mit dem vorgelegten Antrag die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes fordert. Es fragt sich nur, warum die Linke erst jetzt reagiert. Bündnis 90/Die Grünen
fordern schon seit Jahren die Abschaffung des Gesetzes.
Hierzu haben wir einen Gesetzentwurf in den Deutschen
Bundestag eingebracht - 17/1428 -, der Gegenstand der
Anhörung im federführenden Ausschuss für Arbeit und
Soziales am Montag, dem 7. Februar 2011, ist. Auch die
Bundesregierung ist inzwischen von der Verfassungswidrigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes überzeugt
und kündigt Nachbesserungen an. Die Einschätzung der
Bundesregierung bestätigt unsere Kritik am Asylbewerberleistungsgesetz. Weniger Geld als im Regelsatz für
ALG-II-Beziehende ist mit der Menschenwürde nicht zu
vereinbaren. Einzig eine Neuberechnung der Leistungen
für Asylbewerberinnen und -bewerber greift aber zu
kurz.
Das Asylbewerberleistungsgesetz führt seit nun mehr
als 17 Jahren zu einem diskriminierenden Ausschluss
von Asylsuchenden und Geduldeten aus der Sozialhilfe
und der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Für
Bündnis 90/Die Grünen gelten die Leitsätze des Urteils
des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 zu
den ALG-II-Regelsätzen nicht nur für Deutsche, sondern
für alle Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Das menschenwürdige Existenzminimum ist zu gewährleisten und nach einem transparenten und nachvollziehbaren Verfahren zu ermitteln. Dass die Bundesregierung bei der Umsetzung des Urteils trickst, steht
auf einem anderen Blatt Papier und ist derzeit Gegenstand der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss zwischen Bundesrat und Bundestag.
Das Bundesverfassungsgericht sagt ganz klar, dass
das soziokulturelle Existenzminimum nicht „ins Blaue
hinein“ zu schätzen ist. Es dürfte doch hier allen einleuchten, dass das selbstverständlich ein universaler
Anspruch ist, der nicht nur für das Zweite Buch Sozialgesetzbuch gilt. Dieser gilt für alle Menschen, und deshalb brauchen wir kein Sondergesetz, das Menschenwürde für Flüchtlinge separiert und im Ergebnis
Menschen mit ihrer Würde herabsetzt. Doch seit es das
Asylbewerberleistungsgesetz gibt, geschieht genau dies
mit vielen Menschen, ob asylsuchend, ob geduldet oder
bleibeberechtigt: Der Aufenthaltstitel unterscheidet
sich, nicht aber die Unterversorgung. Die Leistungen
des Asylbewerberleistungsgesetzes liegen um ein Drittel
unter den ohnehin schon zu niedrig bemessenen Sätzen
des SGB II. Und sie sind entgegen geltender Rechtslage
nach § 3 Abs. 3 Asylbewerberleistungsgesetz nie angepasst worden - nicht ein einziges Mal in mehr als
17 Jahren.
Ein weiterer wichtiger Punkt muss erwähnt werden:
Zum Gesundheitssystem in Deutschland haben Menschen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bekommen, keinen Zugang. Nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen gibt es Hilfe.
Konkret heißt das: keine Prävention, keine Untersuchungen. Es muss schon erst so schlimm sein, dass der
Krankenwagen vorfahren muss, bevor es Hilfe gibt.
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes wurden schon mehrmals in Gutachten aufgezeigt. Diese kommen zu dem Ergebnis, dass
das Asylbewerberleistungsgesetz gegen Art. 1 Grundgesetz - Menschenwürde -, Art. 3 Grundgesetz - Diskriminierungsverbot - und Art. 20 Grundgesetz - Sozialstaatsprinzip - verstoßen würde. Das Bundesverfassungsgericht hat noch nicht über Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes geurteilt. Wir als Gesetzgeber haben es in
Zu Protokoll gegebene Reden
der Hand, einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zuvorzukommen und das Gesetz abzuschaffen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4424 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zukunftsfähige Alternativen zur Nordverlängerung der Bundesautobahn 14 ({0}) entwickeln
- Drucksache 17/4199 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben.
Was zeigt uns die heutige Debatte? Die DagegenPartei hat wieder einmal zugeschlagen. Der heutige Antrag steht in einer Reihe mit der Ablehnung des Bahnhofsneubaus in Stuttgart, der Entscheidung, die Olympischen Spiele in München nicht zu unterstützen, und der
Entscheidung gegen den Ausbau des Flughafens in
Frankfurt am Main. Jetzt also auch die Ablehnung des
wichtigen Verkehrsprojekts für die Länder Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern.
Vor fast genau einem Jahr, am 26. Januar 2010,
wurde die parteiübergreifende Bürgerinitiative für den
Bau der Bundesautobahn 14 „BAFA 14“ durch den
Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit dem „Großen Preis der Wirtschaft“ des
Unternehmerverbandes Norddeutschland MecklenburgSchwerin e. V. für ihr langjähriges ehrenamtliches
Engagement ausgezeichnet. Heute müssen wir uns mit
einem Antrag der Grünen beschäftigen, der rückwärtsgerichtet ist und den jahrelangen Einsatz vieler Menschen in Mecklenburg-Vorpommern für den Bau der
A 14 konterkariert.
Die eingangs genannte Tatsache unterstreicht aus
meiner Sicht sehr deutlich, dass der Weiterbau der A 14
in der Region Westmecklenburg, insbesondere in meinem Wahlkreis Schwerin-Ludwigslust, von breiten Teilen
der Bevölkerung getragen wird. Dies zeigen auch die
Reaktionen auf den Antrag, den wir heute im Parlament
diskutieren. Sowohl die Regierungsfraktionen von CDU
und SPD im Landtag, als auch die Oppositionsfraktionen von FDP und Linke haben diesen Antrag aufs
Schärfste kritisiert. Der Landkreis Ludwigslust und führende Wirtschaftsverbände haben sich ebenfalls für den
zügigen Weiterbau der A 14 von Schwerin nach Magdeburg ausgesprochen. Die Grundlagen dafür haben die
Grünen übrigens im Jahr 2004 mit ihrer Zustimmung
zur Aufnahme der A 14 in den vordringlichen Bedarf des
Bundesverkehrswegeplans selbst mit beschlossen. Es
stellt sich daher die Frage, warum die Grünen erst jetzt
nach Alternativen fragen!
Nach Angaben des Landesverkehrsministers kommen
die Vorbereitungen für den 155 Kilometer langen Autobahnbau gut voran. Anfang dieses Jahres soll mit dem
Planfeststellungsverfahren für den Abschnitt vom Autobahndreieck Schwerin bis Ludwigslust-Süd begonnen
werden. Bis zum Jahr 2020 soll das Gesamtprojekt fertiggestellt sein.
Im Hinblick auf die Landtagswahl in MecklenburgVorpommern wollen sich die Grünen scheinbar auch in
unserem Bundesland als Dagegen-Partei etablieren. Die
aufgezeigten Reaktionen verdeutlichen jedoch, dass die
Argumente der Grünen auf keinen sehr fruchtbaren Boden fallen. Von daher verwundert es nicht, dass die Grünen bisher bei allen Landtagswahlen in MecklenburgVorpommern an der 5-Prozent-Hürde gescheitert sind.
Mit realitätsfernen Initiativen wie dem vorliegenden Antrag tragen Sie dazu bei, dass Ihr Landesverband auch
nach dem 4. September 2011 nicht in dem neuen Landtag von Mecklenburg-Vorpommern vertreten sein wird.
Vor dem Hintergrund dieses Antrages ist das auch gut
so!
Die große Mehrheit der Mecklenburger und Vorpommern hat kein Verständnis für die Position der Grünen,
die sich bereits ohne Erfolg gegen den Bau der Ostseeautobahn 20 eingesetzt hatten. Gerade das Beispiel der
A 20 verdeutlicht die Bedeutung solcher Projekte für ein
strukturschwaches Bundesland wie Mecklenburg-Vorpommern. Durch die Autobahn wird die Anbindung der
Ostseeküste an das Hinterland verbessert. Die Wirtschaft und der Tourismus, aber vor allem die Bürgerinnen und Bürger in meinem Bundesland haben davon
nachhaltig profitiert. Auch die Fertigstellung der A 14
wird für Mecklenburg-Vorpommern nachhaltig spürbare
Effekte in diese Richtung bringen.
Die CDU/CSU-Fraktion wird es deshalb nicht zulassen, dass die Grünen mit ihrem Antrag die wirtschaftliche Zukunft Mecklenburg-Vorpommerns gefährden. Der
Lückenschluss auf der A 14 zwischen Schwerin und Wismar vor gut einem Jahr hat bereits zu spürbaren Entlastungen für die Bundesstraßen vom Lkw-Verkehr geführt.
Gerade auch im Interesse unserer Häfen in Rostock und
Wismar brauchen wir einen zügigen Weiterbau der A 14
vom Norden in den Süden. Der Geschäftsführer der Hafenentwicklungsgesellschaft Rostock und der Chef des
Seehafens Wismar haben sich in der „Ostsee-Zeitung“
vom 23. Dezember 2010 ganz klar gegen den Antrag der
Grünen ausgesprochen und die A 14 für die Häfen
Mecklenburg-Vorpommerns als essenziell bezeichnet.
Der Weiterbau der Autobahn erhöht die Lebensqualität
für die Einheimischen und macht Mecklenburg-Vorpommern für Urlauber und Investoren noch attraktiver. Mit
der A 14 wird es uns weiterhin gelingen, Unternehmer
für Investitionen in Mecklenburg-Vorpommern zu
gewinnen. Nur durch eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur ist ein Flächenland wie Mecklenburg-Vor9510
pommern in der Lage, wirksame Schritte gegen die
Abwanderung zu organisieren. Nur eine damit einhergehende wirtschaftliche Entwicklung kann die Abwanderung ganzer Jahrgänge junger und hochqualifizierter
Fachkräfte verhindern.
Der Lückenschluss der A 14 hat gleichzeitig eine
enorme bundesverkehrspolitische Bedeutung. Die neue
Nord-Süd-Achse wird nicht nur die Landeshauptstädte
von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt miteinander verbinden, sondern auch zu einer spürbaren
Entlastung anderer Autobahnen führen. Verkehrsbehinderungen durch Zeitverzug und Staus und damit einhergehende volkswirtschaftliche Verluste können deutlich
reduziert werden. Eine solche Verbindung hilft damit
auch den Nachbarbundesländern. Im Namen der CDU/
CSU-Fraktion bitte ich Sie deshalb nicht nur im Interesse des Landes Mecklenburg-Vorpommern darum, den
Antrag der Grünen abzulehnen!
Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Dieser Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gehört in den
Papierkorb. Er ist sachlich unbegründet. Der Antrag
stellt unrealistische Alternativkonzepte vor, ist nicht
aktuell und wäre bei seiner Umsetzung ein schwerer
Schlag gegen die Wirtschaftsentwicklung in strukturschwachen Regionen. Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt brauchen dringend den
Lückenschluss zwischen der A 24 und der Landeshauptstadt Magdeburg. Das Straßenbauprojekt A 14 ist Bestandteil des Bundesverkehrswegeplanes 2003 und wird
im Investitionsrahmenplan 2006 ebenfalls als prioritäres Bauvorhaben ausgewiesen. In den Bundesverkehrswegeplan werden bekanntermaßen nur Vorhaben
eingestellt, die einem komplexen Bewertungsverfahren
standhalten und bei denen ein volkswirtschaftlicher Nutzen nachgewiesen wird. Genau dies liegt bei der A 14
vor.
Ich stelle an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen die Frage, welchen Wert Sie Ihren parlamentarischen Anfragen und den betreffenden
Antworten der Bundesregierung beimessen. Bekanntermaßen sieht es mit der Beantwortung von Anfragen der
Opposition durch die Regierung nicht gut aus, aber auf
Ihre Kleine Anfrage „Zur Kosten-Nutzen-Berechnung
der Verkehrsprojekte Bundesautobahn 14 und 39“ hat
die Bundesregierung am 1. Dezember 2009, Drucksache
17/98, ausnahmsweise etwas ausführlicher geantwortet.
In der Vorbemerkung stellt die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen fest, dass das Ministerium für Bau und Verkehr
des Landes Sachsen-Anhalt das Nutzen-Kosten-Verhältnis für die A 14 mit 4,6 ausgewiesen hat. Der vorliegende Antrag geht fälschlicherweise davon aus, dass es
sich bei dem Infrastrukturprojekt A 14 um das „umstrittenste Straßenverkehrsprojekt Ostdeutschlands“ handeln würde und die prognostizierte Verkehrsstärke von
16 000 Fahrzeugen pro Tag den Bedarf für eine milliardenschwere Investition nicht rechtfertigen würde. Als
Alternative wird der zweistreifige Querschnitt einer
Bundesstraße angeboten. Beide Annahmen gehen an der
Wirklichkeit vorbei und sind in ihrer Aussage offensichtlich falsch. In den von dem geplanten Autobahnbau betroffenen Regionen Südwestmecklenburg, Prignitz und
Altmark gibt es eine hohe Zustimmung zu dem Investitionsvorhaben. Bürgerinitiativen, Kommunal- und Landespolitiker und nicht zuletzt die Wirtschaft stehen zu
diesem Projekt. Alle fordern eine Beschleunigung der
Planungsarbeiten, damit mit dem Bau begonnen werden
kann. Die Finanzierung für den ersten Bauabschnitt, er
beinhaltet eine Summe von 775 Millionen Euro, ist im
Investitionsrahmenplan festgeschrieben und nach den
ermittelten Kostensteigerungen zwischen dem Bund und
den Ländern 2009 nochmals bestätigt worden.
Die Feststellung im Antrag zur prognostizierten Verkehrsstärke pro Tag - 16 000 Fahrzeuge - ist schlichtweg falsch. Schauen Sie in die bereits zitierte Antwort
der Bundesregierung vom 1. Dezember 2009. Unter Ziffer 10 werden werktägliche Verkehrsstärken für das Jahr
2015, basierend auf Berechnungen aus 2003, sowie für
das Jahr 2025 aus Nachberechnungen 2008 wie folgt
ausgewiesen: Bei der Prognose für 2015 werden 15 000
bis 30 000 Fahrzeuge/Tag angenommen und bei der
Prognose für 2025 sind es 22 000 bis 34 000 Fahrzeuge.
Der von Ihnen angegebenen Verkehrsstärke von 16 000
Fahrzeugen/Tag stehen also tatsächlich größere Verkehrsstärken gegenüber. Sie sollten einfach in das richtige Zahlenwerk schauen.
Natürlich ist es so, dass eine Infrastrukturmaßnahmen für sich genommen nicht der alleinige Schlüssel für
die regionale Wirtschaftsentwicklung sind. Diese hängt
von mehreren Faktoren ab, von denen allerdings die verkehrliche Anbindung eine nicht unbedeutende Rolle
spielt. Wenn die infrastrukturelle Erschließung nicht
stimmt, stimmen auch die Rahmenbedingungen für die
Wirtschaftsansiedlung nicht. Regionen mit einer guten
Infrastruktur - das ist ein immobiler Produktionsfaktor ziehen die mobilen Produktionsfaktoren Humankapital
und Realkapital - Investitionen - nach sich. Sie befinden
sich in dieser Frage auf dem gleichen Holzweg wie die
Fraktion Die Linke. Deren Berichterstatter Lutz
Heilmann erklärte am 25. Mai 2007 in seiner Bundestagsrede zum Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung „Demografischer Wandel und
nachhaltige Infrastrukturplanung“ - Drucksache 16/4900 Folgendes - ich zitiere: „Es macht aber überhaupt keinen Sinn, Milliarden auszugeben, um schrumpfende Regionen an das Autobahnnetz anzuschließen, wenn auf
diesen Straßen am Ende keine Autos fahren. Es ist doch
Unsinn, in der vagen Hoffnung auf wirtschaftliche Entwicklung Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Ein Paradebeispiel dafür ist die zusammenhängende Planung der
Autobahn A 14 und A 39 in Brandenburg und Niedersachsen …“
Ganz abgesehen davon, dass es bei Herrn Heilmann
etwas mit der Geografie hapert und er nebenbei die Länder Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern bei
diesem Verkehrsprojekt verschwinden lässt, zeugen
seine demografischen Bewertungen von Hilflosigkeit
und fehlendem Konzept für die neuen Länder. Er hatte
sich damit abgefunden, dass die Regionen Westmecklenburg, Prignitz und Altmark wegen ihrer noch vorhandenen Strukturschwäche abgeschrieben sind. Die Position
Zu Protokoll gegebene Reden
der Linken wird auch nicht dadurch glaubwürdiger, dass
sich ihr Bundestagskandidat Dr. Dietmar Bartsch im
Wahlkampf 2009 auf einmal für den Bau der A 14 aussprach. Das ist Politik nach Stimmungslage und Tagesform, die den Menschen in diesen Regionen nicht hilft.
Wir brauchen Beständigkeit, gerade in der Frage der Infrastrukturentwicklung, weil damit Perspektiven für die
Zukunft verbunden sind und vor allem für junge Menschen Chancen für ein Bleiben in der Region eröffnet
werden.
Die A 14 ist das letzte große Infrastrukturprojekt in
den neuen Ländern. Damit wird eine Lücke im Autobahnnetz geschlossen. Die Ostseehäfen Rostock, Wismar und Lübeck erhalten eine optimale Hinterlandanbindung. Von diesen Häfen und aus den betroffenen
Regionen können Verkehre in den mitteldeutschen
Raum, nach Süddeutschland und zu unseren südöstlichen EU-Partnern besser fließen. Ich will hervorheben,
dass bei der Vorbereitung und Durchführung der Baumaßnahme A 14 die naturschutzfachlichen Erfordernisse umfassend berücksichtigt werden. Das hat nicht
zuletzt auch zu Kostensteigerungen geführt. Wir brauchen jetzt eine zügige Durchführung der laufenden Planfeststellungsverfahren und keine neue Diskussion zu Alternativen mit zweistreifigen Bundesstraßen.
Die geforderten Ausbaumaßnahmen für den Schienenverkehr sind sicherlich richtig, aber diese gegen die
A 14 auszuspielen, zeugt von Kurzsichtigkeit in der Verkehrspolitik. Und im Übrigen: Die im Antrag geforderte
Schließung der Elektrifizierungslücke bei der Eisenbahnstrecke Bad Kleinen-Lübeck und die Verbesserung
der Bahnverbindung Schwerin-Lübeck sind Bestandteil
der vom Bundesverkehrsministerium im Herbst 2010
vorgelegten Überarbeitung des Bedarfsplanes Schiene.
Diese beiden Maßnahmen sind auch deswegen notwendig, um im Zuge der Festen Fehmarnbelt-Querung - gegen die die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt
hatte - eine optimale Eisenbahnverbindung zwischen
Kopenhagen und Berlin auch über Schwerin-Ludwigslust zu schaffen.
Mein Appell zum Schluss an den Antragsteller: Sie
sollten den Antrag schleunigst zurückziehen. Sie wissen:
Ihr Antrag wird in diesem Hause keine Mehrheit finden.
Es bleibt dabei, die Regionen Südwestmecklenburg,
Prignitz und Altmark benötigen die A 14 - vor allem die
Menschen, die in diesen Regionen leben.
Der Autoverkehr ist ein fester Bestandteil unseres
modernen Lebens. Soviel ist uns allen klar. Ohne Pkw,
Lkw und Busse liefe heutzutage vieles nicht mehr oder
wäre nur mit Mühen machbar. Erst das Auto ermöglicht
die Flexibilität und Mobilität oder die Schnelligkeit, die
heute erwartet werden. Es ist unsere Realität, dass viele
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf den eigenen
Wagen angewiesen sind, um in vertretbarer Zeit oder
überhaupt zur Arbeit zu kommen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen betrifft auch Sie. Wie Sie, wie wir,
brauchen im ganzen Land tagtäglich viele Familien ein
Auto, um ihre Kinder nachmittags zum Musikunterricht
oder Sportverein zu bringen oder sie abends vom Sport
abzuholen. Doch auch für Handel und Gewerbe sind
schnelle Lieferungen direkt bis vor die Firmen- oder Ladentür unabdingbar. Kurz gesagt: Eine gute Verkehrsanbindung ist Voraussetzung für die ökonomische Entwicklung jeder Gemeinde und jeder Stadt. Gerade im ländlichen Raum, wo die Bahnanbindungen schlecht oder
kaum vorhanden sind, brauchen wir über die Bedeutung
von Autos nicht zu diskutieren.
Deshalb ist es auch nicht von der Hand zu weisen,
dass Fernstraßen und Autobahnen elementar für Gesellschaft und Wirtschaft sind. Sie sind zweifellos immer
noch die Lebensadern der Moderne. Autobahnen bringen Menschen zusammen, und hier werden wertvolle
Güter transportiert. Damit tragen sie sowohl zur wirtschaftlichen Standortsicherung wie zur Lebensqualität
der Bürgerinnen und Bürger bei. Zudem sind die Autobahnen eine der wichtigsten Grundlagen für den Tourismus in unserem Land; denn sonst würden wohl weniger
Menschen durch unser schönes Land reisen können.
Fast 50 Prozent der Familien mit Kind fahren mit dem
Auto in den Urlaub und nur dahin, wo sie sich sicher
sein können, dass sie schnell und heil an ihr Ziel kommen.
Deshalb geht der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
auch an der Realität vorbei. Doch nicht nur das: Mit
diesem Antrag wollen die Grünen wieder einmal auf
Kosten der Bürger ihren Wahlkampf, diesmal in Sachsen-Anhalt, betreiben. Dabei machen sie mit der Forderung nach einem Baustopp bei der A 14 ihrem Ruf als
„Dagegen-Partei“ alle Ehre. Von den Grünen werden
Realitäten verkannt, Chancen nicht gesehen und Bedürfnisse ignoriert. Mit dem Antrag werden Notwendigkeiten vom Tisch gewischt, Sinnvolles weggedrückt und
Wichtiges nicht angegangen. Das Ziel der Grünen ist
doch wohl uns allen klar: Hier wird nur danach geschaut, wo es Pläne für Fortschritt geben könnte, wo
Chancen für Wachstum lägen, um dann eine einfache
und platte Antwort zu geben: einfach nur dagegen zu
sein.
Doch wir antworten darauf klar und entschieden: Wir
sind für die A 14! Denn wir setzen auf Erfolgsmöglichkeiten und Vorteile, die dieses Verkehrsprojekt bringen
soll. Wir stellen uns der Diskussion. Der Antrag, den wir
hier diskutieren, geht eindeutig an den Erfordernissen
der Menschen vorbei: Die A 14 ist und bleibt eine der
wichtigsten Verkehrsadern in Sachsen-Anhalt. Sie hat
nur ein Problem: Sie ist unvollendet. Deshalb ist auch
eine Anbindung des mitteldeutschen Wirtschaftsraumes
an die Ostseehäfen längst überfällig. Die Menschen in
der strukturschwachen Region der Altmark warten seit
20 Jahren auf den Ausbau der A 14 und ihren Anschluss
an das Autobahnnetz der Bundesrepublik. Die Menschen
warten und hoffen und wissen dabei eines: Mobilität
verspricht Arbeit. Das beweisen nicht nur die Ansiedelungen in Barleben oder Osterweddingen.
Deshalb können wir das Ansinnen der Grünen nicht
verstehen. Würde doch der Lückenschluss zwischen
Schwerin und Magdeburg die lang ersehnten wichtigen
Impulse für die angrenzenden Regionen bringen. Ja, es
Zu Protokoll gegebene Reden
wäre die langersehnte Grundlage und eine bedeutende
Voraussetzung für das weitere Wachstum im ganzen
Land. Wachstum, Fortschritt, Zukunftsfestigkeit sind natürlich nicht die Argumente der Grünen. Sie stellen sich
hin und bringen, wie so oft, wieder das Argument des
mangelnden Umweltschutzes an. Umweltschutz ist wichtig, und ich nehme diesen Punkt gerne und mit Freude
auf; denn in diesem Falle kann man ihn eben nicht als
Gegenargument ins Feld führen. Das Phantomargument
mangelnden Umweltschutzes kann sogar ganz leicht entkräftet werden; denn: In Sachen Naturschutz wurden
bislang alle umweltrelevanten Aspekte berücksichtigt.
Geplant sind nämlich Wildbrücken, Unterbauten und sogar Überflugbrücken für Fledermäuse. Also: Verkehrssicherheit nicht nur für die Menschen, sondern auch für
die Tiere, Wachstumschancen nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Umwelt. Das hat zwar letztendlich auch die Kosten in die Höhe getrieben, aber wir
unterstützen Entwicklungsmöglichkeiten da, wo sie vielen nutzen - egal ob Mensch oder Tier.
Wenn die Grünen jetzt mit dem Antrag genau diese
wichtige Nord-Süd-Verbindung unvollendet lassen wollen, wenn sie auch hier reflexartig einfach Nein sagen,
anstatt zu prüfen und zu bewerten, wenn sie den Kopf
schütteln, anstatt die Augen zu öffnen, dann schwächen
sie den Norden Ostdeutschlands auf unabsehbare Zeit.
Doch das ist ihnen offensichtlich egal. Ebenso wie die
Tatsache, dass die A 14 bereits unter der rot-grünen
Bundesregierung im Bundesverkehrswegeplan fest verankert worden ist. Aber wir wollen jetzt nicht zurückblicken, sondern nur eines: entschlossen nach vorne
schauen und unser Land voranbringen. Wir sind nicht
nachtragend, sondern wollen, dass Sie erkennen, was
Sie - damals zu Recht - Sinnvolles angestoßen haben.
Der Norden Ostdeutschlands liegt zu Unrecht seit
Jahren in einem verkehrspolitischen Dornröschenschlaf. Unterstützen Sie jetzt die Menschen vor Ort;
denn weitere Jahrzehnte des Stillstands verträgt die Region nicht. Deshalb lassen Sie uns gemeinsam die Region wachküssen. Geben wir zusammen mit dem notwendigen Verkehrsprojekt wichtige Impulse für die
Flexibilität und für die Wirtschaft. Wir haben in den Planungen für die Verlängerung der A 14 die Umwelt und
den Naturschutz nicht aus den Augen gelassen. Die
Menschen in dieser Region dürfen wir aber auch nicht
vergessen. Deshalb kann ich Ihnen ganz klar sagen:
Eine solche Verhinderungspolitik, wie sie in diesem Antrag dokumentiert wird, ist mit den Liberalen nicht zu
machen! Der Lückenschluss der A 14 muss unverzüglich
angegangen werden. Wahlkampf darf nicht auf den
Schultern der Menschen ausgetragen werden.
Große Verkehrsinfrastrukturprojekte bringen mehr
Wirtschaftswachstum. Dieses Dogma, das von den Befürwortern solcher Pläne immer wieder vorgetragen
wird, trägt nicht. Auch durch ständige Wiederholung
werden solche Sätze nicht wahrer. Im römischen Senat
beendete Cato seine Reden mit dem Satz: „Und im Übrigen muss Karthago vernichtet werden“, so heißt es. Wir
wissen, dass das Beharren auf jenem Dogma später zum
Untergang Roms selbst beigetragen hat.
Der Antrag der Grünen fordert die Bundesregierung
auf, auf die Länder Sachsen-Anhalt, Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern einzuwirken, damit diese die
Planungsverfahren einstellen. Dass die Landesregierungen das nicht tun werden, weiß man heute schon. Alle
drei Landesregierungen wollen die Autobahn bauen.
Und sie stützen sich dabei auf breite parlamentarische
Mehrheiten. Ohne einen Aushandlungsprozess über
sinnvolle und notwendige Alternativen wäre diese Aufforderung anmaßend.
Aber nochmal zurück zum Projekt A 14: Aufschwung,
Arbeit und Wohlstand wurden auch bei der Ostseeautobahn A 20 versprochen. Dieser Autobahnbau hat eine
ähnlich hohe ökologische Brisanz wie die A 14. Er berührt 19 Flora-Fauna-Habitate und zerschneidet drei
EU-Vogelschutzgebiete. Bei der A 20 kann man heute
sagen, dass Aufschwung und Wohlstand für alle nicht
stattgefunden haben. Die erwartete wirtschaftliche Entwicklung ist nicht eingetreten, dafür haben die dort lebenden Menschen Lärm, Abgase und die Zerschneidung
der Region bekommen. Ich will ein weiteres Argument
anbringen, mit dem sich auch die Landesregierungen
auseinandersetzen müssen. Die A 14 ist immer als Bestandteil der sogenannten Hosenträgervariante gesehen
worden, zu der auch die umkämpfte und umstrittene VWAutobahn A 39 in Niedersachsen und die B 190 neu gehörten. In der gegenwärtigen Bewertung des A-14-Projekts tauchen die einst als so wichtig bezeichneten Projektteile nicht mehr auf. Der „Hosenträgerteil“ A 39 in
Niedersachsen ist umstritten. Lediglich die Industrieund Handelskammern kämpfen tapfer weiter.
Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker der
Linken haben lange für Alternativen zur A 14 gekämpft
und für den Ausbau der B 189 als einer „A 14 light“ geworben. Diese Bundesstraße verläuft parallel zur A 14
und würde durch ihren Ausbau die Steigerung des Verkehrs, die auf der A 14 zu erwarten ist, auffangen. Allerdings bedeutete diese Variante, dass auch die B 5, die
B 106 und die B 189 noch mehr Verkehr bewältigen
müssten. Für die Anwohner der Stadt Lauenburg hieße
das noch mehr des heute schon unerträglichen Lärms
und Drecks, den die Lkws in die Stadt tragen. Hier
müsste gründlich abgewogen werden, ob ein Autobahnneubau oder ein Bundestraßenausbau eine bessere Lösung sein kann. Innerhalb dieser Abwägung wünschte
ich mir, dass praktikable Lösungen gefunden werden, die
jenseits von Dogma und Romantik den Anwohnerinnen
und Anwohnern helfen.
An dieser Stelle begrüßen wir die - wenn auch späte Einsicht der Grünen, über die Infrastruktur in diesem
Gebiet noch einmal nachzudenken. Ich möchte zumindest daran erinnern, dass die Grünen selber 2004 beschlossen haben, dass die A 14 in den Vorrangigen Bedarf aufgenommen wird. Sie distanzieren sich hiermit
also von ihrem Bundesverkehrswegeplan 2003, was ich
grundsätzlich begrüße. Konkret müssten bei diesem
Nachdenken dann nicht nur Vogelschutzgebiete, sondern
Zu Protokoll gegebene Reden
vor allem auch die Belastungen der Menschen durch
Dreck, Lärm und Unfallgefahren berücksichtigt werden.
Der Antrag der Grünen geht davon aus, dass Mittel,
die beim Autobahnbau gestrichen werden, direkt in den
Ausbau des Schienennetzes gesteckt werden können. Dabei übersehen die Grünen aber, dass die Mittel für die
A 14 nicht zweckgebunden im Safe liegen, sondern erst
noch vom Bundestag bewilligt werden müssen. Auch die
Linksfraktion befürwortet den Ausbau der Schiene in der
Fläche. Wir setzen uns ein für eine deutliche Erhöhung
der Mittel für die Investitionen in den Neu- und Ausbau
von Schienenwegen auf 2,5 Milliarden Euro im Jahr. Die
Grünen hingegen wollen lediglich 1,8 Milliarden Euro
pro Jahr. Da sind sie ein Stück unglaubwürdig und vor
allem auch unsystematisch. Umgeschichtet wird zwischen den Verkehrsträgern insgesamt, aber nicht von einem konkreten Straßenprojekt zu konkreten Schienenprojekten.
Aus diesen Gründen können wir uns dem Antrag:
„Zukunftsfähige Alternativen zur Nordverlängerung der
Bundesautobahn 14 ({0}) entwickeln“ mehrheitlich nicht anschließen. Wir werden uns
bei der Abstimmung über diesen Antrag mehrheitlich
enthalten.
Der geplante Bau der Nordverlängerung der Autobahn 14 von Magdeburg nach Schwerin ist ein besonders absurdes Beispiel für die vorherrschende Verkehrspolitik in unserem Land.
1,3 Milliarden Euro sollen für die Asphaltpiste durch
Altmark und Prignitz in den Sand gesetzt werden.
Wir sind der Meinung, mit dieser erklecklichen
Summe können wir mehr erreichen, als nur ein 155 Kilometer langes Asphaltband durch die Landschaft zu ziehen. Wir können Sinnvolleres für die betroffenen Regionen erreichen, und wir können vor allem Projekte mit
einem höheren verkehrlichen Nutzen realisieren.
Angesichts der knappen Investitionsmittel geht es
künftig darum, angemessene Lösungen zu finden. Auf der
Bundesstraße 189 von Magdeburg nach Stendal - die
derzeit den überregionalen Verkehr aufnimmt - haben
wir heute ein Verkehrsaufkommen von täglich rund
8 150 Fahrzeugen; der Lkw-Anteil liegt bei 10 Prozent.
Wie uns die Zahlen des Bundesamts für Straßenwesen
zeigen, stagniert das Verkehrsaufkommen seit 2005. In
der Prognose, die der A-14-Planung zugrunde liegt, ist
dagegen von 16 000 bis 30 000 Fahrzeugen die Rede,
und man fragt sich angesichts der aktuellen Zahlen, wo
dieses Aufkommen jemals herkommen soll. Aber schon
in den Unterlagen zum Raumordnungsverfahren heißt es
entlarvend: „Die Notwendigkeit der A 14 ist nicht durch
hohe Verkehrsmengen und überlastete Straßenabschnitte begründet.“
Genau das ist unser zentraler Kritikpunkt: Der Bedarf für die Nordverlängerung der A 14 ist bis heute
nicht plausibel nachgewiesen worden. Das heutige und
künftig zu erwartende Verkehrsaufkommen in der NordSüd-Relation Magdeburg-Schwerin rechtfertigt nun einmal keine Maximallösung in Form einer teuren Autobahn, die zudem nicht durchfinanziert ist.
Stattdessen brauchen die Regionen schnell realisierbare und vor allem finanzierbare Lösungen. Dazu zählt
unserer Ansicht der angemessene Ausbau des Bundesstraßennetzes - also der B 189, der B5 und der B 71. Mit
einem Drittel der Kosten des Autobahnbaus lässt sich
die Leistungsfähigkeit dieser Bundesstraßen signifikant
erhöhen. Für diese den örtlichen Gegebenheiten angepassten Verkehrsprojekte setzen sich mehrere Bürgerinitiativen ein.
Zudem können die für das Autobahnprojekt vorgesehenen EFRE-Mittel für Bildung, Klimaschutz und die
Förderung klein- und mittelständischer Unternehmen
eingesetzt werden. Das stärkt die Regionen.
Was können wir zusätzlich mit dem eingesparten Geld
in den Regionen alles anschieben? Ganz oben auf der
Liste steht der Ausbau der „Amerikalinie“ StendalSalzwedel-Uelzen, eine Eisenbahnstrecke, die dringend
zweigleisig ausgebaut werden muss. Die Verbindung ist
eine Teilstrecke des sogenannten Korridors Ost, der dem
wachsenden Seehafenhinterlandverkehr dienen soll. Ein
Projekt, das mit einem Nutzen-Kosten-Faktor von 17
aufwarten kann und zudem mit 140 Millionen Euro auch
finanziell überschaubar ist und dem verkehrspolitischen
Ziel dient, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu bringen.
Es bleibt also weiteres Geld übrig, mit dem endlich
die Elektrifizierung der Strecke von Lübeck nach Bad
Kleinen finanziert werden kann. Es ist ein verkehrspolitisches Armutszeugnis, dass 20 Jahre nach Vollendung
der staatlichen Einheit immer noch solche Defizite zwischen dem ost- und westdeutschen Eisenbahnnetz bestehen.
Jeder Euro für den sinnvollen Ausbau des Bahnnetzes
stärkt die Zukunftsfähigkeit unseres Verkehrssystems.
Wer weg will vom Öl, der muss den Verkehrsträger ausbauen, der heute schon weitgehend unabhängig vom
Erdöl ist - also die Bahn. Wer dagegen weiterhin äußerst zweifelhafte Autobahnprojekte vorantreibt, macht
genau das Gegenteil und verspielt so unsere Zukunft.
Dr. Karl-Heinz Daehre, Minister ({0}):
Der von den Autobahnen A 2, A 7, A 24 und A 10 umschlossene Raum ist straßenverkehrlich weit unterdurchschnittlich erschlossen. Betroffen sind sowohl die
Anbindung an das Fernstraßennetz als auch die Qualität
des vorhandenen Straßennetzes innerhalb dieses Raumes. Im Bundesvergleich stellt dieser Bereich einen
strukturschwachen ländlichen Raum mit sehr starken
Entwicklungsproblemen dar. Beispielhaft sind hier folgende Strukturmerkmale zu nennen: eine extrem niedrige Bevölkerungsdichte, eine unzureichende technische
und soziale Infrastruktur, ein eingeschränktes Angebot
an öffentlichen Verkehrsmitteln, fehlende Arbeitsplätze
im sekundären und tertiären Sektor, ein geringes Niveau
an Investitionstätigkeit, anhaltende Binnenwanderungsverluste durch die Abwanderung der jungen Bevölkerung, geringe Geburtenzahlen, die mittel- und langfrisZu Protokoll gegebene Reden
Minister Dr. Karl-Heinz Daehre ({1}):
tig den Bestand der gesellschaftlich und wirtschaftlich
funktionsfähigen Siedlungsräume und Kulturlandschaften gefährden und eine periphere Lage im europäischen
Integrationsprozess mit fehlendem Anschluss an das
transeuropäische Straßennetz.
Die Vorhaben der sogenannten Hosenträger-Variante,
zu denen der Neubau der A 14 von Magdeburg über Wittenberge nach Schwerin, der Neubau der A 39 von
Wolfsburg nach Lüneburg, die Schaffung einer leistungsfähigen Verbindung zwischen der A 39 und der
A 14 im Zuge der B 190n und Weiterführung nach Osten
über Havelberg bis zu A 24 bei Neuruppin, die Schaffung einer leistungsfähigen Verbindung von der A 14 bei
Wittenberge bis zur B 96 bei Neustrelitz im Zuge der
B 189/B 198, der Ausbau der B 188 von der A 14 bis
Wolfsburg und der Neubau der B 71n im Raum Haldensleben gehören, haben daher das Ziel, infrastrukturelle
Defizite in den direkt betroffenen Regionen zu beseitigen. Es geht im Kern also auch darum, den dort lebenden Menschen eine lebenswerte Perspektive zu eröffnen.
Vor diesem Hintergrund erscheint es mir geradezu zynisch, wenn die Gegner dieses so wichtigen Infrastrukturvorhabens versuchen, die Umsetzung zu verzögern.
mit Klagen, mit der Verbreitung von Halbwahrheiten und
mit der Diskussion über Alternativen, von denen doch jeder vernünftige Mensch weiß, dass sie keine sind.
Die Strategie, die sich dahinter verbirgt, ist klar: Hier
soll der Öffentlichkeit Sand in die Augen gestreut werden, ein sinnvolles Vorhaben soll diskreditiert und die
Menschen sollen verunsichert werden. Ich sage: Das ist
unanständig!
Wer Minderheitsinteressen auf diese Weise durchsetzen will, der vergeht sich nicht nur an den Bürgerinnen
und Bürgern in der Altmark, die zu Recht gleiche Chancen für ihre Heimatregion einfordern. Wer so handelt, ist
an fairem Meinungsstreit nicht interessiert, der stellt demokratische Grundprinzipien infrage. Das ist nicht akzeptabel!
Die A 14 stellt ein Verbindungselement zwischen den
Oberzentren Schwerin, Magdeburg, Dessau, Halle/Leipzig, Zwickau, Chemnitz und Dresden und der damit verbundenen Anbindung an die Metropolregionen Sachsendreieck, Hamburg und Bremen-Bremerhaven-Oldenburg
dar. Weiterhin wird sie zukünftig zu den bereits vorhandenen Fernstraßen auf der Nord-Süd-Relation eine Alternative für die Routenwahl darstellen und entlastet damit die vorhandene Infrastruktur. Insbesondere die
regional bedeutsamen Seehäfen Lübeck, Rostock und
Wismar können von der verbesserten Anbindung des
Hafenhinterlands durch den notwendigen und direkten
Anschluss an das regionale Straßennetz und das überregionale Fernstraßennetz profitieren.
Mit dem Neubau dieser Autobahn in einer Region, die
durch besondere Strukturschwäche und schlechte Erreichbarkeit geprägt ist, wird künftig die zwingend erforderliche Beteiligung an den Wachstumsprozessen der
Oberzentren und insbesondere der wirtschaftlich dynamisch wachsenden Metropolregionen Hamburg und
Sachsendreieck ermöglicht.
Im Hinblick auf die im Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen genannten Prognoseverkehrszahlen ist festzustellen, dass gemäß der Verkehrsprognose für die
BAB 14 für das Jahr 2025 Verkehrsbelastungen von
20 000 bis circa 39 000 Kraftfahrzeugen pro Werktag zu
erwarten sind, wobei die Verkehrsmenge von Norden
nach Süden zunimmt. Die Verkehrsbelastungen weisen
in allen Prognosen - übrigens trotz rückläufiger Bevölkerungszahlen! - nach wie vor auf einen hohen Bedarf
hin. Bei den durchgeführten Berechnungen wurden die
jeweils zum Zeitpunkt der Bearbeitung verfügbaren Ansätze und Prognosen über die Entwicklung der Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur sowie der Mobilität und
über die jeweiligen Vorstellungen zum Ausbau der Verkehrsinfrastruktur herangezogen. Alle Entwicklungsansätze und -prognosen wurden im Rahmen der turnusmäßig vorgesehenen Fortschreibungen im Rahmen der
Bundesverkehrswegeplanung weiterentwickelt und zuletzt mit der bundesweiten Verkehrsprognose für das
Zieljahr 2025 in Übereinstimmung gebracht.
Im Rahmen der Projektentwicklung für die BAB 14
wurden im Vorfeld der Bedarfsüberprüfung in der Bundesverkehrswegeplanung 2003 in der Verkehrsuntersuchung Nordost - VUNO, 1995/ 2002 - Netzalternativen
zur Verbesserung der Fernstraßenerreichbarkeit im
Großraum zwischen den Metropolräumen Berlin, Hamburg und Hannover untersucht. Derartige Konzeptalternativen enthielten neue und auszubauende Autobahnen
und Bundesstraßen in unterschiedlicher Lage und Verknüpfung. Sie wurden im Hinblick auf ihre verkehrlichen
Vor- und Nachteile ausführlich miteinander verglichen.
Umweltbelange wurden ebenfalls aufbereitet und in die
Abwägungsentscheidung einbezogen - in einem Maße
übrigens, wie es bislang noch nie der Fall gewesen ist.
Die BAB 14 Magdeburg-Wittenberge-Ludwigslust-Schwerin wurde als das wirkungsvollste und vordringlichste Projekt im Untersuchungsraum ermittelt.
Die hohe Wirksamkeit der BAB 14 resultiert aus der direkten Nord-Süd-Führung des Trassenkorridors unter
Einbeziehung der zentralen Orte - Einwohnerschwerpunkte - Stendal, Wittenberge und Ludwigslust.
Die Umweltrelevanz der Netzkonzeptionen wurde im
Rahmen einer Risikoeinschätzung ermittelt und berücksichtigt. Auf Basis der zum Zeitpunkt bekannten Natura2000-Kulisse wurde ermittelt, dass keine mit Natura2000-Belangen konfliktfreie Lösung vorliegt. Jede Netzalternative hätte insbesondere die Querung der besonders sensiblen Elbeniederung erfordert. Die Ausrichtung des Trassenkorridors der A 14 auf die Stadtlage
Wittenberge wirkt hier eher positiv.
Auf der Grundlage der Ergebnisse der VUNO haben
sich im Juli 2002 der Bundesminister für Verkehr, Bauund Wohnungswesen sowie die Fachminister der Länder
Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern auf die „Hosenträger-Variante“
als weiter zu verfolgenden Lösungsvorschlag verständigt.
Die einzelnen Netzelemente wurden von den Ländern zur
Fortschreibung des Fünften Bedarfsplans für Bundesfernstraßen angemeldet und im Rahmen der BVWP 2003
überprüft und bewertet, als Projekte mit vordringlichem
Zu Protokoll gegebene Reden
Minister Dr. Karl-Heinz Daehre ({2}):
Bedarf in den Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen
übernommen sowie durch das Fernstraßenausbauänderungsgesetz 2004 bestätigt. Dem gleichzeitig festgeschriebenen besonderen naturschutzfachlichen Planungsauftrag wurde im Rahmen der laufenden
Planungen zu dem Projekt in allen beteiligten Bundesländern selbstverständlich umfassend Rechnung getragen. Die Planungen wurden kontinuierlich den aktuellen
naturschutzfachlichen Anforderungen, beispielsweise
aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes zur
A 143, Westumfahrung Halle, angepasst.
Der gegen das Projekt immer wieder ins Gespräch
gebrachte Ausbau der vorhandenen Bundesstraßen ist
im Rahmen einer Null-plus-Variante sehr umfangreich
untersucht worden. Dabei wurde festgestellt, dass eine
den bestehenden Bundesstraßen B 189, B 5 und B 106
folgende Bundesfernstraßenverbindung der Null-plusLösung rund 17 Prozent länger ist als die Vorzugsvariante, die gewachsenen Verbindungs- und Anbindungsstrukturen der vorhandenen Bundesstraßen weitgehend
neu entwickelt werden müssen und vorhandene Fahrbahnen der Bundesstraßen nur in Ausnahmefällen genutzt werden können, die neue Fernstraße nahezu vollständig neu gebaut und zusätzlich das Sekundärnetz in
weiten Teilen ergänzt werden muss, der nach dem Bewertungsverfahren ermittelte gesamtwirtschaftliche
Nutzen der Null-plus-Lösung um rund 30 Prozent geringer ist als bei der Vorzugslösung BAB 14.
Allein schon diese Fakten zeigen, wie substanzlos die
ideologisch geprägte Scheindiskussion über angebliche
Alternativen zum A-14-Lückenschluss ist. Sie ist genauso falsch und unwahr wie der Hinweis auf die angeblich nicht gesicherte Finanzierung. Eine Lüge wird eben
auch dann nicht zur Wahrheit, wenn man sie oft genug
wiederholt. Denn jeder weiß doch: Schon seit dem Frühjahr 2009 gibt es eine solide Finanzierungsvereinbarung zwischen dem Bund und den beteiligten Ländern.
Und die hat Bestand!
Auch die Ergebnisse der aktuell vom Bundesverkehrsministerium abgeschlossenen verkehrsträgerübergreifenden Überprüfung der Ansätze des Bedarfsplanes
ergeben keine Notwendigkeit, die A 14 infrage zu stellen.
Es wurden großräumig wirksame Fernstraßenverbindungen wie die BAB 14 ebenso untersucht wie großräumig wirksame Schienenverbindungen. Mit der Bedarfsfeststellung für die BAB 14 wurde auf der Ebene der
BVWP auch eine generelle Systementscheidung für den
Verkehrsträger Straße getroffen. Dies ist gleichbedeutend damit, dass alternative Verkehrsträger wie zum Beispiel die Eisenbahn, Ziel und Zweck des Vorhabens nicht
in gleichem Maße erfüllen können. Diese Feststellung ist
im Fall der BAB 14 unter anderem aus folgenden Gründen plausibel und sachgerecht: Der Planungsraum der
BAB 14 verfügt über eine überdurchschnittliche Anbindung an das Schienenfernverkehrsnetz. Stendal liegt an
der ICE-Fernverkehrsstrecke Berlin-Hannover und ist
Verkehrsknotenpunkt zwischen dem Fernverkehr und
dem regionalen Schienenverkehr. Eine Bahnverbindung
für den Fernverkehr zwischen Magdeburg und Schwerin
ist ebenfalls bereits vorhanden. Das prognostizierte Verkehrsaufkommen auf der geplanten BAB 14 liegt demgegenüber um mindestens das 10-Fache höher als die Verkehrsnachfrage auf der vorhandenen Bahnstrecke
Magdeburg-Schwerin. Die Verkehrsnachfrage der
BAB 14 ist daher mit der Verkehrsnachfrage der Bahnstrecke Magdeburg-Schwerin in der Größenordnung
nicht direkt vergleichbar. Für den Fall, dass die Nachfrage im Personen- oder im Güterverkehr auf der Bahnstrecke Magdeburg-Schwerin zunehmen sollte, sind
ausreichende Kapazitätsreserven vorhanden.
Abschließend möchte ich herauszustellen, dass ich
keine Zweifel habe, dass der A-14-Lückenschluss und
die Umsetzung der „Hosenträger-Variante“ für die weitere Entwicklung einer in der Gesamtbetrachtung stark
benachteiligten Region von herausragender Bedeutung
ist. Entgegen der Position von Bündnis 90/Die Grünen
stehen nicht nur der Landtag von Sachsen-Anhalt mit
großer Mehrheit von CDU, SPD und FDP sondern auch
nahezu 90 Prozent der Bevölkerung in der Altmarkregion hinter der Realisierung dieses wichtigen Verkehrsprojekts.
Gestatten Sie mir eine abschließende Bemerkung. Ich
empfehle jedem, der sich ein objektives Bild über die
Notwendigkeit und die enorme Akzeptanz des A-14-Lückenschlusses machen will: Fahren Sie in die Altmark,
schauen Sie sich dort um und sprechen Sie mit den Menschen, die dort zu Hause sind. Dabei werden Sie eines
wahrscheinlich ziemlich schnell feststellen: Die Bürgerinnen und Bürger in dieser Region haben langsam kein
Verständnis mehr dafür, wenn selbsternannte „Berufsgutmenschen“, von denen viele nicht einmal in der Altmark wohnen, ihnen ständig erklären wollen, was für sie
das Beste ist. Die Menschen sind alt und klug genug, um
selbst entscheiden zu können. Und ihr Votum ist eindeutig: Sie wollen den A-14-Lückenschluss.
Es wird vorgeschlagen, dass die Vorlage auf
Drucksache 17/4199 an den Ausschuss für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung überwiesen wird. - Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Dr. Harald Terpe, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Angebot von Spielhallen mit dem Baugesetzbuch begrenzen
- Drucksache 17/4201 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben.
Es ist unstrittig: In den letzten Jahren hat die Anzahl
von Spielhallen, die dem bauplanungsrechtlichen Begriff der Vergnügungsstätten zuzurechnen sind, zugenommen. Mit ihrem Antrag wollen die Grünen deshalb
die Baunutzungsverordnung ändern. Es ist kein Geheimnis, dass der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
FDP für das Bauplanungsrecht unter anderem vorsieht,
die BauNVO umfassend zu prüfen. Wie ferner bekannt
ist, laufen zurzeit im dafür zuständigen Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung die Vorbereitungen für die notwendigen Änderungen beim BauGB
und bei der BauNVO. Wir wollen sie nicht einzeln, sondern insgesamt in einem Gesetzgebungsverfahren beraten. Es macht wenig Sinn, von der Tierhaltung im Außenbereich über Kindertageseinrichtungen bis zu den
Vergnügungsstätten jeden Einzelvorgang isoliert durchs
parlamentarische Verfahren zu schicken. Wir sollten bei
unserem Handeln auch an die denken, die in den Kommunen damit arbeiten müssen.
Deshalb begrüßt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
den von Bundesminister Dr. Ramsauer eingeschlagenen
Weg, den notwendigen Änderungsbedarf sorgfältig zu
prüfen, um danach in sogenannten Feldversuchen die
Auswirkungen mit den Betroffenen - nämlich den Städten und Gemeinden - zu bewerten. Dieses Verfahren hat
sich bei allen Baugesetzbuchnovellen, die ich für die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion bearbeiten und begleiten
durfte, sehr bewährt. Und an Bewährtem sollte man
ohne Not nichts ändern. Durch dieses Vorgehen werden
die Kommunen sehr frühzeitig beteiligt. Das ist uns sehr
wichtig.
So hat das Deutsche Institut für Urbanistik, Difu, im
vergangenen Jahr eine Kommunalumfrage zum Novellierungsbedarf bei der Baunutzungsverordnung ausgewertet und veröffentlicht, an der sich 158 Städte und
Gemeinden beteiligt haben. Als Ergebnis der Umfrage
kann festgestellt werden, dass das Instrumentarium der
geltenden BauNVO grundsätzlich zur Bewältigung der
anstehenden städtebaulichen Aufgaben ausreicht.
Gleichwohl sieht die kommunale Ebene in Detailfragen
einen Nachbesserungsbedarf. Wir wollen die kommunalen Erfahrungen und Auswirkungen nicht ignorieren,
sondern bei den Beratungen zu den notwendigen Gesetzesänderungen berücksichtigen. So wurde in den vom
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Urbanistik organisierten „Berliner Gesprächen“ zum Städtebaurecht, an denen unter anderem Praktiker aus den
Kommunen beteiligt waren, auch die Fragen nach der
Zulässigkeit von Vergnügungsstätten diskutiert. Dort
wurde deutlich, dass bereits das geltende Bauplanungsrecht den Kommunen erlaubt, die Ansiedlung von Spielhallen, Kasinos und anderen sogenannten Vergnügungsstätten in den einzelnen Baugebieten differenziert zu
steuern. Hierbei ist zu beachten, dass die Steuerung im
Allgemeinen die Aufstellung eines Bebauungsplans
durch die Gemeinde erfordert. Nach dem vorliegenden
Bericht über die „Berliner Gespräche“ scheint es außerdem einen Trend zu geben, moderne Spielzentren mit
mehreren kerngebietstypischen Spielhallen an Ausfallstraßen in Gewerbegebieten anzusiedeln.
Unabhängig davon wird die im Antrag der Grünen
angesprochene Problematik der Spielsucht gesehen. Zu
Recht hat sich der Gesundheitsausschuss in dieser Woche mit der Suchtprävention auseinandergesetzt und vor
allem die Fragen des Jugendschutzes erörtert. So sind
bei der Glücksspiel-VO Verbesserungen notwendig. Die
Frage, ob das Baurecht das geeignete Instrumentarium
bietet, diese Negativentwicklung zu verhindern, bedarf
einer sorgfältigen Prüfung. Wir haben bereits heute eine
Reihe von planungsrechtlichen Steuerungsmöglichkeiten für die Kommunen, die vor Ort angewandt werden
können.
Für CDU und CSU sind die kommunale Selbstverwaltung und die kommunale Planungshoheit hohe Güter, die wir stärken müssen. Die Kommunen müssen in
die Lage versetzt werden, eigenverantwortlich zu entscheiden, was für die Bewohner ihrer Stadt oder Gemeinde richtig oder falsch ist. Das ist in jedem Fall besser als Vorgaben aus Berlin oder Brüssel. Wir sollten
prüfen, wie wir im Gesetzgebungsverfahren zum BauGB
und der BauNVO die Steuerungsmöglichkeiten planungsrechtlich stärken können und wie durch klarstellende Regelungen die Handhabung vor Ort einfacher
wird. Alle paar Wochen einzelne Bestimmungen der
BauNVO herauszufischen und zu ändern, ist kontraproduktiv und verwirrt die Akteure, weil sie zu Recht davon
ausgehen, dass wir - wie in der Koalitionsvereinbarung
festgelegt - in dieser Legislaturperiode die BauNVO
insgesamt in die Hände nehmen.
Wir werden uns im federführenden Bundestagsausschuss Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in diesem
Jahr mit dem Bau- und Planungsrecht ausführlich befassen. Dazu gehört neben Fragen zum Bauen im Außenbereich, Klimaschutzfragen im Innenbereich oder im Zusammenhang mit der Zulässigkeit bestimmter Vorhaben
auch die Frage der Genehmigung von Spielhallen. Deshalb plädiere ich dafür, das Bau- und Planungsrecht im
Gesamtzusammenhang zu sehen und nicht jetzt durch
Aktionismus und Schauanträge in den Städten und Gemeinden Verwirrung zu erzeugen. Vor diesem Hintergrund lehnen CDU und CSU den Antrag der Grünen ab.
In etwa 8 000 Spielstätten sowie in rund 60 000 Gaststätten, Beherbergungsbetrieben und bei konzessionierten Buchmachern sind nahezu 400 000 münzbetätigte
Unterhaltungsautomaten mit und ohne Geldgewinnmöglichkeit aufgestellt. Ich glaube, unter uns ist niemand,
dem sie nicht schon längst aufgefallen sind, die zunehmende Zahl der Spielhallen, die in Städten, Gemeinden
und Dörfern fast wie Pilze aus dem Boden wachsen.
Über diese wollen wir heute sprechen.
Manchmal hat man den Eindruck, dass ganze Straßenzeilen in bestimmten Gegenden fast ausschließlich
aus solchen Spielhallen und Glückstempeln bestehen,
die zwar verdunkelte Fenster haben, sodass man nicht
hineinsehen kann, aber die dafür umso bunter mit
Leuchtreklame oder überdimensionierten Schriftzügen
Zu Protokoll gegebene Reden
auf sich aufmerksam machen. Nicht nur mir sind sie ein
Dorn im Auge; aber leider werden offenbar immer mehr
von ihnen eröffnet und immer häufiger Konzessionen für
Mehrfachspielhallen und Spiele-Center vergeben. Man
kann das Phänomen ein wenig mit Graffiti vergleichen,
das zunächst an einer Hauswand prangt und dann einen
Nachfolgeeffekt auslöst. Wenn dann schließlich eine
ganze Straßenzeile „zugesprayt“ ist, hat sich längst die
Attraktivität der Straße verändert, Mieter und Geschäftsinhaber fühlen sich nicht mehr wohl, und letztendlich sinkt der Wohnwert der ganzen Gegend, was
sich, wenn man nichts dagegen macht, sogar auf den
Mietspiegel auswirken kann. Ähnlich verhält es sich in
Gegenden mit zahlreichen Spielhallen.
Was kann man gegen diese Flut tun? Die Spielhallen
sind kein Gewerbe, das man sich als Nachbar oder Mieter eines Hauses unbedingt wünschen würde. Es ist
leider richtig, dass Städte und Gemeinden nach der bestehenden Rechtslage immer wieder Spielhallen genehmigen müssen, wenn die bau- und gewerberechtlichen
Voraussetzungen dafür vorliegen. Spielhallen sind nach
der Baunutzungsverordnung, BauNVO, sogenannte Vergnügungsstätten. Diese sind in Reinen und Allgemeinen
Wohngebieten unzulässig - §§ 3 und 4 BauNVO -, in Besonderen Wohngebieten - § 4 a BauNVO -, Mischgebieten - § 6 BauNVO - und Kerngebieten - § 7 BauNVO sind sie hingegen uneingeschränkt bzw. mit gewissen
Einschränkungen zulässig. Besonders im ungeplanten
Innenbereich haben die Gemeinden kaum die Möglichkeit, die Ansiedlung einer Spielhalle zu unterbinden.
Dies kann bedauerlicherweise auch dann nicht verhindert werden, wenn zum Beispiel die Nähe zu Schulen und
anderen Jugendeinrichtungen vorliegt, was ich für außerordentlich bedenklich halte.
Gerade in diesen Gegenden halten sich viele junge
oder suchtgefährdete Personen auf, die dann möglicherweise der Verlockung nicht widerstehen können, Geld zu
gewinnen oder sich im Spiel mit anderen zu messen.
Schnell kann man in eine Spirale der Abhängigkeit geraten. Deshalb halte ich es grundsätzlich für richtig, den
Kommunen auch baurechtliche Instrumente für die Genehmigung oder Ablehnung von Spielhallen an die Hand
zu geben; denn nicht nur der schlechte Ruf eilt diesen
Vergnügungsstätten voraus, auch die Tatsachen, dass
Spielsucht in Deutschland ein echtes Problem darstellt,
spricht gegen sie.
Natürlich sind die Nutzer dieser Automatenspielhallen oft normale Menschen wie du und ich, die einfach
gerne einmal den Kick eines Automatenspiels erleben
möchten und die nicht gefährdet sind, spielsüchtig zu
werden. Dennoch: Das sogenannte pathologische Spielen ist ein eigenständiges psychiatrisches Krankheitsbild, das in den letzten Jahren immer öfter dokumentiert
und behandelt wird. Insgesamt geht man von circa
100 000 krankhaften Spielern in Deutschland aus, was
unter anderem aus einer Erhebung durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA, hervorgeht.
Jedoch verhehle ich nicht, dass neben dem Gesetzgeber und Behörden auch die Automatenwirtschaft hier
hohe Verantwortung trägt und diese durchaus auch ernst
nimmt. Die Branche zeigt den Willen und den Wunsch,
Verantwortung zu übernehmen, was sie schon seit einigen Jahren erfolgreich durch Selbstbeschränkung als
Qualitätsmerkmal verfolgt. So kämpft zum Beispiel der
Verband der Automatenwirtschaft gegen die schwarzen
Schafe in der eigenen Branche und verlangt von seinen
Mitgliedern einen hohen Standard und Verantwortungsgefühl. Im Sinne des vorbeugenden Jugend-Medienschutzes wurde zum Beispiel von der deutschen Unterhaltungsautomatenwirtschaft die Automaten-Selbstkontrolle, ASK, eingeführt. Intensive Mitarbeiterschulungen und vielfältige Informationen sollen das Auge der
Mitarbeiter schulen und so dazu beitragen, exzessivem
Spielverhalten entgegenzuwirken.
Gesetzgeberisches Handeln ist dennoch notwendig.
Im Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
liegt die geplante Novelle des BauGB und der BauNVO
in den letzten Zügen. Die Beratungen sind fast abgeschlossen, sodass wir im Bundestag diese dann bald in
Gänze beraten können. Deshalb plädiere ich heute dafür, nicht Einzelpunkte dieser Novelle herauszugreifen,
so richtig sie auch sein mögen. Eine allumfängliche Änderung halte ich für sinnvoll, zumal das Ministerium signalisiert hat, auch Regelungen zu Spielhallen in die
Novelle aufgenommen zu haben. Meines Wissens ist eine
entsprechenden Regelung vorgesehen. Wir sind also auf
einem guten Weg.
Spielhallen sind für viele Menschen in Deutschland
zur Spielhölle geworden, für diejenigen, die sich durch
die drastische Zunahme dieser Geschäfte in der Nachbarschaft belästigt fühlen, aber auch für alle, die süchtig
geworden sind - süchtig nach dem Kick am Glücksspielautomaten. Der Traum vom großen Gewinn und dauernd
klingenden Münzen erfüllt sich aber nicht. Spielerinnen
und Spieler geraten in einen immer dramatischer werdenden Abwärtsstrudel. Spielhallen sind ein großes Ärgernis in Deutschland. In vielen Kommunen wird darüber geklagt, dass die Spielhallen wie Pilze aus dem
Boden schießen und kaum noch zu bändigen sind. Es ist
wie überall: Wo sich ein Markt ergibt, öffnet ein Geschäft. Und das hat Auswirkungen - nicht nur auf diejenigen, die in eine Spielhalle gehen, sondern auch auf
Nachbarn oder die Tourismuswirtschaft, die sehenswürdige Altstädte durch Spielhallen verschandelt sehen.
Um des Problems Herr werden zu können, bedarf es
eines umfassenden Konzeptes, das die verschiedenen
Betroffenen und Betroffenheiten erfasst und ganzheitlich
betrachtet. Dazu gehören zunächst noch stärkere Maßnahmen gegen die Spielsucht; denn die effektivste Maßnahme gegen Spielhallen ist dann gegeben, wenn es niemanden mehr gibt, der sich der Spielsucht in Spielhallen
hingibt. Dazu sind frühzeitige Präventionskampagnen,
auch und gerade in Schulen und Jugendeinrichtungen,
notwendig. Das Lotterie- und Sportwettenmonopol muss
erhalten bleiben. Wir wollen einen kleinen, einen regulierten Markt, auf dem die Suchtbekämpfung ein stärkeres Gewicht erhält.
Zu Protokoll gegebene Reden
Inwiefern das Angebot von Spielhallen mithilfe des
Baugesetzbuches begrenzt werden kann, wie es die Grünen in ihrem Antrag fordern, wird bereits seit geraumer
Zeit unter Fachleuten diskutiert. An dieser Stelle nur ein
Hinweis zur Begrifflichkeit: Der Antrag spricht in der
Überschrift von Begrenzungsregelungen im „Baugesetzbuch“. Tatsächlich wird jedoch eine Änderung der
Baunutzungsverordnung gefordert. Experten verweisen
darauf, dass es schon jetzt Möglichkeiten gibt, wie die
Errichtung von „Vergnügungsstätten“ - und zu denen
zählen offiziell auch die Spielhallen - gesteuert werden
kann. So können alle Arten von Vergnügungsstätten mithilfe der Festsetzung von Bebauungsplänen ausgeschlossen werden. Die Kommunen können mit Auflagen
bei der Erteilung von Baugenehmigungen verhindern,
dass an bestimmten Orten Spielhallen entstehen. Die
Kommunen können sogar mithilfe der Baunutzungsverordnung spezielle Vergnügungsstätten und dabei dann
ausdrücklich Spielhallen ausschließen oder beschränken. In der Praxis hilft das aktuell in vielen Kommunen
jedoch nicht; denn viele Städte und Gemeinden sind von
der Entwicklung der Spielhallen in den letzten Jahren
überrascht worden. Sie haben vorher keine Bebauungspläne aufgestellt oder aber - auch das ist eine Möglichkeit - eine Gemeindekonzeption zur Steuerung von Vergnügungsstätten nicht erstellt. Mit diesen bestehenden
Spielhallen muss man nun umgehen. Auch deshalb ist es
wichtig, das Problem ganzheitlich zu betrachten und
nicht auf eine baurechtliche Frage zu reduzieren. Die
Frage der Suchtprävention stellt sich umso stärker in allen Städten und Gemeinden, in denen es bereits eine
große Anzahl Spielhallen gibt. Ich verweise hierbei insbesondere auf die Antwort der Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion „Zukunft
des Glücksspielwesens sowie Prävention und Bekämpfung von Glücksspielsucht“, Drucksache 17/4358. Dort
werden Hinweise gegeben, mit welchen Projekten der
Spielsucht begegnet werden kann. Das reicht aber noch
nicht aus. In der Antwort wird auch deutlich, dass Studien ergeben haben, dass genauso von Spielautomaten
in Gaststätten Gefahren für Spielsucht ausgehen. Hier
sieht man, dass lediglich die Beschränkung der Baumöglichkeiten von Spielhallen nicht gleich die Spielsucht bekämpft, wenn Spielsüchtige dann eben in die
nächste Gaststätte an den Automaten gehen oder aber
zu Hause im Internet ihrem „Hobby“ frönen.
Mit der Föderalismusreform 2006 ist die Kompetenz
für das Spielhallenrecht auf die Länder übergegangen.
Es ist zwar wichtig, auch hier im Bundestag dieses
Thema zu debattieren, jedoch ist der Grünenantrag nur
ein zahnloser Tiger. Der Vorschlag, Spielhallen in die
Gewerbegebiete zu verlagern, löst das Problem nicht,
und Appelle an die Länder sind bei dieser Thematik kein
zielführender Weg zur Lösung des Problems. Vielmehr
können und müssen die vorhandenen Möglichkeiten des
Bauplanungs- und Bauordnungsrechts schon jetzt ausgeschöpft werden.
Ich hatte eingangs bereits auf die negative gesellschaftspolitische Dimension der Spielsucht hingewiesen. Diese Feststellung wird belegt durch das Ergebnis
einer Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss des
Bundestages zur Evaluierung der Novelle der Spielverordnung, die am 18. Januar 2011 stattfand. Das
Ergebnis dieser Anhörung kann man in einem Satz zusammenfassen: Die Spielverordnung des Bundes muss
verschärft werden, um die zunehmende Spielsucht im
Bereich der Geldspielautomaten wirksam einzudämmen.
An die schwarz-gelbe Bundesregierung und die Koalitionsregierung richte ich den Appell, die Kritik der Experten, die in der Anhörung deutlich wurde, ernst zu
nehmen. Wenn die Bundesregierung nicht mit wirksamen
Maßnahmen gegen die Spielsucht im Bereich der Geldspielautomaten vorgeht, muss ihr vorgehalten werden,
dass sie bewusst eine weitere Zunahme der Zahl der
Süchtigen und die daraus resultierenden sozialpolitischen Folgen in Kauf nimmt. Auch in diesem Fall muss
sie sich entscheiden: zwischen einer Klientelpolitik für
die Automatenindustrie und einer der Gesellschaft in
Deutschland verpflichteten Politik der Eindämmung der
Spielsucht. Wir müssen gemeinsam mit den Ländern die
Gesamtproblematik erörtern und nach wirksamen Wegen suchen, die die Handlungsmöglichkeiten des Staates
verbessern und den Menschen, die spielsüchtig sind
oder aber sich auf dem Weg dorthin befinden, Hilfe anbieten.
Wer die Spielsucht bekämpfen will, tut dies nicht mit
dem Baugesetzbuch. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragt, die Baunutzungsverordnung dahin
gehend zu ändern, dass Spielhallen zukünftig nur noch
in Ausnahmefällen außerhalb von Gewerbegebieten zulässig sein sollen. Sie erhofft sich von dieser Maßnahme,
Spielhallen aus dem Innenstadtbereich - also aus Besonderen Wohngebieten, Misch- oder Kerngebieten - zu
verbannen. Wer dies fordert, muss sich aber der negativen Folgen bewusst sein: In Gewerbegebieten isoliert
und konzentriert, werden sich die von Ihnen selbst beschriebenen typischen Begleiterscheinungen bei gewerblichen Spielstätten verstärken, also die Beschaffungskriminalität und soziale Isolation der pathologisch
betroffenen Spieler. Zudem steigt die Gefahr, dass sich
zusätzlich illegale Spielstätten etablieren. Gleichzeitig
wird in einigen Gewerbegebieten oder Ausfallstraßen, in
denen sich Spielbetriebe konzentrieren, bereits heute beklagt, dass Grundstückspreise und Mieten gebiets- und
gewerbsuntypisch steigen. Mit den Möglichkeiten eines
Spielbetriebs oder einer Geschäftskette können viele andere Gewerbe- oder Handwerksbetriebe, die sich nicht
ohne Grund in preisniedrigen Außenbezirken angesiedelt haben, oft nicht mithalten. Hier kommt es unter Umständen zu nicht unerheblichen Wettbewerbsverzerrungen.
Ein weiteres gravierendes Problem kommt hinzu: Außerhalb der Kernstädte wird sowohl die soziale Kontrolle als auch die Durchsetzung der gesetzlichen
Schutzbestimmungen erheblich erschwert. Jeder, der
sich mit Kriminalstatistiken oder Erfahrungen der gewerblichen Prostitution beschäftigt hat, muss um diese
Gefahren wissen, und jeder muss gewarnt sein. Dies zu
ignorieren, ist entweder fahrlässig oder Sie müssen sich
nach der Ernsthaftigkeit Ihres Anliegens fragen lassen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Petra Müller ({0})
Nur um die große Welle zu machen, wohl wissend, dass
der Antrag fachlich kontraproduktiv wirkt, müssen wir
uns nicht zur grünen Selbstbespiegelung hier hinsetzen.
Für mich als liberale Politikerin noch erschreckender
jedoch ist die Selbstverständlichkeit, mit der Sie meinen,
in die Selbstverwaltungsrechte der Kommunen und in
die Gewerbefreiheit eingreifen zu können. Beides ist vom
Grundgesetz geschützt und Grundpfeiler unseres
Rechts- und Wirtschaftssystems.
Das gewerbsmäßige Aufstellen von Glücksspielautomaten ist nach § 12 Abs. 1 des Grundgesetzes als wirtschaftliche Betätigung geschützt. Den Kommunen erlaubt das bereits jetzt geltende Bauplanungsrecht, diese
Freiheit einzuschränken, um damit die Ansiedlung von
Spielhallen, Kasinos und anderen Vergnügungsstätten in
einzelnen Baugebieten differenziert zu steuern und städtebaulichen Fehlentwicklungen vorzubeugen. Bei fehlender Gebietsverträglichkeit kommt § 15 Abs. 1 Satz 1
BauNVO zum Tragen, bei Ausschlussfestsetzungen greift
§ 1 Abs. 5. Selbst der von Ihnen im Antrag beschriebene
„Trading-down-Effekt“ kann nach herrschender Rechtsprechung dazu herangezogen werden, eine Genehmigung für eine Vergnügungsstätte zu versagen. Nach
Meinung der FDP-Fraktion sind diese bestehenden Instrumente völlig ausreichend. Die Baunutzungsverordnung lässt den Kommunen viel Spielraum und Kreativität für lokale Lösungen. Zuletzt würde ein generelles
Verbot der Ansiedlung außerhalb von Gewerbegebieten
die Städte und Gemeinden in ihrem gesetzlich geschützten Selbstverwaltungsrecht beschränken.
Ich fasse zusammen: Jede weitere bundesrechtliche
Einschränkung der Gewerbefreiheit und der kommunalen Selbstverwaltung ist in diesem Fall weder notwendig, noch entspräche sie unserem freiheitlichen Rechtsund Wirtschaftsgedanken. Einig sind wir uns im Hohen
Hause, dass Automatenspiele die gefährlichste Form
der Spielsucht darstellen. Einig sind wir uns auch, dass
die Politik den an der Spielsucht erkrankten Menschen
in unserem Land unterstützend zur Seite stehen muss nicht jedoch im Baugesetzbuch. Den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen lehnt die FDP-Fraktion
deshalb ab.
So sehr ich das Anliegen dieses Antrages - wenn das
denn das Anliegen ist -, die Spielsucht einzudämmen
und zurückzudrängen, unterstütze, so sehr zweifle ich
daran, dass das Baurecht dafür ein geeignetes Instrument ist. Vielleicht kann über entsprechende Bestimmungen in der Baunutzungsverordnung das Spielhallenproblem aus den Innenstädten und Wohngebieten verdrängt
und so die Zugangsschwelle für Spielerinnen und Spieler, die noch nicht süchtig sind, erhöht werden. Vielleicht
kann man damit einer Entwertung von Immobilien und
Stadtquartieren, die mit der Nachbarschaft solcher
Spielhallen gestraft sind, entgegenwirken. Das Problem
der Spielsucht, das der vorliegende Antrag zu seiner Begründung benutzt, wird dadurch jedenfalls nicht gelöst.
Im Gegenteil: Dadurch, dass Spielhallen und Spieler
aus Innenstadtlagen in Gewerbegebiete abgedrängt
werden, entzieht sich das Problem höchstens der täglichen öffentlichen Wahrnehmung.
Anstelle kleinerer Spielhallen in den Innenstädten
entstehen dann eben große Glücksspielcenter auf der
grünen Wiese. Spielerinnen und Spieler - und übrigens
auch Spielhallenbetreiber - werden stigmatisiert und
möglicherweise an den Rand der Legalität gerückt. Mit
Verlaub: Das ist genauso wirksam wie die Bekämpfung
der Prostitution durch die Ausweisung von Rotlichtbezirken!
Der Konflikt, mit dem wir es hier zu tun haben, liegt
doch ganz woanders: fast 10 Milliarden Euro Umsatz
der Spielhallen in Deutschland 2009; Umsätze, Gewinne und Arbeitsplätze in der Automatenindustrie, Umsatzsteuer, Gewerbesteuer und Vergnügungssteuer für
die chronisch klammen Kommunen.
Was kann eine Änderung in der Bauordnung dagegen
ausrichten? Und was wollen die Antragsteller entgegnen, wenn die privaten Spielhallenbetreiber auf den
Gleichheitsgrundsatz verweisen und dabei mit dem Finger auf die ländereigenen Kasinos und Lottoannahmestellen zeigen? Wenn wir die Novellierung des Baurechts
dazu nutzen wollen, auch soziale Probleme zu entschärfen, bin ich selbstredend dabei. Dann aber konsequent
und gründlich; denn andere Konfliktthemen sind ebenso
drängend wie das hier angesprochene, zum Beispiel die
Bestandsgarantie für Kindergärten und Schulen in
Wohngebieten ebenso wie die Zulässigkeit von Spielund Bolzplätzen sowie anderen Begegnungs- und Erholungsmöglichkeiten dort, wo die Menschen wohnen und
zusammen leben.
Trotz aller Einwände gegen den vorliegenden Antrag:
Wenn Sie mich davon überzeugen, dass die vorgeschlagenen Änderungen der Baunutzungsverordnung dazu
beitragen, auch nur einen Menschen vor der Spielsucht
zu bewahren, will ich mich dem nicht verschließen.
Gestern fand im Gesundheitsausschuss ein Expertengespräch zur Evaluierung der Spielverordnung statt.
Gegenstand der Anhörung war unter anderem eine aktuelle Studie des Instituts für Therapieforschung München zu den Auswirkungen der Novelle im Jahr 2006.
Die Ergebnisse dieser Studie sind erschreckend: Fast
40 Prozent der in Spielhallen befragten Spieler zeigten
Symptome einer Abhängigkeit oder waren zumindest dabei, eine solche zu entwickeln. Rund 50 Prozent der befragten Spieler gaben selbst zu, ihr Spielen nicht mehr
unter Kontrolle zu haben. Mehr als die Hälfte der Spieler erklärten, dass sie sich wegen des Spielens finanziell
einschränken oder sogar zusätzliches Geld beschaffen
müssten.
Wir wissen seit langem, dass Geldspielgeräte in
Spielhallen diejenige Glücksspielform sind, die die
meisten Abhängigen hervorbringt. In einem aktuellen
Modellprojekt der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen hatten rund 87 Prozent der Spieler, die in Beratungsstellen kamen, ein Problem mit diesen Automaten.
Wir sind uns einig, dass ein generelles Verbot des
Zu Protokoll gegebene Reden
Glücksspiels oder solcher Spielhallen der falsche Weg
wäre. Es geht uns um die Reduzierung des Angebots,
denn aus der Suchtforschung ist bekannt, dass die Verfügbarkeit einer Droge oder eines Suchtmittels einen
wesentlichen Einfluss auf die Zahl der Abhängigen hat.
Auch bei Geldspielgeräten wird diese wissenschaftliche
Erkenntnis durch Erfahrungen aus der Praxis bestätigt.
Genauso wie die Zahl der Spielhallen und Spielgeräte in
den letzten Jahren erheblich angestiegen ist, genauso
stieg auch die Zahl der therapiebedürftigen Spieler.
In der bereits erwähnten IFT-Studie geben über die
Hälfte der befragten Spieler an, dass sie Spielhallen den
staatlichen Spielbanken vorziehen, weil erstgenannte
besser erreichbar seien. Auch diese Studie belegt also,
dass die Verfügbarkeit ein wesentlicher Aspekt für die
Entscheidung ist, an Automaten zu spielen. Viele von uns
wissen aus der Wahlkreisarbeit: Deutschlandweit haben
Kommunen seit einigen Jahren mit einer inflationären
Vermehrung von Spielhallen zu kämpfen. Auch die Zahl
der dort aufgestellten Geldspielgeräte hat um 50 Prozent zugenommen. Die Mittel, die die Kommunen dem
entgegensetzen können, sind begrenzt. Spielhallen dürfen nach der Baunutzungsverordnung nur in bestimmten
Wohngebieten untersagt werden. Die Bauleitplanung in
vielen Kommunen hat dieses Problem leider nicht von
Anfang an berücksichtigt. Nachträgliche Änderungen
sind aufwendig und langwierig. So sind die Kommunen
weiterhin verpflichtet, neue Spielhallen zu genehmigen,
wenn die bau- und gewerberechtlichen Voraussetzungen
dafür vorliegen. Zudem werden vermehrt sogenannte
Mehrfachkonzessionen beantragt, mit denen große
Spielhallenkomplexe betrieben werden können, die sich
mit Gastronomieangeboten und anderem den Anschein
einer harmlosen Familienunterhaltung geben.
Die Auswirkungen dieser Spielhallenflut sind nicht
nur für die Spieler, sondern auch für die Kommunen ein
erhebliches Problem. Neben einer steigenden Zahl
Spielsüchtiger mit allen bekannten Begleiterscheinungen wie Verschuldung und Beschaffungskriminalität sehen wir vielerorts bereits heute negative Folgen für die
Entwicklung bestimmter Stadtviertel. Spielhallen gehen
oft mit dem sogenannten Trading-down-Effekt einher,
das heißt, die Attraktivität einer Straße sinkt, Fachgeschäfte werden durch Ramschläden ersetzt, Mieter ziehen weg. Die gesamten volkswirtschaftlichen Kosten,
die durch diese Begleitprobleme entstehen, dürften erheblich sein und den Nutzen weit übersteigen.
Wir haben diesen Antrag eingebracht, um die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen. Ihr steht mit der
Baunutzungsverordnung ein Instrument zur Verfügung,
mit dem sie den Kommunen helfen und die Versuchung
für abhängige oder zumindest gefährdete Menschen abmildern kann. Wir fordern die Bundesregierung auf: Tun
Sie etwas gegen dieses Problem! Geben Sie den Kommunen mehr Möglichkeiten, sich gegen diese Zunahme von
Spielhallen zu wehren! Begrenzen Sie die Zulassung von
Spielhallen auf Gewerbegebiete, sodass sie nicht mehr
dort, wo die Menschen leben, direkt und rund um die
Uhr verfügbar sind! Und setzen Sie sich bei den Ländern
dafür ein, dass keine Mehrfachkonzessionen mehr erteilt
und Spielhallen nicht dort zugelassen werden können,
wo sich Kinder und Jugendliche aufhalten! Lassen Sie
die Kommunen nicht im Stich!
Es wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 17/4201 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen. - Auch damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Schon sind wir am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich danke Ihnen für das lange Ausharren.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 21. Januar 2011,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.