Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich begrüße Sie alle herzlich zu unseren heutigen Be-
ratungen.
Wir können gleich in die Tagesordnung einsteigen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a und 36 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Kauder,
Ute Granold, Erika Steinbach, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal
Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Religionsfreiheit weltweit schützen
- zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Das Menschenrecht auf Religions- und Glau-
bensfreiheit als politische Herausforderung
- Drucksachen 17/2334, 17/3428, 17/4122 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Marina Schuster
Tom Koenigs
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({1}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({2}), Tom
Koenigs, Josef Philip Winkler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Menschenrecht auf Religions- und Glaubensfreiheit stärken
- Drucksachen 17/2424, 17/4121 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Marina Schuster
Ingrid Hönlinger
Über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie zu dem Antrag der Fraktion der SPD werden wir später namentlich
abstimmen; wir haben also zwei namentliche Abstimmungen. Außerdem liegt zu dem Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP ein Änderungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Interfraktionell wurde vereinbart, über diesen Tagesordnungspunkt eineinhalb Stunden zu diskutieren. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Volker Kauder für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum zweiten Mal in diesem zweiten Halbjahr 2010 befassen wir uns mit der Situation von Christen in aller
Welt. Ich freue mich, dass wir heute hier auf der Ehrentribüne des Deutschen Bundestages Gäste bei uns haben,
die aus Ländern kommen, in denen es Christen besonders schwer haben.
Ich begrüße herzlich den Bischof der Chaldäisch-Katholischen Kirche in Bagdad, Shlemon Warduni,
({0})
und den Patriarchalvikar der Chaldäisch-Katholischen
Kirche in der Türkei, François Yakan.
({1})
Ich begrüße den Exekutivsekretär der nationalen Kommission Justitia et Pax in Pakistan, Peter Jacob.
({2})
Redetext
Ich freue mich, dass der für diese Aufgaben zuständige
Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof
Dr. Stephan Ackermann, heute da ist.
({3})
Ebenso freue ich mich, dass der Vertreter der Deutschen
Evangelischen Allianz, Wolfgang Baake, und die Prälaten Jüsten und Felmberg da sind. Herzlich willkommen
bei dieser Debatte!
({4})
Der Papst hat gestern, wie für diese Debatte gemacht,
eine Botschaft zur Feier des Weltfriedenstages am
1. Januar nächsten Jahres veröffentlicht. Diese drängende Botschaft befasst sich ausschließlich mit dem
Thema „Verfolgung von Christen in der ganzen Welt“.
Der Papst stellt fest, dass die Verfolgung von religiösen
Minderheiten - er spricht nicht nur von den Christen eine der zentralen Ursachen für Unfrieden in der Welt
ist. Er betont, was wir auch in unserem Antrag formulieren: Das Bekenntnis zur Religion und die Möglichkeit,
die Religion zu wechseln, sind ein universales Menschenrecht, ein Menschenrecht, das niemandem abgesprochen werden kann. Wir formulieren das auch in unserem Antrag so. Das Recht auf freie Religionsausübung
gehört zur Würde des Menschen. Deswegen treten wir
alle, die wir uns im Deutschen Bundestag für Menschenrechte einsetzen, besonders für das Recht auf freie Religionsausübung ein.
({5})
Wir sehen mit einiger Sorge, dass sich im internationalen Bereich etwas entwickelt, das das Menschenrecht
auf Religionsfreiheit relativieren soll. Es kommt ganz
harmlos daher, und wer nicht genau hinschaut, bemerkt
den Unterschied zunächst einmal gar nicht. Da wird formuliert: Wir wollen den Schutz der Religion. Es ist vor
allem die Organisation der Islamischen Konferenz, die
den Schutz der Religion in internationalen Gremien
durchzusetzen versucht und ihn in Unterorganisationen
der UNO schon durchgesetzt hat. Die islamischen Organisationen versuchen dies vor allem, weil sie den Islam
vor Angriffen schützen wollen.
Damit wird ein Menschenrecht einem Kollektivrecht
untergeordnet. Es geht nicht mehr darum, das Recht des
Einzelnen auf freie Religionsausübung zu erhalten, sondern es geht darum, eine Gruppe zu schützen. Dazu kann
ich nur sagen: Wir wollen nicht eine Religion schützen,
sondern wir wollen das Menschenrecht auf freie Religionsausübung schützen. Das ist ein elementarer Unterschied.
({6})
Ich weiß, dass wir das hier im Deutschen Bundestag gemeinsam so sehen; dafür bin ich dankbar.
Wir sehen die Verfolgung und Bedrängung von
Christen in Asien und im Nahen Osten. Wir sehen sie
in vielen Ländern dieser Welt. Aber unser Blick wendet
sich in diesen Tagen insbesondere in den Irak. Fast wöchentlich hören wir davon, dass im Irak Christen verfolgt und getötet werden. Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest müssen Christen in Bagdad und in anderen
Gemeinden Mauern um ihre Kirchen ziehen, damit sie
an Heiligabend ihren Gottesdienst einigermaßen ungestört feiern können. Wir wünschen uns natürlich sehr,
dass die nahen Weihnachtstage davon geprägt sind, dass
alle Menschen ihre Religion frei leben und dass gerade
die Christen an diesem großen Fest der Christenheit ihren Glauben leben und bekennen können.
Was können wir vor allem für die Christen in Bagdad
tun? Es geht nicht nur darum, über ihre Situation zu reden und sie öffentlich zu machen, auch wenn dies eine
zentrale Funktion ist. Da danke ich dem Bundesaußenminister - ich wiederhole mich gerne -, der vor wenigen
Tagen im Irak war. Er hat in Bagdad mit Christen gesprochen und die Regierung in Bagdad gemahnt, mehr
für den Schutz der Christen zu tun. Herzlichen Dank,
Herr Bundesaußenminister, für diesen Einsatz!
({7})
Aber es kann nicht nur bei Worten bleiben. Das hat
uns auch der Bischof Warduni heute Morgen in einem
Gespräch gesagt. Das Engagement muss sich auch an
Taten messen lassen. Es gibt keine direkte Entwicklungszusammenarbeit mit dem Irak. Die Mittel aus dem
Topf, den der Bundesaußenminister zur Verfügung hat,
um einmalige, spontane Hilfen zu leisten, werden nicht
reichen, um dort dauerhaft etwas zu tun.
Wir wissen natürlich, dass die Lage im Irak insgesamt
besser werden muss - für alle dort, nicht nur für die
Christen. Dies ist eine längerfristige Aufgabe, die uns
den Blick für die Herausforderung nicht verstellen darf,
auch kurzfristig etwas zu tun, Zeichen zu setzen, damit
die Christen in Bagdad eine Perspektive verspüren und
nicht nur den Wunsch haben, dieses Land zu verlassen.
Es kann nicht unser Ziel sein, dass an Orten christenfreie
Zonen entstehen, wo schon seit Jahrhunderten Christen
leben.
({8})
Wir müssen den Christen im Irak, in ihrer Heimat, eine
Chance geben. Wir werden in der Koalition darüber
sprechen müssen, wie wir eine Entwicklungszusammenarbeit mit den Christen im Irak organisieren können.
Die Christen im Irak waren schon immer dafür bekannt, dass sie im Bildungswesen und im Gesundheitswesen besondere Leistungen vollbringen können. In vielen Dörfern und Regionen, in denen Christen, aber auch
Angehörige anderer Glaubensrichtungen leben, gibt es
keine Schulen und keine Krankenhäuser. Dort gibt es
keine Organisationen, die bei sozialer Not helfen. Wir
können beginnen, solche Organisationen aufzubauen, die
wie kleine Lichter sind, und dem Land so eine Perspektive geben. In diesen Einrichtungen können Christen Arbeitsplätze finden. Dadurch haben sie die Chance, voranzukommen.
Im nächsten Jahr, im Jahr 2011, müssen wir dem, was
wir heute im Deutschen Bundestag beraten, diskutieren
und verabschieden, konkrete Taten folgen lassen. Die
Mittel, die wir dafür benötigen, werden keine so gigantische Höhe haben, dass wir uns das nicht leisten könnten.
Deshalb rufe ich uns alle auf: Unseren Worten, die wir
heute im Deutschen Bundestag im Zusammenhang mit
dem Bekenntnis zum Menschenrecht auf freie Religionsausübung formulieren, müssen wir im nächsten Jahr Taten folgen lassen.
Ich möchte abschließend noch eine Bitte aussprechen:
Wenn es darum geht, für das Recht auf freie Religionsausübung einzutreten, erwarte ich, dass auch diejenigen,
die aus anderen Ländern zu uns gekommen sind und in
unserem Land erfahren, welch großes Geschenk es ist,
seinen Glauben frei leben zu können, und zwar unabhängig davon, welcher Religion man angehört, die erfahren,
welch großes Geschenk es ist, Gebetshäuser bauen zu
können, wissen, dass es auch darauf ankommt, dass sie
selbst für das Menschenrecht der Glaubensfreiheit
eintreten.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Christoph Strässer für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen!
Die Religionsfreiheit ist Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen geworden, bei denen es sowohl
um die praktische Umsetzung als auch um Grundsatzfragen geht. Dafür politische Aufmerksamkeit
zu investieren, lohnt sich. Denn als Menschenrecht
zielt die Religionsfreiheit in letzter Konsequenz auf
die wirksame Anerkennung von Würde, Freiheit
und Gleichheit aller Menschen.
Dies ist ein Zitat aus einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung von Heiner Bielefeldt, der seit einigen Monaten Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für
Fragen der Religionsfreiheit ist. Ich glaube, diesem Zitat
kann jeder in diesem Hause zustimmen. Es ist gut, dass
wir heute über dieses Thema diskutieren. Auch ich freue
mich über die Anwesenheit der Repräsentanten vieler
christlicher Glaubensgemeinschaften, die ich im Namen
der SPD-Fraktion ganz herzlich begrüße.
({0})
Die Freude über diese Tatsache wäre allerdings noch
größer, wenn wir hier auch Angehörige anderer Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften begrüßen könnten. Viele können deshalb nicht hier sein, weil sie wegen
ihres Glaubens verfolgt werden, weil sie inhaftiert sind
und um ihr Leben fürchten müssen, und das allein, weil
sie sich zu einem Glauben bekennen oder für sich in Anspruch nehmen, nicht zu glauben, keinem Bekenntnis anzugehören oder von einem Bekenntnis zu einem anderen
wechseln zu wollen.
({1})
Auch all denjenigen gehört unsere Solidarität. Sie alle
haben denselben Anspruch auf Schutz, den die Glaubens-, die Bekenntnis- und die Weltanschauungsfreiheit
jedem einzelnen Menschen zukommen lässt.
({2})
Ich denke hier insbesondere - darauf möchte ich hinweisen - an sieben führende Mitglieder der iranischen
Bahai-Gemeinde, deren Aufgabe es ist, die sozialen und
religiösen Belange der circa 300 000 Bahai im Iran zu
koordinieren. Sie sind seit März 2008 inhaftiert, zum
Teil in Isolationshaft im berüchtigten Evin-Gefängnis in
Teheran. Sie blieben 20 Monate ohne Anklage in Haft
und wurden im Juni dieses Jahres nach wenigen Verhandlungstagen ohne jegliche Beweise und ohne den
Anschein eines rechtsstaatlichen Verfahrens zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Die Bahai sind eine kleine Gemeinschaft, eine Gemeinschaft, die wie kaum eine andere seit ihrer Gründung von den Gedanken der Friedfertigkeit und Toleranz
geleitet wurde. Gerade weil es nur eine vergleichsweise
kleine Gruppe ohne große Lobby ist, gilt, dass wir uns
ihrer Interessen annehmen und um unserer eigenen
Glaubwürdigkeit willen die uneingeschränkte und repressionsfreie Ausübung ihres Glaubens weltweit einfordern müssen.
({3})
Ich freue mich, dass ich auf der Tribüne auch Angehörige des Nationalen Geistigen Rates der Bahai in
Deutschland sehe. Auch Ihnen ein herzliches Willkommen hier im Deutschen Bundestag!
({4})
Religionsfreiheit ist - das ist von Ihnen, Herr Kollege Kauder, zu Recht angesprochen worden - ein individuelles Menschenrecht. Es ist nahezu weltweit im Internationalen Pakt über die bürgerlichen und politischen
Rechte verbürgt, der seit 1966 von der überwiegenden
Mehrzahl der Staaten ratifiziert wurde. Religions- und
Weltanschauungsfreiheit ist damit nichts, das von Staaten gewährt wird. Nein, es handelt sich um ein Recht,
auf das ein jeder Mensch einen Anspruch hat.
({5})
Obwohl dies so ist, können viele Menschen weltweit
ihren Glauben nicht frei ausüben. Das hat viele Ursachen
und Ausprägungen. Es gibt Konflikte und gewalttätige
Auseinandersetzungen zwischen religiösen Gruppen,
zum Beispiel immer wieder zwischen Muslimen und
Christen in Nigeria. In Indien werden christliche Kirchen durch hinduistische Fanatiker zerstört, ohne dass
der Staat Schutz gewährt. Das Thema Irak haben Sie be9172
reits angesprochen. Im Bürgerkrieg in Sri Lanka haben
singhalesische Mönche mit Hetzkampagnen gegen Tamilen eine verheerende Rolle gespielt.
Wir weisen darauf hin - das kann man auch nachlesen -,
dass religiös begründete Konflikte und die Verfolgung
religiöser Minderheiten weltweit stark zunehmen. In
über 60 Ländern weltweit ist die Religionsfreiheit stark
eingeschränkt. Doch dabei - auch das möchte ich sagen geht es oft nur vordergründig um Religion. Unterschiedlichste politische Motive, soziale Ungleichheit und kulturelle Differenzen bilden zumeist die tatsächlichen Ursachen. Die Leidtragenden sind meist Angehörige
religiöser Minderheiten. Sie werden diskriminiert, verfolgt, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt oder sogar
getötet. Das darf uns nicht unberührt lassen. Deshalb bin
ich sehr froh darüber, dass wir heute so umfassend über
dieses Thema diskutieren.
({6})
Ich möchte noch ein weiteres Thema ansprechen, das
uns auch in unserer Außenpolitik ein Stück weit angeht.
Es geht um folgende Frage: Wie stehen wir dazu, dass in
bestimmten Staaten, insbesondere islamischer Prägung,
der Religionswechsel unter Strafe steht? Nach unserer
Auffassung - ich glaube, das ist seit vielen Jahren Konsens in den Vereinten Nationen; es gibt einen sogenannten General Comment dazu - ist ein Bestandteil der Religionsfreiheit die Freiheit, die Religion repressionsfrei zu
wechseln.
In einigen islamischen Staaten, insbesondere in Pakistan, in Saudi Arabien, aber leider Gottes auch in Afghanistan - deshalb habe ich auf unsere Außenpolitik hingewiesen - wird der Abfall vom Islam, die Apostasie,
immer noch mit der Todesstrafe geahndet. Über dieses
Thema sollten wir hier im Deutschen Bundestag diskutieren, und darüber hinaus sollte die Bundesregierung in
all ihren Bemühungen, gerade in Afghanistan, dafür sorgen - dies ist meine ganz herzliche Bitte -, dass in diesen Ländern die unmenschliche Todesstrafe abgeschafft
wird. Sie darf erst recht nicht angewandt werden, wenn
Menschen das tun, was ihnen in weltweiten Vereinbarungen zugebilligt worden ist. Das kann nicht sein. Das
müssen wir in unseren internationalen Gesprächen immer wieder anführen.
({7})
Ich möchte noch kurz die Gelegenheit nutzen, darauf
hinzuweisen, dass auch in Europa zunehmend über Fragen von Religionsfreiheit und Diskriminierung religiöser Minderheiten gestritten wird. Ich nenne nur einige Themen: das Tragen der Burka in Belgien, religiöse
Symbole in bestimmten Schulen in Italien, das Tragen
des Kopftuchs an französischen Schulen, also in einem
laizistischen Staat. Ich nenne bewusst auch das Thema
„Volksabstimmung in der Schweiz über ein Minarettbauverbot“. Ich weiß, das alles spielt sich auf einem anderen
Niveau ab. Aber ich warne davor, zu denken, dass die
Religionsfreiheit in Europa nicht zur Diskussion steht.
Auch wir streiten. Ich möchte nicht wissen, wie eine
Volksabstimmung über den Bau von Minaretten bei uns
in Deutschland, wenn sie zulässig wäre, ausgehen
würde. Ich habe die Befürchtung, dass sie so wie in der
Schweiz ausgehen würde.
Mein Appell zum Schluss: Lassen Sie uns gemeinsam
nicht nur weltweit für die Religionsfreiheit von religiösen Minderheiten eintreten, sondern auch dafür sorgen,
dass wir diese Diskussion in Europa auf einem hohen
Niveau führen. Auch in allen europäischen Staaten muss
allen Minderheiten das natürliche Recht auf Religionsausübungsfreiheit zugebilligt werden. Vielleicht können
einer Debatte wie dieser im nächsten Jahr Vertreter von
Minderheiten, die heute noch in Gefängnissen sitzen,
folgen.
Herzlichen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Lindner für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte anwesende Vertreter unserer christlichen Kirchen! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Koalitionsfraktionen haben dem Hohen Haus
heute Morgen ein Papier vorgelegt, das am Jahresende
vielleicht einen verbindenden Charakter hat. Auch der
Kollege Singhammer und ich haben uns darauf verständigt, dass wir in dieser Debatte die vorweihnachtliche
Ruhe nicht weiter stören wollen. 70 Prozent der Menschen, 70 Prozent der Weltbevölkerung können ihre Religion nicht frei leben, unterliegen Beschränkungen ihrer Religionsfreiheit. Angesichts dieser Tatsache wirkt
manche Diskussion, die wir in der deutschen Innenpolitik führen, übrigens etwas provinziell. Da streiten wir
über Probleme, die sich angesichts der existenziellen
Probleme, die andere Menschen in anderen Kulturkreisen, in anderen Staaten haben, doch bescheiden ausnehmen.
Das Recht, nach dem Sinn des eigenen Lebens zu fragen, nach Quellen der Hoffnung und Quellen der Solidarität im Miteinander zu suchen, gehört zum Menschen.
Der Mensch schaut immer über seinen eigenen Horizont
hinaus und sucht auch das Verbindende zwischen den
Generationen, sucht Transzendenz; es gehört zum Menschen dazu. Wenn also Menschen daran gehindert werden, ihren Glauben zu suchen oder ein Bekenntnis abzulegen, wenn sie daran gehindert werden, ihre Religion zu
leben und auszudrücken, wenn sie beschränkt werden,
eine Religion auszuüben, oder veranlasst werden, eine
Religion anzunehmen, dann ist der Mensch selbst beschränkt, dann ist die Würde des Menschen selbst elementar beschränkt. Deshalb ist es ein Gebot liberaler
Menschenrechtspolitik, hier weltweit Engagement zu
zeigen.
({0})
Vergessen wir indes nicht die Frage der Religionsfreiheit in Europa. Sie ist uns nicht zugefallen, sondern
sie ist eine zivilisatorische Errungenschaft, um die viele
Generationen und Jahrhunderte gekämpft werden
musste. Meilensteine sind beispielsweise - um nur zwei
zu nennen - der Augsburger Religionsfrieden und die
Weimarer Reichsverfassung.
Paradox ist: Je stärker sich der Staat aus der Religionspolitik zurückgezogen hat, desto freier waren die
Menschen, ihre Religion zu prägen. Erst als der Staat mit
dem Augsburger Religionsfrieden selbst nicht mehr getauft war, war es möglich, dass seine Untertanen und
späteren Bürger ihre Konfession selbst frei wählen. Von
zentraler Bedeutung ist, nicht Republik gegen Religion
zu setzen, sondern zu begreifen, dass republikanische
Werte möglicherweise erst die übergreifende Klammer
bilden können, unter der Menschen als freie Individuen
oder als Gemeinden und Gruppen ihren Glauben leben
können.
Von dieser Debatte muss ein Signal nach innen, in die
Innenpolitik Europas - der Kollege hat es angesprochen -,
aber auch in die Welt ausgehen, dass es eben keinen
Konflikt geben darf zwischen Staat und Religion, zwischen republikanischen Werten und religiösen Geboten,
zwischen weltlichem Recht und persönlichen Glaubensüberzeugungen, sondern dass erst der offene Raum der
Republik den Menschen die Möglichkeit eröffnet, ihren
individuellen Glauben zu stiften und zu leben.
({1})
Das ist das Anliegen der Liberalen, einzelner christlicher
Demokraten und vieler anderer mehr.
Wir wollen in diesem Sinne, dass Menschenrechtsund Entwicklungspolitik, dass unsere auswärtigen Beziehungen Menschenrechte schützen, Menschen das
Recht eröffnet, ihre Religion zu leben. Es ist ein Ausweis von Zivilität, ein Ausweis von Reife einer Gesellschaft und einer Staatsordnung, wenn sie Menschen in
diesem Sinne Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet.
Wir dürfen uns nicht allein auf freundliche Appelle
beschränken, sondern müssen sie mit dem offensiven
Werben um diese republikanische Qualität verbinden.
Die Menschenrechtsfrage müssen wir mit den unterschiedlichen Kontakten, die wir in diese Länder haben,
verbinden, um sicherzustellen: Der einzelne Mensch
braucht diese Freiheit, und es ist ein Gewinn für diese
Gesellschaften, wenn sie sich in dieser Weise innerlich
liberalisieren.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Raju
Sharma das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute wieder einmal mit dem weltweiten
Schutz der Religionsfreiheit. Es gibt wohl niemanden
in diesem Raum, der dieses Ansinnen nicht grundsätzlich unterstützen würde. Das gilt ganz besonders für die
Linke. Ich sage „ganz besonders“, weil Religionsfreiheit
für uns nicht nur eine Plattitüde ist. Wir wissen, auch
und gerade wegen unserer Geschichte, um den hohen
Wert der Religionsfreiheit.
({0})
In einer immer enger zusammenwachsenden Welt mit
einer Vielzahl verschiedener Glaubensrichtungen und
Weltanschauungen ist die Gleichbehandlung aller Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben, auch,
aber nicht nur in globaler Hinsicht. Leider kann man von
keinem Land dieser Erde behaupten, dass es Religionsfreiheit in letzter Konsequenz zulässt, auch nicht von
Deutschland. Wirkliche Religionsfreiheit setzt nämlich
voraus, dass keine Religion gegenüber einer anderen privilegiert wird und dass alle Religionen die absolut gleichen Rechte haben.
({1})
Das ist nicht nur in Asien und Afrika oft nicht der Fall.
Auch in weiten Teilen Europas einschließlich Deutschlands - das ist vorhin schon angesprochen worden - ist
die Gleichberechtigung der Religionen noch längst keine
Wirklichkeit. Von großen Teilen der Unionsparteien wird
das auch gar nicht gewollt; auch das haben wir heute
hören können. Anders ist das Gerede von der christlichjüdischen Tradition nicht zu verstehen.
Herr Kauder, Sie waren für Ihre Verhältnisse heute
sehr moderat. Aber sehen wir uns einmal die Situation in
Bayern an: Dort ignoriert die CSU-geführte Staatsregierung hartnäckig Urteile des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts.
Beide sehen die Religionsfreiheit von Schülern durch
Kruzifixe in den Klassenzimmern verletzt. Aber die
Kreuze hängen immer noch.
({2})
- Hören Sie zu; ich werde Ihnen jetzt nämlich sagen, wie
sich das Bundesverfassungsgericht dazu äußert.
Unser höchstes Gericht leitet aus dem Grundgesetz
das Gebot zur Wertneutralität des Staates ab; Religion
und Staat sollen getrennt sein.
({3})
So will es unsere Verfassung, Herr Kauder, und nichts
anderes will die Linke. Mit Religions- oder Kirchenfeindlichkeit hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Das Gegenteil ist der Fall.
Wirkliche Religionsfreiheit kann nur in einer multireligiösen Gesellschaft wie der Bundesrepublik - ich
danke dem Herrn Bundespräsidenten ausdrücklich für
seine klarstellenden Worte -, nur in einem säkularen
Staat gelingen. Genauso sieht es auch der UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Glaubensfreiheit, Heiner
Bielefeldt, auf den auch Herr Strässer eben verwiesen
hat. Auch Bielefeldt ist überzeugt, dass die klare Trennung von Staat und Religion Voraussetzung für gelebte
Religionsfreiheit ist.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie
müssen sich schon entscheiden: Stehen Sie fest auf dem
Boden des Grundgesetzes und treten Sie vorbehaltlos für
wirkliche Religionsfreiheit ein, oder wollen Sie doch lieber eine christliche Staatsreligion?
({4})
So lassen es zumindest Ihr Antrag und die heutigen Ausführungen Ihres Fraktionsvorsitzenden vermuten.
({5})
Ihr Koalitionspartner ist in dieser Frage erfreulich
klar. Wie der Presse zu entnehmen war, lehnt die FDP religiöse Überzeugungen als Leitbild für gesellschaftliche
Integration ab. Im Gegenteil, der Bezug auf ein christlich-jüdisches Abendland könne sogar als - ich zitiere „Ausgrenzungsformel“ verstanden werden. Dem kann
ich nur hinzufügen: Das ist richtig; aber der Konjunktiv
ist überflüssig. Dies ist eine Ausgrenzungsformel und
spiegelt die Haltung großer Teile der Union zu muslimischen Migranten in unserem Land wider.
({6})
Ein konservativer Muslim ist schnell als Verfassungsfeind verdächtig, während fundamentale Christen mit
der größten Nachsicht rechnen können. Wenn Piusbrüder
die Demokratie durch eine Gottesherrschaft ersetzen und
Homosexualität aus dem öffentlichen Leben verbannen
wollen, dann hält die Regierung solche Äußerungen allenfalls für - ich zitiere - „nicht unumstritten“, so nachzulesen in einer Antwort auf die Kleine Anfrage der
Grünen.
({7})
Der Einsatz der Union für im Ausland verfolgte
Christen ist, allen Beteuerungen zum Trotz, wenig
glaubwürdig. Zwar haben in der ersten Debatte zu diesem Thema, die wir im Juli dieses Jahres geführt haben,
gleich drei Redner der Union die verzweifelte Situation
der Christen im indischen Orissa beklagt; als wir aber
nur einen Tag später ein Treffen mit indischen Abgeordneten hatten, traute sich kein einziger Unionsvertreter,
dieses Thema anzusprechen. Stattdessen wurden die guten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren
Ländern gelobt; sie sind auch lobenswert. Ich war damals derjenige, der kritische Nachfragen stellen musste
- das habe ich gern gemacht -, und dann fand eine interessante Diskussion statt. An dieser Diskussion hat die
Union aber nicht teilgenommen. Es waren ja auch keine
Fernsehkameras dabei.
({8})
Für ein solches Verhalten habe ich eine treffende Beschreibung gefunden. Ich zitiere:
All ihre Werke aber tun sie, dass sie von den Leuten
gesehen werden. Sie machen ihre Denkzettel breit
und die Säume an ihren Kleidern groß.
Gemeint sind natürlich die Pharisäer, so geoutet von
Jesus Christus, nachzulesen bei Matthäus, Kapitel 23, in
der Heiligen Schrift - in Ihrer Heiligen Schrift, nicht
meiner.
({9})
Nein, meine Damen und Herren von der Koalition,
wir finden Ihren Antrag unglaubwürdig und werden ihm
daher nicht zustimmen.
Aber auch die SPD wäre noch glaubwürdiger, wenn
sie in ihrem eigenen Laden zumindest eine ernsthafte
Debatte über die Trennung von Staat und Religion zulassen würde. Das tut sie aber nicht. Stattdessen hat
Sigmar Gabriel deutlich gemacht, dass er den Arbeitskreis der SPD-Laizisten nicht anerkennen wird, und
auch die Katholiken Andrea Nahles und Wolfgang
Thierse wollen Laizisten unter dem Dach der SPD lieber
keinen Platz einräumen.
Konsequent ist dagegen der Antrag der Grünen. Hier
ist der Wille zur vorbehaltlosen rechtlichen Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften klar erkennbar weltweit, aber genauso in Deutschland und in Europa.
Ohne diese rechtlich verbindliche Gleichstellung kann es
keine Religionsfreiheit geben. Dann bleibt Religionsfreiheit eine leere Phrase, die vom guten Willen der Mächtigen abhängt.
Ohne Rechte werden religiöse Minderheiten nie denselben Status haben wie die Mehrheitsreligion oder auch
Nichtreligion. Diskriminierung wird dann immer drohen, egal ob es sich um Christen im Irak, Buddhisten in
China oder Bahai im Iran handelt.
Oder auch um Muslime in Deutschland: Wer bezweifelt, dass der Islam eine gleichberechtigte Religion in
unserem Land und in Europa ist, erschwert nicht nur die
Integration der Muslime, sondern der hat auch nicht begriffen, dass Religionsfreiheit ein Recht ist, das jedem
Menschen gleichermaßen zusteht. Er meint immer noch,
dass es Religionen gibt, die richtiger sind als andere. Er
missversteht religiöse Traditionen als Leitkultur, die für
alle verbindlich ist. Das stimmt aber nicht. Traditionen,
egal welchen Ursprungs, verändern sich. Verbindlich ist
nur das Gesetz. Vor dem müssen alle Religionen gleich
sein.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Tom Koenigs für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Religionsfreiheit ist ein unveräußerliches und
unverletzliches Menschenrecht. So steht es in Art. 4 des
Grundgesetzes. Aber nicht nur da. Zum ersten Mal als
Gesetz dokumentiert und in Stein gemeißelt worden ist
die Religionsfreiheit im 6. Jahrhundert vor Christus vom
persischen König Kyros dem Großen. Also ist Religionsfreiheit nicht nur ein westlicher und schon gar nicht
ein originär christlicher Wert.
({0})
Religionsfreiheit ist aber immer ein bedrohtes Menschenrecht gewesen, nicht nur im Nahen und Fernen Osten. Die Hälfte der Deutschen ist heute der Meinung,
dass nicht alle Religionsgemeinschaften dieselben
Rechte haben sollten. 42 Prozent der Deutschen finden,
die Ausübung des islamischen Glaubens müsse stark
eingeschränkt werden. Nur jeder vierte Deutsche befürwortet den Bau von Moscheen; das sind weniger als in
der Schweiz. Das sind die Ergebnisse einer ganz aktuellen repräsentativen Umfrage der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Herr Professor Pollack, der
diese Umfrage im Exzellenzcluster der dortigen Universität begleitet hat, hat uns diese Studie gestern noch einmal vorgetragen.
Breite Teile der deutschen Bevölkerung erkennen die
Religionsfreiheit von mindestens einer religiösen Minderheit, dem Islam, also nicht an. Diese Stimmung in
der Bevölkerung muss ernst genommen werden. Sie
muss auch von uns hier ernst genommen werden.
({1})
Deshalb darf ein Antrag zur Religionsfreiheit, Herr
Kauder, nicht nur auf das außereuropäische Ausland zeigen, sondern muss sich auch mit der gesellschaftlichen
Entwicklung hier bei uns befassen.
({2})
Auch in Deutschland muss die Mehrheit verstehen, dass
Minderheiten das gleiche Recht auf Religionsfreiheit haben.
({3})
Unter dem Deckmantel von Gleichberechtigung und
Emanzipation wird gegenwärtig in vielen europäischen
Ländern - es ist schon gesagt worden -, zum Beispiel in
Frankreich, Holland, Belgien und Spanien, ein Kopftuch- oder Burkaverbot gefordert. Das befreit aber
noch nicht einmal die Frauen, denen der Schleier oder
die Burka aufgezwungen worden ist, es verbannt sie allenfalls aus der Öffentlichkeit. In jedem Fall aber verletzt es die individuelle Religionsfreiheit derjenigen Trägerinnen, die diesen Schleier als Ausdruck ihres
Glaubens tragen wollen. Solche Verbote sind reine Symbolpolitik am weiblichen Körper. Freiheit kennt keine
Kleiderordnung.
({4})
Bekleidungsverbote dürfen nicht mit Normen verwechselt werden, die Zwang und Nötigung zu bestimmten Formen des religiösen Bekenntnisses verbieten.
Dafür gibt es bei uns schon längst § 240 des Strafgesetzbuches, also das Verbot der Nötigung.
Religionsfreiheit ist das Recht, seinen Glauben frei zu
bekennen oder auch zu verbergen. Wer also zum Beispiel seine Tochter zwingt, ein Kopftuch zu tragen, oder
sie zwingt, es nicht zu tragen, obwohl sie es will, der
vergeht sich an diesem Recht. Religionsfreiheit ist ein
Schutzrecht für Religion und vor Religion. Beide Rechte
müssen gekannt und durchgesetzt werden.
({5})
Die Diskussionen über die Religionsfreiheit sind in
Deutschland untrennbar mit der Integrationsdebatte
verbunden, die wir gerade führen. Integration setzt Religionsfreiheit voraus. Die Bundeskanzlerin hat an diesem
Pult gesagt, Multikulti sei gescheitert. Ich weiß nicht,
was sie damit meint, ob sie also zum Beispiel meint, die
plurale Gesellschaft sei gescheitert. Das wäre eine groteske These. Denn das multikulturelle Deutschland ist
eine Realität. Nichts anderes hat der Bundespräsident
gesagt - und er hat recht -: Auch der Islam gehört heute
zu Deutschland.
({6})
Diese Zustandsbeschreibung darf man nicht mit der
Aufgabe der Integration verwechseln. Diese Aufgabe
haben nicht nur die Migranten, sondern auch die Integrations- oder Einwanderungsgesellschaften. Das zu erkennen und anzuerkennen fällt in Deutschland immer noch
vielen schwer. Ein Einwanderungsland wider Willen
sollte sich nicht über widerwillige Einwanderer wundern.
({7})
Deshalb ist es beunruhigend, dass ein antimuslimischer
Affekt heute in vielen Ländern der Europäischen Union
und in Deutschland zur zentralen Ausdrucksform von
Fremdenangst geworden ist.
Das Menschenrecht auf Religions- und Glaubensfreiheit verlangt nicht die religiöse Neutralisierung, sondern
die religiöse Vielfalt und Gleichberechtigung. Wer diese
nicht akzeptiert, wäre selbst im persischen Reich des
Königs Kyros dem Großen vor 2 500 Jahren politisch
und moralisch nicht auf dem Stande der Zeit gewesen.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Johannes
Singhammer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir wollen uns in dieser Debatte für die Rechte
der Menschen in aller Welt einsetzen, die wegen ihrer religiösen Überzeugung verfolgt, eingesperrt, gefoltert
oder gar getötet werden, und wir wollen denen eine
Stimme geben, die verstummt sind, weil sie in Gefängnissen eingesperrt sind, weil ihre Existenz verschwiegen
wird oder weil ihr Schicksal vertuscht werden soll.
Herr Kollege Koenigs, während wir in Bezug auf die
Religionsfreiheit vergleichsweise in einem Paradies leben,
({0})
leben viele Menschen, vor allem Christen - beispielsweise im Irak -, eher in einer Hölle. Fast 70 Prozent der
Menschen auf unserem Planeten in 64 Ländern kennen
Religionsfreiheit nicht oder allenfalls nur sehr eingeschränkt. Deshalb ist es unsere Aufgabe, die Aufgabe
der freien Nationen, mit Diplomatie und mit Nachdruck
für die Religionsfreiheit einzutreten, die wir mittlerweile
als selbstverständlich ansehen.
Religionsfreiheit ist unteilbar und nicht auf bestimmte
Glaubensrichtungen beschränkt. Eine Religionsgemeinschaft leidet weltweit aber besonders unter Verfolgung,
nämlich die Christen. Deshalb wollen wir das hier auch
ganz besonders ansprechen.
({1})
Immer neue Schreckensnachrichten ereilen uns. Am
31. Oktober 2010 sind in der irakischen Hauptstadt
Bagdad 51 Gläubige und 3 Priester zu Tode gekommen.
Islamistische Terroristen hatten sich in der syrisch-katholischen Kirche mit 120 Geiseln verschanzt. Sicherheitskräfte stürmten das Gotteshaus mit schrecklichen
Folgen.
Koptische Christen in Ägypten werden diskriminiert
oder fürchten gar um ihr Leben. In Pakistan schlägt das
Schicksal der Christin Asia Bibi, einer fünffachen Mutter, hohe Wellen. Sie wurde zum Tode verurteilt, weil sie
- in Bedrängnis - ihrem Glauben nicht abschwören
wollte.
Auch befreundete Nationen - das darf man hier ebenfalls ansprechen - sind teilweise nicht in der Lage, Religionsfreiheit zu garantieren. Ich meine die Türkei. Der
vor kurzem fertiggestellte Fortschrittsbericht der EUKommission, der jedes Jahr fortgeschrieben wird, ergibt
für das Jahr 2010 Folgendes: Muslimischer Religionsunterricht ist zwingend; keine Änderung seit den Jahren
2007, 2008 und 2009. Die seit 1971 verbotene Ausbildung von Priestern für die orthodoxe Kirche ist auch im
Jahr 2010 nicht möglich.
Wer aber eine freie theologische Ausbildung von
Priestern nicht zulässt, der trocknet die Zukunft christlichen Lebens aus. Auch mit Blick auf die Diskriminierung beim Bau von Kirchen und Gebetsstätten gibt es
keine Verbesserung seit dem Fortschrittsbericht aus dem
Jahr 2007. Stattdessen beunruhigen uns Meldungen von
Angriffen und Bedrohungen gegen Kleriker und gegen
Gebetsstätten.
Ich selbst habe mit einigen Kollegen und Vertretern
der Kirchen in diesem Jahr christliche Gemeinden in
Anatolien besucht. Nach wie vor herrscht dort Perspektivlosigkeit, sodass wir befürchten müssen, dass ein
Land mit einer fast 2 000-jährigen christlichen Tradition,
eines der Herzländer christlicher Tradition, bald eine
christenfreie Zone wird.
Deshalb mein Appell an die türkische Regierung, die
Regierung eines befreundeten Landes: Sorgen Sie mit
der gleichen Entschlossenheit und Entschiedenheit dafür, dass Kirchen in der Türkei neu gebaut werden können, dass in alten und ehrwürdigen Gebetsstätten wieder
gebetet werden kann, wie Sie - zu Recht - verlangen,
dass auch in Deutschland Moscheen neu gebaut werden
können.
({2})
Für die Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei muss gelten: Bevor weitere Kapitel eröffnet werden, muss eingehend geprüft
werden, ob bei der Gewährung von Religionsfreiheit, die
von allen hier zu Recht angemahnt wird, Fortschritte,
und zwar nachprüfbare Fortschritte, gemacht worden
sind.
Ich danke an dieser Stelle ebenfalls dem Bundesaußenminister, weil er in Gesprächen mit der irakischen
Regierung deutlich gemacht hat, welche Bedeutung die
Bundesrepublik Deutschland dem Schutz religiöser Minderheiten, gerade auch der christlichen Minderheiten
beimisst. Das ist notwendig.
({3})
Es macht uns Sorge, dass gerade in den Ländern, in
denen eine große Präsenz von Streitkräften aus westlichen Ländern vorhanden ist - das betrifft auch Afghanistan, wo unsere Bundeswehrsoldaten Dienst tun -, gleichwohl von einer Realisierung der Religionsfreiheit keine
Rede sein kann. Deshalb muss es unser Anliegen sein,
uns in den Ländern, wo wir selbst entsprechende Möglichkeiten haben, dafür einzusetzen, dass die Religionsfreiheit umgesetzt wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Weihnachten ist ein Fest des Friedens. Die Botschaft, die von
Weihnachten ausgeht, richtet sich an alle Menschen: Der
Friede sei mit euch. Das betrifft aber insbesondere diejenigen, die christlichen Glaubens sind und die unter einer
unfriedlichen Umgebung leiden. Ihnen senden wir die
Botschaft zu: Wir wollen uns für euch einsetzen, damit
der Friede auch zu euch kommt.
({4})
Das Wort hat nun die Kollegin Angelika Graf für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Auch ich bedanke mich bei den auf der Tribüne versammelten Vertretern der christlichen Kirchen, aber auch bei
den Vertretern anderer Religionsgemeinschaften, die
heute hier bei uns sind und dieser Debatte folgen, für Ihr
Kommen. Sie belegen eindrucksvoll die Vielfalt der Religiosität in Deutschland und darüber hinaus und die
Wichtigkeit der Debatte, die wir heute führen.
Ein Schwerpunkt der Koalition bei dieser Debatte
liegt auf dem Thema Christenverfolgung. Wikipedia
definiert diesen Begriff als „die systematische gesellschaftliche und/oder staatliche Benachteiligung und
existenzielle Bedrohung von Christen aufgrund ihres
Glaubens“. Der Antrag der Koalition beschreibt ebenso
wie unser Antrag die schwierige Situation vieler gläubiger Christen in vielen Teilen der Welt. Die Verfolgung
von Menschen aufgrund ihres Glaubens beschäftigt uns
im Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages, seit es diesen Ausschuss gibt; denn das Recht, die
eigene religiöse Überzeugung ohne Behinderung oder
Verfolgung ausüben zu können, ist eines der wichtigsten
Menschenrechte, wobei es fast unnötig ist, hinzuzufügen, dass die Definition von Wikipedia selbstverständlich nicht nur für die Christen, sondern auch für alle anderen Religionen auf dieser Welt gilt.
({0})
Verfolgung wegen der Religion ist ein weltweites
Phänomen; dies wurde schon dargestellt. Christen werden im Iran, in Indien, China und vielen anderen Teilen
der Welt verfolgt, Muslime ebenfalls in Indien, China
und anderen Regionen. Die Bahai, auf deren Situation
mein Kollege Strässer schon sehr ausführlich eingegangen ist, gehören zu den am stärksten verfolgten Religionen in dieser Welt. Die Jesiden haben ebenfalls ein
schwieriges Leben im Iran. In Afghanistan haben Christen und Hindus mit vielen Einschränkungen und massiver Verfolgung zu rechnen. Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen.
Ich unterstreiche ausdrücklich, dass sich die Türkei
auf dem Weg nach Europa verändern muss, was die Anerkennung auch des christlichen Glaubens, der Ausbildung von Christen in der Türkei, den Bestand der Klöster in Tur Abdin und dergleichen anbetrifft. Dies ist
unglaublich wichtig.
Weil sich die Situation vieler Menschen unterschiedlicher Religionen so gleicht, denken wir, dass der Antrag
der Koalition mit seinem Hauptfokus auf der Christenverfolgung und der mangelnden Religionsfreiheit außerhalb Europas zu kurz greift, wobei ich herzlich darum
bitte, nicht inflationär mit dem Topos „Verfolgung“ umzugehen. So hat zum Beispiel die kürzlich erfolgte Reise
des Menschenrechtsausschusses nach Ägypten ergeben,
dass sich die koptischen Christen dort zwar in manchen
Bereichen stark diskriminiert, aber nicht systematisch
verfolgt fühlen. Das hat uns deren Sprecher, Kardinal
Naguib, ausdrücklich versichert. Verstehen Sie mich
recht: Ich kämpfe gegen jede Form der Diskriminierung;
ich möchte nur nicht, dass wir den Begriff „Verfolgung“
entwerten, indem wir ihn mit Diskriminierung gleichsetzen.
({1})
Ich komme nun zur Situation der Christen im Irak;
Herr Kauder, Sie sind darauf eingegangen. Der Besuch
mit Außenminister Westerwelle Anfang Dezember in
Bagdad, an dem die Kollegin Granold und ich teilgenommen haben, hat deutlich gemacht, dass manche
Maßnahme, zum Beispiel die gezielte Aufnahme von
Christen in Deutschland und in Europa, von den christlichen Repräsentanten vor Ort eher skeptisch gesehen
wird. Einhellig haben uns alle hohen Würdenträger der
unterschiedlichen christlichen Kirche im Irak gebeten,
auf derartige Programme und Aktionen nur für Christen
künftig zu verzichten, und betont, es sei wichtiger, auf
die Regierung im Irak einzuwirken, dass die Menschen
dort bleiben können. Dies ist bei dieser Reise auch geschehen. Ich freue mich sehr über die Zusage der irakischen Regierung, die Christen künftig besser zu schützen.
({2})
In unserem Antrag halten wir fest: Religionsfreiheit
ist ein universell geltendes individuelles Menschenrecht,
das neben dem Freiheitsrecht auch ein Gleichheitsrecht
aller Menschen ist, das sich aus der gleichen Würde aller
Menschen ableitet. Nutznießer sind nicht Religionen - das
ist schon gesagt worden -, sondern die Menschen, unabhängig von ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeugung. Wir dürfen deshalb nicht vergessen, uns mit
der Situation im eigenen Land und der Situation in der
Europäischen Union auseinanderzusetzen.
({3})
Weihnachten ist - Herr Singhammer hat das angesprochen - ein Fest des Friedens. Ich mache mir zum
Beispiel Sorgen um die Zukunft unserer vielfältigen Gesellschaft, wenn in einem Weihnachtspfarrbrief einer
katholischen Kirchengemeinde in meinem Wahlkreis vor
dem Islam, der uns „die vielen Einwanderer gebracht
hat“, als einer „Religion der Macht“ gewarnt wird, wenn
dort auf muslimische Eroberungswellen hingewiesen
wird und die Kreuzzüge bemüht werden. Das kann man
so nicht stehen lassen. Da hilft es auch nicht, wenn der
Pfarrer dann ein „gesegnetes, liebereiches neues Jahr“
wünscht.
({4})
Dazu passt, dass - Herr Koenigs hat das schon angesprochen - in einer brandneuen wissenschaftlichen Studie der Universität Münster zur religiösen Vielfalt in
Angelika Graf ({5})
der Gesellschaft der Verfasser, Herr Professor Dr. Detlef
Pollack, berichtet, dass nur 34 Prozent der Menschen im
Westen Deutschlands und nur 26 Prozent der Bürger im
Osten positiv über Muslime denken. In den Niederlanden, Frankreich und Dänemark sind diese Zahlen fast
doppelt so hoch, obwohl wir misstrauisch beobachten,
welche politischen Strömungen sich dort entwickeln.
Der Aussage, religiöse Vielfalt sei bereichernd, stimmt
nur die Hälfte der bundesdeutschen Befragten zu. Das ist
ebenso erschreckend wie ein Minarettverbot in der
Schweiz. Es sind Hinweise darauf, dass auch wir uns
hier in Deutschland mit dem Thema Religions- und
Glaubensfreiheit noch intensiver befassen müssen, übrigens unter Einbeziehung der hier lebenden Muslime und
religiöser Minderheiten.
({6})
Wichtig ist hierbei für mich, dass der Glaube Privatsache ist und keinesfalls über dem Recht steht und dass
man den Glauben und den Nichtglauben des anderen vor
diesem Hintergrund akzeptiert und achtet. Dazu gehört
auch, dass jeder erst einmal vor seiner eigenen Tür kehrt
- ich verweise auf den eben erwähnten Pfarrbrief -, dass
man den Balken im eigenen Auge sucht, bevor man sich
mit dem Splitter im Auge des anderen befasst.
({7})
Wenn wir das beherzigen und die politischen Weichen
in diese Richtung stellen, dann sind wir auf einem guten
Weg. Dazu leisten wir mit unserem Antrag einen guten
Beitrag. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie unserem Antrag zu!
({8})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Pascal
Kober.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das weltweite entschiedene Eintreten für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist Kennzeichen der wertegebundenen und wertegeleiteten Außenpolitik unseres
Landes und dieser Regierung. Als christlich-liberale
Koalition haben wir uns in unserem Koalitionsvertrag
verpflichtet, dem Menschenrecht auf Religionsfreiheit in
dieser Legislaturperiode ein besonderes Augenmerk zu
widmen, und das nicht ohne Grund.
Meine Vorredner haben die Zahlen schon genannt.
Fast 70 Prozent der Weltbevölkerung leben in Ländern,
in denen das Menschenrecht auf Religionsfreiheit eingeschränkt ist oder überhaupt nicht anerkannt wird. In
manchen Gegenden Indiens werden Christen und Muslime unterdrückt und Opfer von gewalttätigen Ausschreitungen. In der Türkei wird der Bau von Kirchen
behindert. Auch die Glaubens- und Religionsfreiheit der
Tibeter ist stark eingeschränkt. Im Iran sind gegenwärtig
sieben Führer der Bahai dem Vernehmen nach allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit inhaftiert.
Das sind freilich nur wenige Beispiele, die das riesige
Ausmaß des weltweiten Problems nur unzureichend erkennen lassen. Viele Staaten - jeder einzelne ist einer zu
viel - hindern mit Verboten und legalen und halblegalen
Repressionen durch die Staatsgewalt ihre Bürgerinnen
und Bürger an der freien Religionsausübung. Viele Staaten - ich wiederhole: jeder einzelne ist einer zu viel lassen ihre Bürgerinnen und Bürger frei oder nahezu frei
gewähren, wenn diese ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger an der freien Ausübung ihrer Religion hindern oder
ihnen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit Gewalt antun. Beides sind letztlich staatliche Formen der Unterdrückung des Menschenrechts auf Religionsfreiheit, gegen die wir uns mit unserer Menschenrechtspolitik
entschieden wenden.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was die Religionsfreiheit, für die wir weltweit im Rahmen unserer kohärenten und wertegeleiteten Außenpolitik eintreten,
({1})
aber nicht meint und was die Toleranz unter den Religionen und Weltanschauungen, die wir einfordern, nicht
meint, ist eine relativistische Toleranz oder Religionsfreiheit, die der Frage nach der Gültigkeit von Werten
und die, wenn man so will, der Wahrheitsfrage ausweicht. Denn wem alles gleich gültig ist, dem ist am
Ende auch alles gleichgültig. Das aber ist das genaue
Gegenteil einer wertegebundenen und wertegeleiteten
Außenpolitik und das genaue Gegenteil der Idee universell gültiger und unveräußerlicher Menschenrechte.
({2})
Das Konzept der Religionsfreiheit, für das wir als
christlich-liberale Koalition weltweit eintreten, ist das
Konzept einer Toleranz, die nicht alles für richtig hält
und auch nicht jedem recht gibt. Wer beispielsweise unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit anderen andere Grundrechte vorenthalten möchte, hat mit unserem
entschiedenen Widerspruch zu rechnen. Religionsfreiheit gibt es für uns nur innerhalb des Rahmens der für
alle gültigen und universellen und unteilbaren Menschenrechte.
Was wir mit unserer wertegeleiteten Außenpolitik von
allen Religionen und Weltanschauungen einfordern, ist
gegenseitige Toleranz, aber keine Toleranz, die dem Dialog um Wertefragen ausweicht, sondern eine Toleranz,
die den Dialog um die Wahrheit und Gültigkeit von Werten, die den Dialog um die Weise eines friedlichen
Zusammenlebens aller sucht, und zwar innerhalb der
Friedensordnung, und die jedem die unveräußerlichen
Menschenrechte gewährt.
Vielen Dank.
({3})
Die Kollegin Annette Groth ist nun die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren auf der Tribüne! Wir haben das schon von verschiedenen Rednerinnen und Rednern gehört: Die Religionsfreiheit ist ein Menschenrecht,
und wir sind alle aufgerufen, dieses durchzusetzen - auch
bei uns.
({0})
Da gibt es viel zu tun. Denn in der letzten Zeit häufen
sich die Anschläge auf Moscheen in Deutschland; letzte
Woche gab es zwei in Berlin. Die Stimmung gegen den
Islam wird angeheizt; etliche Rednerinnen und Redner
haben schon darauf hingewiesen.
Aber die Politik muss sich gegenüber Religionen und
Weltanschauungen neutral verhalten. Ihr Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, fokussiert sich aber einseitig auf den Schutz
christlicher Minderheiten. Gerade in einem interkulturellen Land wie Deutschland mit verschiedenen Religionen
und Weltanschauungen und einer großen Zahl von Atheistinnen und Atheisten ist das aber ausgesprochen problematisch.
({1})
Das sage ich ganz bewusst als evangelische Christin
mit zwanzigjähriger Erfahrung in kirchlichen Einrichtungen. Wie Heiner Bielefeldt - er wurde heute schon
öfter zitiert - bei der Anhörung zur Religionsfreiheit
treffend gesagt hat: Eine europäische Identität, die sich
in Abgrenzung zum Islam versteht, läuft auf Marginalisierung und Diskriminierung von Teilen der europäischen Bevölkerung hinaus. - Das geht nicht.
({2})
4 Millionen Menschen muslimischen Glaubens leben
bei uns in Deutschland. Es ist unsere Aufgabe, die Beteiligungsrechte der Muslime entsprechend unserem hohen verfassungsrechtlichen Anspruch besser auszugestalten. Diesbezüglich gibt es großen Handlungsbedarf,
etwa im Religionsunterricht an Schulen und bei den öffentlich-rechtlichen Medien.
Wir müssen viel stärker den interkonfessionellen und
interkulturellen Dialog suchen, wie er weltweit in ökumenischen Begegnungen, in vielen Moscheen und Kirchen praktiziert wird. Es widerspricht dem Gedanken
der Toleranz, Muslime in Deutschland für die Diskriminierungen von Christinnen und Christen im Nahen Osten
in Geiselhaft zu nehmen.
In der Schweiz warben Plakate für das Minarettverbot, indem sie Minarette als drohend aufragende Raketen darstellten und so den Generalverdacht gegen alle
Muslime bebilderten. Die Religionsfreiheit wird so quasi
präventiv kassiert. Dagegen sollten wir alle laut protestieren.
({3})
Mit den gleichen Argumenten wie für das Minarettverbot lassen sich alle Formen islamischer Präsenz im
öffentlichen Raum verbieten. Mit dem Minarettverbot
werden die Grundrechte einer Minderheit zur Disposition gestellt. Das darf nicht sein.
({4})
Etliche Vorrednerinnen und Vorredner haben gesagt:
Die Angst vor dem Islam muss man ernst nehmen. - Das
stimmt. Diese Ängste werden in der Bevölkerung aber
zum Teil gezielt geschürt.
({5})
Wir sollten alles dafür tun, diese Ängste abzubauen, indem wir soziale und kulturelle Konflikte konkret ansprechen; denn durch Diskriminierungen und Verbote werden sie nicht gelöst.
Aufgabe einer verantwortungsbewussten Politik ist
auch, die Ängste der muslimischen Bevölkerung zu
thematisieren. Wenn eine Schweizer Partei auf ihre offizielle Internetseite ein Onlinespiel stellt, bei dem man
Imame abschießen kann, wird deutlich, dass es nicht nur
im Islam ein Problem mit Hasspredigern gibt. Diese kulturelle Ideologisierung als westliche Spielart des Fundamentalismus ist zu einer politischen Herausforderung in
Europa geworden, wie das Erstarken rechtspopulistischer Parteien europaweit zeigt.
In vielen Ländern des Nahen Ostens haben wir es mit
autoritären Regimes zu tun, die die Religion zur Rechtfertigung von Unterdrückung missbrauchen. Betroffen
von Diskriminierung sind auch, aber nicht nur christliche Minderheiten. Im Iran zum Beispiel wurden auch islamische Gelehrte umgebracht, die sich den Dogmen der
Herrschenden widersetzt haben oder sie nur kritisch infrage stellten. Im Irak - das wurde auch schon angesprochen - sind religiöse Gruppen, aber auch zum Beispiel
Homosexuelle, die keine Schutzmacht hinter sich haben,
Verfolgung und Angriffen ausgesetzt.
Problematisch ist daher, wenn wir in Deutschland die
bevorzugte Aufnahme von christlichen Flüchtlingen aus
dem Irak fordern. Über ein Asylgesuch von politisch
Verfolgten muss aufgrund der individuellen Notlage und
Schutzbedürftigkeit und darf nicht qua Religionszugehörigkeit entschieden werden.
({6})
Frau Graf hat schon darauf hingewiesen: In Ägypten
werden Kopten diskriminiert. Systematisch werden aber
die Bahai verfolgt. Der Staat spielt die verschiedenen religiösen und sozialen Gruppen gegeneinander aus. Die
zunehmende Beschneidung wesentlicher Freiheits- und
Bürgerrechte in Ägypten ist alarmierend. Wir haben es
gesehen. Die letzten Parlamentswahlen haben das eindrücklich gezeigt.
Auch von Bündnispartnern wie Ägypten und SaudiArabien müssen wir den Schutz der Menschenrechte und
der Religionsfreiheit einfordern. Angesichts ihrer Rolle
im „Kampf gegen den Terrorismus“ hält sich die deutsche Außenpolitik hier aber zurück.
Achten Sie bitte auf die Redezeit, Frau Kollegin.
Letzter Satz. - Doppelstandards bei der Durchsetzung
der Menschenrechte und der Religionsfreiheit lehnt die
Linke entschieden ab.
Danke schön.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalition, SPD und Grüne haben Anträge zu dieser Debatte
vorgelegt. Wir werden dem Antrag der Koalition zustimmen,
({0})
weil er viel Wahres enthält, aber wir haben einen Änderungsantrag gestellt - darin werden mehrere Änderungen
vorgeschlagen -, weil er eben nur die halbe Wahrheit
enthält.
Das Problem bei Ihrem Ansatz, meine Damen und
Herren von der Koalition, ist die Fokussierung auf die
verfolgten Christen.
({1})
Bei dem Grundanliegen sind wir an Ihrer Seite; wir wollen aber stärker deutlich machen, dass es um die Verfolgung aller Glaubensrichtungen geht. Überall da, wo
Menschen wegen ihrer Glaubensüberzeugung, ihres
Glaubenswechsels oder ihrer Missionstätigkeit verfolgt
werden, müssen wir aufstehen und die Freiheit dieser
Menschen verteidigen - ohne Ansehen des Bekenntnisses.
({2})
Ich glaube, wir leisten den verfolgten Christen in aller
Welt eigentlich einen Bärendienst, wenn wir den Eindruck erwecken, als ob wir uns als Christen nur um unsere Glaubensbrüder und Glaubensschwestern kümmerten. Es muss um das Prinzip der Religionsfreiheit gehen.
Darum geht es ja auch bei dem Streit mit dem islamischen Kulturkreis und dem dort vorherrschenden Menschenrechtsverständnis. In vielen Ländern herrscht
grundsätzlich durchaus Respekt vor christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften. Aber wenn sie Muslime missionieren wollen und versuchen, diese von ihrem Glauben überzeugen, dann ist das oft von
Repressionen begleitet, bis hin zur Todesstrafe für zum
Christentum konvertierte ehemalige Muslime.
Da liegt das Problem. Wir müssen deutlich machen,
dass es nicht nur darum gehen kann, den bestehenden
Glauben zu respektieren; vielmehr gehört zur Glaubensüberzeugung auch, dass man für seinen Glauben wirbt,
wenn man von ihm überzeugt ist, und versucht, Menschen dafür zu gewinnen.
({3})
Diese Freiheit müssen wir verteidigen. Wir können sie
aber glaubwürdig nur verteidigen, wenn wir das in Bezug auf jede Glaubensüberzeugung tun und nicht nur aus
der christlichen Missionsperspektive.
({4})
Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen, der in
Ihrem Antrag völlig fehlt. Zur Glaubensfreiheit gehören drei wesentliche Elemente: die individuelle Glaubensfreiheit - die Freiheit, seiner Überzeugung gemäß
leben zu können -, die kollektive Glaubensfreiheit - die
Freiheit, seine Religion als Glaubensgemeinschaft gemeinsam ausüben und öffentlich leben zu können -, aber
auch die negative Glaubensfreiheit - nicht glauben zu
müssen, was die Mehrheit in einem Land glaubt. Da hapert es in Ihrem Antrag.
Das ist ganz entscheidend mit Blick auf die Verfolgung von Christen in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften; denn dort geht es genau darum, dass diese
Christen nicht dem Islam gemäß leben müssen, nur weil
sie in einer mehrheitlich islamischen Gesellschaft leben.
Wenn wir diese negative Glaubensfreiheit schon in unserer Debatte unterbelichten, müssen wir uns nicht wundern, wenn sie auch in anderen Ländern unterbetont
wird.
({5})
Meine Damen und Herren, ich will auf die Türkei zu
sprechen kommen. Wir führen ja Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei. Die Türkei respektiert nach dem Lausanner Vertrag nur zwei christliche Glaubensgemeinschaften, nämlich die griechisch-orthodoxe und die
armenisch-apostolische Kirche, und die jüdische Glaubensgemeinschaft. Die Protestanten und Katholiken
werden dort offiziell nicht anerkannt. Die Ausbildung
von Pfarrern ist nicht möglich. Die Einreise von Pfarrern
aus dem Ausland wird erschwert, auch von Pfarrern der
Volker Beck ({6})
orthodoxen Kirche. Das dürfen wir der Türkei als einem
befreundeten Land nicht durchgehen lassen.
({7})
Wir müssen deutlich machen: Wir fordern gleiche
Rechte für die Christen in der Türkei.
Aber wir fordern selbstverständlich auch gleiche
Rechte für die Aleviten; sie sind keine Christen. Sie bilden die größte religiöse Gruppe neben dem sunnitischen
Islam in der Türkei.
({8})
Wir verlangen von der Türkei auch, dass die Cem-Häuser mit den Moscheen gleichgestellt werden und die
Zwangsassimilierung an den sunnitischen Islam von alevitischen Kindern in der Schule aufhört, wie das auch
der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte von
Ankara gefordert hat.
({9})
In vielen muslimischen Ländern, zum Beispiel im
Iran oder auch in Ägypten, sehen wir, dass die Hauptlast
der Verfolgung nicht die christlichen Religionen und
Kirchengemeinschaften trifft, sondern die Bahai; denn
aus Sicht des Islam darf nach Mohammed kein neuer
Prophet, kein Glaubensgründer auftreten. Mit den klassischen Buchreligionen, dem Judentum und dem Christentum, kommt der Islam schon im Koran zurecht, weil sie
als Vorläufer des Islam gelten. Aber die Bahai, die mit
Bab und Bahaullah einen Glaubensgründer aus dem
19. Jahrhundert haben, werden massiv verfolgt. Wir waren auf Anregung der CDU/CSU-Fraktion - Frau
Granold sitzt da - in Ägypten und haben uns auf die Suche nach den verfolgten koptischen Christen gemacht.
Was wir gefunden haben, waren in der Tat diskriminierte
koptische Christen, aber auch massiv verfolgte Bahai,
Oppositionelle, Blogger und Journalisten. Wir dürfen
nicht immer nur bei den Christen laut aufschreien und
bei den anderen wegschauen.
({10})
Ein Bahai in Ägypten hat keinen zivilen Status. Er kann
keine Urkunden vorweisen und hat kein Bankkonto, er
kann keine Verträge abschließen, seine Kinder nicht zur
Schule schicken und keine Sozialversicherung abschließen. Das ist eine Vernichtung der sozialen individuellen
Existenz aus Glaubensgründen, und dagegen müssen wir
massiv aufstehen.
({11})
In Ihrem Antrag steht etwas zu Ägypten, aber nur zu
den koptischen Christen.
({12})
Ich werbe wirklich darum, dass wir hier den Fokus
neu ausrichten, dass wir die Verfolgung der Christen in
aller Welt im Rahmen der religiösen Verfolgung insgesamt thematisieren. Dann sind wir glaubwürdig. Und
wenn wir glaubwürdig sind, können wir mehr für die
verfolgten Glaubensbrüder und -schwestern erreichen,
als wenn wir uns, innenpolitisch motiviert, allein auf die
Christenverfolgung kaprizieren.
({13})
Das Wort hat nun die Kollegin Erika Steinbach für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Verehrte und liebe Gäste auf der Tribüne aus vielen Ländern, in denen Menschen religiös verfolgt werden! Herr Kollege Beck, es wäre gut, wenn Sie ihre
Scheuklappen ablegen und unseren Antrag richtig durchlesen würden.
Wir sind für die vollständige Religionsfreiheit.
({0})
Das kann uns aber nicht an der klaren Erkenntnis hindern, dass Christen die weltweit am intensivsten verfolgte religiöse Gemeinschaft sind.
({1})
Meine Vorredner haben sich überwiegend mit der Religionsfreiheit in Deutschland beschäftigt, die hier Not
leide. Dazu sage ich deutlich: In Deutschland gibt es Religionsfreiheit. Jeder kann hier seinen Glauben frei leben. Der Staat schützt die Religionsfreiheit. Wenn es
Übergriffe in der einen oder anderen Form gibt, dann ist
das strafbar. Die Menschen werden bestraft, wenn sie einem anderen etwas zuleide tun. Das ist bei uns nicht gestattet.
({2})
Wer sich beim Thema Religionsfreiheit primär mit
unseren deutschen Verhältnissen beschäftigt, der will bewusst ausblenden, was sich um uns herum weltweit tut.
({3})
In genau einer Woche feiern wir den Heiligen Abend.
Viele Hundert Millionen Christen in aller Welt wollen
ihn auch feiern. Aber wir müssen eines erkennen: Nicht
alle Christen haben die Möglichkeit, das Weihnachtsfest
in Ruhe und auch in Frieden zu begehen. „Weihnachten
ist die Botschaft von Hoffnung und Frieden. Beides haben wir verloren“, sagte der irakische Christ Abdullah
al-Naufali aus Bagdad. Er hat diese Befürchtung nicht
ohne Grund, wie er sagte: „Die meisten Gläubigen bei
uns im Irak werden sich nicht in die Weihnachtsmetten
wagen.“
Über 100 Millionen Christen weltweit sind wegen ihres Glaubens von Misshandlung, Tod, Gefängnis oder
massiver Diskriminierung bedroht. Wenn man sagt: „In
Ägypten gibt es ja nur Diskriminierung von Christen“,
dann halte ich das für ein Kleinreden von Problemen.
Wenn wir Menschen in Deutschland so diskriminieren
würden, möchte ich den einen oder anderen meiner Vorredner dazu hören. Dann wäre einiges los im Lande.
({4})
Keine andere Religionsgemeinschaft wird intensiver
verfolgt. Das zeigen die dramatischen Vorfälle in den
letzten Monaten und Jahren, die wir im Menschenrechtsausschuss behandelt haben.
Ich spreche keiner Kollegin und keinem Kollegen der
anderen Fraktionen ab, dass es auch ihnen am Herzen
liegt, diese Dinge nicht einfach hinzunehmen. Wir haben
den Tod der 50 irakischen Christen in Erinnerung. Sie
waren Geiseln islamischer Fundamentalisten in einer syrisch-orthodoxen Kirche. Ein irakischer Bischof sagte
heute beim Frühstück: „Wer nicht weiß, was die Hölle
ist, der soll zu uns in den Irak kommen. Bei uns ist die
Hölle.“ Der Bischof ist anwesend; er sitzt auf der Tribüne.
Das müssen wir registrieren. Aus unserer Warte, aus
einem sicheren Hort kann man manches beiseite wischen
und darüber hinwegsehen.
({5})
Die Zahl der im Irak lebenden Christen betrug vor
20 Jahren noch 1,4 Millionen. Im Jahr 2003 waren es
noch 800 000. Heute sind es weniger als 200 000 Menschen christlichen Glaubens, die es noch wagen, im Irak
zu leben.
Im indischen Bundesstaat Orissa wurden zwischen
2007 und 2009 rund 50 000 Christen vertrieben oder ermordet. Auch in der jüngsten Zeit gab es wiederholt
Übergriffe gegenüber Christen.
Auch nach Pakistan schauen wir mit Besorgnis. Die
Christin Asia Bibi - der Kollege Singhammer hat schon
darauf hingewiesen - soll wegen Blasphemie gehängt
werden, weil sie Mohammed mit Jesus verglichen hat.
Noch steht die Vollstreckung zwar aus; aber die pakistanische Regierung steht durch islamische Kräfte unter
enormem Druck, dieses Urteil tatsächlich zu vollstrecken.
Auch in Eritrea - dieses Land wurde bereits genannt beobachten wir eine Verschärfung der Situation für die
Christen. Es gibt Informationen darüber, dass rund
2 200 Christen aufgrund ihres Glaubens inzwischen landesweit unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen
ohne offizielle Anklage oder ohne Gerichtsverfahren
eingesperrt worden sind.
Das Ausmaß von Diskriminierung, von Unterdrückung und Bedrohung nimmt insbesondere - das können
wir alle erkennen, machen wir uns doch nichts vor - in
muslimischen Ländern seit Jahren beständig zu.
Selbst in der Türkei, die ihren Blick bekanntermaßen
nach Europa gerichtet hat - ein Land, dem wir freundschaftlich verbunden sind -, leben Christen nicht ungefährdet. Der Bau von Kirchen ist nahezu unmöglich.
Christliche Geistliche schweben in Lebensgefahr, wenn
sie durch ihre Kleidung als solche erkennbar sind. Predigten dürfen nur an bestimmten Tagen abgehalten werden. Selbst in den türkischen Städten, die angeblich die
westliche Lebensart verkörpern, wie beispielsweise
Istanbul oder Ankara, ist die Situation nicht unbekümmert, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Denn auch
in diesen Städten wird einem als Christin geraten, kein
Kreuz am Hals zu tragen, weil das sonst für Leib und Leben gefährlich sein könnte. Wer glaubt, Ankara sei wie
Paris, wie es irgendjemand einmal sagte, der täuscht
sich, und der täuscht andere. Während vor 60 Jahren der
Anteil der Christen in der Türkei noch etwa 20 Prozent
betrug, so sind es heute nur noch 0,15 Prozent.
Neben der prekären Situation der Christen - das ist
uns bewusst, so steht es auch in unserem Antrag - gibt es
zahlreiche weitere religiöse Gemeinschaften, die ebenfalls verfolgt werden. Das gilt besonders für die Situation der Bahai im Iran. Ich freue mich, dass Professor
Hofmann, der Sprecher der Bahai-Gemeinde in Deutschland, heute unter unseren Gästen ist. Herzlich willkommen! - Die Bahai sind im Iran einem unglaublichen Verfolgungsdruck ausgesetzt, ebenso ist es in Ägypten.
Wenn wir uns umschauen, sehen wir: Religionsfreiheit ist weltweit für Christen und viele andere Religionen nicht vorhanden, obwohl sie ein elementares Menschenrecht ist, obwohl sich eine Vielzahl von Staaten zu
ihr bekannt haben. Seit Jahren stellen wir besorgt fest,
dass Religionsfreiheit zwar auf dem Papier existiert, im
praktischen Leben aber keinerlei Gültigkeit hat. In vielen muslimischen Ländern wird sie zugesichert, aber nur
im Rahmen der Scharia. Religionsfreiheit im Rahmen
der Scharia ist ein K.-o.-Kriterium; das ist keine Religionsfreiheit.
In mindestens 64 Ländern der Erde, in denen fast
70 Prozent der Weltbevölkerung leben, ist die Religionsfreiheit tatsächlich eingeschränkt. Ich glaube, wir brauchen nicht nur bei uns in Deutschland, sondern weltweit
ein friedliches Miteinander der Religionen. Für mich ist
das schönste Beispiel hierfür Lessings Ringparabel aus
Nathan dem Weisen, die auf eine wunderbare Art und
Weise die Gleichwertigkeit und den Respekt der Religionen voreinander beschreibt.
Die heutige Debatte im Deutschen Bundestag kurz
vor der Weihnachtszeit ist auch ein Zeichen der SolidariErika Steinbach
tät mit den Menschen, die wegen ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt und unterdrückt werden und um ihr Leben bangen. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion
stehen an der Seite aller Menschen, die um ihres Glaubens willen verfolgt werden. Wir sehen aber in dieser
Adventszeit mit Sorge die Situation der Christen, die
dieses Fest der Liebe begehen möchten. Ich grüße von
hier aus alle Christen, die auf ein friedvolles Weihnachtsfest hoffen, von ganzem Herzen. Ich wünsche ihnen und allen Menschen ein friedvolles Weihnachtsfest.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dietmar Nietan für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Religion ist keineswegs Privatsache; aber für jeden gläubigen Menschen ist sein Glaube etwas ganz Persönliches, etwas, das sein Sein in der Welt zutiefst prägt, ein
konstitutives Element seiner Persönlichkeit. Deshalb ist
Religionsfreiheit für mich nicht irgendein Menschenrecht; Religionsfreiheit ist in jeder Hinsicht ein grundlegendes Menschenrecht.
Religionsfreiheit ist wie alle Menschenrechte ein
universelles Menschenrecht. Wer Menschenrechtsverletzungen im Bereich der Religionsfreiheit nach Glaubensrichtung, Anzahl der Betroffenen, handelnden Staaten
oder politischen Systemen unterschiedlich wertet, ist aus
meiner Sicht auf dem besten Weg, die Axt an den universellen Charakter dieses Menschenrechts anzulegen.
({0})
Wer ein besonderes Augenmerk auf Menschenrechtsverletzungen gegenüber Angehörigen einer bestimmten Religion legt, schwächt sein eigenes Anliegen, obwohl es
ein sehr ehrenwertes Anliegen ist. Jeder Mensch, dessen
Würde mit Füßen getreten wird, muss uns gleich wichtig
sein. Er hat unsere Solidarität genauso verdient, wenn er
wegen eines Glaubens verfolgt wird, den wir möglicherweise ganz und gar nicht teilen.
Warum betone ich diese Art von Solidarität? Ich betone das, weil ich glaube, dass wir nur mit dieser Art von
Solidarität gerade auch mit Andersdenkenden all denjenigen in der Welt entgegentreten können, die unseren
Einsatz für die Durchsetzung der Menschenrechte gerne
als Herrschaftsinstrument des Westens diskreditieren
wollen, um sich so aus der Verantwortung zu stehlen.
({1})
Als Christ fühle ich mich meinen verfolgten Mitschwestern und Mitbrüdern in besonderer Weise verbunden. Trotzdem halte ich es für falsch, ein besonderes Augenmerk auf die Lage der christlichen Minderheiten zu
legen, wie es der Koalitionsantrag tut. Damit Sie mich
nicht falsch verstehen: Ich habe die Einbringung dieses
Antrages ausdrücklich für gut geheißen, weil ich es
wichtig finde, dass wir hier über dieses Thema diskutieren. Ich unterstütze ausdrücklich den Ansatz der Bundesregierung, sich intensiv für die Menschenrechte und
damit auch für die Religionsfreiheit einzusetzen.
({2})
Ich finde aber, dass wir gerade auch den verfolgten
Christinnen und Christen am besten helfen, wenn wir jeder Menschenrechtsverletzung gegenüber jeder religiösen Minderheit die gleiche Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen.
({3})
Das macht uns nämlich am Ende glaubwürdiger. Für
mich ist Glaubwürdigkeit eine der wichtigsten Waffen
im Kampf für die Menschenrechte.
Zur Glaubwürdigkeit gehört für mich allerdings auch,
dass wir den deutlichen Gefährdungen der Religionsfreiheit im eigenen Land klare Worte entgegenstellen.
Damit ich auch da richtig verstanden werde: Natürlich
weiß ich, dass wir hier über Gefährdungen der Religionsfreiheit reden, nicht von massiven Verfolgungen
oder Diskriminierungen, wie sie in anderen Ländern auftreten. Ich glaube aber, niemand von uns will hier ernsthaft behaupten, dass wir im Bundestag erst dann darüber
reden sollten, wenn es mit der Religionsfeindlichkeit in
Deutschland so weit gekommen ist, dass Straftatbestände auftreten. Vielmehr müssen wir jetzt darüber reden.
({4})
Ich will es diplomatisch formulieren: Der Antrag der
Koalitionsfraktionen wäre noch besser gewesen, wenn
es dort klare Worte zur wachsenden Islamophobie in unserem Land gegeben hätte.
({5})
Ich habe mich sehr gefreut, dass der Evangelische Arbeitskreis der CDU/CSU unter der Führung meines geschätzten Kollegen Thomas Rachel sehr großen Wert darauf gelegt hat, dass durch entsprechende Klarstellungen
in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz dafür gesorgt wird, dass die sogenannte Qualifikationsrichtlinie in der deutschen Asylpraxis endlich
überall in vollem Umfang angewandt wird. Ich hätte
mich gefreut, wenn die Koalition diese Forderung in
ihren Antrag aufgenommen hätte; denn es dient unserer
Glaubwürdigkeit, wenn wir deutlich machen, dass wir
allen Menschen, die aus religiösen Gründen verfolgt
werden - egal, welcher Religion sie angehören und was
der Verfolgungsgrund ist -, Asyl gewähren.
({6})
Eine entsprechende Klarstellung hätte Ihrem Antrag
mehr Glaubwürdigkeit verliehen.
Ich möchte dem verehrten, von mir wirklich geschätzten Kollegen Raju Sharma sagen: Religionsfreiheit ist in
der Tat nur in einem säkularen Staat möglich. Aber - das
betone ich für mich - ein säkularer Staat ist etwas anderes als ein laizistischer Staat. Ich sage hier an dieser
Stelle sehr deutlich, dass ich bei manchen Diskussionszusammenhängen in unserem Land, die laizistisch geprägt sind, eine gewisse Melodie erkenne, die mich an
Religionsfeindlichkeit erinnert. Wenn das mit Laizismus
gemeint ist, dann kann ich persönlich das nicht unterstützen. Es kann nicht sein, dass Äußerungen und Symbole
zur Religion grundsätzlich aus dem öffentlichen Raum
verbannt werden. Denn sie gehören zu unserer Kultur
und zu unserem Land. Diese Art von Laizismus möchte
ich bei uns in Deutschland nicht haben.
({7})
In diesem Zusammenhang empfehle ich sehr die Lektüre von Professor Habermas, der ja nicht in Verdacht
steht, ein christlicher Fundamentalist zu sein.
({8})
Professor Habermas hat ausdrücklich betont, dass religiös begründete Stellungnahmen einen wichtigen und legitimen Platz in der öffentlichen politischen Diskussion
haben müssen. Habermas begründet das insbesondere
damit, dass er sagt: Die praktische Vernunft - und er
sieht sich als einen Vertreter der nachreligiösen praktischen Vernunft - braucht geradezu einen neuen Dialog
mit der Religion, mit dem Religiösen, um nicht an ihren
eigenen guten Gründen angesichts entgleisender Modernisierung zu verzweifeln.
Deshalb sage ich: Ein offener Dialog zwischen praktischer Vernunft und Religion ist für beide wichtig. Wir
sollten denjenigen entgegentreten, die meinen, dass Religion etwas Althergebrachtes ist, das nicht mehr in unsere
Zeit gehört. Das ist für mich auch ein Anfang von Religionsfeindlichkeit, den wir verhindern sollten.
({9})
Ich möchte zum Schluss an eine großartige Rede erinnern, die unser damaliger Bundespräsident Johannes
Rau im Jahre 2004 zum Festakt des 275. Geburtstags
von Gotthold Ephraim Lessing gehalten hat. Ich möchte
zwei Zitate nennen, die, glaube ich, auf den Punkt bringen, worum es in unserer Debatte gehen sollte. Ich wünsche mir sehr, dass wir dieses Thema beim nächsten Mal
in einer Art und Weise diskutieren, dass wir am Ende zu
einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen kommen.
Denn das ist dem Thema eigentlich angemessen.
({10})
Johannes Rau hat gesagt:
Es geht um die Frage: Wie können Menschen miteinander leben, die ganz unterschiedliche Dinge für
wahr und für richtig halten und auch manches tun,
was die jeweils anderen unbegreiflich finden?
Und er hat in seiner Rede gesagt:
Toleranz ist nicht Beliebigkeit. Toleranz und Respekt bedeuten ja gerade, dass man die Existenzberechtigung anderer Überzeugungen und Glaubenswahrheiten akzeptiert, die man nicht für richtig
hält.
Wenn wir uns dem Thema in diesem Geist widmen
und deutlich machen, dass es um die Verfolgung aller
Religionen geht, und wir in dieser Frage keine benachteiligen oder bevorzugen, dann tun wir allen Verfolgten,
auch den christlichen Mitbrüdern und Mitschwestern,
den größten Gefallen. In diesem Sinne sollten wir für die
Zukunft lernen.
Herzlichen Dank.
({11})
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Stefan Ruppert
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Das Friedenslicht aus Bethlehem ist heute Morgen im Deutschen Bundestag in einer, wie ich finde, sehr
schönen Andacht im Andachtsraum angekommen. Es
leuchtet für alle Christen: für die, die in diesem Land leben, und für die, die weltweit bedrängt sind. Dieses
Licht leuchtet für die Christen, die ihre Religion nicht
frei ausüben können.
In diesem Zusammenhang muss ich mich mit dem einen oder anderen Vorredner einmal auseinandersetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken und
zum Teil auch von SPD und Grünen, ich verstehe Ihre
Abgrenzungsenergie nicht. Wir reden heute über bedrängte Christen in aller Welt.
({0})
Damit soll nicht die religiöse Verfolgung anderer geringer eingeschätzt oder geleugnet werden. Es ist doch vielmehr ein sinnvolles Zeichen, wenn ein Land, in dem
viele Christen leben,
({1})
aktiv an die Solidarität mit bedrängten Christen in aller
Welt appelliert.
({2})
Sie geben jeden Tag neue Solidaritätsbekundungen für
einzelne Gruppen ab, und zumeist sind sie berechtigt.
({3})
Dann lassen Sie uns heute ein Signal setzen, dass wir gegen die religiöse Verfolgung von Christen in aller Welt
sind!
({4})
„Die Religion kennt keinen Zwang“, so steht es in
dem bemerkenswerten Vers 256 der zweiten Sure des
Koran. Deswegen ermutige ich alle Moslems in diesem
Land, aber auch andernorts, ihre Haltung gegenüber bedrängten Christen in aller Welt zu überprüfen und ein
festes Zeichen für die Religionsfreiheit, die sie in diesem
Land erfahren, nach außen zu tragen.
({5})
Die religionspolitischen Sprecher in diesem Haus, Herr
Sharma, Herr Ehrmann und alle anderen, fordern dazu
gemeinsam auf. Wir sagen: Die bedrängten Christen in
der Türkei, insbesondere in Mor Gabriel, verlangen unsere Solidarität. Deswegen sprechen wir mit dem türkischen Botschafter und bitten ihn, dafür zu sorgen, dass
sie ihre Religion frei leben können.
({6})
Ein weltanschaulich neutraler Staat, ein liberaler
Rechtsstaat wie Deutschland lebt von Voraussetzungen,
die er allein nicht garantieren kann. Eine Kraft, die die
Festigkeit und die Integrationskraft dieses Staates jeden
Tag neu gewährleistet, sind die Christen und Christinnen
in aller Welt wie auch die Angehörigen aller anderen Religionsgemeinschaften. Sie tragen zum Gelingen des Gemeinwesens bei, wenn sie ihre Religion leben können.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Strässer?
Ja.
Herzlichen Dank, Herr Kollege. Ich möchte es kurz
machen und an Ihre intellektuelle Redlichkeit appellieren.
({0})
Wenn Sie sich umdrehen, können Sie auf der Tafel lesen:
Tagesordnungspunkt 36, Religions- und Glaubensfreiheit. Sie versuchen, uns die ganze Zeit einzureden, dass
mit Religions- und Glaubensfreiheit ausschließlich die
Christenverfolgung gemeint ist. Sie haben gerade gesagt: Wir reden heute über Christenverfolgung.
Ich frage Sie ganz ernsthaft - ich formuliere das ganz
deutlich und klar -: Sind Sie der Meinung, dass Religions- und Glaubensfreiheit mehr ist als die Auseinandersetzung mit weltweit verfolgten Christen, die alle hier
zum Thema gemacht haben?
Ich habe versucht, darzulegen, dass es keinen Gegensatz gibt zwischen der Thematisierung der Verfolgung
von Christen in aller Welt, was uns ein Anliegen ist - das
Christentum ist die Grundlage unserer wertegeleiteten
Außenpolitik -, und dem Bekenntnis zur Religionsfreiheit. Es muss gestattet sein, einmal ausdrücklich und explizit auf die verfolgten Christen in aller Welt hinzuweisen.
({0})
Das beinhaltet aber keinen Ausschluss der Religionsfreiheit anderer.
({1})
Herr Kollege, darf ich Sie noch einmal unterbrechen?
Die Kollegin Pfeiffer möchte eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Frau Kollegin, bitte.
Herr Kollege Ruppert, wir sind uns alle einig, dass es
um die Religionsfreiheit im Allgemeinen geht. Aber wer
soll sich um die Christen in aller Welt kümmern, wenn
sich die Christen nicht selbst kümmern? Außer den
Christen wird es niemanden geben, der sich um die
Christen kümmert. Also frage ich: Worüber reden wir eigentlich?
({0})
Wir Christen müssen uns um Christen kümmern. Niemand anders wird sich um sie kümmern. Deshalb glaube
ich, dass wir hier eine Scheindiskussion führen.
Frau Kollegin, darin sind wir uns einig. Ich habe
schon gesagt, dass wir keinen ausschließen wollen, sondern aktiv darauf hinweisen wollen, dass Christen in aller Welt verfolgt werden, dass die meisten, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden, Christen sind. Das muss
einmal gesagt werden.
({0})
Die Bertelsmann-Stiftung hat über ihren bemerkenswerten Religionsmonitor festgestellt, dass sich Menschen, die an etwas glauben, sehr stark in das Gemeinwesen einbringen. Christen, Moslems und Angehörige
aller anderen Glaubensgemeinschaften engagieren sich
ehrenamtlich und bringen sich in das Gemeinwesen ein.
Von dieser religiösen Vielfalt, von der Entfaltung religiöser Kräfte und religiösen Lebens kann jede Gesellschaft
weltweit profitieren. Deswegen kämpfen wir für die Religionsfreiheit. Deshalb werden wir auch nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die wertegeleitete Außenpolitik
unseres Außenministers dieses Anliegen immer verfolgen wird.
Vielen Dank.
({1})
Jetzt bitte ich Sie um Ihre Aufmerksamkeit für die
letzte Rednerin in dieser Debatte. Das Wort hat die Kollegin Ute Granold für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Vertreter der christlichen Kirchen aus dem Irak, aus Pakistan und Vertreter der Bahai!
Ich freue mich, dass auch die Prälate der Katholischen
und der Evangelischen Kirche Deutschlands heute zugegen sind. Das Thema findet hier im Parlament eine große
Aufmerksamkeit. Ich freue mich, dass wir über Anträge
der Koalition, aber auch der Opposition zum Thema Religionsfreiheit - Religionsfreiheit weltweit schützen, Religionsfreiheit stärken, Religionsfreiheit als politische
Herausforderung - debattieren. Wir haben festgestellt,
dass es in großen Teilen Übereinstimmung gibt, wenn
auch der eine oder andere die Religionsfreiheit in
Deutschland, in Europa nicht gewährleistet sieht und den
Fokus auf diesen Bereich richtet.
Ich kann nicht verstehen, warum zum Beispiel eine
Diskussion über das Minarettverbot in der Schweiz geführt wird, aber mit keinem Wort gesagt wird, dass in
Saudi-Arabien und in der Türkei keine Kirchen gebaut
werden dürfen. Das ist der Grund, warum in Deutschland Vorbehalte bestehen. Viele Menschen fragen:
Wieso können hier Moscheen gebaut werden, während
in der Türkei, in Saudi-Arabien keine Kirche gebaut
werden kann?
({0})
Wir wollen, dass Religionsfreiheit eine Freiheit für
alle Menschen, für alle Glaubensgemeinschaften ist. Das
ist aber keine Einbahnstraße. Ich stehe hier als Mitglied
der Christlich Demokratischen Union; ich stehe hier
auch als Christin, als Katholikin. Es ist eine Tatsache,
dass die Christen mit über 2 Milliarden Mitgliedern die
größte Religionsgemeinschaft der Welt sind; die Katholiken stellen 1 Milliarde davon. Ich meine, dass ich das
Recht, aber auch die Verpflichtung habe, meinen Fokus
auf die verfolgten Christen in der Welt zu richten.
({1})
Die Christen sind die Religionsgemeinschaft, die am
stärksten verfolgt, diskriminiert und mit dem Tod bedroht wird. Wenn wir uns um verfolgte Christen kümmern, dann kümmern wir uns zeitgleich auch um andere
religiöse Minderheiten in vorwiegend islamisch geprägten Ländern.
Lassen Sie mich dazu ein Beispiel nennen. Ich war
zusammen mit dem Kollegen Kober von der FDP und
mit Dr. Oehring von missio - er ist heute auch anwesend - in Indien. Wir waren in Gujarat, in Westindien.
Dort wurden 2 000 Muslime umgebracht. Wir haben uns
um dieses Thema gekümmert. Wir haben in einer großen
Pressekonferenz, bei der Vertreter aller Religionsgemeinschaften zugegen waren - die Hindus, die Mohammedaner, die Christen -, den Finger in die Wunde gelegt.
Es gab eine lange Diskussion. Der Innenminister des
Bundesstaates Gujarat befindet sich mittlerweile wegen
der Hinrichtung der Muslime in Haft. Wir haben uns um
die Belange der Muslime und damit auch aller anderen
Minderheiten in Westindien gekümmert.
({2})
Wir waren auch in Ostindien. In Orissa - das wurde
angesprochen - fand ein schlimmes Massaker an Christen statt. 300 Kirchen wurden zerstört. Die Menschen
sind auf der Flucht. Wir haben mit den Menschen gesprochen. Dort pflegen indische Schwestern in einem
Heim behinderte Kinder von Eltern, die nachweislich am
Massaker an den Christen beteiligt waren. Das ist christliche Barmherzigkeit. In Westindien - auch das möchte
ich betonen - werden von Schwestern des Ordens der
Mutter Teresa Kinder und Babys, die auf der Straße gefunden werden, aufgepäppelt, betreut und versorgt, bis
sie sechs Jahre alt sind. Sie dürfen nur von Hindus adoptiert werden. Die Schwestern werden kontrolliert, damit
sie den Kindern nicht ein Kreuzzeichen oder den christlichen Glauben beibringen. Die Schwestern machen das
auch nicht. Menschen, die sich auf die Straße legen, um
zu sterben, werden von den christlichen Schwestern aufgenommen und aufgepäppelt. Das ist christliche Barmherzigkeit. Wir tun dies für alle Menschen, unabhängig
von ihrem Glauben.
({3})
Deshalb meine ich, dass es berechtigt ist, hier auch ein
Wort zu den Christen zu sagen.
Die Union beschäftigt sich seit langer Zeit, bereits in
der letzten Wahlperiode, aber auch in dieser, mit diesem
Thema. Es ist ein zentrales Thema im Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe. Wir sind froh,
hier heute gemeinsam darüber debattieren zu können.
Ich war dieser Tage zusammen mit Kollegen anderer
Fraktionen im Irak und in Ägypten. Wir schauen uns die
Situation der Menschen an, der Kopten in Ägypten, aber
natürlich auch der Bahai, die ein vogelfreies Leben führen - eine schlimme Situation in Ägypten und im Iran.
Wir meinen schon, dass die Kollegen, die sich mit diesem Thema befassen, die in die Länder gehen, in denen
die Menschen bedrängt sind, an die Basis gehen. Wir
sprechen mit diesen Menschen und versuchen, zu helfen;
teilweise kann man auch helfen. Ich denke, das ist der
richtige Weg. Es sollten nicht nur Worte sein, sondern es
sollten auch Taten folgen. Es darf nicht zu Ende sein mit
der Debatte, die wir heute in diesem Haus führen,
({4})
sondern wir müssen schauen, dass wir den Menschen
helfen.
Ich möchte, weil Vertreter aus dem Irak heute hier
sind und die Lage dort momentan sehr prekär ist, auch
noch einige Worte dazu sagen. Wir haben gerade nach
dem Attentat, nach dem Bombenanschlag auf die Kirche
in Bagdad, eine verstärkte Welle von Gewalt im Irak
festgestellt. Diese Gewalt richtet sich gegen Sunniten,
Schiiten, aber einmal mehr gegen die Christen, weil alQaida gesagt hat: Die Christen werden wir jetzt aus dem
Irak vertreiben. - Deshalb müssen wir auch hier unser
Augenmerk auf die Christen richten.
Wir haben vor allem mit den Vertretern der Kirchen,
aber auch mit dem Ministerpräsidenten, dem Staatspräsidenten und dem Parlamentspräsidenten im Irak darüber gesprochen, was wir für unsere Glaubensbrüder
und -schwestern in Mesopotamien, Babylon oder anderswo im Irak tun können. Das ist die Wiege unseres
Glaubens. Wenn nicht wir, wer sonst soll sich um diese
Menschen kümmern?
({5})
Es bestand die einhellige Meinung, dass wir dem Exodus
der Christen aus dem Irak begegnen müssen - demnächst gibt es ein weiteres Land; ich erinnere an die Türkei -, indem wir versuchen, den Menschen vor Ort zu
helfen, indem wir die neue Regierung des Irak, die nun
einmal da ist, stabilisieren, indem wir nachhalten, ob die
Zusage der Gewährung von Sicherheit auch eingehalten
wird; denn mit der Sicherheit geht ein Stück weit Frieden und Hoffnung einher. Frieden und Hoffnung, das ist
die Botschaft zu Weihnachten.
Wer die Neujahrsansprache des Papstes gelesen hat
- sie kam dieser Tage -, der weiß: Ein zentrales Thema
der Botschaft des Papstes - immerhin vertritt er
2 Milliarden Menschen - ist die Religionsfreiheit. Ich
meine, dass es nicht nur ein Thema der Politik ist, sich
weltweit um die Religionsfreiheit zu kümmern; es ist
auch Aufgabe der Vertreter aller Glaubensrichtungen.
Nur gemeinsam sind wir in der Lage, zu einer Befriedung beizutragen und die Religionsfreiheit auch zu leben: dass jeder nach seinem Glauben leben kann, indem
er das Zeichen seines Glaubens, zum Beispiel ein Kreuz,
trägt, ohne größere Probleme zu bekommen, aber auch
kollektiv, indem es ihm möglich ist, in ein Gotteshaus zu
gehen und zu beten.
({6})
Mein Anliegen heute ist speziell auf den Irak gerichtet, darauf, dafür zu sorgen, dass die Menschen dort eine
Perspektive haben und Hoffnung schöpfen können. Wir
müssen zusammen mit der Bundesregierung, mit dem
Außenminister und der Kanzlerin, die das Thema Menschenrechte und als zentralen Punkt gerade die Religionsfreiheit weltweit ansprechen, dafür sorgen, dass das
nicht nur Lippenbekenntnisse sind, sondern wir auch Taten folgen lassen, dass wir unsere deutschen Botschaften
vor Ort unterstützen, dass wir die Situation der Religionsfreiheit in den einzelnen Ländern abfragen, dass
wir als Parlament darüber debattieren und dort, wo Defizite sind, auch Änderungen einfordern. Deutschland hat
- das wurde bei unseren Reisen nach Ägypten und in
den Irak deutlich - ein hohes Ansehen in der Welt. Ich
meine schon, dass wir mit diesem Pfund wuchern und
als Deutsche den Finger in die Wunde legen können,
wenn die Religionsfreiheit nicht gewährleistet ist, dies
insbesondere, wenn es die am schlimmsten Verfolgten
betrifft, unsere Glaubensbrüder und -schwestern im Irak
und in der Türkei.
Ein letztes Wort noch zur Türkei - ich habe noch ein
wenig Redezeit -: Die Türkei ist mir ebenfalls ein wichtiges Anliegen. Wir haben auch dort mit vielen Vertretern gesprochen; Monsieur Yakan aus der Türkei ist hier
anwesend. Wir haben einen ersten Schritt gesehen, als
vor einigen Monaten eine Immobilie, ein Waisenhaus,
zurückgegeben wurde. Wir möchten weitere Taten sehen. Wir möchten, dass das Kloster Mor Gabriel wieder
frei ist, dass die Prozesse ein Ende haben.
({7})
Wir möchten, dass das Priesterseminar Chalki wiedereröffnet wird. Das wären positive Zeichen.
Im EU-Fortschrittsbericht zur Türkei kann man lesen,
dass in puncto Menschenrechte und insbesondere Religionsfreiheit noch akuter Nachholbedarf besteht. Wir
werden, wie wir es im Irak tun, auch in der Türkei die
Religionsfreiheit einfordern, individuell wie kollektiv;
wir haben viele Verbindungen von der Türkei nach
Deutschland. Es gibt in Deutschland Religionsfreiheit
für die Muslime. Wir erwarten dies aber bitte schön auch
in der Türkei für die Christen, die dort in der Minderheit
leben und ein schwieriges Leben führen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Es geht um
die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Men-
schenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP mit dem Titel
„Religionsfreiheit weltweit schützen“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/4122, den Antrag der Fraktionen
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/2334 anzu-
nehmen.
Es liegt dazu ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4227 vor, über
den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Ände-
rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist
damit abgelehnt. Dafür hat die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen gestimmt, dagegen haben die Koalitionsfraktio-
nen gestimmt, und enthalten haben sich die Fraktionen
SPD und Die Linke.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den
Buchstaben a der Beschlussempfehlung, die Annahme
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP.
Über diesen Buchstaben a der Beschlussempfehlung
stimmen wir namentlich ab.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die Plätze an den Urnen einzunehmen. - Sind alle Plätze
an den Urnen wie vorgesehen besetzt? - Das ist der Fall.
Dann eröffne ich die Abstimmung.
Sind noch Kolleginnen oder Kollegen im Saal, die
ihre Stimme bei dieser ersten namentlichen Abstimmung
nicht abgegeben haben? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis wird Ihnen später bekannt gegeben.1)
Ich bitte Sie nun um Aufmerksamkeit für die Erklä-
rungen zur nächsten Abstimmung. - Unter Buchstabe b
empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3428 mit dem Titel
„Das Menschenrecht auf Religions- und Glaubensfrei-
heit als politische Herausforderung“. Auch über diesen
Buchstaben b der Beschlussempfehlung stimmen wir na-
mentlich ab. Es geht um die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD. Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? -
Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ich frage alle Kolleginnen und Kollegen: Ist jemand
im Haus, der seine Stimmkarte noch nicht abgegeben
hat? - Das ist nicht der Fall. Dann ist auch diese Abstim-
mung geschlossen. Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Auch
das Ergebnis dieser Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.2)
Wir haben nun noch eine Abstimmung durchzufüh-
ren. Damit ich einen Überblick habe, bitte ich Sie, Ihre
Gespräche, soweit erforderlich, außerhalb des Plenar-
saals zu führen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Das Menschenrecht
auf Religions- und Glaubensfreiheit stärken“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4121, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2424 abzulehnen.
1) Ergebnis Seite 9190 C
2) Ergebnis Seite 9192 B
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPDFraktion angenommen.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Josip Juratovic,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Missbrauch der Leiharbeit verhindern
- Drucksache 17/4189 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und darf um Aufmerksamkeit für die erste Rednerin bitten. Das Wort hat die Kollegin Andrea Nahles für die SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Praxis der Leiharbeit in Deutschland ist
verkommen. Vor zehn Jahren wurden Leiharbeiter noch
zur Abdeckung von Auftragsspitzen eingestellt. Mittlerweile werden sie eingestellt, um sie auszunutzen und zu
missbrauchen und um in den Betrieben Lohndumping zu
betreiben und die Tarifverträge der Stammbelegschaften
auszuhebeln. Deswegen muss der Missbrauch der Leiharbeit in Deutschland beendet werden. Das wird durch
diese schwarz-gelbe Koalition leider verhindert.
({0})
Die Realität ist doch, dass Leiharbeiter bis zu
50 Prozent weniger verdienen als ihre Kollegen, obwohl
sie die gleiche Arbeit machen. Die Realität ist doch, dass
sie immer wieder um ihre Jobs bangen. Die Realität ist
doch, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter kaum
Aufstiegschancen haben, nicht qualifiziert werden und
nach ihrem Einsatz in dem Betrieb, der sie gebraucht hat,
im Übrigen kaum übernommen werden. Deswegen bedeutet Leiharbeit Entwürdigung der Arbeit. Würde ist
bei der Arbeit aber notwendig, damit die Menschen weiter motiviert sind.
({1})
Wenn man sich den Gesetzentwurf dieser Regierung
anguckt, dann stellt man fest: „Würde“ kennt SchwarzGelb nur als Konjunktiv; als Substantiv ist Ihnen dieser
Begriff fremd. Das muss man einmal ganz klar festhalten. Das, was hier vorgelegt wird, ist ein kleiner Gesetzentwurf für ein großes Problem. Sie haben sich ein kleiAndrea Nahles
nes Lex Schleckerchen ausgedacht. Was heißt das? Frau
von der Leyen wachte auf, als Schlecker im Frühjahr
dieses Jahres massenhaft Leute entlassen hat, um sie danach zu schlechteren Konditionen über Leiharbeit wieder einzustellen. Sie hat sich damals „wahnsinnig“ geärgert; das stand im März so im Spiegel. Noch besser war,
dass sie dem Ganzen „einen Riegel vorschieben“ wolle.
Am besten war folgende Aussage von Frau von der
Leyen: „Ich rechne da nicht in Monaten, sondern eher in
Wochen.“ März, April, Mai, Juni usw. - ich komme jetzt
schon auf acht Monate, in denen nichts passiert ist,
meine Damen und Herren von der Koalition. Rechenkünstlerin wird Frau von der Leyen mit Sicherheit nicht
mehr.
Nun haben Sie, Frau Ministerin, in dieser Woche endlich etwas vorgelegt. Aber was liegt denn hier vor? Das
ist doch ein Schlag ins Gesicht eines jeden, der an diesem Thema wirklich interessiert ist und eine Lösung für
die Leiharbeit in Deutschland will.
({2})
Das ist doch eine Bagatellisierung der Leiharbeit. Die
Situation wird im Grunde genommen noch bunter, wenn
Sie sagen: Nur dann soll es gleichen Lohn für gleiche
Arbeit geben, wenn der Arbeitgeber die Leute entlässt
und innerhalb von sechs Monaten im Wege der Leiharbeit wieder einstellt. Man könnte auch sagen: Das, was
wir in Deutschland bisher als Missbrauch bezeichnet haben, wird jetzt noch salonfähig gemacht. Das ist doch
der Gegenstand Ihres Gesetzes.
Dazu kann ich nur sagen: Den Stempel „rechtmäßig“
werden wir Ihnen für die Leiharbeit nicht geben, meine
Damen und Herren von der Regierungskoalition.
({3})
Ich sage Ihnen: Es ist schon ziemlich verlogen, wenn
die FDP, um den Mindestlohn in der Leiharbeit zu verhindern, nun funkt, sie sei für Equal Pay. Das hat mich
persönlich überrascht, Herr Kolb.
({4})
Ich dachte: Mein Gott, späte Erkenntnis ist auch eine Erkenntnis. Aber auch hier ist es so, dass Sie von der FDP
Equal Pay erst nach sechs Monaten wollen. Das bedeutet, dass nur ein Bruchteil der Leiharbeiter jemals in den
Genuss von gleichem Lohn für gleiche Arbeit kommen
wird. Die Hälfte der Leiharbeiter arbeitet im Durchschnitt nicht länger als drei Monate. Das, was die FDP
vorschlägt, ist so wie freiwillig Schneeschippen anmelden, aber im Sommer. Mehr ist dieses Ganze nicht, was
Sie da vorlegen.
({5})
Ich saß in der letzten Woche zusammen mit circa der
Hälfte meiner Bundestagskollegen am Flughafen in der
Lounge. Man wartete stundenlang, bis die Flüge gingen.
Ich habe mich gefragt, wie vielen meiner Kollegen von
der schwarz-gelben Koalition eigentlich die Aktion von
Verdi aufgefallen ist, die in der letzten Woche am Flughafen stattfand. Da standen die Vertrauensleute mit Flugblättern und dem Slogan: Sicherheit beim Fliegen lässt
sich nicht ausleihen. Das bezog sich auf die Firma
GlobeGround, die der größte Dienstleister an den Berliner Flughäfen ist. Die machen alles vom Be- und Entladen der Flugzeuge bis hin zur Abfertigung der Passagiere. Diese will nun ihre 1 800 Beschäftigten durch
Leiharbeiter ersetzen - bis zu einem Anteil von 30 Prozent, sagt die Verdi-Gruppe.
Wie läuft das dann? Der Teilzeitvertrag läuft aus, die
Check-in-Agenten werden entlassen, werden dann als
Kabinenreiniger bei einer Tochterfirma eingestellt und
dann wiederum für weniger Geld an GlobeGround Berlin ausgeliehen.
Das ist ein ganz konkretes Beispiel dafür, wie das
läuft. Michael Walter von Verdi sagt dazu: Die Leute
wollen arbeiten, sind stolz auf den Job, den sie sich ausgesucht haben. Und was passiert? Sie müssen sich hin
und her schieben lassen, müssen nehmen, was sie kriegen, und dabei noch das Maul halten.
Ich sage: Genau das ist das Problem. Wir entrechten
die Leute, wir nutzen sie aus. Wir schauen bei Ausbeutung zu. Und diese Regierung ist nicht in der Lage, dem
Ganzen einen Riegel vorzuschieben, wie Frau von der
Leyen es angekündigt hatte.
({6})
Wenn ich sage, die Leiharbeit und die Praxis von
Leiharbeit in diesem Land sind verkommen, muss ich
feststellen, dass man dies mittlerweile für den gesamten
Arbeitsmarkt sagen muss. Dieser ist nämlich auch verkommen, weil viele junge Menschen als Erstes die folgende Berufserfahrung machen: Leiharbeit, unbezahlte
oder wenig bezahlte Praktika, sachgrundlose Befristungen. Jede zweite Neueinstellung ist befristet.
Das heißt für mich: Es geht nicht nur darum, meine
Damen und Herren von der Koalition, jeden Monat die
Arbeitsmarktstatistik abzufeiern; Hauptsache, die Zahlen gehen runter. Nein, es geht nicht um Zahlen, es geht
um Menschen, die hinter den Zahlen stehen. Diese verdienen gute Arbeit, sie verdienen anständige Bezahlung.
Sie brauchen auch eine Perspektive für das Leben. Das
alles verbindet sich mit dem Thema Leiharbeit, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Nun ist der Koalition aufgefallen - ich bin begeistert -,
dass ab 1. Mai 2011 in Europa die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit herrschen wird. Jetzt ist es so, dass Frau
von der Leyen wieder einmal etwas ankündigt, nämlich
dass es Mindestlöhne braucht. Die Begründung lautet:
Auch die Arbeitgeber merken mittlerweile - das ist ja
das Interessante -, dass es zu einer Verschiebung im
Wettbewerb kommen könnte, wenn kleine oder auch
größere Unternehmen Lohndumping anbieten, was über
die Freizügigkeit wahrscheinlich häufiger als heute der
Fall sein wird.
Was haben Sie gemacht? Frau von der Leyen hat in
Aussicht gestellt, dass es einen Mindestlohn geben soll.
Jetzt will ich im Dezember nicht darüber reden, wann
wir damit rechnen können; das ist ja schon sehr schwierig. Aber wissen Sie, was ich glaube, meine Damen und
Herren von der Koalition? Sie hoffen auf die SPD.
({8})
Sie hoffen auf die SPD im Bundesrat. Wir werden bei
den Verhandlungen, die jetzt anstehen, ganz gewiss das
Thema Mindestlöhne zumindest für die Leiharbeitsbranche, aber auch einen flächendeckenden Mindestlohn insgesamt zum Verhandlungsgegenstand machen. Die
heimliche Freude darüber, dass das vielleicht doch mithilfe der SPD gegen die FDP durchgesetzt werden
könnte, kann man der Ministerin teilweise anmerken.
({9})
In diesem Sinne verspreche ich Ihnen auch: Wir werden
Ihnen helfen, so gut wir können. Also machen Sie keinen
Mist, sondern machen Sie den Weg frei für Mindestlöhne in Deutschland. Das ist hier notwendig.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Koalition eiert zwischen Mindestlohn und Equal Pay herum. Wir legen hier einen Antrag vor, in dem es um gleiches Geld
für gleiche Arbeit geht, weil nur das gerecht ist. Es geht
um den Mindestlohn, um auch zwischen zwei Einsätzen
eine angemessene Bezahlung zu sichern. Es geht um die
Beschränkung von Leiharbeitseinsätzen auf ein Jahr,
weil nach einem Jahr wirklich klar sein müsste, ob man
den Menschen braucht und ihn einstellen muss oder
nicht. Schließlich wollen wir, dass Leiharbeiter nicht
mehr als Streikbrecher missbraucht werden. Deswegen
müssen sie in die Mitbestimmung einbezogen werden,
und die Mitbestimmung darf nicht ausgehebelt werden.
In diesem Sinne fordere ich Sie auf: Stimmen Sie diesem Antrag zu, machen Sie eine gerechte Politik für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland!
Wenn Sie es nicht tun, wird es Ihnen noch böse auf die
Füße fallen. Es ist nur schade, dass wir jetzt vor Weihnachten weiter auf Sie warten müssen. Eine vernünftige
Equal-Pay-Regelung für alle Leiharbeiter wäre doch
wirklich ein schönes Päckchen unterm Weihnachtsbaum.
Geben Sie sich einen kleinen Schubser und stimmen Sie
unserem Antrag zu.
Vielen Dank.
({11})
Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das Ergebnis der beiden namentlichen Abstimmungen bekannt. Zunächst die namentliche Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zum Antrag
der Abgeordneten Volker Kauder, Ute Granold, weiterer
Abgeordneter sowie der Fraktionen von CDU/CSU und
FDP: abgegebene Stimmen 570, mit Ja haben gestimmt
374, mit Nein haben gestimmt 69, Enthaltungen 127.
Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 569;
davon
ja: 373
nein: 69
enthalten: 127
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Leo Dautzenberg
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({11})
Nadine Schön ({12})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({13})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({14})
Anita Schäfer ({15})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({16})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Hans-Ulrich Klose
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({23})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({24})
Dr. Christel Happach-Kasan
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({25})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({26})
Michael Link ({27})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({28})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({29})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({30})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({31})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({32})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({33})
Volker Beck ({34})
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({35})
Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Kerstin Müller ({36})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({37})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
SPD
Aydan Özoğuz
Ewald Schurer
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({38})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
Enthalten
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({39})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({40})
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({41})
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({42})
Hubertus Heil ({43})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({44})
Frank Hofmann ({45})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({46})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({47})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({48})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({49})
Michael Roth ({50})
Marlene Rupprecht
({51})
Axel Schäfer ({52})
Bernd Scheelen
Werner Schieder ({53})
Ulla Schmidt ({54})
Silvia Schmidt ({55})
Carsten Schneider ({56})
Swen Schulz ({57})
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
({58})
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Dann die zweite namentliche Abstimmung über den
Antrag der Fraktion der SPD: abgegebene Stimmen 565,
mit Ja haben gestimmt 304, mit Nein haben gestimmt
195, Enthaltungen 66. Diese Beschlussempfehlung ist
ebenfalls angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 566;
davon
ja: 305
nein: 195
enthalten: 66
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({59})
Manfred Behrens ({60})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({61})
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Leo Dautzenberg
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({62})
Dirk Fischer ({63})
Axel E. Fischer ({64})
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({65})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Peter Gauweiler
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({66})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({67})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({68})
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({69})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller ({70})
Nadine Schön ({71})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({72})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Anita Schäfer ({73})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({74})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({75})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({76})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({77})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({78})
Peter Weiß ({79})
Sabine Weiss ({80})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({81})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({82})
Dr. Christel Happach-Kasan
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({83})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({84})
Michael Link ({85})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({86})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({87})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({88})
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({89})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({90})
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({91})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({92})
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({93})
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({94})
Hubertus Heil ({95})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({96})
Frank Hofmann ({97})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({98})
Fritz Rudolf Körper
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({99})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({100})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({101})
Michael Roth ({102})
Marlene Rupprecht
({103})
Axel Schäfer ({104})
Bernd Scheelen
Werner Schieder ({105})
Ulla Schmidt ({106})
Silvia Schmidt ({107})
Carsten Schneider ({108})
Swen Schulz ({109})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
({110})
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({111})
Volker Beck ({112})
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({113})
Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({114})
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({115})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Enthalten
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Katrin Kunert
Sabine Leidig
Michael Leutert
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({116})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
Dann rufe ich als nächsten Redner den Kollegen Peter
Weiß von der CDU/CSU-Fraktion auf.
({117})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Johannes Rau, einer der großen Männer der SPD,
({0})
hat den klugen Satz geprägt: Sage, was du tust, und tue,
was du sagst. Nach der Rede von Frau Kollegin Nahles
habe ich den Eindruck, dass die politischen Enkel von
Johannes Rau diesen Satz sehr freihändig abgewandelt
haben;
({1})
denn das neue Glaubensbekenntnis der Sozialdemokraten lautet: Sage nicht, was du getan hast, als du das Sagen hattest,
({2})
sondern sage, wenn du gerade nicht das Sagen hast, was
du tätest, wenn du das Sagen hättest.
({3})
Alles, aber auch wirklich alles, was Frau Nahles gerade im Bereich der Leiharbeit in Deutschland beredt
beklagt hat, hat eine einzige Ursache, nämlich die Änderung des sogenannten Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, AÜG, zur Zeit der rot-grünen Koalition. Rot
und Grün tragen die Verantwortung für die Verlotterung
der Sitten in der Leiharbeit.
({4})
Ich finde es unglaublich, dass die Sozialdemokraten,
nachdem sozialdemokratische Arbeitsminister elf Jahre
lang Verantwortung getragen haben, nach einem Jahr die
neue Regierung unter CDU/CSU und FDP dafür verantwortlich machen, was in der Leiharbeit in Deutschland
geschehen ist und geschieht, und die eigene Verantwortung locker wegschieben. Das lassen weder wir noch die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland
den Sozialdemokraten durchgehen.
({5})
Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schaaf?
Bitte schön.
Herr Schaaf, bitte.
Ich will die Sitzung nicht unnötig aufhalten, Herr
Weiß. Aber bestätigen Sie mir, dass wir in der gemeinsamen Kommission der Großen Koalition, die sich um
Mindestlöhne in einzelnen Branchen gekümmert hat, das
Thema Zeit- und Leiharbeit auf der Tagesordnung hatten
und dass Sie, die Union, es waren, die eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung für die Zeit- und Leiharbeit
vehement verhindert haben?
({0})
Waren Sie das, oder waren wir Sozialdemokraten das?
Würden Sie mir bitte auch bestätigen, dass denjenigen,
auf die Sie sich mit Hinweis auf die Tarifautonomie in
der Zeit- und Leiharbeit berufen, nämlich auf die CGBGewerkschaften, gerade attestiert wurde, überhaupt
nicht tariffähig zu sein? Können Sie mir bestätigen, dass
das so ist? Hören Sie auf mit solchen Vorwürfen! Wir haben die Erkenntnis gewonnen, dass hier viel aus dem
Ruder gelaufen ist, und schon in der letzten Legislatur9196
periode versucht, das zu ändern. Versuchen Sie nicht,
sich aus der Verantwortung zu stehlen!
({1})
Herr Kollege Schaaf, in der Tat haben wir in den vier
Jahren Große Koalition darüber gesprochen, wie die aufgrund rot-grüner Gesetzgebung verlotterten Sitten in der
Leiharbeit, was die Lohnfindung angeht, korrigiert werden können. Eine wichtige Bedingung, auf die wir uns
damals geeinigt hatten, war, auf Vorschlag der Tarifpartner Tarifverträge, die möglichst 50 Prozent der Beschäftigten und der Betriebe einer Branche umfassen,
für allgemeinverbindlich zu erklären. Aber die Verlotterung der Sitten in der Leiharbeit aufgrund rot-grüner
Gesetzgebung hat dazu geführt, dass wir es mit mehreren, unterschiedlichen und miteinander konkurrierenden
Tarifverträgen zu tun hatten, dass die Tarifvertragspartner - das betrifft vor allen Dingen die Arbeitgeberseite uns massiv bestürmt haben, die Tarifverträge nicht anzutasten, und dass deswegen keine Einigung möglich war.
({0})
Das Großartige ist aber, Herr Kollege Schaaf, dass allein die Drohung und Ankündigung von Frau Bundesministerin von der Leyen, in diesem Bereich etwas zu
machen, dazu geführt haben, dass vor wenigen Wochen
alle vier Arbeitgeberverbände im Bereich der Zeitarbeit
mit allen Gewerkschaften den gleichen Mindestlohn vereinbart haben. Deswegen haben wir heute eine grundlegend andere Situation als zur Zeit der Großen Koalition.
Das ist Tatsache.
({1})
Ich erinnere an Folgendes: Im alten AÜG, das die
Leiharbeit regelt, stand, dass für Zeitarbeitsverhältnisse,
die länger als zwei Jahre dauern, der Gleichbezahlungsgrundsatz gilt, dass also der Leiharbeiter genauso viel
Gehalt zu bekommen hat wie der festangestellte Mitarbeiter. Diesen Satz haben nicht die CDU/CSU und
FDP, sondern ihn hat Rot-Grün aus dem Gesetz gestrichen. Das ist die Ursache für das, was wir heute beklagen. Während Rot-Grün das Dilemma angerichtet hat
und sich plötzlich reinwaschen will, ist Frau von der
Leyen die erste Bundesarbeitsministerin seit zwölf Jahren, die handelt.
({2})
Es ist ein Unding und es ist unanständig, dass Firmen
ihre festangestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
entlassen und sie anschließend als Leiharbeiterinnen und
Leiharbeiter wieder in den Betrieb holen. Deswegen hat
das Bundeskabinett am Mittwoch dieser Woche einen
Gesetzentwurf beschlossen, mit dem dieser Drehtüreffekt für alle Zeiten unterbunden werden wird. Wir
handeln!
({3})
Wenn sich jetzt Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zu diesem Thema äußern, dann muss ich auf
Folgendes hinweisen: Es gibt unter den großen Wohlfahrtsverbänden in Deutschland einen, der historisch
bedingt auf das Engste mit der Sozialdemokratie verbunden ist, nämlich die Arbeiterwohlfahrt. Die Arbeiterwohlfahrt - so höre ich aus Essen - beendet die Ausbildung in Pflegeberufen damit, dass sie die jungen Leute
an eine eigene Leiharbeitsfirma, die AWO-Service
GmbH, weiterleitet.
({4})
Dann werden diese gut ausgebildeten jungen Leute von
der AWO-Service GmbH im gleichen Betrieb wieder angestellt und verdienen, obwohl sie eine sehr gute Ausbildung haben, gerade einmal so viel wie ein Pflegehelfer,
der überhaupt keine Ausbildung hat.
({5})
Das ist sozialdemokratische Ehrlichkeit in Sachen Leiharbeit.
({6})
Das zweite Thema hat der Kollege Schaaf schon angesprochen: die Löhne in der Leiharbeit. In den vergangenen Jahren sind in der Leiharbeitsbranche katastrophal niedrige, unanständige Löhne gezahlt worden. Das
muss ein Ende haben.
({7})
Weil wir das klar und deutlich gesagt haben, haben endlich auch die Zeitarbeitsunternehmen verstanden, dass
die Leiharbeit und die Zeitarbeit ganz kaputtgehen werden, wenn sie weiter in der Schmuddelecke bleiben. Darüber bin ich sehr froh.
({8})
Unter Rot-Grün gab es eine Verlotterung der Sitten.
Dagegen ist es jetzt erstmals gelungen, dass alle vier Arbeitgeberverbände im Bereich der Zeitarbeit einen einheitlichen Mindestlohn mit den Gewerkschaften vereinbart haben. Wir haben jetzt in Deutschland zum ersten
Mal einen einheitlichen branchenübergreifenden Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche. Das hat es früher
nicht gegeben; das gibt es jetzt zum ersten Mal. Das
zeigt, dass die Tarifautonomie in Deutschland funktioniert.
Deswegen ein Kompliment an die Verhandelnden auf
Arbeitgeber- und auf Arbeitnehmerseite dafür, dass sie
erstmals einen flächendeckenden Mindestlohn für die
Leiharbeitsbranche in Deutschland vereinbart haben anders, als es unter Rot-Grün in Deutschland üblich war.
({9})
- Frau Kramme, eins nach dem anderen.
Nun gibt es ein Datum, auf das Frau Kramme hinweist, das in meiner Rede aber ohnehin vorgekommen
wäre: Wenn am 1. Mai 2011 die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer aus den acht im Jahre 2004 der Europäischen Union neu beigetretenen Staaten Ost- und Mitteleuropas das Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit erhalten, also ohne weitere Vorbedingungen zu uns nach
Deutschland kommen können, dann droht der einheitliche Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche, den wir jetzt
in Deutschland haben, eventuell durch ausländische Tarifverträge unterboten zu werden. Deswegen arbeiten
wir intensiv an einer gesetzlichen Regelung, die genau
dieses verhindert.
({10})
- Frau Kollegin Nahles, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ich würde da nicht laut „Oh!“
schreien, denn der 1. Mai 2011 stand auch schon zur Regierungszeit von Rot-Grün im Kalender.
({11})
Denn damals, 2004, unter rot-grüner Verantwortung, ist
der Beitritt dieser acht Staaten zur Europäischen Union
beschlossen worden.
({12})
Sie haben nicht gehandelt. Sie haben das Dilemma, das
uns jetzt droht, sehenden Auges in Kauf genommen.
({13})
Deswegen werden wir, die christlich-liberale Koalition,
auch dieses Thema befriedigend regeln.
({14})
Leiharbeit in Deutschland muss anständige Arbeit zu
anständigen Löhnen bedeuten. Rot-Grün hat dafür gesorgt, dass die Sitten verlottert sind. Wir sorgen wieder
für Ordnung auf dem deutschen Arbeitsmarkt.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beschäftigen uns heute mit einem SPD-Antrag. Frau Nahles, aufgrund der Umstände, in denen Sie
sich befinden - es ist ja etwas Tolles, dass Sie neues Leben auf die Erde bringen -, will ich mich mit meiner Kritik etwas zurückhalten.
({0})
Aber dass Sie mit keinem Wort darauf eingegangen sind,
dass SPD und Grüne sehr stolz darauf waren, den Arbeitsmarkt 2003 mit der Agenda 2010 zu flexibilisieren,
damit aber den ganzen Mist angerichtet haben, kann
dann doch nicht außen vor bleiben. Wenigstens mit einem Satz hätten Sie es erwähnen sollen.
({1})
Das bedeutete damals in großem Umfang Leiharbeit,
befristete Beschäftigung, Teilzeitarbeit, Aufstocker usw.
All das führte zu einer dramatischen Lohnsenkung in
Deutschland. Deutschland ist Weltmeister bei der
Lohnsenkung. Von den USA bis Norwegen gab es in den
letzten zehn Jahren Lohnsteigerungen von - inflationsbereinigt - 2,2 bis 25,1 Prozent. In Deutschland hatten
wir in den letzten zehn Jahren eine Lohnsenkung um
4,5 Prozent. Das ist die Wahrheit. Das gilt für Ihre gesamte Regierungszeit und natürlich auch für Ihre Regierungszeit, meine Damen und Herren von der Koalition.
Deshalb kann sich hier keine Fraktion außer unserer aus
der Verantwortung stehlen.
({2})
Diese Zahlenfeststellung kommt nicht von uns, sondern
von der Internationalen Arbeitsorganisation, der ILO,
die bei der UNO angesiedelt ist.
Zusätzlich haben SPD und Grüne das Rentenniveau
gesenkt, indem sie die Kohl’sche Rentenformel wieder
eingeführt haben. Dadurch ist das Rentenniveau deutlich
gesunken. Dann ist die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld gekürzt worden. Außerdem haben Sie über die Einführung von Hartz IV die Sozialleistungen reduziert.
Wir haben immer gesagt: Hartz IV muss weg, weil das
kein Weg ist, unsere Probleme zu lösen.
({3})
Das Ergebnis war, dass deutsche Produkte immer billiger wurden. Weil deutsche Produkte immer billiger
wurden, haben wir einen immer größeren Exportüberschuss erzielt, haben immer mehr in Länder wie Frankreich, Portugal, Spanien etc. exportiert.
({4})
Diese Länder konnten immer weniger zu uns exportieren. Dadurch ist ein makroökonomisches Ungleichgewicht entstanden, mit dem wir uns heute herumzuschlagen haben.
({5})
- Ich wusste, dass Sie denken, das habe mit dem Thema
nichts zu tun. Wenn Sie mich einladen, werde ich Ihnen
einmal erklären, warum das eine Menge mit dem Thema
zu tun hat, aber jetzt habe ich leider nicht die Zeit dafür.
({6})
Nur so viel noch: Der Binnenmarkt in Deutschland
ist über die Lohnsenkung, die Rentensenkung und die
Senkung der Sozialleistungen erheblich geschwächt
worden. Das ist völlig klar. Das ist das Ergebnis.
Jetzt verlangen Sie von Griechenland, von Spanien,
von Portugal, auch von Frankreich drastische Lohnsenkungen und Sozialkürzungen, und diese Länder gehen den Weg auch. Wenn Sie das aber durchsetzen, liebe
Union und liebe FDP - dafür setzen sich Frau Merkel
und die ganze Bundesregierung ein -, dann nehmen Sie
uns die Möglichkeit, dorthin so zu exportieren wie bisher; dann geht unser Export zurück. Somit gibt es nur
eine einzige Ausgleichsmöglichkeit: Wir müssen den
Binnenmarkt stärken.
({7})
Deshalb sage ich Ihnen: 2011 muss das Jahr von massiven Lohn- und Rentensteigerungen sowie von Erhöhungen der Sozialleistungen werden. Wer das verhindert, arbeitet nicht für, sondern gegen Europa, arbeitet
gegen den Euro, ist nicht nur unsozial, sondern schwächt
auch unsere eigene Wirtschaft, und zwar beachtlich. Die
Linke kämpft jetzt um Europa, während Sie Europa gefährden. Das ist die Wahrheit, mit der wir es heute zu tun
haben.
({8})
Auf einen Umstand wurde schon hingewiesen. Gerade dank der Linken im Senat von Berlin hat es eine
Klage gegeben, die bis zum Bundesarbeitsgericht gegangen ist. Dort ist jetzt entschieden worden, dass die
christlichen Gewerkschaften, die nichts anderes sind
als Krücken der Arbeitgeber, keine Tarifverträge schließen dürfen.
({9})
- Das hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt. Wenn
Sie es mir nicht glauben, dann lesen Sie sich das Urteil
durch.
Im Ergebnis sind alle diese Tarifverträge nichtig. Nun
muss es natürlich beachtliche Nachzahlungen an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie an die Sozialkassen geben. Ich bin gespannt, ob Union und FDP diese
Nachzahlungsforderungen unterstützen oder nicht. Ich
warte auf eine Äußerung von Ihnen.
Kommen wir aber zurück zur Leiharbeit. Sie ist 1972
unter Willy Brandt erfunden worden, aber damals mit
klaren Regelungen und als eindeutige Ausnahme. Dann
war es leider so, dass mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes durch Rot-Grün 2003 Folgendes passiert ist: Erklärt wurde, man wolle die Leiharbeit aus der Schmuddelecke herausholen. Dabei hat man sie allerdings so
schmutzig gemacht, dass sie heute an Sklaverei erinnert,
kann ich nur sagen.
Erstens haben Sie die Entfristung der Leiharbeit geregelt. Das heißt, Unternehmen können Leiharbeitskräfte
dauerhaft einsetzen. Das war die erste ganz erhebliche
Benachteiligung.
Zweitens haben SPD und Grüne die Aufhebung des
sogenannten Synchronisationsverbotes beschlossen.
Vorher durften Leiharbeitsfirmen Leiharbeiterinnen und
Leiharbeiter nicht nur dann beschäftigen, wenn sie für
sie einen Job hatten. Nun besteht für Leiharbeitsfirmen
nicht mehr die Pflicht, die Leute dauerhaft zu beschäftigen. Das heißt, eine Leiharbeitsfirma kann eine Leiharbeiterin einstellen und sagen: Immer wenn ich für dich
einen Job habe, bist du beschäftigt, wenn nicht, bist du
arbeitslos und bekommst von mir gar nichts. - Das war
vorher verboten. Sie haben dieses Verbot aufgehoben,
und seitdem haben wir mit der nicht dauerhaften Beschäftigung zu tun.
Das Dritte war die Öffnungsklausel. Sie haben geregelt, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter nicht nach
der von ihnen geleisteten Tätigkeit bezahlt werden müssen, sondern nach irgendeinem Tarif der Leiharbeitsfirma. Aber viele Leiharbeitsfirmen haben nicht einmal
einen Tarif. Das führt dazu, dass - was Frau Nahles zu
Recht kritisiert hat - Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter
oft nur 50 bis 70 Prozent des Lohnes bekommen, den ein
anderer im Unternehmen, der die gleiche Arbeit erledigt,
erhält.
({10})
Das ist doch ein einzigartiger Skandal!
({11})
Jeder bzw. jede achte Beschäftigte in Leiharbeit ist Aufstockerin oder Aufstocker und muss zum Sozialamt rennen. Das ist damals eingeführt worden, und das finden
Sie gut. Dazu hätte man seitens SPD und Grünen selbstkritisch etwas sagen müssen, finde ich.
Viertens haben Sie keine Drehtürregelung eingeführt. Das führte dazu, dass Schlecker Folgendes
machte: Schlecker entließ seine Beschäftigten und stellte
sie als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter gleich wieder
ein. Nun sagen auch Union und FDP, das gehe ihnen zu
weit. Auch Sie haben erkannt, dass es keine Drehtürregelung gibt, weshalb Schlecker seine Mitarbeiter entlassen und als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter wieder
einstellen kann. Aber was machen Sie? Ich habe mir
Ihren Gesetzentwurf angesehen. Sie schlagen vor, die
Wiedereinstellung für sechs Monate zu verbieten. Mit
anderen Worten: Sie sagen, dass Schlecker die Leute erst
nach sechs Monaten wieder einstellen darf. Das ist keine
Lösung des Problems.
({12})
Sie haben von einer dauerhaften Lösung gesprochen.
Dann regeln Sie das! Streichen Sie die Sechsmonatsfrist,
und verbieten Sie die Wiedereinstellung zur Leiharbeit
dauerhaft. Sonst ist das kein wirklicher Fortschritt.
Aber die Situation wird immer dramatischer. Im dritten Quartal 2010 entstanden nur 50 000 neue reguläre
Arbeitsplätze, aber 150 000 Leiharbeitsplätze. Da sehen
Sie, was die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes angerichtet hat: eine soziale Katastrophe.
Bei der Zahl der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter
nähern wir uns jetzt der Millionengrenze. Nun hat der
DGB einen neuen Tarifvertrag mit der Leiharbeitsbranche - mit denen, die da mitmachen; viele machen ja
nicht mit - geschlossen, in dem ein Mindesttarif West
von 7,79 Euro und ein Mindesttarif Ost von 6,89 Euro
festgeschrieben ist. Ich sage Ihnen ganz klar: Es ist ein
Skandal, dass 20 Jahre nach Herstellung der deutschen
Einheit ein geringerer Mindesttarif Ost als West vereinbart wird. Das sage ich ganz deutlich, auch den Gewerkschaften.
({13})
Nun haben die Gewerkschaften allerdings auch etwas
Positives erreicht. Sie haben nämlich in manchen Konzernbereichen durchgesetzt, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit auch für Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter
zu bezahlen ist. Aber das geschieht nur in Ausnahmefällen. In der Regel ist das nicht der Fall.
Nun erleben wir einen Streit zwischen Union und
FDP; das finde ich ganz interessant. Die Union schlägt
vor, im Entsendegesetz einen Mindesttarif zu regeln, und
zwar den von mir gerade angesprochenen. Das löst das
Problem aber überhaupt nicht; denn das bedeutet nicht,
dass der Ingenieur, der als Leiharbeiter in einem Unternehmen tätig ist, den gleichen Lohn bekommt wie ein
anderer Ingenieur, der dort die gleiche Arbeit macht. Sie
wollen ja nur einen Mindesttarif für die Leiharbeitsfirmen. Deshalb ist das keine wirkliche Lösung.
Die FDP - auch in meinem Alter muss ich sagen: man
höre und staune - schlägt ernsthaft vor, dass für den
Leiharbeiter der gleiche Lohn bezahlt wird wie für den
festen Mitarbeiter in dem Unternehmen.
({14})
Ich war völlig von den Socken.
({15})
- Moment! - Dann sagen Sie, dass das erst nach einer
bestimmten Frist der Fall sein soll, und die nennen Sie
noch nicht. Sie wissen natürlich, dass über die Hälfte der
Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter weniger als drei Monate tätig ist. Deshalb ahne ich, dass Sie irgendwie auf
drei oder vier Monate kommen. Sagen Sie doch einfach:
unbefristet. Das wäre ein guter Vorschlag.
({16})
Solange es Leiharbeit gibt, fordern wir sieben Dinge:
Erstens. Gleicher Lohn und gleiche Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit ohne Ausnahme vom ersten Arbeitstag an.
({17})
Zweitens. Zusätzlich soll an Leiharbeiterinnen und
Leiharbeiter wie in Frankreich eine Flexibilitätsprämie
von 10 Prozent gezahlt werden. Denn sie sind jeweils
nur befristet tätig und haben dann wieder stärkere Lohneinbußen. Weil die Leiharbeiterin oder der Leiharbeiter
für ein Unternehmen teurer ist, kann man damit auch
durchsetzen, dass die Unternehmen sie nur in Ausnahmesituationen beschäftigen, statt sie dafür zu nutzen, die
Stammbelegschaft im Lohn zu drücken, was wir gegenwärtig erleben.
({18})
Drittens wollen wir, dass die Leiharbeit auf drei Monate befristet wird. Wenn eine Firma eine Leiharbeiterin
oder einen Leiharbeiter länger beschäftigt, dann muss er
oder sie unbefristet eingestellt werden.
Viertens wollen wir eine Wiedereinführung des Synchronisationsverbotes. Damit wird verhindert, dass Leiharbeitskräfte nur für die Dauer eines Einsatzes bei der
Leiharbeitsfirma beschäftigt werden können. Wenn es
schon eine Leiharbeitsfirma gibt, dann muss sie die Beschäftigten unbefristet einstellen.
Fünftens wollen wir, dass die Betriebs- und Personalräte im Entleihbetrieb über ein zwingendes Mitbestimmungsrecht bei der Einsetzung von Leiharbeiterinnen
und Leiharbeitern verfügen.
({19})
Sechstens wollen wir - das ist ein kleines, aber sehr
wichtiges Detail -, dass die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, die in einem Unternehmen tätig sind, ein aktives Wahlrecht für dessen Betriebsrat erhalten. Sie müssen auch als Beschäftigte mitgezählt werden. Denn die
Größe des Betriebsrates hängt von der Zahl der Beschäftigten ab. Wenn ein Unternehmen dazu übergeht, 10 Prozent seiner Beschäftigten mit Leiharbeiterinnen und
Leiharbeitern zu bestreiten, dann ist auch der Betriebsrat
entsprechend kleiner. Das muss aufhören. Auch Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter müssen mitzählen.
({20})
Siebtens wollen wir zum 1. Mai einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland, der bis
spätestens 2013 bei 10 Euro pro Stunde liegen muss.
({21})
Ich sage Ihnen auch, warum: weil die Freizügigkeit der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf uns zukommt.
Hören Sie als Liberale zu! Wenn Sie dafür sorgen,
dass Unternehmen aus anderen Ländern hier zu sündhaften Billiglöhnen tätig werden, nehmen Sie den Menschen bei uns auf eine unmoralische Art und Weise die
Arbeitsplätze und schaffen die Voraussetzung für Rassismus und Ausländerfeindlichkeit. Wer das nicht will,
muss eine andere Lösung anstreben. Es wird höchste
Zeit. Dabei sind wir alle gemeinsam in der Verantwortung.
({22})
Damit komme ich zur SPD. Alle Forderungen, die Sie
heute vorbringen, sind völlig berechtigt, wobei ich mir
gewünscht hätte, dass Sie die unbefristete Einstellung
nicht erst nach einem Jahr, sondern schon nach drei Monaten und den gleichen Lohn nicht erst nach einem Monat, sondern gleich fordern.
Herr Kollege Gysi, Sie haben Ihre Redezeit weit überzogen.
Das ist sehr tragisch, aber es war notwendig.
({0})
Sie - die SPD - hätten allerdings zugeben müssen,
dass Sie das Ganze beschlossen haben. Wir bräuchten
Ihren Antrag gar nicht, wenn Sie es nicht seinerzeit eingeführt hätten. Aber immerhin: Ich darf es bedauern,
aber lassen Sie uns jetzt versuchen, es gemeinsam zu
überwinden.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist Vorweihnachtszeit, und ich will mit dem Verbindenden beginnen: Ich glaube, uns eint der Wunsch, Missbrauch bei der Zeitarbeit zu verhindern. Das will ich
auch für meine Fraktion feststellen. Das ist auch der
Grund, warum mit Unterstützung der Koalitionsfraktionen gestern im Kabinett ein Entwurf zur Novellierung
der Arbeitnehmerüberlassung vorgelegt wurde, in dem
zum Beispiel die schon erwähnte Drehtürklausel verankert ist. Das ist die Reaktion auf Vorkommnisse bei einer
großen Handelskette, die wir erleben mussten. Ich will
den Namen nicht nennen.
Wir alle haben sehr entschieden gesagt: So geht es
nicht. Das wird jetzt umgesetzt. Man konnte das deshalb
zeitlich etwas länger laufen lassen, weil die Tarifpartner
in der Branche zwischenzeitlich entschieden gehandelt
haben und der Problemdruck von dieser Seite gelöst
wurde.
Wenn ich sage, wir wollen Missbrauch bekämpfen,
dann schließe ich mich denen an, die heute Morgen
schon gesagt haben: Der Missbrauch ist erst dadurch
möglich geworden, dass die SPD und die SPD-Arbeitsminister zu Regierungszeiten glaubten, mit einer Öffnung der Leiharbeit einen wichtigen Beitrag leisten zu
können. Das unterscheidet uns auch aktuell von Ihnen:
Wir sind auch weiterhin der Meinung, dass die Zeitarbeit
ein wichtiges Flexibilitätsinstrument für unsere Wirtschaft ist. Sie muss aber auf den Kern zurückgeführt
werden, nämlich dass mit diesem Instrument befristete
Auftragslagen beantwortet werden sollen. Es kann nicht
darum gehen, Stammbelegschaften auf Dauer durch
Zeitarbeitnehmer zu ersetzen. Es kann genauso wenig
darum gehen, durch Zeitarbeit eine Lohndifferenzierung
nach unten vorzunehmen. Beides haben wir schon vor
Monaten sehr deutlich gesagt.
({0})
Frau Nahles, Sie wundern sich, dass die FDP das
Thema Equal Pay ins Gespräch gebracht hat. Das sollte
Sie aber nicht wundern; denn bei einem Blick ins Arbeitnehmerüberlassungsgesetz werden Sie feststellen, dass
Equal Pay dort schon heute der Regelfall ist. Die Abweichung hiervon durch Tarifvertrag, auch von SPD-Stimmen ins Bundesgesetzblatt hineingebracht, stellt die
Ausnahme dar. Die Frage lautet, inwieweit diese Ausnahme nachjustiert werden muss, um zu angemessenen
Ergebnissen zu kommen.
Ich bin anders als Sie, Herr Kollege Gysi, nicht der
Meinung, dass Equal Pay mit einer sehr kurzen Frist
- ich habe mich persönlich bislang noch nie zu einer
Frist geäußert - kommen müsste, und zwar aus folgenden Gründen: Zum einen entspricht es dem Charakter
der Zeitarbeit, dass man sie mit einer bestimmten zeitlichen Toleranz akzeptieren kann und akzeptieren muss.
Zum anderen muss auch die umfangreiche Ausbildungsleistung honoriert werden, die von Zeitarbeitsunternehmen in Deutschland geleistet wird. Das ist eine Ausbildungsleistung mit dem Ziel, zuvor arbeitslose Menschen
an den Arbeitsmarkt heranzuführen.
({1})
Wenn Sie in die Statistik schauen, stellen Sie fest, dass
es in sehr vielen Fällen auch gelingt, die Menschen aus
der Arbeitslosigkeit abzuholen und über die Zeitarbeit in
ein Arbeitsverhältnis im ersten Arbeitsmarkt zu bringen.
Ich bin der Meinung, dass man beim Thema Equal
Pay eine Aussage treffen muss. Auf eines will ich besonders hinweisen, weil das Thema Mindestlohn immer so
schnell genannt wird: Der Mindestlohn, Frau Kollegin
Nahles, ist im Kern eine Unternehmer-, eine Arbeitgebersicht. Die Arbeitnehmersicht hingegen ist die des
Equal Pay. Beim Mindestlohn geht es, auch wenn es arbeitnehmerfreundlich verbrämt wird, quasi darum, protektionistisch Märkte abzuschotten. Ich wundere mich
teilweise, wenn Verbandsvertreter sagen: Auch wenn nur
100 Leute über Zeitarbeitsverträge von Polen nach
Deutschland kämen, sei das bereits ein Riesenproblem.
Die gleichen Verbandsvertreter gehen aber ganz selbstverständlich davon aus, dass ihre Unternehmen grenzüberschreitend tätig sein dürfen, mit offenen Grenzen
und ohne Widerstände in den jeweiligen Empfängerländern.
({2})
Wenn wir über die Einordnung der Zeitarbeit im Kontext der arbeitsmarktpolitischen Instrumente reden
- also neben Vollzeitarbeit, neben Teilzeitarbeit, neben
befristeter Beschäftigung -, ist natürlich auch in den
Blick zu nehmen, dass dies die Kehrseite eines relativ
starken Kündigungsschutzes ist, den wir in Deutschland
haben, dass also Unternehmen mit Zeitarbeit reagieren
und sich sozusagen Flexibilität auf diesem Wege erkaufen.
Deswegen, Herr Kollege Gysi, kann es mich auch
nicht verwundern, wenn am Ende der Krise - Sie haben
ja Zahlen genannt - Unternehmen angesichts noch nicht
sicherer Auftragsreichweiten zunächst verstärkt auf dieses Instrument der Zeitarbeit einschwenken. Unser Ziel
muss sein, das will ich für die FDP-Fraktion -
Herr Kollege Kolb, ich muss Sie einmal unterbrechen. Der Kollege Ernst würde gern eine Zwischenfrage
stellen.
Das darf er natürlich gerne tun. Meine Redezeit wäre
sonst auch gleich zu Ende gewesen.
Die Redezeit wird angehalten, bis die Antwort durch
Sie erteilt ist.
Vielen Dank, Herr Dr. Kolb. - Ich habe zwei Fragen.
Erstens. Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass Sie
kritisieren, wie die Sozialdemokraten und die Grünen
eine Verschärfung dieser Leiharbeitsregelungen eingeführt haben. Mich würde aber interessieren: Welche Haltung hatte denn die FDP damals dazu? Mir ist nämlich
nicht bekannt, dass Sie sich vehement gegen diese Vorschläge gewehrt hätten. Soweit ich es in Erinnerung
habe, gingen Ihnen die Einschränkungen, die noch in
diesen Vorschlägen steckten, eher zu weit. Mich würde
interessieren, ob das richtig ist.
Zur zweiten Frage. Nach Ihrer Darstellung müsste es
so sein, dass Equal Pay am Anfang einer Beschäftigung
für einen bestimmten Zeitraum unterlaufen werden
könnte. Ist Ihnen bekannt - ich gehe davon aus, dass es
Ihnen bekannt ist, weil Sie selbst geschäftsführender Gesellschafter eines Unternehmen in der Metallindustrie
sind -, dass Neueingestellte in den Betrieben in der Regel noch nicht denselben Lohn wie alle anderen bekommen? Es gibt Einarbeitungsregelungen, einerseits in den
Tarifverträgen, andererseits in der betrieblichen Praxis
von Betrieben, in denen es keine Tarifverträge gibt. Deshalb die Frage: Wollen Sie mit Ihrem Vorschlag erreichen, dass Zeitarbeiter Löhne unterhalb der in den Betrieben vereinbarten Einarbeitungsstufe erhalten? Aus
Ihrer Darstellung folgt nämlich, dass Sie momentan kein
Equal Pay für alle wollen; wenn es Equal Pay für alle
gäbe, würde das auch für die Einarbeitungsstufen gelten,
die niedriger sind als die Tarifstufen derjenigen, die
schon länger im Betrieb beschäftigt sind.
Herr Kollege Ernst, zunächst einmal freue ich mich,
dass es mir auch heute gelungen ist, Sie zu einer Zwischenfrage zu reizen, auch wenn das der eine oder andere Kollege, der dringend zum Flughafen oder zur
Bahnhof muss, vielleicht anders sieht.
({0})
Ich will Ihre Frage gern beantworten.
Ich habe damals vermutlich auch zu den Gesetzesänderungen bei der Zeitarbeit geredet. Nach meiner Erinnerung habe ich damals das Gleiche wie heute gesagt:
Zeitarbeit ist ein wichtiges Flexibilitätsinstrument, das
nutzbar gemacht und gehalten werden muss. Das treibt
uns auch in der aktuellen Situation um; ich will das deutlich sagen. Es ist erkennbar, dass manche Stimmen in
diesem Haus von einer Bekämpfung des Missbrauchs in
der Zeitarbeit reden, aber in Wirklichkeit meinen, dass
die Zeitarbeit abgeschafft werden soll. Das wollen wir
ausdrücklich nicht. Ich habe damals wie heute gesagt:
Wir sind dafür, dass Zeitarbeit im Konzert der arbeitsmarktpolitischen Möglichkeiten eine wichtige Rolle
spielt.
({1})
Zweiter Punkt: die Einstellungssituation in den Unternehmen der Metallbranche. Wir müssen Equal Pay nicht
neu erfinden und nicht neu definieren. Es ist klar, was
Equal Pay bedeutet - das wird im Rahmen der Leiharbeitsrichtlinie längst umgesetzt -: Es bezieht sich auf
die Gewährung der wesentlichen Arbeitsbedingungen.
Das heißt, die Regelungen für die Stammbelegschaft
müssen nicht Buchstabe für Buchstabe auf Leiharbeiter
übertragen werden; aber einem Leiharbeiter müssen im
Wesentlichen die Arbeitsbedingungen gewährt werden,
die einem Mitarbeiter der Stammbelegschaft im Einsatzbetrieb unter vergleichbaren Bedingungen zu gewähren
wären.
Wenn sich die Tarifpartner der Branche darauf verständigt haben, für den Beginn eines Arbeitsverhältnisses eine besondere Vorschrift zu schaffen, dann würde
das nach meinem Verständnis und meiner Interpretation
der Leiharbeitsrichtlinie bedeuten, dass diese Vorschriften bei der Anwendung der „wesentlichen Arbeits- und
Beschäftigungsbedingungen“ zu berücksichtigen wären.
Das heißt, es müsste so gehandhabt werden, wie Sie es
beschrieben haben. Das würde dem entsprechen, was für
die Stammbelegschaften bzw. für neu in die Stammbelegschaft eintretende Mitarbeiter in den Unternehmen
der Metall- und Elektroindustrie gelten würde.
({2})
- Frau Kollegen Nahles, die Uhr läuft schon weiter.
Ich meine, wir sollten hier mit Augenmaß herangehen; das Struck’sche Gesetz gilt sicherlich auch für das
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und die Novellierung,
die jetzt vom Kabinett an den Bundestag herangetragen
worden ist. Ich bin sicher, dass wir uns hier in dem eingangs beschriebenen Gemeinsinn zusammensetzen und
schauen: Welche Justierungen sind notwendig, um die
Zeitarbeit auf Dauer so zu gestalten, dass sie kompatibel
ist und in der Gesellschaft akzeptiert wird? Darum geht
es uns im Wesentlichen: die Zeitarbeit nicht abschaffen,
sondern sie modernisieren, damit sie auch künftig den
Unternehmen zur Verfügung steht, aber nur für den
Zweck, für den sie gedacht war, nämlich für befristete,
nicht vollständig überschaubare Auftragslagen. Das
wollte ich Ihnen vor Weihnachten sagen.
Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest, eine ruhige Zeit zwischen den Jahren und alles Gute für 2011.
Ich bedanke mich.
({3})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Beate MüllerGemmeke vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich diskutieren wir heute über
den Antrag der SPD; aber es ist bekannt, dass die Opposition bei dem Thema Leiharbeit sehr nah beisammen ist
und weitgehend an einem Strang zieht. Im Mittelpunkt
der Forderungen steht: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
Das fordern auch wir Grünen, und zwar ohne Wenn und
Aber.
({0})
Sie von den Koalitionsfraktionen streiten aber noch
immer über eine Gesetzesvorlage, die Sie schon vor einem Jahr lautstark angekündigt haben. Im ersten Entwurf gab es noch eine Lohnuntergrenze, im zweiten Entwurf war sie schon wieder draußen. In dieser Woche hat
das Kabinett den dritten Entwurf beschlossen, aber weder eine Lohnuntergrenze noch Equal Pay sind geplant.
Die Regierung hat sich lediglich auf eine dürftige Regelung zum Drehtüreffekt und auf einige Anpassungen zur
europäischen Leiharbeitsrichtlinie einigen können.
Ministerin von der Leyen wird also weiterhin für einen
Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche streiten müssen.
Eine kurze Zeit lang - ich glaube, es waren nur wenige Stunden; Kollege Kolb, ich spreche Sie jetzt direkt
an - haben Sie signalisiert, dass die FDP einem Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche nicht im Weg stehen
würde.
({1})
Dann mussten Sie sehr schnell wieder zurückrudern. Auf
Ihrer Homepage steht jetzt wieder - ich glaube, Kollege
Vogel sagte es -, dass die FDP gegen einen Mindestlohn
ist. Beide Kollegen, Kolb und Vogel, wollen aber anscheinend das Equal Pay nach einer gewissen Frist was immer das heißen mag. Das ist wieder einmal
schwarz-gelbe Chaospolitik. Sie streiten, sie schachern
wie auf einem Basar, und zwar zulasten der Beschäftigten.
({2})
Eigentlich wäre es ganz einfach; denn wir brauchen
beides, und zwar einen Mindestlohn in der Leiharbeitsbranche als Untergrenze und für verleihfreie Zeiten sowie Equal Pay beim Einsatz im Betrieb.
({3})
Seit einem Jahr kündigen Sie an, dass Sie gegen den
Missbrauch in der Leiharbeit vorgehen wollen.
({4})
Sie haben aber nichts getan. Die Konsequenz ist: Nach
der Krise kommt jetzt im Aufschwung der neue Boom in
der Leiharbeit. Mittlerweile hat die Beschäftigung in der
Leiharbeit fast die Millionengrenze erreicht. Laut IG
Metall bewegt sich die Leiharbeitsquote in den Betrieben der Metall- und Elektroindustrie auf sehr hohem Niveau. Das bedeutet, dass in einer Schlüsselbranche der
deutschen Wirtschaft - machen Sie sich das schlichtweg
einmal deutlich - immer weniger sozialversicherungspflichtige Beschäftigte arbeiten. Eine Vielzahl von regulären Beschäftigungsverhältnissen ist durch Leiharbeit
ersetzt worden. Diese Entwicklung zeigt: Es entsteht
eine Zweiklassengesellschaft auf dem Arbeitsmarkt. Ich
finde, dieser Trend muss endlich gestoppt werden.
({5})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, auf diesem Ohr sind Sie aber taub.
Gleichzeitig sagen Sie ja immer, wir Grünen seien die
Dagegen-Partei.
({6})
Die Realität zeigt aber, dass Sie die Neinsager sind. Wir
sind für Equal Pay, die CDU/CSU ist aber dagegen. Wir
sind für einen Mindestlohn, die FDP ist aber dagegen.
Wir wollen die Leiharbeit auf ein sozialverträgliches
Maß begrenzen, Sie sind aber dagegen. Nicht bei den
Grünen sitzen die Neinsager, sondern in den Reihen der
Regierungsfraktionen.
({7})
Unbeirrt halten Sie daran fest, dass die Leiharbeit ein
wichtiges Instrument für die Wirtschaft ist. Herr Kolb,
Sie haben es gerade noch einmal gesagt. Aber was heißt
das eigentlich? Ich habe mal ein bisschen gegoogelt und
bin bei der Zeitarbeitsfirma ProFutura fündig geworden.
Dort wird der Vorteil der Leiharbeit sehr deutlich und
sehr klar beschrieben - ich zitiere -:
- Sie befreien sich von vielen Arbeitgeberpflichten
und -risiken
- Sie vermeiden konsequent Trennungsprobleme
({8})
- Sie erreichen eine Kostensenkung und wandeln
Fixkosten in variable Kosten
- Sie verschaffen sich durch optimale Personalbesetzung einen Wettbewerbsvorteil, der zu Ihrem
Unternehmenserfolg beiträgt
Wenn ich das lese, läuft es mir eiskalt den Rücken
runter. Wo leben wir eigentlich, wenn Menschen ausschließlich als variable Kosten und Wettbewerbsvorteil
bezeichnet werden? Wollen wir wirklich den Status als
Exportweltmeister mit Dumpinglöhnen erkaufen? Was
ist eigentlich noch der Wert der Arbeit bei uns hier in
Deutschland?
Für eine Sekretärin in einem Klinikum bedeutet Leiharbeit beispielsweise ganz konkret: Sie bekommt für die
gleiche Arbeit circa 500 Euro brutto weniger im Monat,
sie hat sechs Tage weniger Urlaub, bekommt kein Urlaubs- und Weihnachtsgeld und keine betriebliche Altersvorsorge. Wenn alle anderen Heiligabend und Silvester einen halben Tag frei haben, muss sie arbeiten.
Das ist kein Einzelfall. Die Leiharbeitskräfte sind Beschäftigte zweiter Klasse, die nicht nur schlechter verdienen, sondern auch weniger Rechte haben. Sie haben
deutlich weniger Planungssicherheit; denn für den Entleihbetrieb gilt der Kündigungsschutz nicht. Vor allem
sind sie aber zum Spielball der Unternehmen geworden.
Diese können durch die Leiharbeit einfach ihr betriebswirtschaftliches Risiko auf die Beschäftigen übertragen.
Schwächelt die Konjunktur, sind die Leiharbeitskräfte
die ersten, die hinausgeworfen werden und auf staatliche
Unterstützungsleistungen angewiesen sind. Diese Form
der Beschäftigung ist meiner Meinung nach nicht mit einer sozialen Marktwirtschaft zu vereinbaren. Sozial ist
nicht, was Arbeit schafft, sondern sozial ist, was gute
Arbeit schafft.
({9})
Kritikwürdig finde ich auch, dass die Bundesagentur
für Arbeit immer mehr in Leiharbeit vermittelt, und
dies, obwohl die meisten Leiharbeitskräfte - dabei geht
es um Singlehaushalte und nicht um Familien - zusätzlich ergänzendes Arbeitslosengeld II erhalten. Hier liegt
die Leiharbeitsbranche weit vor allen anderen Branchen.
Dennoch wirbt die Bundesagentur für Arbeit auf ihrer
Homepage dafür - ich zitiere nochmals -:
Wenn Ihnen der Einsatz bei verschiedenen Arbeitgebern und Branchen gefällt, können Sie die Zeitarbeit zu Ihrem Dauerjob machen.
Ich finde das zynisch. Die BA sollte ihren Job endlich
ernst nehmen und die Menschen in reguläre Beschäftigung vermitteln.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir Grünen
sind kritisch, aber auch selbstkritisch. Ich habe hier
schon einmal gesagt, dass die Reform der Leiharbeit unter Rot-Grün ein Fehler war. Fehlentwicklungen können
und müssen aber korrigiert werden. Die Verantwortung
dafür liegt jetzt leider nicht bei uns, sondern bei Ihnen,
bei den Regierungsfraktionen und der Bundesregierung.
Hören Sie von den Regierungsfraktionen endlich auf,
immer nur zu sagen, dass die Entwicklung durch RotGrün entstanden ist.
({10})
Lenken Sie damit nicht immer von Ihrer eigenen Verantwortung, von der Verantwortung der Regierungsfraktionen ab.
({11})
Auch die Argumentation, die ich immer wieder höre,
dass 1 Million Leiharbeitskräfte lediglich 3 Prozent der
Beschäftigten entsprechen, kann ich nicht gelten lassen.
Entscheidend sind die Dynamik in der Branche und die
Folgen auf dem Arbeitsmarkt, vor allem mit Blick auf
die Freizügigkeit. Der Schutz der arbeitenden Menschen und die soziale Gerechtigkeit gehen durch die
Leiharbeit immer mehr verloren. Die Wohlstandsversprechen der sozialen Wirtschaft, dass in Krisenzeiten
alle gleichermaßen abgesichert sind und am Wachstum
gerecht beteiligt werden, werden in der Realität immer
seltener eingelöst. Fairness und soziale Verantwortung
sehen für mich anders aus.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, nehmen Sie die Fakten endlich ernst.
Begreifen Sie endlich, dass es nicht nur um ein bisschen
Missbrauchsbekämpfung geht, sondern um viel mehr. Es
geht um einen grundsätzlichen Korrekturbedarf im Bereich der Leiharbeit. Kommen Sie zu Potte, und machen
Sie endlich den Weg frei für reguläre Beschäftigung und
faire Löhne.
Das ist nicht nur der Wunsch der Opposition, sondern
auch der Wunsch der Bevölkerung. Umfragen haben ergeben, dass 60 Prozent der Deutschen die Leiharbeit ablehnen und 87 Prozent die ungleiche Bezahlung für ungerecht halten. Gleiches Geld für gleiche Arbeit - das
entspricht dem Gerechtigkeitsgefühl der Menschen. Dies
sollte auch ein Zeichen für die Regierung sein.
({12})
Wenn die Meinung der Bevölkerung für Sie nicht
zählt, dann nehmen Sie doch wenigstens erfahrene Politiker aus den Reihen der CDU ernst, beispielsweise
Norbert Blüm, der Schirmherr der Initiative „Gleiche
Arbeit - Gleiches Geld“ ist. Seinen Einsatz begründet er
damit, dass das deutsche Wirtschaftswunder durch Innovation und Qualität entstanden ist und nicht durch Beschäftigung bei weniger Rechten und zu Dumpinglöhnen. Recht hat er. Unsere Gesellschaft ist nur tragfähig,
wenn möglichst viele Menschen einen Arbeitsplatz haben, bei dem sie so viel verdienen, dass sie davon leben
können - ohne staatliche Unterstützung -, und bei dem
sie die gleichen Rechte und die gleichen Sicherheiten haben wie alle anderen auch. Alles andere ist unsozial und
entspricht nicht der Würde des Menschen.
Zum Schluss möchte ich ganz kurz Norbert Blüm zitieren: „Made in Germany ist nicht der Begriff für billig!“
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Peter Tauber von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der Worte von Frau Nahles und Herrn
Gysi bin ich geneigt, mein Redemanuskript erst einmal
beiseitezulegen und auf zwei, drei Punkte einzugehen.
({0})
Eines ist unstreitig: Dort, wo es in der Zeitarbeit zu
Missbrauch kommt, besteht weitgehend Konsens, dass
wir das nicht wollen und gemeinsam überlegen müssen,
welche Schritte unternommen werden, um das künftig
zu unterbinden.
({1})
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, sage ich aber auch
- der Erfolg der Pädagogik liegt ja manchmal in der
Wiederholung -: Wir müssten uns mit diesem Problem
nicht herumschlagen, wenn Sie das damals unter RotGrün vernünftig geregelt und organisiert hätten. Das gehört zur Wahrheit. Das wollen wir an dieser Stelle noch
einmal deutlich sagen.
({2})
Noch eines kommt hinzu: Sie zeichnen ein Zerrbild
der Zeitarbeit, indem Sie Negativbeispiele aufzählen.
Dieses Zerrbild kann der Wirklichkeit nicht standhalten;
denn es gibt genauso viele Positivbeispiele. Sie versündigen sich an diesem arbeitsmarktpolitischen Instrument. Auch das will ich Ihnen an dieser Stelle sehr deutlich sagen.
({3})
Herr Gysi, wie weit Sie von der Wirklichkeit entfernt
sind, sieht man schon allein daran, dass Sie hier von Tausenden von Ingenieuren in Zeitarbeit schwadronieren,
die ausgebeutet und ausgenutzt werden. Sie wissen genau, dass der Anteil der Akademiker an den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Zeitarbeit deutlich
unter dem Bundesdurchschnitt liegt. Frau Nahles, natürlich trifft man in der Lufthansa-Lounge keine Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer.
({4})
Vielleicht kennen Sie auch zu wenige persönlich, um Positivbeispiele wahrzunehmen. Ich habe Freunde und Bekannte, die über das Instrument Zeitarbeit ein festes unbefristetes Arbeitsverhältnis bekommen haben. Sie sind
froh, dass sie diese Chance hatten, wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Deswegen ist es richtig, dass
wir an diesem arbeitsmarktpolitischen Instrument festhalten.
({5})
Sie wissen genauso gut wie wir, dass ein Großteil der
Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer vorher arbeitslos war und dass die Zeitarbeit ein erster Schritt in
ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis sein kann.
Zum sogenannten Klebeeffekt und dem, was damit zusammenhängt, brauche ich hier keine weiteren Ausführungen zu machen.
({6})
- Natürlich gibt es den. - Wir müssen darüber reden, wie
man das verbessern kann. Aber Sie können es nicht völlig vom Tisch wischen. Die Schwarz-Weiß-Malerei, die
Sie betreiben, wird der Wirklichkeit nicht gerecht.
Das kann man auch über den Antrag der SPD sagen.
Wenn wir Ihrem Antrag folgen würden, würde Zeitarbeit
in Deutschland zu einem völlig ineffektiven Instrument
werden. Dann könnten wir sie gleich abschaffen. Das
kann niemand ernsthaft wollen. Deswegen wird Ihr Antrag von uns zu Recht abgelehnt.
({7})
Die spannende Frage ist, was Sie machen, wenn wir
den Gesetzentwurf, den das Kabinett beschlossen hat,
auf den Weg bringen. Sie tragen den Fall Schlecker wie
eine Monstranz vor sich her und verallgemeinern ihn.
Werden Sie den Mut finden und zustimmen, wenn wir
das, was Sie hier wortreich beklagt haben, eindeutig regeln? Man muss deutlich sagen, dass Ihre Kritik an der
Ministerin aus meiner Sicht, ehrlich gesagt, ziemlich unpassend ist. Natürlich hat es etwas mit dem Handeln und
Auftreten der Ministerin zu tun, dass Schlecker angekündigt hat, diese Methode nicht weiter anzuwenden.
Darüber hinaus hat die Ministerin durch eine Personalaufstockung und eine weitere Verbesserung der internen Verfahren bei der Bundesagentur für Arbeit dafür
gesorgt, dass die Überwachung der Zeitarbeitsunternehmen verbessert wird. Sie werfen uns an dieser Stelle Untätigkeit vor, nachdem Sie selbst Verursacher dieses Problems sind. Hier legen Sie eine spannende Dialektik an
den Tag. Vielleicht sollten Sie einmal in den Spiegel
schauen.
({8})
Es ist richtig: Die christlich-liberale Koalition handelt. Wir machen ein Gesetz zur Verhinderung von Missbrauch der Arbeitnehmerüberlassung. Dieses Gesetz ist
eine kluge Lösung, durch die die Drehtürklausel ausgeschlossen, das Instrument Zeitarbeit aber weiterhin im
Portfolio gelassen wird, um Menschen auf diesem Weg
dauerhaft in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis
vermitteln zu können.
Hinzu kommt, dass wir damit eine EU-Richtlinie umsetzen. Wir setzen sie ein Jahr früher um, als es fristgemäß getan werden muss. Sie sind sehenden Auges in die
Katastrophe gelaufen, die der Kollege Weiß hier so treffend beschrieben hat. Auch das gehört zur Wahrheit. Das
müssen Sie sich an dieser Stelle von mir sehr deutlich sagen lassen.
Ansonsten bleibt es dabei: Dort, wo es Missbrauch
gibt, muss er bekämpft werden. Er muss auch beim Namen genannt werden. Das ist nicht das Problem. Ein
Zerrbild zu zeichnen, löst das Problem nicht, sondern
führt nur dazu, dass man die Chancen nicht im Blick
hält.
Wenn Sie uns bei der Bekämpfung des Missbrauchs
unterstützen, dann nehmen wir diese Unterstützung gern
an. Ich rufe Sie aber auch dazu auf, die Chancen zu erkennen und uns dabei ebenfalls zu begleiten. Das wären
ein vernünftiges Verhalten und eine vernünftige Regelung. Dazu laden wir Sie herzlich ein - nicht nur, weil
bald Weihnachten ist. Überlegen Sie sich das und machen Sie mit; denn die Zeitarbeit - dabei bleibe ich - ist
ein gutes Instrument, das wir intelligent nutzen müssen.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Anette Kramme von
der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es wird auf die Historie verwiesen. Herr Kolb
redet davon, Herr Weiß redet davon, Herr Dr. Tauber redet davon,
({0})
und ich habe ganz viel Verständnis dafür, dass Sie diese
Thematik auch ansprechen. Leider ist es so, dass gesetzgeberisches Handeln nicht immer fehlerfrei ist, und es ist
tatsächlich so, dass wir damals einer Fehleinschätzung
erlegen sind,
({1})
und ich denke, ich kann das sowohl für die SPD-Fraktion als auch für die Fraktion der Grünen sagen.
Allerdings geht es darum, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Das haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode versucht. Leider haben Sie blockiert. Sie
hätten jetzt die Chance, tatsächlich etwas zu machen.
Aber was für einen Gesetzentwurf legen Sie uns vor?
Sie legen uns einen Gesetzentwurf vor, den man als
nichts anderes als einen Bauchklatscher bezeichnen
kann: Es spritzt eindrucksvoll, aber tatsächlich tun der
Bauch und die Beine weh, es liegt eine komplette sportliche Fehlleistung vor.
({2})
Ihre Ministerin geht in die Standardrhetorik über. Sie
pflegt den Sommernachtstraum der Worte, spricht davon, dass man jetzt den tollen Flexibilitätspuffer habe,
aber leider ist es bei Frau von der Leyen immer das Gleiche: Der Sommernachtstraum der Worte wird zur Horror
Picture Show der Taten.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider lösen Sie mit
diesem Gesetzentwurf allenfalls ein Randproblem, das
Problem der Schlecker-Fälle.
({4})
Aber Sie lösen nicht das, was tatsächlich zentral im Bereich der Leiharbeit im Vordergrund steht: Sie gehen
nicht darauf ein, dass im Bereich der Leiharbeit nur
Niedrigstlöhne gezahlt werden.
({5})
Sie gehen nicht darauf ein, dass leider immer mehr
Stammarbeitnehmer verdrängt werden und eine zweite
Tarifvertragsstruktur in die Betriebe eingezogen wird.
Sie gehen nicht darauf ein, dass leider die Betriebszugehörigkeitszeiten von Leiharbeitnehmern völlig unzureichend sind, weil Arbeitsverträge befristet sind, und Sie
sind auch nicht bereit, Betriebsräten in den Entleiherund Verleiherbetrieben zu helfen.
Was macht Ihre Arbeitgeberministerin tatsächlich?
Sie sagt: „Das regeln wir irgendwann noch.“ Ihre Arbeitgeberministerin vertröstet, und das macht sie seit Monaten. Im März hat sie diese Thematik das erste Mal aufgegriffen. Im Mai hat sie auf dem Bundeskongress des
DGB versprochen, es gebe einen DGB-Mindestlohn.
({6})
Aber warme Worte helfen nicht. Warme Worte und kalte
Taten machen nämlich nicht satt, und den Satz „Ein Arbeitnehmer muss mindestens 8,50 Euro brutto die
Stunde erhalten“ kann Ihnen selbst der Hausmeister ins
Gesetz schreiben.
({7})
Der Reformbedarf bei der Leiharbeit ist allein anhand
der Fälle des letzten Jahres unübersehbar. Es gab die
Schlecker-Fälle einerseits, und es gab das Betonwerk
Westerwelle andererseits, bei dem Leiharbeitnehmer als
Streikbrecher eingesetzt worden sind. Es gab leider steigende Zahlen in der Leiharbeitsbranche. Auf den ersten
Blick könnte man sagen, das ist etwas, was schön ist.
Aber wenn die Wachstumslogik der Leiharbeitsbranche
ausschließlich auf Niedrigstlöhnen beruht und wenn die
Wachstumslogik der Leiharbeitsbranche darauf beruht,
Aufstockungszahlungen der Argen in Kauf zu nehmen,
dann ist das ein Wachstum, das wir nicht wollen.
Wir brauchen in der Leiharbeit vor allen Dingen vier
Dinge:
Erstens fordern wir gleiches Geld für gleiche Arbeit.
In unserem Antrag ist das so vorgesehen. Es gibt nur
eine winzige Ausnahme. Diese winzige Ausnahme ist
mehr als vertretbar. Wir sagen: Für eine erforderliche
Einarbeitungszeit - das gilt nicht für eine Zeit, die keine
Einarbeitungszeit ist - darf es für die Dauer von vier
Wochen eine Ausnahme geben. Aber das kann nicht
durch einen x-beliebigen Tarifvertrag passieren, sondern
das kann nur durch einen Tarifvertrag des Entleihers passieren; darüber hinaus muss das Schutzniveau des Leiharbeitnehmers gewahrt werden. Das heißt, man kann ihm
in dieser Zeit vielleicht 10 oder 15 Prozent des Lohnes
nehmen, aber dann muss man ihm an anderer Stelle
mehr zahlen.
Zweitens sagen wir: Ein Platz, ein Jahr. Wenn ein
Leiharbeitnehmer mehr als ein Jahr in einem Betrieb
beschäftigt ist, dann ist das keine lockere Affäre mehr,
sondern im Regelfall eine ernsthafte Beziehung. Bei
ernsthaften Beziehungen ist die Festanstellung im Entleiherbetrieb angebracht. Wir fordern an dieser Stelle
klar und deutlich: Es darf keine Synchronisierung von
Arbeitsverträgen der Leiharbeitnehmer und Einsätzen im
Verleiherbetrieb mehr geben.
({8})
Drittens sagen wir: Es darf keine Verträge von Fall
zu Fall geben. Das haben wir in unserem Antrag klar
und deutlich zum Ausdruck gebracht.
({9})
Viertens - ein allerletzter Punkt, der uns wichtig ist fordern wir: Leiharbeit muss klar mitbestimmt sein. Das
heißt zunächst einmal, dass die Leiharbeitnehmer bei der
Zahl der Vertreter im Betriebsrat und bei der Zahl der
Freistellungen mitberücksichtigt werden müssen. Vor allen Dingen wollen wir den Betriebsräten im Entleiherbetrieb ein echtes Mitbestimmungsrecht geben, ein Mitbestimmungsrecht, bei dem sie selber initiativ werden
können, bei dem Leiharbeit nicht einfach aufgedrückt
werden kann und bei dem am Ende im Zweifel eine Einigungsstelle steht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,
Weihnachtsgeschenke sollten Sie nicht nur den Reichen
in diesem Land, nicht nur der Atomwirtschaft, nicht nur
den Hoteliers und nicht nur den Unternehmern machen,
sondern auch den ganz normalen Leiharbeitnehmern und
Leiharbeitnehmerinnen in diesem Lande.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Kramme, gesetzgeberische Arbeit ist
nicht immer fehlerfrei; das ist sicher richtig. Aber bei aller Liebe: So leicht kommen Sie uns nicht davon. So zu
tun, als sei lediglich ein kleines Detail im Bereich der
Zeitarbeit anders gelaufen, als Sie es sich vorgestellt haben, das ist fernab der Realität.
({0})
Ich habe mir Ihre Begründung des Hartz-I-Gesetzes
angeschaut. Dort heißt es: Durch die „Aufhebung des
Synchronisationsverbots, des besonderen Befristungsverbots sowie des Wiedereinstellungsverbots“ wird die
Arbeitnehmerüberlassung „flexibilisiert“. - Das war genau das, was Sie wollten.
({1})
Das haben Sie auch bekommen. Jetzt können Sie nicht
so tun, als hätte sich nur ein kleines Detail anders entwickelt, als Sie es wollten.
({2})
Das ist unehrliche Politik, und das werden wir Ihnen
nicht durchgehen lassen, liebe Kollegen.
({3})
- Herr Ernst, Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen. Ich freue mich, wenn Sie meine vier Minuten Redezeit verlängern.
({4})
Der zweite Punkt. Sie haben gesagt, Sie wollten das
alles schon in der letzten Legislaturperiode korrigieren.
Was Sie uns jetzt vorlegen, ist die komplette Rückabwicklung der gesamten im Hartz-I-Gesetz vorgesehenen
Flexibilisierung der Zeitarbeit. In der letzten Legislaturperiode wollten Sie das aber nicht.
({5})
Da wollten Sie einen Mindestlohn einführen, den in
Deutschland nach meiner Auffassung niemand braucht;
Johannes Vogel ({6})
er ist nicht notwendig, weil es schon eine hundertprozentige Tarifbindung gibt. Das war das Einzige, was Sie
wollten. Von der Verbotsorgie, die Sie jetzt feiern wollen, war damals noch keine Rede.
Und daraus zimmern Sie sich Ihre Rechtfertigungen
auch zurecht. In Ihrem Antrag ist die Rede davon, es
würden in großem Stil Stammarbeitskräfte abgebaut und
Zeitarbeiter aufgebaut;
({7})
das habe ich eben auch von der Kollegin MüllerGemmeke von den Grünen gehört.
({8})
- Ich sage Ihnen, was ich mir anschaue.
Die Untersuchungen des IAB zitieren wir alle immer
gerne im Ausschuss. Wer hier jetzt behauptet, das sei
keine seriöse Quelle, der lügt. Das IAB hat im Bericht
2010 festgestellt, dass in 98 Prozent der Fälle Zeitarbeit
eben nicht dafür genutzt wird, Stammarbeitskräfte abzubauen, sondern zusätzliche Beschäftigung aufzubauen.
Also zimmern Sie sich nicht Ihre Rechtfertigung zusammen, wie es gerade passt, sondern bleiben Sie bitte bei
der Wahrheit.
({9})
Und wie sieht die Wahrheit aus? Was ist zu tun? Auch
die Koalition ist ja der Auffassung, dass sich bei der
Zeitarbeit etwas ändern muss. Nur sagen wir nicht, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in der Regierungszeit „schwarz“ und später in der Opposition „weiß“
oder umgekehrt.
({10})
- Bei uns ist immer alles blau-gelb, Herr Kollege Schaaf.
({11})
Wir fragen uns, welche Lösung für die Menschen
wirklich richtig ist.
({12})
Richtig ist in diesem Land, dass wir die Vorteile der
Zeitarbeit erhalten. Zwei Drittel der Zeitarbeiter waren
vorher langzeitarbeitslos. Für sie ist Zeitarbeit die
Chance für einen Einstieg in den Arbeitsmarkt.
({13})
Wir wollen die Flexibilisierung erhalten, auch die
Vorteile des deutschen Arbeitgebermodells, und echten
Missbrauch effektiv verhindern. Genau das macht diese
Koalition. Wie machen wir das? Wir sorgen mit der sogenannten Schlecker-Klausel im Gesetz dafür, dass solcher Missbrauch, wie wir ihn Anfang des Jahres bei
Schlecker erlebt haben, nicht mehr möglich ist. Und das
Struck’sche Gesetz wurde eben auch schon angesprochen. Ich bin mir sicher, dass wir nach diesem im weiteren parlamentarischen Verfahren zusammen mit den geschätzten Kolleginnen und Kollegen von der Union noch
eine Lösung finden werden, welche Änderungen darüber
hinaus noch notwendig sind.
({14})
- Frau Nahles, Sie hatten acht Jahre Zeit. Ich verstehe ja,
wenn Sie sagen - das ist Ihr gutes Recht -, Sie würden
sich das alles schneller wünschen, aber wir werden eine
gute Lösung finden.
({15})
Die gute Lösung sieht in meinen Augen so aus, dass wir
in der Tat Equal Pay nach Frist brauchen. Mehrfach
wurde gesagt, weil wir Equal Pay nicht ab dem ersten
Tag, sondern nach einer Frist wollten, sei das unehrlich
und wir würden es auch nicht wirklich wollen. Das ist
aber alles nicht zutreffend. Die Frage ist doch: Was wollen wir denn?
({16})
Wir wollen die Zeitarbeit als Flexibilitätsinstrument,
Frau Kollegin, und als Einstieg für Langzeitarbeitslose.
Wenn Leute nur für eine gewisse Zeit eingesetzt werden,
ist es okay - das ist ja der Sinn der Zeitarbeit -; denn die
Zeitarbeiter werden nach dem deutschen Arbeitgebermodell nach Tarif bezahlt, übrigens auch in verleihfreien
Zeiten. Genau das werden wir erhalten.
Missbrauch tritt ein, wenn jemand sehr lange in einem
Unternehmen ist und man sich die Frage stellen kann, ob
das möglicherweise nur deshalb der Fall ist, weil der Tariflohn für Zeitarbeit unter dem Tariflohn im Unternehmen liegt. Das wollen wir nicht. Das ist Missbrauch, den
wir effektiv verhindern werden. Deshalb schlägt die
FDP vor - und ich wette, wir werden uns als Koalition
zu einer klugen Lösung durchringen -, Equal Pay nach
Frist einzuführen.
Anders als Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, stellen wir uns dieser Aufgabe. Sie machen in
der Regierungszeit das eine und verkünden in der Opposition das genaue Gegenteil. Wir fragen: Was ist für die
Menschen richtig, und wo kann man Missbrauch effektiv verhindern?
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Ich wünsche noch nicht frohe Weihnachten, weil ich glaube, dass
wir uns bei der übernächsten Debatte hier im Plenum
alle noch einmal wiedersehen. Insofern: Bis gleich!
({17})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Heike Brehmer von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wilhelm von Humboldt schrieb einst: „Das
Arbeiten ist meinem Gefühl nach dem Menschen so gut
ein Bedürfnis als Essen und Schlafen.“ Dem dürften Sie
alle wohl gleichermaßen beipflichten.
Die Zeitarbeit hat in den letzten Jahren sehr viel für
die Eingliederung von Langzeitarbeitslosen, älteren Arbeitsuchenden und Geringqualifizierten in den ersten Arbeitsmarkt getan. Die Brückenfunktion der Zeitarbeit
ist Realität. Viele Langzeitarbeitslose haben durch Zeitarbeit eine Chance auf Eingliederung in das Erwerbsleben gefunden.
({0})
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat
in seinem Bericht „Weichen für den Aufschwung stellen“ dargestellt, dass Zeitarbeit für Arbeitslose häufig
ein Sprungbrett in reguläre Beschäftigung ist. Für Langzeitarbeitslose müssen Anreize geschaffen werden, so
der Industrie- und Handelskammertag weiter, damit sie
nicht länger auf staatliche Unterstützung angewiesen
sind.
In Deutschland haben nur etwa 2,25 Prozent der
41 Millionen Erwerbstätigen eine Tätigkeit in der Zeitarbeitsbranche, was ich im Übrigen hier erwähne, damit
die Größenverhältnisse in der Debatte gewahrt bleiben.
In der Branche arbeiten insgesamt ca. 923 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Unbestritten hat es unter den Zeitarbeitsunternehmen
schwarze Schafe gegeben. Der Fall Schlecker ist nur das
prominenteste Beispiel. Weil ein Unternehmen wie
Schlecker unter dem Deckmantel der Zeitarbeit versucht, Tarifverträge zu umgehen, kann aber nicht die gesamte Zeitarbeitsbranche verteufelt werden.
({1})
Durch Negativbeispiele wie Schlecker wird uns gezeigt, dass Unternehmen durch rot-grüne Fehler und
Nachlässigkeiten bei der Deregulierung der Arbeitnehmerüberlassung zu falschem Verhalten eingeladen wurden. Den Gewerkschaften und der Opposition dient der
Fall Schlecker als Steilvorlage. Reflexartig fordern sie
die Regulierung der Zeitarbeit, die Einführung eines
Mindestlohns und obendrauf die Erhöhung der Hartz-IVSätze und dass Arbeitslosengeld länger gezahlt wird.
Genau das ist aber der falsche Weg, um Menschen
wieder in Arbeit zu bringen. Das bedeutet, dass die
christlich-liberale Regierungskoalition erneut die Reparaturwerkstatt für rot-grüne Gesetze ist und auch bei der
Arbeitnehmerüberlassung nachbessern wird.
({2})
Ein allgemeinverbindlicher Mindestlohn wird von
den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften sowie
den Branchenverbänden der Zeitarbeit einhellig unterstützt. Unsere Bundesministerin Frau von der Leyen hat
einen Entwurf zur Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes vorgelegt, welcher in dieser Woche durch
das Kabinett beschlossen wurde. Unsere Ministerin hat
Wort gehalten, weil sie dem Missbrauch den Kampf angesagt hat.
({3})
Frau Kramme, wir sehen es Ihnen natürlich nach. Das
gilt für mich besonders, weil bald Weihnachten ist. Ich
kann das ja verstehen. Sie haben viele Jahre lang den Arbeits- und Sozialminister gestellt. Jetzt, da wir unsere
Ministerin haben, die es besser macht, kann man natürlich auch verärgert sein.
({4})
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, werden uns für Mindestlöhne in der Zeitarbeit und die Aufnahme der Zeitarbeit in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz einsetzen.
Durch die Drehtürklausel in dem vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung, den wir hier ja demnächst
noch behandeln, wird künftig ein Missbrauch nach dem
Modell Schlecker verhindert. Arbeitnehmer können
nicht mehr entlassen und genötigt werden, als Zeitarbeitnehmer zu schlechteren Bedingungen weiterzuarbeiten.
Vom Gleichstellungsgrundsatz abweichende Regelungen in Tarifverträgen können für sie nach dem Regierungsentwurf keine Anwendung mehr finden. Entleihende Unternehmen werden gesetzlich verpflichtet, in
ihrem Betrieb tätigen Zeitarbeitern Zugang zu den Belegschaftseinrichtungen und -diensten zu gewähren und
sie über freie Arbeitsplätze im Einsatzunternehmen zu
unterrichten.
Lassen Sie mich abschließend Folgendes sagen: Die
Rückkehr zur starken Regulierung der Zeitarbeit oder
ihre Abschaffung wäre angesichts der Erfolge am Arbeitsmarkt ein Schritt rückwärts; denn wer bei der Zeitarbeit das Rad zurückdreht, der nimmt nicht nur den
Schwächsten die Chance auf einen Einstieg in den Arbeitsmarkt, sondern der bremst auch die Entwicklung
auf dem Arbeitsmarkt und somit das Wachstum aus.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich glaube,
wir sehen uns nachher noch. Ansonsten wünsche ich Ihnen schon jetzt frohe Weihnachten.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele LösekrugMöller von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Brehmer, mit einem Punkt am Schluss Ihrer Rede haben
Sie recht: Einen Großteil unseres Erfolges und unseres
Aufschwungs verdanken wir den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, die zu unglaublich schlechten Bedingungen arbeiten, nämlich denen, die Leiharbeit machen. Denen verdanken wir unter anderem, dass unsere
wirtschaftliche Entwicklung so stabil ist. Ich finde, dafür
haben sie nicht nur Anerkennung in Form von warmen
Worten, sondern auch in Form von Taten verdient, durch
die respektiert wird, dass sie genauso viel leisten wie die,
die häufig doppelt so gut bezahlt werden. Das müssen
wir ändern.
({0})
Wir müssen nicht die gute Bezahlung ändern, aber der
Minderlohn für Leiharbeit muss weg. Deshalb sagen
wir: Mindestlohn ist das eine, aber Equal Pay ist unerlässlich, wenn wir mehr Gerechtigkeit in der Arbeitswelt
erreichen wollen. Das ist auch das Ziel, das wir mit unserem Antrag verfolgen.
Wir sind schon enttäuscht über den Gesetzentwurf,
den Sie, meine Damen und Herren von der Mehrheit dieses Hauses, hier vorlegen. Das ist nicht nur unwürdig für
Weihnachten, sondern dadurch erwecken Sie auch den
Eindruck, als gebe es Leiharbeit nur bei Schlecker und
als sei das Problem der Leiharbeit in Deutschland gelöst,
wenn man das Problem Schlecker löse. Nein, meine Damen und Herren, so ist es nicht. Hunderttausende von
Leiharbeiterinnen und Leiharbeitern hatten darauf gehofft, dass Sie die Wirklichkeit wahrnehmen, dass Sie
die Probleme erkennen und zu einer Lösung beitragen.
Das sehen wir leider nicht.
({1})
Sie sehen sich gezwungen, zu reagieren, weil Europa
schon mehr eingesehen hat als Sie. Sie verhandeln FDPintern und mit dem Koalitionspartner. Dazu kann ich nur
sagen: Gute Verhandlungen! Sie können sie sich sparen,
wenn Sie sich unsere Forderungen anschauen.
Mir ist heute noch etwas aufgefallen: Zu Recht sagen
Sie, Rot-Grün hat die Leiharbeit in einem Maße flexibilisiert, dass wir damit heute große Probleme haben. Ja,
diesen Fehler gestehen die Sozialdemokraten ein. Aber
wissen Sie, warum Sie immer darauf rekurrieren und
dann von „verlotterten Sitten“ sprechen? Das ist Ihre
Lieblingsformel, Herr Weiß.
({2})
Weil Sie eigentlich nichts zu bieten haben, um das zu ändern.
({3})
Gar nichts. Sie schauen zurück, weil es schäbig ist, was
Sie heute machen, und weil es keine Lösungen für morgen sind.
({4})
So viel zu den verlotterten Sitten.
Frau Lösekrug-Möller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Nein, die erlaube ich heute nicht. Ich will das auch
gern begründen, Herr Kollege Weiß. Sie hatten viele Minuten Zeit, Ihre Sichtweise vorzutragen. Sie haben sich
im Wesentlichen darauf beschränkt, uns zu beschimpfen.
({0})
Ich finde, davon haben wir heute genug gehört.
({1})
Ich möchte eher über die reden, denen es in der Leiharbeit nicht gut geht, Herr Weiß. Dazu will ich aus einer
Anhörung des Deutschen Bundestages im Juni zitieren.
Damals sagte jemand: Meine Werkskollegen an der gleichen Maschine bei gleicher Arbeit arbeiteten zum Lohn
von 17,50 Euro plus Schichtzulage, Leiharbeitslohn
6,42 Euro.
Dann geht es weiter: Wir mussten eine andere Kleidung tragen, wir mussten zum Beispiel für das Kantinenessen das Doppelte bezahlen, weil wir die Ermäßigung
nicht bekamen. - Das stelle man sich einmal vor! - Wir
durften die betriebseigenen Parkplätze nicht benutzen.
Das alles mögen Sie als Kleinigkeiten empfinden. Es
ist aber Ausdruck einer Diskriminierung von vielen Beschäftigten in Deutschland, mit der wir uns so nicht abfinden wollen.
({2})
Deshalb sagen wir, das muss sich ändern. Deshalb legen wir Wert darauf, dass ein Gesetz nicht nur irgendwie
europakonform wird, sondern dass es mit den Missständen deutlich aufräumt. Das ist unser Wille, und das ist
Inhalt unseres Antrags.
Eine Sache hat mich heute maßlos geärgert. Das ist
das Schönreden der Brückenfunktion. Mehrfach habe
ich gehört, wie wunderbar breit und sicher diese Brücke
ist. Hier wurde - Herr Vogel, wenn Sie aufhören, zu telefonieren, könnten Sie an meiner Rede teilhaben - gesagt,
wie wunderbar es klappt, dass man damit in den ersten
Arbeitsmarkt kommt.
Sie haben gesagt: Das IAB ist eine so verlässliche
Quelle. - Ja, das finde ich auch. Und was sagt das IAB
zu diesem Punkt? Es sagt, nur 5 Prozent können diese
Brücke erfolgreich nutzen.
({3})
Nur 5 Prozent. Was ist mit den anderen 95 Prozent?
({4})
Um diese kümmern Sie sich nicht gut genug.
Ich will Ihnen sagen, was ich noch prekär finde: Prekär finde ich, dass wir in der Leiharbeit sehr viele junge
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer finden. Wir haben
gestern beim Thema „Generation Praktikum“ darüber
gestritten. Wer beklagt, dass wir möglicherweise nicht
genug Fachkräfte haben, der sollte sich um die jungen
Leute kümmern, die gern unsere Fachkräfte sein wollen
und die wir schäbig behandeln, wenn wir sie in puncto
Leiharbeit weiterhin in einer so prekären Situation belassen.
In diesem Sinne wünsche ich allen eine schöne Bescherung.
({5})
Wie vermutet, drängt es den Kollegen Peter Weiß,
eine Kurzintervention abzugeben. Bitte denken Sie an
das Wort „kurz“.
Ja, danke. - Frau Kollegin Lösekrug-Möller, für eine
verlotterte Sitte im politischen System halte ich es, wenn
man in seiner Regierungsverantwortung ein Problem
schafft und anschließend, wenn man in der Opposition
ist, von den anderen fordert, das Problem zu beseitigen.
({0})
Zweitens war es so, dass während Ihrer Regierungszeit in der Zeitarbeit zum Teil dramatisch niedrige Löhne
gezahlt worden sind - verlotterte Sitten - und dass wir
jetzt zum ersten Mal einen flächendeckenden Mindestlohn in der Zeitarbeit in Deutschland haben, weil alle
vier Arbeitgeberverbände und alle Gewerkschaften sich
gemeinsam darauf verständigt haben. Das halte ich für
einen großen Fortschritt zugunsten der Leiharbeiterinnen
und Leiharbeiter in unserem Land.
Vielen Dank.
({1})
Bitte zur Erwiderung, auch kurz.
Selbstverständlich, Herr Präsident; das geht auch
ganz kurz, weil ich eine ganz einfache Antwort habe. Herr Kollege Weiß, in der letzten Legislaturperiode waren wir beide auch schon Mitglieder des Ausschusses für
Arbeit und Soziales. Ich kann mich nicht erinnern, dass
Sie in der letzten Legislatur die „verlotterten Sitten“ irgendwo kritisiert hätten. Sie gehören zu der Fraktion, die
dazu einfach nichts gemacht hat. Sie haben blockiert:
Jede Anregung, jede Initiative, die wir - ({0})
- Oh ja, so ist das. Sie müssen jetzt auch die Wahrheit
aushalten. Das kommt davon, wenn man meint, man
habe immer recht, und dann auch noch von verlotterten
Sitten spricht. Es geht um Gerechtigkeit; darum ringen
wir. Deshalb fordere ich Sie auf, sich bitte einmal an die
letzte Legislaturperiode zu erinnern. Vielleicht kehrt bei
Ihnen dann auch ein klein wenig Reue ein.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Lange von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Kollegin Nahles hat vorhin davon gesprochen,
({0})
der Arbeitsmarkt sei verkommen - nach elf Jahren SPDPolitik. Die parlamentarischen Sitten der SPD sind verkommen, wenn die erste Rednerin sich einfach in den
Weihnachtsurlaub verabschiedet, während wir dieses
Thema hier weiter diskutieren. Ich hätte ihr gerne noch
persönlich geantwortet.
({1})
- Wenn man geredet hat, sollte man jetzt auch hier sitzen.
({2})
Wir können jetzt gern darüber reden, wer wann Buße
tun soll und muss. Ich wünsche uns allen am Ende der
Rede ein gesegnetes, von Buße begleitetes Weihnachtsfest. Aber ich glaube, dass das Thema Zeitarbeit, das wir
ja nicht zum ersten Mal in dieser Legislaturperiode diskutieren, durchaus auch positive Signale hat. Nachdem
unsere Bundesarbeitsministerin vorhin einer Tarifpartei
zugeordnet wurde, muss ich sagen: Die unmissverständliche Aufforderung von Ursula von der Leyen nach der
Causa Schlecker an die Tarifparteien, zu handeln, hat zu
diesen neuen Tarifverträgen geführt.
({3})
Dies zeigt die Akzeptanz und die Kompetenz unserer
neuen Bundesarbeitsministerin.
({4})
Die neuen Tarifverträge - ich habe es gerade schon
angesprochen - mit Lohnuntergrenzen und einer Vermeidung des Drehtüreffekts zeigen aber auch die Stärke
unseres Tarifsystems. Dies zeigt, dass bei uns in
Deutschland Tarifautonomie funktioniert. Das ist die
Aussage dieses Jahres in der Zeitarbeit.
({5})
Kollegin Kramme, wenn Sie vorhin von großem Reformbedarf gesprochen haben, dann ist das richtig. Die
christlich-liberale Koalition ist eine große Korrekturwerkstatt der von Rot-Grün geschaffenen Missbrauchsmöglichkeiten. Nur eines lassen wir auch nicht durchgehen: den Grundgedanken der Zeitarbeit grundsätzlich
zu verteufeln.
({6})
- Natürlich machen Sie es. So wie Sie sie ausgestalten
wollen, ist Zeitarbeit nicht mehr möglich.
Eines ist nämlich genauso richtig: Im Prinzip liegt der
seriösen Zeitarbeit eine richtige Idee zugrunde.
({7})
Dass wir gegen schwarze Schafe vorgehen, Missbrauch
bekämpfen und ein faires System brauchen, darin sind
wir uns einig. Dazu bedarf es aber weder einer Jahresschlusspanikdebatte, als welche ich sie heute empfinde,
noch eines Schaulaufens der SPD. Wenn Sie etwas
durchsetzen wollen, dann zeigen Sie Stärke. Ich frage
Sie dann, wie tarifmächtig oder koalitionsmächtig Sie
sind.
Ich habe eigentlich auf die Einwechslung Ihres Superstars gewartet. Aber Ihr Superstar, der eine Zeit lang da
war, kommt wahrscheinlich nicht mehr zurück.
({8})
- Es ist doch Ihr Antrag, Frau Mast. Dann sorgen Sie
auch dafür, dass Ihre Kollegen da sind.
({9})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
die gänzliche Abkehr von der Agenda 2010 bedeutet die
Verabschiedung aus der Verantwortung. Sie verabschieden sich, wir übernehmen die Verantwortung. Wir haben
die Verantwortung mit Erfolg übernommen. Ein Rückgang der Arbeitslosenzahl von 5 Millionen auf 2,9 Millionen - das ist die Bilanz der christlich-liberalen Koalition im ersten Jahr.
({10})
Wir alle wissen, dass der 1. Mai 2011 für die Zeitarbeit kein Tag der Arbeit wie jeder andere ist, sondern
dass ab dann die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit mit all
ihren Auswirkungen gilt. Aber wir werden im europäischen Kontext die Angelegenheit regeln und im Auge
behalten. Wir stehen für Schutz vor dem Drehtüreffekt.
Wir stehen für den Schutz der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer im Rahmen der Freizügigkeit. Wir stehen
für die Umsetzung der EU-Richtlinie. Wir stehen aber
auch für den Erhalt der Zeitarbeit als eigenständige
Branche und damit für Flexibilität, für die Brückenfunktion und für eine zeitweise Abweichung vom Prinzip des
Equal Pay.
Wir, die christlich-liberale Koalition mit unserer Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen an der Spitze,
({11})
werden der Zeitarbeit im Jahr 2011 ein neues, gesellschaftsfähiges, an die Arbeitswirklichkeit angepasstes,
chancenoffenes und faires Gesicht geben.
({12})
In diesem Sinne wünsche ich schon jetzt - ich werde
heute nicht mehr reden - von dieser Stelle aus gesegnete
Weihnachten und alles Gute. Ich freue mich auf die Debatten im Jahre 2011.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, fast habe
ich gedacht, als ich Ihren Antrag gelesen habe, dass die
Welt nicht mehr stimmt. Wo bleibt denn Ihr sozial- und
arbeitsmarktpolitischer Kultschlager? Aber dann, nach
acht langen Seiten, fand er sich in den letzten Zeilen
doch, die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, so wie
Sie nicht müde werden - egal bei welchem Antrag zu
den Debatten über die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik -,
einen flächendeckenden und branchenübergreifenden
Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro zu fordern, so
werde auch ich nicht müde werden, Ihnen die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dieser christlich-liberalen Koalition zu erläutern. Wir als christlich-liberale Koalition
sind angetreten, um den Menschen, die arbeitslos sind,
den Sprung in die Erwerbstätigkeit zu erleichtern und die
Menschen, die einen Arbeitsplatz haben, zu unterstützen, ihren Arbeitsplatz zu behalten. Dass wir als christlich-liberale Koalition da außerordentlich erfolgreich
sind, zeigen die aktuellen Arbeitsmarktdaten beindruckend.
Nun fordern Sie auch in dem vorliegenden Antrag einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro. Wir lehnen diesen auch deshalb ab, weil seriöse wissenschaftliche Studien zumindest zu bedenken geben, dass das negative
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben könnte. Bei
einem Stundenlohn in Höhe von 8,50 Euro könnten bis
zu 1,2 Millionen - nach bestimmten Studien sogar bis zu
2 Millionen Arbeitsplätze - gefährdet sein.
({1})
Aber das ist genau das Gegenteil von dem, was wir wollen. Wir wollen keine Arbeitsplätze gefährden. Vielmehr
wollen wir, dass die Menschen in Erwerbstätigkeit kommen und in Erwerbstätigkeit bleiben.
({2})
Auch der Ihnen und den Gewerkschaften nahestehende
Wirtschaftsweise Peter Bofinger warnt vor einem Mindestlohn von über 5 Euro.
Wir wollen, dass die Menschen in Arbeit bleiben oder
den Sprung in die Erwerbstätigkeit schaffen. In diesem
Zusammenhang muss man erwähnen, dass die Zeitarbeit
bisher ein wichtiges - ja, so kann man es nennen - arbeitsmarktpolitisches Instrument gewesen ist. Selbst die
gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung gibt zu, dass
15 Prozent der Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer in den Betrieben, in die sie entliehen werden, einen dauerhaften Arbeitsplatz finden. Andere Studien gehen sogar von weit höheren Zahlen - von bis zu
25 Prozent - aus. Dann gibt es noch bis zu 20 Prozent,
die in anderen Betrieben einen Arbeitsplatz finden. Das
zeigt eindeutig, dass die Zeitarbeit ein wirksames Instrument ist, um Menschen in Beschäftigung zu bringen und
ihnen eine Erwerbstätigkeit zu ermöglichen.
62,2 Prozent der Zeitarbeiternehmerinnen und Zeitarbeitnehmer waren zuvor arbeitslos, 11,4 Prozent haben
zuvor sogar nie gearbeitet. Das zeigt sehr deutlich, wie
wichtig das Instrument der Zeitarbeit ist. Wir von der
christlich-liberalen Koalition werden selbstverständlich
alle Schritte der Bundesregierung unterstützen, um
Missbrauch in der Zeitarbeitsbranche zu verhindern.
Aber wir werden auch dafür Sorge tragen, dass dieses
sehr wichtige Instrument auf unserem Arbeitsmarkt
nicht durch unsachgemäße Anträge von Ihnen kaputtgemacht wird.
({3})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt die Kollegin Gitta Connemann von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
heute einmal mehr über die Zeitarbeit in Deutschland.
Das ist sicherlich ein Thema, an dem sich die Geister
scheiden, und eine Debatte, bei der sich die Gemüter erhitzen. Das haben wir heute einmal mehr erlebt.
Dennoch glaube ich mit Blick auf die Begrifflichkeiten, die hier verwendet worden sind - von Ausländerfeindlichkeit über Rassismus bis hin zur Niedriglohnreserve -, dass Sie in dieser Debatte den Menschen, die in
der Zeitarbeitsbranche arbeiten, nicht gerecht geworden
sind.
({0})
Das sind immerhin mehr als 800 000 Menschen in
Deutschland. Liebe Frau Müller-Gemmeke und lieber
Herr Gysi, ich bitte Sie, endlich einmal zur Kenntnis zu
nehmen, dass diese Menschen in einem regulären Arbeitsverhältnis stehen.
({1})
Zeitarbeit ist eine Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt. Ein Zeitarbeitnehmer ist bei einem Zeitarbeitsunternehmen beschäftigt und wird lediglich an unterschiedlichen Arbeitsorten eingesetzt. Er befindet sich in
einem ganz normalen, regulären Arbeitsverhältnis mit
regulären Arbeitnehmerrechten.
({2})
Er hat Anspruch auf Urlaub, Entgeltfortzahlung im
Krankheitsfall und genießt Kündigungsschutz, genau
wie jeder andere Arbeitnehmer auch. Ich würde Sie bitten, das endlich zur Kenntnis zu nehmen.
({3})
Die gesamte Debatte ist durchzogen von Ideologie,
Klischees und Vorurteilen, die nicht der Wirklichkeit
und der Wahrheit entsprechen. Das war anders, als Sie
2003 das Gesetz, über das wir heute sprechen, geschaffen haben. Damals hatten Sie drei Ziele. Die Bundesregierung hat jetzt bei der Vorlage ihres Gesetzentwurfes
geprüft, ob genau diese Ziele erreicht worden sind. Daran hat sie gut getan, denn es geht nicht um Vorurteile,
sondern um Zahlen und Fakten.
Das erste Ziel, das Sie, meine Damen und Herren von
Rot und Grün, erreichen wollten, war die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze. Heute können wir sagen: Ja, genau das hat die Zeitarbeit erreicht.
({4})
Im Januar 2004 gab es 326 000 Zeitarbeitnehmer, heute
sind es um die 800 000 Zeitarbeitnehmer. Es geht dabei
um reguläre Arbeitsplätze, und zwar um neue Arbeitsplätze.
Liebe Frau Kramme, Sie sagen, wir würden nicht darauf eingehen, dass Stammarbeitsplätze verdrängt worden sind. Das tun wir in der Tat nicht, und zwar deshalb,
weil diese Behauptung falsch ist. Nehmen Sie bitte zur
Kenntnis, dass die Zeitarbeit nur bei 2 Prozent der Betriebe dazu geführt hat, dass Stammarbeitsplätze abgeGitta Connemann
schafft worden sind. Bei 98 Prozent der Betriebe ist das
nicht geschehen. Die Zeitarbeit hat also erheblich dazu
beigetragen, den Arbeitsmarkt in Deutschland zu verbessern. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!
({5})
Das zweite Ziel, das Sie erreichen wollten, war es,
Brücken in den ersten Arbeitsmarkt zu schlagen. Genau
das hat die Zeitarbeit geleistet. Nehmen Sie bitte auch
zur Kenntnis, dass 62 Prozent der Beschäftigten, die neu
eingestellt worden sind, vorher ohne Beschäftigung gewesen sind. Von diesen Menschen sind übrigens
32 Prozent ohne Berufsausbildung oder Abschluss. Das
sind Menschen, die sonst keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Wir sind nicht bereit, zuzulassen, dass ihnen diese Chance durch Ihr Handeln kaputtgemacht
wird.
({6})
Das dritte Ziel war: Die Unternehmen sollen einen
Flexibilitätspuffer erhalten. Genau das hat die Zeitarbeit bewirkt. Die Zahlen besagen, dass 50 Prozent der
Einsätze kürzer als drei Monate sind. Unter dem Strich
wird damit die Zeitarbeit genau für die Fälle gebraucht,
für die sie gedacht war, nämlich für Auftragsspitzen und
Auslastungsschwankungen.
({7})
Die Bilanz zeigt: Die Zeitarbeit hat positive Effekte.
Daran ändert die aktuelle Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts nichts; denn diese hat nur die Tariffähigkeit
einer einzigen Gewerkschaft, aber nicht das Instrument
der Zeitarbeit zum Gegenstand. Zur Zeitarbeit wird darin
nichts gesagt, und dazu könnte darin auch nichts gesagt
werden. An der Zeitarbeit ist nichts zu bemängeln. Auf
dieser Grundannahme beruht der Gesetzentwurf der
Bundesregierung.
Dazu hat die SPD in einer Nacht-und-Nebel-Aktion
in dieser Woche einen neuen Antrag vorgelegt.
({8})
Zu diesem Antrag lässt sich sagen: Er ist überholt. Sie
fordern zu Recht zum Beispiel eine Umsetzung der EULeiharbeitsrichtlinie. Wenn Sie in den Gesetzentwurf der
Bundesregierung geschaut hätten, dann hätten Sie festgestellt, dass das darin steht. Einfach einmal den Gesetzentwurf lesen!
({9})
Darin steht unter anderem, dass Zeitarbeitnehmer Zugang zu Gemeinschafteinrichtungen der Einsatzbetriebe
erhalten sollen.
Wenn Sie sich mit der Gesetzeslage auseinandergesetzt hätten, wüssten Sie auch, dass schon heute Fakt ist,
was Sie fordern, nämlich dass auch Zeitarbeitnehmer
Betriebsräte wählen können. Unterhalten Sie sich einmal
mit der Firma Randstad! Da sind mehr als 50 Mitarbeiter
als Betriebsräte freigestellt. Nehmen Sie doch einfach
die Wirklichkeit zur Kenntnis und zeichnen Sie hier
nicht so ein verzerrtes Bild!
({10})
Zu Ihrer Begrifflichkeit. „Dumpinglöhne“ ist bei Ihnen ein sehr beliebter Begriff, wenn es um die Zeitarbeit
geht.
({11})
Mich erschüttert an dieser Stelle besonders, dass Sie in
Ihrem Antrag von Menschen als „Niedriglohn-Reserve“
sprechen.
({12})
Ich persönlich verwahre mich dagegen, dass Menschen,
die hart arbeiten, von Ihnen als „Niedriglohn-Reserve“
klassifiziert und disqualifiziert werden. Das ist einfach
nur unanständig.
({13})
Wenn wir auf die Lohnhöhen zu sprechen kommen
wollen, bitte ich Sie einfach, das Tarifgefüge zur Kenntnis zu nehmen.
({14})
Die Tarifabschlüsse, die heute einen deckungsgleichen
Tariflohn festlegen, sind von uns allen völlig zu Recht
begrüßt worden. Aber nehmen Sie bitte auch zur Kenntnis, dass der Tariflohn in der untersten Lohngruppe für
ungelernte Arbeiter in der Zeitarbeitsbranche heute bei
6,40 Euro im Osten und 7,60 Euro im Westen liegt. Ich
betone: ungelernte Arbeiter, unterste Lohngruppe.
Schauen wir doch einmal über den Tellerrand, in andere Branchen. Sie wiederholen immer monoton, in der
Zeitarbeitsbranche würde schlechter bezahlt als in anderen Branchen. Das ist schlichtweg nicht der Fall.
({15})
Ich darf nur einige wenige Tarifabschlüsse der letzten
Monate nennen. Unter anderem hat die IG Metall im
Januar 2010 in der Pfalz, übrigens ein SPD-geführtes
Land, einen Tarifvertrag für die Bekleidungsindustrie
mit einer untersten Lohngruppe von 6,18 Euro abgeschlossen. Das liegt bei fast 1,50 Euro unter dem entsprechenden Lohn in der Zeitarbeitsbranche.
({16})
Ich nenne weiter den Einzelhandel in Bremen. Da hat
der DGB einen Tarifvertrag mit einer untersten Lohngruppe von 7,37 Euro abgeschlossen. Für das nordrheinwestfälische Fleischerhandwerk wurde ein Tarifvertrag
mit 6,45 Euro abgeschlossen.
({17})
Ich könnte weitere nennen. Es sind alles Tarifverträge,
die aktuell vom DGB, von der IG Metall oder von Verdi
abgeschlossen worden sind.
In allen diesen Betrieben werden Zeitarbeitnehmer
eingesetzt. Ihre Forderung nach Equal Pay würde für
diese Arbeitnehmer bedeuten, dass sie in der untersten
Lohngruppe nicht mehr 7,60 Euro, sondern eben zum
Beispiel nur noch 6,18 Euro bekommen. Das ist die
Wirklichkeit. Auch das muss an dieser Stelle einmal gesagt werden.
({18})
Das ist das Gefährliche bei Forderungen zum Beispiel
nach einem undifferenzierten Equal Pay. Man sollte differenzieren, und genau das wird beispielsweise mit dem
Gesetzentwurf der Bundesregierung getan. Das Einzige,
was mir an Ihrem Antrag wirklich gefällt, ist die Überschrift: „Missbrauch der Leiharbeit verhindern“. Das
wollen auch wir. Im Gegensatz zu Ihnen tun wir das
auch,
({19})
indem wir jetzt einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem
wir Fällen wie zum Beispiel Schlecker und Schleckers
Genossen entgegentreten. Ich finde, dass der Fall der
AWO, der heute hier von Peter Weiß präsentiert worden
ist, einem den Atem stocken lassen kann. Aber ich habe
von Ihnen immer noch nichts in Bezug auf Ihre Beteiligung an Medienverlagen gehört, die genau das machen,
was Sie hier kritisieren. Da stehen Sie persönlich in der
Verantwortung. Ich würde mir wünschen, dass Sie sich
dieser Verantwortung endlich stellen.
({20})
Nicht nur schöne Worte, sondern gute Taten sind entscheidend. Genau dafür stehen wir mit diesem Gesetzentwurf. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Stimmen Sie
einfach zu!
({21})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4189 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 38 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
der Vorschriften zum begünstigten Flächenerwerb nach § 3 des Ausgleichsleistungsgesetzes und der Flächenerwerbsverordnung
({0})
- Drucksache 17/3183 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
- Drucksache 17/4236 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Brackmann
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Dazu liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner Norbert Brackmann von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen
wir endlich Gerechtigkeit für die Menschen schaffen, die
zwischen 1945 und 1949 durch die Bodenreform in der
damaligen sowjetisch besetzten Zone enteignet wurden.
({0})
Warum beschäftigt uns das heute noch? Nach der
Wiedervereinigung 1990 sind diese Flächen, die damals
enteignet wurden, in einem Flächenpool des Bundes zusammengeführt worden. Es hat dann sehr schwierige gesellschaftspolitische, damals auch agrarpolitische - das
ist heute nicht unser Thema ({1})
und auch allgemeinpolitische Diskussionen gegeben.
Bund und Länder haben seinerzeit den Kompromiss gefunden, einen begünstigten Flächenerwerb für die Alteigentümer vorzusehen.
Damals wurde durch Gesetz festgelegt, dass die Alteigentümer nach einem komplizierten Berechnungsverfahren circa 34 Hektar begünstigt erwerben können sollten.
Viele, die meisten, gingen damals davon aus, dass das
ganze Verfahren nach vier, fünf, spätestens zehn Jahren
beendet sein würde; denn man wollte 2005, nach 50 Jahren, endlich den Rechtsfrieden in Deutschland wiederhergestellt haben.
Heute schreiben wir das Jahr 2010, und nach wie vor
sind Tausende von Ausgleichsleistungsbescheiden von
den Landesbehörden in den neuen Ländern unbearbeitet
geblieben. Alles spricht dafür, dass es ausschließlich
politische Gründe waren, weshalb das Gesetz nicht mit
dem nötigen Nachdruck umgesetzt wurde. Die Sachverständigenanhörung hat gezeigt, dass es sachliche Gründe
für eine solche Verzögerung nicht gegeben hat. Das ist
ein wirklicher Skandal;
({2})
denn diese Form der Behördenwillkür hat eine schleichende Enteignung der Alteigentümer zur Folge.
1999 hat die damalige rot-grüne Bundesregierung die
Ausgleichsleistung an die Bodenpreise gekoppelt, sodass die Alteigentümer heute im Durchschnitt keine 34,
keine 24, oft nicht einmal 14 Hektar erwerben können.
Das liegt daran, dass die Ausgleichsbescheide die
Grundlage für den Flächenerwerb sind. Mit dem Bescheid kann sich der Alteigentümer an die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH wenden und aus dem
Flächenpool Grund und Boden im Wert des im Bescheid
genannten Betrages erwerben. Genau diese Bescheide
wurden aber von den Landesbehörden extrem schleppend erteilt, mit der Auswirkung, dass bei seit 2004 verdoppelten Bodenpreisen heute im Durchschnitt nur noch
die Hälfte der Fläche erworben werden kann.
Durch die gewaltigen Verzögerungen bei der Ausgleichsbescheidung stehen die Betroffenen nun vor einem großen Problem, für das sie selbst nichts können.
Wir schließen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
diese Gerechtigkeitslücke.
({3})
Wir führen damit nicht mehr und nicht weniger als vier
Regelungen ein. Ich betone das, weil ich weiß, dass hier
wieder eine ganz andere Debatte angestoßen werden
soll.
Erstens führen wir eine Stichtagsregelung ein. Als
Stichtag ist der 1. Januar 2004 vorgesehen. Das heißt,
der Kaufpreis für begünstigt zu erwerbende Flächen
wird anhand der zum 1. Januar 2004 geltenden Bodenpreise berechnet. Damit stellen wir sicher, dass Behörden diesen Anspruch nicht mehr durch Verschleppung
mindern können, weil er auf der Basis von 2004 erhalten
bleibt.
({4})
Zweitens. Im Sinne einer Gleichbehandlung aller Betroffenen wird die Stichtagsregelung auch auf bereits geschlossene Kaufverträge ausgedehnt. Damit erhalten
diejenigen, die in den letzten Jahren einen Vertrauensschutz erworben haben, eine rückwirkende Erwerbsmöglichkeit.
Drittens. Wir beenden die umstrittene Praxis, einseitig
nach Abschluss des Kaufvertrages noch Sachverständigengutachten einzuholen, sodass man bei Abschluss des
Kaufvertrages nicht weiß, wie viel Geld man letztlich zu
bezahlen hat, indem wir die veröffentlichten Wertansätze
für Ackerland und Grünland zugrunde legen. Das trägt
zudem zur Entbürokratisierung bei, weil es keinen riesigen Aufwand erfordert, und es schafft größere Sicherheit
für alle Beteiligten.
({5})
Darüber hinaus haben wir viertens eine Erweiterung
der Möglichkeiten zur Übertragung des Erbrechts auf
Verwandte vorgesehen; denn durch die eingetretenen
Verzögerungen ist in vielen Fällen die erste oder zweite
Generation nicht mehr vertreten. Erbrecht gilt für alle.
Dabei darf es keine Unterschiede geben.
({6})
Die christlich-liberale Koalition löst mit dem Gesetzentwurf ein Versprechen ein, das der Bund und die Länder gemeinsam 1994 gegeben haben. Es ist unverantwortlich und töricht, wenn jetzt von der SPD und von
den Linken die berechtigten Interessen der Alteigentümer auf Wiedergutmachung durch eine Neiddebatte
diskreditiert werden sollen.
({7})
Der Gesetzentwurf hat ausschließlich das Ziel, die
Nachteile für Alteigentümer aufgrund der langsamen
Bearbeitung und der exorbitanten Preissteigerung auszugleichen. Wir treten für diese Verbesserung ein, die - das
möchte ich vor allem der Opposition deutlich machen keine Besserstellung bezogen auf das Jahr 1994 bedeutet, sondern ausschließlich die Ansprüche erfüllt, die
1994 gewährt worden sind.
Die Stichtagsregelung bewirkt lediglich einen Ausgleich dafür, dass die Alteigentümer infolge jahrelanger
Untätigkeit der Landesbehörden seit dem Jahr 1994
Schaden erlitten hatten. Gemeinsam mit der SPD hätten
wir diese Ungerechtigkeit bereits in der vergangenen Legislaturperiode ändern können. Obwohl diese Ungerechtigkeit jedem unmittelbar ins Auge springt, war das mit
der SPD nicht zu machen. Man könnte der SPD daher
glatt den Namen „Ungerechtigkeitspartei“ geben. Das
wäre jedenfalls treffender als Ihr Vorwurf uns gegenüber,
es handele sich um Klientelpolitik.
({8})
Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner räumen wir
nun diese Ungerechtigkeit aus.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Schwanitz von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion
wird den Gesetzentwurf heute ablehnen. Ich will die drei
wichtigsten Gründe dafür nennen.
Erstens. Die Begünstigung, die mit dem Gesetzentwurf der Koalition gegenüber den nicht wirtschaftenden
Alteigentümern - diese Betonung ist durchaus notwendig - vorgenommen wird, wird keinen Rechtsfrieden
schaffen. Sie schafft vielmehr neue Ungerechtigkeiten.
Mit der falschen Behauptung - das ist gerade bei meinem Vorredner noch einmal angeklungen -, dass der Gesetzgeber quasi eine Erwerbsgarantie für eine bestimmte
Mindestfläche gegenüber den Alteigentümern ausgesprochen habe, werden jetzt, mit einer Kaufpreisgarantie, die den maßgeblichen Verkehrswert zum Stichtag
1. Januar 2004 zugrunde legt, neue, exorbitant hohe
finanzielle Begünstigungen für Alteigentümer durchgesetzt. Das entspricht in etwa einer Verdoppelung der
Ausgleichsleistungen, die der Gesetzgeber ursprünglich
vorgesehen hatte. Der Flächenerwerb durch die BVVG
wird dadurch zum Durchlauferhitzer für die Ausgleichsleistungsansprüche degradiert, zum Wertmaximierer für
die Alteigentümer. Das werden wir nicht unterstützen.
({0})
Damit wird ein zentraler Baustein des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes von 1994 zerschlagen, nämlich die Gleichgewichtigkeit zwischen den
Ausgleichsleistungen auf der einen Seite und den Entschädigungsleistungen auf der anderen Seite. Künftig
wird es Betroffene erster und zweiter Ordnung geben.
Diejenigen, die nach 1949 enteignet worden sind und
wegen der Unmöglichkeit der Restitution auch nur auf
Entschädigungsleistungen angewiesen sein werden, werden in wenigen Wochen und Monaten bei Ihnen vor der
Tür stehen und ihre Rechte einklagen; Sie haben den
Rechtsfrieden zerstört.
Zweitens. Der Gesetzentwurf schafft eine massive
Benachteiligung der ostdeutschen Bauern beim Flächenerwerb. Wir wissen, dass nach den Verabredungen der
BVVG und der Bundesregierung mit den ostdeutschen
Ländern etwa 150 000 Hektar für den Erwerb durch
Pächter in Ostdeutschland, die langfristig pachten, vorgesehen sind. Das wird nicht nur infrage gestellt; es wird
vielmehr unmöglich gemacht. Die Privilegierung, die
Sie mit dem Gesetzentwurf herbeiführen, erzwingt eine
Umverteilung von Flächen zugunsten der Alteigentümer.
Dadurch werden die ostdeutschen Bauern zum Schluss
das Nachsehen haben. Sie werden kaum noch Chancen
haben, an diesem Flächenerwerb teilzunehmen.
Drittens. Ihr Vorhaben ist ein Klientelgeschenk, das
neue Löcher in den Bundeshaushalt reißt.
({1})
Das will ich als Haushälter nicht verschweigen. Sie als
einbringende Fraktionen haben gesagt: Das Ganze kostet
370 Millionen Euro.
({2})
- Na gut, kein einziges Loch. Sie haben selber von
370 Millionen Euro gesprochen. - Sie gehen davon aus,
dass nur 20 Prozent der Berechtigten diese neuen Möglichkeiten in Anspruch nehmen. Die Betroffenenverbände hingegen sagen selber: Nahezu alle, nämlich
100 Prozent der Alteigentümer, werden sich diese Verdoppelung des Wertes ihrer Ansprüche nicht entgehen
lassen. - In Wahrheit liegt der Ausfall bei 1 bis 2 Milliarden Euro, die Ende Dezember quasi hinübergereicht
werden.
({3})
Diese Situation ist unzumutbar für die Betroffenen,
schlecht für die ostdeutschen Agrarstrukturen und für
den Steuerzahler. Deswegen sage ich: Heute ist eigentlich ein Schwarzer Freitag für die Steuerzahler und für
die ostdeutschen Bauern.
({4})
Eine letzte Bemerkung. Die Bundesregierung hat im
August eine Veranstaltung mit dem Titel „20 Jahre Einigungsvertrag“ durchgeführt. Hier sind die historischen
Leistungen, insbesondere im Eigentumsbereich, gewürdigt worden. Ich finde, Sie sollten sich angesichts dessen, dass Sie nur zwei Monate später einen derartigen
Gesetzentwurf eingebracht haben, solche Veranstaltungen künftig sparen.
({5})
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann
von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zu Beginn möchte ich eine kleine Einführung
geben: Ich komme aus dem Nordwesten Niedersachsens,
etwa acht Kilometer von der niederländischen Grenze.
Als ich die Aufgabe des agrarpolitischen Sprechers für
die FDP übernahm, habe ich mich um viele Dinge gekümmert, die ich bis dahin nicht kannte. Ich wusste
nicht, was die BVVG ist. Ich wusste auch nicht so genau, wie die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg in
den neuen Ländern war. Ich finde aber, dass wir alle
heute Veranlassung haben, aus dem - vom Vorredner so
bezeichneten - Schwarzen Freitag einen Zukunftsfreitag
und einen Rechtsfreitag zu machen. Denn es gibt weder
für den Steuerzahler noch für die Bauern in den neuen
Ländern an irgendeiner Stelle etwas, was ihnen einen unzumutbaren Schaden zufügt. Ganz im Gegenteil sorgt
der Gesetzentwurf dafür, dass wir eine Rechtssituation
herstellen, auf die wir meiner Meinung nach in der Bundesrepublik Deutschland immer Wert legen.
Es geht hier nicht darum, ob die Umsetzung 370 Millionen, 420 Millionen oder 150 Millionen Euro kostet.
Es geht hier darum, ob denjenigen Menschen Unrecht
geschehen ist, denen in den Jahren 1945 bis 1949 das
Land weggenommen wurde. Es kam ein anderer und
räumte alles ab, nach dem Motto: Ihr seid die Reichen in
diesem Land, diejenigen, die während des Zweiten Weltkriegs möglicherweise die falsche Partei unterstützt haben.
({0})
Ist diesen Menschen Unrecht geschehen oder nicht? Ihnen ist eindeutig Unrecht geschehen!
({1})
Deswegen wurde ein Gesetz auf den Weg gebracht
({2})
- liebe Kirsten Tackmann, ganz langsam! -, das dieses
Unrecht korrigieren sollte.
({3})
- Doch, Herr Schwanitz; genau darum geht es.
Rechtsbestandteil war, dass diese Menschen einen
Bescheid in der Hand halten mussten, um ihre Ansprüche geltend zu machen. In diesem Gesetz hat es einen
Konstruktionsfehler gegeben: Der Bund durfte die Zinsen zahlen, die fällig wurden, weil die Bauern ihre Flächen nicht nutzen konnten. Die Länder haben die zuständigen Behörden unzureichend ausgestattet, sodass die
Menschen, die einen solchen Bescheid anstrebten, nicht
in den Genuss ebendieses Bescheides kamen. Das war
der Grund. Ende der Durchsage! Deswegen konnte der
Rechtsanspruch von Tausenden bis heute nicht bedient
werden. Das Ganze hat also überhaupt nichts mit Wertmaximierung zu tun; vielmehr wird ein Rechtsanspruch
auf der Basis des Jahres 2004 umgesetzt.
Der Vorwurf, das zerstöre den Frieden vor Ort, ist
überhaupt nicht berechtigt. Es gab schon öfter die Situation, dass Bauern, die eine Zeit lang nicht vor Ort waren,
in die ländliche Region zurückgekehrt sind; das hat zu
überhaupt keiner Störung des ländlichen Friedens geführt. Ganz im Gegenteil: Diese Bauern wurden vor Ort
sehr positiv aufgenommen; sie konnten dort ihre Interessen verwirklichen. Das hat also überhaupt nichts mit einer Zerschlagung des Rechtsfriedens oder der dörflichen
Struktur zu tun.
Es hat auch überhaupt nichts mit Wertmaximierung
zu tun; denn die Bauern vor Ort, von denen Sie, Herr
Schwanitz, meinen, sie kämen jetzt nicht mehr in den
Genuss der Flächen, können diese Flächen natürlich
kaufen, möglicherweise von denjenigen, die sie jetzt vergünstigt erworben haben. Das ist ein Vorteil für die Bauern vor Ort, die bis jetzt nicht richtig behandelt worden
sind, aber kein Nachteil; denn wenn sie die Flächen von
der BVVG kaufen müssten - die BVVG verfügt, nebenbei bemerkt, noch über genügend Flächen, um entsprechende Kaufwünsche zu bedienen -, müssten sie den
Preis zahlen, den der Markt heute hergibt. Insofern entsteht den Leuten vor Ort, die Flächen erwerben wollen,
überhaupt kein Nachteil.
Ich finde, es geht völlig an der Sache vorbei, wenn
hier immer wieder der Vorwurf erhoben wird - bei Kollegin Wolff und Kollegin Gleicke in einer Sprache, die
ich nicht ganz nachvollziehen kann -, dass hier etwas
zerstört wird, dass den Menschen etwas genommen
wird, dass hier etwas geschieht, was dem Rechtsfrieden
insgesamt nicht dient.
Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir dank der Unterstützung der Haushälter und all derjenigen, die an der
Sache orientiert sind, in der Lage sind, hier zu einer Lösung zu kommen, die meiner Meinung nach absolut richtig und notwendig ist und die das zementiert, was nach
meinem Verständnis einen Rechtsstaat ausmacht: Wenn
jemand Rechte hat, dann muss man dafür sorgen, dass er
diese Rechte in Anspruch nehmen kann. Die Menschen,
denen zu Unrecht Land weggenommen worden ist, sind
jetzt in der Lage, ihren Rechtsanspruch geltend zu machen. Darüber bin ich froh; es handelt sich um ein gutes
Gesetz.
Es wird in der Diskussion immer wieder behauptet,
hier werde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet; es
handele sich um Bedienpolitik. Dieses Gesetz ist ein
Kompromiss; die Vorstellungen vieler gingen weiter.
Die Entscheidung für dieses Gesetz beruht ein Stück
weit darauf - Herr Schwanitz, Sie waren bei der Anhörung dabei -, dass sich diejenigen, die jetzt in den Genuss des Erwerbs von Flächen kommen, selbstverständlich mit den Pächtern unterhalten; das haben sie immer
getan. Hingegen haben sich die LPGs und die LPGNachfolgebetriebe häufig nicht mit den Alteigentümern
unterhalten.
Herr Schwanitz, Sie waren in den neuen Ländern unterwegs; Sie sind dort sogar beheimatet. Dann wissen
Sie doch ganz genau: Man kann davon ausgehen, dass
die LPG-Nachfolgebetriebe - um es vorsichtig auszudrücken - ordentlicher von der BVVG bedient worden
sind als diejenigen, die Alteigentümeransprüche hatten
oder Wiedereinrichter waren. Wenn Sie diesen Eindruck
nicht gewonnen haben, dann empfehle ich Ihnen, einfach
einmal BVVG-Geschäftsstellen in den einzelnen Ländern zu besuchen. Wir sind hier auf einem guten Weg.
({4})
- Frau Tackmann, das wissen Sie genauso gut wie ich.
Es ist interessant, dass die Grünen, die durchaus Wurzeln in den neuen Ländern haben, das gleiche Rechtsempfinden und das gleiche Ziel haben wie die Koalitionsfraktionen. Es wird also keine Klientelpolitik
betrieben, sondern es geht schlicht und ergreifend um
die Sicherstellung einer guten Rechtssituation.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Kirsten Tackmann für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Für viele Menschen in Ost und
West ist das heutige Thema sehr emotional - Sie merken
das sicherlich -; denn Bodeneigentum hat eine besondere Bedeutung: Boden ist Grundlage für ein existenzielles Gut der Menschheit, nämlich die Nahrungsmittel,
und Boden ist nicht vermehrbar. Im Gegenteil: Wir verlieren noch heute jeden Tag 100 Hektar Ackerboden,
beispielsweise durch den Straßenbau. Boden wird also
dringend gebraucht. Er ist knapp, und er kann nur einmal
verteilt werden. Deshalb war und ist die Bewirtschaftung
der eigenen Scholle eine der sensibelsten Fragen der
Menschheit.
({0})
Wir tragen als Gesetzgeber an dieser Stelle große Verantwortung.
Gemessen an diesem strategischen Anspruch an die
Bodenpolitik ist die vorliegende Gesetzesnovelle ein Armutszeugnis dieser Regierung;
({1})
denn sie begünstigt nicht landwirtschaftlich tätige Alteigentümer gegenüber aktiven Landwirtschaftsbetrieben
in Ostdeutschland beim Bodenerwerb, und das ohne Not.
Der Bundestag hatte 1994, auch wenn es schwierig war,
eine Regelung gefunden: Alteigentümer können als Ausgleichsleistung begrenzt verbilligt ostdeutschen Acker
erwerben. Das können sie noch heute, wenn auch zeitlich verzögert.
Die PDS hatte diese Regelung damals als Einstieg aus
dem Ausstieg aus der Bodenreform abgelehnt. Offensichtlich hatte sie damals recht. Heute ist es eine
schwarz-gelb-grüne Koalition, die das weiterverfolgt
und die Bodenreform infrage stellt. Ich sage für die
Linke an dieser Stelle ganz klar: Wer die Bodenreform
infrage stellt, der legt die Axt an eine der wesentlichen
Grundlagen des Einigungsvertrages. Das ist nicht hinnehmbar.
({2})
Zum Beispiel können die Alteigentümer nicht zur
Hälfte, wie ursprünglich, sondern in voller Höhe der
Ausgleichsleistungen Boden erwerben. Ab heute können
sogar Erben bis zum vierten Verwandtschaftsgrad Boden
erwerben.
({3})
Fragen Sie sich einmal, wie das auf die 70 000 ostdeutschen Bodenreformerben wirkt, die nach bundesdeutschem Recht entschädigungslos enteignet wurden, nur
weil sie nicht landwirtschaftlich tätig waren. Das sind
die Alteigentümer heute auch nicht; aber sie werden begünstigt. Das ist eine grobe Ungleichbehandlung.
({4})
Damit die Alteigentümer trotz stark gestiegener Bodenpreise mehr Fläche kaufen können, soll der Bodenpreis vom 1. Januar 2004 gelten. Für den kommenden
Bundeshaushalt bedeutet das - das ist schon gesagt worden - mindestens 370 Millionen Euro weniger Einnahmen.
Dabei ist das Problem hausgemacht: Die drastischen
Preissteigerungen für ostdeutsche Äcker kommen zustande, weil die Koalition nichts gegen spekulative Bodenkäufe tut, obwohl im Koalitionsvertrag die Überprüfung der gegenwärtigen Verkaufspraxis der BVVG
vereinbart ist. Ein Motor der extremen Bodenpreissteigerung ist das politisch verordnete Preisfindungssystem
der BVVG. Sie verkauft im Auftrag des Bundes ehemals
volkseigene Äcker in Ostdeutschland zum Höchstgebot
nach europaweiter Ausschreibung. Das heißt, aktive
Landwirtschaftsbetriebe konkurrieren beim Flächenkauf
mit landwirtschaftsfremdem Kapital, das nur nach sicheren Renditen sucht.
Ich gebe Ihnen einmal zwei aktuelle Beispiele für das,
was dabei herauskommt: In meiner Heimat, der Prignitz,
gingen gerade knapp 23 Hektar mit recht mageren
35 Bodenpunkten für fast 15 000 Euro pro Hektar über
den Tisch der BVVG. In der Uckermark kosteten knapp
47 Hektar mit 45 Bodenpunkten 21 000 Euro pro Hektar.
Das sind Boden- und Pachtpreise, die durch landwirtschaftliche Arbeit nicht mehr erwirtschaftet werden können.
({5})
Es gibt nur einen gerechten Weg aus dieser schwierigen
Situation: die Verhinderung spekulativer Bodenkäufe,
und zwar in Ost und in West.
({6})
Stattdessen verschenkt Schwarz-Gelb heute an Alteigentümer und ihre Nachkommen Weihnachtsgutscheine
für „Ostäcker zum Schnäppchenpreis“, wie selbst die
Financial Times Deutschland schreibt.
({7})
Das lehnt die Linke ab. Sie fordert ganz klar: Kein
Bauernland in Spekulantenhände!
({8})
Wie das geht, steht in unserem Entschließungsantrag.
Beenden Sie endlich Ihre Klientelpolitik zum Nachteil
der aktiven Landwirtschaft in Ostdeutschland!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat nun Cornelia Behm für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz Kritik im Detail trägt Bündnis 90/Die Grünen den Entwurf des Zweiten Flächenerwerbsänderungsgesetzes im Grundsatz mit; denn es geht um die
Wiederherstellung legitimer gesetzlicher Ansprüche für
eine Gruppe von Opfern des Stalinismus.
Denken Sie 20 Jahre zurück: Bei der Abfassung des
Einigungsvertrages 1990 haben die beiden deutschen
Regierungen den von der Bodenreform in der sowjetisch
besetzten Zone Betroffenen die Rückgabe ihres Eigentums verweigert. Später, 1994, hat die Bundesregierung
ihnen, soweit sie keine Nazis waren, über das EALG einen geringen Ausgleich dafür zugesichert, dass sie in
den Jahren 1945 f. völkerrechtswidrig enteignet wurden.
({0})
Jetzt geht es um die Gleichstellung der Alteigentümer,
die noch heute auf ihren Ausgleichsleistungsbescheid
warten, mit denen, die bereits vor Jahren ihren gesetzlichen Anspruch auf Flächenerwerb einlösen konnten.
Viele mag es verwundern, dass wir Bündnisgrüne uns
für Alteigentümer einsetzen. Als Bürgerrechtlerin, die
über Bündnis 90 in die Politik kam, sage ich dazu: Für
eine Bürger- und Menschenrechtspartei ist und bleibt es
inakzeptabel, wie im Stalinismus mit den Menschen umgegangen wurde. Das gilt auch für die Bodenreform;
denn den Opfern wurde nicht nur alles Eigentum genommen. Nein, sie wurden sogar innerhalb von Stunden mit
nur einem Koffer in der Hand und bar jeglicher Wertgegenstände von ihrem Hof und aus ihrer Heimat vertrieben.
({1})
Manch einer wurde anschließend interniert. Viele haben
all das nicht überlebt.
({2})
So kann und darf man mit Menschen nicht umgehen.
Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Menschenrechte sind
unteilbar. Das gilt auch für die Nachkriegszeit.
({3})
Der Versuch der Linken, die Menschenrechtsverletzungen bei der Bodenreform als Kriegsfolge zu relativieren, trägt nicht.
({4})
Auch die häufig geäußerte Meinung, die Enteignung
habe schon die Richtigen getroffen, die allermeisten
seien aktive Nazis und Kriegsverbrecher gewesen, ist
schlicht falsch.
({5})
Ein rechtsstaatlicher Prozess, in dem diese Schuld hätte
festgestellt werden können, fand nicht statt.
({6})
Im Übrigen bekommen diejenigen, denen man heute
nachweisen kann, dass sie aktive Nazis waren, gar nicht
erst einen Ausgleichsleistungsbescheid.
({7})
Wenn es bei der Bodenreform um Gerechtigkeit und
um das Umverteilen von Großgrundbesitz gegangen
wäre, dann hätte man den sogenannten Junkern und
Großbauern wenigstens 100 Hektar Land lassen können,
wie anderen Bauern auch.
({8})
Dass sie nichts behalten durften, zeigt doch, dass es weniger um die Beseitigung des Großgrundbesitzes ging als
vielmehr um die Beseitigung der Großgrundbesitzer.
({9})
Dass SPD und Linke noch immer der Legende von
der gerechten Bodenreform anhängen, macht mich wirklich betroffen. Nichts anderes ist Grundlage ihrer populistischen Kampagne gegen den Flächenerwerb durch
Alteigentümer. Das wiederum zeigt, dass die gesellschaftliche Aufarbeitung dieses Kapitels des Stalinismus
noch aussteht.
({10})
Noch heute glauben viele Menschen an die Argumente
für die Bodenreform aus der Stalin-Ära.
Als Bürgerrechtlerin sage ich klar und deutlich: Es
geht nicht um eine Revision der Bodenreform.
({11})
Es geht um einen Diskurs in der Gesellschaft, in dem die
Geschichte aufgearbeitet und die Opfer von Willkür und
Stalinismus rehabilitiert werden.
({12})
Dieser Diskurs hat mit dieser Debatte über das Zweite
Flächenerwerbsänderungsgesetz vielleicht begonnen.
({13})
Das Wort hat nun Eckhardt Rehberg für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Frau Kollegin Behm, ich möchte mich bei Ihnen
ganz ausdrücklich für Ihre Worte zur Bodenreform bedanken. Ich glaube, es ist besonders wichtig, dass diese
Worte 20 Jahre nach der deutschen Einheit und 65 Jahre
nach Ende des Krieges im Deutschen Bundestag gefallen
sind. Wer die Bodenreform weiterhin, so wie Linke und
SPD, für einen Akt der Gerechtigkeit, für einen Akt
rechtsstaatlicher Politik hält,
({0})
geht darüber hinweg, Herr Kollege Schwanitz, dass weit
mehr enteignet worden ist - in Sachsen-Anhalt waren
viele Höfe mit unter 100 Hektar betroffen -, und lässt
weitere Umstände - auch Vergewaltigung, Mord und
Drangsalierung spielten in diesem Zusammenhang eine
Rolle - außer Acht. Es war nur ein kleiner Akt der
Gerechtigkeit, 1994 auch den nicht wirtschaftenden Alteigentümern eine Wiedergutmachung in Höhe von
34 Hektar zuzugestehen. Dies war ein schwieriger gesellschaftspolitischer Kompromiss. Nur dem werden wir
heute gerecht; es geschieht nicht mehr, aber auch nicht
weniger.
({1})
Was mich bei SPD und Linken besonders enttäuscht
hat: Keiner der beiden Redner, weder Frau Tackmann
noch Herr Schwanitz, ist auf die Ursachen eingegangen.
({2})
Wie würde es Ihnen, Herr Schwanitz oder Frau
Tackmann, gehen, wenn Sie vor 15 Jahren bei einer Behörde einen Antrag auf Geltendmachung eines Anspruchs gestellt hätten, der Ihnen gesetzlich zusteht, und
Sie bis heute keinen Bescheid dazu bekommen hätten?
Die Ursache dieses Problems liegt ganz allein darin, dass
innerhalb von 15 Jahren von den Ämtern zur Regelung
offener Vermögensfragen in den neuen Bundesländern
nicht einmal 20 Prozent der Anträge beschieden worden
sind. Hier bin ich völlig beim Kollegen Brackmann:
Egal welche politische Farbe in dem jeweiligen Land die
politische Spitze gebildet hat, man kann vermuten, dass
politische Motivation hinter diesem Handeln steckte.
({3})
Herr Kollege Schwanitz, wer sich das EALG von
1994 anschaut, sieht, dass es keine Flächengarantie gab.
Alles, was Aussagekraft hat - sowohl die Ertragsmesszahlen als auch die halbe Ausgleichsleistung -, war an
Fläche gebunden. Übrigens haben Sie selber 1999, nachdem die EU-Kommission den Direktverkauf an die
Pächter EU-beihilferechtlich infrage gestellt hatte, die
volle Ausgleichsleistung eingeführt, um den Flächenanspruch von 34 Hektar zu erhalten.
({4})
Aber damals konnten Sie nicht voraussehen, dass die
Preise für Grund und Boden in den neuen Bundesländern
ab 2004 dermaßen ansteigen und der Flächenanspruch
durch die Kopplung von Bodenwert mit Bodenpreis
heute teilweise auf ein Drittel reduziert ist. Wenn man
hier davon spricht, dass wir jemanden begünstigen, muss
ich entgegnen: Nein, wir stellen die Gerechtigkeit, die
durch den schwierigen politischen, gesellschaftlichen
Kompromiss aus dem Jahr 1994 gewährleistet werden
sollte, wieder her; nicht mehr, aber auch nicht weniger.
({5})
Jetzt sage ich noch etwas zu dem Märchen, man stelle
die Agrarstrukturen der neuen Bundesländer infrage.
Seit dem Jahr 1990 bis heute sind etwa 370 000 Hektar
von der BVVG veräußert worden. Der Direktverkauf an
Pächter gliedert sich folgendermaßen auf - jetzt hören
Sie gut zu -: 125 000 Hektar an Wiedereinrichter,
100 000 Hektar an Neueinrichter und 145 000 Hektar an
juristische Personen, also an Nachfolgebetriebe der ehemaligen DDR. Lediglich 18 000 Hektar, also 4,6 Prozent,
sind an nicht wirtschaftende Alteigentümer gegangen.
Daher können Sie nicht sagen, dass die Agrarstruktur im
Osten dadurch infrage gestellt wird. Diese Zahlen zeigen, dass Sie hier die Unwahrheit gesagt haben.
({6})
Ich will noch auf Mecklenburg-Vorpommern zu sprechen kommen. In Mecklenburg-Vorpommern haben wir
eine landwirtschaftliche Nutzfläche von 1,3 Millionen
Hektar. Der sogenannte sachverständige Minister
Dr. Backhaus hat am Montag vor elf Tagen ausgeführt,
dass er damit rechnet - es war sehr interessant, dass er
keine konkreten Zahlen vorlegen konnte -,
({7})
dass, wenn alle Anträge positiv beschieden würden,
50 000 bis 60 000 Hektar den nicht wirtschaftenden Alteigentümern zur Verfügung gestellt werden müssten.
Das sind 5 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche
Mecklenburg-Vorpommerns.
({8})
- Frau Tackmann, ich habe das Gesicht Ihrer Kollegin
Gesine Lötzsch am Montag vor elf Tagen gesehen, nachEckhardt Rehberg
dem sie dem Sachverständigen, den Sie geladen hatten,
ihre Frage gestellt hatte. Ich zitiere einmal - ein hochinteressantes Zitat -:
Ich kann nur davor warnen, dass man das Kompromisspaket wieder aufschnürt; denn dann wird der
Rechtsfrieden infrage gestellt. …
Ich will mich sehr deutlich positionieren: Zum 1994
geschlossenen Kompromiss - sein Zustandekommen hat lange gedauert; er wurde immer wieder
von verschiedenen Seiten beklagt - sollte man stehen. Man sollte im Hinblick auf den Erwerb von
Flächen durch nicht wirtschaftende Alteigentümer,
der aufgrund von wie auch immer zu verantwortenden Verzögerungen nicht zustande kommt, für einen Ausgleich sorgen, indem man zu einer Stichtagsregelung zurückkehrt. Das betrachte ich
ebenfalls als eine Frage der Rechtssicherheit. …
Weiter:
Ich stehe auch dazu, dass für mich ein Alteigentümer, der über Flächen mit einer Größe von 12, 15
oder 25 Hektar verfügt und nicht ortsansässig ist,
also die Flächen nicht selbst bewirtschaftet, vielleicht ein besserer Verpächter ist als jemand, der
das nur durch die fiskalische Brille sieht.
({9})
Ich glaube, besser kann man diesen unseren Kompromiss nicht beschreiben. Ich sage Ihnen noch, wer das gesagt hat: Wolfgang Jaeger, über anderthalb Jahrzehnte
Hauptgeschäftsführer des Bauernverbandes von Mecklenburg-Vorpommern.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat nun Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn man dieser
Debatte folgt, könnte man meinen, wir hätten in dieser
Frage keine Rechtssicherheit. 65 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, 20 Jahre nach der deutschen Einheit tut
man einfach so, als gäbe es keinen Einigungsvertrag.
Diesen Vertrag haben meines Wissens Herr Schäuble
und Herr Krause geschlossen. Gab es denn keine Entschädigung? Wenn wir heute Recht schaffen müssen,
dann heißt das doch, wir leben im Unrecht. Genau so ist
es eben nicht.
({0})
- Sie sagen, es ist eine Frage der Gerechtigkeit. Leider das sage ich reinen Herzens - gibt es keine absolute Gerechtigkeit,
({1})
auch nicht mit einer Änderung des Flächenerwerbs nach
20 Jahren deutscher Einheit.
Ganz viele Familien, auch meine Familie, hatten an
den Folgen des Zweiten Weltkriegs zu leiden; das ist in
dieser Debatte schon gesagt worden. Mein Vater, geboren im heutigen Tschechien, meine Mutter, geboren im
heutigen Polen, waren beim Bau der Mauer leider zur
falschen Zeit am falschen Ort. Wer beurteilt, ob es gerecht ist, dass meine Eltern nicht im freiheitlichen
Deutschland leben durften und dass ich nicht im freiheitlichen Deutschland aufwachsen durfte? Was ist Gerechtigkeit? Ich glaube, wir müssen uns heute an realen Gegebenheiten orientieren und dürfen keine neuen Gräben
auftun.
Im Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz
wurde nach langem, schwerem Ringen ein Kompromiss
geschlossen. Halten wir uns doch daran! Das ist von
meinen Vorrednern doch schon gefordert worden.
({2})
- Nein, Sie halten sich eben nicht daran, weil Sie Änderungen vornehmen.
({3})
Wenn es so wäre, dass Sie sich darauf beschränken,
die Antragsflut einzudämmen und den Alteigentümern,
die ihre Ansprüche geltend gemacht haben, weiterhin zu
Bedingungen von 2004 einen begünstigten Flächenerwerb zu gewährleisten, dann hätten Sie selbstverständlich auch bei der SPD offene Türen eingerannt.
({4})
Aber Sie wollen die nicht selbst wirtschaftenden Alteigentümer nachträglich begünstigen. Deshalb erweitern
Sie über eine Änderung von § 3 Abs. 5 des Ausgleichsleistungsgesetzes den Kreis der Berechtigten bis hin zu
Erben des vierten Ranges. Ehrlich gesagt, musste ich erst
einmal nachschauen, bis hin zu wem genau diese Erweiterung reicht.
Das ist der Dreh- und Angelpunkt. Genau damit schüren Sie neue Interessenkonflikte zwischen den ansässigen und wirtschaftenden Bauern und den nicht wirtschaftenden Alteigentümern. Das ist doch der Punkt.
({5})
Für mein Bundesland, Sachsen-Anhalt, spricht das
Bundesministerium der Finanzen von zurzeit 70 000
Hektar freiverkäuflicher Flächen. Für die Neuregelung
würden aber nur circa 10 000 Hektar gebraucht. Als ich
fragte: „Woher wissen Sie das?“, hieß es: Alle Anträge
müssen doch schon gestellt sein. Da frage ich mich: Ist
noch nicht durchgedrungen, dass man neue Anträge stellen darf? Wissen sie das selber noch nicht? Durchaus
denkbar ist, so sagt die BVVG,
({6})
Waltraud Wolff ({7})
dass in Sachsen-Anhalt vielleicht auch nur 6 000 bis
8 000 Hektar übrig bleiben.
({8})
Ich will damit nur deutlich machen, dass wir uns in einem spekulativen Bereich bewegen. Keiner kann wirklich handfeste Aussagen treffen.
({9})
- Ja, genau. Da wurden aber auch nur Spekulationen angestellt.
({10})
Wir erwarten, dass diese Regelungen zu Verwerfungen in der Agrarstruktur führen. Wer bis jetzt noch keinen Antrag auf Kauf des verbilligten Bodens gestellt hat,
kann das Angebot mit Blick auf die Ahnentafel schon
einmal aufgreifen.
({11})
Man muss das Land nicht einmal selber bewirtschaften
wollen. Ich frage Sie: Wer greift da nicht gerne zu? Zuzugreifen, das ist doch verständlich.
({12})
Wir befürchten einen Anspruchs- und Flächenerwerbstourismus.
Warum spreche ich von Verwerfungen in Ostdeutschland? Ganz einfach: weil der Flächenentzug in diesen
Größenordnungen der letzte Anstoß dafür sein kann, aus
der Tierproduktion auszusteigen. Anzeichen dafür gibt
es schon. Wenn es zu solchen Reaktionen kommt, bedeutet das auch Arbeitsplatzabbau in den ländlichen Regionen der neuen Bundesländer.
({13})
Eine Diskussion mit der Koalition war bei diesem
Thema nicht möglich. Sie haben nicht einmal die berechtigten Forderungen des Bauernverbandes berücksichtigt, Sie haben keine Regelung zum Fortbestand der
Pachtverträge getroffen, und Sie haben keine Regelung
zur Begrenzung des Erwerbstourismus getroffen. Das
werfen wir Ihnen vor.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Schluss. - Dennoch verabschieden
Sie hier und heute diesen Gesetzentwurf. Wir haben auf
die damit verbundenen Schwierigkeiten aufmerksam gemacht. Wir werden diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurf eines Zweiten Flächenerwerbsänderungsgesetzes. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4236, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
auf Drucksache 17/3183 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die
Stimmen von SPD und Linksfraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/4254. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/4255. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der Grünen abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 39 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Sozialkassen vor Beitragsverlusten bewahren
- Drucksachen 17/3042, 17/3732 Berichterstattung:
Abgeordneter Max Straubinger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Bitte schön.
({1})
Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts hat die Tariffähigkeit der CGZP verneint. Die Tarifgemeinschaft
Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen ist keine Spitzenorganisation, die im
eigenen Namen Tarifverträge abschließen kann. Sie erfüllt die hierfür erforderlichen tarifrechtlichen Voraussetzungen nicht.
({0})
In der Konsequenz wurde entschieden, dass die CGZP
nicht tariffähig ist und keine Tarifverträge abschließen
kann, mit denen Zeitarbeitsunternehmen vom Grundsatz
des Equal Pay abweichen können. Die betroffenen Leiharbeitnehmer können Anspruch auf den gleichen Lohn
wie die beim Entleiher beschäftigte Stammbelegschaft
erheben. Dies betrifft nicht nur die Mitglieder der Gewerkschaft unmittelbar, sondern auch alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Arbeitsvertrag auf diese
Tarifverträge verweist. Die Zahl der Betroffenen dürfte
weit größer sein als die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder.
Noch sind nicht alle Auswirkungen des Urteils absehbar, aber meiner Auffassung nach hätten die Arbeitgeber
bereits seit längerer Zeit erkennen können, dass es berechtigte Zweifel an der Tariffähigkeit der CGZP gibt.
Arbeitsgerichte der ersten und zweiten Instanz haben bereits entsprechend entschieden.
Die CGZP war aufgrund eines Satzungsfehlers schon
bei Abschluss ihrer Tarifverträge in der Vergangenheit
nicht tariffähig. Die mündliche Verkündigung des Urteils lässt meines Erachtens bereits jetzt diesen Schluss
zu. Die CGZP hätte die Tarifverträge nicht nur im eigenen Namen abschließen dürfen, sondern auch mit einer
ihrer 16 jeweils zuständigen tariffähigen Einzelgewerkschaften. Die Konstrukteure der Tarifgemeinschaft haben meines Erachtens damit schon bei der Gründung
grobe Fehler gemacht.
Auch wenn von dem Urteil keiner der derzeit gültigen
Haustarifverträge und Flächentarifverträge berührt ist,
da die Tarifpartner inzwischen vorgesorgt haben und
nicht nur einen Vertrag mit der CGZP, sondern einen
wortgleichen Vertrag auch mit einer der Mitgliedsgewerkschaften der Organisation abgeschlossen haben,
wird es meiner Überzeugung nach zu Rückwirkungen
kommen. In diesem Fall müssen die Arbeitgeber höhere
Löhne und Sozialversicherungsbeiträge in Höhe der Differenz zwischen dem Tarifvertrag und Equal Pay zahlen,
({1})
möglicherweise auch rückwirkend bis zur Verjährungsgrenze.
Ich schlage deshalb vor, dass die Rentenversicherung,
die Bundesagentur für Arbeit und der Spitzenverband der
gesetzlichen Krankenkassen gemeinsam mit der Bundesregierung die Entscheidungsgründe, die noch nicht schriftlich vorliegen, Herr Kollege Birkwald, zügig prüfen und
das weitere Vorgehen dann miteinander abstimmen. Wird
eine Rückwirkung bejaht, sollten die Sozialversicherungsträger die Beiträge bei jenen Zeitarbeitsunternehmen nachfordern, die mit der CGZP Tarifverträge abgeschlossen
haben. Darüber hinaus sollte die Bundesregierung natürlich noch Vorschläge für weitere Prüfmöglichkeiten unterbreiten.
Verehrte Damen und Herren, ich will die Zeitarbeit
nicht verteidigen. Aber sie ist - wir haben darüber heute
schon diskutiert - trotz vieler gegenteiliger Meinungen
eine wichtige Brücke in die Beschäftigung, gerade für
Geringqualifizierte, denen der Weg in den regulären Arbeitsmarkt häufig besonders schwerfällt. 56,3 Prozent
der neuen Zeitarbeitsverhältnisse im zweiten Halbjahr
2009 sind von Personen aufgenommen worden, die unmittelbar zuvor nicht beschäftigt waren, darunter 8,5 Prozent Langzeitarbeitslose. Für die Unternehmen ist das
Instrument ein Flexibilitätspuffer. Rund 10 Prozent aller
Zeitarbeitsverhältnisse bestehen kürzer als eine Woche,
50 Prozent nicht länger als drei Monate. Ich glaube, es
ist auch hervorzuheben, dass es hauptsächlich darum
geht, Arbeitsspitzen in der Wirtschaft durch Zeitarbeit
abdecken zu können.
Die Entscheidung kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem
die Bundesregierung ein Gesetz auf den Weg gebracht
hat, das eine stärkere Regulierung der Zeitarbeit vorsieht,
um den Missbrauch in der Zeitarbeitsbranche einzudämmen. Das ist in unser aller Sinne. Das Bundeskabinett hat
am Mittwoch dieser Woche bereits eine Gesetzesänderung beschlossen, mit der verhindert werden soll, dass
Unternehmen Beschäftigte erst entlassen und sie anschließend als Zeitarbeiter zu schlechteren Bedingungen
wieder einstellen. Mit der Änderung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes schieben wir dem Missbrauch in
der Zeitarbeit einen Riegel vor. Auch mit Blick auf den
1. Mai nächsten Jahres müssen wir hier zu vernünftigen
Regelungen kommen und eine entsprechende Lohnuntergrenze vereinbaren.
Trotzdem ist der Antrag heute abzulehnen,
({2})
weil natürlich erst die Begründung des Bundesarbeitsgerichtes abzuwarten ist. Sie legen doch immer besonderen
Wert auf rechtsstaatliche Verfahren.
({3})
Deshalb ist es wichtig, dass zuerst die Begründung gelesen wird. Auf Grundlage dieser Begründung müssen
dann die entsprechenden Lösungen herausgearbeitet
werden.
({4})
Wir sind für ein rechtsstaatliches Verfahren, womit
wir im Gegensatz zu Ihrer Auffassung stehen. Das ist
das Entscheidende für einen Rechtsstaat. Deshalb lehnen
wir Ihren Antrag ab.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun Katja Mast für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Auch wir stehen in diesem Verfahren auf der Seite des
Rechtsstaats - wie übrigens auch alle anderen Oppositionsparteien. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen und den Linken, ich schließe Sie hier mit ein.
({0})
Bei dem Antrag, der hier vorliegt - ich glaube, ich
muss das noch einmal erklären -, geht es darum: Wir haben in der Großen Koalition mit der Union darüber gestritten, ob es einen Mindestlohn in der Leiharbeit geben
soll. Ihr Argument war immer, dass wir in diesem Bereich keine Tarifeinheit erreichen werden, weil es die
CGZP gibt.
({1})
Das war Ihr Argument, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union. Deshalb gibt es heute noch immer
keinen Mindestlohn in der Leiharbeit.
({2})
Heute sagen Sie, Sie wollten das schon immer. In dieser Woche hat das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil
festgestellt, dass die CGZP zu der Zeit, zu der Sie sich
immer auf sie berufen haben, überhaupt nicht tariffähig
war.
({3})
Ich bin froh, dass es jetzt dieses Gerichtsurteil gibt.
({4})
Wir diskutieren heute über einen Antrag, der nur einen einzigen Sinn hat: Der Sozialstaat Deutschland soll
gestärkt werden.
({5})
Dies soll erreicht werden, indem gesagt wird: Dadurch,
dass diese Gewerkschaft nicht tariffähig war, gilt für die
Leiharbeiter rückwirkend das, was im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz steht. Wenn es nach mir und der SPD
ginge, müsste überall in der Leiharbeit das Prinzip
„Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ gelten.
({6})
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Arbeitsvertrag sich in der Vergangenheit auf diesen Tarifvertrag gründete, sind nicht ordentlich entlohnt worden.
Durch diese nicht ordentliche Entlohnung sind den Sozialkassen Verluste in Millionenhöhe entstanden. Wir reden hier von einem Verlust von über einer halben Milliarde Euro pro Jahr für die Sozialkassen.
({7})
Das heißt, wenn wir nicht noch in diesem Jahr handeln
- nichts anderes wollen wir mit dem Antrag, über den
wir hier diskutieren -, dann wird aufgrund von Verjährungsfristen eine halbe Milliarde Euro für die Rentenversicherung, für die Krankenversicherung und für die Arbeitslosenversicherung flöten gehen.
({8})
Das ist die Argumentation von meinem Vorredner,
von Herrn Straubinger. Ich kann nicht verstehen, warum
die Bundesregierung bei diesem wichtigen Thema, dem
Erhalt des Sozialstaats, schweigt und kein Mitglied der
Bundesregierung hier im Plenum Stellung dazu bezieht,
({9})
obwohl es an dieser Stelle ausschließlich um nachgeordnete Behörden des Bundesarbeitsministeriums geht.
({10})
Bezogen auf unseren Sozialstaat ist das grob fahrlässig.
({11})
Wir haben heute im Deutschen Bundestag schon genug darüber diskutiert, wie wir die Leiharbeit regulieren
wollen. Mit der Spaltung der Belegschaft in den Betrieben muss Schluss sein, und es muss Schluss damit sein,
dass Menschen für die gleiche Arbeit nicht das gleiche
Geld bekommen. Sie haben diesem Grundsatz heute
mehrfach widersprochen, Kolleginnen und Kollegen von
der FDP und von der Union.
({12})
Wir sagen heute mit unserem Antrag klar und deutlich: Wir wollen gleiches Geld für gleiche Arbeit. Dazu
brauchen wir keine Gerichte - Sie anscheinend schon.
Wir freuen uns, dass uns das Bundesarbeitsgericht, bezogen auf diesen Grundsatz, recht gegeben hat.
Ich will es noch einmal sagen: Es ist wichtig, dass die
Bundesregierung, die warmen Worten immer wieder
kalte Taten folgen lässt, noch in diesem Jahr handelt.
Deshalb fordere ich Sie alle von der Regierungskoalition
auf: Stimmen Sie heute diesem Antrag zu!
({13})
Es geht um mehr als eine halbe Milliarde Euro für das
Jahr 2006. Die Gefahr besteht, dass dieser Anspruch verjährt. Das sind eine halbe Milliarde Euro, die den Leistungsträgern dieser Gesellschaft gehören, die denjenigen
gehören, die jeden Morgen arbeiten gehen, und auch
denjenigen, die diese Menschen beschäftigen, nämlich
den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern. Sie sorgen mit
Ihrer Ablehnung dieses Antrags dafür, dass den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Arbeitgebern das Geld für die Sozialkassen verloren geht. Das
kann ich als Sozialdemokratin nicht tolerieren.
({14})
Ich will meine Rede nun vorzeitig beenden.
({15})
Damit schenke ich Ihnen allen vor Weihnachten noch
drei Minuten Zeit. Ich will mit der Losung für den heutigen Tag schließen - 2. Mose, 34,21 -:
Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebenten Tage
sollst du ruhen.
({16})
Ich bitte Sie von der Regierungskoalition: Lassen Sie
Ihren warmen Worten Taten folgen und sorgen Sie dafür,
dass die Menschen nicht an sechs Tagen arbeiten müssen, sondern schon nach fünf Tagen Ruhe haben!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Frohe Weihnachten!
({17})
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Mast, die inhaltliche Debatte über die Zeitarbeit hatten wir vorhin geführt. Ich verstehe den Versuch,
noch einmal zu sagen: Wir brauchen den Mindestlohn in
der Zeitarbeit. - Ich finde, darüber können wir trefflich
streiten. Aber das können Sie aus dem Urteil nun wirklich nicht ableiten. Es hat nämlich nicht über die Inhalte
der Tarifverträge geurteilt, sondern über die Organisationsstruktur. Sie wissen so gut wie ich, dass der Mangel
für die kommenden Tarifverträge geheilt ist und dass es
mittlerweile gleichlautende Tarifverträge der christlichen Gewerkschaften und des DGB gibt. Also interpretieren Sie hier bitte nichts Inhaltliches in das Urteil hinein. Wir sollten in dieser Debatte nicht über das
streiten, was aus dem Urteil nun wirklich nicht hervorgeht.
({0})
Worum geht es hier?
({1})
Sie sagen, Sie haben ein Interesse daran, die Sozialkassen vor Beitragsverlusten zu bewahren.
({2})
Ich sage Ihnen ganz offen: Auch ich habe dieses Interesse. Auch mir, der ich freiwillig in die gesetzliche Rentenversicherung einzahle, ist es wichtig, dass die gesetzliche Rentenversicherung vor Beitragsverlusten bewahrt
wird. Ich habe nur im Gegensatz zu Ihnen großes Vertrauen in die Bundesregierung und in die gesetzliche
Rentenversicherung, dass sie die Beitragsverluste verhindern. Es gibt auch keinen Grund, daran zu zweifeln,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Frau Mast, was hat die Bundesregierung - Stichwort:
Gewaltenteilung in unserem Rechtsstaat - gemacht? Sie
hat sich dafür entschieden, das letztinstanzliche Urteil
des Gerichts abzuwarten. Das klingt für mich doch vernünftig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Die Frage ist doch: Hätte die Rentenversicherung anders
handeln können oder anders handeln sollen? Wenn wir
ehrlich sind - das wissen Sie so gut wie ich; zumindest
gehe ich davon aus, wenn ich mir Ihre Gesichter anschaue -, ist uns doch allen klar: Das hätte sie nicht.
Lieber Herr Birkwald, selbst Ihr Kollege Klaus Ernst
hat hier im Plenum gesagt, er sei sehr gespannt, was das
Gericht über die Tariffähigkeit der christlichen Gewerkschaften sagt. Ja, es war richtig, abzuwarten, wie die Judikative urteilt. Obwohl das bis zur Urteilsverkündung
völlig unklar war, meinen Sie, dass hätte gehandelt werden sollen. Das ist in einem Rechtsstaat kein vernünftiges Verfahren. Es wäre rechtswidrig gewesen, entsprechende Bescheide zu erlassen, Herr Birkwald. Ich weiß,
Sie wollten vorsorglich - so steht es in Ihren Antrag die Höhe möglicher Beitragsforderungen mit Blick auf
den möglichen Prozessausgang festgestellt wissen.
({5})
Johannes Vogel ({6})
Darin wurden Sie auch von den Grünen und der SPD unterstützt. Ich frage mich aber - darüber haben Sie sich
ausgeschwiegen -, auf welcher soliden Rechtsgrundlage
diese Feststellung hätte getroffen werden sollen. Diese
gab es nicht, und deshalb war es richtig, das nicht zu tun,
sondern erst einmal auf das Urteil zu warten.
({7})
- „Erwartbar“ ist ein interessantes Stichwort. Das führt
mich zu dem nächsten Punkt. Dazu wollte ich ohnehin
kommen.
Ich glaube, wir müssen uns darüber klar sein, wie die
Gewaltenteilung in unserem Staat organisiert ist. Es gibt
eben Exekutive, Legislative und Judikative. Das wissen
Sie.
({8})
Aber manchmal bin ich mir nicht sicher, wie groß Ihr
Vertrauen in die Gerichte ist. Das zeigt sich nicht nur an
dieser Stelle, sondern zum Beispiel auch bei der Frage
der Bagatellkündigungen. Da diskutieren wir das auch.
Sie fordern regelmäßig gesetzgeberisches Handeln. Arbeitnehmern soll wegen möglicher Bagatellen nicht gekündigt werden, wenn es keinen Vertrauensverlust, keine
wirkliche Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gab.
Dieses Ziel teilen wir sogar, und wir haben auch
schon verschiedentlich hier im Plenum darüber diskutiert, dass das durch die Rechtsprechung in Deutschland
relativ gut gewährleistet ist. Dem haben Sie nun wieder
nichts entgegenzusetzen. Hier drängt sich mir als ein
Muster das Bild eines gewissen Misstrauens in unsere
Rechtsprechung auf. Ich habe das nicht, und es gibt auch
keinen Grund, ein solches Misstrauen zu haben.
({9})
Es gab die Pflicht der Bundesregierung und der Rentenversicherung zur Neutralität. Das Urteil war abzuwarten, und genau das ist erfolgt. Kollege Straubinger hat
gerade schon gesagt, wie es jetzt weitergeht.
({10})
Die Bundesregierung wird zusammen mit der Rentenversicherung das weitere Vorgehen beraten. Sie wird erst
die Urteilsbegründung abwarten. Dann werden nicht nur
die Arbeitnehmer in rechtmäßiger Weise Gehaltsansprüche durchsetzen, weil dann das Prinzip des Equal Pay
möglicherweise mittelbar rückwirkend greift - wir alle
wissen, dass es so sein wird, wenn dies aus der Begründung hervorgeht -, sondern dann wird auch die Rentenversicherung entsprechend handeln. Ich sehe dies wie
der Kollege Straubinger: Sie sollte dann auch entsprechend handeln. Wir sollten uns Beitragszahlungen nicht
entgehen lassen.
Sie reden ja von Verjährung und von Dringlichkeit.
({11})
Eben habe ich ausgeführt, dass ich das Gefühl habe, Sie
misstrauen manchmal der Judikative. Jetzt habe ich hier
das Gefühl, dass Sie der Regierung misstrauen.
({12})
- Ich meine das nicht politisch; aber, Herr Birkwald, wir
können uns schon darin einig sein, dass die Regierung in
der Lage sein wird, in den Tagen, die bis zum Ende des
Jahres 2010 noch vergehen - das sind ja noch einige,
auch wenn wir dann im Weihnachtsurlaub sein mögen -,
entsprechend zu handeln. Die Angst vor der Verjährung
ist einfach unbegründet. Es gibt keinen Grund, hier der
Regierung irgendetwas legislativ vorzuschreiben. Sie
wird es gut machen. Es war richtig, abzuwarten, weil
dies einfach Ausdruck des Respektes gegenüber den Gerichten in Deutschland ist.
Liebe Frau Kollegin Mast, Sie sind mit gutem Beispiel vorangegangen. Ich will Ihnen nun zumindest eine
halbe Minute Redezeit schenken.
({13})
- Ich weiß, aber ich kann leider nicht ganz gleichziehen.
Ich möchte noch die Gelegenheit nutzen, liebe Kolleginnen und Kollegen, mich für die, wie ich fand, immer
sehr spannenden und angenehmen Beratungen im Ausschuss im vergangenen Jahr bedanken. Mir hat der politische Streit mit Ihnen immer sehr viel Spaß gemacht.
Jetzt freue ich mich auf schöne Weihnachten, weil es im
Leben nicht nur um Streit geht. Ihnen allen wünsche ich
frohe Weihnachten und ein paar schöne, ruhige und besinnliche Tage im Kreis der Familie.
Vielen Dank.
({14})
Kollege Vogel, Sie haben uns zehn Sekunden geschenkt.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Matthias Birkwald für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bundesarbeitsgericht, Herr Vogel, hat am
Dienstag ein klares und deutliches Urteil gefällt: Die sogenannte Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen, kurz
CGZP, ist tarifunfähig. Das heißt, die christlichen GeMatthias W. Birkwald
werkschaften hätten niemals Lohndumpingtarifverträge
abschließen dürfen, und sie dürfen es auch künftig nicht.
Das Urteil ist ein tarifpolitischer Meilenstein und ein
großartiger Erfolg für die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, die jetzt nämlich vorenthaltenen Lohn nachfordern dürfen.
Aber das Urteil ist nicht vom Himmel gefallen. Wir
verdanken es der gemeinsamen Initiative der Gewerkschaft Verdi, der Professoren Peter Schüren und
Wolfgang Däubler und des Landes Berlin. Darum
möchte ich mich hier bei Verdi, den beiden Wissenschaftlern und vor allem bei der damaligen Berliner Arbeitssenatorin Dr. Heidi Knake-Werner und ihrer Nachfolgerin Carola Bluhm - beide übrigens Mitglieder der
Linken - herzlich bedanken.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Christengewerkschaften sind ein grandioser Etikettenschwindel:
Sie sind keineswegs christlich, und Gewerkschaften sind
sie erst recht nicht. Ihre Nächstenliebe galt bisher ausschließlich den Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern. Mit
den Gefälligkeitstarifen ist jetzt Schluss. Dazu kann ich
nur sagen: Gott sei Dank, dabei muss es auch bleiben.
({1})
Das Bundesarbeitsgericht hat seinen Job getan. Was
ist jetzt zu tun? Es muss dringend dafür gesorgt werden,
dass die Sozialkassen die Beiträge für 2006 erhalten,
Herr Vogel. Es geht um viel Geld. Die Bundesregierung
hätte längst handeln müssen. Seit 2008 liegt das Problem
auf dem Tisch, und 2009 hat Berlins Arbeitssenatorin
Carola Bluhm die Bundesarbeitsministerin aufgefordert,
aktiv zu werden. Frau Bluhm hat gegen die CGZP geklagt. Das hätten Sie, Herr Staatssekretär Fuchtel, und
Ihre Ministerin Frau von der Leyen ebenfalls tun können. Sie haben es nicht getan, und das ist nicht zu akzeptieren.
({2})
Das Nichtstun kostet die Sozialkassen jedes Jahr
mehr als eine halbe Milliarde Euro. Ihnen geht es doch
immer um Beitragssatzstabilität. Diese Beiträge gehen
der Rentenversicherung und der Krankenversicherung
komplett verloren, wenn die Ansprüche verjähren; diese
Gefahr besteht. Für die Jahre 2004 und 2005 ist das Kind
bereits in den Brunnen gefallen. 1,2 Milliarden Euro
sind futsch, Herr Vogel. Weitere zweieinhalb Milliarden
Euro stehen auf dem Spiel. Die Deutsche Rentenversicherung Bund muss deswegen sofort die Leiharbeitsfirmen auffordern, zu melden, ob sie nach den miesen Tarifen der christlichen Gewerkschaften gezahlt haben oder
nicht. Damit wäre die Verjährung unterbrochen, und
mehr als eine halbe Milliarde Euro Nachzahlung wäre
für das Jahr 2006 gesichert. Wenn hier nicht sofort gehandelt wird, werden die Lohndrücker geradezu ermuntert, an ihrem schmutzigen Treiben festzuhalten. Das ist,
liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, unverantwortlich.
({3})
Die Lohndrückergewerkschaft CGZP ist nur die sichtbare Folge politischer Fehlentscheidungen und arbeitsrechtlicher Missstände. Es geht nicht allein um Missbrauch des Leiharbeitsgesetzes, worüber wir heute
Vormittag geredet haben. Das Gesetz selbst öffnet dem
Lohndumping Tür und Tor. Hier haben sich alle außer
der Linken nicht mit Ruhm bekleckert. Rot-Grün hat es
eingeführt, und Schwarz-Gelb hält an der Einladung zur
Lohndrückerei weiterhin fest. Im Klartext: In der Leiharbeit herrscht Lohndumping per Gesetz. Das müssen
wir ändern, und zwar ganz dringend.
({4})
Die Linke hat bereits Anfang des Jahres einen Antrag
zur strikten Begrenzung von Leiharbeit vorgelegt. Einen
Gesetzentwurf zur dringend notwendigen Änderung des
Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes hat die Linke ebenfalls eingebracht. Was wollen wir? Wir Linken wollen
unter anderem, dass Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter
ab der ersten Stunde gleichen Lohn für gleiche Arbeit erhalten wie die Festangestellten. Wir wollen, dass Leiharbeit in einem Betrieb auf höchstens drei Monate begrenzt wird. Die Linke will, dass Betriebsräte das Recht
erhalten, über den Einsatz von Leiharbeiterinnen und
Leiharbeitern mitzubestimmen. Wir sagen: Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter dürfen für ihre Flexibilität nicht
mit Dumpinglöhnen bestraft werden. Nein, stattdessen
müssen sie mit einer Flexibilitätsprämie von 10 Prozent
Lohnzuschlag belohnt werden. Kurzum: Das Lohndumping per Gesetz muss endlich ein Ende haben.
Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich wünsche Ihnen einen guten Rutsch ins neue Jahr und
ein friedliches 2011. Ich freue mich auf die Debatten mit
Ihnen, Herr Vogel.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Woche ist eine gute Woche.
Das Bundesarbeitsgericht hat der Tarifgemeinschaft
Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen die Tariffähigkeit aberkannt; darauf
warte ich schon lange und ungeduldig. Damit hat die
Lohndrückerei dieser Pseudotarifgemeinschaft endlich
ein Ende.
Die Leiharbeitskräfte in Betrieben mit diesen Gefälligkeitstarifverträgen mussten in den vergangenen Jahren für einen unsäglich niedrigen Lohn arbeiten. Sie haben unter der Pseudotarifgemeinschaft gelitten, die sich
als christlich bezeichnet und nicht einmal die Durchsetzungskraft besitzt, bei nur einem einzigen Unternehmen
einen Tarifvertrag durchzusetzen. Das BAG hat nun mit
dem Beschluss klargestellt: Die tarifrechtlichen Voraussetzungen werden nicht erfüllt.
Für mich stand schon lange fest, dass bei dieser Tarifgemeinschaft nicht die Beschäftigten im Mittelpunkt
stehen, sondern die Interessen der Arbeitgeber. Ziel der
Tarifgemeinschaft sind niedrige Löhne und schlechte
Arbeitsbedingungen. Sie, die Regierungsfraktionen, hatten da immer eine andere Meinung.
({0})
Das ist ein Skandal und zugleich aber auch ein Armutszeugnis für die Unternehmen, die derartige Tarifverträge
abgeschlossen haben, um Löhne zu drücken und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern.
Ärgerlich ist aber auch, dass die Deutsche Rentenversicherung abgewartet hat, bis das Bundesarbeitsgericht
entschieden hat,
({1})
obwohl der Beschluss nach den beiden zuvor gefällten
Urteilen absehbar war. Die Rentenversicherung hätte die
Sozialversicherungsansprüche von über 200 000 Leiharbeitskräften sicherstellen und vor Verjährung schützen
müssen. Jetzt haben nicht nur die Leiharbeitskräfte
Nachteile. Auch die Versichertengemeinschaft aller Sozialkassen hat damit eine erhebliche Summe verloren.
Ich meine, dass die Bundesregierung hieran eine Mitschuld trägt. Sie hat die Rechtsaufsicht über die Deutsche Rentenversicherung und hätte längst dafür sorgen
können und müssen, dass die Rentenversicherung tätig
wird. Stattdessen wurde das Abwarten seitens der Bundesregierung immer wieder verteidigt, auch in Kleinen
Anfragen.
Mich ärgert aber auch, dass sich die Regierung beispielsweise beim Arbeitslosengeld II völlig anders verhalten hat. In vorauseilendem Gehorsam wurden von der
Bundesagentur für Arbeit Hartz-IV-Bescheide verschickt, noch bevor die Streichung des Elterngeldes hier
im Bundestag beschlossen wurde. So viel zum Thema
Rechtsstaatlichkeit, Herr Kollege Straubinger, aber auch
zum Thema Respekt vor dem Bundestag, Herr Kollege
Vogel.
({2})
Aufgrund nochmaliger Änderungen mussten die Bescheide dann korrigiert werden.
({3})
- Warum ist es auf Ihrer Seite jetzt so laut? Habe ich irgendetwas gesagt, das Ihnen nicht passt?
({4})
Jedem müsste doch klar sein, dass dieses Vorgehen
- das frühzeitige Verschicken der Bescheide - die Menschen unnötig verunsichert hat. Ich frage mich, warum
beim Arbeitslosengeld vorschnell gehandelt wird, obwohl es sich nur um geringe Summen handelt, die im
Bundeshaushalt eingespart werden können, während die
Bundesregierung nichts macht und abwartet, wenn es
darum geht, Sozialversicherungsbeiträge in dreistelliger
Millionenhöhe von Unternehmen nachzufordern. Diese
unterschiedliche Herangehensweise finde ich nicht akzeptabel und nicht gerecht.
Damit nicht noch mehr Schaden entsteht, damit nicht
noch mehr Beitragsansprüche verjähren, bleibt jetzt nur
eines: Die Rentenversicherung muss ganz schnell handeln
({5})
und darf nicht nochmals prüfen, abwarten und wieder
prüfen. Sie muss Betriebsprüfungen durchführen und
Sozialversicherungsbeiträge nacherheben, damit die
Leiharbeitskräfte, aber auch die Versichertengemeinschaft zu ihrem Recht kommen.
Handeln ist übrigens auch deshalb notwendig, damit
die Leiharbeitsunternehmen für das jahrelange Lohndumping die entsprechende Rechnung bekommen; denn
diese haben sie wahrlich verdient.
Auch ich wünsche Ihnen schöne und frohe Weihnachten, und ich hoffe, Sie haben eine besinnliche Zeit.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Peter Weiß für die Fraktion der
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Jedes höchstrichterliche Urteil wird vielfältig interpretiert.
({0})
So ist es auch in diesem Fall. Aber ich finde, man sollte
sich auf die Sache konzentrieren. Welche Konsequenzen
wirklich aus diesem Urteil erwachsen, wissen wir erst,
wenn die schriftliche Urteilsbegründung vorliegt.
({1})
Das wird leider noch etwas dauern.
({2})
Trotzdem gibt es schon vorher Fakten, die man gemeinsam festhalten kann.
Peter Weiß ({3})
Erstens. Frau Kollegin Mast, bitte erzählen Sie hier
keine falschen Sachen. Wir haben mittlerweile - Gott sei
Dank - einen einheitlichen unteren Lohn für die gesamte
Zeitarbeitsbranche in Deutschland, auf den sich alle Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände verständigt haben.
({4})
Das ist eine großartige Leistung und zeigt, dass die Tarifautonomie funktioniert.
({5})
Zweitens. Das Bundesarbeitsgericht hat festgestellt,
dass eine Tarifgemeinschaft aus formalen Gründen nicht
tariffähig ist. Jetzt müssen die Konsequenzen aus dem Urteil gezogen werden. Die Konsequenz ist, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Differenz zwischen
dem Lohn, den sie erhalten haben, und dem, der einem
festangestellten Mitarbeiter zugestanden hätte, einklagen
und einkassieren können. Weitere logische Konsequenz
ist, dass die Sozialversicherung die Sozialversicherungsbeiträge, die nicht gezahlt wurden, ebenfalls einfordern
kann. Wenn das so ist, sollte sie es selbstverständlich auch
tun. Das stellt niemand in Abrede.
({6})
Frau Mast sprach von der Rentenversicherung als einer nachgeordneten Behörde, Frau Müller-Gemmeke
sprach von der Rechtsaufsicht der Bundesregierung.
({7})
Die Rentenversicherung in Deutschland ist zuerst einmal
eine Versicherung für die Arbeitnehmer.
({8})
Deswegen wählen wir ein eigenes Parlament für die
Rentenversicherung.
({9})
Ich rufe schon heute alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf, im nächsten Jahr, wenn wieder Sozialwahlen sind, ihr Wahlrecht auch wahrzunehmen.
({10})
Ich verstehe überhaupt nicht, warum aufseiten der
Opposition ein solches Misstrauen gegenüber den gewählten Vertretern in der Selbstverwaltung der Sozialversicherung besteht. Da sitzen hochrangige Vertreter
der deutschen Gewerkschaften. Ich vertraue darauf - ich
bin davon überzeugt, dass das auch so ist -, dass der Präsident der Deutschen Rentenversicherung und die Mitglieder der Selbstverwaltung der Rentenversicherung,
sowohl die auf der Arbeitgeberseite wie auch die auf der
Arbeitnehmerseite - das sind, wie gesagt, hochrangige
Vertreter der deutschen Gewerkschaften -, dafür sorgen,
dass jeder Euro, der der Sozialversicherung zusteht, auch
vereinnahmt wird und nichts verschenkt wird.
({11})
Deswegen ist der Antrag, den Sie gestellt haben, so
unnötig wie ein Kropf. Hier hat nicht der Bundestag zu
handeln, hier hat nicht die Bundesregierung zu handeln,
hier hat die Deutsche Rentenversicherung zu handeln.
Ich sage Ihnen eines: Die wird auch handeln.
({12})
Bevor man eine Rede hält, kann man auch einmal den
Telefonhörer in die Hand nehmen und zum Beispiel fragen, ob die Damen und Herren bei der Deutschen Rentenversicherung den gleichen Kalender haben wie wir
und ob auch bei ihnen der 31. Dezember das Jahresende
ist. Das habe ich getan. Wissen Sie, welche Auskunft ich
bekommen habe? Auch bei der Deutschen Rentenversicherung weiß man, dass der 31. Dezember das Jahresende ist. Donnerwetter! Dazu brauchen die dort keinen
Antrag aus dem Deutschen Bundestag; das können die
selber feststellen.
({13})
Deswegen gehe ich davon aus - ich bin mir sogar sicher -, dass die Deutsche Rentenversicherung bis zum
31. Dezember alle Unternehmen, die es betrifft, darüber
informieren wird, welche Konsequenzen aus diesem Urteil des Bundesarbeitsgerichts zu erwarten sind.
({14})
Ich finde, es gibt keinen Grund, der Rentenversicherung,
vor allen Dingen ihrer Selbstverwaltung, zu misstrauen
und etwa davon auszugehen, dass sie nicht pflichtgemäß
das tut, was ihr aufgetragen ist, nämlich die Finanzen unserer Sozialversicherung so solide sicherzustellen, wie
das jeder von uns wünscht.
({15})
Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen.
({16})
Wir werden mit großer Sicherheit erleben, dass die Rentenversicherung handelt.
({17})
Peter Weiß ({18})
Auch wenn es jetzt noch einige Tage bis zum Jahresende sind, bedanke ich mich bei den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern der Deutschen Rentenversicherung
schon einmal im Voraus dafür, dass sie noch in diesem
Jahr ihre Pflicht tun werden, ohne dass sie aus dem
Deutschen Bundestag dazu aufgefordert werden. Ich
vertraue der Selbstverwaltung der Deutschen Rentenversicherung. Mit diesem Schlusssatz möchte ich uns allen,
aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der
Rentenversicherung, die jetzt viel Arbeit haben, ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest sowie einen guten
Start ins neue Jahr 2011 wünschen.
Vielen Dank.
({19})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Sozialkassen vor Beitragsverlusten bewahren“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3732,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3042
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand
der Deutschen Einheit 2010
- Drucksachen 17/3000, 17/3110 Nr. 7, 17/4147 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Behrens ({1})
Daniela Kolbe ({2})
Jimmy Schulz
Stephan Kühn
Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich gehe davon aus, dass der Geräuschpegel kein Widerspruch zu
dieser Vereinbarung ist. - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Ende dieses politischen Jahres möchte ich mit der
Frage beginnen: War 2010 ein gutes Jahr - für Deutschland, für die Menschen?
({0})
Eine Kollegin hat eben gesagt: Für den Osten war es das
nicht. Da bin ich nicht so sicher. Wir Deutschen haben,
glaube ich, bei keinem anderen Thema so sehr die Neigung, darüber zu streiten, ob das Glas halb voll oder halb
leer ist, wie bei der Frage der deutschen Einheit.
Deswegen ist es nicht schlecht, die Ostdeutschen
selbst zu fragen. Mir liegt eine Umfrage der Super Illu
von dieser Woche vor, die - Fehlerquote hin oder her zu folgendem Ergebnis kommt, Frau Kollegin: Die Aussage „Für Deutschland war es alles in allem ein gutes
Jahr“ bestätigen die Ostdeutschen insgesamt zu 56 Prozent.
Das finde ich nicht schlecht. Auf die Frage „Für mich
persönlich als Ostdeutscher war es ein gutes Jahr, ja oder
nein?“ antworten 64 Prozent, dass das Jahr 2010 für sie
ein gutes Jahr war.
({1})
- Sie können über die Seriosität der Zeitung oder über
das Leipziger Institut reden, was immer Sie wollen. Ich
halte das jedenfalls für ein gutes Ergebnis und freue
mich darüber.
({2})
Bei der heutigen abschließenden Diskussion über den
Bericht zum Stand der deutschen Einheit, den wir vorgelegt haben, will ich, auch aus Zeitgründen, auf Einzelheiten nicht eingehen. Die Bilanz nach 20 Jahren ist
gemischt. Wir haben große Fortschritte bei den Infrastrukturaufgaben gemacht. Wir haben sie abgearbeitet,
bzw. sie sind in Arbeit. Das BIP, das Bruttoinlandsprodukt, pro Kopf ist gestiegen. Die Arbeitslosigkeit ist auf
10,7 Prozent gesunken. Der Satz „Die Arbeitslosigkeit
ist doppelt so hoch wie im Westen“, den wir uns eingehämmert haben, stimmt nicht mehr; sie ist niedriger. Die
Zahl der Erwerbstätigen ist so hoch wie Anfang der
90er-Jahre. Wir haben da eine gute Entwicklung zu verzeichnen.
Nun haben wir in Deutschland die Art, das Glas,
wenn es halb voll sein könnte und man das nicht zugeben will, einfach zu vergrößern, weil dann der Füllpegel
sinkt. Dann kann man sagen: Siehst du, das Glas ist ja
doch nicht halb voll!
So ist es auch hier. Vor einigen Tagen war die Meldung zu lesen: „Einkommenskluft zwischen Ost und
West wächst“. Sicher wird der eine oder andere Redner
darauf eingehen. Angesichts dieser Meldung ist man besorgt. Wenn man sich das aber einmal genau anschaut,
stellt man fest, dass das nicht stimmt. Der Hintergrund
ist: Die Löhne der abhängig Beschäftigten im Osten sind
genauso gestiegen wie im Westen. Wie kommt dann
diese Meldung über die Kluft zustande?
({3})
- Auch nicht Teilzeit, Herr Claus.
({4})
Es hängt damit zusammen, dass die Zahlungen für die
Transferempfänger relativ gesehen gesunken sind. Woran liegt das? Das ist einzig und allein durch das Rententhema begründet. Die starken Rentenjahrgänge haben
nicht mehr dasselbe Gewicht wie früher. Für Sachsen
kann ich sagen: Vor einigen Jahren war Hoyerswerda
eine der ostdeutschen Städte mit dem höchsten Kaufkraftniveau. Darauf wäre man gar nicht gekommen. Das
war eine Folge der guten Bezahlung im Braunkohlentagebau und der entsprechend hohen Renten. Jetzt gibt es
die ersten Jahrgänge, die uns im Hinblick auf die gebrochenen Erwerbsbiografien Sorgen machen. Da sinken
die Transferzahlungen, und das wird uns beschäftigen.
({5})
Das Thema Rente bleibt auf der Tagesordnung. Aber die
Löhne haben sich gut entwickelt. Das heißt, man muss
solche Horrormeldungen differenziert betrachten.
Was ist nun zu tun? Das kann man in der Kürze der
Zeit nicht im Einzelnen sagen. Aber natürlich bleibt erstens die Frage der zu hohen Arbeitslosigkeit, der Innovation, Forschung und Entwicklung in den Betrieben - und
nicht nur im öffentlichen Bereich - wichtig.
Zweitens. Wir brauchen - das ist ein Schlüsselthema
in dieser Legislaturperiode - eine kluge Anschlussregelung für die Strukturfonds ab 2013. Da sind wir aufs
Engste mit den ostdeutschen Ländern im Gespräch. Bei
diesem Thema geht es wirklich um die Wurst.
Drittens. Wir müssen weg von der Durchschnittsbetrachtung. Durchschnitt Ost gegen Durchschnitt West
trifft die Wirklichkeit nicht mehr. Um Ihnen ein Beispiel
zu nennen: In Rostock ist die Arbeitslosigkeit niedriger
als in Bremen. Zwischen Dresden und der Oberlausitz
gibt es Gehaltsunterschiede zwischen 10 und 15 Prozent.
Die Betrachtung des Durchschnitts verstellt also den
Blick auf die Wirklichkeit in beiden Teilen unseres Landes.
Viertens. Wir müssen mit aller Kraft die Entwicklung
eines durch Ostdeutschland gehenden Korridors in Angriff nehmen. Die Rheinschiene ist voll. Wir brauchen
eine weitere große Nord-Süd-Verbindung in Europa, von
Skandinavien durch die Mitte Europas bis an die Adria.
Die Frage ist nur, ob dieser Korridor in Polen oder bei
uns sein wird. Ich bin dafür, dass er bei uns ist. Deswegen müssen wir etwas tun.
({6})
Fünftens schließlich gibt es zwar die demografische
Herausforderung - das will ich nicht schönreden; das
stellt uns vor gewaltige Probleme -, aber wir können uns
wenigstens einmal darüber freuen, dass die Chancen für
die jungen Menschen besser sind als in den letzten
20 Jahren. Heute gibt es in ostdeutschen Zeitungen
Überschriften wie „Lehrlinge gesucht“ statt wie früher
„Ein Drittel der Lehrstellen fehlen“. Es ist nicht schön,
wenn wir über Fachkräftemangel reden müssen. Aber
ich freue mich, dass wir jetzt den jungen Menschen sagen können: Ihr müsst nicht weggehen. Die Chancen in
unseren Ländern sind vielleicht besser als anderswo. Wir müssen nicht sagen: „Bleibt bitte hier!“, sondern wir
können sagen: Ihr wärt schön blöd, wenn ihr nicht hierbleibt.
Das können wir zum ersten Mal seit 20 Jahren sagen.
Darüber freue ich mich.
({7})
- Wenn Sie auf die Bezahlung abzielen, dann prophezeie
ich Ihnen, dass sie aus purem Eigeninteresse der Unternehmen blitzschnell besser wird. Dafür muss man gar
nicht viel machen. Es wird ganz andere Probleme geben.
Letzter Punkt. Wir haben uns dieses Jahr an 20 Jahre
deutsche Einheit erinnert. Ich habe mich darüber gefreut.
Es gab sehr viele Veranstaltungen: national, regional und
lokal. Auch dort waren die Ostdeutschen ganz zufrieden.
In der Umfrage, die ich eingangs zitiert habe, bejahen
52 Prozent der Befragten die Aussage: „Ich habe mich
gefreut. Es war alles in allem ein würdiges Jubiläumsjahr“. - Na bitte. Ich finde das gut. 2010 war auch für
den Stand der deutschen Einheit und für die Menschen in
Ostdeutschland ein gutes Jahr.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Daniela Kolbe
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Als 1989 in Leipzig und anderswo die
Menschen auf die Straße gegangen sind und wenig später in Berlin die Mauer gefallen ist, war ich neun Jahre
alt. Ob man heute sagt, das ist lange her, oder nicht: Aus
meiner Perspektive war das vor einem Großteil meines
Lebens.
Ich kann mich trotz meines damaligen jungen Alters
noch sehr gut daran erinnern, wie es in der DDR ausgesehen hat, in welchem Zustand die Straßen und die Infrastruktur waren, was man gegessen hat, was man konsumiert hat und mit was man durch die Gegend gefahren
ist. Ich kann mich auch noch gut an die Einschränkung
der Lebensqualität erinnern, zu der die massive Umweltzerstörung geführt hat.
Die DDR hatte für mich einen spezifischen Geruch.
Es roch nach Trabbi.
({0})
In meinem Heimatdorf roch es nach Gülle.
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des InnernBundesminister Dr. Thomas de Maizière
Daniela Kolbe ({1})
Seither hat sich unglaublich viel verändert und verbessert. Jeder, der durch Leipzig, Bautzen oder Schwerin
schlendert - das kann ich allen nur herzlich empfehlen -,
wird dem zustimmen. Überall ist die Infrastruktur sehr
gut ausgebaut. In 20 Jahren wurde durch die Solidarität
der alten Länder und durch die Aufbauleistung der Menschen in den neuen Ländern Beachtliches geschaffen.
Darauf können wir alle miteinander sehr stolz sein.
({2})
Doch nicht alles ist rosig, und nicht in allen Punkten
sind die alten und die neuen Länder gleich. Es gibt noch
große Unterschiede. Das will ich nicht bewerten. Ich will
einfach nur sagen: Es gibt Unterschiede. Die neuen Länder sind anders. Aber wir müssen uns als Politiker
immer wieder aufs Neue fragen, wie wir für die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse und die Chancengleichheit eintreten können. Einige Beispiele für die Unterschiede sind schon genannt worden.
Beispiel Wirtschaftsstruktur. In den neuen Ländern
gibt es einen anderen Branchenmix. Der öffentliche
Dienst ist deutlich wichtiger, wenn es um Beschäftigung
geht. Es gibt deutlich weniger Stammsitze großer Unternehmen, und es gibt immer noch zu wenig mittelständische Betriebe. Gleichzeitig gibt es eine stark verfestigte
Langzeitarbeitslosigkeit.
Für die Zukunftsfähigkeit der neuen Länder ist auch
die Forschungstätigkeit wichtig. Auch dabei gibt es Unterschiede. Im Osten dieses Landes wird leider immer
noch deutlich weniger in den Unternehmen geforscht.
Das liegt auch an der Größe der Unternehmen. Erfreulich ist dagegen die stark aufgeblühte Forschungslandschaft in den Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Dieser Bereich ist auch weiterhin
auf öffentliche Mittel angewiesen. Sie haben es bereits
angesprochen: 2013 werden die Mittel der europäischen
Strukturfonds wegbrechen. Die Frage ist: Was kommt
danach?
Ein weiteres Beispiel ist der Zustand der Demokratie.
Obwohl vor 20 Jahren Zehntausende in den neuen Ländern ihr Leben riskiert haben, als sie für die Demokratie
auf die Straße gegangen sind, müssen wir feststellen,
dass die Zustimmung zur Demokratie in den neuen Ländern geringer ist als in den alten. Das ist ein beunruhigender, ja verheerender Befund. Ebenso verhält es sich
bei dem Thema Rechtsextremismus. In den neuen Ländern ist das ein großes Problem; zwar nicht nur dort,
aber gerade dort.
Beispiel Demografie. Nach der Wiedervereinigung
haben wir eine dramatisch gesunkene Geburtenrate erlebt und danach eine dramatische Abwanderung gerade
von jungen Menschen. Deshalb wird der dramatische demografische Wandel im Osten jetzt schon deutlich. Das
ist ein Punkt - Herr de Maizière, hier möchte ich einen
Wunsch an Sie loswerden -, an dem man von Ostdeutschland lernen kann. Hier werden Phänomene deutlich, die im Osten nur vorweggenommen sind. Sie werden in den alten Ländern auch noch zum Tragen
kommen. Von den Anpassungsmaßnahmen, die in den
neuen Ländern getroffen werden, sollten auch die alten
Länder lernen.
Das ist aber nicht der einzige Bereich, in dem man
von den neuen Ländern lernen kann. Nehmen wir die
Kinderbetreuung: Hier sind die neuen Länder den alten
Ländern im Betreuungsschlüssel, beim Ausbau der Betreuungsplätze und der Qualität durchaus voraus.
({3})
Hier kann ich nur sagen: Wir erwarten vom zuständigen Minister, dass er die Spezifika der neuen Länder erkennt
({4})
und seinen Ministerkollegen und den Zuständigen in den
alten Ländern deutlich macht, wo man von den neuen
Ländern lernen kann. Vor allem aber erwarten wir, dass
Thomas de Maizière weiter hart und sichtbar an der Angleichung der Lebensverhältnisse arbeitet. Genug zu tun
gibt es; das habe ich bereits ausgeführt. Ein wirklich aktiver und sichtbarer Minister, der sich immer wieder
deutlich für die neuen Länder positioniert, wäre wirklich
schick, um es ganz salopp auszudrücken. Leider sehen
wir derzeit wenig davon. Das „leider“ möchte ich dabei
dick unterstreichen.
({5})
Es hapert offenbar noch an der Koordinierung der einzelnen Ministerien mit dem BMI, wenn es um das
Thema Aufbau Ost geht. Das Mindeste, das wir als SPD
erwarten, ist, dass diese Regierung keine Politik gegen
die neuen Länder macht.
({6})
Schaut man auf die aktuelle Regierungspolitik, dann bekommt man ein mulmiges, ja ein beängstigendes Gefühl.
Beispiel Sozialkürzungen. Wenn man einen Blick in
den Sozialatlas des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes
wirft, dann könnte man meinen, dass es die DDR immer
noch gibt, so deutlich sichtbar ist die ehemalige deutschdeutsche Grenze. Dieser Sozialatlas zeigt - für die, die
es nicht wissen -, wo die schwarz-gelben Sozialkürzungen wie stark ausfallen. Die neuen Länder sind hiervon
in einem dramatischen Ausmaß stärker betroffen als die
alten Länder.
Beispiel Stadtentwicklung. Die Bundesregierung legt
die Axt an wichtige Stadtentwicklungselemente, wie
etwa die Programme „Soziale Stadt“ oder „Stadtumbau
Ost“. Das betrifft besonders die vom Strukturwandel betroffenen neuen Länder.
Beispiel aktive Arbeitsmarktpolitik. Die dramatischen
Kürzungen, die Sie gerade beschlossen haben, treffen natürlich - das ist ganz plausibel - die Regionen, in denen
die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist. Diese Regionen
liegen - das hat sogar Herr de Maizière gesagt - in den
neuen Ländern. Sie haben nicht nur gekürzt, Sie haben
Daniela Kolbe ({7})
auch strategisch umgesteuert. Zukünftig soll aktive Arbeitsmarktpolitik vor allen Dingen dann greifen, wenn
Menschen an den ersten Arbeitsmarkt herangeführt werden können. Leider gibt es aber aufgrund der verfestigten
Langzeitarbeitslosigkeit gerade in den neuen Ländern
viele Menschen mit mehrfachen Vermittlungshemmnissen. Was passiert eigentlich mit denen?
({8})
- Ich glaube auch, sie werden abgeschrieben.
Wo sollen sie denn hin? Was wird mit ihnen passieren? Sie gehen zurück hinter die Gardinen in ihre Wohnung. Das ist ein Skandal.
Ich glaube, das Ganze wird eine echte Katastrophe
mit allen sozialen Konsequenzen, die damit zusammenhängen. Mir graut ehrlich gesagt schon vor dem Jahr
2011, wenn ich an diese Menschen denke. Mir graut aber
auch, wenn ich an die Vereine und Verbände denke, die
auf diese Menschen angewiesen sind.
Letztes Beispiel, Flächenerwerbsänderungsgesetz. Ich
habe ja noch gehofft, dass es anders kommen wird. Vor einer Stunde aber wurde dieses Gesetz beschlossen. Hier
betreibt die Bundesregierung Klientelpolitik zulasten der
neuen Länder.
({9})
Für die Landwirtschaft befürchten wir dramatische Auswirkungen. Für die öffentliche Hand sind Mindereinnahmen von circa 1 Milliarde Euro zu befürchten.
Liebe Grüne - das kann ich Ihnen leider nicht ersparen -, in einem Entschließungsantrag zu diesem Thema,
in dem wirklich viel Gutes steht, schreiben Sie unter anderem folgenden richtigen Satz:
Auswüchse der Bodenspekulation bzw. -konzentration müssen vermieden werden.
Das ist ein richtiger Satz. Sie haben vorhin dem Flächenerwerbsänderungsgesetz zugestimmt.
({10})
- Das hat sehr wohl damit zu tun.
({11})
Wir würden uns wünschen, dass Sie die Interessen der
neuen Länder stärker berücksichtigen.
({12})
Zusammenfassend möchte ich sagen: In 20 Jahren
wurde von den Menschen, den Unternehmen und der
Politik viel erreicht. Es geht darum, diesen Prozess aktiv,
energisch und öffentlich weiterzuführen. Da sehe ich bei
Schwarz-Gelb im Moment leider schwarz.
({13})
Für die FDP hat der Kollege Kurth das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Jahr geht zu Ende, damit auch ein Jahr der
Jubiläen.
({0})
Wir konnten fast wöchentlich die jeweiligen Entwicklungen vor 20 Jahren feiern. Wir haben auch hier im Plenarsaal die eine oder andere Jubiläumsveranstaltung
durchgeführt. Insofern ist es schön, dass wir jetzt, am
letzten Sitzungstag des Deutschen Bundestages in diesem Jahr, noch einmal über das Thema der deutschen
Einheit sprechen können.
Der vorliegende Jahresbericht der Bundesregierung
zeigt: Jawohl, der Aufbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte.
({1})
Damit es jeder noch einmal hören kann, wiederhole ich
es sehr gern: enorme Sprünge bei der Infrastruktur, immense Aufholprozesse der Bürgerinnen und Bürger in
Ostdeutschland bei Wohlstand und Lebenserwartung, bei
der Gesundheitsversorgung und bei der Wirtschaftsstruktur. Die neuen Länder haben also einen beispiellosen Aufholprozess hingelegt.
({2})
Es gibt viele Vorzeigeregionen, die zum Teil schon Regionen im Westen übertroffen haben. Kommen Sie einmal nach Thüringen und schauen Sie sich Jena, Arnstadt
oder Eisenach an. Das sind Erfolgsgeschichten.
Diese Erfolge wurden durch den großen materiellen,
aber auch ideellen Einsatz der westdeutschen Bürgerinnen und Bürger erreicht; natürlich wurden sie auch mit
der historischen Leistung und dem Fleiß der Deutschen
in der ehemaligen DDR erreicht, die den Übergang in
ein völlig anderes, bis dahin unbekanntes wirtschaftliches und gesellschaftliches System vollbracht haben.
({3})
Diese Erfolge sind umso bemerkenswerter, wenn man
sich die Situation im Jahr 1990 anschaut, den immensen
Scherbenhaufen, den 40 Jahre SED-Herrschaft hinterlassen hat.
({4})
Es ging der DDR übrigens nicht deswegen so schlecht,
weil die DDR-Bürger nicht so fleißig waren. Im Gegenteil: Sie haben geackert und gerackert; es gab Leistungsdruck, Erfolgsdruck und Erwartungsdruck. Nur konnte
Patrick Kurth ({5})
man in diesem System nicht viel erreichen; daran war
das System schuld. Das System hat Leistung und Erfolg
nicht zugelassen. Das haben wir 1990 geändert; darauf
können wir stolz sein.
({6})
Man kann jetzt mit Interesse verfolgen, dass alle
Fraktionen auf unterschiedliche Art und Weise versuchen, hier Verantwortung zu übernehmen. Bei einer
Fraktion, die eigentlich die Hauptverantwortung für das
trägt, was in den 40 Jahren vor 1990 gelaufen ist, kann
ich nicht erkennen, dass diese Verantwortung tatsächlich
übernommen wird.
({7})
Die Menschen haben ein Land wiederaufgebaut, in dem
Sie gewütet haben. Sie haben die Landschaften im Osten
vergiftet und beschweren sich hinterher, dass sie nicht
blühen.
({8})
Wissen Sie eigentlich, wie viel Arbeit es gemacht hat,
den Dreck wegzuräumen, den Sie hinterlassen haben?
({9})
Dennoch gilt: Wir haben Probleme; sie sind zum Teil
angesprochen worden. Die Abwanderung ist und bleibt
hoch. Das ist angesichts all der Probleme, die sie nach
sich zieht, erschreckend. Dabei befinden wir uns in der
paradoxen Situation, dass einerseits die schwächelnde
Wirtschaftskraft Grund für die Abwanderung ist und andererseits die wirtschaftliche Gesundung Ostdeutschlands durch die Abwanderung nicht so nach vorne gebracht werden kann, wie wir das wollen.
Ich glaube trotzdem, dass es im Osten eine ganze
Menge gibt, worauf wir stolz sein können. Wir haben
eine hervorragende Kindergartenstruktur. Hier könnte
man schauen, ob es vielleicht einen Nachbau Ost im
Westen geben kann. Wir haben Bildungssysteme mit einem Abitur nach zwölf Jahren, die, wenn ich an Thüringen oder Sachsen denke, sehr gut benotet werden und
vorbildhaft sind. Wir haben eine hochwertige Kulturlandschaft: Nirgendwo in Deutschland gibt es mehr Orchester und Theater als in Thüringen oder Sachsen.
({10})
Und es gibt die wiedergewonnene Schönheit der Natur,
die von Jahr zu Jahr von immer mehr Bürgern besucht
wird.
({11})
Es liegt ein Entschließungsantrag der Linken vor, in
dem die Rede - ich will daraus zitieren - von „einer vermeintlich desolaten Ausgangslage nach dem Mauerfall“
ist.
({12})
Sie haben es wieder hineingeschrieben: eine vermeintlich desolate Ausgangslage nach dem Mauerfall. Was
meinen Sie denn mit „vermeintlich“? War es denn früher
schöner in Bitterfeld? War es früher schöner bei Wismut
in Ronneburg? War es früher schöner um das Atomkraftwerk in Rheinsberg oder um das Atomkraftwerk Lubmin, das genauso wie Rheinsberg sofort nach der Wende
aufgrund der Sicherheitsmängel abgeschaltet worden
ist?
Ich muss schon sagen: Das, was Sie hier abliefern,
trägt zur Geschichtsklitterung bei.
({13})
Sie werfen anderen ja Revanchismus vor. Vielleicht trifft
hier das Wort zu: Der Revanchismus der Linken ist an
der Stelle bösartig.
({14})
Meine Damen und Herren, der Aufbau Ost ist und
bleibt kein Thema für eine Vergangenheitsbewältigung,
sondern ist ein aktuelles Thema. Ich sage auch: Das ist
ein Zukunftsthema, es geht um Zukunftspolitik. Vieles,
was im Osten gemacht wird, könnte auch im Westen erfolgreich sein. Zum Beispiel kann man die Konzepte zur
Demografie erwähnen. Die demografische Entwicklung,
die wir jetzt im Osten erleben, wird irgendwann auch auf
den Westen zukommen.
Aus meiner Sicht sollten wir in den Ausschüssen des
Deutschen Bundestages und im Plenum den Aufbau Ost
stärker unter diesen Gesichtspunkten betrachten und
sollten nicht immer nur eine Runde zum Aufbau Ost machen, und dann war es das. Der Aufbau Ost spielt in
viele Themengebiete mit hinein.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen weiterhin einen guten und erfolgreichen Aufbau Ost. Ich wünsche
Ihnen allen frohe Weihnachten und ein gesundes neues
Jahr.
Herzlichen Dank.
({15})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Claus
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beantworten hier die Gretchenfrage: Wie hältst du es mit
der deutschen Einheit? Dazu will ich gerne beitragen.
Wir reden jedes Jahr über den Jahresbericht zum Stand
der deutschen Einheit, in diesem Jahr geschieht das vor
dem Hintergrund des 20. Jahrestages. Um es klar zu sagen: Ich freue mich über jeden Schritt nach vorne, der in
den neuen Bundesländern gegangen wird. Ich tue auch
etwas dafür, dass solche Schritte tatsächlich möglich
sind.
Trotzdem gehört zur Wahrheit, dass die Angleichung
der Lebensverhältnisse in Ost und West seit über zehn
Jahren nicht vorankommt. Die Schere geht nicht nur
nicht mehr zusammen, sondern sie geht auseinander. In
dem Zusammenhang treffe ich überall auf das Bild von
dem halb vollen und dem halb leeren Glas.
({0})
Mit diesem Vergleich kann ich nicht allzu viel anfangen;
denn dieses Bild dient denjenigen, die es benutzen, vor
allen Dingen dazu, die Fakten auszublenden.
({1})
Zu diesen Fakten gehört in der Tat ein Rückgang der
Nettoeinkommen im Osten im Vergleich zum Westen.
Nicht um die 75 Prozent, die Sie genannt haben, geht es,
sondern um die Kritik, die in einer Zeitung steht, die Sie
ansonsten ziemlich lobt, Herr Bundesinnenminister.
Diese Kritik besagt doch: Wir waren schon weiter und
sind wieder zurückgegangen. - Natürlich sagt ein
Durchschnittswert nicht alles aus, aber die Mathematik
außer Kraft setzen können wir auch dann nicht, wenn
wir über die deutsche Einheit reden.
({2})
Nach wie vor haben wir keine einzige Unternehmenszentrale in den neuen Bundesländern.
({3})
Die Arbeitslosenzahlen und die Zahlen für den Niedriglohnsektor sind im Osten etwa doppelt so hoch wie im
Westen. Wir haben kein einheitliches Rentenrecht.
Vielleicht kann ich Sie mit einem Beispiel, auf das ich
in dieser Woche aufmerksam geworden bin, etwas nachdenklicher machen: Ein großes Bundesamt zieht um. Die
verschiedenen Standorte des Bundesbauamts - seine
richtige Bezeichnung ist etwas länger - werden jetzt
konzentriert. Das ist ein guter Prozess. Der Standort Berlin Alexanderplatz ist im Gespräch - eine gute Adresse,
wie ich fand.
Nun habe ich mich mit einer Reihe von Einwänden
vertraut gemacht, die es dagegen gab. Einer dieser Einwände - ich glaube, das ist der entscheidende - ist, dass
im Ostteil der Stadt Berlin die Beamtenpensionen noch
immer niedriger sind als im Westteil. Nun dürfen Sie
dreimal raten, wohin das Bundesbauamt wirklich zieht:
in den Westteil dieser Stadt. So gespalten ist diese Republik nach wie vor, und das ist das Produkt Ihrer Politik;
da können Sie sich nicht herausreden.
({4})
Bestätigungen dafür finden Sie auch in dem angeführten
Sozialatlas. Und Sie wundern sich noch über die Wahlergebnisse im Osten.
Ich will nicht ausblenden, dass ich in dem diesjährigen Bericht auch etwas Gutes gefunden habe. Es geht
um positive Erfahrungen im Osten, die für die ganze Republik nutzbar gemacht werden können. Ich finde eh,
dass die Ostdeutschen vor fünf, sechs Jahren ihr Selbstbewusstsein wiedergefunden haben und das auch ausdrücken. Im Übrigen ist das der Grund dafür, dass die
Umfragen im Osten so ausfallen, wie sie ausfallen, Herr
Bundesinnenminister. Ich denke, dass es in Ostdeutschland einen Erfahrungsvorsprung gibt, der völlig brachliegt und für die Bundespolitik überhaupt nicht genutzt
wird. Ich will einige wenige Beispiele nennen: Die Gesundheitszentren, die früher Polikliniken hießen, wären
wirklich eine sinnvolle Innovation für die ganze Republik.
({5})
Hinsichtlich der Kinderbetreuung kann man im Westen
sehr viel vom Osten lernen.
({6})
Ich würde mich freuen, wenn man hier einmal die Initiative ergreifen würde, um die Kinderbetreuung im Westen
wenigstens auf Ostniveau zu bringen.
({7})
Ich bekomme auch in Bayern Beifall dafür, wenn ich
sage - das wissen wir alle längst -: Wir brauchen ein
einheitliches Bildungssystem anstelle der bildungspolitischen Kleinstaaterei.
({8})
Welcher Bürokratieabbau möglich ist, wenn es um Unternehmensansiedlungen geht, kann sich der Westen
durchaus vom Osten abschauen.
Sachsen-Anhalt wählt am 20. März des nächsten Jahres. Die Linke will auch dadurch ihren Beitrag zur deutschen Einheit leisten, dass sie erstmals den Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt stellt.
({9})
Wir haben in diesem Land vor 15 Jahren Neuland betreten. In Mecklenburg-Vorpommern machen wir den Wählerinnen und Wählern ein inhaltsgleiches Angebot.
({10})
Alles Gute für das neue Jahr! 2011 kann ein gutes
Jahr für die deutsche Einheit werden.
Vielen Dank.
({11})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Stephan Kühn das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Der vorgelegte Bericht ist ehrlicher als die
vorangegangenen, was Lageeinschätzung und Zukunftsaussichten betrifft. Das Ziel wurde leicht nach unten korrigiert: Es geht nicht mehr um die blühenden Landschaften, sondern um das Aufschließen zu den strukturschwächsten westdeutschen Ländern, deren Niveau bis
zum Auslaufen des Solidarpakts II im Jahr 2019 erreicht
werden soll.
Trotzdem sind die Erfolge im Aufbau Ost unbestreitbar. Exemplarisch möchte ich die Verbesserung der Umweltsituation und die Sanierung der ostdeutschen Städte
nennen. Der Anteil der sanierten Gebäude ist im Osten
höher als im Westen. Ich denke, das ist in der Tat ein Erfolg.
({0})
Persönlich kann ich sagen: Die Wende kam gerade noch
rechtzeitig. In meiner Heimatstadt Dresden sollte das
größte zusammenhängende Gründerzeitviertel Europas,
die Äußere Neustadt, durch Plattenbauten ersetzt werden. Zum Glück ist es dazu nicht gekommen.
({1})
Dennoch ist Ostdeutschland geteilt in wirtschaftlich
potente Wachstumskerne einerseits wie beispielsweise
Dresden und abgekoppelte Regionen andererseits, gerade im ländlichen Bereich, die durch den demografischen Wandel zusätzlich benachteiligt sind. Das ökonomische Wachstum stagniert seit Mitte der 90er-Jahre,
und der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts in diesem
Jahr fiel im Osten geringer aus als im Westen. Wir haben
- das ist an mehreren Stellen schon genannt worden eine höhere Arbeitslosenquote. Das Bruttolohnniveau
liegt bei 81 Prozent des Westniveaus, und die soziale Armut ist doppelt so hoch. Ich empfehle dazu die Lektüre
des Sozialberichts des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
Richtig ist, dass im Bericht die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen Ost und West
gestellt wird. Dazu gehören aber auch die Vereinheitlichung des Rentenrechts, die immer noch nicht erfolgt ist,
und gleiche Löhne.
({2})
Die aktuelle Politik der Bundesregierung - darauf haben einige Vorredner zu Recht hingewiesen -, erschwert
den Angleichungsprozess zusätzlich. Die Kürzungen der
Bundesregierung, die mit steigenden Sozialausgaben bei
den ostdeutschen Kommunen verbunden sind, haben erhebliche Auswirkungen. Ich erinnere an die Kosten der
Unterkunft und die Abschaffung des Heizkostenzuschusses. Der viel zitierte Bericht des Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes - man kann das nicht oft genug
wiederholen - zeigt die räumliche Wirkung auf, die in
der Tat sehr besorgniserregend ist.
Im Ausschuss hat Staatssekretär Dr. Bergner zu Recht
darauf hingewiesen, dass es eine Akzentverschiebung
von Infrastruktur zu Innovationen geben muss. Leider
passiert da wenig. Eine strategische Neuausrichtung der
Förderpolitik wäre geboten. Schaut man sich an, wie die
Korb-II-Mittel vergangenes Jahr verwendet wurden,
stellt man leider fest, dass die Bundesmittel für den Verkehrsbereich immer noch höher sind als die Mittel für
die Politikfelder Innovation, Forschung, Entwicklung
und Bildung.
({3})
Die Infrastrukturlücke, die oft beschrieben wird, existiert
nicht mehr. Leider werden hier die falschen Prioritäten
gesetzt.
Herr Minister, Sie haben den Nord-Süd-Korridor angesprochen. Da muss man fragen: Wenn er so wichtig
ist, warum steht er dann hinten an? Zum Komplettausbau der Strecke Dresden-Berlin für eine Geschwindigkeit von 200 km/h fehlen 450 Millionen Euro.
({4})
Die Strecke Dresden-Prag steht nicht einmal im Bundesverkehrswegeplan, geschweige denn gibt es eine Planung oder Finanzierung.
({5})
Künftig muss stärker in Bildung, Forschung, Innovations-, Wissens- und Technologietransfer investiert werden. Die Investitionszulage, wie sie noch heißt, würden
wir gerne in eine Innovationszulage umwandeln. Damit
folgen wir dem Bericht, in dem zu Recht steht:
Die Zukunft des Ostens … hängt von seiner Innovationsfähigkeit ab, …
({6})
Man kann entscheiden, ob man 60 Millionen Euro zum
Bau von 10 Kilometern Autobahn verwendet oder ob
man damit lieber ein Forschungsinstitut gründet. Das
empfehle ich; denn das ist zielführender.
Im Bericht steht, dass die Mittel für Forschung und
Entwicklung stärker regional und mittelstandorientiert
eingesetzt werden müssen. Das ist richtig. Das beschäftigungspolitische Rückgrat in Ostdeutschland ist der Mittelstand. Umso schlimmer ist, dass die Mittel im Bereich
der energetischen Gebäudesanierung gekürzt werden;
denn dadurch gefährden Sie die Arbeitsplätze im Mittelstand, nämlich im Handwerk.
({7})
Gleiches gilt für die Städtebauförderung. Die Bauminister - nicht nur die ostdeutschen, sondern alle - haben
eindeutig und einstimmig in ihrem Beschluss im September dieses Jahres geschrieben:
Die Städtebauförderung ist ein unverzichtbarer Beitrag zum Aufbau Ost.
({8})
Zum Schluss: Ich denke, wir müssen uns - das wird in
dem Bericht nur am Rande gestreift - stärker auf die
ländlichen und peripheren Regionen konzentrieren und
dort eigenständige Lösungen entwickeln. Es reicht eben
nicht, auf die Demografiestrategie, die irgendwann
nächstes Jahr vorliegen soll, zu warten. Wir brauchen
mehr regional angepasste Förderkonzepte, beispielsweise durch den Einsatz von Regionalbudgets.
Kollege Kühn, achten Sie bitte auf das Zeichen.
Ich komme zum Schluss. - Insbesondere die ökologische Modernisierung bietet greifbare und weitreichende
Potenziale für die Entwicklung in den neuen Ländern,
gerade im ländlichen Raum. Sorgen Sie deshalb dafür,
dass die erneuerbaren Energien weiter Wachstums- und
Jobmotor bleiben.
Ich danke für die Aufmerksamkeit und wünsche allen
erholsame Weihnachtsfeiertage.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Manfred
Behrens das Wort.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Wenige Tage nach dem Fall der Mauer am
9. November 1989 wurde aus dem Ruf „Wir sind das
Volk!“ der Ruf: „Wir sind ein Volk!“ Im Anschluss daran
fanden die ersten freien Wahlen statt. Für die Parteien,
die die deutsche Einheit anstrebten, stimmte eine überwältigende Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen. Kurz
darauf trat die Wirtschafts- und Währungsunion in Kraft.
Die D-Mark wurde alleiniges Zahlungsmittel. Am
12. September 1990 unterzeichneten die beiden deutschen Staaten und die Alliierten das Zwei-plus-Vier-Abkommen. Deutschland erhielt seine volle Souveränität
zurück. Die deutsche Einheit wird seit 1990 als Nationalfeiertag gefeiert.
Das Jahr 2010 stand ganz im Zeichen der Erinnerung
an den Aufbau der Demokratie in Ostdeutschland. Es
gibt zahlreiche positive Aspekte. Einige werde ich nun
benennen.
Ich freue mich, dass die Menschen im wiedervereinigten Deutschland an freien Wahlen teilnehmen können. Das war nicht immer so. Die Wahl von Einheitslisten gehört der Vergangenheit an. Freie Wahlen waren in
der DDR faktisch unmöglich. Sowohl bei der Wahlbeteiligung als auch an den Wahlergebnissen wurde zum Teil
erheblich geschönt. Durch die deutsch-deutsche Wiedervereinigung wurde dieses Defizit beseitigt. Das Grundgesetz sichert Wahlen durch Art. 38 ab. Wahlen sind allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim. Diese
grundsätzlich positive Errungenschaft muss an dieser
Stelle erwähnt werden. Sie wird im historischen Kontext
immer wieder mit der deutschen Einheit in Verbindung
gebracht.
Ich freue mich, dass der Lebensstandard in Deutschland deutlich gestiegen ist. Die Wirtschaftsleistung der
neuen Bundesländer ist inzwischen auf 73 Prozent des
Westniveaus gestiegen, vor 20 Jahren waren es lediglich
43 Prozent.
({0})
Noch erfreulicher ist, dass sich die Wirtschaftsleistung
von alten und neuen Bundesländern in den nächsten Jahren weiter angleichen wird.
({1})
Am Ende des Prozesses wird das Niveau gleich hoch
sein. Das Statistische Bundesamt hat dies deutlich belegt, und das ist ein Erfolg für die deutsche Einheit.
({2})
Weiterhin freue ich mich über die positiven Entwicklungen im Bereich des Sports. Im Zuge der Wiedervereinigung wurde das Sportsystem der DDR erfolgreich in
das bundesdeutsche integriert.
({3})
Das ins Leben gerufene Sportstättenförderprogramm
Goldener Plan Ost beseitigte den Mangel an Sportstätten
für den Breitensport in den neuen Ländern.
({4})
Der Neubau von Sportplätzen, Sporthallen und Umkleidekabinen wurde von der Bundesregierung gefördert
und unterstützt. Nachdem die Bundesfördermittel Ende
des Jahres 2009 ausliefen,
({5})
werden aktuell 600 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket II für Sportstätten verwendet. Die Grundversorgung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene ist damit
abgedeckt.
({6})
Manfred Behrens ({7})
Ich freue mich über die positiven Zahlen am Arbeitsmarkt. Kurz nach der Wiedervereinigung waren in den
neuen Bundesländern 30 Prozent der Menschen im erwerbstätigen Alter ohne Job. Dieser Wert sank auf jetzt
11 Prozent. Zudem hat sich der deutsche Arbeitsmarkt
als robust gegen die Wirtschaftskrise erwiesen. Die
Nachfrage nach Arbeitskräften befindet sich in einem
stabilen Aufwärtstrend. Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit zufolge sinkt die Arbeitslosenquote auch
in 2011. Bundesweit werden dann nur noch 7 Prozent arbeitslos sein. Das ist höchst erfreulich, 20 Jahre nach der
deutschen Wiedervereinigung.
({8})
Insgesamt gesehen wird beim Blick auf den Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen
Einheit deutlich: Die Einheit war wichtig, und sie war
richtig. Die vergangenen 20 Jahre haben zahlreiche positive Entwicklungen mit sich gebracht; der Jahresbericht
der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit
belegt dies deutlich.
Auch ich wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest
und geruhsame Tage. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Kollege Behrens, das war Ihre erste Rede in diesem
Hohen Hause. Ich gratuliere Ihnen dazu recht herzlich.
Wir wünschen Ihnen Erfolg bei Ihrer Arbeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache
17/4147 zu dem Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit 2010. Der Ausschuss empfiehlt, die Unterrichtung auf Drucksache 17/3000 im
Rahmen der Plenardebatte erneut zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge, und zwar zunächst über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/4228. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
bei Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4229. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke, Britta
Haßelmann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Wertpapierhandelsgesetzes
- Drucksache 17/4053 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Gerhard Schick.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kurz vor Ende dieser Sitzungswoche und damit der Beratungen in diesem Jahr erbitten wir Ihre Zustimmung zu
unserem Gesetzentwurf, zumindest aber die gründliche
Erwägung der vorgeschlagenen Neuregelung.
Kollege Schick, entschuldigen Sie. Bitte warten Sie
einen Moment, bis Ruhe herrscht, damit auch Ihren Worten Aufmerksamkeit geschenkt werden kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, es sind
aufregende Stunden. Aber vielleicht können Sie die Beratungen, die unbedingt noch stattfinden müssen - außer
der Beratung dieses Gesetzentwurfes -, nach draußen
verlegen.
Bitte, Kollege Schick.
Danke. - Es geht in unserem Gesetzentwurf um die
Verjährungsfristen bei Schadensersatzansprüchen wegen
Falschberatung. Wir haben die Verjährungsfristen noch
zu Zeiten der Großen Koalition verlängert. Die Sonderregelung, die bis dahin galt, ist abgeschafft worden. Als
ich mir die entsprechenden Unterlagen angesehen habe,
stellte ich fest: Wir alle haben damals nicht bedacht - so
gut es war, die Fristen zu verlängern -, dass die vielen
Fälle von Falschberatung oder möglicher Falschberatung, die im Zuge der Finanzkrise aufgetreten sind, von
der Übergangsregelung nicht erfasst werden. Es ist typisch, dass im Rahmen der Finanzkrise besonders viele
solcher Fälle aufgetreten sind. Häufig ist es nämlich so,
dass die Menschen die Effekte einer Falschberatung gar
nicht merken.
Wir schlagen jetzt vor, die Übergangsregelung zu ändern. Warum? Die Menschen, um die es geht - es sind
mehrere Zehntausend in Deutschland; ganz exakte Zahlen liegen nicht vor -, stehen vor dem Dilemma, dass sie
in der Regel mehrere zehntausend Euro verloren haben,
zum Beispiel durch den Kauf von Lehman-Zertifikaten.
Es geht in diesem Zusammenhang aber nicht nur um
Zertifikate, sondern auch um Fondsbeteiligungen und
andere Finanzprodukte. Wer die Tickermeldungen von
heute liest, weiß, dass es auch in anderen Fällen zu
Falschberatung kommen kann. Die Betroffenen, die gerade erst mehrere zehntausend Euro verloren haben,
müssen im Falle einer Klage ein Prozesskostenrisiko von
weiteren 10 000 oder 15 000 Euro eingehen. Da sie nicht
wissen, wie der Prozess ausgeht, trauen sie sich in vielen
Fällen nicht, zu klagen. Eine Rechtsschutzversicherung
trägt die Kosten einer solchen Klage häufig nicht; denn
sie bezeichnet die Produkte, die von einer Bank als vermeintlich sichere Anlagen verkauft worden sind, als spekulative Produkte. Die Betroffenen fallen hier in eine
Lücke unseres Rechtsstaates. Wir meinen, dass es gerechtfertigt ist, die Fälle, die noch nicht verjährt sind,
durch eine veränderte Übergangsregelung aus der Verjährung herauszunehmen.
Ich finde es interessant, dass in diesem Zusammenhang der Rechtsfrieden als Argument angeführt wird, so
geschehen in der Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine unserer Fragen. Für wen geht es hier um
Rechtsfrieden? Es gibt mehrere Banken, die betroffen
wären. Auf der einen Seite gibt es eine Bank wie die
Haspa, die Hamburger Sparkasse, die von sich aus sagt:
Wir wollen ein anständiges Verhältnis zu unseren Kunden haben. - Sie verzichtet auf die Einrede der Verjährung und sagt: Wir geben unseren Kunden zwei Jahre
länger Zeit. - Das ist ein anständiges Verhalten; auch das
muss einmal gesagt werden. Auf der anderen Seite gibt
es allerdings auch eine Bank wie die Targobank alias
Citibank, die dies nicht tut. Würden wir auf der jetzigen
Regelung beharren, würden wir es gerade der Bank, bei
der in Sachen schlechter Beratung wahrscheinlich die
meisten Fälle zu verzeichnen sind, ermöglichen, sich einer Überprüfung durch ein Gericht zu entziehen. Wir
würden die Kunden im Regen stehen lassen.
Ich möchte sehr eindringlich an Sie appellieren, dieser Änderung im Sinne der Kunden zuzustimmen. Es
geht um die Frage: Auf welcher Seite stehen wir als Gesetzgeber? Stehen wir auf der Seite derer, die eine Überprüfung ermöglichen wollen - in diesem Fall wäre es
immer noch Sache des Gerichts, zu entscheiden, ob eine
Falschberatung vorliegt oder nicht -, oder lassen wir es
darauf hinauslaufen, dass keine Überprüfung stattfindet,
weil eine alte Regelung, die von fast allen in diesem
Hause als falsch beurteilt worden ist, Gültigkeit hat?
Hier mit dem Rechtsfrieden zu argumentieren, überzeugt uns nicht. Ich habe mich im Einzelnen erkundigt
und festgestellt: Im Januar 2011 verjährt ein Zertifikat
der Targobank im Wert von 60 Millionen Euro, im Februar verjähren zwei im Wert von 10 Millionen bzw.
7 Millionen Euro, im April weitere. Sie können sich also
ausrechnen, dass bei Fortbestehen der jetzigen Rechtssituation in den nächsten Monaten mehrere Tausend
Menschen nicht mehr die Möglichkeit haben werden,
gerichtlich überprüfen zu lassen, ob sie wegen schlechter
Beratung Ansprüche gegen die Bank haben. Es wird in
der Zwischenzeit höchstrichterliche Entscheidungen zu
Fällen geben, in denen Menschen aufgrund von Provisionszahlungen falsch beraten worden sind. Es wäre
deshalb richtig, den Menschen mehr Zeit zu geben, um
aufbauend auf dieser Rechtsprechung noch Klage zu erheben.
Wir fordern Sie auf, diesen Schritt zu tun. Das wäre
eine gute Konsequenz aus der in diesem Hause schon beschlossenen Verlängerung der Verjährungsfristen. Damit würden wir Rechtsfrieden für diejenigen ermöglichen, die in dieser Finanzkrise möglicherweise durch
falsche Beratung Schaden erlitten haben. Zu entscheiden, ob das so war, ist nicht an uns, sondern das ist Sache
der Gerichte. Aber wir können die Möglichkeit eröffnen,
dass die Menschen vor Gericht ihre rechtmäßigen Ansprüche, so sie bestehen, auch wirklich durchsetzen können, und dazu fordern wir Sie auf.
Vielen Dank.
({0})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Brinkhaus.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Schick, ich war wirklich gespannt, wie Sie es schaffen
würden, diesen sehr komplexen Gesetzentwurf, den Sie
formuliert haben, hier zu erklären. Ich muss sagen - bei
allem Respekt -: Sie sind gescheitert. Ich glaube, kaum
jemand hat verstanden, worauf Sie hinauswollen. Das ist
schade, weil es durchaus ein ernsthaftes Anliegen ist.
Ich möchte meine Ausführungen in drei Teile gliedern. Ich möchte auf Ihren Gesetzentwurf eingehen, ich
möchte darlegen, dass er auch etwas mit Ihrer Grundeinstellung zur Verbraucherpolitik zu tun hat, die mit unserer Grundeinstellung nicht übereinstimmt, und ich
möchte zum Schluss noch einmal darstellen, was wir in
diesem Jahr im Bereich „Finanzregulierung und Verbraucherschutz“ auf den Weg gebracht haben, was gut
und was schlecht war und was wir vielleicht - da beziehe
ich auch uns als Regierungsfraktionen mit ein - besser
machen können.
Kommen wir zu Ihrem Gesetzentwurf. Letztlich geht
es doch darum - ich möchte es am Fall von Lehman erläutern -, dass Menschen Lehman-Zertifikate gekauft
haben, dass sie über das Risiko nicht aufgeklärt worden
sind und viel Geld verloren haben. Teilweise geht es um
ältere Menschen, die ihre Altersversorgung auf diese
Zertifikate aufgebaut und einen erheblichen Schaden erlitten haben. Diese Menschen haben in ihrem Leben
nicht mehr die Chance, das verlorene Geld wieder hereinzuholen. Sie haben bisher nie etwas mit Gerichten zu
tun gehabt. Sie stehen jetzt auf einmal vor der Situation:
Das Geld ist weg. Ihre Bank oder ihr Finanzdienstleister
haben sie nicht richtig beraten, nicht richtig aufgeklärt.
Ich habe versucht, mich in die sehr schwierige Situation dieser Menschen hineinzuversetzen, und habe ges9240
tern noch einmal im Internet recherchiert. Dort finden
Sie eine Vielzahl von Foren und Rechtsanwälten, die auf
dieses Thema spezialisiert sind. Als normaler Mensch
blicken Sie da gar nicht mehr durch. Ihnen wird nur klar,
dass alle sagen: Wenn Sie eine Klage erheben, kostet das
Geld. Sie müssen Gerichtskosten und Rechtsanwaltskosten bezahlen. - Weil viele nicht wissen, was bei einer
Klage herauskommt, scheuen sie dieses Risiko. Das ist
verständlich; denn bei einem Streitwert von 15 000 Euro
- das werden mir die Anwälte hier im Hause bestätigen entstehen schnell Kosten von 4 000 bis 5 000 Euro nur
in der ersten Instanz. Dann fragen sich die betroffenen
Menschen natürlich: Soll ich jetzt auch noch mein letztes
Geld verlieren? - Viele dieser Geschädigten haben deshalb keine Klage erhoben, sondern warten die Entscheidungen von Landgerichten oder Oberlandesgerichten ab;
in einem Fall ist, soweit ich weiß, auch ein Verfahren
beim Bundesgerichtshof anhängig. Sie hoffen auf eine
klare Entscheidung der Gerichte, um ihr Risiko besser
einschätzen und sagen zu können: Wenn ich Klage erhebe, dann habe ich auch eine gute Chance und bekomme eine Erstattung. - Diese Haltung ist verständlich.
Diese Menschen haben jetzt aber ein Problem; denn
für die Klageerhebung gilt bisher eine dreijährige Verjährungsfrist. Diese Verjährungsfrist - Herr Schick hat
es gerade ausgeführt - läuft für viele in den nächsten
Monaten ab. Anfang 2008 war eine besonders wilde
Zeit, zumindest im Bereich Lehman; für diejenigen, die
Anfang 2008 diese Zertifikate erworben haben - 2008
plus drei Jahre -, endet die Verjährungsfrist 2011. Jetzt
fordern Sie eine Verlängerung dieser Frist, damit die betroffenen Menschen noch die Chance haben, das Risiko
zu reduzieren. Das hört sich gut an und ist auch nachvollziehbar, weil die Menschen sehr stark betroffen sind
und viele Schicksale dahinter stehen;
({0})
das muss man ganz klar sagen.
Die andere Seite der Medaille haben Sie in Ihrem Antrag nicht erwähnt; aber ich glaube, wir müssen so fair
sein, beide Seiten zu betrachten. Die andere Seite der
Medaille ist erstens, dass 2009 einvernehmlich festgelegt worden ist, dass die Verjährungsfrist für zukünftige
Fälle - nicht für Altfälle - auf eine Regelverjährung von
zehn Jahren - das bedeutet im Übrigen nicht immer zehn
Jahre, wie mir jeder Jurist bestätigen kann - verlängert
wird. Man hat das Gesetz am 5. August 2009 in Kraft
treten lassen und damit den Schnitt gemacht: Alle folgenden Fälle unterliegen der Regelverjährung, alle Altfälle unterliegen der verkürzten Verjährung. - Man hat
sich damals auch etwas dabei gedacht; denn man hat gesagt: Wir können nur schwer rückwirkend in Sachverhalte eingreifen; denn das ist nicht unbedingt mit unserem Rechtssystem vereinbar. Dafür muss man sehr gute
Gründe haben.
Zweitens hat man gesagt, dass Verjährungsfristen
auch einen Sinn haben, nämlich den Sinn, Rechtsfrieden
herzustellen, unabhängig vom Ansehen der Kontrahenten. Deswegen gibt es in allen Rechtsgebieten Verjährungsfristen.
Man muss noch einen dritten Punkt betrachten, wenn
man diesen Gesetzentwurf bewertet: Wird den betroffenen Menschen tatsächlich geholfen? Wenn man sich die
Urteile anschaut, die schon rechtskräftig sind, oder die
noch anhängigen Verfahren, dann sieht man, dass sehr
viele Umstände gewürdigt werden müssen. Es ist klar,
dass es keine Blaupause bzw. keinen Standardfall gibt,
sondern man muss sich jeden einzelnen Fall angucken.
Irgendwann müssen diese Menschen die Entscheidung
treffen, ob sie Klage erheben oder ein Güteverfahren
einleiten wollen oder nicht. Ich denke, beide Komponenten - auf der einen Seite die Betroffenheit und auch der
Wunsch, diesen Menschen zu helfen, und auf der anderen Seite der Rechtsfrieden und die Zuverlässigkeit des
Rechtssystems, die Sie ein bisschen despektierlich abgewertet haben - müssen gegeneinander abgewogen werden. Wir werden das im parlamentarischen Verfahren
ernsthaft prüfen.
Ich habe aber Zweifel daran, dass am Ende des Tages
das dabei herauskommen wird, was Sie beantragen. Deswegen möchte ich noch eines sagen: Die Betroffenen,
die die Debatte jetzt vielleicht im Fernsehen verfolgen,
sollten ihre Entscheidung, ob sie klagen oder nicht, um
die Verjährungsfrist zu hemmen, nicht danach ausrichten, ob wir die Verjährungsfrist verlängern oder nicht,
sondern sie sollten sich mit ihren Rechtsberatern in Verbindung setzen und die Entscheidung anhand ihrer individuellen Umstände und der individuellen Einschätzung
ihres Risikos treffen. - Das war der erste Block.
Zum zweiten Block: Was hat das mit Verbraucherschutzpolitik zu tun? Das hat insofern etwas damit zu
tun, als dass wir alle in diesem Haus uns hinsichtlich der
Ziele sehr einig sind. Wir möchten für mehr Verbraucherschutz sorgen, weil wir auf diesem Gebiet in den
letzten Jahren zu wenig gemacht haben. Es gibt aber
zwei unterschiedliche Wege dahin.
Herr Schick, der Weg, den Sie - nicht nur in diesem
Gesetzentwurf - aufzeigen, ist, durch eine Vielzahl
neuer Regelungen zu versuchen, eine hundertprozentige
Sicherheit für den Verbraucher zu erreichen, eine Sicherheit, die besagt: Du als Verbraucher hast kein Risiko
mehr, du hast nur noch Chancen. Du als Verbraucher
kannst dich im Zweifelsfall darauf verlassen, dass der
Gesetzgeber dich in allen Belangen schützt und dass im
Zweifelsfall derjenige, von dem du die Finanzdienstleistung erhalten bzw. das Produkt gekauft hast, in Anspruch
genommen wird. - Das führte dazu, dass wir zum Beispiel das Beratungsprotokoll in der Anlageberatung eingeführt haben. Ein solches Protokoll wäre im Fall Lehman übrigens durchaus hilfreich gewesen. Es war eine
gute Idee, die Beratungsprotokolle einzuführen, und sie
sind auch notwendig. Ich frage mich aber, ob wir durch
die Art der Umsetzung nicht genau das Gegenteil dessen
erreicht haben, was wir wollten, dass nämlich dieses Beratungsprotokoll nicht mehr ernst genommen wird, weil
man einen Stapel Papier vor sich liegen hat und es lebensfremd ist, diesen Stapel Papier in jeder Beratungssituation durchzuarbeiten. Die Grünen wollen sogar noch
eins draufsetzen. Sie sagen: Wir müssen dieses Beratungsprotokoll erweitern, weil die ethische, die soziale
und die ökologische Komponente noch fehlen. Ich erRalph Brinkhaus
kenne an, dass man so etwas in die Anlageentscheidung
mit einbeziehen muss; aber damit hätten wir noch eine
Regelung mehr.
Wir verfolgen hier einen anderen Ansatz. Wir als
Union möchten nicht eine Vielzahl von Einzelregelungen, sondern einen Rahmen für einen fairen und transparenten Markt, auf dem die Verbraucher die Chance
haben, ihre Entscheidungen zu treffen - auch falsche.
Zur Marktwirtschaft, auch zur sozialen Marktwirtschaft,
zu einem freiheitlichen Gesellschaftsbild gehört es, dass
man auch falsche Entscheidungen treffen kann und nicht
vor allen falschen Entscheidungen vom Staat geschützt
wird. Deswegen möchten wir als Union uns mehr darauf
konzentrieren, einen Rahmen für den Markt zu setzen,
anstatt eine Vielzahl von Einzelvorschriften auf den Weg
zu bringen; denn diese Einzelvorschriften würden am
Ende nur dazu führen, dass das System nicht mehr handhabbar ist und nicht mehr ernst genommen wird.
Jetzt komme ich zum dritten Punkt. Wir befinden uns
am Ende eines langen Jahres, eines für uns Finanzmarktregulierer und Finanzmarktverbraucherschützer aufregenden Jahres. Wir haben, glaube ich, sechs Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht. Wir haben EURichtlinien umgesetzt wie im Bereich Rating oder Vergütung. Wir haben uns bei dem Verbot der Leerverkäufe
sehr, sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Wir haben die
Kapitaladäquanzrichtlinie mit den Verbriefungen umgesetzt.
({1})
Wir haben bei der Bankenrestrukturierung Wegweisendes auf den Weg gebracht. Im Bereich Anlegerschutz befindet sich momentan - das ist auch unser Thema heute das Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz
im parlamentarischen Prozess. Ich denke, das ist eine
Menge.
Wir haben durchaus einige konstruktive Diskussionen
geführt. Aber ich denke, zwei Dinge müssen wir noch
besser machen. Hier fange ich bei uns, bei den Regierungsfraktionen an.
Ich würde mir wünschen, dass wir die Oppositionsfraktionen mehr in den Gesetzgebungsprozess einbeziehen, dass wir frühzeitiger informieren und dass wir
versuchen, einen weitergehenden Konsens hinzubekommen. Das ist nicht immer gelungen. Das lag teilweise an
der Eigendynamik der Entwicklung, dass wir schnell
handeln mussten, dass wir Dinge etwa aufgrund von
Bundesratsvoten auf den Weg bringen mussten. Aber in
dieser Hinsicht haben wir noch Potenzial nach oben.
Das funktioniert aber auch nur, meine Damen und
Herren, wenn Sie konstruktiv mitdiskutieren. Ich würde
mir wünschen, dass wir die Diskussion über die einzelnen Gesetzesvorhaben sachlicher führen. Ein Beispiel:
Wir machen ein umfangreiches Gesetzgebungspaket, das
sehr kompliziert ist, mit einer Vielzahl von technischen
Einzelregelungen. Das geht im Regulierungs- und Verbraucherschutzbereich manchmal nicht anders. Die Reaktion der Opposition, etwa der SPD, darauf lautet: „Mir
fehlt aber die Finanztransaktionsteuer“. Bei den Grünen
ist die Reaktion: „Mir fehlen jetzt aber die Zertifikate“.
Ich erkenne an, dass Sie in diesen Punkten eine andere Meinung haben. Aber ich würde mir wünschen,
dass wir uns viel mehr an den technischen Details, an
den Einzelregelungen abarbeiten. Denn das können wir
hier nur gemeinsam machen.
Das ist eigentlich die Erkenntnis, die wir in den letzten Jahren und insbesondere in diesem Jahr bezüglich
der Regulierung der Finanzmärkte und des Verbraucherschutzes gewonnen haben: Es ist ein wahnsinnig komplexes Feld. Es ist nicht so, dass irgendjemand die absolute Wahrheit besitzt. Ich glaube, wir als Bundestag sind
aufgefordert, unsere gesammelte Expertise konstruktiv
einzubringen.
Wenn ich mir für das nächste Jahr etwas wünschen
kann, dann würde ich mir erstens wünschen, dass - wie
jetzt beim Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz - weniger darüber diskutiert wird, Herr Schick,
ob die Zertifikate mit hinein müssen oder nicht, und
mehr darüber diskutiert wird, ob die Regelungen, die wir
bei den offenen Immobilienfonds getroffen haben, technisch sinnvoll sind, ob das Produkt dann auch tatsächlich
haltbar ist, ob die Regelungen, die wir bezüglich der Registrierung der Anlagenberater treffen, in dieser Form
umsetzbar sind oder ob das sehr bürokratisch ist. Mein
erster Wunsch wäre also, dass wir das hinbekommen.
Der zweite Wunsch geht in Richtung der Menschen,
die durch Lehman geschädigt worden sind. Ich wünsche
ihnen, dass sie gute Entscheidungen treffen werden und
dass sie, wenn sie tatsächlich falsch beraten worden sind,
wenn die Informationspflichten verletzt worden sind, ihr
Recht bekommen.
Herr Kollege Brinkhaus, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schick?
Ich bin sofort fertig. Ich sage noch den letzten Satz.
Dann können Sie eine Kurzintervention machen. - Ich
wünsche mir, dass diese Menschen zu ihrem Recht kommen. Das gilt insbesondere für die älteren Menschen, die
es nicht wieder ausgleichen können, wenn ihnen Geld
verloren gegangen ist. Ich denke, das würde zum Rechtsfrieden in dieser Republik beitragen. Insofern hoffe ich,
dass es für viele Lehman-Geschädigte zu einem guten
Ausgang kommen wird.
Danke schön.
({0})
Für die SPD hat der Kollege Dr. Sieling das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege hat eben in charmanter Art versucht, deut9242
lich zu machen, dass wir uns in diesen Beratungen auf
die Einzelpunkte konzentrieren
({0})
und nicht auf Grundsatzfragen ausweichen sollen. Sie
haben das aber mit Argumenten getan, mit denen Sie
weit ausgewichen sind. Sie sind gerade von diesem sehr
präzisen Vorschlag, den Bündnis 90/Die Grünen eingebracht haben, doch etwas abgewichen.
Ich will sagen, dass wir in der Darstellung des Problems eine große Einigkeit haben, des Problems nämlich, dass für Fehlberatung durch Banken bis in den August 2009 hinein sehr kurze Verjährungsfristen von drei
Jahren galten, die damit deutlich kürzer waren als die im
bürgerlichen Recht üblicherweise festgeschriebenen Regelungen und die zulasten der Anlegerinnen und Anleger, vieler Bürgerinnen und Bürger gingen, jedoch zugunsten der Banken und der Finanzindustrie gewirkt
haben. Das Anliegen, dass dies geändert werden musste,
ist umgesetzt worden, Kollege Brinkhaus. In der Großen
Koalition hat man gemeinsam mit einer Verjährungsfrist
von zehn Jahren eine vernünftige Grundlage geschaffen.
Das ist breit unterstützt worden. Auch Kollege Schick
hat hier deutlich gemacht, dass er dies für ein richtiges
Vorgehen gehalten hat.
Aber jetzt fällt den Menschen ein Regelungsproblem
auf die Füße: Der Tag, an dem die alte Verjährungsfrist
von drei Jahren abläuft, rückt immer näher. Hierbei geht
es um Käufe in der Zeit vom 1. Januar 2008 bis Anfang
August 2009. Wer in diesem Zeitraum gekauft hat, hat
sozusagen Pech gehabt. Nach meiner Auffassung muss
man damit ernsthaft umgehen. Mir war das nicht ernsthaft genug, Kollege Brinkhaus, wenn Sie hier sagen: Die
Leute beraten sich mit ihren Rechtsanwälten und warten
auf Grundsatzurteile, aber sie müssen sich jetzt entscheiden, vor Gericht zu gehen. - Ich finde, so kann man damit nicht umgehen, man muss den Menschen Zeit dafür
lassen. Die Kosten für ein Gerichtsverfahren belaufen
sich schnell auf mehrere Tausend Euro.
({1})
- Das haben Sie gesagt. Aber wenn man hü sagt, muss
man an dieser Stelle auch hott sagen und springen.
Springen hieße, dass man bitte sehr diese Lücke schließt.
({2})
Wir als SPD halten den Vorschlag von Bündnis 90/
Die Grünen für klug und vernünftig, zu sagen: Wir wollen auch für diese betroffenen Leute gerade vor dem
Hintergrund, dass unsere Gerichte die notwendigen
Grundsatzurteile noch nicht beschlossen haben, zusätzliche Zeit und damit Rechtssicherheit gewinnen. Vor diesem Hintergrund stehen wir diesem Vorschlag sehr positiv gegenüber.
({3})
An dieser Stelle verweise ich darauf, dass es nicht angeht, von diesem Platz aus zu sagen, die Rechtssicherheit sei gefährdet. Das ist auch von uns geprüft worden.
Anderenfalls würde ich hier nicht diese Position vertreten.
({4})
- Na gut, dann will ich „Keiner“ gerne zitieren. Ich habe
heute Morgen in der Financial Times gelesen, dass der
Kollege Dautzenberg, der offensichtlich schon in den
Weihnachtsurlaub entschwunden ist und deshalb dieser
Debatte nicht beiwohnt, sich dazu äußert, indem er - ({5})
- Viele sind im Weihnachtsurlaub. Das war nur eine
Sachverhaltsbeschreibung; das müssen Sie nicht missverstehen.
({6})
Der Inhalt der Aussage vom Kollegen Dautzenberg
war, dass es rechtspolitisch zweifelhaft sei, wenn auch
verbraucherpolitisch verständlich. Rechtspolitisch zweifelhaft! Diese Auffassung teilen wir nicht; wir halten
dies für rechtspolitisch notwendig.
({7})
Ich fordere Sie auf, verbraucherpolitisch klar zu werden,
rechtspolitisch konsequent zu handeln und diese Änderung hier mitzugehen.
Ich will aber auch nicht verschweigen, dass nach meiner Auffassung Ihre Scheu, dieses Thema anzufassen,
damit zu tun hat - diesen Zusammenhang muss man herstellen -, dass Sie bei diesem Thema insgesamt bisher
nicht viel Neues auf den Tisch gelegt haben. Als SPD
haben wir in unserem Antrag vorgeschlagen, die Sonderverjährungsfristen insgesamt zu verlängern. In dem Anlegerschutzgesetz, über das wir ja auch fachlich intensiv
beraten
({8})
und das bald in den Deutschen Bundestag kommt, war
ursprünglich auch vorgesehen, die Sonderverjährungsfristen zu verlängern. Sie - oder wahrscheinlich die Damen und Herren von der FDP unter Führung von Herrn
Brüderle nach vielen Lobbygesprächen - haben diesen
Punkt aus Ihrem Gesetz herausgenommen. Wenn Sie bei
diesen Dingen so um uns als Opposition werben, dann
empfehle ich Ihnen, einen vernünftigen Verbraucherschutz zu machen und diese Sonderverjährungsfristen
auch für die anderen Dinge wieder abzuschaffen.
({9})
Dann wird daraus ein Paket, und dann kann man das machen, was Kollege Schick hier vorgeschlagen hat. Dann
macht man ein vernünftiges Anlegerschutzgesetz und
kommt auf den richtigen Weg. So muss man es machen.
Ich vermute, Ihre Scheu hat mit Ihrer politischen Auffassung und mit Ihrer Schwäche bei ordentlichem, durchgreifenden Verbraucherschutz zu tun.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bedanke mich jetzt vor Weihnachten noch einmal sehr
beim Präsidium dafür, dass es Nachsicht hatte, wenn ich
in meinen letzten Reden meine Redezeit überzog. Heute
gebe ich zwei Minuten und 40 Sekunden zurück und
hoffe, dass dies als Weihnachtsgeschenkt angenommen
wird.
Herzlichen Dank.
({10})
Herzlichen Dank. - Für die FDP-Fraktion hat der
Kollege Holger Krestel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuerst
ein Wort an den Kollegen aus der SPD: Ich sehe bei Ihnen gerade in diesen finanzpolitischen Themen immer
ein Stück weit die Flucht vor der eigenen Regierungsvergangenheit. Wer hat denn die Gesetze, die wir heute zumindest nach dem Wunsch der Grünen nachbessern sollen, federführend in der letzten Regierung mit auf den
Weg gebracht?
({0})
- Ich bin in der letzten Wahlperiode nicht Mitglied dieses Hauses gewesen.
Wer hat denn diese Gesetze federführend verabschiedet? Das war doch die SPD mit ihrem Minister
Steinbrück. Hinterher zu versuchen, einen Robin-HoodEffekt zu erzeugen, ist für viele Menschen draußen nicht
besonders glaubwürdig.
({1})
Ich möchte den Grünen danken, dass sie sich Gedanken über den Anlegerschutz machen. Sie haben recht:
Die große Mehrheit der Anleger sind fleißige Menschen,
brave Sparer, die unsere Unterstützung verdienen. Die
Problematik Ihres Gesetzentwurfs liegt aber in der nicht
vorhandenen Möglichkeit, ihn in unser Rechtssystem
einzuordnen. Rechtliche Regeln beschreiben nicht ohne
Grund einen abstrakten Tatbestand, unter den dann die
einzelnen Fälle der Lebensrealität zu subsumieren sind.
Wenn man sich Ihren Gesetzentwurf zu eigen machte,
stellte man fest, dass sein Anliegen so speziell ist, dass
man hier fast von dem Versuch sprechen kann, Einzelfallgerechtigkeit für jene Anleger zu schaffen, die den
Ausgang anhängiger Verfahren abwarten und dann,
wenn möglich, profitieren wollen; das wäre menschlich
sicherlich in Ordnung. Mich treibt aber Folgendes um:
Wenn Sie anfangen, jede einfache Übergangsvorschrift
nachträglich zu verfeinern - um es ironisch auszudrücken -, dann schaffen Sie bei konsequentem Handeln
eine Regelungsdichte, die so praktikabel wie ein Drahtverhau ist. Dann blickt keiner mehr durch, selbst Juristen
nicht.
({2})
Schließlich wäre noch der Auffassung des Bundesfinanzministers zuzustimmen: Rückwirkende Eingriffe
in das Verjährungsrecht schaffen noch mehr Unsicherheiten. Das heißt, man richtet hier möglicherweise mehr
neuen Schaden an, als man alten Schaden beseitigt.
Kurzum: Gut gemeint ist leider nicht immer gut gemacht.
Ich wünsche Ihnen frohe Weihnachten. Danke.
({3})
Kollege Krestel, das war Ihre erste Rede im Hohen
Hause. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre weitere
Arbeit.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Dr. Axel Troost das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Initiative der Grünen, die wir heute debattieren,
kommt zum richtigen Zeitpunkt. Die Verjährungsfrist für
Schadensersatzansprüche auch auf Falschberatungen
auszudehnen, die vor dem 4. August 2009 stattgefunden
haben, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings
bleibt der Gesetzentwurf aus unserer Sicht in seinem Gesamtanliegen viel zu zaghaft. Denn er berücksichtigt
nicht, dass im Zuge der rigorosen Privatisierung der Altersvorsorge viele Menschen dazu übergehen, auch Papiere mit viel längeren Laufzeiten als zehn Jahre zu erwerben.
Eine Rentenversicherung wird im besten Fall nur einoder zweimal im Leben abgeschlossen, und ihre Qualität
kann man zum Teil erst nach vielen Jahren bewerten.
Dieser Gesetzentwurf hilft somit all jenen überhaupt
nicht, die erst nach Ablauf dieser Zeitspanne auf eine
Schädigung aufmerksam werden können.
Aus diesem Grund forderten wir in unserem Antrag
vom März 2010, dass die Verjährungsfrist bei Falschberatung und fehlerhafter Information auf 30 Jahre ab
Kaufdatum des Finanzproduktes zu erhöhen ist.
({0})
Anlegerschutz ist aber nur das eine; damit haben wir
uns in diesem Jahr durchaus - wenn auch aus unserer
Sicht unzureichend - viel beschäftigt. Das andere - und
darauf möchte ich den Rest meiner Redezeit verwenden ist die zunehmende Zahl von überschuldeten Privatperso9244
nen. Diesbezüglich ist bisher noch gar nichts gemacht
worden.
Die Zahlen aus dem jüngsten „SchuldnerAtlas“ von
Creditreform zeigen: Rund 6,5 Millionen Menschen
über 18 Jahre sind in Deutschland überschuldet und weisen nachhaltige Zahlungsstörungen auf. Seit 2004 ist vor
allem der Anteil von Frauen an den überschuldeten Privatpersonen massiv gestiegen. Auch ist die Entwicklung
bei jungen Erwachsenen problematisch. Von den 20- bis
29-jährigen Einwohnern Deutschlands gelten mittlerweile 10,8 Prozent als überschuldet.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt der Überschuldungsreport des Hamburger Instituts für Finanzdienstleistungen. Dabei stellt er fest, dass vor allen Dingen die sogenannten unvermeidbaren kritischen Ereignisse - das sind
insbesondere Arbeitslosigkeit, Scheidung und Krankheit als Hauptauslöser für Überschuldung gelten, während sogenanntes vermeidbares Verhalten wie das Konsumverhalten und unwirtschaftliche Haushaltsführung gerade
einmal 17 Prozent der Überschuldungssituationen verursachen.
Wir sind daher der Ansicht, dass die Zeit reif ist, sich
endlich auch diesen Herausforderungen einer verantwortungsvolleren Kreditvergabe zu stellen. Die Kreditvergabe
ist ebenso wenig etwas Schlechtes wie die Überschuldung
nicht automatisch ein Zeichen von Verschwendung ist.
Wir kommen aber nicht umhin, das regulative Umfeld des
Kreditmarktes auf den Prüfstand zu stellen.
Es muss das Ziel sein, die von den Kreditgebern eingesetzten Techniken wie das Marketing, die Kreditvergabepraxis, die Risikostreuung und den Umgang mit
säumigen Schuldnern als Auslöser für Überschuldung zu
beseitigen.
Deshalb sollten wir uns als Finanzpolitikerinnen und
Finanzpolitiker und als Verbraucherschützerinnen und
Verbraucherschützer für das Jahr 2011 gemeinsam vornehmen, nicht nur den Anlegerschutz in den Blick zu
nehmen, sondern auch die Überschuldung zu einem
Thema der gemeinsamen Beratungen zu machen.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4053 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Kein Atomendlager bei Lubmin
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Kollege Steffen Bockhahn für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Gestern Abend ist der Castortransport im Zwischenlager Nord bei Lubmin angekommen.
Er hat deutlich länger gebraucht als geplant. Das ist die
erste gute Nachricht, weil es deutlich gemacht hat, dass
es Protest auch in Vorpommern gibt und nicht nur in anderen Teilen Deutschlands.
({0})
Zum ersten Mal wurde westdeutscher Atommüll in
ein ostdeutsches Zwischenlager gebracht. Damit wurde
ein Konsens gebrochen. Es war immer klar, dass im
Zwischenlager Nord nur Müll aus dem Forschungsreaktor Rheinsberg und dem ehemaligen Kernkraftwerk
„Bruno Leuschner“ eingelagert werden soll. Das war allen Beteiligten immer klar. Das war immer Konsens.
({1})
Jetzt haben Sie das erste Mal westdeutschen Atommüll in das ostdeutsche Zwischenlager gebracht, das eigentlich nur für ostdeutschen Atommüll da ist.
({2})
Damit verstoßen Sie gegen das, was vereinbart war, und
das ist nicht in Ordnung.
({3})
Dass Union und FDP mit dem Thema sehr verantwortungslos umgehen, ist bekannt, und das sieht man auch
jetzt wieder. Aber ernsthaft traurig und wütend macht
mich, dass auch die Grünen und die SPD sich hier deutlich verantwortungslos verhalten haben;
({4})
denn dieser Transport geht auf das Jahr 2004 zurück.
Damals hat der grüne Umweltminister Jürgen Trittin
festgelegt, dass diese Transporte durchgeführt werden
sollen,
({5})
dass dieser Müll aus Karlsruhe und von der „Otto Hahn“
in der Nähe von Greifswald im Zwischenlager Nord eingelagert werden soll.
Das hat er gegen den entschiedenen Widerstand des
Landesumweltministers Wolfgang Methling von der
Linken getan. Dass es dort entschiedenen Widerstand
gab, dass man auf Vereinbarungen verwiesen hat, das alles hat die Bundesregierung nicht interessiert. Das wurde
durchgedrückt. Das wurde durchgezogen. Das ist kein
verantwortungsvoller Umgang, nicht mit dem Osten,
nicht mit dem Westen; das ist insgesamt verantwortungslos.
({6})
Insofern ist klar, dass die Grünen bei den Protesten in
Greifswald mal eher nicht zu sehen waren.
({7})
Während man im Wendland in ganzer Garnisonsstärke
anwesend gewesen ist, ist dort, glaube ich, nur ein Bundestagsabgeordneter der Grünen gesehen worden.
({8})
Das war bei uns ein bisschen anders. Wir wissen auch,
warum. Sie sind an der Stelle einfach nicht glaubwürdig.
Sie sind an diesen Atomtransporten schuld. Das haben
Sie zu verantworten.
({9})
Wir haben jetzt schlicht und ergreifend festzustellen,
dass Schwarz-Gelb für blühende Landschaften sorgen
wollte, aber Rot-Grün für eine strahlende Zukunft gesorgt hat. Das ist allerdings kein Erfolgsmodell, das man
fortsetzen sollte.
({10})
Wenn Sie heute erklären, dass das alles nicht so sein
dürfe, muss man klar sagen: Da sind Grüne und SPD unglaubwürdig; denn sie haben die Voraussetzungen dafür
geschaffen, dass Schwarz-Gelb an dieser Stelle so agieren kann, wie das geschieht.
({11})
Das muss man schlicht und ergreifend so sagen. Das
sind die Fakten. Die müssen Ihnen nicht gefallen. Aber
es sind die Fakten, und an denen kommen Sie nicht vorbei.
Dann muss man die Frage stellen: Warum mussten
Sie den Müll überhaupt nach Lubmin transportieren lassen? Das liegt einfach daran, dass Sie keine andere Möglichkeit hatten.
({12})
- Ja. - Es handelt sich um Müll aus deutschen Forschungsreaktoren. Der wurde durch die Bundesrepublik
Deutschland erzeugt.
({13})
Die privaten Atomkonzerne, die von Ihnen selbstverständlich wunderbar protegiert werden - auch die SPD
ist an der Stelle nicht immer ganz lupenrein -, haben
sich geweigert, diesen Müll anzunehmen. Daraufhin
mussten Sie ihn in das bundeseigene Zwischenlager
Nord verschicken lassen. Das heißt, Sie spekulieren sehr
wohl darauf, dass immer dann, wenn Sie den Müll nicht
bei den privaten Konzernen loswerden, das bundeseigene Zwischenlager Nord bei Lubmin dafür herangezogen wird. Damit sind Sie bereit, Vorpommern schleichend zum Atomklo Deutschlands zu machen. Das
werden wir aber nicht mitmachen.
({14})
Vor allen Dingen Leute aus FDP und CDU sagen immer, es sei alles Panikmache, wenn vorgebracht werde,
dass es hier darum gehe, ein großes Zwischenlager oder
womöglich sogar ein Endlager zu errichten. Dazu muss
ich bemerken: Es liegt ja noch mehr Atommüll herum,
der produziert worden ist und für den es Verpflichtungen
gibt. Bei Ihrer Politik ist mir völlig klar, dass der Bestandsschutz, der bisher besteht - das Zwischenlager
Nord hat, in Anführungszeichen, nur acht Hallen -, gar
nichts wert ist. Wenn Sie neue Flächen brauchen, werden
Sie neue Hallen bauen lassen. Dann werden Sie eine
neue Betriebsgenehmigung erteilen. Sie werden alles dafür tun, dass Sie der Atomlobby weiterhin große Geschenke machen können. Dazu brauchen Sie Lagerstätten. Die werden Sie im Zweifel auch in der Nähe von
Lubmin schaffen wollen. Das wird aber auf unseren erbitterten Widerstand stoßen. Ich freue mich, dass der
Protest in Vorpommern immer stärker geworden ist.
Wenn Sie 10 000 Polizistinnen und Polizisten einsetzen, um einen so kleinen Transport durchzuführen, dann
ist Ihnen klar: Auch wenn es nicht die ganz große Bewegung wie im Wendland gibt, hat das, was Sie da tun,
keine gesellschaftliche Mehrheit. - Das werden wir Ihnen jedes Mal aufs Neue beweisen, auch im Frühjahr
wieder, wenn die nächsten Transporte rollen sollen.
({15})
Ganz zum Schluss Folgendes: Wenn Sie sagen, es
handele sich in Lubmin überhaupt nicht um ein Endlager, dann muss ich Ihnen entgegenhalten: Die Genehmigung läuft momentan bis 2039. Ich glaube nicht daran,
dass Sie bis 2039 ein echtes Endlager gefunden haben
werden. Was passiert dann? Dann wird die Betriebsgenehmigung verlängert, und schleichend wird das dort
doch ein Endlager. Das werden wir nicht zulassen.
({16})
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Ursula Heinen-Esser.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich finde es schon erstaunlich, mit welchem Titel wir
heute in diese Aktuelle Stunde gehen:
({0})
„Kein Atomendlager bei Lubmin“. Schon der Titel dieser Aktuellen Stunde, die Sie beantragt haben, ist verräterisch.
({1})
Er ist zutiefst unseriös und absolut irreführend. Sie spielen bewusst mit Ängsten und Sorgen in der Bevölkerung.
({2})
Das ist keine seriöse Politik, die Sie hier machen. Sie
setzen unseriöse Behauptungen in die Welt.
Ich bin erstaunt, dass Sie es geschafft haben, in Ihrer
Rede das Wort „Zwischenlager“ in den Mund zu nehmen, obwohl Sie uns hier das Atomendlager präsentieren wollen.
({3})
- Jetzt können Sie mir zuhören.
({4})
- Ich habe Ihnen sehr genau zugehört. - Es geht hier um
die Fakten. Das Zwischenlager Nord dient in der Tat ganz
überwiegend der Lagerung der bestrahlten Brennelemente aus den in Stilllegung befindlichen Kernkraftwerken Greifswald und Rheinsberg sowie der Zwischenlagerung der aus dem Abbau dieser Anlagen resultierenden
radioaktiven Abfälle. Die Aufbewahrungsgenehmigung
- das haben Sie richtig gesagt - gilt in der Tat bis zum Jahr
2039.
Der Bund hat im Zuge der deutschen Einheit die Aufgabe übernommen, die Kernkraftwerke in der ehemaligen DDR abzubauen und die anfallenden radioaktiven
Abfälle zu entsorgen. Dieser Aufgabe hat sich der Bund
seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik intensiv
und mit hohem finanziellem Engagement angenommen.
Die Kosten sind bis Ende 2009 auf etwa 2,8 Milliarden
Euro angewachsen. Am Rande sei hier auch einmal erwähnt, dass die vom Bund finanzierte Energiewerke
Nord GmbH, der Betreiber des Zwischenlagers, außergewöhnliche Anstrengungen vor Ort zur Nachnutzung
der Liegenschaften am Standort Greifswald unternimmt
und dabei sehr erfolgreich agiert. Zu sonstigen positiven
Wirkungen in der Region, auch auf den Arbeitsmarkt,
wird mein Kollege Lietz gleich sicherlich noch das eine
oder andere sagen.
({5})
Aber in der Tat ist es so, dass mit der Lagerung der
ehemaligen DDR-Abfälle die Kapazitäten des Zwischenlagers nicht erschöpft sind. Die verbleibenden Kapazitäten haben bereits im Jahr 2004 zu der Entscheidung der damaligen Bundesregierung geführt, das vom
Bund finanzierte Zwischenlager Nord auch für die Entsorgung der Forschungseinrichtungen des Bundes nutzbar zu machen. Das ist eine Entscheidung, die der damalige Bundesumweltminister Jürgen Trittin begleitet hat.
({6})
Ich sage ganz klar: Ich halte diese Entscheidung für richtig und verantwortbar.
Gestern wurden vier Behälter mit bestrahlten und unbestrahlten Kernbrennstoffen aus dem ehemaligen Karlsruher Forschungsreaktor und dem ehemaligen Reaktorschiff „Otto Hahn“ zum Zwischenlager Nord verbracht.
Im Übrigen wäre es schön gewesen - Sie haben ja gesagt,
wie viele Polizisten im Einsatz gewesen sind -, Sie hätten
den Polizisten einmal gedankt, die hier nämlich eine sehr
schwere Aufgabe hatten.
({7})
Sie sagen: keine Abfälle aus dem Westen nach Lubmin. Das ist Ihre schlichte Aussage. Aber was ist die Alternative? Die einzige Alternative wäre doch, dass wir
weitere Zwischenlager in Deutschland bauen, mit einem
möglicherweise erheblichen Transportaufwand und vielleicht nicht so guten Auswirkungen auf die Sicherheit,
obwohl wir ein gutes, vernünftiges Zwischenlager in
Lubmin haben.
({8})
Aufgrund dessen ist es richtig, das Zwischenlager in
Lubmin zu nutzen. Eine Unterscheidung zwischen radioaktiven Stoffen aus der ehemaligen DDR und aus dem
Westen, wie Sie sie betreiben, entbehrt jeder sachlichen
Grundlage und ist für mich absolut nicht nachvollziehbar.
({9})
Was wollen Sie den Menschen an anderen Standorten erklären?
({10})
Was wollen Sie den Menschen in Gorleben, in Ahaus, in
der Samtgemeinde Asse erläutern,
({11})
die die gesamtgesellschaftliche Verantwortung tragen?
Das, was Sie machen - ich wiederhole meine Eingangsworte -, ist unseriös und unverantwortlich. Sie
sind nicht bereit, sich einer gesamtgesellschaftlichen
Verantwortung zu stellen.
({12})
Lassen Sie mich zum Schluss den ehemaligen Bundesumweltminister Sigmar Gabriel aus dem Jahr 2006
zitieren:
Ungeachtet meiner Ausführungen zur Sach- und
Rechtslage bin ich der Auffassung, dass es die
Pflicht sowohl des Bundes als auch der Bundesländer ist, alle auf dem Territorium der Bundesrepublik
angefallenen radioaktiven Abfälle - gleich in wessen Zuständigkeit und zu welchem Zeitpunkt sie
angefallen sind - auf der Basis der bestehenden
Rechtsnormen einer sicheren Lagerung in Deutschland zuzuführen.
Diesen Ausführungen ist nichts hinzuzufügen.
Danke.
({13})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Ute
Vogt.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es wird zwar derzeit kein Atomendlager im Zwischenlager Nord in Rubenow eingerichtet, aber faktisch handelt
es sich dabei um ein Endloslager.
({0})
Denn Sie sind es, die bereits im Jahr 2006 verhindert
haben, dass wir die Suche nach einem alternativen Endlagerstandort beginnen, als Sigmar Gabriel das vorgeschlagen hat.
({1})
Sie sind es, die heute mit Gorleben ein totes Pferd reiten und den Menschen vormachen, dass man einen Endlagerstandort gefunden haben könnte, obwohl Sie genau
wissen, dass dies nicht rechtmäßig zustande gekommen
ist und es erhebliche wissenschaftliche Zweifel daran
gibt. Deshalb ist es klar, dass die Menschen dort, wo
Müll hingefahren wird, die Sorge haben,
({2})
dass bei ihnen auf unbestimmte Zeit ein Lager eingerichtet wird.
({3})
Die Heftigkeit des Protestes braucht niemanden zu
wundern. Denn Sie haben mit Ihrer Laufzeitverlängerung jedes Vertrauen in eine glaubwürdige Energiepolitik zerstört, und Sie haben eine Energiepolitik begonnen,
die von Lobbyisten geführt wird und mit der Sie sich zu
reinen Erfüllungsgehilfen der Industrie machen. Deswegen ist die Akzeptanz gerade auch in dem Zwischenlager
Nord nicht mehr gegeben. Es gibt Demonstrationen in
einer Art und Weise, wie es sie früher nicht gegeben hat.
({4})
Wenn Sie heute den Müll hin- und herschieben, dann
müssen Sie sich fragen lassen, wie es wird, wenn man
noch zwölf Jahre draufsattelt. Wo wollen Sie eigentlich
hin, wenn auch das Lager dort schon nahezu voll belegt
ist? Allein der aktuelle Transport kostet das Land Mecklenburg-Vorpommern 1,6 Millionen Euro. Ich kann nachvollziehen, dass man sich angesichts Ihrer aktuellen
Energiebeschlüsse dort heftig wehrt.
Verstärkt wird das Misstrauen durch die Intransparenz, die sich diese Bundesregierung leistet. Darüber,
wer in Rubenow was lagern wird, geben Sie noch nicht
einmal dem Deutschen Bundestag ausführlich Auskunft.
Mit dem Hinweis auf die Wahrung von Geschäftsinteressen und Geschäftsgeheimnissen versagen Sie auch dem
Deutschen Bundestag konkrete Angaben über die Vertragspartner im Einzelnen. Deshalb ist es auch kein
Wunder, dass die Spekulationen bei diesem Thema so
ins Kraut schießen.
({5})
Man kann nachvollziehen, dass gerade in Mecklenburg-Vorpommern die Menschen besonders empört sind.
Denn gerade dieses Land hat wahrlich seinen Beitrag geleistet, und es kann Vorbild für andere sein.
({6})
Da Mecklenburg-Vorpommern schon heute 40 Prozent
seines Nettostromverbrauchs aus Windenergie produziert und damit in Deutschland den zweiten Platz einnimmt, kann man verstehen, dass einem die Zukunft, die
man mit dem Windrad täglich vor Augen hat - eine Zukunft, die erst durch Rot-Grün möglich geworden ist -,
dadurch vergällt wird, dass Sie durch Ihre Energiepolitik
eine unendliche Müllmenge produzieren. Dann kann
man verstehen, dass Ihnen die Menschen nicht mehr vertrauen und sie Sorge und Angst haben, dass sie das, was
von Ihrer Seite dorthin gekarrt wird, nie mehr loswerden.
({7})
Ich denke, die CDU muss eine realistischere Wahrnehmung bekommen. Der CDU-Innenminister von
Mecklenburg-Vorpommern, Herr Caffier, hat sich darüber beschwert, dass er - ich zitiere - „nun den Müll
bekommt, den die Grünen bestellt haben“. Ich sage Ihnen: Viel richtiger ist, dass dieses Land jetzt den Protest
bekommt, den CDU/CSU und FDP provoziert haben.
Das ist die Wahrheit. Das steckt hinter den Protesten.
({8})
Wenn man zurückschaut, stellt man fest, dass es damals in Deutschland bei der Einführung der Atomenergie auch in meiner Partei einen breiten politischen Konsens gab.
({9})
Im Gegensatz zu anderen haben wir aber in verantwortlicher Weise eine Neueinschätzung dieser Technologie
vorgenommen und nicht ignoriert, was uns Wissenschaft
und Technik im Laufe der Jahrzehnte in Bezug auf die
Gefährdungen durch eine solche Technologie gezeigt haben.
({10})
Wir haben deutlich gemacht, dass es einen klaren, für
alle verlässlichen Weg gibt, diese Technologie einem
Ende zuzuführen, eine Technologie, der schon das Sterbeglöckchen geläutet hat, bevor Sie sie praktisch wieder
zum Leben erwecken wollen.
Das zerstört den energiepolitischen Konsens in diesem Lande. Sie sorgen für Unfrieden. Sie sorgen für
450 Tonnen mehr hochradioaktiven Müll, und das Jahr
für Jahr für die nächsten zwölf Jahre. Das ist unverantwortlich. Sie werden nicht umhinkommen, die Proteste
wahrzunehmen. Vor allen Dingen werden Sie 2013 die
Quittung für Ihr Handeln bekommen. Die Kräfte, die
dann an die Regierung kommen, werden die Laufzeitverlängerung wieder beenden, damit wieder Frieden in
diesem Land herrscht und vor allem eine zukunftsfähige
Energiepolitik betrieben wird.
({11})
Der Kollege Michael Kauch hat nun für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Linke hat heute noch einmal gezeigt, dass bei ihr die
Mauer im Kopf immer noch da ist.
({0})
Ich kann an dieser Stelle nur deutlich sagen: Wir können Altlasten aus nuklearen Abfällen nicht gegeneinander aufrechnen. Es war die Vorgängerpartei der Linken,
die damals in der DDR regiert oder besser gesagt über
die DDR geherrscht hat. Diese Partei hat ein Endlager in
Morsleben gebaut, das nicht den Anforderungen westdeutscher Sicherheitsstandards entspricht und deshalb
jetzt auf Kosten des Bundes - wohlgemerkt - und nicht
des Landes Mecklenburg-Vorpommern oder anderer ostdeutscher Länder saniert wird. Hier zeigt der Bund seine
Solidarität. Diese Solidarität ist keine Einbahnstraße.
Wir haben eine nationale Verantwortung. Wir enden
nicht in der Kleinstaaterei, auch nicht, wenn es um die
Verantwortung für nukleare Abfälle geht.
({1})
Das Thema, das Sie für die Aktuelle Stunde angemeldet haben, „Kein Atomendlager bei Lubmin“, ist nur
peinlich. Hierzu kann ich Ihnen sagen: Niemand will ein
Endlager bauen. Nein, niemand kann hier ein Endlager
bauen, weil die geologischen Voraussetzungen dafür
überhaupt nicht vorliegen. Aber es ist natürlich klar:
Eine Partei, in der auch früher die Menschen gesagt haben, dass sie keine Mauern bauen wollen, glauben natürlich nicht daran, wenn andere Menschen sagen, dass sie
kein Endlager in Lubmin bauen wollen.
({2})
Dieser Provinzialität und Engstirnigkeit, die die Linke
hier an den Tag legt, nämlich Verantwortung nur bis zum
eigenen Gartenzaun zu zeigen, setzt Frau Vogt noch die
Krone auf. Frau Vogt hält hier eine Hetzrede gegen die
schwarz-gelbe Regierung.
({3})
An dieser Stelle muss ich sagen: Sie wollen zündeln, Sie
wollen die Protestprofiteure werden.
Nur, so wird die traditionsreiche sozialdemokratische
Partei nicht gewinnen. Denn die Grünen können das
Aufrufen zu Demonstrationen und die Linken das Aufrufen zum Schottern viel besser als Sie. Deshalb sollten
Sie zu einer verantwortungsvollen Politik zurückkehren.
Denn Sie haben in diesem Land Verantwortung getragen, auch für die Abfälle, die wir heute transportieren.
({4})
Liebe Frau Vogt, liebe Frau Kotting-Uhl - Sie reden
gleich -, es ist auch Ihr Müll, der hier transportiert wird.
Der rot-grüne Umweltminister hat diesen Transport sozusagen in Auftrag gegeben. In Gorleben gab es zehn
Jahre lang einen Stopp bei der Erkundung der Eignung
für ein Endlager. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass
die rot-grüne Regierung - in den letzten zehn Jahren war
nicht nur die Union an der Regierung - an anderer Stelle
ein Endlager gesucht hätte.
Frau Vogt, Sie loben hier Mecklenburg-Vorpommern
dafür, dass es 40 Prozent des Stroms aus Windkraft gewinnt. Man sollte aber auch erwähnen, dass in Ihrem
Bundesland 50 Prozent des Stroms aus Kernkraft stammen.
({5})
Vielleicht sollten Sie Ihren Wahlkreis als Standort für ein
neues Zwischenlager anmelden. Das tun Sie aber nicht.
Sie wollen hier zündeln, aber keine Verantwortung tragen. Das, was die Opposition hier abliefert, ist wirklich
unterste Schublade.
({6})
Es wird dem Anspruch an eine verantwortliche Politik
nicht gerecht.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Ich war
im Sommer in Mecklenburg-Vorpommern. Da hat man
mich darauf angesprochen, dass die Landesregierung
dort einen Anteil der erneuerbaren Energien an der
Stromversorgung von 100 Prozent erreichen will. Ich
habe die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern dafür gelobt. Ich habe aber den Hinweis gegeben,
dass der Blick auf ein einzelnes Bundesland auch bei der
Energieversorgung nicht hilfreich ist. Denn Mecklenburg-Vorpommern und andere Länder an der Küste, die
es bei der Nutzung der Windkraft leicht haben, weil dort
mehr Wind als beispielsweise in Bayern weht, brauchen
ein Back-up, wenn der Wind nicht weht.
({7})
Wir sprechen hier über ein nationales Energieversorgungssystem. Die Energiesicherheit in MecklenburgVorpommern ist nur gewährleistet, wenn das Land in
dieses nationale System eingebunden ist.
({8})
Im Übrigen profitieren auch die Menschen an der
Küste davon, dass die Industrie, die beispielsweise an
der Ruhr oder im Rhein-Main-Gebiet angesiedelt ist,
über eine sichere Stromversorgung verfügt;
({9})
denn das sichert Arbeitsplätze in der gesamten Republik.
Wir können nicht so tun, als ob einzelne Bundesländer
energieautark wären. Sie sind es nicht, sie werden es
nicht sein. Deshalb müssen wir gemeinsam Verantwortung für unser Land tragen.
Vielen Dank.
({10})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Sylvia Kotting-Uhl das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Bockhahn, wir sind uns beim Ziel der Energiepolitik
wahrscheinlich ziemlich einig. Man kann aber nicht so
inflationär mit dem Begriff „Atommüllendlager“ umgehen, wie Sie es heute gemacht haben. Wenn man ein
Atommüllendlager finden, auswählen und so benennen
möchte, muss man bestimmten Kriterien folgen.
({0})
Wenn Sie das, was in Lubmin steht, als Atommüllendlager bezeichnen - egal vor welchem Hintergrund, mit
welcher Zielrichtung Sie es so bezeichnen -, ist das
schlimmer, als wenn andere sagen, Gorleben sei ein supertolles Endlager. Ich kann das nicht akzeptieren. Außerdem - falls Sie es nicht wissen -: In Ahaus lagert
zum Beispiel Atommüll aus Rossendorf. Sollen wir den
Atommüll zurückschicken und ihn in Rossendorf vor die
Tür legen?
({1})
Sie haben richtigerweise gesagt, dass die Zwischenlagerung 2003 beantragt und anschließend genehmigt worden ist. Die Zwischenlager in Ahaus und Gorleben werden von der Privatwirtschaft, von der Atomwirtschaft,
betrieben; Sie haben die Zwischenlagerung abgelehnt.
Das Zwischenlager muss immer selber den Antrag auf
Aufbewahrung stellen.
Jetzt sagen Sie einmal: Wohin hätte man denn gehen
sollen? Mein Wahlkreis ist Karlsruhe. Insofern hat Herr
Kauch sogar recht: Es ist auch mein Müll. Ich habe ihn
nicht produziert; aber er stammt aus meinem Wahlkreis.
Dieser Müll ist jetzt in Lubmin gelandet. Wo hätten wir
ihn denn lassen sollen? In der Großstadt Karlsruhe, in
der es damals zusätzlich die gerührte hochradioaktive
Atomsuppe gab? Hätte man den ganzen Müll mitten in
der Großstadt lassen sollen? Lubmin ist das einzige bundeseigene Zwischenlager. Damals gab es, wie Sie richtig
gesagt haben, keine andere Lösung.
Jetzt können Sie den Verursacher des Atommülls angreifen.
({2})
- Sie können auch eine Zwischenfrage stellen. - Oder
Sie können, wie Sie es gemacht haben, die Verursacher
der Genehmigung angreifen. Jetzt fragen Sie sich einmal
ernsthaft, welcher Angriff der bessere wäre, und dann
können wir beide gemeinsam weiterreden.
Herr Kauch, Sie sind heute bei Ihren Aussagen zu den
Erneuerbaren weit unter Ihren Fähigkeiten und unter Ihren eigenen Kenntnissen geblieben. Das muss ich Ihnen
kurz vor Weihnachten noch mitgeben.
({3})
Die Zeit ist mir wirklich zu schade, um noch einmal
die Geschichte des vermeintlichen Endlagers und des
Standorts Gorleben zu erzählen. Aber dass Jürgen Trittin
ein Endlagersuchgesetz ausgearbeitet hat, dass er Kriterien für die Endlagersuche hat erarbeiten lassen, dass
dann die vorgezogene Bundestagswahl dazwischenkam,
ist doch inzwischen Allgemeingut. Muss man das in jeder Debatte wiederholen?
({4})
Der Endlagersuchprozess wäre längst gestartet, wenn
die Regierung nicht gewechselt hätte. Aber Schwarz-Rot
konnte sich nicht einigen. Sie glauben, man könnte das
alles in Gorleben abladen. Es ist ziemlich unerträglich,
was Sie zum Teil von sich geben.
Ich will Ihnen jetzt aber einmal sagen, worum es
heute und in Lubmin tatsächlich geht. Wir haben in einer
Kleinen Anfrage gefragt, worum es in Lubmin eigentlich
geht und was dort in Zukunft geplant ist. Aus der Antwort auf die Kleine Anfrage vom 29. November 2010
will ich Ihnen einmal einiges zitieren. Daraus geht übrigens auch völlig klar hervor, dass die erste Genehmigung zur Pufferlagerung unter Frau Merkel erfolgt ist
und nicht schon in 2004. Frau Merkel hat damals das
Zwischenlager Lubmin für den westdeutschen Müll geöffnet. Herr Trittin hat eine Genehmigung erteilt, aber er
hat es nicht geöffnet.
({5})
Man muss auch klar sagen, wie die Dinge angefangen
haben.
Und jetzt will ich Ihnen aus einer Kleinen Anfrage
von mir vom 29. November zitieren. Bei den Planungen
steht zum Beispiel noch, dass der Müll aus der WAK
kommt - der Eigentümer wird immer genannt -, Herkunftsort ist Karlsruhe/Geesthacht/Cadarache. - Das ist
alles richtig. Dann kommen weitere Beschreibungen. Da
heißt es dann in der Rubrik Eigentümer plötzlich nur
noch: Dritte, in der Rubrik Herkunftsort nur noch: KKW.
KKW heißt Kernkraftwerk. Vorher heißt es noch KGR
für Kernkraftwerk Greifswald, KKR für Kernkraftwerk
Rheinsberg. KWO wäre übrigens Atomkraftwerk Obrigheim. Das müsste hier stehen. Das heißt, hier findet eine
ungeheure Geheimniskrämerei statt.
Wir sollten uns einmal gemeinsam Gedanken darüber
machen und dem nachgehen, was unter Herrn Rittscher
- vormals bei der GNS -, auch einer der bekennenden
Atomlobbyisten in unserem Land, passiert. Dieses Zwischenlager wird jetzt sukzessive zum Geschäft gemacht.
Es soll für Müll aus Atomkraftwerken geöffnet werden,
obwohl das völlig unnötig ist. Dagegen müssten wir gemeinsam vorgehen, anstatt dass Sie sich darüber aufregen, dass das ein Transport aus Westdeutschland ist.
({6})
Das ist Forschungsmüll, öffentlicher Müll, der in das
einzig öffentliche Zwischenlager kommt.
({7})
Ich will aber Ihnen von der Regierung noch etwas sagen: Sie kommen mit Ihrer veränderten und verfehlten
Energiepolitik einerseits und den Polizeieinsätzen andererseits, die überall - ob in Stuttgart, ob in Gorleben oder
jetzt in Lubmin - absolut verschärft werden, garantiert
nicht weiter. Schauen Sie sich einmal die Berichte aus
Lubmin an! Schauen Sie sich an, was dort wieder passiert ist, wie Leute in Gewahrsam gehalten wurden.
({8})
Sie wurden von überforderten Polizisten stundenlang
willkürlich und unangemessen in der Kälte festgehalten.
Die Polizisten haben die einen in einen Gefangenentransport und die anderen in einen Reisebus gesteckt. Sie
wussten nicht, was sie tun sollten.
Sie tragen Ihre Energiepolitik auf dem Rücken der
Polizei aus, zunehmend in ganz Deutschland. Davon
müssen Sie runterkommen, das gefährdet die Rechtsstaatlichkeit in unserem Land.
({9})
Das regt mich nicht nur als Abgeordnete, sondern auch
als Bürgerin auf. Solche Politik können Sie nicht machen! Hören Sie auf damit! Behandeln Sie wenigstens
Ihre Polizisten und die Demonstranten angemessen!
({10})
Die Demonstranten nehmen ein Grundrecht wahr, und
die Polizisten wollen ihre Arbeit tun. Sie verunsichern
beide Seiten. Das geht nicht! Hören Sie auf damit!
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Paul für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
der Linken ja schon fast dankbar dafür, dass sie heute
diese Aktuelle Stunde beantragt hat, weil wir so einmal
zeigen können, wie unseriös Ihre Politik ist, wie Sie systematisch versuchen, die Menschen in diesem Lande für
dumm zu verkaufen.
({0})
Sie vergießen hier Krokodilstränen und beklagen sich
über die lange Dauer der Zwischenlagerung bis zur Abführung an ein Endlager für radioaktive Abfälle. Auf der
anderen Seite machen Sie alles, um Fortschritte bei der
Erkundung des Salzstocks Gorleben zu verhindern. Dabei brauchen wir doch Fortschritte bei der Erkundung,
um möglichst zügig ein Endlager einrichten zu können.
Wir müssen Sicherheit haben, ob Gorleben ein geeigneter Standort ist oder nicht. Man kann nicht auf der einen
Seite die Erkundung nicht mittragen und auf der anderen
Seite eine lange Zwischenlagerzeit beklagen. Dieses widersprüchliche Verhalten nimmt Ihnen nun wirklich keiner ab.
({1})
Es ist sicherlich richtig, dass die Entsorgung radioaktiver Abfälle eine gesamtstaatliche Aufgabe ist. Das gilt
umso mehr, wenn die Verursacher dieser Abfälle öffentliche Einrichtungen wie Forschungseinrichtungen sind.
Es ist auch richtig und entspricht dem Verursacherprinzip, dass die öffentliche Hand dann einen Entsorgungsweg sucht, sowohl was den sicheren Abbau der Forschungseinrichtungen angeht, sofern man sie nicht mehr
braucht, als auch was den Transport, die Verpackung, die
Zwischenlagerung und letztlich auch die Endlagerung
angeht. Deshalb war und ist es richtig, dass es ein Konzept für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle aus
deutschen Forschungseinrichtungen gibt.
Ich verstehe wirklich nicht, warum die SPD heute hier
Verständnis für die Proteste zum Ausdruck bringt.
({2})
Schließlich ist das Konzept im Jahr 2004 entwickelt
worden. Danach sollen die Forschungsabfälle zentral im
einzigen bundeseigenen Zwischenlager, im Lager Lubmin, bei den EWN, den Energiewerken Nord, eingelagert werden. Der damalige Umweltminister Trittin von
den Grünen und die damalige Forschungsministerin
Bulmahn von der SPD haben das festgelegt. Heute wollen Sie davon nichts mehr hören. Das ist typisch für die
SPD. Egal wo man hinschaut, überall fällt sie um: Rente
mit 67, Stuttgart 21 und heute auch noch beim ZLN.
({3})
Wenn Sie schon damals der Auffassung gewesen wären, dass das Konzept falsch ist, hätten Sie doch anders
handeln können. Sie selber haben im Jahr 2002 eine Verpflichtung zur Errichtung standortnaher Zwischenlager
ausschließlich für die privaten Kernkraftwerke im Ausstiegsgesetz festgeschrieben. Sie haben die Forschungseinrichtungen ausdrücklich ausgenommen. Wenn Sie die
Transporte quer durch Deutschland hätten verhindern
wollen, dann hätten Sie das tun können. Ich hätte das
nicht für richtig gehalten. Sie haben damals nichts getan,
stellen sich heute aber hier hin und sagen, dass Sie Verständnis für die Proteste haben. Das ist unseriös, und das
müssen wir hier heute auch so sagen.
({4})
Wer damals die Weichen gestellt hat, kann sich heute
nicht auf die Schienen setzen und versuchen, den Zug,
der auf diesen Schienen fährt, aufzuhalten.
({5})
Zum Schluss muss ich mich ausdrücklich gegen den
Vorwurf wehren, dass die Einrichtungen der EWN in
Lubmin ausschließlich als Müllabladeplatz verwendet
werden; hier ist sogar das schlimme Wort „Atomklo“ gefallen. Die EWN, Energiewerke Nord GmbH, ist eine
bundeseigene Gesellschaft, die den Rückbau der DDRReaktoren in Greifswald und Rheinsberg organisiert hat.
Sie hat das so gut gemacht und sich eine so hohe Kompetenz angeeignet, dass sie mittlerweile nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene als
Know-how-Träger eingesetzt wird. Bei der Abwrackung
der russischen U-Boot-Flotte in Murmansk unterstützt
die EWN. Außerdem ist sie der zentrale Dienstleister für
alle öffentlichen Forschungseinrichtungen des Bundes.
Ob es der AVR in Jülich oder eine Einrichtung in Karlsruhe ist, die EWN ist der kompetente Dienstleister. Das
heißt, Mecklenburg-Vorpommern ist viel mehr als das
„Atomklo“, wie Sie von den Linken hier sagen. Damit
schlagen Sie auch den über tausend Beschäftigten vor
Ort ins Gesicht. Das können wir nicht zulassen, und das
müssen wir hier auch deutlich sagen.
({6})
Meine Schlussworte gelten, nicht nur weil dies die
letzte Sitzung vor Weihnachten ist, den Polizisten und
den Einsatzkräften, die es ermöglicht haben, dass dieser
Transport trotz ungünstiger Voraussetzungen zügig das
Zwischenlager erreicht hat. Ich danke ihnen dafür.
Ihnen allen wünsche ich eine schöne Weihnachtszeit.
Auf Wiedersehen!
({7})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Sonja Steffen
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Dr. Paul, mit einer Aussage haben Sie recht: Eigentlich ist alles ganz schön in
Lubmin bzw. Rubenow. Denn abseits von Lärm, Stress
und Hektik, unberührt von Massentourismus erwarten
komfortable Hotels und gemütliche Pensionen ihre
Gäste. Ganz in der Nähe gibt es ein Atommüllzwischenlager, das noch immer kaum entdeckt ist: Lubmin. Wieso
nur hat sich bislang kaum jemand für die abgelegenste
Atommüllhalde Deutschlands interessiert?
Auch der Sozialismus setzte auf Atomkraft. In Lubmin entstand - das haben wir schon gehört - in den 70erJahren das größte Atomkraftwerk der DDR. Das Kernkraftwerk „Bruno Leuschner“ in Lubmin bei Greifswald
versorgte bis 1990 die Nordbezirke mit Strom. Dann
wurde es - auch das kam schon zur Sprache - wegen Sicherheitsbedenken abgeschaltet. Gott sei Dank!
({0})
Ein 3,2 Milliarden Euro teures vom Bund finanziertes
Stilllegungsprogramm begann. Die strahlende Hinterlassenschaft - es sind immerhin mehr als 5 000 Brennelemente - lagert seit 2006 verpackt in 65 Castoren im bundeseigenen Zwischenlager in Lubmin, das eigens für die
DDR-Kraftwerke gebaut wurde.
({1})
Die Zwischenlagerung der Abfälle in Lubmin ist bis
2039 befristet. Angesichts des Endlosstreits über ein atomares Endlager für hochradioaktive Abfälle gibt es
jedoch Befürchtungen, dass der Atommüll über den Genehmigungszeitpunkt hinaus in Lubmin lagern wird.
Kollege Bockhahn und meine Kollegin Ute Vogt haben
darauf schon hingewiesen. Diese Bedenken sind ernst zu
nehmen. Die Befürchtungen scheinen nicht ganz unbegründet zu sein. Denn selbst die Energiewerke Nord als
Betreiber des Zwischenlagers schließen angesichts der
Endlagerdebatte eine längere Lagerung in Lubmin inzwischen nicht mehr aus.
({2})
Noch 2009 hat das Bundesamt für Strahlenschutz in
seinem Statusbericht zur Atomenergienutzung ausgeführt, dass das Zwischenlager Lubmin der Aufnahme
von abgebrannten Brennelementen, Kernbrennstoffen
und sonstigen radioaktiven Abfällen aus den ostdeutschen Reaktoren Rheinsberg und Greifswald dient. Es
scheint so, dass derzeit bevorzugt Standorte in strukturschwachen Gegenden gewählt werden, in denen mit wenig Protest zu rechnen ist.
({3})
Hier wird nach einem Prinzip gehandelt, das wir auch
aus anderen Bereichen, zum Beispiel Gentechnik oder
Tiermastfabriken, kennen: Man geht immer dorthin, wo
der Widerstand als am geringsten einzustufen ist.
({4})
Sie werden sich hier aber kräftig irren.
({5})
Die Proteste gegen das Bombodrom und die Proteste gegen das ursprünglich geplante Kohlekraftwerk in Lubmin haben gezeigt, dass Widerstand auch im strukturschwachen Osten möglich und erfolgreich sein kann.
({6})
Am letzten Wochenende haben 3 000 Atomkraftgegner - das mag gesamtdeutsch betrachtet wenig sein, aber
für den Osten war es die größte friedliche Demonstration
gegen Atomkraft, die wir bislang erlebt haben - friedlich
in Greifswald demonstriert. Sie alle wissen - meine Kollegin Ute Vogt hat schon eindrücklich darauf hingewiesen -, dass sich die Proteste auch und vor allem gegen
die von der schwarz-gelben Regierung beschlossene
Laufzeitverlängerung richten.
({7})
Das geschieht mit gutem Grund. Mit der Atomlobby
wurde ein Deal vereinbart, der den Konzernen Milliardengewinne bringt und durch den weitere Tausende von
Tonnen hochradioaktiver Abfälle angehäuft werden. Wir
hatten einmal einen Kompromiss in Deutschland, in dem
die Beendigung der Laufzeiten festgelegt wurde.
({8})
Es war von dieser Bundesregierung mehr als unklug,
diesen Konsens auszuhebeln. Die Bürger protestieren
nicht grundlos.
({9})
Ich selber bin bei der Demonstration am letzten Wochenende in Greifswald dabei gewesen. Einige Kollegen, die heute hier sitzen, waren das auch, zum Beispiel
Kollege Bockhahn. Von der CDU/CSU habe ich jedenfalls niemanden gesehen, von der FDP übrigens auch
nicht.
({10})
Ich muss Ihnen sagen: Ich war sehr stolz, dass zu den
Teilnehmern auch unser Ministerpräsident Erwin
Sellering, der Bischof der Pommerschen Evangelischen
Landeskirche, Hans-Jürgen Abromeit, und viele Vertreter der Gewerkschaften gehörten. Die Demonstration
verlief absolut friedlich. Laut Polizei gab es keine Zwischenfälle.
Wenn der Kollege Ahrendt von der FDP in der gestrigen Debatte zum Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte behauptet, dass der Ministerpräsident des Landes
Mecklenburg-Vorpommern „geistige Beihilfe zum Widerstand gegen Polizeibeamte“ geleistet habe, so ist dies
nicht nur eine Diffamierung, sondern auch eine Missachtung der Rechte der Menschen, die durch den Protest ihren Unmut an der derzeitigen Politik der schwarz-gelben
Regierung friedlich zum Ausdruck brachten.
({11})
Aber vielleicht entschuldigen Sie sich ja gleich noch, Sie
sind ja im Anschluss meiner Rede an der Reihe. Die
Grundrechte der Meinungsfreiheit und der Demonstrationsfreiheit stehen unter einem besonderen Schutz. Es
ist das gute Recht der Bürgerinnen und Bürger, gegen
die Transporte von Atommüll nach Lubmin zu demonstrieren.
Frau Steffen, achten Sie bitte auf das Signal.
Das müsste besonders Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, am Herzen liegen. Es ist Ihnen, und
zwar der gesamten Regierungskoalition, dringend zu raten, besser auf die Bedürfnisse und Wünsche Ihrer ostdeutschen Wählerinnen und Wähler zu achten.
Vielen Dank.
({0})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Christian Ahrendt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe gar nicht vor, mich zu entschuldigen.
Ich will nur der Wahrheit etwas aufs Pferd helfen.
({0})
Dann wollen wir uns einmal die Zeitungslage anschauen.
({1})
- Hören Sie erst einmal zu, bevor Sie weiter herumkrakeelen.
({2})
Schauen wir uns einmal die Zeitungslage an. Da berichten die Norddeutschen Neusten Nachrichten:
Wie aus Papieren, die unserer Redaktion vorliegen,
hervorgeht, gab das Innenministerium am 20. Februar 1998 den bundeseigenen Energiewerken
Nord bei Lubmin die Erlaubnis, radioaktive Abfälle
Dritter, über die ehemaligen DDR-Kernkraftwerke
Lubmin und Rheinsberg hinaus, einzulagern.
Fragen Sie mich einmal, wer 1998 Regierungsverantwortung in Mecklenburg-Vorpommern getragen hat!
Das waren Sie von der SPD zusammen mit der CDU.
({3})
Sich aber hier hinzustellen und zu sagen, Sie hätten
nichts damit zu tun, dass heute in Lubmin andere Atomkraftendlagerprodukte eingelagert werden, ist wirklich
zynisch. Das ist unwahr, und das lassen wir Ihnen auch
nicht durchgehen, Frau Kollegin.
({4})
Die Tatsache, dass wir heute solche Transporte durch
Mecklenburg-Vorpommern erleben, ist einfach und allein dem Grund geschuldet, dass wir bis heute kein Endlager haben. Man kann sich auch nicht hier hinstellen
und sagen: Wir haben irgendwann einmal regiert, wir
sind leider nicht fertig geworden mit irgendeinem Gesetz, und deswegen haben wir auch leider keine Verantwortung, weil Gott sei Dank eine Wahl dazwischenkam,
die es uns nicht erlaubt hat, weiterzumachen. ({5})
Tatsache ist doch, Frau Kollegin: Der Atommüll, der
heute eingelagert werden muss, ist nicht der Atommüll
von Norbert Röttgen, das ist auch nicht der Atommüll
dieser liberal-christlichen Koalition.
({6})
Das ist der Atommüll von Jürgen Trittin und Sigmar
Gabriel, weil sie die Endlagersuche eingestellt haben.
Das muss hier doch einmal gesagt werden.
({7})
Lassen Sie mich zum letzten Punkt kommen. Bezüglich dessen, was Sie eben zur gestrigen Debatte gesagt
haben, zitiere ich jetzt Herrn Silkeit, das ist der Chef der
Polizeigewerkschaft in Mecklenburg-Vorpommern, der
sich in dieser Woche geäußert hat. Er hat Folgendes gesagt:
Viele Polizisten haben zunehmend den Eindruck,
dass sie verheizt werden.
({8})
Das betrifft sowohl die Aufrufe von Politikern zum
Schottern als auch, dass Sellering am Samstag in
Greifswald auf der Demo war.
Das ist das, was unsere Polizisten empfinden.
({9})
Sie stellen sich in der Debatte hin - auch die Linke
gestern - und rufen offen dazu auf,
({10})
hier Widerstand zu leisten, weil Sie meinen, Sie haben
irgendein gesellschaftliches Recht dazu. Das haben Sie
nicht.
({11})
Friedliche Demonstrationen sind okay, aber geistige Beihilfe zum Widerstand gegen Polizeibeamte zu leisten ist
nicht okay. Auch das werden wir Ihnen nicht durchgehen
lassen, Frau Kollegin.
({12})
Deswegen ist es unzulässig, den Menschen in Mecklenburg-Vorpommern zu sagen, dass an irgendeiner
Stelle diese Koalition dafür verantwortlich ist, dass der
Atommüll vor Weihnachten durch Mecklenburg-Vorpommern gekarrt wird. Dafür sind Sie verantwortlich.
Sie haben die Endlagersuche verpennt. Das müssen die
Menschen jetzt ausbaden. Das werden wir den Menschen auch sagen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat der Kollege Ralph Lenkert für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Da hatten wir mit der Bahn ja Glück:
Der Castor kam vor dem Schneesturm an, ohne Havarie.
({0})
Aber das Wetter ist nur eine Unwägbarkeit, die nicht beherrschbar ist. Als Maschinenbauer will ich mich der
Castorsicherheit von der technischen Seite nähern. Am
12. April 1912 ging ein Schiff auf die Reise.
({1})
Es war das modernste seiner Zeit und unsinkbar, sagten
Hersteller und Eigner. Am 15. April 1912 bezahlten
1 500 Passagiere der „Titanic“ das blinde Vertrauen in
die Technik mit dem Leben.
({2})
Mit stählernen Schiffen gibt es inzwischen mehr als
hundert Jahre Erfahrung. Trotzdem würde kein Minister
Schiffsunglücke ausschließen. Aber beim Castor wollen
Sie uns in Sicherheit wiegen.
({3})
Diese falsche Bewertung kann, wie bei der „Titanic“, fatal enden.
({4})
Die Sicherheitsanalyse der Castoren beruht nur auf
Berechnungen und Versuchen an Modellen. Nicht ein
Castor wurde komplett getestet. Sogar bekannte Probleme werden ignoriert. Zum Beispiel gibt es keine
Langzeiterfahrungen mit den neuartigen Metalldichtungen am Deckel. Bleiben diese dauerhaft dicht? Der Hersteller kann es nicht beweisen; aber er hofft es.
Außerdem gibt es am Deckel Elastomerdichtungen.
Leider weiß man bereits, dass diese mit der Zeit versagen, weil das Material durch die Strahlung zerstört wird.
Aber man weiß nicht genau, wann die Dichtung versagen wird. Vielleicht hält sie ja lange genug. Man kann
die Dichtung doch verwenden, bis man merkt, dass sie
kaputt ist, oder? So denken Sie. Die Linke denkt anders.
({5})
In Atomkraftwerken ist jedes System doppelt abgesichert, zur Sicherheit. Im Castor jedoch reicht ein einziges Messgerät. Dumm ist nur, dass man entstehende
Lecks am Behälter ohne Messgerät nicht erkennen kann.
Beim Füllen eines Castors bleibt trotz Trocknung etwas
Feuchtigkeit im Behälter. Auch beim Zerfall einer Elastomerdichtung werden Wasser und organische Stoffe
freigesetzt. Das ist gut für die Korrosion. Sie beschädigt
dann die metallische Dichtung, und sich bildende Gase
erhöhen den Druck im Behälter. Das Messgerät sollte erkennen, wann der Behälter in einen kritischen Zustand
kommt - wenn das Gerät funktioniert. Andernfalls tritt
Radioaktivität aus.
Das Gussmaterial, aus dem der Castor besteht, versprödet durch die harte Strahlung. Niemand weiß, ob ein
30 bis 40 Jahre alter Castor die harten mechanischen Belastungen beim Transport oder gar bei einem Unfall
überstehen würde. Bei so viel Unsicherheit ist es die
Pflicht, jeden unnötigen Transport zu vermeiden.
({6})
Bei diesen Risiken bezüglich des Behälters wäre zumindest ein Notfallplan für die Lagerzeit wichtig. Aber
in der Realität gibt es im Zwischenlager Lubmin keine
- ich wiederhole: keine - Vorkehrung, um im Falle eines
Lecks eines Castorbehälters das Verseuchen von Greifswald zu verhindern.
({7})
Um die Hitze des Castors abzuleiten, steht dieser in
dauerhaftem Luftstrom. Die warme Abluft wird ungefiltert in die Umgebung abgeleitet. Radioaktive Partikel
werden so verteilt.
({8})
Haben die Greifswalder Glück mit dem Wind, können
sie noch gesund evakuiert werden.
({9})
Abtransportieren kann man einen kaputten Behälter aber
nicht; sonst verseucht man die Umgebung der Transportstrecke. Wer, wie diese Bundesregierung und vorherige
Bundesregierungen, so eine Zwischenlagerung plant, ist
gewissenlos.
({10})
Sie wissen um die Risiken. Damit im Unglücksfall
aus Ihrer Sicht die Folgen minimiert werden, errichten
Sie Zwischenlager in dünn besiedelten Randregionen, in
Gorleben und jetzt in Lubmin. Das ist verantwortungslos
und zynisch.
({11})
Was soll eigentlich mit den strahlenden Behältern
passieren, wenn 2039 die Genehmigung für Lubmin ausläuft? Falls die Behälter dann noch nicht kaputt sind, ist
das Risiko beim Transport in ein anderes Lager, wie
schon gesagt, viel höher als heute. Also müsste der
Atommüll dann in neue, bessere Behälter umgepackt
werden. Ist das Ihr Plan?
({12})
Jetzt schaffen Sie den Atommüll nach Lubmin. In einigen Jahren stellen Sie fest: Die Behälter machen Probleme. Dann bliebe Ihnen nichts anderes übrig, als in
Lubmin eine Umpackanlage für Castoren zu bauen, die
Sie sonst nie durchsetzen könnten. Weil es dann ein
staatliches Zwischenlager wäre, müsste der Steuerzahler
dafür zahlen. Ganz nebenbei lösen Sie damit auch das
Umpackproblem für die Atomlobby.
Fest steht: Das Zwischenlager Nord in Lubmin ist
nicht sicher; es gehört geschlossen.
({13})
Fest steht: Jeder Castortransport gefährdet Menschenleben an der Strecke, ob in Heidelberg, in Darmstadt, Erfurt, Jena oder woanders. Jede zusätzliche Tonne Atommüll erhöht die Gefahr eines radioaktiven Unfalls.
Deshalb gibt es für verantwortungsbewusste Politiker
nur einen Weg: Sofortiges Aussetzen der Castortransporte, Abschalten aller Atomkraftwerke und Konzentrierung der Atomforschung auf eine sichere Verwahrung
des Atommülls.
Die Linke wird diesen Weg beschreiten. Folgen Sie
uns!
({14})
Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin
Dr. Maria Flachsbarth.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Lenkert, wir machen einfach mal Angst. Wir behaupten einfach mal, was alles so passieren könnte und
welcher Gefahr wir die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande aussetzen. Nach Ihrer Logik dürften wir
überhaupt keine Industrie, chemische Industrie zum Beispiel schon gar nicht, betreiben.
({0})
Wir dürften keine medizinische Forschung mehr betreiben, weil immer etwas passieren könnte. Das - Sie wissen es, Herr Lenkert - ist tatsächlich in hohem Maße
verantwortungslos.
({1})
Gestern Abend sind die vier Castorbehälter aus Cadarache in Lubmin angekommen, geschützt von einem
Großaufgebot von 10 000 Beamten, und das tatsächlich
aus dem Grund, weil sie eben in ein Bundeszwischenlager gebracht wurden, das nach der Wiedervereinigung
für demontierte Kernkraftwerke der ehemaligen DDR
gebaut wurde.
2004 hat die ehemalige rot-grüne Bundesregierung
entschieden - das ist auch durchaus richtig -, diese Bundesabfälle in ein Bundeszwischenlager zu bringen. Die
rot-rote Landesregierung hatte sich dagegen gewandt,
musste sich 2004 von Bundesumweltminister Trittin und
2006 von Bundesumweltminister Gabriel aber belehren
lassen, dass das Land diesbezüglich keine Mitsprache
habe. So weit, so gut.
Mich stört an der ganzen Sache tatsächlich, dass gerade die SPD und die Grünen ihr Mäntelchen immer in
den politischen Wind halten,
({2})
je nachdem, ob sie als Landes- oder als Bundesregierung
unterwegs sind. Je nachdem, ob sie in der Regierung
oder in der Opposition sind, wird ein und derselbe Sachverhalt völlig unterschiedlich beurteilt, je nachdem, wie
es politisch gerade in den Kram passt. Demonstrationen
gegen Castortransporte, heute ein Zeichen von politischer Kultur, waren 2001 noch rechtswidrige Gewalt.
({3})
Als Regierungsmitglied hat Jürgen Trittin hier an dieser Stelle am 15. Februar 2001 gesagt: Weil wir rechtlich
und politisch verpflichtet sind, den deutschen Atommüll
zurückzunehmen, sagen wir mit aller Klarheit: Proteste
sind verständlich, aber in der Sache falsch.
({4})
Am 29. März 2001 hat er noch eins draufgesetzt und gesagt:
Diejenigen, die durch ihre Aktion auf den Gleisen
dazu beigetragen haben, dass die Castorbehälter einen Tag später als geplant angekommen sind, haben
für sich in Anspruch genommen, sie seien nicht gewalttätig. Es ist aber völlig eindeutig, … dass sich
diese Menschen rechtswidrig verhalten und Rechtsbruch begangen haben; …
({5})
Der objektiv gleiche Sachverhalt, die Rücknahme von
deutschem Atommüll aus dem Ausland, in internationalen Verträgen zugesichert, wird je nachdem, wie es einem in den eigenen parteipolitischen Kram passt, instrumentalisiert. Es ist eben nicht demokratisch, wenn man
selbst bestimmt, welche Gesetze eingehalten werden
müssen und welche nicht, wenn Abgeordnete der Grünen und der Linken Bürger offen zu Rechtsbruch aufrufen und wenn der, der die lautesten Schreihälse um sich
versammelt, sich anstelle der demokratisch legitimierten
Mehrheit durchsetzt.
({6})
Es ist infam, dass die Linken die Aktuelle Stunde mit
dem Titel „Kein Atomendlager bei Lubmin“ beantragt
haben; denn jeder weiß, dass es in Lubmin weder ein
Atomendlager gibt noch geben wird.
({7})
Der schwach- und mittelradioaktive Müll, den es jetzt in
Lubmin gibt, wird ab 2013 zum genehmigten und dann
fertigen Endlager Schacht Konrad gebracht, das übrigens in Niedersachsen liegt. Niedersachsen käme aber
niemals auf die absurde Idee, zu behaupten, das Endlager nähme nur niedersächsischen Müll auf. Wo kämen
wir denn da auch hin?
({8})
Für den hochradioaktiven Müll gibt es überhaupt
noch kein Endlager. Warum gibt es eigentlich kein Endlager für hochradioaktiven Müll in Deutschland? Das
will ich Ihnen sagen: weil die rot-grüne Bundesregierung
die Untersuchung eines möglichen Standorts über zehn
Jahre lang gestoppt hat. Man hat einfach die Notwendigkeit der Erkundung ignoriert.
({9})
Es gibt eben kein Endlagersuchgesetz. Das hat dieses
Parlament niemals erreicht. Es gibt keine Benennung
von Alternativstandorten. Es gibt aus rot-grüner Zeit
noch nicht einmal Gespräche mit den Ländern, um einen
solchen Endlagerstandort alternativ zu benennen. Letztendlich hatten Sie auch keine Traute, tatsächlich zu sagen: Gorleben ist nicht geeignet, und wir lassen es mit
der Suche dort. Sie haben sich einfach nur vor der Verantwortung weggeduckt.
({10})
Ich bin froh, dass Umweltminister Röttgen jetzt Verantwortung übernimmt, dass er einen Dialog mit den
Menschen am Standort Gorleben aufnimmt, wo das Erkundungsbergwerk ist, und dass er ihnen weitgehende
Rechte in einem völlig transparenten und offenen Dialog
zugesagt hat. Es werde eine Steuerungsgruppe für die
vorläufige Sicherheitsanalyse, ein zusätzliches Vertrauensgremium, beide hälftig besetzt mit den Vertretern der
Bürgerinitiative, gebildet.
Ich glaube, das ist tatsächlich der Weg, der gegangen
werden muss. Es ist jetzt endlich Zeit für ein seriöses
und zielgerechtes Handeln und nicht für ein unverantwortliches Spiel mit der Sorge und der Angst der Menschen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es war zu erwarten, dass es, wenn beim letzten
Tagesordnungspunkt einer Plenarsitzung des Deutschen
Bundestages zu einem solchen Thema gesprochen wird,
etwas hektischer zugeht. Ich habe nur eine Bitte - ich
richte sie insbesondere an Herrn Dr. Paul und an Herrn
Ahrendt -: Werfen Sie noch einmal einen tiefen Blick in
unsere Verfassung, bevor Sie sich das nächste Mal zum
Thema Demonstrationsrecht äußern.
({0})
In der Verfassung ist keine Einschränkung des Rechts
auf Demonstration für die eigene politische Meinung
vorgesehen.
Man muss sich die Frage stellen: Warum haben die
Proteste an Stellen zugenommen, an denen in der Tat anscheinend nichts anderes passiert als vor 2009? Diese
Frage sollten sich aus meiner Sicht gerade auch die Abgeordneten von Schwarz und Gelb stellen.
({1})
Das hat ja nicht damit etwas zu tun, dass einfach nur eine
andere politische Couleur die Mehrheit hat, sondern das
hat mit den Taten an dieser Stelle zu tun.
Sie sollten einmal sowohl mit den protestierenden
Bürgerinnen und Bürgern, die sich betroffen fühlen, als
auch mit den dort eingesetzten Polizistinnen und Polizisten sprechen, die zusätzlich zu den Mehreinsätzen aufgrund der Terrorwarnungen gigantische Überstunden
fahren und froh sind, wenn jemand mit ihnen über diese
Einsätze spricht. Sie können das also wirklich gut tun.
Diese sprechen davon, dass es hier nicht um eine technische Diskussion, also darum geht, ob Zwischenlager A
oder Zwischenlage B besser geeignet ist. Das sind nicht
nur örtliche Proteste, nach dem Prinzip „nicht vor meiner Haustür“, sondern die Menschen verbinden mit der
seit November 2009 veränderten Politik Ängste, die zu
diesen Protesten führen.
Drei Punkte sind zu nennen.
Erstens. Sie haben entschieden, dass mehr hochradioaktiver Müll entsteht. Das heißt, diese Transporte werden in Zukunft weitergehen, und sie werden eines Tages
in vermehrtem Maße auch zwischen den Zwischenlagern
und dem Endlager stattfinden. Das heißt, Sie haben für
ein Mehr an Transport und damit für ein Mehr an potenzieller Gefahr gesorgt.
({2})
Zweitens. Es gibt keine Bürgerbeteiligung. Frau
Flachsbarth, zur Bürgerbeteiligung: Sie haben ja gemerkt, dass sich die Bürgerinitiativen in Gorleben nicht
mit dem Bundesumweltminister treffen wollten. Ob sie
damit gut beraten waren, muss man wahrscheinlich aus
Sicht der jeweiligen politischen Couleur entscheiden.
Aber warum wollten sie das denn nicht? Sie haben
gesagt: Erstens ist die Entscheidung schon getroffen
worden, und erst danach sollte mit uns gesprochen werden? Zweitens hat man sich entschieden, dass jede Bürgerinformation nur ein freiwilliger, zurücknehmbarer
Akt ist. Man hätte die vorhandenen Rechtsinstrumente
für eine juristisch überprüfbare, echte Bürgerbeteiligung
einsetzen können,
({3})
entweder nach dem Atomrecht oder nach dem seit 1991
gültigen aktuellen Bergrecht.
({4})
Man hat sich aber dafür entschieden, ein 1983 aufgegebenes Verfahren erneut zu verwenden, um keine Bürgerbeteiligung durchzuführen zu müssen.
({5})
Es hat auch keinen gesellschaftlichen Diskurs gegeben.
Drittens. Die Wahrheit stirbt, wenn der Atommüll
kommt. Auch das haben die Menschen erlebt. Das gilt
für Morsleben, das gilt für die Asse, und das gilt für Gorleben,
({6})
wo geschummelt, gelogen und vertuscht wurde. Natürlich haben die Menschen kein Vertrauen, weil für Lubmin jetzt jemand zuständig ist, der schon bei der Asse
dafür verantwortlich war, dass zum Beispiel Atommüllfässer falsch deklariert wurden. Das kann man, denke
ich, gut verstehen.
({7})
Herr Kauch und Frau Flachsbarth, ich möchte gerne
auf Sie eingehen, wobei ich normalerweise die Streitigkeiten zwischen den Rändern des Parlaments nicht kommentiere. Aber Sie haben das Thema Morsleben angesprochen und gesagt, das sei damals in der SED-Zeit
eingerichtet worden. Sie wissen aber schon, dass die
Bundeskanzlerin, die Sie durch Ihre Koalition unterstützen, als Umweltministerin gegen den Rat der Fachleute
aus dem eigenen Ministerium für die weitere Einlagerung von Atommüll in Morsleben votiert hat. Das haben
Sie mitbekommen? Sonst schicke ich Ihnen den Vorgang
gerne noch einmal zu.
({8})
Letzter Punkt. Rot-Grün hat kein Endlager gesucht.
Dass es einen Endlagersuchprozess gegeben hat, den
AkEnd, wissen Sie natürlich. Sie sind in dieser Zeit ja
dafür bezahlt worden, in der Opposition aufzupassen.
Was Sie vielleicht nicht wissen - das sage ich Ihnen
von Nordrhein-Westfale zu Nordrhein-Westfale; wir
wohnen nicht in dem Bundesland -:
({9})
Die Landesregierung von Baden-Württemberg, SchwarzGelb - noch, bis März -, hat gegenüber der Schweiz darauf bestanden, dass diese ihr Endlager unter den Kriterien sucht, die die rot-grüne Bundesregierung in der Zeit
bis 2005 entwickelt hat.
Also lernen Sie einmal von Ihren Kolleginnen und
Kollegen in Baden-Württemberg. Dann würden Sie etwas schlauer daherreden.
Vielen Dank. Frohe Weihnachten und guten Rutsch!
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Dass
wir in der letzten Debatte in diesem Jahr über einen Akt
linker Propaganda diskutieren müssen, ist etwas, was
mich ärgert, was mich aufregt. Herr Lenkert, wenn Sie
jetzt so lachen, sage ich Ihnen ganz offen: Das, was Sie
vorgetragen haben, meine ich an dieser Stelle nicht. Das
war schlicht und schlank Dummheit.
({0})
Das, was Sie hier vorgetragen haben, war technisch so
unhaltbar, dass ich mich angesichts Ihrer Berufsbezeichnung als Techniker schon wundere, wie Sie auf solche
absurden technischen Zusammenhänge und Spekulationen kommen.
({1})
Ich nehme an, dass die Mehrheit derjenigen, die auf
der linken Seite sitzen, sehr genau weiß, dass das Thema
Endlager in Lubmin überhaupt kein Thema ist, und dass
es Ihnen nur darum geht, unredlich, unverantwortlich
und unanständig Angst zu schüren und für Sie Propaganda zu machen.
({2})
Es gibt noch einen anderen Punkt in Ihrer Rede
- wenn Sie mich an dieser Stelle so angehen -, der mich
schon stutzig gemacht hat. Es ist schon spannend, zu sehen, dass Sie eine Mauer im Kopf haben und zwischen
Ost und West differenzieren, sodass man bei dieser Gelegenheit merkt, dass Ihnen die deutsche Einheit überhaupt nichts bedeutet
({3})
und dass Sie im Unterschied zu der Kollegin Steffen
nicht einmal würdigen können, was die deutsche Einheit
auch im Blick auf Umweltschutz und Sicherheit von atomaren Anlagen gebracht hat. Das ist etwas, was besonders traurig ist, weil es an dieser Stelle fachlich dazugehören würde.
({4})
Wenn wir uns weiter über die Linke und ihr Verhältnis
zu diesem Thema unterhalten, können wir gerne auf den
Castortransport im November zurückblicken. Etliche
Linke-Abgeordnete riefen zum Schottern, zu einer klaren Straftat, die auch noch gefährlich ist, auf.
({5})
Daran sieht man, wer Sie sind und was Sie sind. Der
Kollege Gysi hat in Dannenberg demonstriert und der
Polizei seinen Dienstwagen überlassen. Sie sollte darauf
aufpassen. Auch daran sieht man, wer Sie sind und was
Sie sind. Dass der Kollege Ernst seinen Porsche gleich
zu Hause gelassen hat und gar nicht hingegangen ist, ist
auch etwas, woran man sieht, wer Sie sind und was Sie
sind.
({6})
- Wenn Sie sagen, ich kritisiere alles, dann komme ich
gern zu den Grünen.
({7})
Ich habe mit großer Freude zur Kenntnis genommen,
dass Frau Kotting-Uhl das Thema Propaganda und den
Titel des Ganzen genauso sieht wie ich.
Ich gehe jetzt einfach einmal davon aus, dass Sie von
den Grünen deshalb an dieser Stelle etwas leiser treten,
weil Sie unter dem Druck stehen, Herrn Trittin bei jeder
Gelegenheit verteidigen zu müssen; das haben wir ja
heute schon mehrfach gehört.
({8})
Das Zitat von Trittin aus dem Jahr 2001 ist ja mittlerweile gut bekannt:
Gegen diese Transporte sollten Grüne in keiner
Form sitzend, stehend, singend, tanzend demonstrieren.
Ich gehe auf die beiden Worte „singend“ und „tanzend“
ein, weil sie eigentlich das Spannendste an diesem Zitat
sind. Das deutet ein bisschen auf Folklore hin, auf eine
Art von Kultur, die Sie an dieser Stelle offenbar entwickeln wollen. Jetzt, da es draußen Schnee und Eis gibt,
ist dies draußen leider gründlich schiefgegangen.
({9})
Die geringe Zahl an Demonstranten, insbesondere von
der grünen Seite, wurde schon erwähnt. Ich habe den
Eindruck, denen ist es schlicht und schlank zu kalt. Das
ist eine Form von linker oder grüner Schönwetterpolitik
und nichts anderes. Wenn es Ihnen um die Sache ginge,
könnte es Ihnen ja nicht zu kalt sein.
({10})
Ich gehe davon aus, dass mittlerweile auch klar ist,
dass unter Herrn Trittin 1999 dieses Zwischenlager Nord
genehmigt wurde. Das ist im Übrigen etwas, was im
Kontext dessen steht, was er getan hat.
({11})
Er hat nämlich bis zu seiner Regierungszeit Zwischenlager als Blechhütten abgewertet und dann über die Republik verteilt. Das müssen Sie sich auch einmal sagen lassen.
({12})
Das ist diese grüne Doppelzüngigkeit, die einem wehtut.
Ich meine, wir sollten diese ganze Debatte mit etwas
mehr Redlichkeit führen.
({13})
Insbesondere kurz vor Weihnachten
({14})
steht uns allen dies gut an. In diesem Sinne wünsche ich
frohe Weihnachten.
({15})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Matthias Lietz für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es fällt mir nicht leicht, zu dieser Stunde und
aus diesem Anlass in dieser fröhlichen Runde, wie ich
hier bemerke, zu diesem Thema zu Ihnen zu sprechen.
Es ist, wie ich glaube, niemand in diesem Raum, der so
wie ich 1989 vor den Toren dieses Werkes stand und sich
über den Beschluss der damaligen DDR-Regierung - es
war der Minister Pflugbeil - gefreut hat, in dem es um
die Stilllegung und den Ausstieg aus der Kernenergie an
diesem Standort ging.
({0})
Aus meiner ganz persönlichen Erfahrung sage ich Ihnen: Ich habe wenige Tage später begriffen, was Ausstieg aus der Kernenergie bedeutet. Ich habe in meiner
ehrenamtlichen Zeit - das sind mittlerweile 20 Jahre vor Ort viele Minister kommen und gehen sehen. In der
Regel wurde als erstes Wort der Ausstieg aus der Kernenergie betont. Das zweite Wort, dass wir dann auch
Kraftwerke stillzulegen haben, habe ich dann schon seltener vernommen. Etwa 1993 wurde es ernst, als für die
Bundesrepublik Deutschland festgelegt wurde, an den
Standorten Zwischenlager zu errichten. Dass dies für die
Menschen vor Ort natürlich auch Entscheidungen bedeutet, ist klar. Ich komme aus diesem Seebad Lubmin und
wohne in unmittelbarer Nähe; es sind drei Standortgemeinden, was für Kraftwerksstandorte nicht ungewöhnlich ist, Rubenow, Kröslin, Lubmin. An diesem Standort
wurde dann dieses Zwischenlager gebaut.
Als Bürgermeister war ich in einer komfortablen
Lage. Ich habe den Menschen erklärt: Wir bauen hier ein
Zwischenlager am Standort, weil wir die Verantwortung
für die DDR übernommen haben. Herr Bockhahn, Sie
haben die Gnade der späten Geburt - das rechne ich Ihnen noch an -, daher können Sie es nicht wissen. Ich
habe nicht die Gnade gehabt, auf der Großbaustelle des
Sozialismus arbeiten zu dürfen. Mein Protest bedeutete
Arbeitslosigkeit in Lubmin. Ich will Ihnen eines versichern: Die Menschen haben dann schnell begriffen, dass
wir dieses Zwischenlager bauen, weil es in der Bundesrepublik ja die Suche nach einem Endlager gibt, und das
war zu diesem Zeitpunkt Gorleben.
Sie haben mit gutem Gewissen gesagt: Jawohl, wir
übernehmen diese Verantwortung. - Ich erwarte, dass
wir diesen Menschen erklären - das werden wir mindestens 17-mal, wenn nicht sogar 18-mal tun müssen -, dass
zum Ausstieg aus der Kernenergie auch ein Endlager gehört und dass das Endlager nicht irgendwo in Europa
oder in der Welt, sondern in der Bundesrepublik
Deutschland errichtet werden muss. Nachdem ich mir
gestern hier in Berlin die Fernsehbilder über Lubmin angeschaut habe, kann ich nur sagen, dass Sie verstehen
müssen, wie schwierig es für die Menschen vor Ort ist.
Diese haben die Entscheidungen in einer Demokratie zu
akzeptieren und sich der Mehrheit zu beugen, die einen
Beschluss nach einem bestimmten Verfahren fällt; ich
stehe hier voll an ihrer Seite. Wir werden das Verfahren,
mit dem festgestellt wird, an welchem Standort in der
Bundesrepublik das Endlager errichtet werden soll, offen
führen müssen. Diese Verantwortung haben wir als Politiker hier im Deutschen Bundestag zu übernehmen.
({1})
Ich heiße es nicht gut, dass ein ehemaliger Minister
meines Bundeslandes zum Schottern aufruft und dass ein
Ministerpräsident sagt: Nein, wir sind dagegen. - Wir
Politiker können hier in Berlin in die Unterlagen schauen
- mir liegen sie vor - und wissen genau, wie ein Endlager in Deutschland aussehen soll. Es ist längst beschrieben - das können alle nachlesen -, wie die Suche danach
aussehen soll und wie wir unserer Verantwortung für die
nachfolgenden Generationen gerecht werden können.
Ich bitte Sie nur, diese Verantwortung - genau das
musste auch ich lernen - gemeinsam zu übernehmen und
es den Menschen zu erklären; denn es folgt nun ein wesentlicher und - das ist in Lubmin mittlerweile schon
20 Jahre her - viel komplizierterer Schritt: Wenn die
Fragen betreffend Zwischenlager und Endlager geklärt
sind, müssen wir den Menschen vor Ort sagen, was danach kommt. Was soll dann mit den betroffenen Standorten geschehen? In Lubmin geht es um etwa 300 Hektar
Industriefläche, die schon einmal kreuz und quer umgegraben wurde. Was soll man damit machen? Welche
Perspektive kann man den Menschen dann eröffnen? In
dieser Verantwortung stehen wir alle.
Ich möchte mich bei allen bedanken, vor allen Dingen
bei den Einsatzkräften, die den Transport ermöglicht und
ihn sorgsam und bedacht begleitet haben. Aber ich
möchte auch den Einwohnern meines Wahlkreises danken, die in den letzten Tagen sehr viel erdulden mussten.
Ich denke, das sind wir ihnen schuldig.
Ich wünsche ihnen und uns allen eine gesegnete
Weihnacht.
({2})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 19. Januar 2011, 13 Uhr, ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen
besinnliche Feiertage, Erholung und manche neue Erkenntnis. Wie ich höre, ist das Tief „Petra“ abgezogen.
Das heißt, Sie haben hoffentlich eine beschwerdefreie
Heimreise.
Die Sitzung ist geschlossen.