Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Vorweg einige Mitteilungen: Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die
in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Konsequenzen der Bundesregierung aus der
aktuellen PISA-Studie für die Bildungspolitik
von Bund und Ländern
({0})
ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 42
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anton Schaaf, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Richtlinien zur konzerninternen Entsendung
und zur Saisonarbeit sozial gerecht gestalten
- Drucksache 17/4190 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({3}), Marieluise Beck ({4}), Viola
von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen stärken
- Drucksache 17/4196 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der Versorgung der im Beitrittsgebiet vor dem 1.1.1992 Geschiedenen
- Drucksache 17/4195 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 43
a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 190 zu Petitionen
- Drucksache 17/4215 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 191 zu Petitionen
- Drucksache 17/4216 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 192 zu Petitionen
- Drucksache 17/4217 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 193 zu Petitionen
- Drucksache 17/4218 -
Redetext
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 194 zu Petitionen
- Drucksache 17/4219 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 195 zu Petitionen
- Drucksache 17/4220 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 196 zu Petitionen
- Drucksache 17/4221 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 197 zu Petitionen
- Drucksache 17/4222 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 198 zu Petitionen
- Drucksache 17/4223 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 199 zu Petitionen
- Drucksache 17/4224 ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP:
Ergebnisse des Weltklimagipfels in Cancún
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Kein Atomendlager bei Lubmin
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 24 wird abgesetzt. Die nachfolgenden
Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken
entsprechend vor. Darüber hinaus entfallen die Tagesordnungspunkte 5 b und 27 b.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste
aufmerksam:
Der am 24. November 2010 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Auswärtigen Ausschuss ({17}) zur Mitberatung überwiesen
werden:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein Atommüllexport nach Russland
- Drucksache 17/3854 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({18})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Auswärtigen
Fortschritte und Herausforderungen in Afghanistan
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
nun der Bundesminister des Auswärtigen, Guido
Westerwelle.
({19})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Bei ihrem Amtsantritt
vor etwas mehr als einem Jahr hat die Bundesregierung
den Einsatz in Afghanistan einer schonungslosen Analyse unterzogen. Über acht Jahre dauerte der internationale Einsatz da schon. Die großen Anstrengungen schienen ins Leere zu laufen, und ein Ende des Einsatzes war
nicht in Sicht.
Mit einem umfassenden Afghanistan-Konzept hat
die Bundesregierung unser Engagement auf eine neue
Grundlage gestellt. Wir haben die Lage realistisch beschrieben. Wir haben uns realistische Ziele gesetzt. Wir
haben diese Ziele, unsere Strategie und die dafür notwendigen Mittel mit den Afghanen und mit unseren internationalen Partnern konsequent aufeinander abgestimmt.
Wir haben mit der Unterstützung dieses Hauses zusätzliche Soldaten und Polizisten entsandt, um schneller
und besser afghanische Sicherheitskräfte auszubilden.
Wir haben zusätzliche Mittel für den zivilen Aufbau mobilisiert. Wir haben die politische Lösung vorangetrieben
und das Reintegrations- und Aussöhnungsprogramm auf
den Weg gebracht. Wir haben unsere eigenen Erwartungen nüchterner und auch realistischer formuliert. Good
Governance bleibt ein richtiger Maßstab. Aber wenn wir
realistisch sind, dann ist „Good Enough Governance“
- eine ausreichend gute Regierungsführung - das, was
wir auf absehbare Zeit in Afghanistan erreichen können.
Wir haben uns verabschiedet vom Bild des Entwicklungshelfers in Uniform. Dieses Bild mag manchem im
Deutschen Bundestag in der Vergangenheit die ZustimBundesminister Dr. Guido Westerwelle
mung zum Einsatz der Bundeswehr leichter gemacht haben; es hat gleichwohl nie gestimmt. Die Lage ist eine
andere. Unsere Soldatinnen und Soldaten kämpfen in
Afghanistan. Dieser Einsatz kostet Menschenleben. Wir
verteidigen in Afghanistan unsere eigene Sicherheit.
Deshalb ist dieser Einsatz richtig. Richtig ist auch, dass
er nicht endlos dauern darf.
({0})
Wir trauern um unsere 44 toten deutschen Soldaten
dieses Einsatzes. Wir fühlen mit ihren Angehörigen. Wir
trauern um die vielen Opfer, gleich welcher Nationalität.
Wir trauern um die Opfer in Uniform und um die vielen
getöteten Zivilisten, die dieser Konflikt und das Ringen
um Frieden bis heute gefordert haben.
Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zu einem
Mann sagen, der die Arbeit in Afghanistan maßgeblich
mitgestaltet hat. Wir trauern um Richard Holbrooke.
Mit seinem plötzlichen Tod verlieren wir einen guten
und engen Freund Deutschlands.
In London haben wir im Januar den Weg zu mehr afghanischer Führungsverantwortung geebnet. Die afghanische Regierung legte erstmals ganz konkret dar, wie
sie ihre Ziele erreichen will: bei der Regierungsführung,
bei Aufbau und Entwicklung, bei der Sicherheit, bei Reintegration und Versöhnung. Im Gegenzug haben wir
uns verpflichtet, unsere Anstrengungen zu verstärken.
Im Juli in Kabul, der ersten Afghanistan-Konferenz in
Afghanistan, setzte die afghanische Regierung ihre politischen Zusagen in konkrete Reformprojekte um. Mit
Unterstützung der internationalen Gemeinschaft hat sie
die notwendigen Strukturen und Institutionen geschaffen, um diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen.
Vor vier Wochen in Lissabon haben wir den nächsten
Schritt getan und formell mit der afghanischen Regierung und allen NATO-Partnern den Beginn des Übergabeprozesses beschlossen. Wir werden die Übergabe der
Sicherheitsverantwortung in den Provinzen im ersten
Halbjahr 2011 beginnen. Diese Übergabe in den ersten
Provinzen ist nicht gleichbedeutend mit einem sofortigen Truppenabzug, aber sie wird den schrittweisen Abbau der internationalen militärischen Präsenz in Afghanistan einläuten, auch den schrittweisen Abzug der
Bundeswehr. Die Abzugsperspektive nimmt dank der
erreichten Fortschritte jetzt konkret Gestalt an.
In meiner Regierungserklärung am 10. Februar habe
ich gesagt:
Ende des Jahres 2011 wollen wir so weit sein, unser
eigenes Bundeswehrkontingent reduzieren zu können.
Heute bin ich zuversichtlich genug, um zu sagen: Ende
2011 werden wir unser Bundeswehrkontingent in Afghanistan erstmals reduzieren können. Wir werden jeden
Spielraum nutzen, um damit so früh zu beginnen, wie es
die Lage erlaubt, und es vor allem unsere verbliebenen
Truppen nicht gefährdet. 2014 wollen wir die Sicherheitsverantwortung in vollem Umfang an die Afghanen
übergeben. Dann sollen keine deutschen Kampftruppen
mehr am Hindukusch im Einsatz sein.
Der Fahrplan steht. Der Weg zu einer selbsttragenden
Sicherheit in Afghanistan ist markiert. Wir haben uns
vorgenommen, nüchtern einen Schritt nach dem anderen
zu tun und das Erreichte immer wieder zu prüfen. Deshalb legt die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag zum ersten Mal einen umfassenden Fortschrittsbericht zu Afghanistan vor. Der Bericht, der Ihnen allen
seit Montag zur Verfügung steht, beschreibt das deutsche
und internationale Engagement. Er bietet eine ehrliche
und realistische Darstellung der Lage. Sicherheit, Regierungsführung und Entwicklung sind darin gleichermaßen gewichtet. Ich danke den Bundesministern der Verteidigung und des Innern sowie dem Bundesminister für
wirtschaftliche Zusammenarbeit für die ausgezeichnete
Kooperation in Afghanistan und auch bei der Erstellung
dieses ungeschminkten Berichts. Er macht deutlich, was
Deutschlands Frauen und Männer der Bundeswehr und
der Polizei, die vielen zivilen Helferinnen und Helfer
und auch unsere Diplomatinnen und Diplomaten in Afghanistan geleistet haben. Er skizziert auch, was noch alles geleistet werden muss, damit wir die Verantwortung,
die wir jetzt dort schultern, an die afghanische Regierung übergeben können.
Wir wollen nichts schönreden. Meldungen über
Rückschläge gibt es noch immer viel zu viele. Es gibt
Korruption, und es hat bei den Wahlen Unregelmäßigkeiten gegeben. Aber es ist ein ermutigendes Zeichen,
dass die Afghanen selbst den Fällen von Wahlbetrug unnachgiebig nachgegangen sind.
Vieles in Afghanistan ist im Vergleich zum Vorjahr
besser geworden. Auch durch unsere Aufbauarbeit im
Gesundheitssektor haben inzwischen 80 Prozent der Bevölkerung Zugang zu medizinischer Grundversorgung.
Die Mütter- und Kindersterblichkeit ist signifikant gesunken. Mehr als ein Drittel der Mädchen in Afghanistan
gehen heute regelmäßig zur Schule. Allein im Jahre
2010 haben wir über 20 Schulen gebaut.
({1})
Wir haben in diesem Jahr mehrere Stabilisierungsfonds zum Ausbau der Infrastruktur im Norden aufgelegt. Gerade in den strukturschwachen Grenzgebieten zu
Tadschikistan und Pakistan zeigen sie Wirkungen bei der
Bevölkerung. Neu gebaute Straßen und Brücken fördern
die langsam in Gang kommende wirtschaftliche Entwicklung.
Die Ausbildung von Soldaten und Polizisten macht
schneller Fortschritte als erwartet. Die in London vereinbarte Zahl von rund 300 000 Sicherheitskräften bei Armee und Polizei wird deutlich früher erreicht als geplant.
Deutschland trägt seinen Teil dazu bei: Rund 200 Polizistinnen und Polizisten tun in Afghanistan ihren Dienst
bei der Ausbildung der afghanischen Polizei. Deutschland hat 2010 insgesamt 77 Millionen Euro für die Polizeiausbildung bereitgestellt.
Es ist wahr: Die Zahl der Sicherheitszwischenfälle hat
noch einmal deutlich zugenommen. Eine der Ursachen
hierfür ist die Verstärkung der internationalen Schutztruppe. Nach einem Jahr mit schweren Kämpfen und
zahlreichen Opfern geht es aber auch im Sicherheitsbe8910
reich voran. Das ist nicht nur den ISAF-Truppen, sondern auch den gewachsenen Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte zu verdanken. Es zeigt sich, dass
die verstärkte Ausbildung durch die internationale Gemeinschaft, auch durch die Bundeswehr, Früchte trägt:
Die afghanische Armee und die afghanische Polizei sind
erkennbar professioneller geworden.
2010 haben wir den Fahrplan hin zur vollen Souveränität Afghanistans entwickelt. Wir haben unseren Mitteleinsatz verstärkt und so eine Trendwende geschafft. Im
nächsten Jahr wird es darauf ankommen, die Strategie
der vernetzten Sicherheit mit ihren militärischen, zivilen
und politischen Elementen so konsequent umzusetzen,
dass wir in allen Bereichen substanzielle Fortschritte erreichen. Die Selbstverpflichtung der afghanischen Regierung ist Grundlage und Bedingung für solche Fortschritte. Es ist an der afghanischen Regierung, die
notwendigen Strukturen zu schaffen und schließlich die
Verantwortung für das Leben der Afghanen selbst in die
Hand zu nehmen. Sie hat durchaus nicht nur mit Worten,
sondern auch mit Taten unterstrichen, dass sie diese Verpflichtung ernst nimmt.
Der Konflikt in Afghanistan kann nicht militärisch,
sondern nur durch eine politische Lösung beendet werden. Dazu gehört auch, dass mit Vertretern der Aufständischen gesprochen werden muss. Wir haben gemeinsam
mit den Afghanen drei rote Linien für die Gespräche
definiert - vieles ist verhandelbar, diese Bedingungen
nicht -:
Erstens: der Rahmen der afghanischen Verfassung
und die darin garantierten Menschenrechte.
({2})
Zweitens: das Abschwören von Gewalt.
Drittens: das Kappen der Verbindungen zum internationalen Terrorismus.
Mit dem Mandat der großen Friedensdschirga vom
Juni dieses Jahres wurde das Friedens- und Reintegrationsprogramm der afghanischen Regierung ins Leben
gerufen. Der Hohe Friedensrat soll als Scharnier für die
notwendigen Gespräche mit den Aufständischen dienen.
Wir wissen, dass Gespräche über mögliche Mechanismen der Zusammenarbeit stattfinden. Es liegt in der Natur der Sache, dass dieser Prozess der Versöhnung Zeit
brauchen wird und allzu große Öffentlichkeit ihm eher
schadet als nutzt.
Gleichzeitig geht es um Reintegration, um ausstiegswilligen regierungsfeindlichen Kämpfern einen Weg zurück in die afghanische Gesellschaft zu ebnen. Für diejenigen, die die Waffen niederlegen wollen, muss die
Chance geschaffen werden, ein normales Leben zu führen. Deutschland hat sich 2010 mit 10 Millionen Euro
am Reintegrationsprogramm beteiligt; weitere 40 Millionen Euro sind bis 2014 fest eingeplant. Das ist besonders
wichtig; denn Reintegration und Versöhnung hängen
voneinander ab und sind wesentliche Bestandteile des
Übergabeprozesses.
({3})
Anfang des nächsten Jahres wird die NATO gemeinsam mit den afghanischen Partnern eine Provinz nach
der anderen nach vereinbarten Sicherheitskriterien auf
Übergabereife prüfen und die Verantwortung in die
Hände der afghanischen Sicherheitskräfte legen. Wir
können fest davon ausgehen, dass auch Gebiete im deutschen Verantwortungsbereich in Nordafghanistan zu den
ersten Regionen gehören werden, in denen Sicherheitsverantwortung an die Afghanen übergeben wird. Bis
2014 soll dieser Prozess im ganzen Land abgeschlossen
sein. So wollen wir es. So will es auch die Regierung
Karzai. So ist es gemeinsam verabredet in der internationalen Gemeinschaft.
Klar ist aber auch, dass Transition nicht heißt, dass
wir unseren Einsatz von heute auf morgen beenden und
uns einfach aus Afghanistan zurückziehen können.
({4})
Mit fortschreitender Verantwortungsübergabe werden
wir unsere Prioritäten immer wieder anpassen. Der
Übergabeprozess muss sorgfältig, nachhaltig und vor allem unumkehrbar sein. Wenn einen Tag nach dem Abzug internationaler Truppen die Taliban wieder einziehen könnten, wäre niemandem geholfen, den Afghanen
nicht und auch nicht unserer eigenen Sicherheit.
({5})
Eines ist klar: Wir wollen und werden Afghanistan
langfristig weiter in seiner Entwicklung unterstützen.
Die NATO-Partner haben sich in Lissabon zu einer langfristigen Zusammenarbeit verpflichtet. Ohne glaubhaftes
Engagement der internationalen Gemeinschaft auch über
2014 hinaus wird die Strategie der Übergabe der Verantwortung in Verantwortung nicht funktionieren.
In den nächsten zwei Jahren werden wir als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen besondere Verantwortung für Frieden und Sicherheit
tragen. Die Mandatierung des internationalen Engagements in Afghanistan wird für unsere Arbeit in New
York eine wichtige Rolle spielen. Unser Ziel ist dabei,
die Rolle der Vereinten Nationen und ihrer Mission in
Afghanistan langfristig zu stärken. Dafür werden wir
nicht nur auf unsere traditionellen Partner, sondern auch
auf andere Akteure und besonders auf die entscheidenden regionalen Mächte setzen. Das war Teil meiner Gespräche in Indien, und ich werde das im Januar in Pakistan fortsetzen.
Präsident Karzai hat beim NATO-Gipfel in Lissabon
angeregt, dass Deutschland Ende 2011, zehn Jahre nach
der Petersberg-Konferenz, erneut in Bonn eine internationale Konferenz zu Afghanistan ausrichtet. Wir werten diese Bitte als Beweis dafür, dass Deutschland in Afghanistan als vertrauenswürdiger und ehrlicher Partner
gilt. Die Bundesregierung wird dieser Bitte mit Blick auf
unser elementares Interesse an einer guten Entwicklung
in Afghanistan und der Region insgesamt nachkommen.
Noch ist es zu früh, über Einzelheiten der Tagesordnung zu reden, aber diese Konferenz wird uns ein Jahr
nach Lissabon Gelegenheit geben, den Stand der ÜberBundesminister Dr. Guido Westerwelle
gabe der Sicherheitsverantwortung zu bewerten und die
nächsten Schritte bis Ende 2014 vorzuzeichnen. Wir
werden auch über das langfristige Engagement der internationalen Gemeinschaft nach 2014 diskutieren. Unser
Ziel ist außerdem, dass von einer solchen Bonner Konferenz Impulse ausgehen, die den politischen Prozess in
Afghanistan fördern.
Nach Jahren, in denen die Anstrengungen der Staatengemeinschaft in Afghanistan vielfach unkoordiniert
nebeneinander herliefen, ziehen jetzt erkennbar alle an
einem Strang. Wir wollen alles Notwendige tun, damit
dieses von Jahrzehnten des Konflikts gezeichnete und
zerrüttete Land in einer explosiven Region unserer Welt
nicht wieder Rückzugsraum für Terroristen werden
kann.
({6})
Wir arbeiten daran, Frieden, Sicherheit und bescheidenen
Wohlstand in ein Land zu bringen, das in seiner jüngsten
Geschichte nur Krieg, Unsicherheit und bittere Armut erlebt hat. Deutschland hat sich als verantwortungsvolles
Mitglied der Weltgemeinschaft und der transatlantischen
Allianz dieser Aufgabe von Beginn an gestellt. Wir werden daher dieses Hohe Haus im Januar 2011 erneut um
eine Verlängerung des Mandats für den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der internationalen ISAF-Truppen
ersuchen.
({7})
Ich möchte mich an die mutigen Frauen und Männer
der Bundeswehr wenden, von denen uns viele jetzt zusehen: Wir danken Ihnen für Ihre Arbeit. Wir sind stolz auf
das, was Sie leisten. Für viele von Ihnen sind die Belastungen des Einsatzes leider auch nach der Rückkehr in
die Heimat noch nicht zu Ende, weil so vieles von dem,
was gesehen wurde, verarbeitet werden muss. Ich
glaube, dieses Haus darf zum Ausdruck bringen, dass
wir auf die Frauen und Männer, die dort vor Ort ihren
Dienst tun, stolz sind.
({8})
In diesem Jahr haben mehr als 60 Abgeordnete und
auch der Präsident dieses Hohen Hauses Afghanistan besucht.
({9})
Bundestag und Bundesregierung stehen hinter diesem
Einsatz. In diesem Jahr haben fünf Bundesminister Afghanistan besucht,
({10})
allein der Bundesverteidigungsminister war siebenmal
dort.
({11})
Ich hatte eigentlich nicht vor, etwas dazu zu sagen,
({12})
weil ich diesen Fortschrittsbericht hier heute sehr nüchtern einbringen wollte. Ich will Ihnen nur eines sagen: Es
ist Ihr gutes Recht, die Mitglieder der Bundesregierung
jeden Tag zu kritisieren,
({13})
aber Ihre Schmähkritik an Frau zu Guttenberg war einfach unanständig.
({14})
Die große Präsenz und die Besuchsdichte zeigen, dass
es Interesse und Anteilnahme gibt. Das gibt unseren
Frauen und Männern in Afghanistan auch Rückendeckung. Das ist - auch ich stelle bei meinen Reisen immer wieder fest, dass unsere Frauen und Männer in der
Bundeswehr und vor Ort dies brauchen und wollen sichtbar.
Wenn wir heute ehrlich Bilanz ziehen, ergibt sich ein
gemischtes Bild: Licht und noch immer viel zu viel
Schatten. Dennoch gibt es jetzt Grund zur Zuversicht,
dass wir unsere Ziele erreichen können.
({15})
Dann werden wir nicht nur uns selbst, Europa und die
Welt sicherer gemacht, sondern auch Millionen Afghaninnen und Afghanen die Chance auf ein etwas besseres
Leben eröffnet haben. Unsere Verantwortung für unser
Land, aber eben auch für Afghanistan gebietet uns, dass
wir diesen Auftrag wahrnehmen.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort hat nun Gernot Erler für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
jetzt vorgelegte „Fortschrittsbericht Afghanistan zur Unterrichtung des Deutschen Bundestages“ ist in Wirklichkeit nicht in allen Teilen ein Bericht über Fortschritte.
Das ist gut so. Er zeichnet auf 108 Seiten und in 27 Kapiteln ein realistisches und detailliertes Lagebild darüber, wie es in Afghanistan in den zentralen Bereichen
Sicherheit, Staatswesen und Regierungsführung sowie
Wiederaufbau und Entwicklung steht. Er spricht Fehler
der Vergangenheit an, er benennt Defizite und kritisiert
auch die afghanische Seite, wo dies angebracht ist.
Mit der Vorlage dieses Berichts, in den offensichtlich
viel Arbeit investiert wurde - dies erkennen wir an -, hat
die Bundesregierung auch auf Forderungen der SPD reagiert. Wir brauchen definitiv bessere Grundlagen für die
schwierigen Entscheidungen in Sachen Afghanistan, die
wir immer wieder treffen müssen. Da die nächste Entscheidung über eine Mandatsverlängerung bereits im Januar des kommenden Jahres ansteht, ist dieser Bericht
auch zur rechten Zeit vorgelegt worden.
Der Bericht nutzt verschiedene Informationsquellen,
stellenweise auch von außen kommende wissenschaftliche Expertisen. Dadurch wird er aber natürlich nicht zu
einer unabhängigen Evaluierung des deutschen Afghanistan-Einsatzes, wie sie SPD und Grüne eingefordert
haben.
({0})
Bis heute verstehe ich nicht, warum die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung uns hier so brüsk vor
den Kopf gestoßen haben, nachdem eine Verständigung
über einen solchen Auftrag schon zum Greifen nahe
schien.
({1})
Genau hier liegt die Quelle einiger Leerstellen und
Defizite des Berichts, die nicht zu übersehen sind. Die
Entwicklung wird generell kritisch beleuchtet. Aber eine
selbstkritische Überprüfung der deutschen Aktivitäten in
Afghanistan unter Hinzuziehung der Erfahrungen von
vor Ort tätigen NGOs und wissenschaftlicher Experten
findet eben nicht statt, und das ist bedauerlich.
({2})
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Vorgestern hat die
SPD ihre zweite große Afghanistan-Konferenz in Berlin durchgeführt, mit mehr als 400 Teilnehmern, unter
Heranziehung ganz verschiedener Experten. Wir haben
dabei übrigens kein einziges verwertbares Bild produziert und auf keinen Effekt abgehoben, sondern eine sehr
ernsthafte und lehrreiche Debatte geführt.
({3})
Auf dieser Konferenz wurde das Problem angesprochen, dass durch die zusätzlichen 5 000 US-Soldaten
und die ganzen zusätzlichen amerikanischen Programme
in der Region des Nordkommandos, wo Deutschland
eine besondere Verantwortung trägt, eine Art Überangebot entsteht. Es gibt mehr Geld und mehr Programme,
als die afghanische Gesellschaft vor Ort überhaupt aufnehmen und umsetzen kann. Die Folge ist, so wird uns
berichtet, dass sich dadurch die Gefahr der Korruption
erhöht. Das leuchtet ein, und darauf muss man reagieren.
Vorher aber muss man solche kritischen Betrachtungen natürlich erst einmal an sich heranlassen, um dann
das eigene Verhalten korrigieren zu können. Das ist der
Grund, meine Damen und Herren, warum wir bei aller
Würdigung des vorgelegten Fortschrittsberichts an unserer Forderung nach einer unabhängigen Evaluierung des
gesamten deutschen Afghanistan-Einsatzes unter systematischer Heranziehung von wissenschaftlichen Expertisen und der vor Ort gewonnenen Erfahrungen von
Nichtregierungsorganisationen festhalten.
({4})
Was die Gesamtanalyse der Entwicklung in Afghanistan im zu Ende gehenden Jahr angeht, so decken sich
die Feststellungen des Fortschrittsberichts in vielen
Punkten mit unseren Eindrücken. In der Tat: Es gibt
Licht und Schatten nebeneinander. Am düstersten sieht
es immer noch bei der Sicherheitslage aus. Nicht zufrieden sein können wir mit der unverzichtbaren Verbesserung der Regierungsführung, mit den Fortschritten beim
Kampf gegen die Korruption und beim Kampf gegen
den Drogenanbau - alles auch wichtige sicherheitspolitische Bereiche.
Nicht ohne Erfolgsaussicht scheinen die innerafghanischen Aussöhnungs- und Reintegrationsprogramme zu
sein, die allmählich anlaufen. Messbaren Fortschritt gibt
es beim zivilen Aufbau, wo wir unsere Anstrengungen
verstärkt haben. Deutlich mehr müsste im Bereich der
regionalen Stabilisierung passieren. Dabei geht es um
die Frage, welche Rolle eigentlich Länder wie Pakistan,
China, Russland, Iran, die Türkei und die zentralasiatischen Staaten für eine bessere Zukunft Afghanistans
spielen können. Hier würden wir uns in der Tat noch
mehr Engagement des Außenministers in der Tradition
seines Vorgängers erhoffen.
({5})
Wir wie hören, soll der amerikanische Bericht zur
Umsetzung der neuen Afghanistan-Strategie zu einer
ähnlichen gemischten Bilanz kommen; er wird heute
vorgelegt. Botschafter Richard Holbrooke hat bis zu seinem plötzlichen Tod, den wir als schmerzlichen und
schwer auszugleichenden Verlust empfinden, unermüdlich an dieser Strategie und an dem Bericht gearbeitet.
Unser Mitgefühl gilt seiner Familie und allen Amerikanern, die um diesen großartigen Diplomaten trauern.
Von besonderer Bedeutung ist, dass es bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte offenbar vorangeht. Die für Ende Oktober dieses Jahres formulierten Zwischenziele wurden sogar übertroffen, bei der
Ausbildung afghanischer Soldaten um 8 000, bei der
Ausbildung von Polizisten sogar um 12 000 Mann.
Das ist deswegen so wichtig, weil die gesamte internationale Afghanistan-Strategie darauf abzielt, diese
Ausbildungsprozesse zu beschleunigen, um Schritt für
Schritt die Sicherheitsverantwortung in afghanische
Hände übergeben zu können.
Die SPD hat Anfang dieses Jahres für den Abschluss
dieses Prozesses den Zeitkorridor 2013 bis 2015 genannt. Wir sind froh, dass jetzt mit dem Zieldatum 2014
ein international anerkannter Konsens erzielt worden ist.
Wir glauben, dass es auch realistisch ist, das zu erreichen, wenn wir tatsächlich auf dem Pfad dieser neuen
Strategie bleiben und wenn wir rechtzeitig mit den Truppenreduzierungen beginnen.
Leider mussten wir aber feststellen, Herr Außenminister, dass Sie selber es waren, der hier Unsicherheiten und sogar ein Durcheinander geschaffen hat. Sie sind
soeben auf Ihre Erklärung vor dem Deutschen Bundestag vom 10. Februar zurückgekommen. Da hatten Sie
gesagt, dass Ende 2011 mit der Reduzierung begonnen
werden soll. Aber wir haben natürlich auch gelesen, was
Sie am 6. Dezember in einer Presserklärung gesagt haben - ich darf das zitieren -:
Wir werden mit aller Konsequenz darauf hinarbeiten, dass 2011 regional mit der Übergabe der Sicherheitsverantwortung begonnen werden kann.
Unser Ziel ist, damit die Voraussetzungen zu schaffen, dass 2012 das deutsche Bundeswehrkontingent
in Afghanistan erstmalig reduziert werden kann.
In dem jetzt vorgelegten Zwischenbericht gibt es einen Satz auf Seite 9, der auf Seite 34 wiederholt wird.
Da heißt es - das ist die dritte Variante -:
Im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung beabsichtigt die Bundesregierung, einzelne
nicht mehr benötigte Fähigkeiten, soweit die Lage
dies erlaubt, ab Ende 2011/2012 zu reduzieren.
Sie müssen verstehen, dass man da Klarheit braucht.
Man kann in dieser Frage nicht wie ein Schilfrohr
schwanken.
({6})
Wir brauchen Sicherheit und Vertrauen zu diesem Fahrplan.
Ich hoffe, dass wir uns jetzt auf das, was Sie hier gesagt haben und was wir nur begrüßen können, verlassen
können und dass das auch Ausdruck in dem Text des
Mandates findet. Das ist außerordentlich wichtig für
uns.
({7})
Sie können sich dabei durchaus auf den Fortschrittsbericht berufen. Ich hatte ja schon gesagt, dass der genau
festhält, dass in dem zentralen Bereich der Ausbildung
tatsächlich Fortschritte erzielt worden sind.
Meine Damen und Herren, das ist kein kleinliches
Gezerre über Monate, Wochen oder Tage, wie man es
manchmal in der Öffentlichkeit hört. Bei dieser Frage
geht es um ziemlich viel, nämlich darum, ob wir selber
dem vertrauen, was wir uns mit der neuen Strategie in
Afghanistan vorgenommen haben, ob wir bereit sind,
auch den notwendigen Druck auf die afghanische Seite
aufrechtzuerhalten, ihrerseits alles für die Umsetzung
der politischen Fahrpläne zu tun, und ob wir in zeitlicher
Tuchfühlung mit der amerikanischen Planung bleiben.
Hier gibt es nach wie vor die Ankündigung von Präsident Obama, im Juli nächsten Jahres mit der Reduzierung zu beginnen. Dabei wird es mit Sicherheit bleiben.
Wir sprechen heute nicht bereits über die Mandatsverlängerung. Wir sprechen über Fortschritte und ausbleibende Fortschritte. Aber wir fordern Sie heute hier schon
auf, Herr Außenminister und die ganze Bundesregierung: Machen Sie nicht noch einmal den Fehler wie mit
dem Evaluierungsauftrag. Vermeiden Sie unnötige Provokationen und Irritationen. Es gibt offene Fragen. Wir
sind heute durch das, was Sie gesagt haben, weitergekommen. Ich habe den Eindruck, dass es bei gutem Willen auf beiden Seiten möglich ist, die Gegensätze zu
überbrücken. Sprechen Sie mit uns. Sprechen Sie mit
uns, bevor Sie den Mandatstext festlegen. Wir sind dazu
bereit.
({8})
Das Wort hat nun Volker Kauder für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Dass wir heute über einen Fortschrittsbericht unseres
Engagements in Afghanistan sprechen können, ist ein
großer Fortschritt. Es haben sich alle in diesem Hause
daran beteiligt, dass wir einen solchen Bericht bekommen. Es war aber im Wesentlichen doch diese Koalition,
die gesagt hat: Wir wollen von der Bundesregierung regelmäßig eine Information darüber, was in Afghanistan
erreicht wird und wo noch offene Fragen sind. Ich danke
Ihnen, Herr Bundesaußenminister, für diesen sehr differenzierten Bericht, den Sie abgegeben haben. Er zeigt,
wo Fortschritte sind. Er schildert aber ebenfalls die Aufgaben; er sagt auch, wo es noch nicht so weit ist, dass
wir beruhigt sein können. In dem Bericht steht auch, wo
noch etwas getan werden muss. Das weitere Mandat ist
natürlich mit diesen Aufgaben verbunden. Herzlichen
Dank für diese offene Darstellung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
es muss immer wieder an den Ausgangspunkt zurückgegangen werden, wenn wir in der Öffentlichkeit über
Afghanistan sprechen. Wenn es um Afghanistan geht,
kann nicht einfach immer nur von „im Augenblick“ oder
„in diesem Status“ gesprochen werden. Ausgangspunkt
war - das haben auch Sie alle von SPD und Grünen klar
so formuliert - der Kampf gegen internationalen Terrorismus und gegen Islamismus.
({0})
Wir haben in einer großen Allianz durch das UNO-Mandat in wenigen Wochen dafür sorgen können, dass das
System in Afghanistan die Menschen dort nicht mehr
terrorisieren und die ganze Welt nicht mehr in Atem halten konnte.
Um an den Ausgangspunkt zu erinnern: Es ist notwendig, zu wissen, was mit diesem Mandat erreicht werden muss, wie es der Außenminister gesagt hat. Es muss
erreicht werden, dass eine solche Gefahr von Afghanistan nicht mehr ausgehen kann. Das ist das Ziel. Wir wollen ein Afghanistan, das den Menschen in diesem Land
dient und nicht Aufmarschbasis für Terroristen ist.
({1})
Deswegen werden in diesem Bericht ja auch ganz klar
die Punkte formuliert, auf die es entscheidend ankommt.
Wir unterstützen die Regierung Karzai darin, dass wir
das Herstellen von Sicherheit und die Kontrolle dieser Sicherheit in Afghanistan ab 2014 den dortigen heimischen
Kräften übertragen können. Dafür wurden das Mandat
und die Aufgaben in Afghanistan noch einmal neu definiert. Wir alle haben gewusst, dass diese Neuorientierung
auch mit neuen Risiken verbunden sein wird.
Wir sind den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr natürlich dankbar dafür, dass sie diesen Auftrag
trotz der Gefahren, die damit verbunden sind, erfüllen.
Wir sind aber auch allen anderen, die durch die UNO
und die NATO an diesem Auftrag beteiligt sind, dankbar.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es in unserer
Geschichte schon einmal eine solche konzentrierte Zusammenarbeit zur Lösung eines Problems gab. Man
muss sagen: Das ist eine großartige Aktion.
({2})
Ich war in diesem Jahr mit einigen Kollegen in Afghanistan und habe dort mit Soldaten gesprochen. Wir
haben natürlich auch darüber gesprochen, wie die Perspektive sein wird, wenn wir ab 2011, 2012, wie es der
Außenminister formuliert hat, damit beginnen, Verantwortung auf Afghanistan und die afghanischen Sicherheitseinrichtungen zu übertragen und Fähigkeiten abzuziehen, die wir dort nicht mehr brauchen. Ich war
beeindruckt nicht nur von Offizieren und Generälen,
sondern auch von ganz normalen Soldatinnen und Soldaten, die uns im Gespräch gesagt haben: Es darf nicht
sein, dass unser Einsatz sinnlos war. Sinnlos wäre er gewesen - so haben sie formuliert -, wenn Afghanistan
wieder in den Zustand käme, aus dem wir Afghanistan
eigentlich befreien wollten. Das war eine beeindruckende Aussage unserer Soldatinnen und Soldaten. Daran müssen wir unseren Einsatz messen. Wir wollen,
dass die Situation in Afghanistan wesentlich sicherer ist,
als sie war, bevor wir mit unserem Auftrag begonnen haben.
({3})
Natürlich ist völlig klar, dass die Angehörigen der
Bundeswehr mit besonderem Interesse darauf schauen,
wie in Deutschland über den Einsatz diskutiert wird. Es
beschwert den einen oder anderen, wenn er spürt, dass
nicht der gesamte Deutsche Bundestag hinter den Einsätzen und den Aufgaben der Bundeswehr steht.
({4})
Deswegen sind wir außerordentlich dankbar, dass so
viele Kolleginnen und Kollegen und dass auch die Bundesregierung so regelmäßig in Afghanistan präsent sind.
Das zeigt das Interesse und den Rückhalt für den Auftrag
und für unsere Soldatinnen und Soldaten.
({5})
Mancher, der sich auch in diesen Tagen zu Besuchen in
Afghanistan geäußert hat, hätte allen Grund, selbst einmal dorthin zu fahren und zu fliegen und mit den Soldatinnen und Soldaten darüber zu sprechen.
Kritik an der Regierung und an Regierungsmitgliedern gehört zur parlamentarischen Demokratie.
({6})
Aber sich in einer ordinären Art und Weise zu äußern,
wie es der SPD-Parteivorsitzende gemacht hat, ist
wirklich nicht zu akzeptieren.
({7})
Wenn man sich so äußert, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann muss man damit rechnen, dass das zurückkommt, wie es heute geschehen ist. Ich kann mir vorstellen, dass es den allermeisten in Ihrer Fraktion
außerordentlich peinlich ist, wenn jene Dame, die
Sigmar Gabriel genannt hat, ihn heute in der BILD-Zeitung mit „Lieber Sigi Knuddelbär“ anschreibt. Wie weit
muss man in der SPD sinken, um so etwas zu produzieren?
({8})
Damit haben Sie jeden Anspruch verloren, sich in dieser
Frage noch seriös zu äußern, es sei denn, Sie distanzierten sich davon.
({9})
- Jetzt will ich Ihnen einmal etwas sagen - das hat Herr
Gabriel produziert -: Was müssen Soldaten darüber denken, wie sich diese Frau zum Zweck ihrer Reise äußert?
Ich will es hier nicht sagen. Das, was da aus Ihren Reihen gemacht worden ist, ist unter jedem Niveau.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, selbstverständlich werden wir Verantwortung übergeben. Wir
werden unsere Arbeit in Afghanistan fortsetzen, so wie
es der Außenminister beschrieben hat. Aber wir wissen
natürlich auch, dass wir in Afghanistan noch über viele,
viele Jahre hinweg präsent sein müssen, nicht mit Streitkräften, sondern mit Entwicklungshilfe und Entwicklungszusammenarbeit.
Herr Bundesaußenminister, wir wissen auch, dass die
Erfüllung der eigentlichen politischen Aufgabe dann erst
beginnt; denn Afghanistan kann natürlich nur im Umfeld
mit Pakistan, mit Indien, mit all den Anrainerstaaten gesehen werden, wo zwar gute Erklärungen zu den Absichten formuliert werden, wir aber bei weitem noch nicht so
weit sind, Afghanistan in ein stabiles Netz der Sicherheit
in seiner Region einbinden zu können. Es bleiben also
eine Menge Aufgaben, und ich bin dankbar dafür, dass
die Bundesregierung dies so differenziert formuliert hat.
Natürlich wissen wir ebenso, dass wir auch der Regierung Karzai, um es einmal sehr freundlich zu formulieVolker Kauder
ren, beistehen müssen, damit sie die von ihr gesetzten
Ziele auch tatsächlich erreicht.
({11})
Ich sage also der Bundeswehr und der Bundesregierung einen herzlichen Dank für das, was in Afghanistan
geschieht. Wir begleiten diese Arbeit, weil wir ein Interesse daran haben, dass in Afghanistan eine Situation
entsteht, in der die Menschen nach Jahrzehnten von
Krieg endlich befriedet leben können, Mädchen wie
selbstverständlich in die Schule gehen können, in der
Kinder eine Perspektive haben - und nicht mehr der Terrorismus und der Islamismus. Das ist unsere Aufgabe,
und sie werden wir zum Erfolg führen.
({12})
Das Wort hat nun Jan van Aken für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
einmal, Herr Westerwelle, muss ich sagen, dass es tatsächlich ein Fortschritt ist, dass es diesen Bericht überhaupt gibt. Seit neun Jahren führt die Bundesrepublik
Krieg in Afghanistan. Neun Jahre lang hat es niemand
für nötig gehalten, einmal zu schauen, was dieser Krieg
eigentlich in Afghanistan anrichtet.
Das richtet sich auch an die Grünen und an die SPD.
Sie haben vor neun Jahren gemeinsam diesen Krieg beschlossen. Herr Steinmeier, Sie waren acht Jahre lang
Minister einer Bundesregierung, die in Afghanistan
Krieg führt. Sie haben es nie geschafft, so einen Bericht
vorzulegen. Jetzt plustern Sie sich auf und fordern eine
unabhängige Evaluation. Das ist zwar richtig, aber weil
Sie das in der Regierung versemmelt haben, können Sie
sich jetzt nicht so aufplustern. Das glaubt Ihnen kein
Mensch mehr.
({0})
Herr Westerwelle, ich war beim Lesen der ersten Seiten des Berichtes positiv überrascht, weil Sie darin ein
ehrliches, ein ganz katastrophales Bild der Situation in
Afghanistan zeichnen. Sie schreiben, dass die Sicherheitslage immer schlechter wird. Gerade haben Sie gesagt, dass es eine Trendwende gibt. Aber Ihre Zahlen
und Ihr eigener Bericht bieten ein anderes Bild. Sie sagen: Die Sicherheitslage ist so schlecht wie nie zuvor.
Sie schreiben in dem Bericht: Es gibt in diesem Jahr
mehr Tote als je zuvor, bei den NATO-Soldaten, bei den
Bundeswehrsoldaten und natürlich auch, und zwar viel
mehr, bei den Afghaninnen und Afghanen. Die Willkür,
die Korruption, die Armut sind unvorstellbar groß.
Sie schreiben sogar - als ich das las, habe ich gedacht,
bei Ihnen gibt es auch einen Maulwurf der Linken; denn
wir sagen das schon seit Jahren -: Weil wir mehr Soldaten hingeschickt haben, gibt es mehr Tote in diesem
Land. - Das ist doch das beste Argument dafür, die Bundeswehrsoldaten jetzt und sofort aus Afghanistan abzuziehen, wenn sie nur die Sicherheitslage verschlechtern.
({1})
Wenn Sie ein derart ehrliches katastrophales Bild der
Lage zeichnen, frage ich mich, warum Sie das Ganze
„Fortschrittsbericht“ nennen. Es gibt keinen Fortschritt.
Der ganze Bericht ist ein Dokument des Scheiterns. Auf
108 Seiten dokumentieren Sie, wie der Krieg in Afghanistan in neun Jahren auf der ganzen Linie gescheitert
ist.
({2})
Sie reden hier heute von Abzug, Sie reden hier heute
von Aufbau, und Sie reden hier heute von Terrorismus,
Herr Kauder. Ich muss Ihnen sagen: Ihr Abzug ist kein
Abzug, Ihr Aufbau ist kein Aufbau, und Ihre Terrorbekämpfung hat nichts mit Terrorbekämpfung zu tun.
({3})
Kommen wir zum ersten Punkt, dem Abzug. Heute
Nachmittag wird der amerikanische Präsident, Barack
Obama, erklären, dass es beim vorgesehenen Zeitplan
bleibt: Im Juli nächsten Jahres beginnt der Abzug der
amerikanischen Truppen. Was kann Barack Obama, was
Sie nicht können, Herr Westerwelle? Warum können Sie
nicht im nächsten Juli mit dem Abzug beginnen? Von
mir aus schon heute, aber warum können Sie nicht wenigstens im nächsten Juli damit beginnen? Was kann er
besser?
Dann komme ich zu dem Punkt, dass Ihr Abzug überhaupt kein Abzug ist. Sie haben gerade gesagt: Es wird
nach 2014 keine deutschen Kampftruppen mehr geben.
Das ist eine Vernebelungstaktik.
({4})
Denn das heißt, dass offensichtlich andere Bundeswehrsoldaten noch im Land bleiben werden. Sie wollen gar
nicht ganz aus Afghanistan herausgehen.
In dem Bericht schreiben Sie - das ist nur noch peinlich -, dass die afghanische Regierung Sie bitten wird,
im Jahre 2014 noch Bundeswehrsoldaten im Land zu
lassen. Wenn Sie das schon heute wissen, dann gibt es
offensichtlich Gespräche, vielleicht sogar schon Absprachen, dann müssen Sie das auf den Tisch legen. Sie müssen deutlich sagen, welche Einheiten der Bundeswehr
auch nach 2014 bleiben sollen. Wenn Sie jetzt vom Abzug 2014 reden, ist das gelogen. Das sollte kein einziger
Mensch da draußen glauben.
({5})
Kommen wir zur Terrorbekämpfung. Herr Kauder
hat es gerade gesagt - es steht auch im Bericht -: Der
Anfangsgrund und der fortdauernde Grund für den Einsatz in Afghanistan ist die Terrorbekämpfung. Ein paar
Seiten weiter ist im Kleingedruckten zu lesen: Al-Qaida
ist gar nicht mehr in Afghanistan.
Bei Hillary Clinton lese ich - ich bin mir sicher, dass
Sie dieselben Informationen haben -: Die Hauptquelle
für die Finanzierung von al-Qaida und die ganzen sunnitischen Terroristen kommt aus Saudi-Arabien. Aber mit
Saudi-Arabien und seinen Menschenrechtsverletzungen
kuscheln Sie. Stattdessen schicken Sie die Bundeswehr
nach Afghanistan, obwohl dort gar keine Al-QaidaKämpfer sind. Wenn es Ihnen um Terrorbekämpfung
geht, dann müssen Sie das anders machen. Mit Militär
und Krieg in Afghanistan geht das nicht.
({6})
Jetzt zum Aufbau. Der Aufbau, wie Sie ihn betreiben,
ist gar kein Aufbau. Ich war Anfang des Jahres in Afghanistan. Wir waren im Bundeswehrlager Kunduz und haben gesehen, wie dort der Aufbau funktioniert. Das Lager heißt sogar noch „Wiederaufbaulager Kunduz“.
Dazu muss man wissen, dass dort über 1 400 Bundeswehrsoldaten stationiert sind, von denen ganze 12 Wiederaufbauhelfer sind. Die Soldaten selbst sagen, dass sie
seit zwei Jahren keinen einzigen Brunnen mehr gebaut
und keine einzige Schule mehr eröffnet haben. Unter den
Bedingungen des Krieges findet dort kein Aufbau statt.
Wir waren auch in Kabul und haben dort mit echten
Entwicklungshelfern geredet. Ich habe eine Geschichte
gehört, die mich bis heute beeindruckt. Ein Deutscher - er
war ein staatlicher Entwicklungshelfer, also kein wildgewordener Nichtregierungsmensch - hat mir von einer
Anfrage der holländischen Armee erzählt, die - anders
als die Bundeswehr - mittlerweile abgezogen ist, in der
Provinz Uruzgan ein Projekt durchzuführen. Uruzgan
ist Taliban-Land, schwer umkämpft. Dort wird viel geschossen. Alle Kollegen haben ihm gesagt: Mach das
bloß nicht, da wirst du sofort vom Acker geschossen.
Dann hat er etwas Schlaues gemacht. Er hat sich an
eine afghanische Institution gewandt, die Wissenschaftler in allen Provinzen, Distrikten und ethnischen Gruppen hat. Sie hat ihm eine Analyse erstellt, wer eigentlich
das Sagen in Uruzgan hat - die traditionellen Strukturen,
die neuen Strukturen -, wer dort auf wen schießt und warum. Mit dieser Analyse in der Hand ist er nach Uruzgan
gegangen, hat mit den richtigen Leuten geredet und mit
ihnen gemeinsam ein Projekt entwickelt, in dessen Rahmen er nicht nur den Brunnen gebohrt hat, sondern landwirtschaftliche Projekte dazu gemacht hat und sogar eine
weiterverarbeitende Industrie aufgebaut hat, damit die
jungen Menschen dort nicht nur die Wahl haben, zu den
Taliban zu gehen, sondern auch in die Fabrik gehen können. Am Ende sagte er lapidar, er sei nicht vom Acker
geschossen worden. Die einzige Bedingung, damit es geklappt hat, war: kein Militär. Die Holländer haben sich
daran gehalten und sind nicht in die Nähe des Projektes
gegangen. Diese Geschichten hören Sie überall in Afghanistan. Sie können vernünftig aufbauen - ohne Militär.
({7})
Wenn Sie schon nicht auf mich hören - das kann ich
ja noch verstehen - und wenn Sie auch nicht auf Ihre eigenen Entwicklungshelfer hören - das könnte ich auch
noch verstehen -, dann hören Sie doch vielleicht auf den
ehemaligen Bundeswehrarzt, Herrn Erös, der seit Jahren
Schulen, auch Mädchenschulen, mitten im Taliban-Gebiet baut. Er sagt genau das Gleiche: erstens mit den
richtigen Leuten reden, zweitens ohne Soldaten. Dann
klappt es. Das ist für mich das zweite sehr gute Argumente dafür, sofort die Bundeswehr abzuziehen und dort
dann endlich einen richtigen Aufbau, einen zivilen Aufbau, anzuschieben.
({8})
Ich muss sagen, dass es auf diesen 108 Seiten tatsächlich eine Erfolgsgeschichte gibt. Sie haben mit zwei großen Kästen herausgestellt, wie Sie den Distrikt Chahar
Darreh bei Kunduz von den Taliban befreit haben, wie
der Aufbau dort jetzt wieder beginnt. Beim zweiten Lesen habe ich gesehen, dass diese Erfolgsgeschichte zwei,
drei Wochen alt ist; das haben Sie in diesem November
gemacht. Vorgestern habe ich dann aber in der Zeitung
gelesen, dass diese Erfolgsgeschichte schon wieder Makulatur ist, bevor Ihr Bericht überhaupt in Druck gegangen ist. Am Freitag gab es in Chahar Darreh einen
schweren Anschlag von Taliban mit vielen Toten und
Verletzten. Ihre Erfolgsgeschichten halten zwei, drei
Wochen, weil Sie unter Bedingungen des Krieges keinen
Frieden in Afghanistan herstellen können. Das funktioniert so nicht.
({9})
Wenn Sie eine Lösung, vor allen Dingen eine langfristige Lösung, in Afghanistan wollen, dann ist am Ende
der einzige Weg, dass Sie dort die wirklich demokratischen Kräfte unterstützen. Sie wissen genauso gut wie
alle hier im Hause, dass in der Regierung Karzai Kriegsverbrecher, Folterer und Vergewaltiger aus den 90er-Jahren sitzen. Auch viele Abgeordnete im Parlament sind
Kriegsverbrecher der 90er-Jahre. Solange sie dort und
vor allen Dingen auch in der Regierung Karzai sitzen,
wird es keinen Frieden geben. Der einzige Weg ist die
Unterstützung der wirklich demokratischen Kräfte, die
es ja auch gibt, zum Beispiel den Präsidentschaftskandidaten Baschardost und viele andere, die wir getroffen
haben. Wir werden sie im Januar zu einer Konferenz
nach Berlin einladen, auf der wir das demokratische Afghanistan vorstellen wollen. Diese Kräfte gilt es zu stärken, und zwar nicht in den nächsten 10 Monaten, sondern in den nächsten 10, 20 Jahren, damit irgendwann
der Fortschritt in Afghanistan wirklich stattfindet.
({10})
Ich möchte noch ein letztes Wort zu dem Bericht sagen. Anfang des Jahres haben Sie sich endlich durchgerungen, den Krieg in Afghanistan einen Krieg zu nennen. In diesem Bericht wird der Begriff „Krieg“ kein
einziges Mal verwendet; da reden Sie nur von Engagement usw. Ich kann ja noch verstehen, dass Sie nicht
gerne von den Realitäten, also vom Krieg, in Afghanistan reden. Aber dann steht hier an drei Stellen für das
heutige Afghanistan, für das Afghanistan des Jahres
2010, tatsächlich der Begriff „Nachkriegsgesellschaft“.
Wie verquast muss man im Kopf eigentlich sein, dass
man in einer Situation, in der in jedem Jahr Tausende
von Toten zu beklagen sind, von Nachkriegsgesellschaft
spricht? Das geht so nicht. Herr Westerwelle, Sie haben
da noch ordentlich Aufbauarbeit zu leisten, vor allem in
Ihrem Ministerium, in Afghanistan aber natürlich auch.
({11})
Diese ganze Vernebelungstaktik, dass Sie vom Abzug
reden, ihn aber gar nicht meinen, dass Sie nicht von
Krieg reden, obwohl er dort tobt, führt natürlich dazu,
dass immer mehr Deutsche den Krieg ablehnen. Die
letzte Zahl von gestern: 71 Prozent der Menschen wollen
den Krieg in Afghanistan nicht. Diese Zahlen steigen
immer weiter. Vor einem Jahr, als Sie die Bomben auf
Kunduz abgeworfen haben, ist die Ablehnung gestiegen,
im April, als es viele in Afghanistan gestorbene Bundeswehrsoldaten zu beklagen gab, ist sie gestiegen, und sie
steigt immer weiter. Solange Sie den Menschen nicht die
Wahrheit sagen - dies versuchen Sie mit Ihrer Vernebelungstaktik immer wieder -, so lange wird die Ablehnung steigen. Ich sage Ihnen: Sie halten es nicht mehr
lange durch.
({12})
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte. Gestern hat die
Bundesregierung den Rüstungsexportbericht 2009 vorgelegt. Die Zahlen sind wie immer katastrophal.
Deutschland ist noch immer der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Nach Ihren Zahlen wurden Waffen im
Wert von über 5 Milliarden Euro exportiert. Und das
sind Ihre Zahlen! Die Waffenexporte in Entwicklungsländer haben sich verdoppelt. Wissen Sie, wer der zweitgrößte Abnehmer deutscher Waffen ist? Das sind die
Vereinigten Arabischen Emirate, die laut Hillary Clinton
- das alles können Sie bei WikiLeaks nachlesen - einer
der größten Finanziers von al-Qaida sind. Ich finde,
wenn Sie wirklich an einer friedlichen Lösung von Konflikten in der Welt interessiert sind, dann müssen Sie
grundsätzlich die Waffenexporte einstellen.
Am schlimmsten finde ich: Sie haben Saudi-Arabien
sogar genehmigt, eine eigene Fabrik für Maschinengewehre der Marke Heckler & Koch zu bauen. Wissen Sie,
was das bedeutet? Diese Fabrik wird 50 Jahre, wenn
nicht sogar länger, Maschinengewehre der modernsten
Bauart produzieren. Diese Maschinengewehre werden
mindestens 50 Jahre in Kriegen auf dieser Welt eingesetzt werden. Das heißt, das, was Sie jetzt entschieden
haben, wird noch in 100 Jahren überall auf der Welt zu
Toten führen. Mir fehlen die Worte. Ich finde das einfach
nur furchtbar.
({13})
Eigentlich finde ich das sogar unchristlich. Herr Kauder,
Sie müssen sich dabei doch auch an das Christliche in
Ihrem Parteinamen erinnern. Ich kann verstehen, dass
Sie nicht alle Rüstungsexporte einstellen. Aber wenigstens den bei den Maschinenpistolen, Maschinengewehren und Sturmgewehren, die weltweit zu so vielen Toten
führen, müssen wir einstellen. Wir sollten an diesem
Punkt zusammenkommen und endlich den Export solcher Waffen verbieten.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({14})
Das Wort hat nun Rainer Stinner für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man nach Herrn van Aken spricht, ist man versucht, seine ganze schöne Redezeit darauf zu verwenden, diesen Unsinn zu widerlegen.
({0})
Ich möchte dieser Versuchung widerstehen und sage deshalb zusammenfassend nur: Herr van Aken, Sie haben
ein weiteres Mal bewiesen, dass Ihre Partei außenpolitisch nicht handlungsfähig und nicht ernst zu nehmen ist,
Punkt, aus, Ende.
({1})
Wenn wir über den vorliegenden Fortschrittsbericht
reden, müssen wir auch analysieren, woher wir kommen,
wie die Lage 2001 war.
Ohne jeden Zweifel sind zu Beginn unseres Einsatzes
durchaus Fehler gemacht worden, unter denen wir heute
noch leiden.
Fehler eins. Die Strategie des Light Footprints, des
zarten Fußabdrucks, zu glauben, dass mit einigen Tausend Soldaten in Kabul so fabelhafte Dinge zu erreichen
sind, dass diese auf das ganze Land ausstrahlen, hat nicht
funktioniert.
Das zweite Problem ist, dass wir in der NATO bedauerlicherweise bis zur Londoner Konferenz in diesem
Jahr, bei der die Bundesregierung eine ganz wesentliche
Rolle gespielt hat, keine gemeinsame Strategie und
keine gemeinsame Zielvorstellung für das weitere Vorgehen hatten. Es stellt einen Fortschritt dar, dass wir nun
eine entsprechende Strategie haben.
Drittens. Das Nation Building, der Aufbau eines
Rechtsstaates, der so ähnlich funktioniert, wie wir das in
den westlichen Ländern gewohnt sind, war ein zu ambitioniertes Ziel. Auch hier mussten wir dazulernen.
Viertens. Natürlich leiden wir noch heute darunter,
Herr Außenminister, dass von Anfang an in Afghanistan
eine sehr zentralisierte Organisation aufgebaut und nicht
berücksichtigt wurde, wie divers, wie unterschiedlich
das Land eigentlich ist. Afghanistan besteht aus 34 Provinzen und 368 Distrikten. Wir müssen tiefer schauen.
Unter der zentralen Organisation, die 2001 eingeführt
wurde, leiden wir noch heute. Das kommt auch in Ihrem
Bericht sehr deutlich zum Ausdruck.
Wir sind seitdem einen langen Weg gegangen. Ich
darf sagen, dass in den letzten zwölf Monaten sehr viel
passiert ist. Sehr viele Fortschritte wurden erzielt. Das
fing mit der bereits erwähnten Londoner Konferenz an.
Ohne jeden Zweifel hat die Bundesregierung einen we8918
sentlichen Anteil daran, dass wir in London wie nie zuvor in der NATO zusammengekommen sind. Daraufhin
hat es die Kabuler Konferenz gegeben, die ausformuliert
hat, was Afghanistan tun soll. Das ist zwar noch ungenügend, wie wir alle wissen, aber der Weg ist definiert.
Dann folgte die Konferenz in Lissabon, auf der die
NATO deutlich gesagt hat, wohin wir gehen und wie das
Commitment aussieht. In Lissabon ist sehr deutlich geworden - das ist ganz wichtig -, dass es sich in Afghanistan nicht nur um ein Engagement der NATO handelt.
Nicht 28 Staaten sind dort engagiert. Nein, in Afghanistan sind 48 Staaten aktiv. Die Kontaktgruppe, die von
dem deutschen Diplomaten Steiner geleitet wird, umfasst auch viele muslimische Staaten. Wir müssen hier
im Bundestag und auch in der Öffentlichkeit deutlich darauf hinweisen, dass das Engagement in Afghanistan
weit über den Westen im engeren Sinne und die NATO
hinausgeht. Es handelt sich um ein Engagement der internationalen Gemeinschaft gegen Menschen, die uns allen etwas Böses wollen.
({2})
Bei diesem Fortschrittsbericht fällt zunächst einmal
die sehr prägnante, gute Sprache auf, Herr Außenminister. Sie erlauben mir, Sie zu bitten, das Kompliment an
die Verfasser dieser Schrift weiterzugeben; denn diese
Sprache ist beispielgebend. Ich wünschte mir, Regierungsdokumente hätten häufiger diese klare, deutliche,
verständliche, sympathische Sprache. Dieser Bericht ist
ein Fortschritt gegenüber anderen Dokumenten. Er ist
klar gegliedert.
Auf das Thema Sicherheit wird meine Kollegin Elke
Hoff gleich noch näher eingehen. Ich möchte einen
Punkt besonders herausstellen, der mir sehr am Herzen
liegt, das ist der Einfluss der Region auf die Stabilität
Afghanistans, der unter Punkt 9 des Berichts behandelt
wird. Hier geht es um einen ganz kritischen Punkt. Ich
bin in diesem Sommer in den Iran und nach Indien gefahren, um zu verstehen, inwieweit die Region mehr einbezogen werden kann. Hier sind wir einfach noch nicht
gut genug.
({3})
- Das liegt am Außenminister. Liebe Leute, lassen Sie
uns hier doch ehrlich sein. Das ist eine Aufgabe, die Sie
nun wirklich nicht bewältigt haben und an der wir jetzt
gemeinsam weiter arbeiten müssen.
({4})
In Bezug auf den Iran müssen wir deutlich machen,
dass es neben dem Nukleardossier noch andere wichtige
Themen gibt, die in unserem Interesse sind. Deshalb
müssen wir den Iran einbeziehen, und ich bin dankbar,
dass Herr Steiner auch in den Iran gefahren ist, um das
zu versuchen.
Bei meinem Besuch in Indien musste ich feststellen,
dass die Inder sich beiseitegesetzt fühlen. Die Inder
haben mir gesagt: Im Jahre 2001 in Bonn waren wir
noch dabei, im Jahre 2010 in London nicht mehr. Warum eigentlich nicht? Wenn ihr genau hinguckt, müsstet
ihr eigentlich alle um unsere intensiven Beziehungen zu
Afghanistan und unsere Kenntnis über Afghanistan wissen. - Hier müssen wir einfach besser werden.
Aber natürlich ist klar: Der Kernpunkt und Knackpunkt ist Pakistan. Auch hier müssen wir konstatieren
- das gehört zu einer offenen Aussprache -, dass wir
nicht da sind, wo wir hin müssen. Wir alle von links bis
rechts sagen immer gerne den wohlfeilen Satz: Wir können das Problem Afghanistan nicht lösen, wenn wir die
Region nicht einbeziehen. - Hier haben wir noch eine
große Aufgabe vor uns. Wir müssen Pakistan insbesondere dazu bewegen, auch gegen die afghanischen Taliban in seinem Lande vorzugehen und sich nicht auf ein
Vorgehen gegen pakistanische Aufständische zu beschränken. Dabei müssen wir Pakistan unterstützen und
Überzeugungsarbeit leisten. Natürlich ist klar, dass auch
Pakistan an einem stabilen Afghanistan interessiert sein
muss; denn wenn Afghanistan explodiert, explodiert die
ganze Region. Dieses Argument müssen wir sehr deutlich weitergeben.
Auch beim Thema Regierungsgewalt in den Provinzen, das auf Seite 45 des Berichtes erwähnt ist, haben
wir großen Nachholbedarf. Hier ist das Bild ebenfalls
unterschiedlich. Es gibt eine ganze Reihe von Provinzen
und Distrikten, in denen sehr wohl verantwortungsvolle
Distriktführer und Regionsführer im Amt sind, die sehr
wohl in der richtigen Weise arbeiten. Aber natürlich
müssen wir hier flächendeckend noch sehr viel besser
werden.
Wir haben heute nicht über das Mandat zu diskutieren. Die heutige Diskussion, die wir alle wollten, ist aber
eine Voraussetzung für die Entscheidung über die Verlängerung des Mandats im Januar. Ich möchte deshalb
auch gar nicht auf das Mandat eingehen, sondern nur sagen: Lassen Sie uns im Sinne des hier vorgelegten Fortschrittsberichtes und des in Lissabon verabschiedeten
Planes für Afghanistan gemeinsam weitere Schritte definieren - gemeinsam, lieber Herr Erler. Ich bin dazu bereit, und ich habe Ihre Rede so verstanden, dass auch Sie
dazu bereit sind. Lassen Sie uns gemeinsam an eventuellen Konfliktstellen arbeiten.
Dazu möchte ich aber wirklich sagen, lieber Herr
Erler: Wir sollten uns nicht zu sehr an Zwischenzeitplänen aufhalten. Die Perspektive 2014 ist das Entscheidende. Zwischenschritte müssen definiert werden, aber
ob die Zwischenschritte nun im Februar oder im März
eines Jahres kommen, ist meines Erachtens weniger
wichtig als die Sicherheit, dass wir auf dem richtigen
Wege sind. Die Sicherheit haben wir nicht, aber wir haben ein klares Bild, und wir haben gemeinsam mit unseren Partnern klare Ziele. Wir wollen gemeinsam daran
arbeiten, ein besseres Ergebnis zu erzielen, als wir es im
Augenblick haben.
Schönen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Frithjof Schmidt für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Außenminister, Sie haben seit März den
gemeinsamen Antrag von Grünen und Sozialdemokraten
zu einer unabhängigen Evaluierung des Einsatzes in Afghanistan mit Ihrer Mehrheit im Haus blockiert und
schließlich abgelehnt. Damit haben Sie die Tür zu einer
gemeinsamen Bewertung zugeschlagen. Das ist nicht im
Interesse der Sache. Das ist und bleibt ein großer politischer Fehler.
({0})
Jetzt haben Sie uns zum ersten Mal einen Fortschrittsbericht zum Einsatz vorgelegt. Damit bewerten Sie sich
sozusagen selber, und das ist leider auch deutlich zu
merken.
Erst einmal sei zugestanden: Die Beschreibungen
der Lage sind in vielen Punkten realistisch. Der Bericht
skizziert zutreffend die Verschlechterung der Sicherheitslage, die wirklich gravierend ist, die Probleme beim
Staatsaufbau, die Korruption und andere Entwicklungshemmnisse in Afghanistan. Da ist Ihr Bericht sehr detailliert, informativ, und das stellt eine Verbesserung im Vergleich zu vielen früheren Unterrichtungen dar. Das
erkennen wir auch ausdrücklich an.
Aber bei Ihren politischen Bewertungen fragt man
sich schon, woher Sie die nach den Beschreibungen eigentlich nehmen. Sie müssen einräumen, dass der Abwärtstrend 2010 nicht gestoppt wurde. Bei Ihnen heißt
das dann aber beschönigend: Die Voraussetzungen sind
geschaffen worden, um den Abwärtstrend zu stoppen.
({1})
Aus dieser Vermutung leiten Sie dann die Prognose ab,
dass es aber Mitte 2011 zur Trendwende kommen wird.
Warum? Weil ja der politische Versöhnungsprozess im
nächsten Jahr besser laufen wird. - Das nenne ich: Pfeifen im dunklen Walde. Mit seriöser Tatsachenbewertung
hat das wenig zu tun.
({2})
Was völlig fehlt, ist jede politische Selbstkritik bezogen auf die Schwächen der neuen ISAF-Strategie. Vor
wenigen Tagen haben Experten der amerikanischen
Denkfabrik Carnegie Endowment und der International
Crisis Group den Afghanistan-Einsatz im letzten Jahr
bewertet; das ist der gleiche Zeitraum. Das Ergebnis fällt
jeweils deutlich schlechter aus als das, was Sie uns hier
vorgelegt haben. Meine Damen und Herren von der Koalition, das sollte Ihnen wirklich zu denken geben. Es
läuft gegenwärtig nicht gut in Afghanistan.
Die letzten zwölf Monate waren die blutigsten seit
Beginn des Einsatzes. Die ISAF-Truppen haben gemeinsam mit der afghanischen Armee großflächig eine offensive Aufstandsbekämpfung begonnen. Für den Süden
wurde eine entscheidende militärische Schwächung der
Aufständischen angekündigt. Sie ist offenkundig nicht
gelungen. Die Carnegie-Studie spricht von einem Patt
im Süden. Die International Crisis Group sieht „wenig
Anzeichen dafür, dass die Militäroperationen den Aufstand geschwächt hätten“. Das Internationale Rote
Kreuz hat diese Woche erklärt, die Lage sei so schlecht
wie seit 30 Jahren nicht mehr. Deswegen sage ich: Mit
Durchhalteappellen werden Sie diesen Herausforderungen nicht gerecht. Auch Talkshowinszenierungen im
Kampfgebiet, Herr zu Guttenberg, helfen da nicht weiter.
({3})
Gleichzeitig sind wenig Fortschritte bei den halboffiziellen Verhandlungen mit den Aufständischen zu erkennen. Es ist festzustellen: Die Strategie, die Taliban an
den Verhandlungstisch zu bomben, geht nicht auf.
Auch im Norden des Landes, für den wir als Deutsche zentral verantwortlich sind, hat sich die Sicherheitslage verschlechtert. Nach einem Bericht des Wall Street
Journal sind die Taliban in der Region so aktiv wie nie
zuvor. Was noch schlimmer ist: Die Einstellung gegenüber Deutschland hat sich in der afghanischen Bevölkerung im Norden im letzten Jahr dramatisch verschlechtert. Das zeigt die große Umfrage der ARD und anderer
Medien sehr deutlich. Das ist wirklich Anlass zur Sorge;
denn ohne das Vertrauen der Bevölkerung - das war einmal das große politische Kapital der deutschen Präsenz werden wir gar nichts erreichen.
({4})
Aber es zeigt sich leider: Mit der offensiven Strategie
der Aufstandsbekämpfung wird die Unterstützung vieler
Afghaninnen und Afghanen offensichtlich weiter verspielt.
Woher Sie angesichts dieser Fakten Ihre optimistische Einschätzung nehmen, 2011 stünde die Trendwende bevor, ist mir schleierhaft. Die Fakten Ihres eigenen Berichts geben das nicht her. Auch die Einschätzung
unabhängiger Expertinnen und Experten gibt das nicht
her. Herr Westerwelle, nehmen Sie das bitte endlich zur
Kenntnis!
({5})
Meine Fraktion hat dem neuen Mandat im Februar
mit großer Mehrheit - auch aus genau solchen Befürchtungen heraus - nicht zugestimmt. Sie, Herr Außenminister, haben damals behauptet, mit dem Mandat vollzöge
sich - ich zitiere aus Ihrer Erklärung - „eine Schwerpunktverlagerung von dem gegenwärtig eher offensiven
Vorgehen der QRF zu einer grundsätzlich defensiven
Ausrichtung auf Ausbildung und Schutz“.
Meine Damen und Herren von der Koalition, das
müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen
und mit den Beschreibungen in dem Bericht vergleichen.
Das haben wir Ihnen damals schon nicht geglaubt. Sie
haben das „Partnering“ neu in das Mandat eingeführt,
ohne es klar zu definieren. Wir hatten die Befürchtung,
dass das eine schleichende qualitative Veränderung des
Mandats bedeutet: die Abkehr von ISAF als Stabilisierungseinsatz hin zu einer Strategie der offensiven Aufstandsbekämpfung in der Fläche. Das - mit Verlaub - ist
das Gegenteil von einer defensiven Ausrichtung.
({6})
Ich muss leider feststellen: Diese Befürchtung hat
sich bewahrheitet. Damit haben Sie den deutschen Einsatz in Afghanistan auf einen falschen Weg gebracht. Es
gibt keine ausreichende Klarheit über den militärischen
Auftrag und die politischen Ziele. Das gilt auch für die
weitere Perspektive des Einsatzes: die viel zitierte
„Übergabe in Verantwortung“ und die konkrete Planung
des Abzuges der internationalen Truppen. Eine präzise
Planung wäre hier das Gebot der Stunde.
Andere Länder gehen diesen Weg. Unser westlicher
Nachbar, die Niederlande, hat seine Armee bereits weitgehend nach Hause geholt. Polen, unser östlicher Nachbar, hat erklärt, seine Truppen in den kommenden zwei
Jahren abzuziehen. Italien, der viertgrößte Truppensteller, will von 2011 bis 2014 den Abzug vollziehen. Und
Schweden, mit dem wir gemeinsam im Norden Afghanistans engagiert sind, hat parteiübergreifend beschlossen, zwischen 2012 und 2014 stufenweise abzuziehen.
Und was ist jetzt mit der deutschen Bundeswehr? Das
allgemeine Beschwören einer Abzugsperspektive ist
noch kein Plan. Wie andere europäische Regierungen
muss auch die Bundesregierung einen vollständigen und
ehrlichen Abzugsplan vorlegen - mit klaren Zielen und
konkreten Zwischenschritten. Jetzt vor der anstehenden
Mandatsverlängerung im Bundestag wäre der Zeitpunkt
dafür. Ich sage - auch vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Bewertungen -: Länger als bis 2014 sollten die Verbände der Bundeswehr nicht in Afghanistan bleiben.
({7})
Drei Jahre sind ein verantwortbarer Zeitraum für einen
koordinierten Abzug.
Wenn von der Bundesregierung erwogen wird, der afghanischen Regierung über diesen Zeitpunkt hinaus eine
begrenzte Anzahl von Militärausbildern anzubieten,
dann sollten Sie das offen sagen und klare Konditionen
nennen, aber das nicht einfach so in den Raum stellen.
Weichen Sie an diesem Punkt nicht weiter aus! Betreiben Sie keinen Etikettenschwindel - das sage ich noch
dazu - mit den Worten von der defensiven Ausrichtung
bei Ausbildung durch Partnering - am Ende nach dem
Motto: Wir ziehen die Kampftruppen ab, aber die gleichen Soldaten bleiben als Ausbildungseinheiten da. Sagen Sie konkret, was Sie in den nächsten drei Jahren machen wollen! Sagen Sie konkret, was Sache ist! Das
erwarten wir spätestens dann von Ihnen, wenn Sie uns in
einem Monat das neue Mandat vorlegen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich unsere Grüße an all diejenigen nach Afghanistan senden, die diese Debatte verfolgen. Ich hatte
Anfang der Woche zusammen mit dem Kollegen Willsch
die Gelegenheit, den Minister auf seiner wichtigen Reise
zu begleiten. Wir haben bei der Gelegenheit mit sehr,
sehr vielen Soldaten sprechen können.
({0})
Die Ernsthaftigkeit, mit der unsere Debatten verfolgt
werden, sollte auch den Stil dieser Debatte hier prägen.
({1})
Ich bin der Meinung, auch nach diesem Besuch und
nach vielen Gesprächen mit Soldaten vor Ort, dass sie
allen Respekt dafür verdient haben, dass sie mit Mut und
Tapferkeit in unserem Auftrag bzw. aufgrund unserer
Mandatierung ihren Dienst für unser Land und für die
Sicherheit unseres Landes leisten. Deshalb, liebe Soldatinnen und Soldaten, herzlichen Dank für Ihren Mut, Ihren großen Einsatz und für die großen Opfer, die Sie gerade in dieser besonderen Zeit des Jahres, nämlich der
Advents- und Weihnachtszeit, bringen! Herzlichen
Dank!
({2})
Ich habe Soldaten getroffen, die sich gerade jetzt vor
Weihnachten große Sorgen darüber machen, was ihre
Angehörigen fühlen, was die Freundin bzw. der Freund
denkt, was ihr Lebenspartner oder ihre Lebenspartnerin
fühlt und was ihre Eltern beschwert. Ich habe Soldaten
getroffen, die versuchen, das ein Stück weit zu überbrücken. Ich begrüße deshalb jede Initiative, insbesondere
auch Initiativen von Soldaten selbst, die sich dafür engagieren, diesen Rückhalt in der Bevölkerung, den wir die
ganze Zeit beschwören, weiter zu verstärken. Exemplarisch nenne ich Radio Andernach und empfehle allen
Kolleginnen und Kollegen, sich einmal intensiv mit der
Website zu beschäftigen. Sie werden dann sehen, welche
Brücken von Afghanistan bis zu uns hier möglich sind.
Über persönliche Begegnungen hinaus kann hier dauerhaft der Kontakt gehalten werden.
Den Kontakt zur Truppe zu halten, ist auch Aufgabe
des Parlaments; das ist auch Aufgabe der Regierung.
Das haben Minister zu Guttenberg und Minister
Westerwelle auf vielfältige Weise immer wieder getan.
Auch unsere hier getroffenen politischen Entscheidungen werden dadurch legitimiert, dass man in ständigem
Kontakt mit den Soldatinnen und Soldaten ist. Das begrüße ich außerordentlich.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollege Ströbele?
Das hat schon Ritualcharakter. Ich nehme die Frage
trotzdem an.
Dann gibt es auch noch vom Kollegen Arnold den
Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Können wir gerne machen.
Bitte schön, Herr Ströbele.
Danke schön, Herr Präsident und Herr Kollege. Herr Kollege, haben Sie den Soldaten bei Ihrem Besuch
in Afghanistan auch gesagt, dass über 70 Prozent der
deutschen Bevölkerung den Einsatz in Afghanistan nicht
richtig finden und den Abzug der deutschen Soldaten aus
Afghanistan befürworten? Haben Sie den deutschen Soldaten in Afghanistan auch gesagt, dass ihr derzeitiger
Außenminister die deutsche Öffentlichkeit getäuscht hat,
indem er durch Trickserei den Eindruck zu erwecken
versucht hat, dass im Jahr 2011 mit dem Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan begonnen werde, während im Bericht der Bundesregierung, den Sie hier verteidigen, steht, dass nicht schon für das Jahr 2011,
sondern erst für das Jahr 2012 eine Perspektive für den
Beginn des Abzugs der Soldaten aus Afghanistan entwickelt werden soll? Haben Sie den deutschen Soldaten in
Afghanistan auch gesagt, dass sie als deutsche Soldaten
jetzt bereits längere Zeit in Afghanistan im Kriegseinsatz
sind, als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen
gedauert haben, und dass sie nach den Plänen dieser
Bundesregierung perspektivisch gesehen noch mindestens vier bis fünf Jahre dort bleiben müssen?
({0})
Herr Ströbele, zunächst einmal eine Bemerkung zu
Ihrer erneuten Zwischenfrage an mich. Es hat ja wirklich
schon bald ritualhaften Charakter, dass Sie sich zu Wort
melden, wenn ich am Rednerpult stehe. Ich nehme Ihre
Zwischenfragen trotzdem jederzeit gerne an, um Ihnen
Ihren Wunsch, hier im Parlament reden zu können, zu
erfüllen. Ich bitte aber Ihre Fraktionsführung inständig:
Bitte setzen Sie Herrn Ströbele einfach einmal auf die
Rednerliste, damit er seine Statements hier nicht immer
in Zwischenfragen verpacken muss.
({0})
Herr Ströbele, ich brauche den Soldaten nicht zu sagen, wie lange der Einsatz dauert, denn sie selbst wissen
es am besten. Ich brauche den Soldaten auch nicht zu sagen, in welch schwieriger Situation wir uns in Deutschland befinden und wie sehr der Rückhalt in der Bevölkerung für dieses Mandat bröckelt.
({1})
Selbst wenn ein großer Teil der Bevölkerung in unserem
Land gegen diesen Einsatz ist, rufe ich den Soldaten
trotzdem zu, dass das nicht bedeutet, dass die Menschen
in unserem Land gegen unsere Soldaten sind. Das ist
nicht so.
({2})
Man kann gegen die Politik der Regierung in diesem
Land sein. Es sollte aber nicht der Eindruck erweckt
werden, dass sich diese Gegnerschaft auch auf die Bundeswehr bezieht. Ich fahre auch nicht nach Afghanistan,
um die Soldaten zu belehren oder ihnen gar so etwas nahezulegen, wie Sie es in Ihrer Frage gerade gemacht haben. Insofern ist, wie ich denke, Ihre Frage beantwortet,
und Sie haben die Möglichkeit gehabt, hier Stellung zu
beziehen.
Der Kollege Arnold hatte noch eine Frage, Herr Präsident. Ihm möchte ich auch die Möglichkeit dazu geben.
Bitte schön, Kollege Arnold.
Herr Kollege Mißfelder, wir haben gerade zum ersten
Mal gehört, dass zwei Kollegen aus der CDU/CSU den
Minister auf dieser Reise begleitet haben. Meine Frage
ist: Ist Ihnen bekannt, ob der Minister auch Abgeordnete
von anderen Fraktionen eingeladen hat, wie es gerade
bei den Weihnachtsreisen der Minister nach meiner
Beobachtung in den vergangenen zwölf Jahren der
Brauch war? Oder sind Sie inzwischen der Auffassung,
dass Parlamentsarmee bedeutet, dass es sich um eine
Familienarmee bzw. eine CDU-Armee handelt?
({0})
Herr Arnold, dazu ist mir nichts bekannt, und ich
kann deshalb nichts dazu sagen. Ich weiß nur, dass Sie
an Reisen teilgenommen haben, zu denen ich nicht eingeladen war. Das hat aus meiner Sicht zum Teil damit zu
tun, dass es durchaus Einladungen an verschiedene
Kreise geben kann. Mal ist der Teilnehmerkreis auf den
Auswärtigen Ausschuss, mal auf den Verteidigungsausschuss und mal auf den Entwicklungshilfeausschuss beschränkt. Es gibt auch Fälle, in denen Persönlichkeiten
aus der Verwaltung wie beispielsweise Staatssekretäre
dabei sind. Nach meinem Wissensstand kann ich Ihre
Frage nur so beantworten, wie ich es gerade getan habe.
Ich möchte jetzt noch auf andere Punkte näher eingehen. Selbstverständlich handelt es sich bei diesem Mandat nicht allein um ein Mandat der christlich-liberalen
Koalition. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diesen
Einsatz verantwortungsvoll fortzuführen. Ich möchte
deshalb auch auf das eingehen, was Herr Erler gesagt
hat. Ich bin froh, dass Sie hier Ihre Anliegen vorgetragen
haben, und nehme das, was Sie gesagt haben, ernst. Ich
möchte dazu beitragen, dass in den kommenden Wochen
die Gelegenheit genutzt wird, eine breite Unterstützung
im Hause für dieses Mandat zu bekommen.
Auch das, was Herr Ströbele vorhin zum Thema Abzugsperspektive gesagt hat, ist nicht ganz falsch. Aber
diese Verantwortung tragen wir gemeinsam. Natürlich
war es ein Fehler, diesen Einsatz in uneingeschränkter
Solidarität zu beginnen, ohne festzulegen, wie und nach
welchen Kriterien man sich aus dieser schwierigen Mission wieder verabschieden will. Gerade das abgelaufene
Jahr zeigt, wie schwierig es ist, entsprechende Kriterien
zu entwickeln. Ich mache das nicht nur an Schröders Äußerung von der uneingeschränkten Solidarität fest. Ich
mache das insgesamt an unserem Verhalten fest. Wir tragen für dieses Mandat gemeinsam die Verantwortung.
Der Fortschrittsbericht zeigt eindeutig: Wir bewegen
uns in einem Spannungsbogen. Einerseits müssen wir
die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung und auch die
der Entwicklungshelfer und all derjenigen, die sich für
den Zivilaufbau in Afghanistan engagieren, sehen. Andererseits müssen wir - das ist ein schwieriges Unterfangen - die Übergabe in Verantwortung nach unseren
selbstgesetzten Maßstäben, die ich für richtig halte, umsetzen. Unsere selbstgesetzten Maßstäbe sind an Humanität, an Menschenrechten und insbesondere an den
Rechten der Frauen in Afghanistan ausgerichtet. Der
Minister hat es vorhin sehr deutlich gesagt: Was wir an
Erfolgen im Hinblick auf die Verbesserung der Situation
der Frauen in Afghanistan erreicht haben, wollen wir
nicht leichtfertig aufgeben.
Wir bewegen uns in diesem Spannungsbogen zwischen Sicherheitsinteressen in Bezug auf den zukünftigen zivilen Aufbau und den roten Linien, bei denen wir
uns im Übrigen mit vielen Kolleginnen und Kollegen
aus der Fraktion der Grünen sehr einig sind. Herr
Schmidt, ich nehme deshalb das, was Sie gesagt haben,
gerne auf. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, wie wir es schaffen können, mehr Verantwortung in
afghanische Hände zu legen. Das bedeutet, dass wir die
Armeeausbildung und die Polizeiausbildung vorantreiben müssen.
Der Fortschrittsbericht zeigt in ganz großer Klarheit:
Da gibt es sehr viele Fragezeichen. Wenn wir an die
staatlichen Institutionen in Afghanistan denken - ich
meine nicht den einzelnen Soldaten, sondern die dortigen Verantwortungsträger -, dann müssen wir sehen,
dass wir es mit sehr schwierigen Figuren zu tun haben.
Wir können es uns aber nicht aussuchen, mit wem wir es
dort zu tun haben. Natürlich trifft man den einen oder
anderen, von dem man meinen könnte, dass er vielleicht
ein besserer Präsident Afghanistans sei. Ein Vertreter der
Linken hat es vorhin gesagt. Es stellen sich aber folgende Fragen: Haben diese Personen die Durchschlagskraft, ein Land zu führen? Gibt es in Afghanistan überhaupt die Perspektive einer starken Zentralregierung?
Wie wird Afghanistan in 10 bis 15 Jahren aussehen, und
mit welchen Leuten hat man es dann in welcher Region
zu tun? Deshalb muss man ganz genau hinschauen, wie
sich die Abzugsperspektive gestalten soll.
Deshalb tun wir uns auch so schwer, einfach mir
nichts, dir nichts ein Datum zu nennen, meinetwegen an
Landtagswahlen oder an anderen politischen Überlegungen ausgerichtet. Wir machen es uns nicht leicht. Wir reden Klartext mit dem Fortschrittsbericht. Wir übernehmen die Verantwortung, selbst wenn ein großer Teil in
unserer Bevölkerung zunehmend Probleme bei der Mandatierung sieht. Wir stehen auch zu dieser Verantwortung, weil wir der Meinung sind, dass man Afghanistan
nicht kopflos verlassen darf, sondern nach unseren Kriterien, die ich gerade klar genannt habe, einen Weg aus
dieser Mission heraus finden muss.
({0})
Selbst Kritiker des Einsatzes, zum Beispiel wie der
Autor Ahmed Rashid, geben uns doch deutliche Hinweise, wie man mit dem Wiederaufbau in Afghanistan
umgehen soll. Unser zentraler Punkt ist ja nicht das militärische Engagement. Unser zentraler Punkt - das war
der Strategiewechsel, den Minister Westerwelle dankenswerterweise mit eingeleitet hat - ist der Wiederaufbau in Afghanistan. Ahmed Rashid sagt, wenn dieser
Wiederaufbau scheitern sollte - Voraussetzung für den
Wiederaufbau ist nun einmal Sicherheit -, dann haben
die Extremisten in Afghanistan gesiegt. Das wollen wir
nicht zulassen. Deshalb wollen wir eine Übergabe in
Verantwortung. Der Fortschrittsbericht gibt uns darüber
Klarheit und gibt die Richtlinien vor, wie wir sie in Zukunft gestalten können.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Johannes Pflug für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der von Herrn Minister Westerwelle heute vorgestellte Fortschrittsbericht zu Afghanistan ist durchaus
kritisch und wenig schönfärberisch. Wir erwarten allerdings immer noch, dass die Bundesregierung den Vorschlag von SPD und Grünen einer unabhängigen Evaluation des internationalen Engagements in Afghanistan
ebenfalls aufgreift und bei zukünftigen Berichten entsprechend umsetzt.
Herr Minister, neben Erfolgen und Misserfolgen findet man im Bericht der Bundesregierung eine Menge
Hoffnung, die weder aufgrund der Ergebnisse des Fortschrittsberichts noch aufgrund der Aussagen unabhängiger Experten angebracht ist. Ob zum Beispiel eine Verbesserung der Sicherheitslage wirklich aufgrund der
neuen Counterinsurgency-Strategie gegeben ist, wird
sich erst im Frühjahr, nämlich dann, wenn viele Aufständische wieder zu den Waffen greifen und aus ihren
pakistanischen Rückzugsräumen nach Afghanistan zuJohannes Pflug
rückkehren, zeigen. Die anhaltende massive Verschlechterung der Sicherheitslage in diesem Jahr gibt zumindest
wenig Anlass zu Optimismus.
Fakt ist außerdem, dass der Bericht selbst einräumt,
dass keine der bisherigen Verstärkungen der Militärpräsenz eine Verbesserung der Sicherheitslage bewirkt hat.
Und Fakt ist auch, dass der Bericht selbst einräumt, dass
letztlich gegenwärtig nur knapp die Hälfte der afghanischen Armeeverbände überhaupt in der Lage ist, ISAFOperationen zu unterstützen.
({0})
Bei der afghanischen Polizei, deren Ausbildung ein
Schwerpunkt des deutschen Engagements sein soll, stellt
sich die Situation dabei noch weit schlechter dar. Es wird
vor diesem Hintergrund nicht ersichtlich, woher die
Bundesregierung ihren Optimismus für eine positive
Entwicklung im Jahr 2011 nimmt.
({1})
Es wird erst recht nicht ersichtlich, auf welche Fehler,
Versäumnisse und Ursachen in der Vergangenheit die
schlechte gegenwärtige Sicherheitslage zurückzuführen
ist und ob und wie diese in Zukunft vermieden werden
können.
Besonders bedauerlich ist daher, dass mit dem Fortschrittsbericht eine Chance auf kritische Prüfung der bisherigen Politik und Maßnahmen verschenkt wurde. So
ist es auch nicht verwunderlich, dass die Bundesregierung, geschlagen mit ihrem Tunnelblick unter dem
Motto „Alles wird gut in Afghanistan“, wesentliche
strukturelle Schwierigkeiten des Engagements in Afghanistan bis heute nicht zur Kenntnis nimmt.
Diese strukturellen Mängel reichen zurück bis in das
Jahr 2001, als sich die Vereinigten Staaten unter maßgeblicher Federführung ihres damaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld dazu entschlossen, die Taliban und al-Qaida im Wesentlichen aus der Luft zu
bekämpfen und die Kämpfe am Boden den ehemaligen
Mudschaheddin und Kriegsherren der sogenannten
Nordallianz zu überlassen. Erst als bekannt wurde, dass
diese Kriegsherren gegen Bezahlung Führer der Taliban
und al-Qaida schützten und in Tora Bora zur Flucht verhalfen, während ihre Männer Gräueltaten an der paschtunischen Bevölkerung verübten, entschlossen sich die
USA, selbst stärker aktiv zu werden. Allerdings wurde
schnell deutlich, dass die amerikanische Regierung keinerlei tragfähiges Konzept für den Staatsaufbau in Afghanistan besaß und diesen dazu auch noch über den
Krieg im Irak in der Folgezeit zu lange erheblich vernachlässigte. Dies hatte zur Folge, dass jede der anderen
beteiligten Nationen ihre eigene Afghanistan-Politik verfolgte und dass bis zur Afghanistan-Konferenz in London Anfang des Jahres wenig unternommen wurde, um
die verschiedenen Engagements zu koordinieren.
Nun hat nicht die Bundesregierung allein diese früheren Verfehlungen zu verantworten. Allerdings krankt der
Einsatz in Afghanistan noch immer an der mangelhaften
Koordination des internationalen Engagements, insbesondere mit der Führungsmacht USA.
Herr Minister, konnte die jetzige Bundesregierung
beispielsweise in Erfahrung bringen, wann, wo und mit
welchen Gruppenkontingenten die USA ihren angekündigten Abzug beginnen wollen und welche Aufgabe sie
dabei unserer Bundeswehr zugedacht haben? Hat die
Bundesregierung zur Kenntnis genommen, dass sich der
US-Truppenabzug im Zweifelsfall an amerikanischen
Wahlterminen und weniger an der Situation in Afghanistan orientiert? Muss man davon ausgehen, dass sich die
amerikanischen Truppen im deutschen Verantwortungsbereich des Regionalkommandos Nord auf Frühjahrsoffensiven vorbereiten? Wenn dem so ist, wie gedenkt sich
die Bundesregierung bei solchen Offensiven im nächsten
Jahr zu verhalten, insbesondere wenn die USA deutsche
Unterstützung anfordern?
Auf all diese Fragen ist die Bundesregierung bisher
eine Antwort schuldig geblieben. Es waren in der Vergangenheit keine Initiativen erkennbar, die maßgeblich
zur Verbesserung der Situation beigetragen hätten. Herr
Minister Westerwelle, da Dauer, Umfang und Art des
amerikanischen Engagements zweifellos von direkter
Bedeutung für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sind, gilt nach wie vor: Tragen Sie endlich zur Klärung der genannten offenen Fragen bei!
Nicht nur die mangelnde Koordination mit unseren
Verbündeten in Afghanistan selbst bereitet uns Sorgen:
Aktuelle Geheimdienstberichte der Vereinigten Staaten
dokumentieren zum wiederholten Mal die besondere Bedeutung, die Pakistan bei der Stabilisierung - oder sollte
ich besser Destabilisierung sagen? - Afghanistans zukommt. Solange die afghanischen Aufständischen das
afghanisch-pakistanische Grenzland als Rückzugsraum
nutzen können, solange Pakistan Afghanistan als Spielball und strategisches Hinterland in seinem Verhältnis zu
Indien sieht und die pakistanische Regierung an einem
stabilen Afghanistan lediglich unter einer propakistanischen Regierung interessiert ist, wird die Stabilisierung
Afghanistans erheblich erschwert.
Auch der Iran, China, Indien und Russland besitzen
erhebliches Potenzial, das es für den Wiederaufbauprozess in Afghanistan nutzbar zu machen gilt. Wir fordern
die Bundesregierung daher auf, die Wahl Deutschlands
in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht als
bloßes Prestigeprojekt zu sehen, sondern als Grundlage,
Initiativen für regionale Lösungsansätze für Afghanistan
anzustoßen.
({2})
Die Bundesregierung verweist in ihrem Fortschrittsbericht auf die Binsenweisheit, militärisch sei der Konflikt in Afghanistan nicht zu gewinnen. Die SPD-Fraktion war sich dessen stets bewusst; sie hatte dies auch nie
vor. Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf,
die außenpolitische Initiative zu übernehmen, die Koordination mit unseren Verbündeten zu verbessern und
auf eine regionale Lösung des Afghanistan-Konfliktes
hinzuwirken.
({3})
Außerdem erwarten wir, dass der vorgestellte Fortschrittsbericht in Zukunft durch kritische Quartalsevaluationen ergänzt wird.
Schönen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit
dem von der Bundesregierung vorgelegten „Fortschrittsbericht Afghanistan“ wurde zum ersten Mal nicht nur
uns Kolleginnen und Kollegen, sondern auch den Bürgerinnen und Bürgern eine Grundlage gegeben, um den
Afghanistan-Einsatz nachzuvollziehen. Das ist in den
letzten Jahren häufig viel zu kurz gekommen. Unsere
Bürgerinnen und Bürger haben jetzt zum ersten Mal die
Möglichkeit, die Maßnahmen, die die Bundesregierung
ergreift, nachzuvollziehen und vor allen Dingen die weiteren Schritte zu begleiten; denn bei all der berechtigten
Kritik in der Vergangenheit: Jetzt müssen wir den Blick
nach vorne richten. Ich glaube, dass es der Bundesregierung hier sehr gut gelungen ist, diesen Blick nach vorne
zu ermöglichen, sodass wir nachvollziehen können, welche die wesentlichen Schritte beim weiteren Engagement in Afghanistan sein werden.
({0})
Meine Damen und Herren, Herr Minister, ich möchte
dem Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Afghanistan vor dem Hintergrund der Kürze der Zeit, die
ihm zur Verfügung stand, für seinen Einsatz danken.
Herr Steiner hat sich innerhalb kürzester Zeit hervorragend in diese komplexe Materie eingearbeitet. Es ist
ihm, der Bundesregierung und uns allen gelungen, die
bedeutsame Rolle unseres Landes in der internationalen
Gemeinschaft darzustellen. Herr Minister, Sie haben
eine Konferenz in Bonn in Aussicht gestellt. Das zeigt,
dass Deutschland, verkörpert durch die deutsche Diplomatie und insbesondere durch die Bundeswehr, gerade in
dieser Frage hohes Ansehen in der Welt genießt. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön.
({1})
Herr Schmidt, Sie haben eben den Begriff des Partnerings kritisch beleuchtet. Ich glaube, dass es keine Alternative dazu gibt, die afghanischen Sicherheitskräfte
ernsthaft in die Lage zu versetzen, dass sie in einem der
schwierigsten Konflikte mit einer Aufstandsbekämpfung
strategisch umgehen können. Vor allen Dingen muss die
Identität der afghanischen Nationalarmee hergestellt
werden. Bei Auseinandersetzungen vor Ort und kleinen
Scharmützeln zu bestehen ist das eine; eine wirklich
funktionsfähige Armee und Polizei aufzubauen, die auf
den afghanischen Staat eingeschworen ist, ist aber etwas
anderes. Ich glaube, dass die internationale Gemeinschaft in diesem Zusammenhang eine ganz entscheidende Rolle spielt, und zwar nicht nur bei der Ausbildung der Streitkräfte, wozu wir uns meines Erachtens
langfristig verpflichten müssen. Wir müssen die afghanischen Sicherheitskräfte vielmehr in die Lage versetzen,
in Afghanistan in Zukunft das Gewaltmonopol auszuüben. Es kann nicht sein, dass einzelne Warlords, dass
einzelne, selbsternannte Chefs in den Regionen das Gewaltmonopol, das eigentlich der Staat haben sollte, an
sich reißen. Deswegen sollten wir die afghanische Regierung, aber auch die afghanischen Streitkräfte bei dieser wichtigen Aufgabe unterstützen.
({2})
Dazu gehört natürlich auch, lieber Kollege Schmidt,
dass die afghanische Armee in die Lage versetzt wird, zu
kämpfen. Dazu gehört, dass sie dafür ausgebildet ist.
Dazu gehört aber auch, dass sie entsprechend finanziert
ist. Die internationale Gemeinschaft hat Verantwortung
übernommen und Unsummen von Geld zur Verfügung
gestellt. Ich möchte auch die Bundeswehr mit allem
Nachdruck bei dieser Aufgabe unterstützen. Unsere Soldatinnen und Soldaten verdienen für das, was sie im
Rahmen des Partnerings, das schon jetzt stattfindet, auch
im Bereich unserer OMLTs, allen Dank und alle Anerkennung. Sie sind diejenigen, die das Vertrauen der afghanischen Sicherheitskräfte gewinnen müssen. Unsere
Soldatinnen und Soldaten sind in diesem Zusammenhang auch Botschafter unseres Landes. Wenn es keine
Nähe zwischen der deutschen Bundeswehr und den afghanischen Streitkräften gibt, entsteht auch kein Vertrauen. Dabei haben wir mit Recht auch Erwartungen an
die Afghanen. Ich habe uneingeschränktes Vertrauen,
dass wir auf dem richtigen Weg sind und die richtige
Strategie umsetzen.
Wir müssen uns ein Weiteres vor Augen halten: Eine
Counterinsurgency, eine Aufstandsbekämpfung, ist eine
der schwierigsten militärisch-zivilen Missionen, die man
sich überhaupt denken kann. Ohne die Unterstützung
und die Geduld der Parlamente - ich weiß, dass es
schwer ist, immer wieder erklären zu müssen, warum es
keinen riesengroßen Fortschritt gibt - ist sie nicht möglich. Wir haben uns verpflichtet, und die NATO hat sich
einstimmig auf dieses Ziel festgelegt. Deshalb ist es meines Erachtens unsere Aufgabe, unsere Streitkräfte, unsere Diplomaten und unsere zivilen Aufbauhelfer mit der
höchstmöglichen Rückendeckung für diese schwierige
Aufgabe zu versehen.
({3})
Herr Minister, ich kann Sie nur unterstützen und ermuntern, auf diesem Weg weiterzugehen. Ich hoffe, dass
die Konferenz in Bonn ein Schritt auf dem Weg zu einem langfristigen, kontinuierlichen und politischen Versöhnungsprozess ist. Wir können nicht den dritten
Schritt vor dem ersten machen. Ich glaube, dass Sie hiermit das richtige Signal setzen und einen Schritt in die
richtige Richtung gehen. Ich hoffe, dass es gelingen
wird, alle Akteure an den Tisch zu bringen. Es ist ein besonderes Verdienst Ihres Hauses, dass es gelungen ist,
auch den Iran in die Afghanistan-Kontaktgruppe einzubinden. Es gibt eine Menge gemeinsamer Interessen.
Ohne die Nachbarn Afghanistans - das haben viele Kollegen heute zu Recht deutlich gemacht - können wir als
Bundesrepublik Deutschland diese Aufgabe in dieser
Region mit Sicherheit nicht stemmen. Lassen Sie uns in
der internationalen Gemeinschaft nach dem Motto verfahren: Wir sind zusammen hineingegangen, wir sollten
auch zusammen hinausgehen.
({4})
Ganz herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Karl Lamers für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Jahr 2010 kann durchaus als Wendepunkt im
Afghanistan-Einsatz betrachtet werden.
({0})
Durch den vollzogenen Strategiewechsel, durch neue
militärische und zivile Anstrengungen und durch die
verstärkte Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte ist
es uns gelungen, die Sicherheitslage in Afghanistan zu
verbessern.
({1})
Genau das ist die wichtigste Voraussetzung dafür, unser
Ziel zu erreichen: eine Übergabe in Verantwortung.
Diese Übergabe kann stattfinden, wenn die Afghanen in
der Lage sind, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen. Der
Zeitpunkt dafür muss sich an konkreten Fortschritten vor
Ort, an klaren Fakten und Kriterien bemessen und nicht
an einem Datum, das zum Beispiel Herr Gabriel ein Jahr
vorher wahllos festlegt. So geht es nicht. Herr Erler, Herr
Steinmeier, Sie wissen das. Wer ankündigt, zu einem exakt festgelegten Zeitpunkt aus Afghanistan zu gehen,
gleich in welchem Zustand sich das Land befindet,
({2})
ermutigt doch die Taliban geradezu zum Durchhalten,
der gibt ihnen die Möglichkeit, sich zurückzulehnen, uns
in Sicherheit zu wiegen und abzuwarten, bis sie das
Land wieder unter ihre Kontrolle bringen.
Herr Gabriel führt das Wort „Verantwortung“ verdächtig oft im Mund. Allein das Wort im Mund zu führen, reicht aber nicht. Man muss der Verantwortung auch
gerecht werden, der Verantwortung gegenüber dem afghanischen Volk, das nicht wieder unter die Terrorherrschaft der Taliban geraten will, der Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes,
die nicht wollen, dass Terror aus Afghanistan erneut in
unsere Länder gebracht wird, und insbesondere der Verantwortung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten, die täglich ihr Leben für unsere Sicherheit riskieren.
An dieser Stelle sage ich unseren Soldatinnen und Soldaten Dank für ihren Einsatz. Sie alle machen sich um unser Land und um unser aller Sicherheit verdient.
({3})
Ich weiß, dass Politik kein Wunschkonzert ist, aber
ich habe - insbesondere mit Blick auf Herrn Gabriel eine Bitte: Versuchen Sie wenigstens einmal, Fähigkeit
zur Verantwortung über ausgeprägten Hang zum Populismus zu stellen. Das wäre ein Fortschritt.
({4})
Ich danke Ihnen, Herr Minister Westerwelle, und insbesondere unserem Verteidigungsminister zu Guttenberg
für ihr überzeugendes Engagement für unsere Soldaten
auch und gerade im Einsatzgebiet. Unsere Soldaten
brauchen Rückhalt und Unterstützung. Auf peinliche,
unsägliche Kommentare können sie gut verzichten.
({5})
Der Einsatz der Bundeswehr war und ist im dringenden Interesse der Sicherheit unseres Landes.
({6})
- Durch Geschrei wird das, was Sie machen, nicht besser. - Vergessen wir nicht den 11. September 2001 und
dass die Brutstätten dieses Terrors in Afghanistan waren.
Vergessen wir nicht die nachfolgenden verheerenden
Anschläge überall in der Welt. Ein Abzug zum falschen
Zeitpunkt würde alles, was wir bisher erreicht haben, zunichtemachen. Deutschland hat international Verantwortung übernommen. Wir haben vor, ein verlässlicher Partner im Bündnis zu bleiben. Wir stehen zu unserer
Verantwortung.
Die NATO hat auf dem Gipfel in Lissabon im November dieses Jahres eine neue Strategie für Afghanistan
beschlossen. Diese gilt auch für uns, für Deutschland.
Unsere Verbündeten zählen auf uns, so wie wir auf sie
zählen. Bis Ende 2014 soll die schrittweise Übergabe der
Sicherheitsverantwortung an afghanische Sicherheitskräfte erfolgen. Unser Ziel ist - der Außenminister hat
dies in seiner Rede genannt -, 2011 auch im deutschen
Verantwortungsbereich im Norden den Übergabeprozess
einzuleiten, wenn die Sicherheitslage es zulässt, und ab
dem genannten Zeitpunkt nicht mehr benötigte Fähigkeiten zu reduzieren. Das bedeutet keinen vollständigen
Rückzug aus Afghanistan. Wir werden in Afghanistan
Dr. Karl A. Lamers ({7})
auch nach dem Abzug der Kampftruppen eine langfristige Aufgabe haben. Wir werden die Menschen in Afghanistan nicht im Stich lassen. Es liegt letztlich an uns,
die Lage so zu verändern, dass ein verantwortlicher
Rückzug in überschaubarer Zeit möglich wird.
Mit dem Fortschrittsbericht wird erstmals aufgezeigt,
wo wir in Afghanistan stehen. Der Bericht zeigt deutlich
die gemachten Fortschritte, aber auch die Defizite. Viel
ist zwischenzeitlich erreicht worden - diese Fortschritte
dürfen wir nicht gefährden -: Aufbau staatlicher Institutionen, Ausbau der Infrastruktur, des Schulwesens, Fortschritte auf dem Gesundheitssektor.
Aber es bleibt noch viel zu tun: Bekämpfung des Drogenanbaus, gute Regierungsführung, Bekämpfung der
Korruption
({8})
und insbesondere - das ist für mich wichtig - die Gewinnung der heute in Afghanistan lebenden Jugend für ein
besseres Afghanistan.
Wir müssen die Afghanistan-Mission zum Erfolg führen, im Rahmen von ISAF, im Verbund der NATO. Ich
meine, wir sind auf dem richtigen Weg. In all dem ist
aber auch und gerade Präsident Karzai gefordert, seinen
Beitrag dazu zu leisten, dass diese Mission erfolgreich
durchgeführt wird. Meine Damen und Herren, von Afghanistan darf nie wieder Terror ausgehen. Nach dieser
Zielsetzung werden wir auch künftig handeln.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem
haben Sie recht, Herr Außenminister: Der Aufbau eines
funktionsfähigen und stabilen afghanischen Staates erfordert einen umfassenden Ansatz, mit der Förderung
der Sicherheit, aber auch der guten Regierungsführung
und Entwicklung. Nur, Herr Außenminister, Sie ziehen
daraus teilweise den falschen Schluss. Wenn Sie und Ihr
Parteifreund und Kabinettskollege Dirk Niebel derzeit
beispielsweise darangehen, in Afghanistan nur noch solche deutschen Hilfsorganisationen zu unterstützen, die
im Norden des Landes tätig sind und bereit sind, dort mit
dem Militär zu kooperieren, dann sage ich Ihnen: Das ist
ein falscher Schluss, den Sie ziehen.
({0})
Ein solcher Schluss behindert den Aufbau in Afghanistan und befördert ihn nicht. Wer so vorgeht wie Sie,
der verengt ziviles Engagement, der begrenzt es, und der
beschädigt es. Sie als Außenminister waren es doch, der
vor einigen Wochen höchstpersönlich den Geldhahn für
ein Rechtsberatungsprojekt für afghanische Frauen zugedreht hat, das die Kölner Organisation Medica Mondiale in Herat, im Westen Afghanistans, seit vielen Jahren sehr erfolgreich betreibt.
({1})
Nur weil Herat nicht im Verantwortungsbereich der Bundeswehr liegt, haben Sie den Geldhahn für dieses Projekt
zugedreht. So gefährden Sie die gute und erfolgreiche
Arbeit einer deutschen Hilfsorganisation in Afghanistan.
({2})
Herr Außenminister, wenn diese Hilfsorganisation
nicht einen neuen Geldgeber in Form einer amerikanischen Stiftung gefunden hätte, dann wäre dieses Projekt
jetzt am Ende. Mit einer solchen Art von Politik, Herr
Außenminister, unterstützt man Afghanistan und die dort
lebenden Menschen nicht, sondern man beschädigt die
Menschen und die Helfer, die sich in Afghanistan tagtäglich um eine bessere Zukunft bemühen. Das ist die bittere Kehrseite Ihrer Afghanistan-Politik.
({3})
Wenn der Aufbau in Afghanistan gelingen soll, dann
sind wir gerade auf die zum Teil jahrzehntelangen Erfahrungen der Hilfsorganisationen mit den lokalen Gegebenheiten und ihre Kontakte angewiesen. Deren Kenntnisse und vor allen Dingen das Vertrauen, das den
Helfern entgegengebracht wird, ist ein immenser Schatz,
den wir beim Aufbau Afghanistans benötigen. Diesen
Schatz schieben Sie aber offensichtlich arglos beiseite.
Wenn diese Hilfsorganisationen in den letzten Monaten wiederholt in der Öffentlichkeit geäußert haben, sie
würden von dieser Bundesregierung erpresst, dann zeigt
das nur, welchen Scherbenhaufen Sie und Herr Niebel
hier inzwischen angerichtet haben, einen Scherbenhaufen, für den Sie die politische Verantwortung tragen.
({4})
Meine Damen und Herren, nach der Lektüre dieses
Berichts lautet mein Hauptfazit: Wir müssen vor allen
Dingen den Prozess der innerafghanischen Versöhnung,
insbesondere unter Einbeziehung der afghanischen
Nachbarstaaten, unterstützen und befördern. In der Debatte ist wiederholt gesagt worden: Dabei kommt Pakistan eine Schlüsselrolle zu.
Ich weiß nur nicht, Herr Außenminister, ob das bei Ihnen schon so richtig angekommen ist. Ich hätte mir jedenfalls ein stärkeres Engagement von Ihrer Seite und
deutlich mehr Aktivitäten dieser Bundesregierung zur
Unterstützung dieses Friedensprozesses unter Einbeziehung der afghanischen Nachbarn gewünscht. Die deutsche Außenpolitik hätte eigentlich gerade in dieser Region Gewicht, Herr Minister. Nur, dieses Gewicht muss
man auch nutzen. Den Beweis sind Sie bislang schuldig
geblieben.
({5})
Der Fortschrittsbericht zeigt auch: Militärisch ist dieser Konflikt in Afghanistan nicht zu lösen. Im Gegenteil,
die Akzeptanz der ausländischen Truppen sinkt. Das Ansehen des Westens - so der Bericht - befindet sich auf
einem Allzeittief. Daraus kann doch nur folgen, dass wir
in absehbarer Zeit den militärischen Teil unseres Engagements beenden müssen. Wir Sozialdemokraten haben
deshalb, wie Sie wissen, zu Beginn des Jahres einen sehr
verantwortungsbewussten Abzugsplan mit einem Beginn des Abzugs in 2011 und einer Beendigung des militärischen Engagements zwischen 2013 und 2015 vorgelegt. Zu diesem Versprechen stehen wir. Aber an diesem
Versprechen werden wir auch alle künftigen Handlungen
dieser Bundesregierung messen.
({6})
Ich bin schon etwas verwundert. Anfang des Jahres
hatte die Bundesregierung selbst einen Abzugsbeginn im
Jahre 2011 in Aussicht gestellt sind. Dann haben Sie,
Herr Westerwelle, vor einigen Wochen in der Presse versucht, sich aus diesen Zusagen irgendwie wieder herauszumogeln. Sie haben als Abzugsbeginn das Jahr 2012
ins Gespräch gebracht. Dann haben Sie sich in dieser
Debatte an das Pult gestellt und das Jahr 2011 genannt.
Die Kollegen Mißfelder und Lamers hingegen haben
versucht, das wieder zu relativieren. Also, was gilt denn
nun? Wir brauchen eine klare Aussage.
({7})
Ich sage Ihnen: Stehen Sie zu Ihren Aussagen gegenüber den Afghanen, gegenüber den Angehörigen der
Bundeswehr, aber auch gegenüber der deutschen Öffentlichkeit. Ein Hinausschieben des Abzugsbeginns kommt
nicht infrage; denn ein solches Verschieben würde doch
nur den unbedingt notwendigen Druck auf die afghanische Regierung lockern, schrittweise die Sicherheitsverantwortung zu übernehmen. Ein solches Verschieben
würde mögliche Ressentiments in der afghanischen Bevölkerung, deren Vorhandensein dieser Bericht auch
zeigt, gegenüber einer ausländischen Truppenpräsenz
möglicherweise verstärken. Das würde einen verantwortungsbewussten Abzug insgesamt infrage stellen. Deshalb: Stehen Sie zu Ihren Zusagen. Beginnen Sie mit einem Abzug im Jahre 2011. Die Unterstützung der
deutschen Sozialdemokratie hierfür werden Sie jedenfalls haben.
Recht herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht, den uns die mit dem
Thema Afghanistan befassten Ressorts vorgelegt haben,
beschönigt nichts, sondern er legt in einer sachlichen Art
und Weise die Lage der Dinge dar. Eines kommt dabei
ganz klar zum Ausdruck: Frieden in Afghanistan kann
nicht allein mit militärischen Mitteln erreicht werden.
Nein, es sind vor allem politische Maßnahmen, bei denen
wir das afghanische Volk unterstützen müssen. Das wissen wir nicht erst seit heute. Wir haben bereits in diesem
Jahr mit der geänderten Strategie des vernetzten Ansatzes auch entsprechende Maßnahmen ergriffen.
Wir haben durchaus Erfolge zu verzeichnen. Der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte kommt nach Jahren der Stagnation und fehlender Gesamtkonzeption jetzt
zügig voran. Die von uns gesetzten Meilensteine wurden
vorzeitig erreicht. Auch die von uns angestrebten Fähigkeiten wurden in Teilbereichen aufgebaut.
Es hat sich gezeigt, dass der deutsche Ansatz bei der
Polizeiausbildung, sich nicht nur auf Teilbereiche zu
beschränken, sondern Ausbildungs-, Ausrüstungs- und
Infrastrukturprojekte umzusetzen, zielführend ist. Dies
wurde uns nicht zuletzt auch von afghanischer Seite bestätigt.
Besondere Herausforderungen für den Aufbau einer
professionellen und nach rechtsstaatlichen Prinzipien
agierenden Polizei sind die Implementierung von Polizeistrukturen, die Verringerung der Analphabetenrate
und die Bekämpfung von Korruption. Nur so kann die
Bevölkerung mehr Vertrauen in die Polizei fassen.
Neben der weiteren Ausbildung von afghanischen Sicherheitskräften müssen wir auch in den Bereichen Regierungsführung und Infrastruktur, Bildung und Gesundheit die notwendigen Voraussetzungen für eine Übergabe
in Verantwortung schaffen.
Ein Baustein, der mir beim Aufbau der demokratischen und zivilgesellschaftlichen Strukturen besonders
am Herzen liegt, ist die Durchführung der Wahlen. Bereits zweimal hat das afghanische Volk ein Parlament
und den Staatspräsidenten gewählt. Die Wahlen waren
leider alles andere als frei und demokratisch, sondern
von Wahlbetrug und Manipulation geprägt, wie das auch
aus dem Bericht hervorgeht. Dennoch ist das meines Erachtens trotz aller Kritik ein erster Ansatz hin zu einer
demokratisch legitimierten Gesellschaft.
Ich bin fest überzeugt, dass sich derjenige, der sich
nach einer Wahl nicht in der Volksvertretung repräsentiert fühlt, zurückzieht oder neu orientieren wird. Das ist
ein Nährboden für radikale Kräfte; das wissen wir. Sie
dürfen nicht noch mehr Einfluss gewinnen und die Entwicklung hin zu Frieden und Freiheit nicht zunichtemachen.
Bei den vielen Meilensteinen, die in Afghanistan erreicht werden müssen, ist die nächste Präsidentschaftswahl aus meiner Sicht einer, dem wir Beachtung schenken
müssen, auch wenn die nächste Präsidentschaftswahl erst
im Jahre 2014 ist. Gerade diese wird aber besonders
spannend sein; denn nach geltender Rechtslage darf der
derzeitige Präsident Karzai dann nicht wiedergewählt
werden. Die Zeit bis dahin müssen wir nutzen, um das
Vertrauen der Bevölkerung in diese demokratische Form
der Volksrepräsentation zu gewinnen. Schon im Vorfeld
müssen wir entschieden auf eine bessere Vorbereitung
hinwirken und einen demokratischen Ablauf gewährleisten.
Sehr geehrte Damen und Herren, durch den vorliegenden Bericht wird uns einmal mehr aufgezeigt, dass
die Bevölkerung in Afghanistan wenig Vertrauen in die
eigene Regierung hat. Hierbei sind vor allem die Entschlossenheit und Bereitschaft seitens der afghanischen
Regierung gefragt. Die Korruption auch in den eigenen
Reihen muss noch stärker als bisher bekämpft und eingedämmt werden. Hier erwarte ich einen größtmöglichen
Einsatz und Verbesserungen seitens der afghanischen
Regierung.
Es liegt in unserem ureigenen deutschen Interesse,
dass von Afghanistan keinerlei Gefahr mehr für uns und
die internationale Gemeinschaft ausgeht.
({0})
Das ist unser Ziel; das wollen wir mit unserem Einsatz
am Hindukusch erreichen.
Der Weg zu einem friedlichen Afghanistan ist steinig
und gefährlich. Eines ist jedoch klar: Der jetzige Weg
des vernetzten Ansatzes ist der einzig gangbare. Durch
einen zu schnellen und unüberlegten Abzug würden wir
das bisher Erreichte wieder zunichtemachen. Das ist
nicht in unserem und erst recht nicht im Interesse der afghanischen Bürger.
Der Einsatz, den unsere Soldaten und die zivilen
Kräfte tagtäglich erbringen, hat unsere vollste Wertschätzung verdient. Ich möchte unseren Einsatzkräften
auf diesem Wege danken und ihnen und ihren Familien
von dieser Stelle aus ein frohes Weihnachtsfest und Gottes Segen wünschen.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Roderich Kiesewetter für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, durch
die Debatte in den letzten eineinhalb Stunden wurde
deutlich, wie sachlich wir uns über dieses Thema auseinandersetzen können - trotz einiger Schärfen. Ich
glaube, ein Grund dieser Sachlichkeit liegt auch darin,
dass wir diesen Fortschrittsbericht haben, Herr Außenminister. Wir haben nun klare - ich möchte fast „Benchmarks“ sagen, aber der Begriff ist schon belegt - Richtpunkte, an denen wir unser Handeln messen können, und
es stehen dort Aussagen, durch die uns sehr klar gemacht
wird - das erkennen wir, wenn wir sie genau betrachten -,
wo die Schwierigkeiten liegen.
Zuallererst möchte ich sagen, dass wesentliche Fähigkeiten der afghanischen Regierung noch gar nicht gegeben sind. Durch eine ganz wesentliche Aussage auf den
Seiten 41 und 45 des Berichts wird klar: Das afghanische
Regierungshandeln ist in weiten Teilen verbesserungsbedürftig. Deshalb haben wir die wesentlichen zivilen
und militärischen Ziele unseres Einsatzes bei weitem
noch nicht erreicht. Ich danke für diese Klarheit.
Auf der anderen Seite möchte ich auch sagen - der
Kollege Philipp Mißfelder hat das vorhin angesprochen -:
Die Öffentlichkeit braucht viel mehr Informationen. Wir
Abgeordnete sind parteiübergreifend gefordert, den Afghanistan-Einsatz zu erklären und uns der Kritik und den
Fragen zu stellen. Durch den Fortschrittsbericht wird uns
geholfen, dies richtig zu machen. Ich glaube, es ist ganz
entscheidend, dass wir mit dem Fortschrittsbericht zu
der Bevölkerung gehen und ihr klarmachen, wo die
Knackpunkte sind.
Es klang vorhin so ganz leicht an: Am kommenden
Wochenende werden von unserem Bundesverteidigungsminister parteiübergreifend Abgeordnete nach Afghanistan eingeladen, und zwar all diejenigen, aus deren Wahlkreisen Soldaten in Afghanistan sind. Kompliment und
Dank an den Bundesverteidigungsminister!
({0})
Vielleicht ist auch - erlauben Sie mir diese nette Spitze Herr Gabriel dabei.
({1})
Ich möchte kurz über die außenpolitischen Implikationen und anschließend über die Übergabe in Verantwortung sprechen. Über die internationale Kontaktgruppe sind 43 Staaten an der Beantwortung der Frage
beteiligt, wie wir die Verantwortung in Afghanistan
übergeben. Unter diesen Staaten sind auch 13 muslimische Staaten. Es ist ein Zeichen für die Qualität deutscher Außenpolitik, dass wir dabei eine ganz wesentliche Rolle spielen. Botschafter Steiner leitet die
internationale Kontaktgruppe. Von dieser Stelle aus
Kompliment und Dank an Herrn Botschafter Steiner für
die wesentliche Leistung, die er hier erzielt hat.
({2})
Hierbei geht es auch darum, dass islamische Staaten eingebunden sind. In dem Bericht kommt die regionale Einbindung - das liegt in der Natur der Sache - noch etwas
zu kurz. Das wird sich mit der Fortschreibung des Berichts ändern.
Wir brauchen glasklar eine Perspektive für den Umgang mit den Taliban in Pakistan. Wir müssen auch der
pakistanischen Regierung deutlich machen, was wir von
ihr erwarten. Das Abschmelzen, die Rückführung unseres militärischen Engagements kann nicht damit einhergehen, dass die Taliban ihre Einsätze verstärken. Wir
können einen Abzugstermin also nicht einfach festlegen.
Das sage ich an Ihre Adresse, Herr Dr. Erler.
Entscheidend ist - ich glaube, darin sind wir uns alle
sehr einig -, dass wir in diesem Parlament im Sommer
und im Herbst dieses Jahres eine ganze Menge geleistet
haben. Meines Erachtens ist auch der Brückenschlag mit
Blick auf die Evaluierung gelungen. Wir hatten eine Anhörung. Wir haben dem Vorschlag nicht zugestimmt,
dass wir die Evaluierung wissenschaftlichen Experten
überlassen.
({3})
Wir wollen als Abgeordnete die Verantwortung übernehmen und sie nicht der Wissenschaft übertragen. Für uns
ist es entscheidend, dass wir als Abgeordnete in der Verantwortung bleiben, statt uns darauf zu berufen, die Wissenschaft habe dieses und jenes gesagt. Dennoch ist die
Wissenschaft beteiligt. Darin sind wir uns wieder einig.
({4})
Auch die heutige Aussprache zeigt: Die Tendenz weist
in die richtige Richtung.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der die
Übergabe in Verantwortung und unser Engagement dort
betrifft. Sie fordern die Rückführung von Fähigkeiten;
wir sprechen es auch im Bericht an. Aber seien wir ehrlich: Wir haben doch schon längst damit begonnen. Das
Kommando Spezialkräfte nimmt schon längst nicht
mehr an der Operation Enduring Freedom teil. Außerdem haben wir die Anzahl der Tornados zurückgeführt.
Wir bauen also schon Fähigkeiten ab. Das ist doch schon
ein erstes Zeichen dafür, dass wir unseren Einsatz umstellen. Wir haben die Zahl der Ausbilder von ursprünglich 200 auf 1 500 erhöht. So sieht unsere Perspektive
aus. Wir gehen in die richtige Richtung.
({5})
- Lassen Sie sich Redezeit geben; dann können Sie das
deutlicher machen.
({6})
Das Engagement unserer Soldaten ist ohne ziviles
Engagement nicht denkbar. Die Rückführung militärischen Engagements ist nur möglich, indem wir verstärkt
in den zivilen Einsatz gehen. Ich teile nicht die Ansicht,
die eben ein Kollege der SPD vortrug, dass wir die zivile
Hilfe usw. immer weiter zurückführen. Allein im Bereich der vernetzten Sicherheit hat das Entwicklungshilfeministerium die Mittel um 10 Millionen Euro aufgestockt. In weiteren Bereichen sind wir mit fast einer
halben Milliarde Euro dabei. Seit dem Jahr 2001 hat
Deutschland in den Bereich der zivilen Entwicklungshilfe 2 Milliarden Euro investiert. Das ist ein starkes Signal in Richtung Afghanistan.
Lassen Sie uns von hier aus ein verlässliches Zeichen
der Hilfe geben. Lassen Sie uns den Afghanen sagen:
Wir lassen euch nicht im Stich; wir bleiben dort, solange
ihr uns braucht und solange wir in der internationalen
Unterstützung zu eurem Erfolg beitragen können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/4225. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür gestimmt
hat die Fraktion Die Linke. Dagegen gestimmt haben die
Kolleginnen und Kollegen aller anderen Fraktionen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gute Arbeit in Europa stärken - Den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai
2011 einführen
- Drucksache 17/4038 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eineinhalb
Stunden zu debattieren. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke
das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn wir die Presseberichte richtig verfolgen,
dann müssen wir uns langsam über die Lohnentwicklung
in Deutschland Sorgen machen. In der Süddeutschen Zeitung war am 9. Dezember zu lesen - ich zitiere -:
In Deutschland steigen die Löhne seit Jahren wesentlich langsamer als im Rest Europas.
Weiter heißt es, dass wir bei der Lohnentwicklung inzwischen Schlusslicht in Europa sind.
Meine Damen und Herren - das richte ich vor allem
an diese Regierung -, Sie hängen mit Ihrer Lohnpolitik
und Ihrer Arbeitsmarktpolitik den Arbeitnehmern in
Deutschland die rote Laterne um. Wenn wir die Lohnentwicklung in Deutschland mit der Lohnentwicklung in
anderen Ländern vergleichen, dann müssen wir langsam
darüber nachdenken, wie wir weiter mit diesen Fakten
umgehen.
Bei Spiegel Online war gestern zu lesen, wie sich die
Reallöhne in Europa entwickeln: In Norwegen sind sie
in den Jahren 2000 bis 2009 um 25,1 Prozent gestiegen.
Finnland: plus 22 Prozent. Schweiz: plus 9,3 Prozent.
Frankreich: plus 8,6 Prozent. Niederlande: plus 4,8 Prozent. Selbst in Österreich waren es plus 2,7 Prozent. In
Deutschland aber sind es minus 4,5 Prozent. Vor kurzem
hat die Kanzlerin hier gesagt: Wir haben über unsere
Verhältnisse gelebt. - Angesichts der Lohnentwicklung
in der Bundesrepublik Deutschland ist festzustellen: Für
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gilt das offensichtlich nicht. Sie müssen permanent unter ihren Verhältnissen leben.
({0})
Während Sie alle jetzt den Aufschwung bejubeln, für
den angeblich die Kanzlerin verantwortlich ist, stellen
wir fest, dass im dritten Quartal 2010 die Arbeitskosten
im Verhältnis zum Vorquartal um 0,5 Prozent abgenommen haben. Die Löhne in der Bundesrepublik Deutschland befinden sich weiter auf einer Rutschbahn nach unten.
({1})
Diese Politik und diese Fakten haben Sie zu verantworten. Sie haben eine Politik der Lohndrückerei betrieben
und gleichzeitig über die wirtschaftliche Situation in der
Bundesrepublik gejubelt.
Ich habe eben den Zwischenruf gehört. Sie sind zurzeit an der Regierung. Wenn selbst im Deutschen Bundestag Dumpinglöhne üblich sind, wie in der Presse zu
lesen war, und das Sicherheitspersonal, das in diesem
Hause für unsere Sicherheit zuständig ist, offensichtlich
mit einem Stundenlohn von 6,25 Euro abgespeist wird,
dann sollten Sie besser die Verhältnisse ändern, statt dazwischenzurufen.
Wie hat das funktioniert? Wie ist es Ihnen gelungen,
die Löhne zu drücken? Zum einen haben die Hartz-Gesetze dazu geführt, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit in
unserem Land so groß ist, dass die Menschen bereit sind,
niedrige Löhne zu akzeptieren, ohne sich zu wehren. Sie
haben es zum anderen durch die Deregulierung der Leiharbeit erreicht, die dazu führt, dass bei gleicher Arbeit
deutlich unterschiedliche Löhne gezahlt werden. Sie haben es auch durch Deregulierung bei den befristeten Beschäftigungsverhältnissen erreicht. Inzwischen haben
40 Prozent der unter 25-Jährigen nur noch befristete
Jobs, für die in der Regel andere Löhne gezahlt werden
als für unbefristete Jobs. Auch diese Beschäftigten sind
vorsichtig, was höhere Löhne angeht, um ihren Job nicht
zu gefährden.
Wenn Sie in einer Situation der sinkenden Löhne zu
einer Politik übergehen, die einen gesetzlichen Mindestlohn und damit eine Begrenzung der Lohnentwicklung
nach unten verhindert, dann ist das das Unverantwortlichste, was eine Regierung in solch einer Situation tun
kann.
({2})
Ich möchte Ihnen einige Beispiele für Löhne in diesem Land geben, weil ich den Eindruck habe, dass Sie
nicht mehr bereit sind, die Realität zur Kenntnis zu nehmen: im Hotel- und Gaststättenbereich in MecklenburgVorpommern ein Stundenlohn von 5,39 Euro, in Nordrhein-Westfalen 6,63 Euro, bei den Floristen in SachsenAnhalt ein Stundenlohn von 4,35 Euro. Wir könnten
auch noch die Friseure heranziehen: In Berlin sind es
beim ungelernten Beschäftigten inzwischen 3,65 Euro,
beim gelernten Beschäftigten 4,65 Euro in der Stunde.
Bei den Fleischern in Thüringen sind es 5,49 Euro. Wissen Sie was, meine Damen und Herren? Für diese Löhne
würden Sie hier in diesem Hause morgens nicht einmal
das Augenlid heben. Das ist die Realität!
({3})
- Ja, da haben Sie recht; das sind teilweise vereinbarte
Löhne. Wenn Sie als Regierung feststellen, dass Gewerkschaften in vielen Bereichen offensichtlich nicht
mehr in der Lage sind, in freien Verhandlungen Löhne
durchzusetzen, die dazu führen, dass man davon leben
kann, dann sollten Sie nicht auf die Gewerkschaften
schimpfen, sondern selber die Initiative ergreifen, dass
solche Löhne unterbunden werden. Das wäre eine richtige Antwort, nicht aber dieses Lamentieren.
({4})
Bei solchen Löhnen verliert Arbeit ihren Sinn. Von
Arbeit muss man leben können, und zwar von seiner eigenen Arbeit.
({5})
Von seiner Arbeit leben zu können, ist auch eine Frage
der Würde. Wenn Sie den Menschen durch solch niedrige Löhne zumuten, ihre Existenz trotz Vollzeitarbeit
dadurch sichern zu müssen, dass sie zu einem Amt gehen, dann ist das entwürdigend. Sie nehmen ihnen die
Würde.
({6})
Um die Existenz der Menschen zu sichern, stocken
Sie die Löhne auf. Fakt ist, dass allein im Jahr 2009 für
Aufstocker 11 Milliarden Euro aus dem Staatshaushalt
ausgegeben wurden.
({7})
Seit 2005 wurden 50 Milliarden Euro ausgegeben, um
diese Niedrigstlöhne zu subventionieren und die Menschen, die trotz Arbeit so wenig verdienen, am Verhungern zu hindern. Das könnten wir uns sparen, wenn wir
durch einen Mindestlohn dazu beitrügen, dass Arbeit so
bezahlt wird, dass man von ihr leben kann und nicht zum
Sozialamt rennen muss.
({8})
Sie akzeptieren, dass in diesem Lande Löhne zulasten
Dritter abgeschlossen worden. Es geht zulasten Dritter,
wenn wir zulassen, dass zwischen Arbeitnehmern und
Arbeitgebern - wobei der Arbeitnehmer immer in der
schlechteren Situation ist - ein Lohn vereinbart wird,
von dem man nicht leben kann, was aber gleichzeitig bedeutet, dass der Lohn automatisch vom Steuerzahler aufKlaus Ernst
gestockt werden muss. Dies ist sittenwidrig; Löhne zulasten Dritter sind aus unserer Sicht sittenwidrig. Ändern
Sie dies! Das wäre besser, als solche Zwischenrufe zu
machen.
({9})
Ein Mindestlohn muss gewährleisten, dass eine alleinstehende Person durch eine Vollzeitbeschäftigung
ein Einkommen erzielt, das über dem Existenzminimum
liegt. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Ein
Mindestlohn muss auch die Voraussetzung dafür bieten,
dass jemand, der diesen Lohn sein ganzes Leben lang erhalten hat, zumindest eine Rente bekommt, von der er
selber leben kann, ohne dass er auch die Rente aufstocken muss. Das muss ein Mindestlohn erreichen.
({10})
Wenn insbesondere die FDP in diesem Land mit dem
Spruch „Leistung muss sich lohnen“ durch die Gegend
saust, dann mag dies ja richtig sein.
({11})
Aber wenn es richtig ist, dass sich Leistung lohnen
muss, warum eigentlich nur für Ihre Klientel? Sie von
der FDP haben nichts dagegen, dass es eine Architektenverordnung gibt, in der letztendlich die Gebühren der
Architekten vereinbart wurden. Sie haben nichts dagegen gehabt, dass es bis vor kurzem die BRAGO, die
Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung, gab, in der festgelegt wurde, was ein Rechtsanwalt bekommt, wenn er
eine bestimmte Leistung erbringt. Was für Ihre Klientel
gilt, meine Damen und Herren von der FDP, müsste auch
für die gelten, die weniger verdienen. Dann wären Sie in
diesem Hause ein wenig glaubwürdiger.
({12})
Dann wollen wir einmal über den Lohnabstand reden. Auch ich bin dafür, dass jemand, der sein Geld mit
seiner Arbeit verdient, mehr hat als derjenige, der möglicherweise alimentiert werden muss. Einverstanden! Das,
was Sie machen, ist allerdings etwas ganz anderes. Sie
drücken - verfassungswidrig - das Existenzminimum so
weit nach unten, dass auch die Löhne nach unten gedrückt werden können. Das ist Ihre Methode, den Lohnabstand herzustellen.
Wir sagen: Das muss anders gehen. Wir brauchen einen vernünftig abgesicherten Sockel für die Menschen,
die aus irgendwelchen Gründen nicht arbeiten können.
Wir brauchen ein vernünftig festgelegtes Existenzminimum, das gemäß der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts den betroffenen Menschen die soziokulturelle Teilhabe ermöglicht. Aber Sie versuchen
permanent, den Sockel nach unten zu drücken, um so die
Löhne weiter sinken zu lassen. Das ist Ihre Methode.
Dagegen wehren wir uns.
({13})
Ich möchte darauf hinweisen, dass Sie sich bei der
Mindestlohnpolitik inzwischen vollkommen außerhalb
Europas stellen. So liegt der Mindestlohn beispielsweise
in Luxemburg bei 9,73 Euro, in Frankreich bei
8,86 Euro - er soll auf 9 Euro erhöht werden - und in
den Niederlanden bei 8,64 Euro. In allen europäischen
Ländern haben selbst die Liberalen - im Gegensatz zur
FDP in Deutschland - begriffen, dass es in einem Land
nicht nur den Großkopferten, sondern auch den normalen Bürgern einigermaßen gut gehen soll. Weil Sie das
nicht begriffen haben, liegen Ihre Umfragewerte zurzeit
bei 5 Prozent, und das zu Recht.
({14})
Da in Kürze die Freizügigkeit in der Europäischen
Union vollständig hergestellt ist und dann nach Angaben
der Regierung eine Vielzahl von Bürgern berechtigterweise versuchen wird, ihren Lohn in der Bundesrepublik
Deutschland zu verdienen, fordern wir Sie auf, einen flächendeckenden Mindestlohn einzuführen; sonst wirken
diese Bürger als Lohndrücker, und wir öffnen der Ausbeutung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Tür und Tor. Damit muss
Schluss sein. Führen Sie deshalb einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ein! Folgen Sie unserem
Antrag!
Danke fürs Zuhören.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul
für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir sind es in den Sitzungswochen gewohnt,
dass die linke Seite des Hauses mit uns entweder über
die Rente mit 67 oder über den Mindestlohn diskutieren
möchte. Andere Themen fallen Ihnen offensichtlich nicht
ein. Ich rege an, sich in Zukunft etwas mehr zu bemühen. Eine Opposition muss auch Qualitätsarbeit leisten.
Lassen Sie sich neue Themen einfallen. Diskutieren Sie
mit uns über andere sozialpolitische Themen als jede
Woche über denselben Aufguss alter Themen.
({0})
Herr Ernst, wenn Ihre Fraktion einen Antrag mit dem
Titel „Gute Arbeit in Europa stärken - Den gesetzlichen
Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai 2011 einführen“
in den Deutschen Bundestag einbringt, dann sollten Sie
nicht eine Rede halten, in der Sie auf die europäische
Diskussion überhaupt nicht eingehen. Sie haben Ihre
letzte Rede sozusagen auf Wiedervorlage gelegt. Sie hätten schon auf die europäischen Gesichtspunkte eingehen
sollen. Das haben Sie verabsäumt.
({1})
Stattdessen haben Sie von Dumpinglöhnen im Deutschen Bundestag gesprochen. Dazu fällt mir Ihre Gehaltsstruktur ein, Herr Ernst. Sie können als Vorsitzender
der Linksfraktion nicht gerade über Dumpinglöhne klagen.
({2})
Verlangen Sie bitte nicht von uns, lieber Herr Ernst, Ihre
persönliche Gehaltspolitik in der Linkspartei zum Allgemeingut im Deutschen Bundestag zu machen.
({3})
Bei Ihnen hat die Formel „Leistung muss sich lohnen“
eine ganz besondere Note.
({4})
Das müssen Sie Ihren Wählerinnen und Wählern schon
selber erklären. Wir jedenfalls machen so etwas nicht
mit.
({5})
Wenn Sie die Lohnentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland nun komplett der Regierung oder den
Regierungsfraktionen anlasten, dann muss ich Ihnen,
obwohl Sie Gewerkschafter sind, offensichtlich noch ein
bisschen Nachhilfe geben und Ihnen erklären, wie
Lohnfindung in Deutschland stattfindet. Die Lohnfindung unterliegt dem Wechselspiel zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden; ihr zugrunde liegt
die grundgesetzlich garantierte Tarifautonomie. Bei der
Lohnfindung wird über die Lohnhöhe und die Lohnentwicklung entschieden. Die Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland war und ist ein Erfolgsmodell,
und wir werden auf keinen Fall dazu beitragen, dass
dieses Erfolgsmodell, das eine hohe Beschäftigung garantiert hat, aufs Spiel gesetzt wird, sondern wir unterstützen die Tarifautonomie. Wir unterstützen die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände. Sie sind für
die Lohnentwicklung in Deutschland verantwortlich und
haben eine gute Arbeit geleistet.
({6})
Bevor Sie hier schwarzmalen, schauen Sie sich einmal an, was selbst das Neue Deutschland mittlerweile
berichtet, Herr Ernst. Sie können hier doch nicht im
Ernst so tun, als nähme Deutschland bei der Arbeitslosigkeit einen Spitzenplatz ein. Ganz im Gegenteil, die
Arbeitslosigkeit ist unter die 3-Millionen-Marke gesunken.
({7})
Wir haben in Deutschland einen neuen Höchststand an
Beschäftigung. An dieser Stelle hätten Sie einmal die
Ursache dafür herausstreichen können. Seitdem Angela
Merkel Bundeskanzlerin ist, haben wir eine derart positive Entwicklung am Arbeitsmarkt. Dass wir das erreicht
haben, ist in der Tat das Verdienst der Merkel-Regierungen seit 2005.
({8})
Das erkennen mittlerweile auch andere an. Lesen Sie
doch einmal die internationale Presse: Germany’s next
superstar - economy; Deutschland, ein neues Powerhouse. Die deutschen Medien reden vom „Europameister in Jobfragen“. Deutschland ist bei Wachstum und
Beschäftigung Lokomotive in ganz Europa. Wenn Sie
einmal den Blick über die nationalen Grenzen hinaus in
Nachbarländer werfen würden - das kann ich Ihnen nur
anraten; von Linken, die einst eine Internationale gegründet haben und eine internationale Geschichte haben,
sollte man eigentlich ein bisschen mehr Internationalismus erwarten können -, dann würden Sie feststellen: Die
erfolgreichste Beschäftigungspolitik mit einem sozialen
Ausgleich wird in Deutschland gemacht. Darauf sind wir
stolz. Man muss noch ein wenig nachbessern. Aber man
darf auf keinen Fall das Kind mit dem Bade ausschütten.
Dazu gibt es überhaupt keinen Anlass.
Schauen Sie sich den Anstieg der Arbeitslosigkeit in
den europäischen Nachbarländern in der Krise einmal
an.
({9})
In Spanien ist sie um 60 Prozent gestiegen, in Frankreich
um 23 Prozent, in England um 35 Prozent, in Deutschland um nur 3 Prozent. Wir sind die Ersten, bei denen die
Beschäftigung wieder anzieht, die Ersten also, die mehr
Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit haben.
({10})
Es ist immer auch die Frage, vor welchen Zahlen man
die Augen verschließt. Ich verstehe durchaus, dass Sie
gerade in diesen Tagen Luxemburg hier erwähnen. Man
greift sich ja immer die Zahlen heraus, Herr Ernst, die einem gerade passen. Aber warum reden Sie, wenn Sie uns
schon auf Mindestlöhne in vielen europäischen Staaten
hinweisen wollen, nicht von den 89 Cent Mindestlohn in
Bulgarien? Soll das allen Ernstes der Maßstab für uns
sein? Warum reden Sie nicht von den Zahlen in Polen
oder im Vereinigten Königreich? Gäbe es bei uns einen
gesetzlichen Mindestlohn wie in anderen europäischen
Staaten, würden die Verdienste in Deutschland in der Tat
noch sinken. Das kann doch niemand im Ernst wollen.
Wir lehnen Ihr Vorhaben also ab.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Ja, selbstverständlich.
Bitte sehr.
Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben von Mindestlöhnen in Europa gesprochen und Niveaus verglichen.
Hubertus Heil ({0})
Ist Ihnen bekannt - falls ja, stützt das Ihre Argumentation? -, wie hoch der Mindestlohn in Luxemburg ist?
Ja.
Wie hoch denn?
Das hat der Kollege Ernst vorhin selber erwähnt.
9,49 Euro, nach meinen Informationen.
({0})
Dabei muss man freundlicherweise beachten, Herr
Kollege Heil: Die Bedeutung der Volkswirtschaft und
der Beschäftigtenzahl in Luxemburg ist in Relation zu
den von mir erwähnten Ländern, die einen geringeren
Tariflohn und einen geringeren gesetzlichen Mindestlohn haben, kleiner.
({1})
Dazu will ich Ihnen noch eines sagen: Lohn und Gehalt müssen im Zusammenhang mit der Produktivität
stehen. Das haben Gewerkschaften in Deutschland anerkannt. Deswegen haben sie sich in der Krise mit Lohnforderungen zurückgehalten. Das ist auch der Grund dafür, dass der Mindestlohn in anderen Ländern niedriger
ist. Es hat also überhaupt keinen Sinn, einen Mindestlohn einzuführen, der der Produktivität in den einzelnen
Ländern nicht entspricht.
({2})
Das muss ausbalanciert sein. Man muss branchenspezifisch vorgehen. In der Branche, in der eine höhere Produktivität gegeben ist, in der von allen, die dort tätig
sind, ein höheres Ergebnis erwirtschaftet wird, kann man
höhere Gehälter zahlen. Dafür sind auch wir. Das sollen
die Tarifvertragsparteien miteinander entscheiden.
({3})
In allem Ernst, Herr Ernst, schreiben Sie in Ihrem Antrag unter der Nr. 11 - darauf sind Sie bedauerlicherweise nicht eingegangen; es wäre aber lobenswert gewesen, wenn Sie es getan hätten; ich darf den ersten Satz
zitieren -:
Zur Weiterentwicklung der europäischen Integration bedarf es auch einer europäischen Mindestlohnpolitik.
Wenn Sie das im Ernst wollen, dann müssen Sie - das
wäre die Folgerung - in allen europäischen Staaten einen
Mindestlohn einführen.
({4})
Dafür werden Sie in Europa aber keine Mehrheiten finden, weil in vielen Staaten gesehen wird, dass man die
Produktivität, die Deutschland hat, nicht erreicht. Das ist
die Kehrseite der Forderung, die Sie hier aufstellen. Das
ist im Grunde eine ganz uneuropäische Kehrseite Ihres
Antrags.
Viele Staaten, auch europäische Nachbarstaaten, haben nur deshalb eine Chance, ihre Produkte auf dem
deutschen Markt abzusetzen, weil die Arbeitskosten
und damit die Gestehungskosten bei ihnen geringer sind
als bei uns. Sie haben die Chance also nicht etwa deshalb, weil die Qualität oder Produktivität höher wäre. In
dem Moment, wo Sie überall einen entsprechenden Mindestlohn einführen, verunmöglichen Sie es Ländern wie
Polen, Bulgarien oder Rumänien, ihre Produkte in
Deutschland abzusetzen. Ihr Ansatz ist folglich gar kein
europäischer Ansatz, sondern bedeutet im Grunde eine
Renationalisierung. Das ist ein zutiefst nationaler Ansatz, ein Ansatz der Abschottung des deutschen Marktes
gegenüber unseren europäischen Nachbarstaaten.
({5})
Wir lehnen Ihren Antrag auch aus ganz grundsätzlichen
Gründen ab. Was Sie vorhaben, ist nicht europäisch gedacht. Deswegen unterstützen wir das auch nicht.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege Wadephul, recht herzlichen Dank, dass
Sie die Zwischenfrage zulassen. - Sie haben gerade unterstellt, unsere Politik sei uneuropäisch.
Erstens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass seit der Einführung des Euro sich die Konkurrenzverhältnisse in Europa vor allem deshalb unterschiedlich
entwickelt haben, weil wir uns - im Gegensatz zu allen
anderen - durch Lohndumpingpolitik Vorteile im Wettbewerb verschafft haben,
({0})
die dazu geführt haben, dass wir zwar Exportweltmeister, aber nicht Importweltmeister geworden sind, dass es
also geradezu die Lohnpolitik der Bundesrepublik
Deutschland ist, die insofern uneuropäisch ist, als sie alle
anderen Länder so weit unter Druck setzt, dass sie sich
entweder verschulden müssen oder dieselbe Lohn8934
dumpingpolitik betreiben müssen, wie wir in der Bundesrepublik Deutschland sie betrieben haben?
Zweitens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass man sich in anderen europäischen Ländern einschließlich Frankreichs, aber auch in Ländern außerhalb
Europas und selbst in Amerika unter Obama über diese
Politik inzwischen in einer Weise äußert, die uns eigentlich dazu veranlassen müsste, sie zu beenden?
({1})
Herr Ernst, ich teile Ihre Auffassung in beiden Punkten ausdrücklich nicht.
Richtig ist, dass Deutschland nach wie vor Exportweltmeister ist, was viele Arbeitsplätze in Deutschland
sichert. Darauf sind wir stolz. Es gibt gar keinen Anlass,
das in irgendeiner Weise infrage zu stellen. Ursache dafür ist unsere hohe Arbeitsproduktivität. Sie ist darin
begründet, dass wir in Deutschland nach wie vor den
technischen Fortschritt vorantreiben und ihn auch in den
Arbeitsprozess integrieren.
Unser Vorteil auf anderen Märkten ist nicht, dass unsere Arbeitskosten am niedrigsten sind. Unser Vorteil ist,
dass wir nach wie vor gute Forscher und gute Techniker
und eine Industrie haben, die ihre Ergebnisse schnell in
ihre Arbeitsprozesse implementiert. Diesen Weg sollte
Deutschland fortsetzen. Eine Dumpingpolitik im Lohnbereich gibt es hier nicht,
({0})
und wir sollten ihr auch keinen Vorschub leisten.
Wir sind deshalb gut, weil in unseren Betrieben tüchtige Leute arbeiten, die gute bzw. bessere Arbeitsergebnisse erzielen, als es in anderen Ländern der Fall ist. Insofern sollten wir Benchmark für andere sein, meine
sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Um konkret etwas zu der Situation der Branchen zu
sagen, auf die der Antrag eigentlich abzielt - der Kollege
Ernst ist darauf nur wenig eingegangen -: Es geht dabei
um die Frage der Zeitarbeit und die Frage, was am
1. Mai 2011 passiert. Die Unionsfraktion hat dazu ein
Hearing veranstaltet und mit Experten darüber diskutiert.
({2})
Im Interesse der europäischen Verständigung, insbesondere auch der nachbarschaftlichen Beziehungen zur
Republik Polen, die für Deutschland von großer Bedeutung sind, würde ich empfehlen, dass wir mit einer gewissen Vorsicht argumentieren und uns die Situation
ganz genau anschauen. Niemand aus dem Sachverständigenbereich der Wirtschaft und der Gewerkschaften
- weder in Deutschland noch in Polen - erwartet eine
riesige Zuwanderungswelle. Das erwartet niemand. Deshalb gibt es auch überhaupt keinen Anlass, auf dem
deutschen Arbeitsmarkt oder in der innerdeutschen Diskussion Panik zu erzeugen. Natürlich besteht die Gefahr,
dass insbesondere in der Zeitarbeitsbranche Mittel und
Wege genutzt werden, um die Arbeitskosten in Deutschland weiter zu senken. Deswegen sage ich für meine
Fraktion ganz klar, dass wir uns für diesen Bereich baldmöglichst eine Mindestlohnregelung wünschen. Wir befinden uns in guten Diskussionen mit unserem Koalitionspartner, um dies zu erreichen.
({3})
Dabei müssen wir in Rechnung stellen, dass die Zeitarbeit an der Stelle nicht verunmöglicht werden darf. Sie
hat eine wichtige Brückenfunktion. Sie ermöglicht es, in
Übergangssituationen zu überbrücken. Aktuell erleben
wir, dass in diesem Bereich viele Menschen Anstellungen finden. Diese Möglichkeit darf man nicht zerstören.
Aber auf der anderen Seite sage ich auch: Natürlich darf
die Zeitarbeit nicht dazu missbraucht werden, dauerhaft
Löhne und Gehälter in den Branchen zu senken. Deswegen halten wir eine gesetzliche Regelung in dieser Branche für angemessen und notwendig. Wir setzen uns gemeinsam mit Bundesarbeitsministerin Ursula von der
Leyen für eine derartige Lösung ein.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt
bleibt es dabei: Lohnfindung muss die Aufgabe von Tarifvertragsparteien sein. Hier sind die Gewerkschaften
gefordert. Ich finde es eigentlich schade, dass ein ehemaliger Gewerkschafter wie Sie, Herr Ernst, hier im
Grunde den Eindruck erweckt, als seien die deutschen
Gewerkschaften nicht in der Lage, auf die Situation zu
reagieren. Gerade in der Zeit des Aufschwungs, in der
Zeit der verstärkten Nachfrage nach Arbeitskräften, in
der Zeit einer demografischen Entwicklung, in der Jüngere auf dem Arbeitsmarkt fehlen, merken viele Gewerkschaften, dass ihre Bedeutung und ihre Durchsetzungsmacht auf dem Arbeitsmarkt wieder größer
werden. In der Unionsfraktion finden die Gewerkschaften einen verlässlichen Partner. Bedauerlicherweise haben Sie sich an dieser Stelle verabschiedet.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es ist eigentlich schade, dass man darauf RedeHubertus Heil ({0})
zeit verwenden muss, aber diese oberflächliche Form
von ökonomischer Debatte meiner beiden Vorredner
miteinander verdient schon eine gewisse Kommentierung.
Herr Wadephuhl, Sie tun gerade so, als hätten wir im
Binnenmarkt mit Dienstleistungen und Löhnen kein
Problem. Auf der anderen Seite wird so getan, als sei die
Lohnentwicklung bei den Chemiefacharbeitern, bei denen es, Kollege Ernst, wirklich nicht um Mindestlöhne
geht, problematisch.
({1})
Das ist nicht wahr. Ich sage Ihnen deshalb aus ökonomischer Sicht: Es geht nicht darum - jedenfalls nicht für
uns Sozialdemokraten -, Export und Wettbewerbsfähigkeit der Binnennachfrage gegenüberzustellen. Denn jeder weiß: Wir brauchen beides, und wir sind in der Tat
aufgrund der besten Produkte, Verfahren und Dienstleistungen wettbewerbsfähig, nicht aufgrund der niedrigsten
Löhne. Auf der anderen Seite haben wir - das betrifft
vor allem Dienstleistungen im Binnenmarkt; da brauchen wir Mindestlöhne - in diesem Problemfeld zu niedrige Löhne.
({2})
Diese Differenzierung muss sein. An dieser Stelle bringt
die Holzhammerpolitik von Rechts und ganz Links den
Arbeitnehmern, die es betrifft, nichts.
Deshalb will ich zur Sache reden, Kollege Ernst: Es
geht um die Arbeitnehmerfreizügigkeit zum 1. Mai.
({3})
Wir haben den Antrag ja, wie Sie wissen, Frau Kollegin,
die Sie dazwischengerufen haben, etwas früher als Sie
gestellt, nämlich im Mai dieses Jahres. Ich finde es in
Ordnung, dass wir einer Meinung sind,
({4})
dass wir mit Blick auf den 1. Mai 2011 noch mehr Druck
ausüben müssen, damit Lohnuntergrenzen in diesem
Land eingeführt werden.
Wir haben vor zwei, drei Jahren auf europäischer
Ebene eine heftige und intensive Debatte über die
Dienstleistungsrichtlinie geführt. Damals gab es einige
in Europa - das waren eher die politischen Freunde der
FDP -, die das sogenannte Herkunftslandprinzip
durchsetzen wollten. Sie wollten die Freizügigkeit in
Europa, also die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit, so ausgestalten, dass Menschen aus anderen Staaten, wenn sie hier in Deutschland Dienstleistungen anbieten bzw. ihre Arbeit ausüben, quasi im
Rucksack das Verbraucherrecht und das Sozialrecht der
Slowakei, von Polen oder anderen Ländern mitnehmen
können. Dieses sogenannte Herkunftslandprinzip haben
wir dank massiven Widerstands auch von sozialdemokratischer Seite weitestgehend im Europäischen Parlament verhindern können.
Tatsache ist, es gibt Dienstleistungsfreiheit in Europa.
Wer aber hier Dienstleistungen erbringt, muss sich an die
deutschen Gesetze halten, egal ob deutscher oder ausländischer Herkunft. Wir haben also auf europäischer
Ebene durchaus wirksame Maßnahmen gegen Dumping
von Sozialstandards und gegen Dumping von Umweltund Verbraucherstandards geschaffen. Aber - das wurde
uns bei der europäischen Debatte damals auch ins
Stammbuch geschrieben - zur Verhinderung von Lohndumping braucht es nationale Lohnuntergrenzen, sprich
Mindestlöhne, auch in Deutschland. Das ist das, was Sie
nicht begriffen haben.
({5})
Was das Herkunftslandprinzip bedeutet hätte, möchte
ich an einem Beispiel deutlich machen: Jemand fährt mit
dem Auto von Deutschland nach England - das geht
heutzutage; denn da gibt es einen Tunnel - und sagt sich,
sobald er in England aus dem Tunnel herauskommt: Guten Tag, ich halte mich jetzt nicht an die Straßenverkehrsordnung von Großbritannien, sondern an meine eigene, die ich aus Berlin mitgebracht habe. - Das ist
keine gute Idee, wenn man an die Sonderregelungen in
der Straßenverkehrsordnung Großbritanniens denkt. Das
heißt für unsere Frage: Wer für fairen Wettbewerb zwischen den Unternehmen und für freien Markt in einem
geeinten Europa ist, der muss dafür sorgen, dass überall
die gleichen Wettbewerbsbedingungen gelten und kein
Dumping zulasten von Verbrauchern, in diesem Fall von
Arbeitnehmern, stattfinden kann.
({6})
Nun möchte ich Ihnen etwas zum Thema Produktivität sagen: Sind Sie ernsthaft der Meinung, dass ein
Lohnniveau von 3 oder 4 oder 5 Euro die Produktivität
in den Bereichen, über die wir reden, abbildet? Das frage
ich Sie, weil Sie ja behauptet haben, ein Mindestlohn
würde dem Gebot, dass Arbeitslöhne der Produktivität
entsprechen müssen, widersprechen. Andersherum wird
ein Schuh daraus: Die Tarifautonomie in Deutschland
hat sich bewährt.
({7})
Die alte Lohnformel „Produktivitätsfortschritt plus Inflationsausgleich“ hat lange gegolten. Tatsache ist aber
auch, in vielen Branchen funktioniert die Tarifautonomie
nicht mehr so richtig, weder auf Arbeitgeber- noch auf
Arbeitnehmerseite. Das ist der Grund, warum wir heute
Lohnuntergrenzen brauchen, die wir früher in Deutschland nicht brauchten. Das ist auch der Grund - die CDU
bewegt sich da ja mittlerweile mehr als die FDP -, warum wir Mindestlöhne Stück für Stück in Branchen umsetzen. Ich sage hier noch einmal: Wir Sozialdemokraten
sind für den Vorrang tarifvertraglicher Lösungen, wo immer es geht. Sie brauchen aber auch eine Antwort für die
Branchen, in denen das nicht geht.
({8})
- Nein, das widerspricht sich überhaupt nicht.
({9})
Hubertus Heil ({10})
Da, wo sich Gewerkschaften und Arbeitgeber auf Lohnuntergrenzen verständigen, können wir diese über das
Arbeitnehmer-Entsendegesetz allgemeinverbindlich erklären. Aber, Herr Straubinger, was machen Sie denn in
Branchen, in denen die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert? - Weil es das immer häufiger gibt, sagen wir,
dass wir einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland
als verbindliche Lohnuntergrenze benötigen.
({11})
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich will
Ihnen ins Stammbuch schreiben: Es macht ordnungspolitisch Sinn, Mindestlöhne einzuführen, weil es nicht
die Aufgabe der sozialen Marktwirtschaft ist, mit immer
mehr Steuergeld Stück für Stück ein System staatlicher
Lohnbewirtschaftung aufzubauen. Es ist nicht der Sinn
sozialer Marktwirtschaft, dass die Steuerzahler immer
stärker - in diesem Jahr sind es 11 Milliarden Euro - Armutslöhne subventionieren müssen. Das ist nicht der
Sinn sozialer Marktwirtschaft.
Es macht auch finanzpolitisch Sinn - Stichwort: Aufstockerei -, dass wir dafür sorgen, dass nicht immer
mehr Menschen, die hart arbeiten, sich ergänzendes Arbeitslosengeld II abholen müssen, um überhaupt über die
Runden zu kommen.
Jetzt wird Herr Kolb gleich sagen: Aber Herr Heil, die
11 Milliarden Euro werden ja nicht ausschließlich für
Vollzeitbeschäftigte ausgegeben. - Ich kenne diese
Phrase. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Erstens. Auch
Vollzeitbeschäftigte werden auf diese Weise subventioniert. Das werden Sie nicht leugnen.
({12})
Zweitens. Selbst wenn nicht alle, die auf diese Weise
subventioniert werden, Vollzeitbeschäftigte sind, stellt
sich doch nach wie vor die Frage, warum Sie Teilzeitbeschäftigten zumuten wollen, Löhne in Höhe von 3 oder
4 Euro zu akzeptieren
({13})
und ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amt abholen
zu müssen. Das macht keinen Sinn.
({14})
Ein Mindestlohn macht sowohl ordnungspolitisch
und finanzpolitisch als auch wirtschaftspolitisch durchaus Sinn. Sosehr ich dagegen bin, unsere Exporterfolge
kleinzureden und zu glauben, wir müssten schlechtere
Produkte herstellen, damit andere Länder in Europa bessere Chancen haben, so sehr bin ich der Meinung, dass
wir eine stärkere Binnennachfrage in Deutschland brauchen. Da spielt - nicht nur, aber auch - die Frage von
verbindlichen Lohnuntergrenzen eine Rolle; denn eine
solche Untergrenze würde das gesamte Tarifgefüge stabilisieren und dazu führen, dass Menschen mehr Geld in
der Tasche haben. Das sind gerade Menschen mit einem
geringen Verdienst, die ihr Geld nicht in internationale
Finanzblasen stecken, sondern in den Konsum. Das ist
der Grund, warum ich sage, dass ein Mindestlohn auch
wirtschaftspolitisch Sinn macht.
Last, but not least: Auch im Hinblick auf die Einnahmebasis unserer sozialen Sicherungssysteme in Deutschland macht es Sinn, dass wir zu stabileren Lohnuntergrenzen kommen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn
Sie uns schon nicht glauben - das kann Ihnen keiner vorwerfen; es ist im politischen Geschäft so üblich, dass die
Regierung alles schlecht findet, was die Opposition gut
findet -, dann sollten Sie wenigstens das zur Kenntnis
nehmen, was der Deutsche Juristentag, der unverdächtig
ist, eine Vorfeldorganisation der Sozialdemokratie oder
der Gewerkschaften zu sein, Ihnen ins Stammbuch geschrieben hat. Wenn Sie das nicht glauben, dann schauen
Sie sich einmal in Europa um. Über 20 Länder in Europa
kennen gesetzliche Lohnuntergrenzen.
({15})
Ihre ideologische Borniertheit ist das Einzige, was im
Moment Mindestlöhnen in Deutschland entgegensteht.
Deshalb sage ich Ihnen: Wenn wir in diesem Bereich bis
zum 1. Mai finanzpolitisch, wirtschaftspolitisch und sozialpolitisch nicht vorankommen, dann werden wir nicht
nur diejenigen Menschen demotivieren, deren Leistung
sich tatsächlich lohnen soll, sondern dann werden wir
die Gesellschaft weiter spalten. Sie, meine Damen und
Herren von der schwarz-gelben Koalition, sind die Spalter in diesem Land. Sie vertiefen die Spaltung zwischen
Geringverdienern und Arbeitslosen.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Nur noch dieser Gedanke. - Wenn Herr Westerwelle,
der derzeitige Parteivorsitzende der FDP, wiederum das
Spiel betreibt, Geringverdiener gegen Arbeitslose auszuspielen, dann kann ich nur sagen: Das ist weder christlich noch liberal, sondern es ist zynisch. Das merken die
Leute. Deshalb werden Sie die Quittung bekommen.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit den Anträgen der Linken, Herr Kollege Ernst, ist es
ein bisschen wie mit einem schlecht gemachten Adventskalender: Egal welches Türchen Sie aufmachen, es
ist immer das Gleiche dahinter.
({0})
So ist es auch heute bei Ihrem Antrag. Sie haben gekreißt, und am Ende kommt die Forderung nach einem
gesetzlichen Mindestlohn heraus. Ich glaube - in diesem
Punkt unterscheiden wir uns sehr deutlich von Ihnen -,
dass Sie da das falsche Pferd satteln.
Wir reden heute über einen gesetzlichen Mindestlohn und am Freitag über einen Branchenmindestlohn
für die Zeitarbeit. Ich will mich deswegen heute auf die
Frage des gesetzlichen Mindestlohns konzentrieren. Dieses Gesetz würde bundesweit gelten. Wenn Sie ernsthaft
glauben, mit einem bundesweit geltenden gesetzlichen
Mindestlohn in Höhe von 10 Euro positive Beschäftigungseffekte erzielen zu können, dann sind Sie falsch
gewickelt. Es gibt glaubwürdige Untersuchungen, die
belegen, dass das gerade zulasten der neuen Länder gehen würde.
({1})
Es wäre vergleichbar mit einem Morgenthau-Plan für die
neuen Länder, wenn man ihnen nicht mehr gestatten
würde, ihre komparativen Vorteile auszunutzen, wenn
Sie also alle über einen Kamm scheren würden.
({2})
Herr Kollege Ernst, wir haben doch keine Probleme dort,
wo es eine gute Infrastruktur gibt, wo es Flughäfen und
Anschluss an das Schienennetz und an Autobahnen gibt.
({3})
Ich nenne das Rhein-Main-Gebiet, das Rhein-NeckarGebiet und das Gebiet um Hamburg herum. Die Probleme traten in den ländlichen Regionen auf, wo bisher
niedrigere Löhne gezahlt werden, weil höhere Löhne
einfach nicht zu erwirtschaften sind. Denn am Ende
müssen die Kosten für einen Arbeitsplatz wieder hereingeholt werden. Ich glaube, es wäre für die neuen Länder
fatal, wenn Sie sich mit Ihrem Programm durchsetzen
könnten.
Herr Kollege Kolb, ich darf Sie einmal unterbrechen.
Die Kollegin Golze möchte gerne eine Zwischenfrage
stellen.
Ja, bitte.
Bitte.
({0})
Vielen Dank, Herr Kolb, dass Sie die Zwischenfrage
erlauben. - Ich komme aus einem der östlichen Bundesländer, genauer gesagt aus dem Bundesland Brandenburg. Auch nach einem Jahr Rot-Rot können Sie es uns
nicht anlasten, dass dort eine Arbeitslosigkeit von 20 bis
25 Prozent herrscht, je nach Region. Ich komme aus einer Region mit sogar deutlich mehr als 25 Prozent Arbeitslosigkeit.
Nun möchte ich von Ihnen wissen: Was hat es denn
dem Osten genutzt, dass dort seit 20 Jahren mit so geringen Löhnen für diese Region sogar noch Werbung
gemacht wurde, wenn dort gleichzeitig eine so große
Langzeiterwerbslosigkeit herrscht? Was ist denn der
Standortvorteil von Niedrigst- und Billiglöhnen für den
Osten?
({0})
Wir mögen die gleiche Medaille anschauen, aber sehen zwei verschiedene Seiten. Ich glaube, dass wir in
den 20 Jahren seit der deutschen Einheit eine wirklich
erfolgreiche Aufbauarbeit geleistet haben. Ich glaube
auch, dass es in vielen Bereichen gelungen ist, moderne
Arbeitsplätze zu entwickeln, die sich übrigens auch, was
die Löhne, die gezahlt werden, anbelangt, mit Regionen
im Westen vergleichen lassen, vielleicht nicht mit den
Spitzenregionen, aber mit anderen durchaus.
Natürlich gibt es nach wie vor Bereiche, in denen wir
Probleme haben. Aber denen werden Sie nicht dadurch
helfen, dass Sie die Löhne, die sich heute etwa bei der
Hälfte Ihrer Mindestlohnforderung bewegen, sozusagen
über Nacht verdoppeln
({0})
und dann auf ein Wunder hoffen, dass die Unternehmen,
die bisher Schwierigkeiten hatten - schauen Sie sich
doch einmal die Bilanzen der Unternehmen in den neuen
Ländern an -, in der Lage wären, diese Löhne dann auch
tatsächlich zu zahlen. Sie werden erleben, Frau Kollegin
Golze, dass massenhaft Arbeitsplätze verloren gehen.
Es liegen Gutachten vor, die besagen, dass 1,5 bis 2 Millionen Arbeitsplätze in den neuen Ländern bedroht sind
oder mit Sicherheit verloren gehen, wenn sich Ihre
Lohnforderung durchsetzen würde.
Deswegen heißt es: Wir müssen mit dem Aufbau der
Beschäftigung voranschreiten und industrielle Strukturen entwickeln. Aber wir dürfen nicht den Fehler machen, den Leuten dort, wo es noch Probleme gibt, den
Boden unter den Füßen wegzuziehen und den Arbeitsverhältnissen die Grundlage zu nehmen, indem man über
Nacht die Lohnkosten verdoppelt.
({1})
Ich will zu einem zweiten Punkt kommen; der Kollege Heil hat ihn schon angesprochen. Ich finde es bemerkenswert, Herr Kollege Heil, dass Sie gesagt haben,
es habe nichts mit sozialer Marktwirtschaft zu tun, wenn
Löhne aufgestockt würden. Es sind 50 Milliarden Euro
Steuergelder genannt worden, die angeblich umsonst
verausgabt würden.
Ich will nur darauf hinweisen, dass dieses Konzept Ihr
Konzept gewesen ist. Sie waren Generalsekretär der
SPD, als man sich entschieden hat, genau dieses zu tun.
({2})
- Nein, es ist damals die Forderung der SPD gewesen.
Ich habe Bundeskanzler Schröder noch im Ohr, der gesagt hat - Herr Heil, hören Sie gut zu -: Wir haben
5 Millionen Arbeitslose in Deutschland, und deswegen
braucht Deutschland einen Niedriglohnsektor. - Das war
Politik der SPD, als Sie Generalsekretär dieser Partei
waren.
({3})
Heute muss man natürlich feststellen, dass Sie in machen
Dingen erfolgreich waren, in dieser Hinsicht vielleicht
sogar zu erfolgreich. Aber am Ende bleibt stehen - das
war ja auch Ihre Grundüberlegung, und das hat etwas
mit sozialer Marktwirtschaft zu tun -, dass diejenigen,
die aufstocken, zu einem guten Teil etwas erwirtschaften
und dass der Staat dann ergänzend das hinzugibt, was erforderlich ist, um den Gesamtbedarf abdecken zu können.
({4})
So läuft es.
Jetzt können wir uns die Gruppe der Aufstocker noch
einmal differenzierter anschauen. Sie wissen so gut wie
ich, dass 75 Prozent der Aufstocker weniger als 800 Euro
verdienen. Das ist in der Regel nicht Ergebnis der Tatsache, dass sie zu niedrige Stundenlöhne haben, sondern
dass sie von der Stundenzahl her zu wenig arbeiten, um
ein bedarfsdeckendes Gesamteinkommen zu erzielen.
({5})
Bei denjenigen, die über 800 Euro liegen, handelt es sich
zu einem ganz erheblichen Teil um Verheiratete mit Kindern, denen Sie auch mit einem Stundenlohn von
10 Euro - Sie liegen ja noch ein bisschen niedriger,
wenn ich es richtig verfolge -, wie ihn sich die Kollegen
von der Linken vorstellen, nicht helfen würden, weil ein
Familienvater - verheiratet, die Ehefrau arbeitet nicht
mit, zwei Kinder - einen Stundenlohn von 12 bis
13 Euro bräuchte, um am Ende transferbezugsfrei zu
werden. In diese Größenordnung kann man nicht gehen.
Deswegen empfinde ich Ihre Rechnung als Milchmädchenrechnung. Wenn das Ergebnis wäre, dass vor allen Dingen in den neuen Ländern Arbeitsplätze verloren
gingen, würden wir wahrscheinlich am Ende, gesamtfiskalisch gesehen - auch was die Auswirkung auf die Sozialversicherung anbelangt -, schlechter dastehen.
({6})
Ich finde, wir wenden hier eine sehr konsequente Sichtweise an. Ich warne davor, das rückgängig zu machen.
Ich beobachte, wie Sie sich in der SPD mit der
Agenda 2010 und der Hartz-Gesetzgebung quälen, die
Sie damals auf den Weg gebracht haben, wie Sie sie
Stück für Stück rückabwickeln wollen. Sie sollten das
aber nicht mit Hinweisen auf die soziale Marktwirtschaft
verbrämen, die nicht kompatibel sind. Sie haben Ihre
Maßnahmen damals sozialpolitisch und marktwirtschaftlich begründet.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Ich freue mich auf eine Zwischenfrage des Kollegen
Heil.
Herr Kollege Kolb, Sie haben mich persönlich angesprochen. Ich will die ganze Geschichte so nicht stehen
lassen. Ich will Ihnen eines sagen: Ich stehe unabhängig
davon, wann ich Generalsekretär war - Sie sollten das
einmal nachrechnen, aber das ist nicht der Gegenstand
der Diskussion -, zu dem, was wir damals gemacht haben - ich sage das nach wie vor -, nämlich dafür zu sorgen, dass Arbeit in Deutschland zumutbar sein muss.
Das war der Kern der Reformen; so ist es. Wenn es so
ist, dass jede Arbeit zumutbar ist, muss dafür gesorgt
werden - früher haben wir das mit der Tarifautonomie
geschafft, heute nicht mehr -, dass Menschen, die hart
arbeiten, von der Arbeit leben können.
({0})
Das ist der Punkt. Das ist kein Gegensatz; es geht hier
- anders als Sie behaupten - nicht darum, dass wir etwas
„rückabwickeln wollen“.
Die Arbeitsmarktreformen auf der einen Seite und
Mindestlöhne auf der anderen Seite gehören zusammen;
das sind zwei Seiten derselben Medaille.
({1})
Ich will Ihnen dazu ganz deutlich sagen: Es gab eine
Zeit, in der Gewerkschaften und Sozialdemokraten miteinander der festen Überzeugung waren, dass man faire
Löhne mit der Tarifautonomie in Deutschland hinbekommt. Sie müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass es
Bereiche gibt, in denen weder Arbeitgeberverbände
noch Gewerkschaften so mobilisierungsfähig sind, dass
anständige Tariflöhne möglich sind.
({2})
Herr Kolb, ich frage Sie: Glauben Sie, dass es fair und
anständig ist, dass wir Menschen im Friseurgewerbe in
Thüringen mit 3,18 Euro pro Stunde abspeisen? Glauben
Sie, dass diese Menschen arbeitslos würden, wenn ihr
Hubertus Heil ({3})
Stundenlohn ein bisschen erhöht würde? Ich kann das
nicht glauben.
({4})
Herr Kollege Heil, ich glaube nicht ernsthaft, dass
das, was Sie vorgetragen haben, Ihrer Erinnerung entspricht. Ich glaube nicht, dass die SPD, die auf festen
Füßen stand und Erfahrungen mit den Betrieben hatte,
damals einfach übersehen hat, dass es bei der Zumutbarkeit von Arbeit dazugehört, entsprechende Regelungen
zu Lohnuntergrenzen zu treffen. Nein, es war umgekehrt
- ich habe die Debatten hier im Haus verfolgt -: Sie haben es bewusst so gemacht. Die Argumentation war: Jeder Beitrag - auch ein kleiner Beitrag -, den ein Arbeitsloser selbst leistet, ist hilfreich; er reduziert die von der
Gesellschaft insgesamt zu erbringenden Transferkosten.
Sie wollten das genau so.
Sie haben die Löhne von 3,18 Euro pro Stunde angesprochen. Ich muss darauf hinweisen, dass sich die Situation damals schon genau so darstellte, wie sie heute
ist; es gab schon damals diese Löhne. Sie stellen sich
heute hierhin und sagen: Das haben wir ganz anders gemeint.
({0})
Dazu muss ich sagen: Die Rahmenbedingungen waren schon damals - 2004/2005, als Sie die Gesetze auf
den Weg gebracht haben - genau so, wie sie sich heute
präsentieren. Nur haben Sie Ihre Argumentation geändert - Sie haben sich um 180 Grad gedreht -: Vorwärts,
Genossen, es geht zurück! Sie wollen nichts mehr mit
der Agenda 2010 zu tun haben; Sie wickeln sie ab. Das
ist die Wahrheit; das muss man hier so deutlich sagen.
({1})
Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen.
Wir diskutieren jetzt schon wieder so intensiv. Die
Kollegen von der Linken freuen sich, weil sie nämlich
hoffen, dass sie mit ihren Maximalforderungen am Ende
ein bisschen ein Geschäft machen können, wenn die
SPD im Fokus steht.
({2})
Man kann Ihnen die Diskussion trotzdem nicht ersparen.
Herr Kollege Kolb, ich muss Sie noch einmal unterbrechen. Der Kollege Kurth auf der rechten Seite von Ihnen möchte eine Zwischenfrage stellen.
Ich finde, das gehört zur Debattenkultur dazu. Bitte.
({0})
Wir reden hier über das wichtige Thema Mindestlohn.
Darüber wird oft sehr ideologiebehaftet gesprochen.
Stimmen Sie mir zu - es wurde über solche Zahlen gesprochen -, dass es weder in Brandenburg noch in
Mecklenburg-Vorpommern einen einzigen Landkreis
mit einer Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent gibt?
Stimmen Sie mir auch zu, dass man solche Kennzahlen,
gerade wenn man über einen gesetzlichen Mindestlohn
in Deutschland spricht, kennen müsste, erst recht, wenn
man aus diesen Regionen kommt?
Herr Kurth, ich kann Ihnen zustimmen, was die statistische Bewertung anbelangt. Natürlich würde man sich
wünschen - auch beim zweiten Punkt stimme ich zu -,
dass die Kollegin der Linken ihre Argumentation besser
vorbereitet hätte.
({0})
Ich komme zum Schluss, Herr Kollege Heil. Es gibt
- das haben Sie ja gesagt - in 20 anderen europäischen
Ländern Mindestlöhne. Man muss aber auch ihre Höhe
sehen. In Bulgarien liegt er bei 71 Cent. In Luxemburg
liegt er bei den hier schon zitierten 9,61 Euro. Der
Durchschnittslohn, nach Arbeitnehmern gewichtet,
liegt in Europa - darüber hat uns das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales informiert - bei 5,20 Euro. Mit
einem Mindestlohn in Höhe von 10 Euro - das ist das,
was Sie, Herr Kollege Ernst, vorschlagen - wären wir allen anderen Mitgliedstaaten weit voraus. Wie es mit der
europäischen Solidarität vereinbar sein soll, dass
Deutschland einen Mindestlohn einführt, der über dem
eines Landes liegt, in dem die Lebenshaltungskosten
deutlich höher sind als in Deutschland, also in
Luxemburg, erschließt sich mir nicht.
Ich komme auf das Anfangsbild zurück. Wir machen
das Türchen des Adventskalenders wieder zu. Es hat
sich heute nicht gelohnt, einen Blick hineinzuwerfen.
Aber ich fürchte, Sie werden uns auch künftig mit Ihren
Vorschlägen nicht verschonen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Golze.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Herr Kolb und werter Herr Kollege - ich weiß den Namen des Kollegen,
der nach der Statistik gefragt hat, nicht mehr -,
({0})
ich weiß nicht, ob es besser ist, wenn es nur 24 oder
23 Prozent Arbeitslose sind.
({1})
Das finde ich immer noch furchtbar. Die Situation ist
trotzdem dramatisch.
Zweitens. Ich habe während meines Studiums pflichtgemäß drei Semester lang einen Kurs absolviert, in dem
es um die Erstellung von Statistiken, um Berechnungsmethoden ging.
({2})
Der erste Satz, den ich von meinem Professor gehört
habe, war: Traue nie einer Statistik, die du nicht selbst
gefälscht hast.
({3})
Sie wissen selbst, nach welchen Methoden Sie die Arbeitslosenstatistiken zusammenstellen.
({4})
Sie wissen selbst, dass Sie jeden, der in irgendeiner
Maßnahme steckt oder eine Mehraufwandsentschädigung erhält, herausrechnen. Sie wissen, dass Sie die
Menschen herausrechnen, deren Ehepartner einen Lohn
beziehen, der knapp über dem Bedarfssatz liegt. Sie wissen, dass diese Menschen in keiner Statistik auftauchen.
Ich kann es nicht nachvollziehen, dass Sie sich mit
statistischen Angaben herausreden und sagen, dass es
keine Landkreise gibt, in denen die Arbeitslosigkeit bei
über 25 Prozent liegt. Ich finde, jeder Erwerbslose, der
qualifiziert ist und arbeiten möchte, ist einer zu viel, und
davon gibt es viele im Osten. Sie verhindern mit einer
absolut verbohrten Ideologie - das sage ich Ihnen jetzt
einmal so -, dass diese Leute in Lohn und Brot kommen.
({5})
Ich kann diese Diskussion nicht mehr nachvollziehen. Ich wünsche mir von einer christlich-liberalen
Bundesregierung, dass sie auch an die Menschen denkt,
die in diesem Jahr keinen Weihnachtsbaum haben - Entsprechendes haben Sie in der letzten Sitzungswoche beschlossen -, weil sie ihn sich nicht leisten können. Darunter sind auch Menschen aus dem Osten, die
40 Stunden in der Woche arbeiten gehen, dabei aber so
schlecht verdienen, dass sie ergänzende Hartz-IV-Leistungen beziehen müssen. Daran sind Sie schuld.
({6})
Herr Kollege Kurth, bitte.
Frau Kollegin, zunächst einmal stelle ich fest, dass
wir zusammen einmal einen Kaffee, einen Matetee oder
Ähnliches trinken sollten. Ich kenne Ihren Namen nämlich auch nicht. Das können wir an dieser Stelle vielleicht beiseite schieben.
Sie haben Herrn Kolb direkt nach einer Zahl gefragt.
Sie sagten, in Ihrem Landkreis liege die Arbeitslosigkeit bei 25 Prozent.
({0})
In keinem Landkreis in Meck-Pomm liegt die Arbeitslosigkeit über 18 Prozent. Also kann sie auch in der gesamten Region nicht über 18 Prozent liegen. Das kann
man sich nicht schönrechnen.
Sie haben nach einer Zahl gefragt, diese Zahl hinterher aber selbst aus dem Gefecht genommen, indem Sie
gesagt haben, dass diese Zahl gefälscht sei. Ich frage Sie:
Warum nutzen Sie eine Zahl, die aus Ihrer Sicht gefälscht ist?
Ich sage Ihnen noch eines: Aus meiner Sicht ist es
sehr schade, dass wir in Meck-Pomm und Brandenburg
eine hohe Arbeitslosigkeit haben. Ich glaube aber auch,
dass das etwas mit politischen Entscheidungen zu tun
hat; denn Thüringen - da komme ich her - zieht in Sachen Arbeitslosigkeit zurzeit im positiven Sinne an
Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün mit Unterstützung
der Linken regiert, vorbei.
({1})
Wir werden in den nächsten Monaten Nordrhein-Westfalen eingeholt haben. Das liegt an politischen Entscheidungen.
Danke.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kolb, bei Ihren Reden frage ich mich immer, ob Sie Ihre
Propaganda eigentlich selbst noch glauben.
({0})
In der Bevölkerung glaubt jedenfalls niemand mehr
diese Propaganda.
Ich habe in der letzten Woche in der Berliner Zeitung
gelesen, dass allein im letzten Jahr 3 000 Arbeitsplätze
in der fleischverarbeitenden Industrie aus Dänemark
in das Billiglohnland Deutschland verlagert worden
sind. In Frankreich passiert gerade das Gleiche. Die französische fleischverarbeitende Industrie hat eine Vereinigung gegen Sozialdumping gegründet und die EuroBrigitte Pothmer
päische Union aufgefordert, Deutschland zu einem
Mindestlohn zu drängen.
Kommen wir zu der Situation in Deutschland. Nehmen wir als Beispiel das Land Niedersachsen; da kenne
ich mich gut aus. Dort arbeiten sehr viele Beschäftigte in
der fleischverarbeitenden Industrie für weniger als
5 Euro die Stunde.
({1})
Das geschieht - jetzt richte ich mich an Sie, Herr
Wadephul - mit dem Segen der niedersächsischen Landesregierung. Die niedersächsische Landwirtschaftsministerin, Frau Grotelüschen, hat in einer Plenardebatte
gesagt, Löhne für 5 Euro die Stunde seien durchaus akzeptabel.
({2})
Für Frau Grotelüschen gilt, glaube ich, der Satz von Karl
Marx, nach dem das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt.
({3})
Frau Grotelüschen hängt selber sehr tief drin in diesen
Geschäften mit den Billiglöhnen. Ihr Mann ist mit
14 Prozent an einem Unternehmen beteiligt, das von diesen Schmutzlöhnen profitiert. Sie selber hat in den letzten Jahren als Prokuristin in der fleischverarbeitenden
Industrie Verträge abgeschlossen, die Löhne von
3,50 Euro pro Stunde vorsahen. Herr Wadephul, solange
in Ihrer Partei Menschen, die diese Machenschaften betreiben, ein Ministerinnenamt bekleiden können,
({4})
so lange wird Ihnen niemand glauben, dass Sie gegen
Lohndumping sind.
({5})
Sie leisten selber einen Beitrag dazu, dass Deutschland zum Niedriglohnsektor für ganz Europa wird.
Schon jetzt werden Millionen Schweine zwischen Dänemark und Deutschland hin- und hertransportiert. Was
glauben Sie, was nach dem 1. Mai 2011 passiert, wenn
die Arbeitnehmerfreizügigkeit umgesetzt wird?
({6})
Das Problem wird um ein Vielfaches vergrößert, wenn
wir nicht das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit
am gleichen Ort“ in ganz Europa, das heißt auch in
Deutschland, durchsetzen.
({7})
Diese Bundesregierung hat sich in dieser Frage ideologisch eingemauert. Die schlimmsten Ideologen sitzen
in der FDP.
({8})
Können Sie sich noch an den Satz von Guido
Westerwelle erinnern: „Mindestlohn ist DDR pur ohne
Mauer“? Was die DDR betrifft, kennen Sie sich ja offensichtlich aus, wenn man Herrn Kubicki Glauben schenken darf.
({9})
Die DDR ist implodiert, und die FDP steht vor genau
diesem Prozess.
({10})
Bei Ihnen ist es genau so wie in den letzten Tagen der
DDR.
({11})
Da war es auch die Führung, da waren es Herr Honecker
und Herr Mielke, die am meisten überrascht waren, als
der Zusammenbruch kam. So ist es auch bei Ihnen.
({12})
Diese Bundesregierung arbeitet gerade mit Hochdruck daran, Deutschlands Ruf in Europa zu ruinieren.
Aber das scheint Ihnen nicht zu reichen. Sie arbeiten mit
Hochdruck auch daran, Europas Ruf in Deutschland zu
ruinieren. Denn das wird passieren, wenn Sie nicht endlich Ihren Widerstand gegen die Mindestlöhne aufgeben.
({13})
Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Der Kollege Blumenthal würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
({0})
Kollegin Pothmer, Sie haben gerade erneut das Zitat
wiederholt, die FDP befinde sich zurzeit im gleichen Zustand, in dem sich auch die DDR befunden habe.
({0})
Ich habe Herrn Kubicki zitiert.
Ja. - Ich möchte nachfragen: Möchten Sie hier vor
uns und in der Öffentlichkeit wiederholen, dass sich der
Zustand der FDP mit dem Zustand der sogenannten
Deutschen Demokratischen Republik vergleichen lässt?
({0})
Möchten Sie diese Behauptung öffentlich bestätigen?
Ich habe Herrn Kubicki zitiert.
({0})
Ich glaube, Zitate sind im Bundestag erlaubt.
({1})
- Ich habe nur ein Zitat von Herrn Kubicki vorgetragen.
Es wäre gut, wenn Sie auf die Leute aus Ihren Landesverbänden, die sich zum Zustand Ihrer Partei äußern, hören würden.
({2})
Meine Damen und Herren, Deutschland hat inzwischen den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa.
6,6 Millionen Beschäftigte arbeiten in Deutschland unterhalb der Niedriglohnschwelle.
({3})
Fast 2 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten für
Löhne unterhalb von 5 Euro die Stunde. Dies ist ein
deutsches Alleinstellungsmerkmal, das der Tatsache zu
verdanken ist, dass wir zu den wenigen Ländern in Europa gehören, in denen es keinen Mindestlohn gibt.
({4})
Dieses Problem wird sich durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit verschärfen. Sie gefährden mit Ihrer Politik
den sozialen Frieden in diesem Land, weil Sie die Geringverdiener in Deutschland und die Bezieher von
Dumpinglöhnen in unseren Nachbarländern gegeneinander ausspielen. Das ist eine ganz miese Nummer, die wir
von Ihnen allerdings schon kennen.
Es geht um die Frage: Führt die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu Problemen? Die Bundesagentur für Arbeit
geht jedenfalls davon aus, dass besonders sehr viele angelernte bzw. ungelernte Beschäftigte nach Deutschland
kommen werden. Das IAB weist darauf hin, dass es
Schmuddelfirmen, die Hungerlöhne zahlen, geben wird.
Alle Experten raten dazu, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, um dieses Problem zu bekämpfen.
Auch die Arbeitgeber sind doch längst dafür, Mindestlöhne einzuführen.
({5})
Auch sie sind gegen diesen ruinösen Wettbewerb, gegen
Lohndumping.
Fairer Wettbewerb und faire Löhne sind nicht nur für
die Beschäftigten, sondern auch für die Arbeitgeber und
vor allen Dingen für die Steuerzahler ein Thema. Schon
jetzt könnten wir jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro mehr in
Bildung investieren, wenn wir nur einen Mindestlohn
von 7,50 Euro pro Stunde hätten.
Frau Kollegin, ich muss Sie noch einmal unterbrechen. Der Herr Kollege Kolb würde gerne noch eine
Zwischenfrage stellen.
Nein, Herr Kollege Kolb, Sie hatten nun wirklich hinreichend Redezeit.
({0})
Üben Sie sich ein bisschen in Bescheidenheit.
({1})
Ich will deutlich sagen: Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn. Mit der Salamitaktik kommen wir
einfach nicht weiter. Herr Wadephul hat gesagt: Beim
Mindestlohn in der Zeitarbeit wird sich etwas tun. - Das
löst aber nicht das Problem. Wird dadurch etwa das Problem im Wach- und Sicherheitsgewerbe gelöst? Das Problem, das in der fleischverarbeitenden Industrie besteht,
habe ich schon angesprochen. Wo, bitte schön, löst der
Mindestlohn in der Zeitarbeit die Probleme in diesen Bereichen?
Jetzt wende ich mich an die CDU/CSU, an diejenigen, die das C in ihrem Namen führen.
({2})
Aus meiner Sicht steht das C für Helfen, Teilen und Gerechtigkeit.
({3})
Aber Sie machen mit Ihrer Politik genau das Gegenteil.
Sie machen keine Politik für diejenigen, die Hilfe brauchen.
({4})
Sie machen eine Politik für diejenigen, die ein großes
Portemonnaie haben. Das ist nicht nur unsozial. Das ist
auch unchristlich.
({5})
Jetzt will ich Ihnen sagen, worin der Unterschied zwischen der CDU/CSU und den Grünen besteht:
({6})
Sie kämpfen im Wesentlichen für christliche Symbole,
zum Beispiel in Schulen oder Amtsstuben. Wir kämpfen
für christliche Werte.
({7})
Von Ihrer Art der Frömmigkeit können sich die Leute
nichts, aber auch gar nichts kaufen. Eines kann ich Ihnen, gerade kurz vor Weihnachten, sagen: Maria und
Josef, selbst das Christkind und die zwölf Apostel wären
für einen gesetzlichen Mindestlohn.
({8})
Fröhliche Weihnachten!
({9})
Nun hat das Wort der Kollege Max Straubinger für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Pothmer, dass die Grünen für christliche
Werte kämpfen, merken wir in Bayern anhand diverser
Anträge, etwa denen, dass die Kreuze aus den Klassenzimmern verschwinden sollen, dass islamische Feiertage
in Bayern eingeführt werden sollen. Das ist offensichtlich das Verständnis der Grünen, die angeblich für christliche Werte kämpfen, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
({0})
- Das hat nichts mit Toleranz zu tun, sondern das hat mit
Respekt vor Religionen zu tun, lieber Herr Kollege
Beck.
({1})
Wir behandeln zum wiederholten Male einen Antrag
der Linken-Fraktion für gesetzliche Mindestlöhne hier
im Parlament. Diesmal wird es mit europäischen Gesichtspunkten begründet. Aber wie der Kollege Kolb
und der Kollege Wadephul bereits ausgeführt haben, ist
der Kollege Ernst letztendlich nicht sehr auf diese europäischen Gesichtspunkte eingegangen. Wahrscheinlich
wäre ihm bei einem europäischen Mindestlohn auch
schwindlig und flau in der Magengrube geworden, wenn
er das deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
hätte verklickern müssen; denn wir können uns ausmalen, dass wir angesichts der 20 Lohnuntergrenzen, die es
in Europa gibt, bei einem Mindestlohn von ungefähr bei
3 Euro wären, werter Kollege Ernst.
Deshalb ist es richtig und sinnvoll, auf die verschiedenen Tariflandschaften und auch auf die entsprechenden
Rahmenbedingungen in den einzelnen Regionen Bezug
zu nehmen. Das gilt für die Länder in Europa ebenso wie
für die Bundesländer und die einzelnen Regionen in
Deutschland. Deshalb ist ein gesetzlicher Mindestlohn,
wie Sie ihn fordern, nur Gift und keine Bereicherung für
Arbeitsplätze in unserem Land.
Herr Kollege Straubinger, der Kollege Ernst würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Dem kann ich es nicht abschlagen.
({0})
- In Bayern muss der Kollege Ernst seinen Parteitag besänftigen; da hat er keine Zeit.
Ja, aber ihr müsst schauen, dass ihr irgendwann wieder über 40 Prozent kommt. - Herr Straubinger, wollen
wir doch wieder über das Thema reden! Ich möchte Ihnen einfach die Frage stellen, ob Sie denn in unserem
Antrag irgendwo gelesen haben, dass wir einen durchschnittlichen Mindestlohn in Europa fordern, wie Sie es
gerade darzustellen versucht haben.
Ja, natürlich.
Ich bin noch nicht ganz fertig. - Sind Sie denn nicht
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Mindestlohn in
Europa, den wir schon in fast allen europäischen Ländern haben, natürlich die jeweilige wirtschaftliche Leistungskraft des Landes berücksichtigt - er wird zum Beispiel in Frankreich gerade auf 9 Euro erhöht -, weil die
wirtschaftliche Leistungskraft in den einzelnen Regionen Europas unterschiedlich ist? Sind Sie ferner bereit
zu akzeptieren, dass wir uns, wenn wir einen gesetzlichen Mindestlohn einführen, wie es viele andere Länder
bereits getan haben, natürlich nicht mit den Leistungsschwächsten vergleichen dürfen, sondern dass wir uns
mit denen vergleichen müssen, die eine ähnliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben? Ist es dann in der
Folge nicht sinnvoll, dass wir uns, da wir das wirtschaftlich leistungsfähigste Land, das konkurrenzfähigste
Land Europas sind, wie man an unseren Handelsbilanzüberschüssen sehen kann, eher an dem durchschnittlichen
Lohn, den die leistungsstärksten Länder haben, orientieren?
({0})
Es ist logisch. Aber es spricht gegen seinen eigenen
Antrag.
Die letzte Frage, die ich anschließen möchte, ist folgende: Ist es, Herr Straubinger, im Sinne des Gesetzes
über Wachstum und Stabilität in der Wirtschaft von 1967
- ausgeglichene Handelsbilanzen, ausgeglichene Leistungsbilanzen, außenhandelswirtschaftliches Gleichgewicht ({0})
nicht richtig, wenn man feststellt, dass es zu Ungleichgewichten in Europa kommen kann, weil sich ein Land
durch Lohndumping Vorteile gegenüber anderen verschafft, und ist es dann nicht sinnvoll, dass das Land mit
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit par excellence
zumindest das Lohndumping nach unten durch einen gesetzlichen Mindestlohn verhindert?
({1})
Herr Kollege Ernst, Sie haben hier vortrefflich gegen
Ihren eigenen Antrag argumentiert.
({0})
- Ja, natürlich. - Sie fordern in Ihrem Antrag einen gesetzlichen Mindestlohn in ganz Deutschland, unabhängig von den Voraussetzungen der verschiedenen Regionen. Diese sind unterschiedlich: Sie sind im Osten
anders als im Westen, im Norden und im Süden.
({1})
- Ja, natürlich.
Dementsprechend gibt es richtigerweise sehr viele
verschiedene Tarifverträge, weil durch diese Tarifverträge die regionalen Besonderheiten und vor allen Dingen auch die Wettbewerbsfähigkeit in den jeweiligen
Räumen berücksichtigt werden können. Das ist auch
richtig so.
({2})
Wenn das in der Vergangenheit nicht so gewesen wäre,
dann wäre Niederbayern nie zum Aufsteigerland Nummer eins geworden. Nur durch die Ansiedlung neuer Betriebe und neuer Industrien ist es gelungen, dass das Pendeln aus Niederbayern heraus ein Ende hat und in
Dingolfing,
({3})
wo ich herkomme, schöne und gute Arbeitsplätze entstanden sind, zum Beispiel bei dem Automobilbauer
BMW.
({4})
Herr Kollege Heil und Herr Kollege Ernst, alle Menschen dort profitieren davon, weil die Löhne durch das
erhöhte Arbeitsplatzangebot insgesamt gestiegen sind.
({5})
Ein solch starkes Unternehmen ist letztendlich ein
Trendsetter, der hinsichtlich der Entlohnung in den verschiedensten anderen Bereichen in unserem Land einen
Trend setzt.
Es ist deshalb sehr deutlich: Ihre eigene Argumentation ist gegen einen gesetzlichen Mindestlohn gerichtet,
weil ein zu niedriger gesetzlicher Mindestlohn - Sie erkennen das ja indirekt an - keine Wirkung hat und ein zu
hoher Mindestlohn Arbeitsplätze vernichtet.
Herr Kollege Ernst, Sie legen immer dar, wir hätten
Wettbewerbsvorteile, weil die Löhne so niedrig sind. Die
Arbeitskosten sind gesunken; das ist richtig. Zu den Arbeitskosten gehören aber nicht nur die Löhne. Die Arbeitskosten können bei der Automobilindustrie durch
Zulieferungen von Teilen aus anderen Ländern der Welt
gesenkt werden. Natürlich bedeutet das dann Wettbewerbsvorteile. Es geht also nicht nur um die Arbeitskosten, sondern auch darum, wie wir Wettbewerb insgesamt
gestalten.
Die deutschen Unternehmen sind sehr erfolgreich,
Herr Kollege Ernst. Das sollten wir durch Ihr Wirtschaftsprogramm nicht unterbinden. Ich habe mich getraut, mir die Homepage des Kollegen Ernst anzuschauen.
({6})
Dort steht die schöne Forderung, die EU solle Deutschlands Exporte begrenzen. Herr Kollege Ernst, was heißt
das denn?
({7})
Wenn wir die Exporte begrenzen, dann werden Arbeitsplätze bei uns zunichtegemacht. Das ist doch völlig klar.
Wir produzieren dann weniger und haben damit weniger
Arbeitsplätze.
({8})
- Herr Kollege Ernst, diese Traumgebilde seien Ihnen
unbenommen, aber das wird es so eben nicht geben. Wir
müssen mit unseren Produkten in einer Wettbewerbsgesellschaft bestehen - in Europa und in der ganzen Welt.
({9})
Dabei sind wir sehr erfolgreich. Diesen Erfolg der Unternehmen sollte man im Sinne der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht schmälern.
Deshalb ist die Politik der Bundesregierung unter
Angela Merkel und der sie tragenden Parteien CDU,
CSU und FDP richtig. Herr Kollege Ernst, wir kämpfen
gemeinsam für mehr Arbeitsplätze in unserem Land und
für mehr Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, weil damit natürlich auch die soziale Sicherheit der Menschen
und Einkommensmöglichkeiten verbunden sind.
({10})
Ich habe es ja bereits ausgeführt: Ein zu niedriger
Mindestlohn hat keine Wirkungen, und ein zu hoher
Mindestlohn gefährdet Arbeitsplätze.
({11})
- Das ist kein Quatsch, Herr Kollege Heil.
({12})
- Herr Kollege Heil, Frankreich hat den höchsten Mindestlohn - der Kollege Ernst und auch Sie haben das gerühmt -, und er wird noch angehoben.
({13})
Die Realität sollte man dabei aber auch betrachten. Was
hat das bewirkt?
({14})
Armut wurde bewirkt - insbesondere bei den Jugendlichen, die auf den Arbeitsmarkt drängen.
({15})
In Frankreich haben wir über 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit zu verzeichnen.
({16})
- Natürlich wegen des Mindestlohnes.
({17})
- Der Mindestlohn stellt eine Einstiegsbarriere dar, weil
die Jugendlichen noch nicht so gut ausgebildet sind,
nicht die entsprechende fachliche Erfahrung nachweisen
können und es deshalb für die Betriebe nicht möglich ist,
den so hohen gesetzlichen Mindestlohn für sie zu schultern.
({18})
Das sind dann die praktischen Auswirkungen. Wäre Ihnen denn eine höhere Jugendarbeitslosigkeit lieber?
({19})
- Das ist ja nicht wahr.
Die Auswirkungen gesetzlicher Mindestlöhne bestehen nicht nur in erhöhter Arbeitslosigkeit. Sie verursachen darüber hinaus in vielen anderen Bereichen große
Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Aber ich bin überzeugt, dass es vor allen Dingen aufgrund der Konkurrenz
über die Landesgrenzen hinweg Arbeitsplatzverluste
geben wird, so in den Grenzgebieten zu Tschechien und
Polen.
({20})
- Das ist nicht wahr.
Schön ist auch noch, dass der Kollege Ernst es als unwürdig betrachtet, soziale Leistungen in Anspruch zu
nehmen und dafür einen Antrag zu stellen. Es ist aber
gerade der Ausdruck eines Sozialstaats, dass jemand,
wenn er mit seinem erwirtschafteten Einkommen nicht
am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, Unterstützung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler erfährt.
({21})
- Ja, Herr Kollege Heil, auch der Kollege Kolb hat bereits dargestellt, dass die meisten Aufstocker nur teilzeitbeschäftigt sind.
({22})
Im Juli 2010 gab es 1,3 Millionen abhängig beschäftigte Erwerbstätige, die zusätzlich ALG II benötigten,
zudem mehr als 100 000 Selbstständige. Aber fast 1 Million aus diesem Personenkreis arbeitet nur Teilzeit.
({23})
Mit Teilzeitarbeit kann ich eben kein Vollzeiteinkommen
erreichen. Somit ist das keine Frage der Höhe eines
Stundenlohns, sondern es geht darum, wie viel Zeit jemand aufgrund seiner familiären Situation der Arbeit
widmen kann, weil er Kinder zu betreuen hat, weil er
möglicherweise auch einen behinderten Angehörigen zu
pflegen hat und, und, und.
Für solche persönlichen Situationen haben wir - darauf sollten wir doch stolz sein - ein dichtes soziales
Netz, an dem wir alle gearbeitet haben. Das möchte ich
nicht als unwürdig betrachten, wie es der Kollege Ernst
getan hat, als er sagte, es sei unwürdig, soziale Leistungen beantragen zu müssen.
Aber entlarvend im Hinblick auf den Antrag der Linken ist durchaus, dass auf der einen Seite behauptet wird,
es sei unwürdig und für den Einzelnen mühsam, Aufstockungen zu beantragen, aber dort gleichzeitig steht:
Wenn ein Unternehmer den gesetzlichen Mindestlohn
nicht bezahlen kann, dann soll er unterstützende Leistungen des Steuerzahlers erhalten.
({24})
Dann subventionieren wir die Arbeitgeber direkt. Lieber
Kollege Ernst, im Gegensatz zu Ihnen bin ich dafür, dass
wir dieses Geld den betroffenen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern und den betroffenen Personen auszahlen,
bevor wir es Unternehmen geben, um damit einen gesetzlichen Mindestlohn für manche Unternehmen in unserem Land überhaupt bezahlbar zu machen. Ich frage
mich: Wo ist da der Unterschied?
({25})
Sie verurteilen auf der einen Seite die Aufstockung.
Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem Antrag, dass dann die
Unternehmen eine staatliche Unterstützung erhalten sollen, um diesen gesetzlichen Mindestlohn bezahlen zu
können. Lieber Kollege Ernst, wenn dies ein Fortschritt
sein soll, dann frage ich mich wirklich, wie es in unserer
Gesellschaft zukünftig weitergehen soll.
({26})
Im Antrag wird auch dargestellt: Der gesetzliche Mindestlohn hilft in allen Bereichen. Er sichert ein ausreichendes Einkommen und in der Regel damit auch die
Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger. Man könnte genauso gut argumentieren, dass dadurch eine Lohn-PreisSpirale in Gang gesetzt wird und die Kaufkraft somit
nicht steigt, Herr Kollege Ernst. Dies sollte man unter
wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten vielleicht auch
einmal betrachten. Vor allen Dingen aber steht in den diversen Anträgen immer wieder, dass der Mindestlohn
unseren Sozialstaat rettet und die Rente sichert.
Herr Kollege Ernst, ich meine, dass die Menschen in
ihrem Leben wesentlich mehr verdienen können als einen imaginären gesetzlichen Mindestlohn.
({27})
Der gesetzliche Mindestlohn, den Sie fordern, zeigt sehr
deutlich, wie realitätsfern Sie in dieser Frage diskutieren.
Dass jemand 45 Jahre lang durch den gesetzlichen Mindestlohn alimentiert wird, ist für mich eine Horrorvorstellung.
({28})
Es mag vielleicht den Linken angemessen sein und in ihr
Programm passen. Denn Sie sind letztlich dafür, dass der
Staat alles vorgeben soll. Sie sind eigentlich Gewerkschaftsführer, geben aber lapidar die Tarifautonomie damit auf.
({29})
- Natürlich. In Ihrem Antrag fordern Sie nicht nur einen
gesetzlichen Mindestlohn, sondern auch weitere Branchenmindestlöhne.
({30})
Das bedeutet die Einschränkung bzw. die Aufgabe der
Tarifautonomie. Dabei sollten Sie als Gewerkschaftsführer für die Stärkung der Tarifautonomie eintreten,
statt zu ihrem Abbau beizutragen.
({31})
Ihr Vorschlag ist auch keine Lösung, um zu einer sicheren und guten Rente zu kommen. Entscheidend ist vielmehr, dass es in unserem Land vernünftige Arbeitsplätze
gibt, die auch gut bezahlt werden.
({32})
Lieber Kollege Ernst, die derzeitige wirtschaftliche
Entwicklung trägt mit dazu bei, dass die gute Bezahlung
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer möglich
wird. Ich kann mich noch gut daran erinnern, was Sie in
einem früheren Antrag und auch in der Diskussion vorgebracht haben, nämlich dass Arbeitgeber bereit sind,
zu zocken, dass sie sich übernommen haben und dadurch Arbeitsplätze gefährdet werden. Das haben Sie
damals insbesondere im Zusammenhang mit der Fusion
von Schaeffler und Continental verbreitet. Bei diesen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern steht jetzt eine
Sonderzahlung an.
Es zeigt den Charakter der sozialen Marktwirtschaft,
dass sich auch die Unternehmen dieser Frage stellen. In
vielen Bereichen, auch in der Automobilbranche, wird
von Neueinstellungen der Unternehmen berichtet,
({33})
und zwar bei guter Bezahlung.
({34})
- Mir ist eine befristete Beschäftigung lieber als gar
keine Beschäftigung, Herr Kollege Ernst.
({35})
Ihnen mag das möglicherweise egal sein. Wir kämpfen
für dauerhafte Arbeitsplätze.
({36})
Darauf, dass dies umgesetzt wird, können wir stolz sein.
Wir bedanken uns auch bei den betreffenden Unternehmen.
Wenn aber alle für einen gesetzlichen Mindestlohn
kämpfen, dann richte ich auch eine Empfehlung an die
SPD, die wie alle Parteien im Wahlkampf ist, derzeit vor
allem in Hamburg: Dass die Wahlkampfhelfer, die
37,5 Stunden in der Woche im Einsatz sind, mit
300 Euro im Monat entlohnt werden, ist meiner Meinung nach durchaus verbesserungsbedürftig.
({37})
Wenn man schon so heftig für einen gesetzlichen Mindestlohn kämpft, dann sollte man vielleicht auch über
diesen Punkt nachdenken.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({38})
Nun hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau
Präsidentin! Herr Straubinger, ich glaube, auch meine
Ausführungen regen dazu an, über einige Punkte nachzudenken.
({0})
Wir erleben zurzeit eine ziemlich trübe Jahreszeit.
Trotz Vorfreude auf Weihnachten sind graue Tage
nichts Besonderes. Sie können von uns glücklicherweise auch nicht beeinflusst werden. Was mir aber in
dieser Zeit große Sorge bereitet und was wir beeinflussen können - das gilt besonders für die zuständige
Ministerin -,
({1})
ist die Tatsache, dass sich die Stimmung besonders bei
den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem
Land immer mehr verfinstert.
({2})
Sie sind frustriert und haben konkrete Erwartungen an
die Arbeitsministerin, dass sich etwas zu ihren Gunsten
verändert und dass ihnen mehr Gerechtigkeit beim Lohn
für gute Arbeit widerfährt.
({3})
Enttäuscht hat vor kurzem die Sozialministerin von
der Leyen schon viele Menschen in diesem Land mit ihrer Neuregelung zu den Regelsätzen in der Grundsicherung und mit ihrem spärlichen Bildungspaket für bedürftige Kinder. Hinzu kommt nun ihre Untätigkeit als
Arbeitsministerin bei der Frage eines gerechten Lohns
für geleistete Arbeit.
Arbeiten und dann noch Geld vom Staat zu brauchen,
diese Situation gibt es in Deutschland immer häufiger.
Die Zahl derer, die trotz Jobs auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, ist gestiegen. Wir alle kennen die
Zahl: 1 325 000 Bürger müssen ALG II bekommen, obwohl sie ganz oder teilweise berufstätig sind. Diese Tatsachen können auch Sie nicht vom Tisch wischen, und
diese Tatsachen verlangen politisches Handeln.
({4})
Wenn Sie - jetzt spreche ich die Regierungskoalition mit
ihrer Ministerin an - ernsthaft für das nächste Jahr die
Lösung arbeitsmarktpolitischer Probleme angehen wollen, dann sollte die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ganz oben auf Ihrer Tagesordnung stehen;
denn darum kommen Sie nicht herum. Die Menschen im
Lande erwarten für ihre geleistete Arbeit eine gerechte
Mindestvergütung.
Die heutige Debatte zu diesem Thema ist nicht neu
und nicht der erste Aufschlag. Ich erinnere daran, dass
wir im März 2010 einen Antrag eingebracht haben. Sicherlich sind wir uns in einigen Fragen sehr nahe, aber
wir haben unterschiedliche Meinungen zu der Festlegung der Höhe der gesetzlichen Lohnuntergrenze.
Wir, Herr Straubinger, wollen Fairness auf dem Arbeitsmarkt. In Abwägung aller Chancen und Risiken - Sie
haben nur von den Risiken gesprochen - sind wir für
realistische 8,50 Euro pro Stunde. Da sind wir uns mit
den Gewerkschaften einig, und aus allen Kreisen der Bevölkerung kommt diese Forderung.
({5})
Ganz zuletzt hat Ihnen das Bundesverfassungsgerichtsurteil bescheinigt, dass das Lohnabstandsgebot
hinfällig ist. Mit diesem Urteil ist bestätigt, dass das
Existenzminimum nicht unter den untersten Löhnen liegen muss, sondern die untersten Löhne über dem Existenzminimum liegen müssen.
({6})
Das ist nachzulesen, und das heißt im Klartext: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die vollzeitnah erwerbstätig sind, müssen ein Nettoarbeitsentgelt erzielen,
mit dem sie verlässlich oberhalb der Schwelle von
Hartz IV liegen. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn ist also die Konsequenz auch aus diesem Urteil zur
Neubemessung der Regelsätze. Das ist der Auftrag an
Sie und an Ihre Ministerin.
({7})
- Das sehen viele Menschen in diesem Land ganz anders.
({8})
Ich glaube, dass Sie da in einer Sackgasse sind und sich
vor dem Bundesverfassungsgericht darüber noch einmal
streiten müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim gesetzlichen
Mindestlohn geht es um zwei Dinge. Es geht erstens um
die gesellschaftliche Anerkennung von Arbeit und die
Würde des Menschen, der sich in diese Gesellschaft einbringt; er muss für das, was er an Arbeit leistet, auch gerecht entlohnt werden. Zweitens geht es aber auch um
die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass Unternehmen
ihre Niedriglohnbeschäftigung nicht durch die öffentliche Hand finanzieren lassen. Beides hat viel mit Gerechtigkeit zu tun, die wir in dieser Gesellschaft so dringend
brauchen.
Zahlreiche unserer Nachbarländer sind uns da schon
einen deutlichen Schritt voraus. Viele Menschen fragen
immer wieder, warum es nicht möglich ist, dass wir in
Deutschland einen Mindestlohn haben, den es bereits in
20 der 27 Länder der Europäischen Union gibt. In den
Ländern, die mit uns am ehesten vergleichbar sind - wie
Belgien, Frankreich, Dänemark oder den Niederlanden -,
({9})
gibt es weltweit die höchsten Mindestlöhne in einer
Spanne von 8,15 Euro bis 13,80 Euro. Keine dieser
Volkswirtschaften ist daran zugrunde gegangen, und die
Arbeitslosigkeit ist dort nicht höher als bei uns. Ganz im
Gegenteil, sie ist niedriger, und die Beschäftigungsquote
ist höher. Das ist nachzulesen.
({10})
- Ich habe vergleichbare Länder erwähnt; Herr
Straubinger, hören Sie zu.
Die Legenden, die Sie immer wieder pflegen - das
haben Sie auch heute getan -, wonach Mindestlöhne
Arbeitsplätze vernichten,
({11})
haben sich bisher in unseren Nachbarländern und angesichts der Mindestlohnvereinbarungen einzelner Branchen bei uns nicht bestätigt. Trotz all dieser Entwicklungen weigern Sie sich beharrlich, diese Realitäten zur
Kenntnis zu nehmen und daraus die richtigen Schlüsse
für unser Land zu ziehen, die nur heißen können: Gesetzlicher Mindestlohn nun auch in Deutschland!
({12})
Frau von der Leyen hat uns in den letzten Wochen
und Monaten sehr oft gesagt, wie wichtig ihr die Kinder
in diesem Land sind. Wenn sie es ernst meint, dann muss
sie auch an die Kinder denken, deren Eltern ein so geringes Einkommen haben, dass es für das Existenzminimum nicht ausreicht. Diese Kinder müssen erleben, dass
die Eltern auf ergänzende Hilfe angewiesen sind. Besonders Alleinerziehende und Paare mit geringem Einkommen müssen oft das Jobcenter aufsuchen. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde die Aufstockung vermeiden.
Das käme schließlich 1,2 Millionen bedürftigen Kindern
zugute. Das wäre eine echte Unterstützung für bedürftige Kinder.
({13})
Ich muss leider zum Schluss meiner Rede kommen.
({14})
- Das ist in der Tat bedauerlich. - Ich möchte einen Satz
aufgreifen, den Ihre Ministerin am 18. Juni in diesem
Hause gesagt hat. Es handelt sich um einen sehr schönen
Ausspruch von Victor Hugo. Er hat gesagt: „Nichts ist
mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“. Ich
greife diesen Satz ganz bewusst auf und sage Ihnen: Die
Idee des gesetzlichen Mindestlohns ist nicht neu. Spätestens jetzt ist aber die Zeit gekommen, zu handeln. Wir
laden Sie ein, auch in dieser trüben Jahreszeit das richtige Signal zu geben, das viele Menschen in diesem
Land erwarten und das die Wünsche der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erfüllt. Mit einem gesetzlichen
Mindestlohn würden auch die Differenzen in der Bezahlung von Männern und Frauen sowie die Lohnunterschiede zwischen Ost und West verringert oder beseitigt
werden. Das wäre doch eine wirklich gute Aussicht für
das neue Jahr.
Danke.
({15})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Pascal
Kober.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Ernst, bekanntlich ist Reden Silber und
Schweigen Gold. Entsprechend war es bemerkenswert,
wie Sie elf Minuten lang über einen Mindestlohn in
Höhe von 10 Euro gesprochen, aber über den konkreten
Inhalt des von Ihrer Fraktion eingebrachten Antrags beharrlich geschwiegen haben.
({0})
Das verwundert überhaupt nicht; denn das Konzept, das
Sie vorlegen, ist schlicht nicht konsistent. Sie fordern einen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro brutto pro Stunde,
und dann sollen die jeweiligen Anpassungen durch einen
paritätisch besetzten sogenannten nationalen Mindestlohnrat verbindlich vorgeschlagen werden. Da stellt sich
mir und vielleicht auch jedem anderen unvoreingenommenen Betrachter und aufmerksamen Leser die Frage,
warum dieser nationale Mindestlohnrat nicht schon die
Eingangshöhe festlegt oder warum er nicht darüber
nachdenkt, ob es überhaupt einen Mindestlohn geben
soll. Ich kann Ihnen sagen, warum Sie einem solchen Rat
nicht vertrauen: Sie vermuten, dass ein solcher sicherlich
mit Experten besetzter nationaler Mindestlohnrat in seiner Expertise nicht zu dem Ergebnis kommen würde,
dass der Mindestlohn bei 10 Euro liegen soll.
({1})
Diese Vermutung wird durch die Tatsache gestützt, dass
die Gewerkschaften keinen Mindestlohn in Höhe von
10 Euro fordern. Diese wissen, dass ein hoher Mindestlohn Arbeitsplätze gefährden würde, und stimmen daher
Ihrer Forderung nach 10 Euro nicht zu.
Sie haben viel über das europäische Ausland geredet. Sie verschweigen aber die jeweiligen Hintergründe
in den einzelnen europäischen Ländern. In vielen Ländern Europas ist der Mindestlohn vom Durchschnittslohn bzw. vom normalen Lohn so weit entfernt, dass nur
ein sehr geringer Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überhaupt vom Mindestlohn erfasst wird. In
Großbritannien galt der Mindestlohn 2008 für nur
1,9 Prozent der Vollzeitbeschäftigten, in Irland für
3,3 Prozent und in Spanien für weniger als 1 Prozent.
Die Mindestlöhne, die dort gelten, sind ganz weit von
den 10 Euro entfernt, die Sie fordern.
Beim Blick aufs Ausland verschweigen Sie natürlich
auch, dass es dort, wo es Mindestlöhne gibt, zugleich
immer auch eine Fülle an Ausnahmetatbeständen gibt,
um negative Arbeitsmarkteffekte - sprich: Arbeitslosigkeit - zu mildern oder zu verhindern. Wenn Sie beispielsweise in Frankreich einen Arbeitslosen einstellen,
bekommen Sie Abschläge bei den Sozialversicherungsbeiträgen. Ähnliche Ausnahmetatbestände gibt es nahezu überall, wo es in Europa Mindestlöhne gibt. Das
sollten Sie dann auch sagen. Wir sagen: Ein Mindestlohn
muss in sich konsistent sein. Einen Mindestlohn einzuführen und gleichzeitig eine Vielzahl von Ausnahmetatbeständen zu schaffen, macht keinen Sinn; dann lieber
kein Mindestlohn.
({2})
Viele Kolleginnen und Kollegen haben schon darauf
hingewiesen, dass Sie von Deutschland ein völlig falsches Bild zeichnen. Ich möchte es allen in Erinnerung
rufen: In Deutschland gibt es nur 4 000 Personen, die
Vollzeit arbeiten und zusätzlich sogenannte aufstockende Leistungen erhalten. Die Regel ist das nicht.
({3})
In Deutschland werden ordentliche Löhne gezahlt, und
die Menschen können von ihnen leben, wenn sie einen
Vollzeitjob haben.
Noch ein Wort an die Kollegin Pothmer. Frau
Pothmer, Sie sollten vielleicht die Weihnachtszeit nutzen, um nicht nur das Weihnachtsevangelium zu hören,
sondern auch einmal über die Geschichte hinaus zu lesen
und zu erfahren, wie es weitergeht. Die von Ihnen angesprochenen Apostel
({4})
- zwölf - haben allesamt ihr angestammtes Arbeitsverhältnis verlassen und sind Jesus nachgefolgt, ohne Kündigungsschutz, ohne Mindestlohn, ohne Arbeitszeitregelung.
({5})
Wenn Sie das als Maßstab für eine christliche Arbeitsmarktpolitik nehmen wollen, dann sage ich in der Tat:
Das ist nicht die Vorstellung dieser christlich-liberalen
Koalition.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Zimmer
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Für und Wider eines gesetzlichen Mindestlohns haben
wir - wieder einmal - sehr engagiert, sehr emotional und
sehr ernst, teilweise auch mit großer Theatralik, abgewägt. Ich gehe deshalb davon aus, dass ich zu den Differenzen in diesem Hause nichts weiter sagen muss. Ich
möchte das Thema von einer anderen Seite her angehen,
nämlich von den vermuteten Gemeinsamkeiten her, und
die Frage stellen, ob wir jenseits des gesetzlichen Mindestlohns auch andere ordnungspolitische Möglichkeiten
finden können.
({0})
Vielleicht ist das dann - Herr Kolb hat es angesprochen das Überraschungsei im Adventskalender, das Sie bei
dem Kollegen Ernst so schmerzlich vermisst haben.
Meine Damen und Herren, in den vergangenen Tagen
haben wir die Unterrichtung der Bundesregierung über
das 18. Hauptgutachten der Monopolkommission zur
Kenntnis genommen. Mich haben bei der Lektüre zwei
Sachverhalte verwundert: erstens, dass die Monopolkommission eine starke Einschränkung der Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen befürwortet, und zum Zweiten, dass sie die Möglichkeit
abschaffen will, Mindestarbeitsentgelte nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz festzulegen, so als ob an
dieser Stelle tatsächlich Monopole entstünden.
Ich habe dann etwas genauer nach den Begründungen
gesucht und zwei gefunden, die mich geärgert haben:
Zum einen befürchtet die Monopolkommission negative
Auswirkungen auf den nachgelagerten Produktmarkt,
zum anderen scheint sie Wettbewerb als Ziel der Ordnungspolitik zu sehen. Ich hingegen bin der festen Überzeugung: Wettbewerb ist nicht das Ziel des Marktes,
sondern ein Mittel. Als Christlich-Sozialer stehe ich auf
dem Standpunkt: Der Mensch steht im Mittelpunkt des
Marktes. Er ist Urheber, Mittelpunkt und Ziel der Wirtschaftsordnung. Deshalb ist das Ziel des Marktes nicht
der Wettbewerb, sondern Ziele sind das Gemeinwohl
und der darin eingebundene Mensch.
Ein zweiter Irrtum der Monopolkommission scheint
mir in der Annahme der Funktionsweise von Markt
und Staat zu liegen. Der Arbeitsmarkt ist kein perfekter
Markt. In einem perfekten Arbeitsmarkt gibt es keine
Einkommensunterschiede. Wenn alle Menschen in etwa
gleich qualifiziert wären, würde es ein Überangebot an
Arbeitskräften für die prestigehaltigen Arbeiten geben.
Ihre Entlohnung würde sinken. Gleichzeitig würde für
die weniger angesehenen Arbeiten der Lohn steigen
müssen, weil sich sonst keiner findet, der diese Arbeiten
verrichtet.
Nun ist klar: Einen solchen Markt gibt es nicht. Die
Menschen kommen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen und auch mit unterschiedlicher Verhandlungsstärke auf den Arbeitsmarkt. Auf dem Arbeitsmarkt besteht Ungleichheit, schon wegen der unterschiedlichen
Machtpositionen von Anbietern und Nachfragern. Ungleichheit besteht aber auch, wenn wir nur diejenigen
betrachten, die ihre Arbeitskraft anbieten. Hier muss der
Staat dann eingreifen, wenn diese Ungleichheiten zu Arbeitsverhältnissen führen, die jeglicher Idee des Gemeinwohls zuwiderlaufen.
({1})
Der Staat ist Garant dieses Gemeinwohls. Er ist mit dem
schönen Wort von Sismondi Repräsentant des dauernden, aber stillen Interesses aller gegen das nur zeitweilige, aber leidenschaftliche Interesse der Einzelnen.
Ich denke, so weit stimmen wir im Hohen Hause
überein: Die Lohnfindung allein dem Markt zu überlassen, wäre falsch und weder mit unseren Vorstellungen
von Grundwerten noch mit unseren Vorstellungen von
Gemeinwohl vereinbar.
Das war im Übrigen auch die Auffassung von Adam
Smith. In seinem Buch über den Reichtum der Nationen
schreibt er - hier zitiere ich -: Der Mensch muss stets
von seiner Arbeit leben, und sein Lohn muss wenigstens
hinreichend sein, um ihm Unterhalt zu verschaffen.
({2})
In den meisten Fällen muss er sogar noch etwas höher
sein, sonst wäre der Arbeiter nicht imstande, eine Familie zu gründen. - Wir sehen: Smith war weniger reiner
Marktwirtschaftler als Moralphilosoph.
Die katholische Soziallehre hat diesen Hinweis aufgegriffen und spricht vom gerechten Lohn, einem Lohn,
der es einem Arbeitnehmer gestattet, sich und seine Familie zu ernähren.
({3})
Hier steht die katholische Soziallehre bei aller Betonung
der Freiheit und der Eigenverantwortung des Menschen
in der Tradition der Moralphilosophie und der Naturrechtslehre.
Wir in der Union stehen in der Tradition dieser Soziallehre, meinen aber zur Frage der Mindestlöhne: Die
Lohnfindung ist wegen des Prinzips der Subsidiarität
zunächst Aufgabe der Tarifpartner.
({4})
Über viele Jahre, Herr Kollege Ernst, waren es gerade
die Gewerkschaften, die mit Hinweis auf die Tarifautonomie staatliche Interventionen in die Lohnfindung zu
Recht abgelehnt haben.
({5})
Wenn sich aber Tarifpartner nicht mehr finden, ihre
Bindungswirkung verlieren oder nicht die Tarifmächtigkeit aufweisen können, dann läuft die Subsidiarität ins
Leere und der Staat muss eingreifen. Wir haben dies getan mit der Grundidee, dass so viel wie möglich die
Tarifpartner besorgen und dass wir dann je nach Notwendigkeit auf Antrag einzelne Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären. In der Großen Koalition ist
vereinbart worden, dort, wo sich keine Tarifpartner finden, die Lohnfindung über das Mindestarbeitsbedingungengesetz zu regeln - ein etwas kompliziertes, aber
durchaus gangbares Verfahren.
Einen allgemeinen und flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn haben wir im Wesentlichen aus drei
Gründen abgelehnt:
({6})
Erstens besteht die Befürchtung, damit könnten Arbeitsplätze verloren gehen.
({7})
Hierzu gibt es Untersuchungen, die ich vor einiger Zeit
im Deutschen Bundestag zitiert habe. Die spannende
Frage aber lautet - das ist auch durchaus selbstkritisch -:
Wie viele Arbeitsplätze gehen verloren, wenn wir keinen
Mindestlohn haben?
({8})
Ich finde es richtig, über diese Bilanz zumindest einmal
zu diskutieren.
({9})
Das zweite Argument ist, dass die Lohnfindung die
Tarifpartner doch unter sich ausmachen sollten. Hier
gilt es kritisch anzumerken: Wir haben nicht mehr die
große Bindungskraft der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände,
({10})
die in anderen Ländern ohne Mindestlohn selbstverständlich ist.
({11})
Wo die Tarifautonomie aufgerissen ist, müssen andere
Wege gegangen werden.
({12})
Das dritte Argument ist, der Mindestlohn sei nicht flexibel genug, weder für Branchen noch für Regionen. Der
Kollege Straubinger hat darauf hingewiesen. Das halte
ich für ein schwerwiegendes Argument. Die Lebenshaltungskosten unterscheiden sich in den Regionen deutlich. Mit welcher Begründung können wir dann durch einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn mit Blick
auf die Lebenshaltungskosten einige besser-, andere
schlechterstellen?
({13})
Wie kann ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn die
Bedürfnisse unterschiedlicher Branchen befriedigen?
({14})
Ich persönlich könnte mir vorstellen, dass man viele
dieser Einwände durch die Idee eines subsidiären Mindestlohns oder - anders formuliert - eines gesetzlichen
Mindestlohns mit einer tariflichen Öffnungsklausel entkräften kann.
({15})
Die Tarifpartner könnten den Mindestlohn für Regionen,
Branchen oder für eine gewisse Zeit außer Kraft setzen.
({16})
Sie müssten sich aber gegenüber dem gesetzlichen Mindestlohn rechtfertigen, der den Charakter einer auch normativ zu verstehenden Setzung trägt. Begründungspflichtig wäre dann die Unterschreitung des subsidiären
Mindestlohns, nicht der Mindestlohn selbst.
Ein solcher subsidiärer Mindestlohn bietet nach meinem Dafürhalten Anreiz, die Lohnfindung durch die Tarifpartner dort vorzunehmen, wo es gute Gründe gibt,
den Mindestlohn nicht anzuwenden.
({17})
Das Instrument wäre hinreichend flexibel, um regionalen oder branchenspezifischen Bedürfnissen Rechnung
zu tragen. Es wäre eleganter als das Mindestarbeitsbedingungengesetz und wesentlich unbürokratischer als
die Verfahren zur Erklärung einer Allgemeinverbindlichkeit. Das würde uns viele Diskussionen im Zusammenhang mit dem 1. Mai 2011 ersparen.
Das wäre nach meinem Empfinden ein ambitioniertes
Projekt der christlich-liberalen Koalition, die gelingende
Synthese der liberalen Tradition eines Adam Smith und
der Tradition der Soziallehre in einem Themenfeld, in
dem wir bald überzeugende Lösungen brauchen.
Danke schön.
({18})
Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Zimmer, vielen Dank für Ihren
wissenschaftlichen Beitrag. Aber nun möchten wir uns
den Menschen in diesem Land widmen.
({0})
Wenn wir über Europa und Arbeitnehmerfreizügigkeit reden, die ab dem 1. Mai 2011 für acht weitere EUStaaten gilt, dann spüre ich bei den meisten Menschen
vor allem Verunsicherung, ja auch oft Angst.
({1})
Sie fürchten, dass Arbeitnehmer aus osteuropäischen
Staaten nach Deutschland kommen, um hier zu Niedriglöhnen und unter schlechten Bedingungen zu arbeiten. Besonders transnationale Leiharbeitsfirmen wollen
die Arbeitnehmerfreizügigkeit ausnutzen.
Herr Dr. Wadephul, es ist kein Geheimnis, dass deutsche Leiharbeitsfirmen bereits Verträge vorbereiten, um
vermeintlich teure deutsche Leiharbeiter durch billigere
polnische oder tschechische Leiharbeiter zu ersetzen.
Der polnische Arbeitgeberpräsident spricht von Löhnen
zwischen 2 und 5 Euro für polnische Leiharbeiter. Das
sind Ersparnisse für die Unternehmen von bis zu 5 Euro
pro Stunde und Mitarbeiter. Damit halten menschenunwürdige Entlohnung und unfaire Arbeitsbedingungen
Einzug auch in unseren Arbeitsmarkt. Wir wollen keine
Angst vor der Arbeitnehmerfreizügigkeit schüren; aber
dieser Gefahr, die ab dem 1. Mai droht, muss die Bundesregierung schleunigst begegnen.
({2})
Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, was
Sie zu dieser Thematik in den letzten Wochen gesagt haben, war sehr konfus. Die Union ist auf einmal für einen
Mindestlohn in der Leiharbeit.
({3})
Auch das Schauspiel von Ursula von der Leyen bekommt einen neuen Akt: Sie macht sich plötzlich Sorgen
um deutsche Leiharbeitnehmer. - Nun gut, aber leider
sind Sie zu spät: In der Großen Koalition hätten wir mit
Leichtigkeit einen solchen Mindestlohn umgesetzt.
({4})
Jetzt kriegen Sie das mit der Dagegen-Partei FDP nicht
mehr hin.
({5})
- Das gilt für Sie.
({6})
Selbst die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände fordert einen Mindestlohn in der Leiharbeit. Trotzdem verweigern sich die Liberalen. Kolleginnen und Kollegen von der FDP, welche Klientel
vertreten Sie eigentlich noch, wenn Sie nicht einmal
mehr die Arbeitgeberforderungen unterstützen?
({7})
Herr Kolb, ich schätze Sie als einen vernünftigen Kollegen.
({8})
Sie haben die Problematik bereits erkannt, wie wir alle
wissen. Reden Sie doch noch einmal mit Ihrem Vorsitzenden, Herrn Westerwelle, und bringen Sie endlich
Ordnung in Ihre Arbeitsmarktpolitik, am besten durch
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in
Deutschland.
({9})
Kolleginnen und Kollegen, die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine positive Errungenschaft, die wir in Europa geschaffen haben. Wir haben vier Dimensionen in
Europa: den gemeinsamen Markt, die offenen Grenzen,
die gemeinsame Währung und die soziale Dimension.
Die ersten drei Dimensionen haben wir erfolgreich umgesetzt. Nun gilt es, den sozialen Frieden in Europa zu
sichern. Europa heißt nicht nur, dass wir uns um den
Euro oder die Finanzkrise kümmern. Europa bedeutet
auch, dass wir Wohlstand und soziale Sicherheit für
alle Menschen garantieren.
({10})
Dazu gehören auch faire Arbeitsbedingungen. Deshalb
müssen wir Lohn- und Sozialdumping mit allen uns zur
Verfügung stehenden Mitteln verhindern und den gesetzlichen Mindestlohn einführen.
({11})
Mit Lohn- und Sozialdumping schwächen wir zum
einen unsere anständigen Unternehmer, die bei dem
ständigen Unterbieten nicht mithalten können und wollen. Zum anderen schwächen wir mit Niedriglöhnen unsere Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmer hier in Deutschland verlieren entweder ihren Job, weil es billigere
Arbeitskräfte aus anderen Ländern gibt, oder sie müssen
zu Hungerlöhnen arbeiten - diese Gefahr besteht -, um
mit der ausländischen Konkurrenz mithalten zu können.
Das sind Verwerfungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit,
die auftreten, wenn wir nicht politisch handeln, und zwar
vor dem 1. Mai 2011.
({12})
Unser Grundprinzip muss lauten: Gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort.
Das ist keine Gleichmacherei, sondern Grundlage für
Anstand, Fairness und Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt.
({13})
Kolleginnen und Kollegen von der Linken, die Forderung nach Einführung eines Mindestlohns und der Aufnahme aller Branchen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz
teile ich. Aber ich teile nicht Ihre Analyse, dass allein
mit Einführung eines Mindestlohns alles getan wäre, um
uns auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit vorzubereiten.
Ihre Forderungen greifen etwas zu kurz. Wir brauchen
zum Beispiel auch eine grundlegende Regelung zur Beratung von entsandten Arbeitnehmern.
Herr Staatssekretär Fuchtel, hören Sie zu. Sie können
der Arbeitsministerin überbringen, welche Erfahrungen
ein Facharbeiter bei diesem Thema gemacht hat. Wir
müssen nämlich auch regeln, wie entsandte Arbeitnehmer in unser System der Mitbestimmung integriert werden. Wir müssen dafür sorgen, dass auftraggebende Unternehmer haften, wenn Subunternehmer aus dem
Ausland Lohn- und Sozialdumping betreiben. Wir brauchen eine wirksame Kontrolle; denn die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit ist derzeit personell nicht dazu in der
Lage. - Dies sind einige der Forderungen, neben der
Einführung eines Mindestlohns, die die SPD-Fraktion
nach der Weihnachtspause in einem eigenen Antrag einbringen wird.
({14})
Die Einführung eines Mindestlohns allein reicht nicht
aus, um den Menschen in Deutschland Schutz zu gewähren.
Erlauben Sie mir zum Schluss eine tiefer gehende Bemerkung in eigener Sache: Als jemand, der als Gastarbeiter nach Deutschland kam, vom Ausländer zum
Migranten und heute zu einem Deutschen mit Migrationshintergrund wurde - eigentlich wollte ich immer
nur ein Mensch sein -, ist mir wichtig, dass wir einen
Fehler aus der Zeit der Gastarbeiter nicht wiederholen:
Bei der Debatte um Zuwanderung und Arbeitnehmerfreizügigkeit müssen wir uns immer vor Augen halten,
dass Menschen zu uns kommen und nicht nur Arbeitskräfte. Das ist eben auch ein wichtiger Aspekt für eine
gelungene Integrationspolitik.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Sie, meine Damen und Herren von den Linken und von den Grünen, höhlen mit Ihren Forderungen
nach Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns die Tarifautonomie aus.
({0})
Im Vorgriff auf die ab Mai 2011 für die neuen EU-Mitgliedstaaten geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit schüren
Sie bei den Bürgerinnen und Bürgern Ängste gegenüber
einem freien Europa.
Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes garantiert die Tarifautonomie. Dort ist das Recht festgeschrieben, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber Koalitionen bilden können,
um Vereinbarungen über Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen zu treffen. Gewerkschaften schließen mit Arbeitgeberverbänden Tarifverträge über das Arbeitsentgelt ab.
Warum überlassen Sie von den Linken und Grünen es
also nicht den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, einen Mindestlohn zu vereinbaren? Die Tarifautonomie gibt es schon jetzt her, Mindestlöhne einzuführen.
({1})
Ihre Argumentation an dieser Stelle ist bekannt. Sie
sagen, dass in ganz vielen Branchen keine Tarifbindung
herrscht. Das ist unzutreffend; denn der Anteil der Beschäftigten, auf die Tarifverträge Anwendung finden, lag
laut des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
im Jahr 2009 bei 81 Prozent.
({2})
Außerdem stelle ich mir die Frage: Wenn der Mindestlohn so notwendig ist, warum schaffen es die Gewerkschaften dann nicht, mehr Arbeitnehmer für sich zu gewinnen und ihre Forderung bei Tarifverhandlungen auch
durchzusetzen?
({3})
Es ist doch offensichtlich so, dass Sie es den Gewerkschaften nicht zutrauen; denn sonst würden Sie nicht den
Gesetzgeber auffordern, hier aktiv zu werden.
Damit eines klar ist: Die Tarifautonomie ist für mich
ein hohes Gut.
({4})
Sie gehört unverzichtbar zum Ordnungsrahmen der sozialen Marktwirtschaft.
({5})
Weil das genauso bleiben soll, sage ich: Nicht der Staat
und auch nicht das Parlament haben die Aufgabe, Lohnhöhen festzusetzen, sondern die Tarifpartner.
({6})
Wir haben Standpunkte ausgetauscht. Ich sage Ihnen:
Ein staatlicher Mindestlohn dient nicht der sozialen Absicherung. Über 98 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten
verfügen laut BDA über ein existenzsicherndes Einkommen.
({7})
Arbeitnehmern, die ein solches zum Beispiel wegen fehlender Qualifikation nicht erzielen können, gewährleistet
das Arbeitslosengeld II ein Mindesteinkommen. Das ist
der richtige Weg. Der Effekt der Agenda 2010 war doch
gewünscht, Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten den Einstieg in den Arbeitsmarkt über einfache Tätigkeiten zu erleichtern.
Zu Beginn habe ich bereits gesagt, dass Ihre Anträge
Ängste bei den Menschen gegenüber einem offenen Europa schüren.
({8})
Was passiert denn im Mai 2011? Grenzen auf dem Arbeitsmarkt fallen. Das ist für mich als Liberale etwas
sehr Positives. Genau das heißt Freiheit.
({9})
Sie hingegen verstehen Arbeitnehmerfreizügigkeit als
Bedrohung, vor der wir uns schützen müssen. Offene
Grenzen sehen Sie als Bedrohung. Damit leisten Sie einen gefährlichen Beitrag zur Europaskepsis. Das halte
ich gerade an einem solchen Tag wie heute, wo in Brüssel über die Stabilität unserer Währung beraten wird, für
besonders fahrlässig.
({10})
Wenn es Ihnen, Herr Heil, wirklich um die Menschen
und um ihre soziale Absicherung geht, müssen die Anträge zurückgezogen werden, und stattdessen müsste
morgen im Bundesrat dafür gesorgt werden, dass die
Neuregelung bei Hartz IV mitgetragen wird.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4038 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Wahl von Mitgliedern des Verwaltungsrates
der Kreditanstalt für Wiederaufbau gemäß § 7
Absatz 1 Nummer 4 des Gesetzes über die
Kreditanstalt für Wiederaufbau
- Drucksachen 17/4176, 17/4177 Hierzu liegen ein Wahlvorschlag der Fraktionen
CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke sowie ein Wahlvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Bevor wir zur Abstimmung über die Wahlvorschläge
kommen, erteile ich zunächst dem Abgeordneten Volker
Beck das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stimmen jetzt in einer offenen Wahl über die Besetzung des
Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau ab.
Es ist unerlässlich, dass alle Fraktionen des Deutschen
Bundestages im Verwaltungsrat der KfW vertreten sind,
um über die Geschäftsstrategie der staatseigenen Bank
zu entscheiden und sie zu kontrollieren.
({0})
Es ist undemokratisch und widerrechtlich, dass die
schwarz-gelbe Koalition die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen aus dem Kontrollorgan der Kreditanstalt für Wiederaufbau heraushalten will. Die KfW ist in
erster Linie eine Bank für die Förderung des Mittelstandes. Unsere Kandidatin Christine Scheel ist die Mittelstandsbeauftragte der Fraktion. Sie hat schon viele Jahre
diesem Gremium angehört und hat hier eine wichtige
Arbeit geleistet, die von allen geschätzt wird.
Die KfW finanziert Kommunalkredite und ermöglicht
Export- und Projektfinanzierungen in großem Umfang.
Sie hat im letzten Jahr mit der Kreditgewährung an Griechenland im Auftrag des Bundes eine wichtige Funktion
zur Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarktes
mit einem stabilen Euro übernommen. Es ist unerlässlich, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages an
der Kontrolle einer solch zentralen Stelle beteiligt sind
und keiner ausgeschlossen wird.
({1})
Herr Grund wird vermutlich gleich zu erklären versuchen, dass sich aus dem Beschluss des Deutschen Bundestages vom 28. Oktober 2009 zu dem Antrag mit dem
Titel „Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung
der Stellenanteile der Fraktionen“ ergebe, dass uns kein
Platz zustünde. Nach dem gängigen Stellenverteilungsverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers steht den Grünen
ein Platz zu. Sie berufen sich dabei auf folgenden Satz:
Führt dieses Verteilverfahren nicht zu einer Wiedergabe der parlamentarischen Mehrheit, … errechnet
sich die Verteilung nach d’Hondt.
Danach stünde uns kein Platz zu. Dies ist aber angesichts
der Regelungen zum Verwaltungsrat im Gesetz über die
Kreditanstalt für Wiederaufbau an der Sache vorbei. Die
gesetzliche Konzeption sieht vor, dass die Vertreter des
Deutschen Bundestages und ihre Zusammensetzungen
wegen sieben Vertretern der Bundesregierung in diesem
Gremium auf die Mehrheitsbildung keinerlei Einfluss
haben. Die Regierungsmehrheit ist ohnehin gesichert.
Das gesetzliche System dieses Verwaltungsrats, das sich
nicht an den Legislaturperioden des Deutschen Bundestages, sondern an der Amtszeit der Verwaltungsratsmitglieder orientiert, zeigt schon, dass es auf eine Abbildung
der Mehrheitsverhältnisse des Deutschen Bundestages
nicht ankommt, sondern auf eine Repräsentanz aller
Fraktion bei der Kontrolle dieses Gremiums.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem ähnlichen
Fall, nämlich bei der Zusammensetzung der Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss - damals gegen unsere
Koalition - entschieden:
Funktion und Aufgaben des Vermittlungsausschusses fordern keine zwingende Ausrichtung der Besetzung des Ausschusses am Mehrheitsprinzip in
einem Umfang, dass der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit
- nämlich der Beteiligung aller Fraktionen im Zweifel zu weichen hätte.
Das Bundesverfassungsgericht hat zum Grundsatz der
Spiegelbildlichkeit ausgeführt:
Er muss im Konfliktfall der mit dem Prinzip stabiler parlamentarischer Mehrheitsbildungen in Einklang gebracht werden. Kollidieren der Grundsatz
der Spiegelbildlichkeit und der Grundsatz, dass bei
Sachentscheidungen die die Regierung tragende
parlamentarische Mehrheit sich auch in verkleinerten Abbildungen des Bundestages muss durchsetzen können, so sind beide Grundsätze zu einem
schonenden Ausgleich zu bringen.
Ein schonender Ausgleich liegt aber dort nicht vor,
wo eine Bundestagsfraktion von den Kontrollmöglichkeiten - hier der Staatsbank - ausgeschlossen wird.
({3})
Herr Kauder, sogar für den Vermittlungsausschuss
- damals haben Sie ja geklagt - sagt das Bundesverfassungsgericht:
Dabei schließt die normative Ausgestaltung des
Vermittlungsausschusses nicht aus, dass die politische Opposition auf Bundesebene in dem Ausschuss in bestimmten Fällen über eine Mehrheit
verfügt;
- was hier gar nicht der Fall wäre. Das zeigt aber, dass
Sie hier willkürlich und widerrechtlich in die Kontrollrechte meiner Fraktion eingreifen.
Volker Beck ({4})
Herr Grund, es gibt keinen guten rechtlichen und verfassungsrechtlichen Grund für die Beschneidung unserer
parlamentarischen Kontrollrechte. Beteiligung ist auch
keine Belohnung für parlamentarisches Wohlverhalten
gegenüber der Koalition. Deshalb stimmen Sie unserem
Wahlvorschlag zu. Diese Bitte richte ich auch an die beiden anderen demokratischen Fraktionen. Bitte unterstützen Sie uns in dem Anliegen, dass alle Fraktionen des
Deutschen Bundestages gemeinsam die Staatsbank kontrollieren können müssen. Das dient der parlamentarischen Demokratie und ist gut für unser Land.
({5})
Jetzt hat der Kollege Manfred Grund das Wort zu einer Erklärung.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut
für unser Land, wenn wir uns an die Grundsätze halten,
die wir uns selber gegeben haben. Herr Kollege Beck,
Ihre Argumentation führt in die Irre und geht an dem
Grundsatz vorbei, den Sie in Ihrer Eigenschaft als Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen bis vor wenigen Jahren selber vertreten haben: Mehrheit ist Mehrheit.
Worum geht es in der Sache?
Erstens. Wir haben heute drei der insgesamt sieben
Mitglieder des Verwaltungsrats der Kreditanstalt für
Wiederaufbau, die der Deutsche Bundestag nach dem
Gesetz über die Kreditanstalt für Wiederaufbau zu bestellen hat, neu zu bestellen.
Zweitens. Der Deutsche Bundestag hat am Anfang
dieser Legislaturperiode in Übereinstimmung und Absprache mit allen Fraktionen eine Regelung getroffen,
wie in Zukunft - in dieser Legislaturperiode - Positionen
in Ausschüssen und anderen Gremien zu besetzen sind,
damit sich die durch Wählerentscheidung - Herr Kollege
Beck, wir bestrafen und belohnen nicht; der Wähler bestraft und belohnt - herbeigeführte parlamentarische
Mehrheit in allen Gremien widerspiegelt und abbildet.
Die Drucksache 17/4 trägt die Unterschrift aller Fraktionen, natürlich auch Ihrer Fraktion. Darin heißt es:
Die Zahl der auf die Fraktionen entfallenden Sitze
im Ältestenrat und in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages sowie die Verteilung der Vorsitze in den Ausschüssen werden nach dem Verfahren der mathematischen Proportion ({0}) berechnet, soweit nichts Abweichendes
vereinbart wird.
Das Gleiche
- das ist entscheidend gilt für die Besetzung von anderen Gremien, soweit
gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.
Führt dieses Verteilverfahren nicht zu einer Wiedergabe der parlamentarischen Mehrheit …, errechnet
sich die Verteilung nach d’Hondt.
Genau diese Verteilung ist hier anzuwenden. Es gibt
einen gemeinsamen Vorschlag aller anderen Fraktionen
in diesem Haus, auch von einer Fraktion, die heute nicht
auf dem Wahlvorschlag steht. Ausgerechnet die Fraktion
der Grünen bricht hier aus einer parlamentarischen Tradition aus, die bisher für alle bindend gewesen ist.
Ich will auf zwei oder drei Argumente eingehen, die
der Kollege Beck hier vorgetragen hat. Das eine Argument stützt sich auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Demnach seien die Grünen aus verfassungsrechtlichen Gründen - Grundsatz der Spiegelbildlichkeit zu beteiligen. Herr Kollege Beck, dieses Urteil bezieht
sich ausdrücklich auf den Vermittlungsausschuss, also
auf ein Gremium, das sich aus Vertretern von Bundesrat
und Bundestag zusammensetzt. Die Bestimmung der
Zahl der Sitze, die im Verwaltungsrat der KfW zu besetzen sind, liegt überhaupt nicht in unserer Hand. Wir sind
hier nur ein entsendendes Organ unter vielen anderen.
Es gibt viele andere Gremien, die unter anderem von
Mitgliedern des Bundestages besetzt werden, wo aber
nur ein oder zwei Mitglieder des Bundestages vertreten
sein können. Hier gibt es überhaupt keinen Streit darüber, ob man alle Fraktionen beteiligen sollte, weil das
überhaupt nicht möglich ist.
Sie haben ein zweites Argument vorgetragen: Die Regierung, die auch im Verwaltungsrat vertreten ist, könne
die Mehrheit der Regierungskoalitionen darstellen. Herr
Kollege Beck, wir haben aus guten Gründen seit der
Französischen Revolution eine Gewaltenteilung:
({1})
hier das Parlament, der Gesetzgeber, da die Regierung,
dort im Gericht die Justiz. Glauben Sie, dass wir das uns
zustehende Mandat an die Regierung abgeben? Das werden wir nicht tun. Wenn Sie auf die Gewaltenteilung verzichten wollen, schlage ich vor: Sprechen Sie doch zum
Beispiel Frank Bsirske von der Gewerkschaft Verdi an.
Er ist Mitglied der Grünen und sitzt im Verwaltungsrat;
er kann nach Ihrer Vorstellung von Gewaltenteilung in
Zukunft Ihre Interessen dort wahrnehmen. Wir werden
unser Mandat nicht abgeben.
Herr Kollege Beck, Ihr drittes Argument: Beim KfWVerwaltungsrat handele es sich nicht um ein Gremium,
auf das die Vereinbarung, die wir zu Beginn der Legislaturperiode gemeinsam getroffen haben, zutreffe. Es gibt
insgesamt 42 Gremien - die Liste wurde von der Bundestagsverwaltung zusammengestellt und war bisher
zwischen allen Fraktionen unstrittig -, wonach dieses
Berechnungsverfahren - mit diesem Ergebnis - beim
KfW-Verwaltungsrat anzuwenden ist.
({2})
Jetzt, wo es einmal nicht Ihrer Interessenlage entspricht,
stellen Sie dieses Verfahren infrage. Herr Kollege Beck,
Sie führen Ihre Fraktion mit Ihrer Argumentation auf ei8956
nen sehr abschüssigen Pfad. Sie führen Ihre Fraktion erkennbar ins parlamentarische Abseits und die Gewaltenteilung und die parlamentarische Demokratie ins Elend.
({3})
Ich fordere die Fraktion der Grünen, die hier so stark
vertreten ist, auf: Schließen Sie sich dem Antrag der anderen Fraktionen an. Bleiben Sie beim bewährten Verfahren. Lassen Sie sich von Volker Beck nicht in die Irre
führen.
Herzlichen Dank.
({4})
Nach diesen beiden Erklärungen kommen wir nun zur
Abstimmung, und zwar zunächst über den Wahlvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4176. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit der Mehrheit des Hauses abgelehnt.
({0})
Wir stimmen nun über den Wahlvorschlag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke auf Drucksache 17/4177 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag
ist bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 42 a bis 42 d sowie
die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf. Es handelt sich um
Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist, zum Zusatzpunkt 2 a:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip
Juratovic, Anton Schaaf, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Richtlinien zur konzerninternen Entsendung
und zur Saisonarbeit sozial gerecht gestalten
- Drucksache 17/4190 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4190 mit dem Titel
„Richtlinien zur konzerninternen Entsendung und zur
Saisonarbeit sozial gerecht gestalten“ an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der
CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim In-
nenausschuss. Die Fraktion der SPD wünscht Federfüh-
rung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion der SPD - Federführung beim Ausschuss für
Arbeit und Soziales - abstimmen. Wer stimmt für diesen
Vorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung
beim Innenausschuss - abstimmen. Wer stimmt für die-
sen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen.
Tagesordnungspunkte 42 a bis 42 d sowie Zusatz-
punkte 2 b und 2 c:
42 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie im
Eichgesetz sowie im Geräte- und Produktsicherheitsgesetz und zur Änderung des Verwaltungskostengesetzes
- Drucksache 17/3983 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Für einen nachhaltigen Ausbau des Bildungsund Hochschulsystems in Afghanistan
- Drucksache 17/3866 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Kerstin Müller ({5}), Manuel Sarrazin,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den friedenspolitischen und krisenpräventiven Auftrag des Europäischen Auswärtigen
Dienstes jetzt umsetzen
- Drucksache 17/4043 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({6})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elisabeth
Scharfenberg, Fritz Kuhn, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Versorgungslücke nach Krankenhausaufenthalt
und ambulanter medizinischer Behandlung
schließen
- Drucksache 17/2924 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({7})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 2 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({8}), Marieluise Beck ({9}), Viola
von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen stärken
- Drucksache 17/4196 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der Versorgung der im Beitrittsgebiet vor dem 1.1.1992 Geschiedenen
- Drucksache 17/4195 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 43 a bis 43 o sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 j auf. Es handelt sich um
Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 43 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuregelung des Post- und Telekommunikationssicherstellungsrechts und zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/3306 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({12})
- Drucksache 17/4054 Berichterstattung:
Abgeordneter Martin Dörmann
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4054, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/3306 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Philipp Murmann,
Dr. Joachim Pfeiffer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Patrick Meinhardt,
Dr. Martin Neumann ({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Existenzgründungen aus Forschung und Wissenschaft fördern - Für einen starken deutschen Innovationsstandort
- Drucksachen 17/3480, 17/4115 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinz Riesenhuber
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4115, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3480
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD
und den Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen.
Tagesordnungspunkt 43 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen vom 12. Dezember 2006 zwischen der
Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich
Marokko andererseits ({15})
- Drucksache 17/3121 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({16})
- Drucksache 17/4181 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Gottschalck
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4181, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3121 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({17}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Eva Högl,
Dr. Peter Danckert, Sebastian Edathy, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verhütung und Bekämpfung von Menschenhandel
und zum Opferschutz sowie zur Aufhebung
des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates
({18})
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
Menschenhandel bekämpfen - Opferschutz
stärken
- Drucksachen 17/2344, 17/4247 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Marco Buschmann
Raju Sharma
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4247, den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/2344 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({19})
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: Beratungsfrist bei Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses ({20})
- Drucksache 17/4166 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({21})
Übersicht 4
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 17/4240 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkte 43 g bis 43 o sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 j. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 43 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 181 zu Petitionen
- Drucksache 17/4020 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 181 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 182 zu Petitionen
- Drucksache 17/4021 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Auch Sammelübersicht 182 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 183 zu Petitionen
- Drucksache 17/4022 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 183 ist angenommen mit den
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 43 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 184 zu Petitionen
- Drucksache 17/4023 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 184 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 185 zu Petitionen
- Drucksache 17/4024 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Die
Sammelübersicht 185 ist bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 186 zu Petitionen
- Drucksache 17/4025 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 186 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 187 zu Petitionen
- Drucksache 17/4026 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 187 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 188 zu Petitionen
- Drucksache 17/4027 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 188 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von SPD und Grünen
und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 43 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 189 zu Petitionen
- Drucksache 17/4028 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 189 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 3 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 190 zu Petitionen
- Drucksache 17/4215 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 190 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 191 zu Petitionen
- Drucksache 17/4216 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 191 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen
der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/
Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 192 zu Petitionen
- Drucksache 17/4217 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 192 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 193 zu Petitionen
- Drucksache 17/4218 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 193 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 194 zu Petitionen
- Drucksache 17/4219 8960
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 194 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 195 zu Petitionen
- Drucksache 17/4220 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 195 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Die Linke angenommen. Die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen hat dagegen gestimmt.
Zusatzpunkt 3 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 196 zu Petitionen
- Drucksache 17/4221 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 196 ist bei Gegenstimmen der SPDFraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 3 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 197 zu Petitionen
- Drucksache 17/4222 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 197 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 3 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 198 zu Petitionen
- Drucksache 17/4223 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 198 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
angenommen.
Zusatzpunkt 3 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40})
Sammelübersicht 199 zu Petitionen
- Drucksache 17/4224 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Sammelübersicht 199 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP:
Ergebnisse des Weltklimagipfels in Cancún
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Thomas Gebhart von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort. - Ist er nicht da? Ich darf einmal die Geschäftsführung der CDU/CSU-Fraktion fragen, wo der Redner ist.
({41})
Herr Kollege Gebhart, Sie sind als erster Redner aufgerufen. Deswegen wäre es gut, wenn Sie sich die Zeit
nehmen könnten, zum Rednerpult zu kommen.
({42})
Bitte schön, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herzlichen Dank für die Einladung und die Aufforderung, hier zu sprechen.
({0})
Meine Damen und Herren, wir begrüßen die Ergebnisse von Cancún. Die Ergebnisse übertreffen die Erwartungen. Am Ende wurde ein ganzes Paket von wichtigen
Punkten beschlossen. Entscheidend ist: Alle sind an
Bord. Entscheidend ist auch: Der Prozess hin zu weltweiten verbindlichen Vereinbarungen über die Mengenbegrenzung bei den Treibhausgasemissionen kann weitergehen.
Wer sich gefragt hat - ich gestehe, auch ich habe mich
das zwischenzeitlich kritisch gefragt -, was solche Konferenzen eigentlich bringen, und dann am Ende diese
Schlussnacht von Cancún erlebt hat, in der sich so etwas
wie ein Gemeinschaftsgefühl und eine unglaublich positive Stimmung herausgebildet haben, die zu diesem Ergebnis beigetragen haben, der hat die Frage so beantworten können: Diese Konferenzen haben ihren Wert.
Ein maßgeblicher Erfolgsfaktor - ich denke, da sind
wir uns alle einig - war die mexikanische Konferenzleitung. Sie war ausgezeichnet. Aber auch die deutsche
Bundesregierung hat einen unglaublich positiven Beitrag
geleistet. Die Rolle der Bundesregierung vom Anfang
bis zum Ende der Verhandlungen war hilfreich und außerordentlich gut. Das Ansehen Deutschlands in der internationalen Klimaschutzpolitik - dies ist in allen Gesprächen mit Delegationen anderer Länder deutlich
geworden - ist außerordentlich hoch. Deswegen ist es an
dieser Stelle auch einmal angebracht, der Bundesregierung, insbesondere dem Bundesumweltminister, und den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich zu danken.
({1})
Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich auch
sehen, dass das, was in Cancún beschlossen worden ist,
noch nicht ausreicht, um am Ende die Probleme lösen zu
können. Also stellt sich die Frage: Was ist zu tun? Ich
will nur drei Punkte nennen.
Erster Punkt. Der Prozess über die Vereinten Nationen muss selbstverständlich fortgeführt werden.
Zweiter Punkt. Es ist völlig klar: Auch wenn Europa,
wenn Deutschland alleine die Probleme nicht wird lösen
können, so ist es dennoch ein Teil unserer Verantwortung, dass wir unseren Beitrag zur Lösung dieser Probleme leisten. Deshalb ist es richtig, dass sich die Bundesregierung und dieses Parlament beim Energiekonzept
entschlossen haben, bis 2020 zu einer Reduktion der
Treibhausgasemissionen um 40 Prozent zu kommen.
Nun ist es an der Europäischen Union, mit einer Reduktion um 30 Prozent nachzuziehen. Das ist möglich. Das
ist geboten. Es ist auch - das füge ich ausdrücklich
hinzu - in unserem ureigenen ökonomischen Interesse,
dass unsere europäischen Wettbewerber möglichst ähnliche Verpflichtungen eingehen, wie wir es in Deutschland
tun.
({2})
Der dritte Punkt. Es muss uns gelingen, die Klimaschutz- und die Umweltschutzziele in echten Einklang
mit Wohlstand und Wachstum zu bringen. Der Schlüssel
dazu liegt in technologischen Innovationen.
Deutschland ist heute in vielen Bereichen der Technologie führend. Wir müssen diesen Weg konsequent weitergehen. Das ist eine große Herausforderung für die
nächsten Jahre. Zugleich ist es aber auch eine große
wirtschaftliche Chance. Wir werden auf diese Art und
Weise auch die Arbeitsplätze von morgen schaffen und
sichern können.
Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die Technologiekooperation in den Ergebnissen von Cancún einen so
großen Stellenwert einnimmt. Das ist etwas Bemerkenswertes und durchaus Neues.
Meine Damen und Herren, zum Schluss will ich einen
Punkt herausgreifen. Es ist gut, dass durch die Beschlüsse von Cancún dem Thema „Anpassung an die
Folgen des Klimawandels“ ein genauso hoher Stellenwert beigemessen wird wie dem Klimaschutz an sich.
Wir haben viele Gespräche mit Delegationen geführt,
insbesondere auch von Entwicklungsländern. Es ist dabei sehr deutlich geworden, wie diese Länder teilweise
schon heute enorm unter bestimmten Folgen des Klimawandels leiden.
Ich will nur dieses eine Beispiel nennen: Tief beeindruckend waren für mich die Schilderungen einer jungen
Frau aus dem Tschad. Sie hat uns sehr eindringlich deutlich gemacht, dass im Tschad in diesem Sommer Rekordtemperaturen von sage und schreibe 50 Grad Celsius erreicht wurden. Sie hat auf eine besonders
eindrucksvolle Weise geschildert, was dies für das alltägliche Leben der Menschen dort bedeutet. Für den, der
dies verinnerlicht und ernst nimmt, ist klar: Das Thema
„Anpassung an die Folgen des Klimawandels“ ist mindestens genauso wichtig wie der Klimaschutz an sich.
Deswegen werden wir beide Wege - sowohl Maßnahmen zum Schutz des Klimas als auch Maßnahmen und
Hilfen im Hinblick auf die Anpassung an die Folgen des
Klimawandels - angehen, und zwar in aller Konsequenz.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Frank Schwabe von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich will ausdrücklich sagen, dass wir eine große Übereinstimmung in diesem Hause darin haben, die Ergebnisse von Cancún zu begrüßen. Ich will auch ausdrücklich sagen, dass wir uns fraktionsübergreifend - ich
glaube, so kann man das sagen - und sehr solidarisch dafür eingesetzt haben, dass diese Ergebnisse zustande gekommen sind.
Ich habe zwei beeindruckende Erfahrungen aus Cancún mitgebracht.
Die erste beeindruckende Erfahrung ist die, die auch
Herr Dr. Gebhart schon geschildert hat. Es ist nämlich
deutlich geworden, dass jenseits der Zahlen, die wir uns
anschauen - dort steht dann, wie groß die Temperaturerhöhung schon gewesen ist und wie der Anstieg des CO2Gehalts aussieht -, der Klimawandel konkret stattfindet
und für ganz viele Menschen auf der Welt Realität ist.
Wir haben dort mit vielen Delegationen geredet, und
man könnte dem Beispiel aus dem Tschad ganz viele
Beispiele aus Zentralamerika, von vielen Inselstaaten
und aus Bangladesch hinzufügen.
Die zweite Erfahrung ist, dass sich viele Staaten auf
der Welt völlig unabhängig davon, was in diesem UNProzess passiert, auf den Weg gemacht haben, sich dieser Herausforderung zu stellen. Viele Staaten entwickeln
völlig unabhängig vom UN-Prozess eine unheimlich dynamische Technologiepolitik.
Meine Sorge ist, dass die Europäische Union und
letztlich auch Deutschland in diesem Prozess zurückbleiben. Wir sind sicherlich noch vorne - gar keine Frage -,
aber die Dynamik ist so groß, dass wir in dem Moment,
in dem Länder wie Brasilien, Südkorea, China und andere neben uns sind, sie möglicherweise nur kurz sehen,
während sie ganz schnell an uns vorbeiziehen, weil wir
unsere Politiken nicht entsprechend weiterentwickeln.
Das ist jedenfalls meine Sorge.
Ich glaube, das wichtigste Ergebnis von Cancún war,
dass diejenigen, die hier national und in Europa als
Bremser und gar als Klimaskeptiker auftreten, jetzt in
ihre Schranken verwiesen werden. Auch deswegen war
Cancún unglaublich wichtig.
Ich würde nicht so weit gehen, wie das der Umweltminister getan hat, und von einem sehr großen Erfolg reden. Das hat der Umweltminister ja gesagt. Ich würde
sagen, es war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem sehr großen Erfolg. Dieser Fortschritt muss dann
dementsprechend in Durban kommen.
Es wird nicht verwundern, dass wir völlig unterschiedliche Einschätzungen hinsichtlich der Rolle der
Europäischen Union und auch der Rolle Deutschlands
haben. Es ist ganz zweifellos so, dass wir hohe Anerkennung im internationalen Klimaprozess genießen, gar
keine Frage. Allerdings glaube ich, dass dies eine Anerkennung ist, die auf der Politik der vergangenen 20 Jahre
basiert.
({0})
Ich sage ausdrücklich 20 Jahre, weil daran auch Umweltminister der CDU beteiligt waren. Mein Eindruck ist
allerdings, dass wir mittlerweile ins Mittelfeld zurückfallen. Die deutsche Delegation und die Verhandler waren natürlich hervorragend; man kann ihnen nur danken.
Die Rolle allerdings, die Deutschland insgesamt und
auch der Umweltminister gespielt haben, ist aus meiner
Sicht schlichtweg nur noch mittelmäßig.
Das hat aber auch Gründe. Ich will das gar nicht dem
Herrn Minister persönlich zuschreiben. Einer der
Gründe ist, dass man auf einer solchen Konferenz natürlich nur das verhandeln kann, was man zu Hause hier im
Hohen Hause beschlossen bekommt und dorthin mitnehmen kann. Da gibt es einen großen Rucksack; der Herr
Minister hat mit Blick auf Durban und auch das, was
dorthin mitgenommen werden muss, das Bild des Rucksacks gewählt.
Meiner Meinung nach gibt es zwei Dinge, die schwer
im Rucksack von Herrn Röttgen liegen. Das eine sind
die Ziele, ist die Frage des Anhebens des europäischen
Ziels auf 30 Prozent, worüber es in der Koalition Uneinigkeit gibt. Das andere ist die Frage, ob die Mittel, die
wir für den Finanztransfer zur Verfügung stellen, neu
und zusätzlich vorgesehen worden sind. Ich kann Ihnen
dazu nur sagen: Auf der linken Seite des Hauses haben
Sie die Zustimmung für diese Politik. Ob Sie die Zustimmung auch auf der anderen Seite des Hauses haben, wird
sich in den nächsten Wochen erweisen müssen.
In der Europäischen Union müssen wir jetzt in Richtung 30-Prozent-Ziel gehen, jenseits dessen, was BDI
und VCI schon wieder in Pressemitteilungen verkünden.
Ich glaube, dass sie schon vor der Konferenz vorbereitet
worden sind, dass man auf ein Scheitern gehofft und
dann gleich verkündet hat, in der Europäischen Union
dürfe es die 30 Prozent auf gar keinen Fall geben.
Meines Erachtens gibt es drei Gründe, jetzt diese
30-Prozent-Reduzierung anzustreben. Erstens haben wir
in Cancún mit dem Beschluss festgestellt, dass die Kioto-Staaten sich zu einer Reduktion in einem Spielraum
von 25 bis 40 Prozent verpflichten. Ich glaube, dass wir
deswegen unsere Ziele anheben müssen. Wir sind mittlerweile bei minus 17,3 Prozent in der Europäischen
Union angelangt. Vielleicht sind wir in zwei, drei Jahren
bei den minus 20 Prozent, die wir uns bisher als Ziel gesetzt haben. Dann würde jeglicher ökonomischer Anreiz
entfallen, in eine Klimaschutzpolitik zu investieren. In
der Tat: Wie wollen Sie eigentlich die Klimaschutzziele
in Deutschland von minus 40 Prozent, die wir unterstützen, erreichen, wenn der Teil der CO2-Reduzierung, die
auf dem Emissionshandel basiert, nicht möglich ist, weil
der Emissionshandel auf dem 20-Prozent-Ziel basiert?
Ihren Rucksack erleichtern müssen Sie zweitens auch
im Hinblick auf die Frage nach den neuen und zusätzlichen Mitteln. Vielleicht kann Frau Staatssekretärin dazu
gleich noch Erhellendes sagen. Zum Glück ist es so gewesen, dass dies die Verhandlungen in Cancún am Ende
nicht zu sehr belastet hat. In Durban wird das ganz anders sein; dort wird nach drei Jahren abgerechnet, 2010
bis 2012, inwieweit die Mittel neu und zusätzlich sind,
die Sie damals in Kopenhagen versprochen haben.
Ich will mit Frau Espinosa, der Außenministerin von
Mexiko, schließen, die als Präsidentin der COP allumfassend gelobt wurde:
Es ist Zeit, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, bevor es zu spät ist.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Kopp.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen!
Cancún war zum Glück nicht Kopenhagen. Ich möchte
Ihnen vorweg einmal ein paar andere Eindrücke schildern, nämlich vom Hergang der Gesamtkonferenz, weil
ich das für nicht unwichtig halte, wenn ich nach Durban
im kommenden Jahr sehe und dabei feststelle, was nötig
ist.
Meiner Einschätzung nach war Cancún ein Meisterstück an Verhandlungsdiplomatie; denn man muss einfach sehen: Es galt zunächst einmal, verloren gegangenes
Vertrauen wieder aufzubauen, und es galt, viele Skeptiker
einzufangen. Ich empfand es als positiv, dass im Vorfeld
dieser Konferenz die Messlatte der Einigung nicht zu
hoch gelegt wurde, also kein großer Medienhype, keine
Riesenerwartungen, sondern einfach nur - das habe ich
schon bei meiner Ankunft und bei den verschiedenen Gesprächen mit den unterschiedlichen Ländergruppen oder
auch mit den NGOs gespürt - eine Atmosphäre der konParl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
struktiven Zusammenarbeit herrschte. Viele Länder wollten zu einem soliden Ergebnis kommen, zu einem Ergebnis, das geeignet ist, die Brücke zur nächsten Konferenz
in Durban 2011 zu bauen, die sehr wichtig ist.
Ich fand es beispielsweise sehr wichtig, dass nicht
schon am Anfang fertige Papiere zur Choreografie der
Verhandlungen vorgelegt wurden, die die verhandelnden
Delegationen dann nur noch abnicken sollten, wie es bei
den zahlreichen internationalen Konferenzen in der Vergangenheit häufig der Fall war. Das fand ich sehr klug,
bis hin zu der Tatsache, dass die Reihenfolge der Redner
bei der Eröffnung und auch anschließend mit sehr großem Einfühlungsvermögen und internationalem Geschick gewählt wurde.
Diese Art der Verhandlungsführung war sehr gut und
ist, hoffe ich, beispielhaft für die nächste große Runde,
die vor uns liegt. Das lag auch an der mexikanischen
Außenministerin Espinosa, die ihre Arbeit hervorragend
gemacht hat. Aber auch die UN haben dabei ebenso wie
die Europäische Union und wir als Bundesregierung eine
sehr gute Rolle gespielt. Ich danke Minister Röttgen
noch einmal herzlich für die sehr gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Ich habe nichts anderes erwartet.
({0})
Europa hat bei diesen Verhandlungen mit einer
Stimme gesprochen. Auch das ist ein wichtiger Punkt.
Das war bei den bisherigen internationalen Konferenzen
längst nicht immer so.
Ich habe mich gefreut, dass heute zu Beginn der Diskussion Klimaschutz und Entwicklungszusammenarbeit
endlich zusammen diskutiert werden. Denn ich finde, die
Entwicklungszusammenarbeit wurde in diesem Zusammenhang in der Tat in der Vergangenheit unterbelichtet.
Minderung von Treibhausgasen, Anpassung an den Klimawandel und Waldschutz waren die drei Hauptthemen.
Ich finde es gut, dass wir damit ein gehöriges Stück weitergekommen sind.
({1})
Wir sind als Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung mit vier zentralen
Anliegen in die Verhandlungen gegangen. Dazu gehören
erstens die Sicherstellung der Kohärenz von Klimaschutzfinanzierung und Entwicklungsfinanzierung und
zweitens die Verabschiedung eines Rahmenwerkes für
die Anpassung an den Klimawandel, das auch die Entwicklungsländer und deren Eigenverantwortung stärken
sollte. Die Vereinbarung eines Mechanismus für den
Waldschutz in Entwicklungsländern ist ein weiterer sehr
wichtiger Punkt. Damit kann man hocheffizienten Klimaschutz erreichen. Außerdem streben wir die Stärkung
des Kohlenstoffmarktes in Entwicklungsländern durch
Ausweitung auf Industriesektoren und die kosteneffiziente Standardisierung von Verfahren an. Ich denke, all
dies war sehr zufriedenstellend.
Wir als BMZ sind sehr zufrieden mit den substanziellen Fortschritten, die erzielt wurden. Wie ich schon gesagt habe, ist es gelungen, eine Vereinbarung auf den
Weg zu bringen, die die Beiträge der Schwellenländer
zur Minderung der Treibhausgase ebenso wie die Einigung auf eine maximale Klimaerwärmung um 2 Grad
einbezieht. Auch dies ist ein wichtiger Punkt.
({2})
Im Pflichtenheft für die nächste Verhandlung stehen der
Schutz tropischer Wälder, die Aufforstung und die Biodiversität. All das ist wichtig.
Ich will aber auch etwas zur Finanzierung sagen. Sehr
geehrte Herren und Damen, die Bundesregierung wird
ihre Zusage einhalten, zusätzliche Finanzmittel für die
Klimaschutzfinanzierung bereitzustellen. Mit dem
jüngst beschlossenen Bundeshaushalt 2011 ist ein weiterer Baustein gesichert. Deutschland wird in den Jahren
2010 bis 2012 rund 4 Milliarden Euro für Klimaschutzvorhaben in Entwicklungsländern bereitstellen, davon
1,26 Milliarden Euro im Rahmen der in Kopenhagen angekündigten zusätzlichen Fast-Start-Finanzierung. Über
80 Prozent dieser Summe werden vom BMZ bereitgestellt. Damit ist das Entwicklungsministerium der wichtigste deutsche Finanzier klimapolitischer Maßnahmen.
Auch das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt.
({3})
Ich habe mich gefreut, beispielsweise bei Gesprächen
mit den NGOs, auch zu hören, dass sie unsere Definition
von „neu und zusätzlich“ - es gibt keine internationale
Definition dafür - sehr gut gefunden und gelobt haben.
({4})
- Sie waren bei den Gesprächen nicht dabei; bleiben Sie
ganz ruhig.
({5})
Die Transparenz ist wirklich sehr gut. Wir haben auf
dieser Konferenz unsere Daten veröffentlicht und genau
dargestellt, wie sich die Finanzierung zusammensetzt.
Dies wurde ausdrücklich begrüßt. Im Übrigen sind wir
als Deutsche die Einzigen, die eine solche Transparenz
bei der Mittelbereitstellung aufweisen.
({6})
Auch das, finde ich, muss erwähnt werden und ist sehr
positiv.
({7})
Des Weiteren wurde der Green Climate Fund, also der
Grüne Fonds, der bereits in Kopenhagen beschlossen
wurde, in ein neues Instrument überführt. Er wurde formell eingerichtet, und es wurde ein vorläufiger Verwaltungsrat eingesetzt, der den Fonds aufbauen und gestalten soll. Auch dies ist ein wichtiger Punkt auf dem Weg
zu einer wirklich kohärenten Arbeit.
Zum Schluss, sehr geehrte Herren und Damen, liebe
Kollegen und Kolleginnen, freut es mich, darauf aufmerksam machen zu können, dass just in diesem Moment die Unterzeichnung des Fusionsvertrags der GIZ,
der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit,
läuft. Das bedeutet, dass wir mit einer so effizient gestalteten Durchführungsorganisation, wie es die neue GIZ
sein wird, und zusammen mit der KfW, was die Finanzierung der Projekte angeht, unsere Projekte effizient am
Markt platzieren werden. Auch dies findet - jedenfalls
habe ich es so erfahren - große internationale Anerkennung. Damit sind wir auch bei der Durchführung von
Projekten mit Blick auf die Entwicklungsländer und die
Schwellenländer, die von uns eine solche effiziente Zuarbeit erwarten, auf einem guten Weg.
Ich kann nur hoffen, dass dieser Fortschritt, diese
große Leistung, die wir erbracht haben, wirklich genügend gewürdigt wird. Ich danke allen hier im Hause, die
daran sehr gut mitgearbeitet haben, dass diese Fusion zustande kommen konnte. Das war keine Selbstverständlichkeit - das wissen Sie -, sondern ein großer Kraftakt.
Ich bin stolz darauf, freue mich darüber, dass dies gelungen ist, und hoffe, dass wir mit gutem Gepäck zur nächsten Klimakonferenz nach Durban gehen und dort die Ergebnisse erzielen können, die wir uns noch wünschen;
denn es bleibt noch viel zu tun. Wir wollen diese Arbeit
gemeinsam angehen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Einschätzung zu Cancún scheint selbst bei den meisten
Umweltverbänden durchaus positiv zu sein, sieht man
einmal vom BUND ab. Aber ich halte diesen Jubel nicht
für angebracht; denn an den Verhandlungsergebnissen
kann es ja wohl nicht liegen. Ich habe mich gefragt, warum sie das so einschätzen, und ich vermute, dass es eher
eine Art Stockholm-Syndrom ist. Sie erinnern sich: Geiseln solidarisieren sich in scheinbar aussichtsloser Lage
gelegentlich mit den Geiselnehmern. Als Geiselnehmer
bezeichne ich diejenigen, die mittlerweile seit Jahrzehnten blockieren.
Hier geht es nicht um die Regierung von Bolivien,
sondern um die USA, Japan und verschiedene Ölstaaten,
({0})
also um Staaten mit enormer Wirtschaftskraft und hohem CO2-Ausstoß. Es geht um Länder und Interessengruppen, die der Weltgemeinschaft zynisch ihre Regeln
aufzwingen. Sie heißen: Umweltschutz nur so weit, wie
es Konzerne und Establishment zulassen. An diesen
Staaten orientieren sich dann gerne Schwellenländer, die
nicht einsehen, warum gerade sie auf Wachstum verzichten sollen. Der Pro-Kopf-Ausstoß zum Beispiel von
China und Indien ist wesentlich niedriger. Das müssen
wir immer wieder betonen. Die EU will erst dann in Vorleistung gehen, wenn andere Industriestaaten mitziehen.
Die Bundesregierung unterstützt noch immer diese passive Haltung. Frau Kanzlerin Merkel blockiert hier. Die
Opposition muss Herrn Röttgen mächtig unterstützen,
damit das noch etwas wird.
({1})
Für uns ist der wichtigste Schluss aus Cancún: Die
EU muss sich sofort und bedingungslos verpflichten, bis
2020 den CO2-Ausstoß um 30 Prozent, ausgehend vom
Jahr 1990, zu reduzieren. 20 Prozent sind ein Witz.
Wenn wir die Beschlüsse von Cancún ernst nehmen,
dann müssen wir einsehen, dass eine höhere Reduktion
dringend notwendig ist. Was heißt das? Die Industriestaaten sollen - darüber ist in Cancún diskutiert worden bis 2020 ihren Ausstoß um 25 bis 40 Prozent mindern.
Das steht so nicht drin, wie fälschlich immer behauptet
wird, sondern es ist nur als Kenntnisnahme der entsprechenden Stelle im UN-Klimabericht formuliert. Aber ich
denke, das sollte uns reichen.
In Wirklichkeit liegt der Jubel über Cancún nur an
den heruntergeschraubten Erwartungen. Das Ergebnis ist
leider sehr mager. Das 2-Grad-Ziel wird nach Kopenhagen und G 8 nun schon zum dritten Mal gefeiert. Welch
ein Fortschritt nach 15 Jahren Forschung über Klimawandel und seine Folgen! Ich halte es auch für eine tolle
Leistung, dass konkrete Minderungsziele wieder vertagt
wurden. Es gibt keine konkreten Minderungsziele. Im
Dokument lässt sich kein einziges verbindliches Ziel finden, nicht einmal für Gruppen von Ländern, auch kein
Langfristziel bis 2050. Schauen Sie sich die freiwilligen
Zusagen an! Wenn ich diese addiere, dann komme ich
auf eine Klimaerwärmung um 3,5 Grad; es kann auch
mehr sein. Herzlichen Glückwunsch!
Im Übrigen hat Bolivien recht: Bei einer Erwärmung
um 2 Grad wird der Meeresspiegel langfristig um 2 bis
3 Meter steigen. Die Abgeordneten von Bangladesch haben uns klargemacht, dass 18 Prozent der Landesfläche
versinken werden, wenn der Meeresspiegel um nur
1 Meter steigt. Das betrifft 30 Millionen Menschen. Das
sind keine Peanuts. Was passiert dann mit den Umweltflüchtlingen?
In Cancún blieb wieder vollkommen offen, welche
Industriestaaten die Klimaschutzmaßnahmen und Anpassungsmaßnahmen im globalen Süden in welcher
Höhe bezahlen sollen. Frau Kopp, was Sie gesagt haben,
ist nicht richtig. Fragen Sie einmal Oxfam und andere
Initiativen! Wir reden wieder über ungedeckte Schecks.
Es gab auch keine Einigung zur Finanzierung des globalen Waldschutzes. Dafür wurde die unsägliche CO2Verpressung als vermeintliches Klimaschutzinstrument
etabliert. Im Dokument steht, es werde sichergestellt,
dass zwischen dem Auslaufen des Kioto-Protokolls 2012
und einem neuen Abkommen keine Lücke entsteht.
Auch das ist nur Prosa. Auf die Ratifizierung hat die UN
überhaupt keinen Einfluss. Beim Kioto-Abkommen hat
sie sieben Jahre gedauert.
Zum Schluss. Es mag sicherlich kleine Fortschritte in
Cancún gegeben haben. Der größere Erfolg ist für uns,
dass der UN-Prozess nicht gänzlich gescheitert ist. Angesichts dessen, was klimapolitisch notwendig wäre,
muss ich aber sagen, dass wir nach 18 Jahren Klimadiplomatie leider wieder am Anfang stehen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Ott von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind
in Cancún gerade noch einmal davongekommen. Dass es
überhaupt ein Ergebnis gegeben hat, grenzt an ein Wunder. Ich möchte mich zunächst dem Lob einiger Kolleginnen und Kollegen für die gute Betreuung, die wir
durch das BMU erfahren haben, anschließen. Die Betreuung war hervorragend. Ebenso loben möchte ich die
Verhandlerinnen und Verhandler aus dem BMU und anderen Ministerien, die trotz großem Schlafdefizit enorm
viel geleistet haben.
Die in Cancún erzielten Ergebnisse sind allerdings
nur das absolute Minimum. Sie besagen nichts weiter,
als dass der multilaterale Prozess im Rahmen der UN
fortgesetzt wird. Das ist auch gut so. Erträglich ist dieses
Ergebnis allerdings nur vor dem Hintergrund des totalen
Scheiterns.
Das Ergebnis von Cancún als Durchbruch zu bezeichnen, so wie es der zuständige Minister Röttgen getan hat,
ist allerdings etwas sehr kühn; denn außer einem Auftrag
zum Weitermachen ist ja nichts entschieden. Es fehlt alles, was ein gutes Verhandlungsmandat ausmacht. Es
fehlt zum Beispiel an einem Endtermin für die Verhandlungen. Soll denn nächstes Jahr in Durban ein Durchbruch gelingen und ein Abkommen abgeschlossen werden oder erst im Jahr 2012 in Katar oder, hoffentlich, in
Südkorea? Es fehlt auch jeglicher Hinweis auf die rechtliche Form. Was soll denn eigentlich verhandelt werden?
Ein rechtlich verbindlicher Vertrag, so wie es sinnvoll
erscheint, oder doch nur ein einfacher Beschluss ohne
Durchschlagskraft? Den Rest der Defizite spare ich mir.
Herr Minister, es tut mir leid, aber das Ergebnis von
Cancún ist nicht nur kein Durchbruch. Es besteht auch
keine Veranlassung dafür, dass Sie sich diesen winzig
kleinen Erfolg an die stolzgeschwellte Brust heften. Im
Gegenteil, dass die Ergebnisse von Cancún so schwach
sind, dafür sind auch Deutschland und die EU verantwortlich.
({0})
Symptomatisch dafür war Ihre Rede vor dem Plenum
in Cancún. Das war eine typische klimapolitische Sonntagsrede: schön, aber ohne Substanz. Es war wie immer.
Sie blinken „grün“ mit ökologischer Modernisierung
und biegen dann ab ins schwarz-gelbe Nirwana. Wo war
denn das Bekenntnis zum 30-Prozent-Ziel für die Europäische Union? Nach der Konferenz haben Sie sich wieder dazu bekannt. Warum nicht dort, wo es wirklich Sinn
macht, um die Verhandlungen zu beeinflussen? Wer hat
Ihnen das herausgestrichen?
Ich glaube Ihnen und Ihrem Hause ja, dass Sie etwas
bewegen wollen, aber Sie müssen sich auch darum bemühen, sich innerhalb Ihres Kabinetts ab und zu durchzusetzen. Im letzten Jahr ist erschreckend wenig geschehen in der Klimapolitik. Sie haben sich vermutlich vor
allem auf die Wahl für den Vorsitz Ihres Landesverbandes konzentriert. Das haben Sie erreicht. Jetzt ist es wieder an der Zeit, sich auf Ihren eigentlichen Job als Umweltminister zu konzentrieren;
({1})
denn ein erfolgreicher Minister muss sich wenigstens ab
und zu mit seiner Position auch in der Bundesregierung
wiederfinden. Darum ist es jetzt Zeit, sich um Ihren Kollegen Brüderle zu kümmern, der Ihnen permanent in die
Suppe spuckt, hier in Berlin und auch in Brüssel. Sie
müssen sich von diesem Klotz am Bein befreien, sonst
wird Ihre Klimapolitik nicht fliegen können.
({2})
Wolfgang Kubicki, der Fraktionsvorsitzende der FDP
in Schleswig-Holstein, hat den Zustand der FDP mit der
Spätphase der DDR verglichen. Abgesehen davon, dass
geschichtliche Vergleiche in der FDP eine etwas unglückliche Tradition haben, sind die Parallelen in der
Klimapolitik offensichtlich. Da ist zum Beispiel der absolute Realitätsverlust, der große Teile der FDP bei der
Klimapolitik auszeichnet, wo der drohende Klimawandel überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird. Und
da ist zweitens das verkrampfte Festhalten an alten
Strukturen. Der Wirtschaftsminister verteidigt verbissen
die alten fossil-atomaren Energiesysteme und bekämpft
die Wende hin zu einer solaren Gesellschaft auf Basis
der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz. Das
erinnert doch sehr an die Spätphase der DDR, meine Damen und Herren.
Herr Kollege Kauch, es reicht nicht, ab und zu die
Opposition im Bundestag das Fürchten zu lehren. Das
können Sie sehr gut, das werden Sie gleich wieder unter
Beweis stellen. Aber Herr Minister Brüderle ist Ihr
Minister, und es ist an der Zeit, dass Sie ihn einmal zur
Ordnung rufen, wenn Ihnen etwas am Erfolg des Klimaschutzes liegt und - so darf ich hinzufügen - wenn Ihnen
etwas daran liegt, nicht in der Spätphase der FDP mit in
den Strudel gerissen zu werden.
Die Ergebnisse von Cancún sind kein Freibrief für
Nichtstun, sondern ein Auftrag zum entschlossenen
Handeln. Es muss Vorreiter geben, die den Worten auch
Taten folgen lassen. Wir brauchen deshalb eine Klimapolitik der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Jetzt
müssen die Partner für eine Klimaallianz geworben werden - ohne die USA. Die können es aufgrund ihrer innerpolitischen Lage und ihrer verfassungsrechtlichen
Vorschriften nicht leisten. Ich muss es noch einmal sehr
deutlich sagen: Wer ein Kioto-Folgeabkommen mit den
USA anstrebt, der will in Wirklichkeit überhaupt kein
Abkommen, oder er will es erst am Sankt-NimmerleinsTag. Aber vorher ist Wahltag.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat jetzt der Bundesumweltminister
Dr. Norbert Röttgen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer in der Nacht die Erleichterung,
die Freude und - ich glaube nicht, dass es übertrieben
ist, es so zu sagen - das Glück in den Gesichtern von
Teilnehmern aus China, Indonesien, Indien, den USA,
Frankreich, Großbritannien, Deutschland gesehen hat
- manche Teilnehmer haben es schon geschildert -, der
hat ein Gefühl dafür bekommen, was erreicht worden ist.
Wenn es gelingt, eine Katastrophe zu vermeiden, ist viel
erreicht. Darum würde ich Sie bitten, darüber einfach
noch einmal nachzudenken.
Wer das erlebt hat, wer das mitempfunden hat und
wer die Dimension der Menschheitsherausforderung
Klimawandel verinnerlicht hat, muss, glaube ich, zu dem
Schluss kommen: Ihre kleinkarierte, provinzielle Mäkelei ist einfach deplatziert.
({0})
- Hören Sie doch einmal zu! Es gibt vielleicht ein paar
Themen und Herausforderungen, die wirkliche Menschheitsfragen sind,
({1})
die zu bedeutend sind, als dass man sie immer nur unter
der sozialdemokratisch-provinziellen Brille betrachten
dürfte. Vielleicht gibt es einmal eine größere Dimension,
der man gerecht werden will.
({2})
- Zu Ihnen komme ich gleich noch etwas genauer.
Es gibt überhaupt nichts schönzureden. Es ist ein
Gradmesser für die Glaubwürdigkeit, dass wir hier, die
Politik, Kriterien des Erfolgs vorher benennen und sie
nachher anwenden. Das habe ich zum Beispiel zu
Kopenhagen im letzten Jahr auch gemacht. Ich habe vorher die Erfolgsbedingungen benannt, habe darum in Kopenhagen und auch hier im Bundestag erklärt: Das ist
weitgehend gescheitert. - Es gibt keinen Grund, das zu
beschönigen. Es war am Ende sogar noch etwas mehr,
als ich gesagt habe; denn der sogenannte Copenhagen
Accord hat sich als lebensfähig erwiesen. Wir haben
jetzt darauf aufgebaut.
Ich habe vor Cancún gesagt: Es wird keinen Durchbruch geben. Den zu erwarten, ist nicht realistisch. Was
wir erreichen können, ist ein ausgewogenes Paket von
einzelnen Entscheidungen, für die sich alle bewegen
müssen. Das ist dann ein fairer Kompromiss. Das ist
machbar. Das ist aber überhaupt nicht gesichert.
Wer tagelang und auch nächtelang dort gesessen hat
und dann miterlebt hat, dass förmlich in letzter Minute
die mexikanische Präsidentschaft einen Vorschlag von
einer Qualität und Reichweite vorgelegt hat, mit dem die
Versammlung nicht mehr gerechnet hat, der weiß zu
schätzen, was erreicht worden ist. Dafür, dass es erreicht
worden ist, bin ich dankbar, weil es gemeinsam erreicht
worden ist.
Herr Ott, man braucht sich nicht mit Feststellungen zu
beschäftigen, die keiner getroffen hat. Ich habe immer
gesagt: Es ist kein Durchbruch zu erwarten. Ich habe nie
behauptet, dass es ein Durchbruch war. Wenn Sie mir
jetzt unterstellen, ich hätte es doch gesagt, drückt das ein
bisschen Ihre intellektuelle Not aus, sich mit dem Ergebnis zu beschäftigen. Warum haben Sie die? Weil Sie aus
parteipolitischen Gründen nicht bereit sind, sich mit der
Qualität dieses Ergebnisses, aber auch mit der Problematik, die ihm innewohnt, seriös zu beschäftigen. Legen
Sie doch diese Haltung ab!
({3})
Das wird Ihnen nicht gerecht und dem Thema schon gar
nicht.
({4})
Was haben wir erreicht? Wir haben erreicht, dass die
Staatengemeinschaft ihre Handlungsfähigkeit bewiesen
hat. Das ist deshalb eine gewichtige Feststellung, weil
das Scheitern an dieser Stelle möglich war. Wenn nicht
nur Bolivien dagegen gewesen wäre, sondern auch ein
anderer Staat, dann wäre schon sehr fraglich gewesen,
ob es zu diesem Ergebnis hätte kommen können. Das
zeigt, wie dünn das Eis ist. Mit deutschen Belehrungen,
dass am deutschen Wesen die Welt zu genesen habe,
kommen wir leider international nicht weiter.
({5})
Davon können wir uns wechselseitig überzeugen. Die
Welt ist etwas komplizierter, als dass Sie immer gleich
wissen könnten, wie es für alle auf der Welt zu machen
ist.
({6})
Dass die Staatengemeinschaft die Handlungsfähigkeit
- fast würde ich es so sagen - wiederhergestellt hat, erhalten hat, ist von enormer Bedeutung, weil ein Zeichen
unserer Zeit ist, dass sich globale Herausforderungen ergeben, dass es aber noch keine globale Handlungsmacht,
keine globale Handlungsstruktur gibt. Die muss sich erst
entwickeln - mit aller Mühsal, bei allen Interessengegensätzen, die vorhanden sind. Dass es gelungen ist, die
Interessen wirtschaftlicher Art, politischer Art, machtpolitischer Art, zusammenzubringen, ist ein wesentlicher
Teil des Erfolgs.
({7})
Aber es ist auch ein inhaltlicher Erfolg. Zum ersten
Mal ist das 2-Grad-Ziel von der Staatengemeinschaft
förmlich anerkannt worden.
Darüber müssen sich doch alle freuen, die am Klimaschutz interessiert sind. Wie kann man das ignorieren?
Wir haben das erreicht.
({8})
Die entsprechenden Instrumente sind mit erarbeitet
worden, ob es der internationale Waldschutz ist, ob es
die Technologiekooperation ist, ob es die Langfristfinanzierung ist oder ob es die Transparenzregeln sind. Das ist
gut. Darauf können wir weiter aufbauen.
All das ist selbstverständlich mit europäischer Beteiligung geschehen. Ich habe es auch hier schon mehrfach
ausgeführt: Die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union allein haben nicht die Fähigkeit und nicht
die Macht, diesen Prozess zu steuern. Wir müssen unsere
Möglichkeiten und unseren Willen einbringen, damit
Europa mit einer klaren Stimme spricht und entschieden
gegen den Klimawandel antritt. Das ist die Aufgabe
deutscher Politik. Europa ist auch die Interessenvertretung unseres deutschen Nationalstaates. Und so verhalten wir uns. Europäische Interessenvertretung dient auch
unseren Interessen, und so haben wir das eingebracht.
({9})
Ich glaube, es ist ein Erfolg, dass es seit 1997, seit
Kioto, zum ersten Mal wieder eine dermaßen umfassende völkerrechtliche Entscheidung gibt. Das ist seit langen, langen Jahren nun wieder der Fall. Vor uns liegt auch
weiterhin ein schwieriger Prozess, aber nicht, weil etwa
eine unwillige deutsche Bundesregierung die 40 Prozent CO2-Reduzierung einseitig und unkonditioniert beschlossen hätte. Es ist doch nicht das Problem, dass die
deutsche Regierung nicht vorangeht.
({10})
Die Frage ist doch: Schaffen wir es, daraus einen weltweiten Akkord, ein weltweites Niveau abzuleiten?
Wir sind die Vorreiter, und wir wollen die Vorreiter in
diesem Prozess sein. Das ist doch überhaupt keine Frage.
({11})
Wir haben eine Vorreiterrolle, weil wir ein Energiekonzept zu einer Treibhausgasreduzierung von 80 bis
95 Prozent vorgelegt haben.
({12})
Der Primärenergieverbrauch soll um 50 Prozent - das
haben wir hier im Deutschen Bundestag beschlossen reduziert werden. Das konnten wir darlegen. Deutschland ist in Europa als Treiber akzeptiert, und Europa ist
weltweit als Treiber akzeptiert. Das ist ohne jede Frage
unsere Politik, die wir betreiben.
({13})
Aber es ist trotzdem nicht so einfach. Wir als deutsche Bundesregierung wollen ein international einheitliches, rechtlich verbindliches Abkommen für alle Staaten. Das ist unsere Position, aber das ist noch nicht der
Stand der Verhandlungen.
Wenn wir dieses Ziel nicht erreichen können, dann
sind wir auch für eine zweite Verpflichtungsperiode des
Kioto-Protokolls bereit. Das ist schon ein „Weniger“,
weil es bedeutet, dass man die zwei rechtlichen Stränge
beibehält. Aber wir stellen auch inhaltliche Anforderungen an die zweite Verpflichtungsperiode. Sie muss auch
wirksam sein. Die heiße Luft, die im aktuellen KiotoProtokoll noch enthalten ist, muss beseitigt werden. Darüber müssen wir mit den Ländern reden, die sie als ihren rechtlichen Besitzstand verteidigen wollen, etwa
Russland.
Aber das Kioto-Protokoll selber und unsere Bereitschaft, weiterzumachen, lösen das Problem nicht. Das
Kioto-Protokoll deckt 27 Prozent - nicht 100 Prozent der globalen CO2-Emissionen ab. Das heißt, wir brauchen die Beiträge der großen Emissionsländer - China
und USA -, damit sich hier etwas bewegt.
({14})
Das alles führt uns zu der entscheidenden Frage des
Selbstverständnisses. Was ist das Selbstverständnis von
Klimaschutzpolitik? Das ist in der Tat die entscheidende
Frage. Ich möchte diese Frage - wie immer - eindeutig
beantworten: Erstens. Es ist eine moralische Verpflichtung, die Lebensgrundlagen dieses Planeten für unsere
Kinder und Enkelkinder und die nächsten Generationen
zu erhalten. Das ist eine Verpflichtung, die wir heute zu
erfüllen haben; dieser Aufgabe wollen wir gerecht werden.
({15})
Zweitens. Es ist eine große Chance, Lebensqualität zu
sichern. Es ist eine große Wachstumschance auf der Basis einer anderen Vorstellung von Wachstum, nämlich
der qualitativen Vorstellung von Wachstum, durch neue
Technologien Marktanteile, Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätze zu erhalten. Es ist unsere europäische und
deutsche Chance.
Darum stimme ich zum Beispiel mit dem Bundesaußenminister völlig überein, der öffentlich gesagt hat:
Europa und Deutschland sollen und werden ihre Vorreiterrollen behalten. Das ist unsere Position, weil wir Herausforderer sein wollen. Wir wollen vorangehen.
({16})
Dazu gehört, das 40-Prozent-Ziel, das wir vorgegeben
haben, auf die EU auszuweiten. Deshalb trete ich seit
langem in der EU ausdrücklich dafür ein, eine europäische Position zum 30-Prozent-Ziel zu erreichen. Das ist
meine Position in Europa und hier in Deutschland.
({17})
Es liegt in unserem Interesse, dass die anderen europäischen Länder Anschluss halten. Aber auch dabei ist
nicht die Frage, ob Deutschland dazu bereit ist, sondern
die Frage ist, ob die anderen Länder in Europa dazu bereit sind.
({18})
Man braucht die anderen als Partner, um auf diesem Gebiet etwas zu erreichen. Das ist das Problem. Wir sind
bereit, voranzugehen, weil wir darin eine Verpflichtung
und eine Chance sehen. Es stellt erstens außenpolitisch
eine Chance für uns dar, weil Klimaschutz eines der
wichtigsten außenpolitischen Aktionsfelder Deutschlands ist. Es stellt zweitens wirtschaftlich eine Chance
für uns dar, weil wir nur durch entsprechende Anreize
und Ambitionen unsere Technologieführerschaft behalten, die ja Basis für unseren Wohlstand und unser
Wachstum ist. Es ist drittens notwendig, um den nötigen
Klimaschutzbeitrag zu leisten. Das werden wir tun. Dafür setzen wir uns ein.
Die Kunst besteht allerdings nicht darin - das haben
die mexikanische Präsidentschaft und ihre Außenministerin gezeigt -, die Welt zu belehren, dass man weiß, wie
es geht, und alle anderen das zu akzeptieren haben, sondern die Kunst besteht darin, offen und gesprächsbereit
zu sein und die anderen partnerschaftlich von unseren
Vorstellungen zu überzeugen.
({19})
Diese Demut müssen wir als Deutsche und Europäer
schon aufbringen. Auf dieser Basis werden wir unsere
Vorreiterrolle zum Wohl des Klimaschutzes und zum
Wohle unseres Landes aktiv ausfüllen.
Herzlichen Dank.
({20})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundesumweltminister, was ist los? So empfindlich
haben Sie selten reagiert. Anscheinend sind die Argumente, die hier von der Opposition gekommen sind,
doch nicht so falsch.
({0})
Ich glaube, es geht hier nicht um Belehrung der Welt
durch Deutschland, sondern es geht hier um das Wahrnehmen einer Vorbildfunktion, um aktive Schritte in der
Klimapolitik.
({1})
Hier versagen Sie augenblicklich, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({2})
Es bringt nichts, in großen Hochglanzbroschüren
2050er-Szenarien zu malen. Hier geht es vielmehr um
Förderung von Erneuerbaren statt Wiedereinstieg in die
Atomtechnologie. Sie sind somit auf dem völlig falschen
Weg. Auf der einen Seite so zu handeln, zugleich aber
schöne Worte zu machen, das bringt nichts. Das merkt
auch die internationale Staatengemeinschaft.
({3})
Wenn Sie, Herr Bundesumweltminister, uns vorwerfen, unseriös zu handeln, dann frage ich mich, ob es
nicht erst recht unseriös war, als die Parlamentarische
Staatssekretärin eben gesagt hat, die Bundesregierung
sei in Cancún dafür gelobt worden, dass sie ihre Versprechungen bezüglich zugesagter Mittel in Sachen Entwicklungshilfe wahrgemacht habe. Nennen Sie uns, Frau
Kopp, bitte die NGO, nennen Sie bitte uns die Organisation, die so etwas gesagt hat. Alle Verlautbarungen gingen in die Richtung, dass die Bundesregierung massiv
dafür kritisiert wurde, dass sich von den zugesagten Mitteln bislang erst 10 Prozent in den Haushalten wiederfinden.
({4})
Das ist eben die Diskrepanz zwischen Taten und Worten, Herr Bundesumweltminister. Es geht hier nicht um
Belehrung, sondern um aktives Vorgehen. Das misst sich
nicht an Worten. Vielmehr muss Deutschland der internationalen Staatengemeinschaft klarmachen, dass es diesen Weg wagt. Ich nehme Ihnen Ihre Ziele und Ihre
Absichten ab, vor allem auch Ihre christliche Verbundenheit, und sehe die Größe der Aufgabe, die Sie vor
sich haben. Ich glaube, dass auch Sie momentan
Schmerzen verspüren angesichts der Konstellation, in
der Sie sich bewegen. Als Daheimgebliebener kann ich
Ihnen sagen, was hier in den Tagen, in denen Sie in Cancún verhandelt haben, los gewesen ist. Wir haben das an
mehreren Stellen problematisiert.
So hat die umweltpolitische Sprecherin der CDU/
CSU-Fraktion, Frau Dött, wieder einmal nachgelegt. Sie
hat in einem Interview mit der Zeit gesagt, es sei verdächtig, wenn sich alle immer nur auf den IPCC berufen.
({5})
Ihr Berater sei wohl bleich geworden - so schreibt es jedenfalls der Reporter der Zeit - und hat dann gesagt, das
wissenschaftliche Gremium IPCC sei schon Maßstab des
Handelns. Wie hat darauf die umweltpolitische Sprecherin reagiert? Sie hat mit dem Kopf geschüttelt.
({6})
Das sind Dinge, die man problematisieren muss. Es kann
doch nicht sein, dass die umweltpolitische Sprecherin
der größten Koalitionsfraktion das Regelwerk, auf dem
alles aufbaut, an dem Hunderte von Wissenschaftlern in
zwischenstaatlichen Organisationen arbeiten, infrage
stellt.
Das ist die Widersprüchlichkeit, die außen ankommt.
({7})
Herr Kauch - Sie reden nach mir -: Ihr Kollege
Martin Lindner - nicht der Generalsekretär - sprach von
dogmatischen Schreihälsen, die so tun würden, als ob die
Eisbären wieder in Norddeutschland Einzug hielten,
wenn wir die CO2-Ausstöße senken würden. Ich weiß
nicht, wozu die 14 Prozent, die Sie bei der Bundestagswahl bekommen haben, geführt haben. Da sind anscheinend Leute ins Parlament gespült worden, die die elementare Menschheitsaufgabe nicht begreifen und hier
Sprüche von sich geben, die völlig unangemessen sind,
zumal wenn Sie in Cancún deutsche Interessen vertreten.
({8})
Das entscheidende Argument lautet - Herr Döring, da
können Sie auch noch lernen, Ihre Sprüche sind nicht
viel besser -, dass es wie in der UNO darum geht, dass
man Allianzen schmiedet, die über Legislaturperioden
hinausreichen. Deshalb sage ich Ihnen: Wir werden Ihnen die Hände reichen. Deswegen werden wir Ihnen im
nächsten Jahr konkret anbieten: Lassen Sie uns einen
Entschließungsantrag auf den Weg bringen, in dem sich
der Deutsche Bundestag dafür ausspricht, dass die Europäische Union unkonditioniert ein 30-Prozent-Minderungsziel aufgreift.
({9})
Lassen Sie uns ein Klimagesetz verabschieden, in das
wir nicht Minderungsziele für 2020 oder 2030 hineinschreiben, sondern in dem wir festlegen, kontinuierlich
alle zwei oder drei Jahre zu überprüfen, wie weit wir
sind. Lassen Sie uns miteinander in die Haushalte hineinschreiben, wie wir den Schwellen- und Entwicklungsländern in den kommenden Jahren helfen wollen.
Das sind konkrete Schritte und keine Hochglanzankündigungen für 2050. Dann haben wir, so glaube ich,
Chancen, auch in Durban wieder eine Vorreiterrolle einzunehmen. Das wünsche ich jedenfalls uns und der
Menschheit.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht
um die Zukunft des Planeten. Es geht um die Zukunft
der kommenden Generationen. Dieser Opposition fällt
jedoch in dieser Debatte nichts anderes ein, als innenpolitische Beschimpfungen zu bringen. Das wird dem
Anspruch nicht gerecht, den wir an die Klimapolitik zu
stellen haben.
({0})
Richtig billig war zum Beispiel der Kollege Ott mit
sachfremden Attacken, die nichts mit der Klimapolitik
zu tun haben. Wie die Geier warten Sie offensichtlich
darauf, dass die FDP in sich zusammenfallen wird. Das
hat Ihnen die Fraktionsführung wahrscheinlich aufgeschrieben.
({1})
dass man das jetzt in jeder Debatte sagen muss.
({2})
Ich kann Ihnen nur sagen: Sie werden niemals die Erben der FDP werden; nicht nur deswegen, weil es keinen
Erbfall gibt, sondern auch, weil Sie höchstens die Erb8970
schleicher wären. Denn Sie sind doch nichts anderes als
eine grünlackierte Linkspartei mit bürgerlicher Maske.
Die Kraft der Freiheit hat 150 Jahre Tradition. Die
Kraft der Freiheit wird diese Krise ebenso überstehen,
wie sie jede Krise zuvor überstanden hat.
({3})
- Sie können hier ja noch nervöser werden.
({4})
Ich fand es zum Beispiel total peinlich, was Herr
Gabriel gemacht hat. Herr Gabriel hat am letzten Donnerstag während der Weltklimakonferenz ein Interview
gegeben, in dem er erklärte: Dabei wird nichts rauskommen. Im Übrigen ist die EU schuld, und deswegen sowieso die Bundesregierung. - Das hat es noch nie gegeben, dass ein Parteivorsitzender einer deutschen, im
Parlament vertretenen Partei der Bundesregierung derart
in den Rücken fällt, und das, während die Bundesregierung in Cancún um ein Ergebnis für den Klimaschutz
ringt. Das ist stillos, gerade für den Amtsvorgänger von
Herrn Röttgen. Das ist peinlich,
({5})
und es zeigt: Der Opposition geht es nicht um das Klima.
Ihnen geht es nur darum, Ihr innenpolitisches Süppchen
zu kochen.
({6})
Das ist so etwas von schäbig. Es nützt nichts, aber es
schadet den deutschen Interessen.
({7})
Deutschland wird Vorreiter im Klimaschutz sein. Der
Bundesaußenminister hat das für die Bundesregierung
sehr deutlich gemacht. Die beschlossenen CO2-Minderungsziele - 40 Prozent bis 2020, 80 bis 95 Prozent bis
2050, national und einseitig - sind ein Signal der Glaubwürdigkeit Deutschlands insbesondere gegenüber den
Schwellen- und Entwicklungsländern. Die anderen europäischen Staaten sind gefordert, ein vergleichbares Signal zu geben. Deshalb muss die EU ihr Ziel der Verringerung der CO2-Emissionen um 20 Prozent vor der UNKlimakonferenz 2011 anheben. Dies erfordert auch, die
Einigung von Cancún anzuerkennen, dass die Industriestaaten eine Minderung der CO2-Emissionen um 25 bis
40 Prozent erreichen sollen.
({8})
Bliebe es beim 20-Prozent-Ziel der EU und beim
40-Prozent-Ziel Deutschlands, so müssten in Deutschland vorrangig die Sektoren, die nicht vom Emissionshandel erfasst werden, die Emissionseinsparungen erbringen; dadurch hätten vor allem die Verbraucher die
Kosten zu zahlen, weil der Emissionshandel europäisch
organisiert ist. Wir sagen: Wir brauchen eine Balance der
Anstrengungen von Wirtschaft und privaten Haushalten.
Dabei müssen Produktionsverlagerungen in energieintensiven Branchen vermieden werden. Wir müssen hier
die Balance finden. Deswegen werden wir uns dafür einsetzen, dass sich die Europäische Union hier bewegt.
({9})
Wir müssen nicht nur über die großen Linien streiten:
Werden die Emissionsminderungsziele der Industrieländer erhöht? Welche Beiträge werden vonseiten der
Schwellen- und Entwicklungsländer geleistet? Wir müssen auch einige Detailverhandlungen zu Aspekten führen, die zunächst einmal sehr technisch wirken, aber
große Auswirkungen darauf haben werden, wie effektiv
der Klimaschutz sein wird. Das betrifft insbesondere die
Reform des sogenannten Clean-Development-Mechanismus, also die Frage, inwiefern deutsche Unternehmen,
die ihre Auslandsprojekte umweltverträglich ausgestalten, ihren dort erzielten Beitrag zur Senkung der CO2Emissionen auf die entsprechenden Verpflichtungen im
Inland anrechnen können. Die FDP - das sage ich sehr
deutlich - will diesen Mechanismus; sie will, dass er
stärker genutzt wird, dass er gerade in den Ländern, für
die er eigentlich gedacht ist - beispielsweise in den afrikanischen Staaten -, tatsächlich handhabbar und unbürokratischer wird.
Auf der anderen Seite verlangen wir, dass es nicht
zum Ökodumping kommt. Deshalb sage ich an dieser
Stelle sehr klar: Wir müssen bei der Frage der Unabhängigkeit derjenigen, die diese Projekte überprüfen, nachverhandeln. Wir müssen mehr Rechtsstaatlichkeit in die
Verfahren bringen, sodass sich Unternehmen gegen Entscheidungen der Verwaltung wehren können. Ich sage
auch ganz eindeutig: Das Dumping mit Industriegasen
wie HFC-23 muss ein Ende finden, wenn nicht im UNProzess, dann auf europäischer Ebene.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kauch, Sigmar Gabriel hat als Umweltminister für
eine Politik gestanden, erneuerbaren Energien in
Deutschland und weltweit zum Durchbruch zu verhelfen. Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht so aufblasen,
wenn Sie hier als Vertreter der FDP sprechen, einer Partei, die im Augenblick nicht nur in Deutschland ins
Steinzeitalter der Atomkraft zurückkehrt, sondern die
Atomkraft auch in Entwicklungs- und Schwellenländern
mit Hermesbürgschaften befördern will. Ich wäre froh,
wenn die Bundesregierung und Sie als Vertreter einer
maßgeblichen Koalitionsfraktion zur vernünftigen Umweltpolitik Sigmar Gabriels zurückkehren und nicht mit
Anschuldigungen um sich werfen würden, die der Sache
wirklich nicht dienen.
({0})
Die Auswirkungen des Klimawandels auf Entwicklungsländer sind dramatisch. Drei Viertel der ärmsten
Menschen leben im ländlichen Raum und sind dringend
darauf angewiesen, dass sie für die Bewässerung ihrer
Felder genug Regenwasser oder Schmelzwasser von den
Gletschern zur Verfügung haben. Bereits jetzt nehmen in
Afrika die Dürren zu; Ernteerträge sinken, Menschen
verhungern. Hinzu kommt die Abschmelzung von Gletschern in Hochgebirgen wie dem Himalaya oder den Anden. Das kann in Ländern wie Indien dazu führen, dass
dort die Reisversorgung in Zukunft ernsthaft gefährdet
wird. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass in
Cancún die Schaffung eines Fonds für Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar beschlossen wurde.
Die ärmsten Menschen dieser Welt haben - ich weiß
das, weil ich schon seit 2002 in diesem Haus Entwicklungspolitik betreibe - auf internationalen Konferenzen
aber schon ganz oft Versprechen erhalten. Im Jahr 2000,
auf der Millenniumskonferenz, haben sie gehört, dass bis
zum Jahr 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens der Industriestaaten für die Armutsbekämpfung
zur Verfügung gestellt werden sollen; im Jahr 2010 sollten es 0,51 Prozent sein. Auch die Bundesregierung hatte
sich dazu verpflichtet.
Frau Staatssekretärin Kopp, was ist passiert? Ihr
Haus, Entwicklungsminister Niebel hat das Versprechen
gebrochen. Wir haben 2010 die Marke gerissen. Wir sind
nicht bei 0,51 Prozent angekommen, und Sie legen eine
Finanzplanung bis 2014 vor, nach der die Mittel für die
Entwicklungszusammenarbeit gekürzt werden. Deswegen können wir Ihnen nicht glauben, wenn Sie sagen,
dass Sie das, was Sie jetzt in Cancún versprochen haben,
halten werden. Sie haben leider immer wieder bewiesen,
dass Sie internationale Versprechen brechen. Das müssen wir hier anprangern; denn den ärmsten Menschen in
den Entwicklungsländern muss es gut gehen, und mit
warmen Worten allein können wir das warme Wetter
nicht bekämpfen. Es müssen endlich Taten folgen.
({1})
Am Dienstag war der ehemalige UN-Generalsekretär
Kofi Annan im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu Gast. Er hat ausdrücklich
gesagt - ich zitiere -: Ich möchte keine neuen Versprechen von Deutschland zur Bekämpfung der Armut und
des Klimawandels, sondern ich möchte die Einhaltung
der bisher gegebenen Versprechen. - Frau Staatssekretärin Kopp, Sie sagen, dass zusätzliche Mittel für den Klimaschutz aufgebracht werden sollen, 80 Prozent davon
beim BMZ. Da muss man sich schon fragen, wo Sie das
Geld hernehmen möchten und wie Sie das mit den Entwicklungsgeldern verrechnen wollen. Wenn Sie alle Mittel, wie es jetzt der Fall ist, auf die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit anrechnen - im Fachchinesisch heißt das ODA-Quote -, dann bedeutet das, dass
am Ende zwei Drittel der 0,7 Prozent, falls wir dieses
Ziel überhaupt jemals erreichen, aus Ausgaben für Umwelt- und Klimaschutz bestehen und wir für die klassische Armutsbekämpfung nichts mehr übrig haben.
({2})
- In den Jahren, in denen wir an der Regierung waren,
Herr Kollege Kauch, haben wir die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit - Stichwort: ODA-Quote von 0,26 Prozent auf faktisch 0,4 Prozent gesteigert. Wir
hätten die Mittel weiter erhöht, aber das ist mit Ihnen
nicht möglich gewesen.
Die sogenannten innovativen Finanzierungsinstrumente, die jetzt auch international in der Diskussion
sind, zum Beispiel die Flugticketabgabe, haben Sie zwar
eingeführt, aber Sie nutzen sie zur Stopfung von Haushaltslöchern und eben nicht zur Stärkung des Bereichs
Umwelt und Entwicklung.
({3})
Zu dem Instrument, bei dem die meisten Mittel zu holen
sind - es geht um die Einführung der Finanztransaktionsteuer -, sagt ausgerechnet Ihr Entwicklungsminister
Niebel bei uns im Ausschuss: Was interessiert mich, was
die Kanzlerin sagt; auch wenn die Kanzlerin das mittlerweile will, bin ich dagegen. - Da frage ich: Wie will man
glaubhaft machen, dass man das Versprechen, das in
Cancún gegeben wurde, einhält, obwohl man die Mittel,
die in Kopenhagen zugesagt wurden, nicht zur Verfügung gestellt hat, obwohl man Mittel in Höhe von 0,51
bzw. 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die
Entwicklungszusammenarbeit nicht in den Haushalt eingestellt hat? Dazu sage ich nur: Es scheint so zu sein,
dass wieder viel versprochen wird, am Ende aber leider
wieder die ärmsten Menschen dieser Erde in die Röhre
schauen werden. Sie gehen leer aus. Sie werden sich der
Fluten, der Witterungsstürme und der Dürren nicht erwehren können. Deswegen werden wir weiter dafür
kämpfen, dass den Versprechen auch Taten folgen. Leider ist diese Regierung auf einem ganz schlechten Weg.
Wir werden alles dafür tun, dass das anders wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Andreas Jung von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will auf drei Fragen eingehen, die in dieser Debatte thematisiert wurden.
Die erste Frage lautet: War dieser Gipfel in Cancún
ein Erfolg? Zunächst einmal ist unstrittig, dass das, wofür wir als Bundesrepublik Deutschland stehen, dass das,
was wir in der EU gemeinsam wollen, nämlich ein international verbindliches Abkommen als Antwort auf einen
schneller voranschreitenden Klimawandel, auf diesem
Gipfel nicht erreicht werden konnte. Das wussten wir
alle schon während der Debatte hier vor dem Gipfel. Andererseits ist es aber so, dass das, was möglich war, dass
das, was auf dem Gipfel greifbar war, am Ende auch tatsächlich erreicht wurde. Das Wichtigste hat die Kanzlerin gestern in ihrer Regierungserklärung unterstrichen.
Es ist erstmals gelungen, das 2-Grad-Celsius-Ziel, also
die Begrenzung der globalen Erwärmung auf höchstens
2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau, in ein
offizielles Dokument der Vereinten Nationen zu schreiben. Sie haben es selber gesagt: Dieses Ziel konnte
15 Jahre lang nicht erreicht werden. Jetzt, im 16. Jahr, ist
es gelungen. Damit ist nach Ihrer eigenen Beschreibung
ein Fortschritt erzielt worden, über den wir uns, bevor
wir fragen, wie es gelingt, dies mit konkreten internationalen Maßnahmen zu unterlegen, zunächst einmal gemeinsam freuen können.
({0})
Darüber hinaus ist es gelungen - dies war in Kopenhagen angedacht worden -, einen Klimafonds einzurichten und die Verabredung zu treffen, dass ab 2020
100 Milliarden US-Dollar im Jahr in diesen Fonds fließen. Es gibt konkrete Verabredungen zur Anpassung, zur
Technologiekooperation und zum Waldschutz. Dies sind
ganz konkrete Ergebnisse und wichtige Schritte auf dem
Weg zu einem völkerrechtlich verbindlichen Abkommen; dies ist unser Ziel. Ich finde, das ist ein gutes Ergebnis.
Die Botschaft von Cancún heißt: Der internationale
Klimaschutzprozess geht weiter. Die Weltgemeinschaft
zerstreitet sich nicht und man verfolgt nicht nur egoistische nationalstaatliche Interessen, sondern - dies wird
unterstrichen - wir sind bereit, die Herausforderung des
Klimawandels gemeinsam anzugehen. Wir wollen gemeinsam zu einem Ziel kommen. Das ist das, was bei
diesem Gipfel erreicht werden konnte.
({1})
Die zweite Frage ist: Wie konnte dieses Ergebnis, wie
konnte dieser Erfolg erreicht werden? Es ist immer so:
Ein Erfolg hat viele Väter. In diesem Fall sind es im
Zweifel alle Staaten, die zu frühmorgendlicher Stunde,
gegen 4 Uhr, in Cancún diesem Paket zugestimmt haben.
Wir wissen: Es gibt auch eine Mutter. Das ist die mexikanische Außenministerin, die mit Herz, mit Hartnäckigkeit und einem Hammerschlag zum Abschluss die Weltgemeinschaft in diplomatisch vorbildlicher Manier
zusammengeführt hat.
Ich finde, es ist unstreitig, dass einer der Väter dieses
Erfolges der deutsche Umweltminister, Dr. Norbert
Röttgen - an der Spitze der deutschen Delegation -, ist.
({2})
Er hat für die Bundesregierung in seiner Plenumsrede in
Cancún herausgehoben, dass wir Klimaschutz vor allem
auch als wirtschaftliche Chance sehen und daraus Konsequenzen gezogen haben. Wir haben in unserem Energiekonzept verbindlich verankert - dies sind Taten, nicht
Worte -, bis 2020 und nicht erst langfristig bis 2050 den
Ausstoß von Treibhausgasen in Deutschland um 40 Prozent zu reduzieren, und zwar egal was andere machen.
Damit wollen wir unsere Vorreiterrolle unterstreichen
und zeigen: Wir gehen voran und warten nicht auf die
anderen, die zögern oder möglicherweise noch bremsen.
Das zeigt - das wurde uns in vielen Gesprächen in
Cancún mit Delegationen aus aller Welt bestätigt -:
Deutschland wird nach wie vor als Vorreiter wahrgenommen. Deutschland ist Vorreiter in diesem internationalen Klimaprozess. Ich glaube, wenn jemand dies anders wahrnimmt und von Mittelfeld spricht, wie es
Sigmar Gabriel getan hat, dann ist das nur so zu erklären, dass man so weit im Abseits steht, dass man nicht
mehr richtig mitbekommt, was vorne passiert.
({3})
Hier gilt es anzuknüpfen. Deshalb ist die dritte Frage:
Was passiert jetzt nach Cancún? Ich glaube, wir haben
mit diesen Schritten von Cancún die Grundlage für eine
neue Dynamik und eine Aufwärtsspirale in diesem internationalen Prozess geschaffen. Darauf müssen wir aufbauen. Deshalb bin ich der Meinung, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, an dem sich die Bundesregierung
in der Europäischen Union klar dafür einsetzen sollte,
das Reduktionsziel von 20 auf 30 Prozent zu erhöhen.
({4})
Damit leisten wir unseren Beitrag - nicht nur als
Deutschland, sondern auch als Europäische Union -, um
Vorreiter in diesem Prozess zu sein. Im Übrigen ist das
auch im deutschen Interesse. Wenn wir bei unserem unbedingten 40-Prozent-Ziel bleiben, die Europäische
Union aber bei dem bedingten 30-Prozent-Ziel bleibt,
wäre das Ergebnis, dass „scharfe“ Klimaziele in der
Bundesrepublik „weichen“ Vereinbarungen in der Europäischen Union gegenüberstehen. Wir wollen, dass für
Deutschland und für die Europäische Union anspruchsvolle, verbindliche und ehrgeizige Klimaziele vereinbart
werden und wir mit diesem Rückenwind gemeinsam
nach Durban fahren.
Herzlichen Dank.
({5})
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Marina
Schuster von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eines sollte jedem, spätestens seit Kopenhagen, klar geworden sein: Internationale Klimapolitik ist
längst nicht mehr nur Umweltpolitik. Seit der Konferenz
von Rio 1992 ist dieses Politikfeld vom Rande in den
Mittelpunkt der internationalen Diplomatie gerückt.
Auch das Auswärtige Amt hat daran seinen Anteil, gerade wenn es um die Vorbereitung von Verhandlungspositionen geht, aber auch im Hinblick auf die Energieaußenpolitik.
Verträge wie das Kioto-Protokoll haben weitreichende Veränderungen zur Folge, für Gesellschaften und
für Ökonomien. Dabei geht es schon lange nicht mehr
nur um die Verminderung von Treibhausgasen. Vielmehr
ist damit auch ein umfassender globaler Interessenausgleich verbunden. Diese Frage muss mit der Handelsund Sicherheitspolitik verknüpft werden. Es ist wichtig,
dass wir dabei ressortübergreifend arbeiten.
({0})
Das Ergebnis von Cancún ist nicht nur aus deutscher
und europäischer Sicht erfreulich, sondern es ist auch für
die Länder Afrikas eine gute Nachricht. Manche Kollegen haben schon die Erfahrungen, die sie auf Reisen
nach Afrika gemacht haben, geschildert. Wir wissen
zum Beispiel, dass das südliche Afrika mit der weltweit
zweitgrößten Erwärmung konfrontiert sein wird. Man
kann die Folgen schon heute beobachten. Ich selbst habe
die Veränderungen der Biodiversität bei einer Reise nach
Südafrika, in die Kapregion, festgestellt. Insofern ist es
wirklich wichtig, dass wir in Cancún zu diesem Ergebnis
gekommen sind.
({1})
Der Klimawandel wird weitere Auswirkungen haben,
nicht nur auf die Regenzeiten. Es wird eine Zunahme
von Dürren geben, und es wird zu Ernteausfällen kommen. Das Problem der Wüstenbildung haben wir schon
in mehreren parlamentarischen Initiativen, auch in der
letzten Wahlperiode, deutlich gemacht. Hinzu kommen
Fehler in der Landwirtschaft, Monokulturen, Überweidung und Abholzung. Das alles sind Probleme, die dazu
führen, dass Agrarflächen zu Wüsten werden.
Weitere Probleme sind die Wasserknappheit und der
fehlende Zugang zu sauberem Trinkwasser; wir haben
uns im Menschenrechtsausschuss schon über diese Themen unterhalten. Nach wie vor sterben viel zu viele Kinder an den Folgen von unsauberem Trinkwasser. Hier
geht es um die existenziellen Fragen der Ernährungssicherheit. Deswegen war es richtig und wichtig, im Koalitionsvertrag zu verankern, dass die ländliche Entwicklung und der Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutz die
Schlüsselsektoren unserer Entwicklungszusammenarbeit
sind.
Herr Kollege Raabe, ich füge hinzu: Das ist auch ein
Beitrag zur Armutsbekämpfung. Ich verstehe nicht, warum Sie sich in jeder Ihrer Plenarreden über Quoten aufregen.
({2})
Als wir den Haushalt des BMZ von Ihnen übernommen
haben, betrug die ODA-Quote 0,36 Prozent, also weniger als 0,4 Prozent des Bruttonationaleinkommens. Dennoch machen Sie hier jedes Mal auf dicke Hose und behaupten, wir würden unsere Versprechen nicht einhalten.
({3})
Unsere Politik ist konkret und transparent. Mit Erlaubnis des Präsidenten zeige ich Ihnen ein Dokument
- ich kann es Ihnen nachher gerne überreichen -, in dem
zusammengestellt ist, wo sich die einzelnen Maßnahmen
wiederfinden.
({4})
Das sollte auch die Opposition anerkennen;
({5})
sie sollte sich freuen, dass dieses Ergebnis erzielt worden ist.
({6})
Lassen Sie mich noch einen Punkt erwähnen, der
auch bei unseren Reisen nach Afrika immer wieder thematisiert wird. Die Abgeordneten, die wir dort treffen,
fordern uns immer wieder auf: Schickt uns eure Unternehmer, die im Bereich erneuerbarer Energien tätig sind! In Afrika gibt es ein unglaublich großes Potenzial für erneuerbare Energien. Auf diesem Gebiet können wir
wirklich einen großen Beitrag leisten, auch zur dezentralen Stromversorgung. Im Bereich der Windenergie sind
ebenfalls Potenziale zu heben. Deswegen ist es wichtig,
dass wir ressortübergreifend arbeiten.
Es geht hierbei auch um einen Wissenstransfer, um einen Know-how-Transfer. Wir müssen bei der Ausbildung von Ingenieuren, Facharbeitern und Technikern aktiv sein. Wir müssen den Menschen das notwendige
Know-how zur Verfügung stellen, damit erneuerbare
Energien auch in Afrika zunehmend zum Einsatz kommen. Der Bedarf an Energie wird weltweit steigen, gerade in Afrika. Erfreulicherweise verzeichnen viele Länder Afrikas ein Wirtschaftswachstum. Es ist wichtig,
dass wir diesen Ländern im Rahmen des Technologietransfers zur Seite stehen. Das BMZ führt zu diesem
Zweck sehr gute Projekte durch, die wir nur unterstützen
können.
({7})
Von Cancún geht ein wichtiges Signal aus: Die Phase
der Stagnation und der gegenseitigen Schuldzuweisungen muss jetzt vorbei sein. Wir müssen den neuen
Schwung nutzen, um weltweit verbindliche Vereinbarungen zu treffen. Wir müssen auf diesem Weg voranschreiten. Deutschland und die EU sind dabei Vorreiter.
Besonders wichtig ist, dass wir auch den Entwicklungsund den Schwellenländern partnerschaftlich begegnen.
An dieser Stelle setze ich auf unser ressortübergreifendes Konzept. Diesen Weg werden wir weiterhin unterstützen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Josef Göppel von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Schwung von Cancún hat bereits zu einem weiteren erfreulichen Ergebnis geführt: Gestern hat das Europäische Parlament mit großer Mehrheit beschlossen, dass
das CO2-Einsparungsziel von 20 Prozent bis 2020 verbindlich werden soll - das war es bisher nicht -, und die
Kommission aufgefordert, einen Richtlinienentwurf
dazu vorzulegen. Das zeigt, dass es jetzt in allen Ländern
wieder das Bewusstsein gibt, dass wir mehr zum Schutz
der Erde tun müssen, und wir können auch mehr tun.
Folgende Beobachtung habe ich bei meiner Teilnahme an der Konferenz von Cancún gemacht: Es gibt
eine Reihe konkreter Projekte zwischen Entwicklungsländern und Industrieländern, aus denen ein Bewusstsein
dafür erwachsen ist, dass wir den Klimawandel bewältigen und mehr Klimaschutz realisieren können. Aus den
konkreten Projekten entsteht dann auch die Bereitschaft,
in den Verhandlungen weitere Schritte zu gehen und zuzusagen.
Das hat sich insbesondere beim Waldschutz gezeigt,
auf den ich schwerpunktmäßig eingehen möchte. Der sogenannte REDD-Mechanismus - das Programm zur Unterstützung von Entwicklungsländern bei der Walderhaltung - wurde in Abs. 70 der Vereinbarung von Cancún
festgeschrieben. Es heißt dort, dass Maßnahmen zum
Waldschutz gefördert und unterstützt werden. Zusammen mit dem Kollegen Andreas Jung habe ich mir einen
Tag lang auf Yucatán einen Wald der Maya angesehen
und bin dabei auf Folgendes besonders hingewiesen
worden: In diesen Wäldern leben Menschen, wenn auch
nur wenige. Es geht darum, die Waldschutzmaßnahmen
so anzulegen, dass die Menschen in den ländlichen Räumen bleiben und mit modernen Methoden eine nachhaltige Wirtschaft weiterführen.
({0})
Es geht darum, dass auch junge Leute in den ländlichen Gebieten der Entwicklungsländer für sich und ihre
Familien eine Zukunft sehen. Die Maya nutzen ihre
Wälder beispielsweise, indem sie immer wieder einen
einzelnen Baum heraussuchen und daraus wertvolle Möbelstücke machen. Mithilfe der mexikanischen Regierung ist es der Dorfgemeinschaft, die ich besucht habe,
möglich geworden, eine neue Seilwinde anzuschaffen,
sodass die Bäume nicht mehr stückweise auf den Schultern aus dem Wald herausgetragen werden müssen, sondern mit der Seilwinde herausgezogen werden können.
Das alles erinnert mich sehr an die ländliche Entwicklung in der Europäischen Union. Was machen wir in den
Programmen zur ländlichen Entwicklung in der EU? Wir
fördern kleinteilige Investitionen, soziale Einrichtungen
in den Dorfgemeinschaften und Einrichtungen zur Wertschöpfung im ländlichen Raum. Ganz ähnlich wurde bei
den Maya in Yucatán zum Beispiel eine Schreinerei gefördert, in der die Produkte des eigenen Waldes weiterverarbeitet werden. Den jungen Leuten wird damit eine
Perspektive gegeben.
Man muss die Dinge nicht neu erfinden. Ich habe gespürt, dass wir mit den Maßnahmen zur ländlichen Entwicklung in der Europäischen Union einen Instrumentenkasten haben, der beim Waldschutz sehr brauchbar
ist. Die Prämisse muss dabei immer sein, dass die Menschen, die in den ländlichen Räumen leben, ihre traditionelle Wirtschaft mit modernen Mitteln weiterführen
können und auf diese Weise die nachhaltige Entwicklung ermöglichen, die wir uns auch aus ökologischen
Gründen wünschen.
({1})
Der Waldschutz ist dafür ein sehr schönes Beispiel.
Ich möchte mich abschließend der Aussage meiner
Kollegen Andreas Jung und Thomas Gebhart anschließen, die hier bereits deutlich gemacht haben: Wir wollen, dass sich die Europäische Union jetzt auf 30 Prozent
festlegt,
({2})
weil nur mit dieser Festlegung ein Fortschritt in Durban
erreicht werden kann.
({3})
Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat der
Kollege Christian Hirte von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über den Erfolg von Cancún ist im Vorfeld und
auch während der Konferenz - wir haben das heute in
der Debatte schon gehört - vielfach spekuliert worden.
Ich glaube, bei allen Differenzen im Einzelnen sind wir
uns insgesamt doch insoweit einig, dass das Ergebnis
sehr viel besser als das ist, was ursprünglich erwartet
wurde.
Wenn man sich anschaut, wer für dieses Ergebnis und
auch für den Erfolg verantwortlich ist, dann stellt man
fest - das ist auch schon klar gesagt worden -: Zum einen tragen dafür natürlich die Mexikaner und insbesondere deren Außenministerin Espinosa die Verantwortung, zum anderen gilt dies aber natürlich auch für die
deutsche Delegation - ich habe mich gefreut, dass der
Kollege Miersch das so deutlich gesagt hat -, die in ihren jeweiligen Panels und Verhandlungsrunden mit dazu
beigetragen hat.
({0})
- Es war nicht der Kollege Miersch, sondern der Kollege
Schwabe. Entschuldigung!
Einigen Rednern scheint dieses Lob nicht ganz gefallen zu haben. Den Grünen passt es offensichtlich nicht
ganz in ihr politisches Kalkül,
({1})
wenn die deutsche Delegation unter Führung eines
CDU-Bundesumweltministers nach Hause kommt und
ein positives Ergebnis verkünden kann.
({2})
- Die Grünen freuen sich immer, wenn sie bei positiven
Ergebnissen am Ende noch einen Wermutstropfen finden. Das entspricht auch der allgemeinen Stimmungslage und dem Stimmungsbild, das die Grünen in der
politischen Debatte permanent vermitteln.
({3})
Ich will jetzt gar nicht ins Einzelne gehen und sagen, an
welchen Stellen, bei welchen Dingen und auch bei welchen Personen Sie immer dagegen sind.
({4})
- Nein. Ich will jetzt nicht auf Stuttgart 21 und auf Energiewege in Deutschland eingehen, sondern auf unser
Thema zurückkommen.
({5})
- Sie sagen, Sie seien für den Ausbau erneuerbarer Energien, aber Sie sind gegen den Ausbau der Energiewege
in Deutschland.
({6})
Diese permanente Oppositionspolitik nimmt Ihnen am
Ende keiner ab. Die Wähler werden das merken - nicht
nur in Berlin, sondern mit Sicherheit auch in BadenWürttemberg.
({7})
Meine Damen und Herren, der Erfolg von Cancún,
aber auch die daraus folgenden weiteren Handlungsnotwendigkeiten sind schon hinreichend dargestellt worden.
Die grundsätzliche Frage, die man aus Cancún mit nach
Hause nehmen kann, muss aber sein: Ist ein bindender
Klimavertrag unter dem Dach der UN das, was man anstreben muss, oder geht es vielmehr darum, mit wenigen
Staaten Verträge zu schließen, energiepolitisch vielleicht
sogar nationale Alleinwege zu gehen oder sich in regionalen Gemeinschaften zusammenzuschließen? Ich bin
der Meinung, dass es sich beim Klimaschutz um ein globales Problem handelt, das natürlich auch einer globalen
Lösung bedarf.
({8})
Das eine anzustreben, nämlich die globale Lösung, heißt
aber nicht notwendigerweise, dass man das andere sein
lässt, nämlich auch zu Hause, auf nationaler Ebene, das
Mögliche anzustreben.
Deutschland - darauf ist schon hingewiesen worden nimmt seine Rolle als Vorreiter nicht nur in Europa, sondern auch weltweit wahr. Daher möchte ich den Bundesumweltminister und seine Forderung, das 30-ProzentZiel in Europa zu erreichen, ausdrücklich unterstützen.
({9})
Wir sind in Deutschland aufgefordert, selbst und auch
unkonditioniert mit gutem Beispiel voranzugehen. Das
tun wir auch, etwa mit unserem Energiekonzept, mit
dem wir die Rahmenbedingungen für die Transformation in ein Zeitalter der erneuerbaren Energien festgelegt
haben.
Wir werden Treibhausgasersparnisse von etwa
40 Prozent bis 2020 und 80 bis 95 Prozent bis 2050 erreichen. Ab dem kommenden Jahr werden wir mit dem
Sonderfonds, der im Zusammenhang mit dem Energiekonzept eingerichtet wird, auch einen Beitrag zur Förderung umweltschonender, zuverlässiger und bezahlbarer
Energie leisten. Damit leisten wir natürlich auch einen
Beitrag für den weltweiten Klimaschutz.
Aber wir sind natürlich nicht nur in Deutschland aufgerufen, sondern auch in Europa; das habe ich gerade
ausgeführt. Ebenso geht es darum, zu erreichen, dass es
weltweit weitere Verbesserungen gibt, insbesondere in
Abstimmung mit den stark wachsenden Schwellenländern. Der Bundesumweltminister hat schon darauf hingewiesen, dass es in diesem Bereich durchaus auch
große Chancen für uns in Deutschland gibt. Wir in
Deutschland haben die Technologien und die Ressourcen und können die deutschen Klimatechnologien in die
Schwellenländer exportieren. Davon können der weltweite Klimaschutz, aber auch unsere deutsche Wirtschaft und am Ende natürlich auch unsere Arbeitnehmer
profitieren. Daher sind Technologiekooperation und
Technologieexport unabdingbar. Kollege Gebhart hat
dies vorhin schon einmal kurz erwähnt.
Die Weltgemeinschaft und Deutschland haben es in
der Hand. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir dazu
unseren Beitrag leisten werden, aktuell in unserer nationalen Politik, aber auch bei der nächsten Runde in Durban. Wir werden zu unserer Verantwortung stehen, und
Deutschland wird weiterhin seinen Beitrag leisten.
Vielen Dank.
({10})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2009 ({1})
- Drucksachen 17/900, 17/3738 Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer ({2})
Lars Klingbeil
Paul Schäfer ({3})
Omid Nouripour
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen
Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Aussprache
nicht teilnehmen wollen, den Plenarsaal zu verlassen,
damit die anderen ungestört mitarbeiten können.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut
Königshaus.
({4})
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Das ist sozusagen meine Jungfernrede hier, jedenfalls in der Funktion als Wehrbeauftragter. Es handelt sich um den Bericht des Jahres 2009, den
mein Vorgänger Reinhold Robbe erarbeitet hat. Ich
möchte die Gelegenheit nutzen, ihm für seine Arbeit, für
diesen Bericht und auch für das herzlich zu danken, was
er in den Jahren davor getan hat.
({5})
Meines Erachtens hat er ein Fundament gelegt, auf dem
ich aufbauen kann.
Natürlich möchte ich die Gelegenheit auch nutzen,
den Mitarbeitern bei mir im Amt zu danken. Das ist ein
tolles Team; sie haben eine hervorragende Arbeit geleistet. Sie haben viel zu tun, und ich freue mich, dass sie
das auch weiterhin tun werden.
({6})
Mein Dank gilt auch den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, die die Hinweise aus diesem Bericht
und auch den vorherigen Berichten des Wehrbeauftragten stets aufgenommen und verarbeitet haben. Sie werden verstehen, dass ich auch einen herzlichen Gruß an
die Soldatinnen und Soldaten richte, die mit ihren oftmals aufopferungsvollen Einsätzen schwer gefordert
sind. Auch sie sollen heute in den Dank eingeschlossen
sein, genauso wie die Mitarbeiter im Ministerium und in
den Stäben,
({7})
die die manchmal, wie man hört, nervigen und nervenden Anmerkungen des Wehrbeauftragten aufzunehmen
hatten.
Meine Damen und Herren, wir stehen heute vor historischen Umbrüchen in der Verteidigungspolitik: Aussetzung der Wehrpflicht, drastische Verkleinerung der
Streitkräfte, struktureller Umbau der Streitkräfte.
Vor diesem Hintergrund muss man sich als Außenstehender fragen, ob der Jahresbericht 2009 noch relevant
ist. Augenscheinlich ja, glaube ich; das kann man so sagen. Denn viele der Probleme, die in diesem Bericht aufgeführt sind und die wir heute erörtern, sind schon im
Vorjahresbericht - manche sogar über mehrere Jahresberichte hinweg - angesprochen worden.
Das zeigt: In vielen Bereichen ist ein langer Atem erforderlich. Es zeigt aber auch, dass es innerhalb der bürokratischen Strukturen im Ministerium, aber auch im
militärischen Apparat manchmal an einer konstruktiven
Fehlerkultur und an der Bereitschaft fehlt, Probleme
konstruktiv aufzugreifen und zu bearbeiten, statt sich darauf zu beschränken, vergangenes Handeln oder auch
Unterlassen zu rechtfertigen. Diesen Punkt hat auch die
Strukturkommission erkannt und angesprochen.
Ich bin sehr froh, dass wir in diesem Bereich vorankommen werden. Der Vorsitzende der Kommission,
Dr. Weise, hat dazu einmal gesagt, die Verantwortung
diffundiere. Das wird auch in dem Bericht manchmal
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
deutlich, wenn man nach den Ursachen fragt. Das wird
sicherlich durch die neuen Strukturen, die gerade vorbereitet werden, besser. Das ist auch dringend nötig.
({8})
Die Sicherheitslage in Afghanistan beispielsweise hat
sich in einigen Bereichen, insbesondere rund um Kunduz, seit einigen Jahren kontinuierlich verschlechtert.
Das gilt auch für den Berichtszeitraum und ging, wie gesagt, im laufenden Jahr so weiter. Dennoch haben wir
feststellen müssen, dass sich Ausrüstung und Ausbildung noch immer nicht in einem vernünftigen Zustand
befinden. Sie werden der Situation nicht gerecht. Es fehlt
insbesondere nach wie vor an einer ausreichenden Zahl
geeigneter geschützter Fahrzeuge. Geschützte Fahrzeuge
gibt es; das ist richtig. Es fehlt aber an geeigneten geschützten Fahrzeugen für spezielle Zwecke.
Es fehlt oftmals nach wie vor an der persönlichen
Ausstattung. Noch immer klagen viele Soldatinnen und
Soldaten darüber, dass sie aus eigenen Mitteln erhebliche Aufwendungen leisten, bevor sie in den Einsatz gehen, um ihren Wünschen entsprechend ausgerüstet zu
sein.
Für all dies gibt es Erklärungen: Lieferschwierigkeiten der Industrie, langwierige Tauglichkeitsprüfungen
und technische Probleme bei der Zertifizierung. Aber bei
genauer Betrachtung sind diese Gründe - das kann man,
glaube ich, sagen - nicht immer stichhaltig. Was beispielsweise das Route Clearance Package - also die
Möglichkeit, aus geschützten Fahrzeugen heraus
Sprengsätze zu erkennen und zu beseitigen - angeht,
wird immer wieder auf die langen Lieferfristen hingewiesen, wenn es darum geht, am Markt erhältliche Systeme zu erwerben. Das stimmt zwar - davon habe ich
mich überzeugt -, aber wenn die Bestellung etwas früher
erfolgt wäre, wären die Lieferfristen inzwischen abgelaufen und die Fahrzeuge schon da. Das heißt, man hätte
die Dringlichkeit früher erkennen müssen. Auch für fehlende Fahrzeuge gilt: Die Industrie kann nur dann rechtzeitig liefern, wenn sie rechtzeitig bestellt werden. Sie
werden nur auf Bestellung produziert. Es sind keine Produkte, die im Supermarkt um die Ecke erworben werden
können.
Es gibt aber auch Gutes zu berichten. Der Minister hat
in einigen Bereichen entscheidende Verbesserungen entweder eingeleitet oder vorbereitet. Ich möchte hierbei
insbesondere rühmlich hervorheben, dass er die Arbeitsgruppe ESB - ESB steht für „Einsatzbedingter Sofortbedarf“ - eingesetzt hat, die sich um die genannten Defizite kümmert. Sie kümmert sich insbesondere darum,
wie weit man im Rahmen des einsatzbedingten Sofortbedarfs schnellstmöglich Abhilfe schaffen kann.
Die Fortschritte sind unübersehbar, im Übrigen auch
bei der Bewaffnung. Zum Beispiel sind jetzt Panzerhaubitzen in Afghanistan, um den Soldaten dort etwas mehr
Rückhalt zu geben. Wir haben wesentlich mehr Schützenpanzer im Einsatz. Wir haben die TOW-Rakete im
Einsatz und inzwischen auch Hubschrauber in ausreichender Zahl; leider sind es nicht unsere eigenen, sondern amerikanische. Ich glaube, dieser Verbund gleicht
das früher vorhandene Defizit gut aus.
({9})
Wir müssen allerdings nach wie vor die Situation im
Sanitätsdienst beklagen. Wir müssen leider bis heute
feststellen - auch das ergibt sich aus der Stellungnahme,
die Ihnen vorliegt -: Das Fehlen von Ärzten und medizinischem Personal und die hohe Dienst- und Einsatzbelastung bestehen fort. In der truppenärztlichen Versorgung haben wir zum Teil Tagesantrittsstärken von
40 Prozent. In einigen Bereichen bin ich darauf gestoßen, dass nur 20 Prozent ihren Dienst angetreten haben,
und in einem Fall stand sogar überhaupt kein Truppenarzt zur Verfügung, übrigens auch kein ziviler Arzt, der
dort als Vertragsarzt gearbeitet hätte. Dies hat mit dem
generellen Personalmangel zu tun, und das gilt natürlich
auch für die hohe PTBS-Belastung des Sanitätsdienstes,
über die schon vielfach gesprochen wurde. Auf diese
Belastung ist der Sanitätsdienst ebenfalls nicht ausgerichtet.
Auch hier muss man anerkennend sagen, dass das
Ministerium gegenzusteuern versucht. Es gibt für das
medizinische Personal Leistungszulagen, und es gibt für
die Ärzte Facharztzusagen und auch eine Höherbewertung einzelner Facharztdienstposten. Trotzdem ist noch
kein Durchbruch zu erkennen. Man weiß natürlich nicht,
ob hier eine Überkompensation bei anderen, belastenden
Faktoren erfolgt oder ob es sich in der Öffentlichkeit und
in den betreffenden Kreisen noch nicht herumgesprochen hat, welche Möglichkeiten es hier inzwischen gibt.
Wir müssen daher die Attraktivität gerade in diesem Bereich weiter steigern.
Aber gerade wenn wir das Thema PTBS ansprechen,
das im Zentrum dieses Berichts steht, dann muss man sagen, dass es auch in der Regelversorgung und im zivilen
Bereich an Fachkräften fehlt. Man kann diese Kräfte
nicht einfach irgendwo abwerben. Vielmehr muss man
gezielt dafür sorgen, dass neues Personal dafür ausgebildet und herangezogen wird.
({10})
Nach wie vor fehlt es an hinreichenden Maßnahmen,
die Vereinbarkeit von Familie und Dienst zu verbessern.
Ich habe zwar gehört, was in Dresden gesagt wurde, dass
nämlich in diesem Bereich einiges passieren soll; aber es
fehlt nach wie vor an einer ausreichenden Anzahl an
Pendlerwohnungen für die vielen Soldaten - es sind bis
zu 70 Prozent der Truppe -, die regelmäßig zwischen ihrem Wohnort und dem Dienstort hin- und herfahren
müssen. Nach wie vor fehlt es an Kinderbetreuungseinrichtungen und an Maßnahmen zur Bekämpfung der
häufigen Versetzungsnotwendigkeit und der häufigen
Abwesenheit durch Lehrgänge. Dies wird natürlich weiterhin ein Schwerpunkt der Arbeit des Wehrbeauftragten
sein.
Ein weiterer Schwerpunkt bleibt das hier bereits genannte Problem der Kommunikation mit der Heimat,
und zwar nicht nur aus den Einsatzgebieten, sondern
auch von den Schiffen. Auch dort habe ich den Ein8978
Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus
druck, dass die Dringlichkeit dieses Problems nicht in allen Bereichen der militärischen und politischen Organisation erkannt ist. Hier muss etwas getan werden. Die
Ausschreibung, die gerade durchgeführt worden ist und
über die demnächst entschieden werden wird, wird dieses Problem nicht so lösen, wie ich es mir wünsche. Bei
der Kommunikation aus den Einsatzgebieten und von
den Schiffen nach Hause geht es nicht einfach ganz allgemein um Fürsorge, sondern darum, dass die Soldatinnen und Soldaten die Möglichkeit erhalten, ihre Grundrechte wahrzunehmen, sich aus allen zugänglichen
Quellen frei zu informieren und - jetzt geht es um Art. 6
des Grundgesetzes - mit ihren Familien Kontakt zu halten.
({11})
Dies geht nur mit verbesserten Angeboten. Um das zu
ändern, wird noch viel zu tun sein. Das habe ich dem
Ministerium schon angekündigt.
Zum Ende meiner Rede nutze ich die Gelegenheit, die
Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und ihre Angehörigen zu Hause zu grüßen und ihnen, aber auch den Mitgliedern dieses Hohen Hauses frohe Weihnachten und
ein gutes neues Jahr zu wünschen.
Herzlichen Dank.
({12})
Die Kollegin Anita Schäfer hat für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Sehr
geehrter Herr Wehrbeauftragter, gerade gestern hat das
Bundeskabinett der Reform der Bundeswehr zugestimmt. Damit werden Sie, Herr Wehrbeauftragter, in Ihrer Amtszeit die Truppe während des größten Umbruchs
seit ihrer Gründung begleiten. Die geplante Aussetzung
der Wehrpflicht zum 1. Juli nächsten Jahres ist eine einschneidende Veränderung. Sicherlich werden Sie sich in
den nächsten Jahren nicht zuletzt mit den Auswirkungen
zu befassen haben, die die Reform auf einzelne Soldatinnen und Soldaten haben wird. Wir hoffen natürlich, dass
alles möglichst reibungslos verläuft. Dabei werden wir
den Minister und seine Mitarbeiter nach allen Kräften
unterstützen. Aber bei Umstellungen dieses Ausmaßes
werden sich Probleme im Einzelfall nicht vermeiden lassen. Dabei will ich eines hier in aller Deutlichkeit sagen:
Durch die Umstellung auf eine Freiwilligenarmee wird
das Amt des Wehrbeauftragten keinesfalls überflüssig.
Wie der Jahresbericht 2009 wieder aufführt, kommt
bereits jetzt die größte Zahl der Eingaben aus dem Bereich der Soldaten auf Zeit und aus der Dienstgradgruppe der Unteroffiziere mit Portepee. In der Wehrpflichtdiskussion der vergangenen Jahre scheint mir
manchmal in den Hintergrund geraten zu sein, dass es
sich dabei ebenso um Staatsbürger in Uniform handelt
wie bei den Grundwehrdienstleistenden. Sie haben ja
nicht geringere Rechte, weil sie sich freiwillig zu diesem
oft gefährlichen Dienst für unser aller Sicherheit gemeldet haben. Dass die Bundeswehr untrennbar Teil unserer
freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft ist, wird sich
auch durch den Übergang zu einer Freiwilligenarmee
nicht ändern. Das Konzept der Inneren Führung ist und
bleibt ein Markenzeichen der Bundeswehr.
Gerade der Bereich der politischen Bildung wird in
Zukunft eher noch wichtiger. Stärker denn je gilt es zu
vermitteln, dass die Streitkräfte kein Fremdkörper und
die Soldaten Bürger dieser Gesellschaft sind, besonders
wenn ihre Zahl sinkt und der Dienst auf Freiwilligkeit
beruht. Übrigens gilt es, das nicht nur innerhalb der
Truppe, sondern in der ganzen Gesellschaft zu vermitteln. Da haben wir alle noch eine Menge nachzuholen. In
jedem Fall bleibt der Wehrbeauftragte gerade für uns
Abgeordnete im Verteidigungsausschuss ein wesentliches Kontrollorgan im Hinblick auf den Zustand der
Truppe; er bleibt sozusagen unser aller Frühwarnsystem.
Dafür wünsche ich Ihnen, Herr Wehrbeauftragter
Königshaus, und Ihren Mitarbeitern im Namen der
Unionsfraktion weiter viel Erfolg. Wir freuen uns auf
eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen und Ihrem Hause.
({0})
Lieber Herr Königshaus, der heute debattierte Jahresbericht 2009 ist zwar noch unter der Ägide Ihres Amtsvorgängers entstanden, Sie haben aber bereits im Juni einen Zwischenbericht über die Entwicklung im ersten
Halbjahr 2010 und erst kürzlich einen weiteren Bericht
auf Grundlage Ihres Truppenbesuchs in Afghanistan sowie beim Fallschirmjägerbataillon 263 aus meinem
Wahlkreis vorgelegt, das im Januar mit Masse in den
Einsatz geht. Am Freitag vor drei Wochen habe ich am
Verabschiedungsappell des Bataillons in Zweibrücken
teilgenommen. Ich möchte den Soldaten an dieser Stelle
nochmals viel Glück und eine vollzählige, gesunde
Heimkehr wünschen.
({1})
Ich hoffe, sie mit allem Notwendigen versorgt vorzufinden, wenn ich sie im nächsten Halbjahr in Kunduz besuche.
Im Einzelnen möchte ich vier Punkte herausgreifen.
Erster Punkt. Am wichtigsten sind mir die Klagen
über mangelnde Ausstattung mit Waffen und Munition.
Hierzu hat das BMVg inzwischen klargestellt, dass dies
beispielsweise beim Ausbildungs- und Schutzbataillon
in Kunduz lediglich in der Phase des planmäßigen Aufwuchses der Fall war. Mittlerweile verfügt jeder Soldat
über eine fest zugeordnete Handwaffe. Die Munitionsvorräte entsprechen den operativen Vorgaben. Auch der
Anita Schäfer ({2})
beklagte Mangel an Munition für die Granatmaschinenwaffen ist umgehend behoben worden.
Zweite Punkt: Problematisch sein könnte einmal
mehr die Situation bei den geschützten Fahrzeugen sowohl für den Einsatz als auch für die einsatzvorbereitende Ausbildung. Es ist bekannt, dass wir uns hier in einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess befinden.
Das Bundesministerium der Verteidigung hat kürzlich
nochmals festgestellt, dass derzeit rund 1 000 Fahrzeuge
im Einsatz sind und 160 für die einsatzvorbereitende
Ausbildung zur Verfügung stehen.
Für die kommenden beiden Jahre ist der Zulauf von
600 weiteren, vor allem von moderneren Typen geplant.
Gerade gestern haben wir im Verteidigungs- und im Haushaltsausschuss der Beschaffung weiterer 195 Eagle IV zugestimmt, sodass ich davon ausgehe, dass diese Fahrzeuge im nächsten Jahr zeitgerecht nicht nur der Truppe
in Afghanistan zulaufen können, sondern dass auch die
vorbereitende Ausbildung zunehmend auf dem gleichen
Modell wie im Einsatz stattfinden kann.
Dritter Punkt - er ist nicht wirklich lebenswichtig,
aber ärgerlich angesichts der Dauer, seit der wir diese
Klagen schon hören -: die durchgängigen Beschwerden
in allen Feldlagern über die mangelhaften Angebote zur
Kommunikation mit der Heimat, besonders im Vergleich
zu den Möglichkeiten, die Soldaten der Verbündeten
teilweise zur Verfügung stehen. Das gilt nicht nur für
Afghanistan. Hierzu hat das Bundesministerium der Verteidigung mitgeteilt, dass für Mitte dieses Monats, also
jetzt gerade, die Entscheidung über den Zuschlag für einen neuen Vertrag zur Betreuungskommunikation vorgesehen ist. Offenbar hat nur einer von vier Wettbewerbern
mit seinem Angebot alle Anforderungen erfüllt. Ich gehe
in jedem Fall davon aus, dass es rasche Verbesserungen
für die Truppe im Einsatz geben wird.
Vierter Punkt: die knappen Personalressourcen für
wichtige Aufgabenbereiche durch die Mandatsobergrenze, insbesondere bei Infanterie und Aufklärung.
Diese Frage geht uns als Parlament direkt an; denn wir
entscheiden mit der Zustimmung zum Mandat, ob genug
Personal für eine sichere Auftragserfüllung eingesetzt
werden kann.
Die Koalition hat immer klipp und klar gesagt, dass
die Geschwindigkeit der geplanten Truppenreduzierung
über die nächsten Jahre vom Erfolg der Stabilisierungsmaßnahmen abhängt. Der Außenminister hat das heute
Morgen in der Debatte zum Afghanistan-Fortschrittsbericht sehr gut zusammengefasst: Die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen muss sorgfältig, nachhaltig und unumkehrbar geschehen.
({3})
Dieses Thema eignet sich nicht für parteitaktische Spielchen; denn die würden auf dem Rücken unserer Soldaten
ausgetragen. Gegenstand solcher Spielchen sollte auch
nicht ein gemeinsamer Besuch des Verteidigungsministers mit seiner Frau in Afghanistan sein.
Die letzten Jahresberichte des Wehrbeauftragten,
auch der hier besprochene, haben immer wieder deutlich
gemacht, wie der Mangel an Interesse und Anerkennung
in der Gesellschaft die Soldaten belastet. Wir haben immer wieder beklagt, dass die Medien nur dann groß berichten, wenn es Tote und Verwundete gegeben hat. Nun
schafft das Ehepaar zu Guttenberg einmal außerhalb
solch trauriger Vorfälle Aufmerksamkeit für den Einsatz und trotzdem ist es vielen nicht recht. Wenn Fernsehzuschauer durch diesen Besuch motiviert werden, sich
heute Abend die in Masar-i-Scharif aufgezeichnete Sendung mit Herrn Kerner anzusehen, und wenn sie dabei
einen ehrlichen Einblick in das Leben und die Sorgen
unserer Soldaten dort bekommen, wofür sie sich sonst
nicht interessiert hätten, dann kann ich nur sagen: Herzlichen Dank für diese Aktion, Herr Minister! Das war es
wert.
({4})
Lassen Sie mich kurz auf ein Thema zurückkommen,
das ich bereits bei der ersten Behandlung des Jahresberichts 2009 angesprochen habe, nämlich auf die Lage im
zentralen Sanitätsdienst und hier besonders auf die Möglichkeit zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen. Mittlerweile ist das lange geforderte
Traumazentrum am hiesigen Bundeswehrkrankenhaus
Berlin eingerichtet und der Beauftragte als Anlaufstation
für alle Probleme in diesem Bereich eingesetzt. Dieser
wichtige Schritt wird die Dinge künftig sehr vereinfachen, weil es jetzt eine zentrale Adresse für alle Bemühungen auf diesem Gebiet gibt. Nicht nur, aber auch wegen dieser Problematik muss dem Sanitätsdienst
weiterhin höchste Aufmerksamkeit gelten. Das Attraktivitätsprogramm zur Verbesserung der Personallage ist
bereits eingeleitet.
Herr Wehrbeauftragter, jetzt habe ich noch einen letzten Gedanken: Sie wissen, dass Reservisten zukünftig
eine größere Rolle in der Bundeswehr spielen sollen.
Deshalb wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie in Ihren
nächsten Berichten ein besonderes Augenmerk auf diesen Bereich legen würden.
Ich möchte auch diesmal mit einem Dank an die Soldaten und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr schließen. Wir denken besonders an die Männer und Frauen
im Einsatz, die Weihnachten und Neujahr fernab ihrer
Familien in gefährlicher Umgebung verbringen müssen.
Wir denken zugleich an die Familien, die auch an den
Festtagen in Sorge um ihre Angehörigen sein werden.
Wir denken an die Familien der in diesem Jahr Gefallenen ebenso wie an die Soldaten, die schwere Verwundungen davongetragen haben und sich zum Teil mit
neuen Lebensumständen zurechtfinden müssen. Ich darf
Sie bitten, alle diese mutigen Menschen in Ihre Gedanken und vielleicht auch in Ihre Gebete einzuschließen.
Herzlichen Dank.
({5})
Die Kollegin Karin Evers-Meyer hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Wehrbeauftragter! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich finde es gut, dass die
Bundeswehr in diesen Tagen so viel Aufmerksamkeit
bekommt wie schon lange nicht mehr. Die Soldatinnen
und Soldaten in den Einsatzgebieten verdienen unsere
Aufmerksamkeit,
({0})
und sie wollen diese Aufmerksamkeit für ihre wichtige
und gefährliche Arbeit auch. Ob das nun in der Art und
Weise passieren muss, in der der Verteidigungsminister
dafür sorgt, oder ob es auch anders geht, das sind Geschmacksfragen, die eine untergeordnete Rolle spielen.
({1})
Worum es wirklich geht: Wir müssen das, was wir mit
Worten ankündigen, auch tatsächlich machen. Wenn hier
nur öffentlichkeitswirksam Themen besetzt werden sollen, dann bleibt es bei heißer Luft,
({2})
dann richten die handelnden Personen mehr Schaden an,
als sie nützen.
Seien Sie sich darüber im Klaren, Herr Minister zu
Guttenberg, dass Sie mit Ihren Worten und Bildern Erwartungen wecken, die wir auch erfüllen müssen. Da
habe ich als Fachpolitikerin aber meine Bedenken. Ich
habe seit einiger Zeit den Eindruck: Es wird viel angekündigt, und es passiert sehr wenig. Ich will in diesem
Zusammenhang nicht auf die angekündigte Bundeswehrreform eingehen, sondern mich an das halten, worum es im Bericht des neuen Wehrbeauftragten, Herrn
Königshaus, geht.
Ich greife nur einmal das Beispiel der Posttraumatischen Belastungsstörungen, PTBS, heraus. Dieses
Thema war ein Schwerpunkt im Jahresbericht 2008 des
Wehrbeauftragten, der damals noch Reinhold Robbe
hieß. Also bereits vor einem Jahr hat Herr Robbe auf die
sprunghaft gestiegenen Zahlen der an PTBS erkrankten
Soldaten hingewiesen, und er hat öffentlich Druck gemacht. Dazu braucht es auch die Medien. Das ist legitim.
Ich erinnere mich noch sehr gut an den erschütternden
Fernsehbericht, in dem der Wehrbeauftragte einen Soldaten mit PTBS zum Sozialamt begleitet, weil dieser
nach einem Auslandseinsatz arbeitsunfähig geworden
ist. Franz Josef Wagner hat gestern in seiner Bild-Zeitungs-Kolumne geschrieben - den Kommentar finde ich
passend -:
Es gibt einen Punkt, wo man entweder kotzt oder
weint.
Dass dieser Soldat quasi um Unterstützung betteln
musste, war für mich so ein Punkt.
Der damalige Wehrbeauftragte hat beim Thema PTBS
seinen Job gemacht, tut das übrigens auch heute noch,
etwa mit dem von ihm ins Leben gerufenen runden Tisch
„Solidarität mit Soldaten“, dem inzwischen rund
40 Organisationen und Selbsthilfegruppen angehören
und der auch bereits wirklich konkrete Erfolge vorweisen kann.
Aufseiten der jetzigen Bundesregierung jedoch ist seit
dieser Zeit fast nichts Erwähnenswertes mehr passiert außer vielen schönen Worten und einem Entschließungsantrag mit einer Reihe wohlklingender Ankündigungen.
Wenn man sich aber so weit aus dem Fenster lehnt und
in Afghanistan eine Fernsehsendung vor Soldatinnen
und Soldaten im Einsatz macht, dann reichen schöne
Worte nicht, dann muss man zu Hause etwas tun.
({3})
Das erwarten wir jetzt von Ihnen, Herr Minister zu
Guttenberg. Sie haben mit Ihrem Politikstil große Erwartungen geweckt, die Sie jetzt auch erfüllen müssen. Ansonsten werden Sie ein charmanter Ankündigungsminister bleiben und letztlich Ihr und auch unser aller
Vertrauen bei den Soldatinnen und Soldaten verspielen.
({4})
Lassen Sie uns beim Thema PTBS einfach gemeinsam konkret werden. Wir brauchen ein selbstständig arbeitendes Traumainstitut, das über ausreichende, qualifizierte Stellen verfügt, um auf den Feldern Prävention,
Therapie und Forschung etwas zu tun. Wir brauchen
Screening-Verfahren zur Früherkennung. Wir brauchen
Therapieeinrichtungen. Wir brauchen professionelle Informationsangebote. Solche Angebote werden derzeit
immer noch ehrenamtlich organisiert, etwa auf der Internetseite von Frank Eggen und Dr. Peter Zimmermann.
Wir brauchen konkrete Gesetzentwürfe für eine deutliche Verbesserung der Versorgungs- und Weiterverwendungsgesetze. Wir müssen auch wieder über Einsatzzeiten und Einsatzbedingungen sprechen, insbesondere
darüber, dass einer wissenschaftlichen Studie zufolge
nach 127 Einsatztagen die Gefahr einer PTBS-Erkrankung signifikant ansteigt.
Wir müssen Prävention, Nachsorge und Fürsorge sehr
ernst nehmen. Deutschland muss an dieser Stelle professioneller werden und sich besser aufstellen. Ein Jahr ist
schon ins Land gegangen, ohne dass sich auch nur für
eine Soldatin oder einen Soldaten spürbar etwas verbessert hat. Der Fall des Soldaten, der zum Sozialamt geht,
ist nach wie vor Realität. Deswegen müssen wir dieses
Thema endlich einmal gemeinsam anpacken.
In diesem Punkt - das will ich hier deutlich sagen würde ich mir auch etwas mehr öffentliches Engagement
des amtierenden Wehrbeauftragten wünschen. Sie sind
in große Fußstapfen getreten, Herr Königshaus. Sie müsKarin Evers-Meyer
sen bei diesem Thema jetzt Akzente setzen. Ihr Amtsvorgänger Robbe hat gezeigt, wie das geht: Vertrauen
bei den Soldaten, große öffentliche Reputation und natürlich auch Durchsetzungsvermögen. Das braucht das
Thema, und das sind Sie und wir den Soldatinnen und
Soldaten schuldig. Wir können etwas daraus machen.
({5})
Es gibt ein zweites Thema, das ich heute noch ansprechen möchte - ich bin dem amtierenden Wehrbeauftragten, Herrn Königshaus, wirklich sehr dankbar dafür, dass
er hierbei den Finger in die Wunde legt -: Es geht noch
einmal um die Kommunikationswege zwischen Einsatzgebiet und Heimat und damit für mich letztendlich auch
um die Wertschätzung der Soldatinnen und Soldaten und
die Attraktivität der Bundeswehr insgesamt.
Für uns hier im Bundestag ist die Kommunikation mit
Freunden und Verwandten zu Hause eine Selbstverständlichkeit. Wir skypen, wir kommunizieren über SMS,
E-Mails und Mobiltelefone. All diese Möglichkeiten stehen uns zur Verfügung. Wir sind ständig und überall erreichbar. Das ist gerade für uns sehr wichtig.
Wenn man aber als Soldatin oder Soldat in Afghanistan stationiert ist oder auf einer Fregatte am Horn von
Afrika seinen Dienst versieht, dann sind die Kommunikationswege zur Familie natürlich beschränkter. Ein Marinesoldat hat mir erzählt, dass auf seinem Schiff höchstens einmal am Abend, wenn die Dienstrechner für eine
Stunde abgeschaltet werden, ein Internetzugang zur Verfügung steht. Gleichzeitig erfahre ich dann, dass belgische, kanadische und amerikanische Kameraden jeden
Abend per Skype mit ihren Partnern und Kindern sprechen können. Das ist beschämend. Das geht einfach
nicht. Auch in Deutschland leben wir im 21. Jahrhundert, und ich habe wirklich keine Lust mehr, Soldatinnen
und Soldaten vor Ort Begründungen aus dem Verteidigungsministerium vorzulesen, in denen fein säuberlich
aufgelistet steht, warum die Soldaten in den Feldlagern
oder auf den Schiffen keinen brauchbaren Internetanschluss und keine vernünftige Telekommunikationsanlage bekommen können.
({6})
Im Schreiben vom Ministerium steht natürlich nicht,
dass die entsprechenden Verträge des Verteidigungsministeriums mit den Kommunikationsanbietern letztlich wenig vorausschauend ausgeschrieben wurden. Natürlich sind die Datenmengen heute viel größer als vor
zehn Jahren; aber man kann entsprechende Verträge abschließen.
({7})
Es ist heutzutage möglich, dass man bei steigender Inanspruchnahme mehr Kapazitäten bekommt. Wie ich höre,
sind die neuen Ausschreibungen nicht wesentlich besser
und genauso dürftig wie die alten.
Lassen Sie uns doch diese Blackbox, um die wir nun
schon seit Jahren herumschleichen, endlich gemeinsam
aufbrechen.
({8})
Herr Minister zu Guttenberg, ich bitte Sie ganz herzlich:
Geben Sie Ihrem Haus den Auftrag, dieses Problem einmal zu prüfen, um uns zu sagen - das will ich einfach
nur wissen -, wie es gehen könnte und was das kosten
würde. Dann können wir hier entscheiden, ob uns unsere
Soldatinnen und Soldaten das wert sind. Ich finde, es
sind die kleinen Dinge, die Vertrauen schaffen und die
Wertschätzung zeigen.
Wenn das mit dem Internet vonseiten des Ministeriums wirtschaftlich nicht vernünftig umsetzbar sein
sollte, dann werden wir die Telekom oder welche Firma
auch immer darum bitten, vor Ort geeignete Funkmasten, vielleicht zum Selbstkostenpreis, zu installieren. So
haben die Belgier das im Übrigen gemacht. Das muss
doch auch hier bei uns möglich sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber bleiben will - und das
muss sie angesichts unserer Vorhaben unbedingt bleiben -, dann dürfen wir uns gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten nicht in dieser Weise als Krämerseelen
aufführen. Kommunikation mit der Familie ist wichtig.
({9})
Sie macht es Soldatinnen und Soldaten überhaupt erst
möglich, über lange Einsatzzeiten hinweg die Beziehung
zu ihren Partnern aufrechtzuerhalten. Wir sollten uns bei
diesen Dingen die kleinen Karos verkneifen und zu mehr
Größe gelangen. Das ist meine dringende Bitte und mein
Plädoyer.
Ich danke heute dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Herrn Königshaus, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre Arbeit und den
vorliegenden Bericht. Lassen Sie uns weiterhin gemeinsam dafür eintreten, dass unsere Soldatinnen und Soldaten in ihrem Alltag die Wertschätzung bekommen, die
sie verdienen. Mit Ihrem Bericht haben Sie einen wichtigen Beitrag dazu geleistet.
Vielen Dank.
({10})
Der Kollege Christoph Schnurr hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Es ist schon interessant gewesen, Frau Kollegin Evers-Meyer, was Sie
gesagt haben. Ich glaube, dass man das eine oder andere
schon noch einmal ansprechen muss.
Zunächst einmal ist zu sagen: Die Arbeit des ehemaligen Wehrbeauftragten Reinhold Robbe war sicherlich
beachtlich, und jeder seiner Berichte und jede seiner
Stellungnahmen hat in diesem Hohen Hause Zuspruch
und Anerkennung gefunden. Wir behandeln heute den
letzten Bericht, den Herr Robbe vorgelegt hat, und auch
die Antworten des Ministeriums auf diesen Bericht.
Sie, Frau Evers-Meyer, haben dann gesagt, dass große
Fußstapfen vorhanden gewesen sind und dass der neue
Wehrbeauftragte diese nach Möglichkeit ausfüllen soll,
was aber wohl schwierig sein mag. Ich sage Ihnen ganz
offen: Es geht nicht darum, Fußstapfen auszufüllen, sondern darum, neue Akzente zu setzen. Deswegen finde
ich es besonders gut und lobenswert, dass der neue
Wehrbeauftragte seine Erkenntnisse, die er bei Truppenbesuchen und bei seinen Reisen in die Einsatzländer gewinnt, nicht zuerst in Zeitungen vermittelt. Er hat vielmehr seine beiden Zwischenberichte, die er im letzten
halben Jahr bereits geschrieben hat, erst dem Ausschuss
zur Diskussion vorgelegt und hat damit zugleich auch
dem Ministerium die Möglichkeit gegeben, mit entsprechenden Antworten auf diese Zwischenberichte zu reagieren. Es ist der richtige Weg, das auf diese Weise im
Parlament kundzutun.
({0})
Nun zum Bereich PTBS: Wir Abgeordnete und insbesondere wir Verteidigungspolitiker wünschen uns natürlich oft, dass Dinge schneller, zügiger und vielleicht
auch effizienter ablaufen. Wenn wir uns aber einmal
klarmachen, welchen Stellenwert das Thema PTBS vor
fünf Jahren hatte - es sage mir keiner, dass es zu diesem
Zeitpunkt keine PTBS-Betroffenen gegeben habe -,
kommen wir nicht umhin, festzustellen, dass wir heute
auf einem richtigen und guten Weg sind. Ich glaube, das
darf man an dieser Stelle auch einmal sagen.
({1})
Meine Damen und Herren, es handelt sich - das habe
ich bereits gesagt - nicht nur um den 51. Jahresbericht
eines Wehrbeauftragten, sondern auch um den Abschlussbericht von Reinhold Robbe. Dieser Bericht stellt
verschiedene Mängel, Probleme und Schwierigkeiten im
Jahr 2009 innerhalb der Bundeswehr heraus. Darin werden alle Teilstreitkräfte, Organisationsbereiche, Dienstgradgruppen, die Relationen von Frauen und Männern,
von Einsatzgebieten und Heimatländern, von Reservisten und Aktiven genannt. Viele Probleme sind herausgestellt worden. Das einzig Richtige, das man dagegen tun
kann, ist letztendlich, gegenzusteuern, die Probleme abzustellen und niemals die Augen und Ohren zu verschließen. Der ehemalige Wehrbeauftragte hat nicht die
Ohren verschlossen, sondern er hat immer zugehört.
Hellmut Königshaus, der neue Wehrbeauftragte, tut dies
genauso. Er hört sich die Sorgen, die Nöte, die Anregungen, zum Teil die Bitten und manchmal an der einen
oder anderen Stelle auch die bittere Wahrheit von unseren Soldaten an und transportiert sie in den Deutschen
Bundestag. Ich bedanke mich bei dem ehemaligen Wehrbeauftragten und auch beim heutigen Wehrbeauftragten
recht herzlich für ihre Arbeit.
({2})
Die rund 5 500 Eingaben im Jahr 2009 sind in ihren
Anliegen äußerst unterschiedlich. Einige Eingaben sprechen Probleme und Vorfälle an, die menschlicher Natur
sind. Dennoch können sie ärgerlich für die Betroffenen
sein. Wenn beispielsweise ein Geschäftszimmersoldat
Akten verlegt und deshalb eine Beförderung nicht sofort
durchgeführt werden kann und dann Monate auf sich
warten lässt, dann ist das für den Betroffenen zwar ärgerlich, aber es ist menschliches Versagen.
Allerdings werden auch zu Recht Probleme der Soldaten geschildert, die einen politischen Handlungsbedarf
aufzeigen, bei denen Bundestag und Ministerium letztendlich gefordert sind, beispielsweise beim eklatanten
Mangel an Ärzten. Allein heute fehlen über 600 Ärzte in
der Bundeswehr; beruhigend ist das nicht. Jedoch denke
ich, dass mit der Zulage für Ärzte der erste Schritt in die
richtige Richtung gemacht worden ist. Der erhöhte
Haushaltsansatz 2011 für das Sanitätswesen ist ein Anfang für die Attraktivitätssteigerung in diesem Organisationsbereich.
Wenn Soldaten lesen, dass im Jahr 2009 466 Kameradinnen und Kameraden mit PTBS behandelt worden
sind, so schätzen einige in der Truppe diese Zahl wiederum als wesentlich höher ein. Das ist alarmierend. Um
diese Dunkelziffer mache ich mir - ich glaube, wir uns
alle - große Sorgen. Ich setze daher auch auf die Vorgesetzten, Freunde und Familien von Soldaten und hoffe,
dass sie sich bei Verdacht für eine Untersuchung der Betroffenen einsetzen. Denn eines ist klar: Es ist keine
Schmach und auch kein Makel. Der Soldatenberuf fordert viel, und dementsprechend besteht auch der Anspruch, viel zurückzubekommen, was die Genesung sowohl des Körpers als auch des Geistes betrifft. Dieses
Land kann und wird darauf verzichten, seine gedienten
Frauen und Männer ins Abseits zu stellen.
({3})
Allerdings beschäftigen mich auch andere Dinge, vorneweg die Reservisten. Auch ich bin Reservist. Es macht
Spaß, auf diese Art und Weise etwas für das Land tun zu
können. Doch zum Teil sind wohl einige Truppenteile
nicht in der Lage, adäquat mit ihren Reservisten umzugehen. 188 Vorgänge im Jahr 2009 befassen sich mit der
Thematik von Reservisten. Das sind Eingaben von Menschen, die freiwillig ihr soziales Gefüge - sprich: Familie, Freunde und Arbeit - für eine gewisse Zeit verlassen.
Da ist es aus meiner Sicht nicht zu viel verlangt, dass die
personalbearbeitenden Stellen diesen Personen entgegenkommen und sie sachgerecht behandeln; denn die
Reservisten sind gerade vor dem Hintergrund der Strukturreform und der neuen Bundeswehr, die auf uns zukommt, notwendig. Eigentlich sind, wenn wir einmal
ganz ehrlich sind, die Reservisten schon heute aus der
Bundeswehr nicht mehr wegzudenken. Jeden Tag leisten
im Schnitt 2 400 Reservisten ihren Dienst in der Bundeswehr. Auch hier ein Dankeschön an die Reservisten. Sie
sind ein wichtiger Bestandteil der Bundeswehr.
({4})
Ein weiteres oft debattiertes Problem, das wir im Ausschuss begleitet haben und das in der Tat in vielen Berichten immer wieder thematisiert wird, ist die Ausstattung der Soldaten, und zwar von der Kleinstausstattung,
die teilweise - so mag man denken - sehr schnell zu beschaffen ist, bis hin zu größeren Waffensystemen bzw.
geschützten Fahrzeugen. Ja, wir brauchen mehr geschützte Fahrzeuge, nicht nur in Einsatzgebieten, sondern auch an den Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr im Inland. Es ist von elementarer Wichtigkeit, dass
wir unsere Soldaten auf den Fahrzeugen ausbilden, auf
denen sie im Einsatz arbeiten. Die Militärkraftfahrer
müssen ihre Fahrzeuge in- und auswendig kennen und
wissen, wie sich das Fahrzeug in jeglicher Situation verhält. Wenn auch nur ein Soldat nicht auf dem richtigen
Fahrzeug ausgebildet wird, dann ist das ein Soldat zu
viel.
Ein wichtiges Thema bleibt die Frage der Kommunikation im Auslandseinsatz. Dazu gehört die Möglichkeit,
mit der Familie zu sprechen. Das bisherige Angebot ist
zu gering. Deshalb liegt meine Hoffnung, Herr Minister,
auf der Neuausschreibung und vor allem auf der Neuvergabe dieser Leistungen. Wir müssen noch viel tun.
Meine Redezeit geht zu Ende; es gäbe aber noch einiges zu sagen. Meine Ausführungen haben gezeigt, dass
der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus für seinen
neuen Bericht noch einiges zu tun hat, angefangen beim
Sanitätsdienst, über die Frage der Steigerung der Attraktivität des Dienstes und die Frage der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf, die weiterhin im Raum steht, bis hin
zur neuen Struktur.
Herr Wehrbeauftragter, vor diesem Hintergrund möchte
ich sagen, dass wir uns auf die Zusammenarbeit freuen.
Ich bedanke mich bei Ihnen allen recht herzlich.
({5})
Paul Schäfer ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Es ist eine gute Tradition,
dass wir nicht erst zu mitternächtlicher Stunde, sondern
zu einer prominenten Zeit über den Jahresbericht des
Wehrbeauftragten diskutieren. Es ist zwar etwas komisch, dass wir jetzt über den Jahresbericht 2009 eines
Wehrbeauftragten diskutieren, der nicht mehr im Amt
ist, aber immerhin!
Es gehört auch zur Tradition, dass in diesem Rahmen
immer den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr
Dank ausgedrückt wird. Abgesehen davon, dass mir die
ritualisierte Form, in der das sehr oft geschieht, fremd ist
- Ritualisierung bedeutet oft auch Sinnentleerung -,
stört uns - das ist ein wichtiger Punkt - das Missverhältnis zwischen diesen Dankesgesten und dem, was in der
Praxis für die persönlichen Belange der Soldatinnen und
Soldaten getan wird.
Es gibt in diesen Tagen eine Postkartenaktion des
Deutschen BundeswehrVerbandes. Auf der Postkarte ist
eine Frau abgebildet, die unschwer als die Kanzlerin zu
erkennen ist, der die Worte in den Mund gelegt werden:
Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienen unsere Solidarität …
Der Soldat, der ihr auf dem Bild gegenübersteht, fragt:
… sind 2,5 % Bezügekürzung wirklich solidarisch?
Ich glaube, das trifft den Punkt.
Man kann es ein bisschen verallgemeinern: Wenn es
um rüstungsindustrielle oder beschaffungspolitische Maßnahmen geht, dann sind die jeweiligen Regierungen und
die sie tragenden Fraktionen sehr großzügig. Wir haben
es gestern erlebt - diese Übung gibt es immer vor Weihnachten -, wie großzügig man da ist. Wenn es aber um
die persönlichen Belange der Soldatinnen und Soldaten
geht, dann ist man eher zurückhaltend. Das ist das Missverhältnis, das ich meine. Es reicht vom ursprünglich
versprochenen Weihnachtsgeld, das man dann verweigert hat, über die völlig unzulänglichen Möglichkeiten
der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz, mit
ihren Freunden und Familienangehörigen zu kommunizieren - das ist angeblich viel zu teuer -, bis zur unzureichenden Ausstattung des Sanitätsdienstes, aber auch der
Soldatinnen und Soldaten im Hinblick auf ihren persönlichen Schutz.
Der neue Wehrbeauftragte hat hierzu einen sehr umfangreichen Mängelbericht vorgelegt. Das ist bemerkenswert und richtig; das ist auch seine Aufgabe. Es
muss uns aber schon zu denken geben, dass sich das
Bundesministerium der Verteidigung erst dadurch gezwungen sieht, bestimmte Defizite einzugestehen und
sie abzustellen sowie Verbesserungen auf den Weg zu
bringen, deren Umsetzung allerdings eine längere Zeit in
Anspruch nehmen wird. Das ist überhaupt nicht gut. Das
ist der Punkt: Shows zu inszenieren, ist das eine; das andere ist, sich wirklich um diese kleinen, aber drängenden
Probleme der Truppe zu kümmern. Herr Verteidigungsminister, das ist Ihre Aufgabe.
Ein anderes Thema ist aus unserer Sicht vordringlich:
die nun in Gang gesetzte Reform der Bundeswehr an
Haupt und Gliedern und die Aufgaben, die auf den
Wehrbeauftragten in diesem Zusammenhang zukommen. Wenn sich diese Reform durchsetzt, die darauf gerichtet ist, die Bundeswehr auf Auslandseinsätze zu
trimmen und sie da noch besser zu machen, wird es ohne
Zweifel zu beträchtlichen Veränderungen im inneren Gefüge der Streitkräfte kommen: Veränderungen der Struktur, Zentralisierung, stärkere Unterordnung der zivilen
Säule der Bundeswehr. Die andere Seite ist der mögliche
Wandel der Kultur in der Truppe, genauer gesagt des
Selbstverständnisses der Truppe. Eine Armee, die eine
offensive Aufstandsbekämpfung und die Durchsetzung
wirtschaftlicher Interessen auf der Agenda hat, pflegt
eine andere Kultur als eine Armee, die sich an den Zwe8984
Paul Schäfer ({0})
cken der Verteidigung orientiert. Es ist die Frage, was
dann vom Staatsbürger in Uniform übrig bleibt; das ist
für den Wehrbeauftragten ein zentrales Thema.
Man kann aggressive Patches an der Uniform oder im
Selbstdruck hergestellte T-Shirts als Randerscheinungen
abtun. Schwieriger wird es, wenn man in den Einsätzen
dazu kommt, gezielte Tötungen zumindest billigend in
Kauf zu nehmen. Es wird ganz gefährlich, wenn sich
- nicht zuletzt in Verbindung mit diesen Einsätzen - ein
elitäres Korpsdenken und eine sich vertiefende Skepsis
gegenüber dem Parlamentarismus durchsetzen sollten.
Die Ergebnisse der im März 2010 veröffentlichten
SOWI-Studie der Bundeswehr müssen uns in diesem
Zusammenhang zu denken geben. Das ist ein wichtiges
Thema, über das wir im nächsten Jahr dringend zu diskutieren haben.
2011 haben wir also nicht nur über Standortentscheidungen und Ausrüstungsvorhaben zu reden, sondern
auch darüber, wie man die Innere Führung und damit ein
gewisses Maß an Zivilität - darum geht es schließlich in den Streitkräften wiederbeleben bzw. stärken kann.
Folgende Themen stehen also an: Beteiligungsrechte der
Soldatinnen und Soldaten, strikte Ausrichtung der Streitkräfte an internationalem Recht und Gesetz sowie Fortführung der Bundeswehr als Ausbildungsarmee unter
veränderten Bedingungen. Wenn man den Anteil der
Zeitsoldaten erhöhen will, muss man auch etwas tun, um
sie besser auf die Zeit danach vorzubereiten. All das sind
dringende Fragen, über die diskutiert werden muss. In
diesem Zusammenhang ist das Amt des Wehrbeauftragten von zentraler Bedeutung.
Natürlich wünsche ich uns allen hier und auch allen,
die uns zusehen, frohe Weihnachten und wünsche, dass
die Soldatinnen und Soldaten gesund zurückkehren. Dabei gilt: Je früher, desto besser.
Danke.
({1})
Die Kollegin Agnes Malczak hat jetzt das Wort für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Königshaus, ich möchte Ihnen genauso wie
Ihrem Vorgänger, Reinhold Robbe, im Namen meiner
Fraktion danken. Ich möchte aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken, die die Vielzahl der
Eingaben bearbeiten und ihre Aufgabe engagiert erfüllen.
({0})
Der vorliegende Bericht des Wehrbeauftragten für das
Jahr 2009 nimmt die Situation der Soldatinnen und Soldaten und der Bundeswehr insgesamt in den Blick sachlich, klar und differenziert. Das Parlament und die
Regierung sind aufgefordert, diesen Bericht nicht einfach nur zur Kenntnis zu nehmen; wir müssen ihn auch
als Aufforderung zum Handeln verstehen.
Eine Funktion des jährlichen Berichtes des Wehrbeauftragten ist die Herstellung von Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit für den Zustand der Bundeswehr und
die Situation der Soldatinnen und Soldaten; denn die
Bundeswehr ist kein Staat im Staate, und sie soll es auch
nie werden. Gleichzeitig haben wir eine besondere Verantwortung für die Soldatinnen und Soldaten. Der
jüngste Versuch des Verteidigungsministers, diese notwendige Aufmerksamkeit herzustellen, ging allerdings
fehl. Es ist doch vollkommen klar: Mit einer Aktion wie
diesem Truppenbesuch mit Gattin und Talkmaster wird
die Aufmerksamkeit von der schwierigen Situation in
Afghanistan abgelenkt.
({1})
Im Vordergrund stehen schöne Bilder des Ehepaares zu
Guttenberg. Im grellen Blitzlichtgewitter aber verblassen
Probleme, Sorgen und Nöte.
({2})
Das kann nicht im Sinne der Soldatinnen und Soldaten
sein. Die Intention mag richtig gewesen sein, diese Inszenierung aber war unangemessen.
({3})
Gewisse Themen haben für eine bestimmte Zeit Konjunktur. Doch kaum rutschen diese Themen von den vorderen Seiten der Zeitungen, scheint auch der Handlungsdruck nachzulassen. Als dieser Bericht vorgestellt
wurde, dominierten die Personalprobleme im Sanitätsdienst generell die Debatte. Die Personallücken dort haben gravierende Folgen.
({4})
Es geht beim Sanitätsdienst auch um die psychologische
und psychiatrische Betreuung der Bundeswehrangehörigen.
Ein anderes Thema, das vor einiger Zeit Konjunktur
hatte, nun aber viel zu wenig Aufmerksamkeit genießt,
ist die steigende Zahl der Soldatinnen und Soldaten, die
unter einer einsatzbedingten posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Ich freue mich, dass eigentlich alle
Redner und Rednerinnen vor mir dieses wichtige Thema
angesprochen haben. Die Soldatinnen und Soldaten, die
davon betroffen sind, sind auf psychologisch gut ausgebildetes Personal und eine qualifizierte psychotherapeutische Behandlung angewiesen. Ich halte es für falsch
und gefährlich, dass das Verteidigungsministerium in
seiner Stellungnahme beschönigend so tut, als sei in diesem Bereich alles Nötige bereits getan.
({5})
Das ist Realitätsverweigerung. Die Maßnahmen, die das
Verteidigungsministerium für den Sanitätsdienst bisher
ergriffen hat, greifen zu kurz oder wirken zu langsam.
Entscheidend wird sein, was im Zuge der Bundeswehrreform in Sachen Sanitätsdienst geschieht.
Natürlich müssen die Bundeswehr und der Verteidigungshaushalt insgesamt einen Beitrag zur Erreichung
der Sparziele leisten. Doch die Koalition schafft es derzeit nicht, im Zusammenhang mit der Bundeswehrreform ein Gesamtpaket zu schnüren, mit dem auch nur
geringe Einsparungen erreicht werden. Am Ende stehen
wir wieder vor der Frage: Was kann sich die Bundeswehr noch leisten? Ich befürchte, dass es dann bei den
Fürsorgeleistungen Abstriche geben wird, statt diese zu
verbessern. Darum kann ich die Entscheidung für eine
Truppenstärke in einer Größenordnung von 185 000 Soldatinnen und Soldaten nicht nachvollziehen. Masse auf
Kosten von Qualität macht keinen Sinn.
({6})
Ein Thema, das in der öffentlichen Debatte in diesem
Jahr nur an einer Stelle eine Rolle gespielt hat, ist die Innere Führung. Thematisiert wurde sie nur im Zusammenhang mit den Vorfällen in Mittenwald. Aufmerksamkeit für die Innere Führung brauchen wir aber auch
jenseits der negativen Ereignisse und extremen Vorfälle.
Ihre Prinzipien binden die Bundeswehr an die Werte unserer Gesellschaft, zuallererst an die Achtung der Menschenrechte. Das ist keine Einbahnstraße: Die Bundeswehr muss nicht nur auf die Gesellschaft schauen, die
Gesellschaft muss auch auf die Bundeswehr schauen.
Der Bericht des Wehrbeauftragten ist dafür nur ein Instrument, wenn auch ein sehr wichtiges. Die Tätigkeit
des Wehrbeauftragten entbindet nicht von der Verpflichtung zur weiteren und intensiven Auseinandersetzung
mit der Bundeswehr und der Inneren Führung. Der Bericht wirft in diesem Zusammenhang bedenkenswerte
Fragen auf, über die dringend diskutiert werden muss
und die nicht auf die lange Bank geschoben werden dürfen.
Die Einsätze im Ausland sind in vielerlei Hinsicht
- auch im Hinblick auf die Innere Führung - eine besondere Herausforderung. Hier stellen sich ebenfalls Fragen, die wir nicht ignorieren dürfen. Werden die Prinzipien der Inneren Führung in der Einsatzsituation
umgesetzt? Was bedeuten zum Beispiel die multilateralen Zusammenhänge in den Einsätzen für die Innere
Führung? Dies sind einige Entwicklungen, die es zu begleiten gilt, auch weit über die Vorlage des Berichtes des
Wehrbeauftragten hinaus.
Lassen Sie mich abschließend noch auf einen letzten
Punkt zu sprechen kommen. Manche Zeitgenossen kritisieren gerne diejenigen, die Kritik üben. So manches
Mal wurde beispielsweise gegen die Kritik an der Strategie in Afghanistan die Behauptung ins Feld geführt, mit
Kritik würde die Solidarität mit den Soldatinnen und
Soldaten unterlaufen. Dabei ist es gerade für die Soldatinnen und Soldaten ungeheuer wichtig, dass kritisch gefragt wird, ob eine Strategie funktioniert oder nicht.
({7})
Adressat solcher kritischen Fragen sind nicht die Soldatinnen und Soldaten, sondern in erster Linie die politische und militärische Führung. Das mag für Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, unbequem
und unangenehm sein, aber das müssen Sie aushalten.
Kritische Stellungnahmen und Fragen zu den Einsätzen
werden Sie sich von meiner Fraktion auch weiterhin gefallen lassen müssen.
Vielen Dank.
({8})
Robert Hochbaum hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter
Königshaus! Ich möchte zunächst ganz kurz auf die
Rede von Frau Evers-Meyer eingehen, die davon gesprochen hat, dass im letzten Jahr im Bereich PTBS
überhaupt nichts passiert sei. Ich weiß nicht, ob Ihnen
entgangen ist, dass wir inzwischen ein PTBS-Traumazentrum, einen PTBS-Beauftragten etc. haben. Die Liste
könnte beliebig fortgesetzt werden. Ich möchte betonen,
dass viel getan worden ist. Dafür danke ich unserem
Minister an dieser Stelle ausdrücklich.
({0})
Wir beraten heute den 51. Bericht des Wehrbeauftragten, der von dem damaligen Wehrbeauftragen, Reinhold
Robbe, vorgelegt wurde. Wir haben inzwischen einen
neuen Wehrbeauftragten. Interessant ist: Dessen aktuelle
Berichte sind dem Bericht, der dieser Debatte zugrunde
liegt - zum Beispiel bezüglich der Ausrüstung in den
Einsätzen -, zumindest ähnlich.
Aus diesem Grund möchte ich einen mir besonders
wichtigen Punkt herausgreifen: die beschriebenen Mängel an der Ausrüstung der Soldaten, ob im Einsatz oder
bei der Vorbereitung zu Hause. In diesem Zusammenhang hat auch der neue Wehrbeauftragte, wie ich finde,
bereits auf nachhaltige Weise seiner Funktion, Anwalt
der Soldaten zu sein, Ausdruck verliehen. Dafür möchte
ich an dieser Stelle dir, lieber Hellmut Königshaus, und
deiner Mannschaft großen Dank sagen.
({1})
Zurück zu den aufgeführten Mängeln beim Material,
von denen Soldaten mir und, wie ich weiß, auch anderen
meiner Kolleginnen und Kollegen vor Ort in Afghanistan, aber auch in den Heimatstandorten immer wieder
berichtet haben. Wir sollten dies nicht einfach beiseitewischen, sondern sehr genau zuhören und natürlich für
Abhilfe sorgen. Wenn es um geschützte Fahrzeuge, um
Waffen, ja sogar - so lapidar das klingt - um Munition
für unsere Einsatzkräfte geht, sollte bei allen die berühmte rote Lampe aufleuchten. Bei aller Kritik weiß ich
eines genau: Gerade diesen Hinweisen wird vonseiten
unseres Ministers sehr verantwortlich nachgegangen,
und das Abstellen tatsächlich erkannter Mängel wird unverzüglich angeordnet.
Doch warum tauchen sie dann immer wieder auf?
Warum dauert ihre Behebung oft länger, als es für mich
persönlich ertragbar ist? Beim näheren Beleuchten dieser Frage stößt man unweigerlich, über kurz oder lang,
auf ein leider weithin bekanntes Stichwort: die Bürokratie. Sie stellt schon ein Problem dar, wenn es um die
Frage geht, wie schnell angesichts eines erkannten Mangels eine Entscheidung über seine Behebung erfolgen
kann. Noch konkreter: Wie lange dauert es dann, bis der
Mangel behoben wird?
Um es deutlicher zu sagen: Gerade beim Letztgenannten kommt es mir oft so vor, als ob mancherorts Beamte im Spiel sind, die nicht immer die Notwendigkeit,
vor allem aber nicht die Dringlichkeit von Beschaffungen und Maßnahmen für unsere Soldatinnen und Soldaten in den Einsätzen sehen. Hier darf es, wenn es darauf
ankommt, auch einmal keinen normalen Feierabend und
keine Regelstundenzahl in der Woche geben. Ich will es
auf den Punkt bringen: Im und für den Einsatz hat Bürokratie nichts zu suchen.
Ich darf die in genau dieselbe Kerbe treffenden Worte
des Ministers, die er bei der Kommandeurstagung der
Bundeswehr in Dresden sagte, zitieren:
Es gibt auch noch die andere Bundeswehr, ein System bürokratischer Regelungswut, die Praxis des
Absicherns und des Nach-oben-Schiebens - melden
soll angeblich frei machen. Wenn wir damit nicht
Schluss machen, dann werden wir scheitern!
Richtig, Herr Minister.
Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang meine
Hochachtung und meinen Dank aussprechen. Sie haben,
neu im Amt, die Problematik, die schon seit langer Zeit
bestanden hat, erkannt und bauen die Bundeswehr um.
Ich weiß, dass es dabei nicht nur, was immer die Runde
macht, um Kopfzahlen und Geld geht, sondern auch um
Effizienz, um Effizienz, die helfen wird, auch diese Probleme zumindest zu minimieren. Das tun Sie nicht für
uns - das weiß ich -, sondern für die Soldatinnen und
Soldaten im Einsatz. Dafür danke ich Ihnen und wünsche Ihnen tatkräftige Unterstützung aus diesem Haus
und viel Erfolg auf diesem nicht ganz einfachen Weg.
Sehr geehrte Damen und Herren, abschließend noch
einige Sätze zum Stichwort „Rückhalt in der Gesellschaft“. In einer Woche feiern wir Weihnachten. Nichts
ist schöner, als dieses Fest mit seiner Familie zu begehen. Viele Soldatinnen und Soldaten können dies nicht
tun, weil sie im Einsatz sind und für unsere Sicherheit
Leib und Leben riskieren. Es liegt an uns, ihnen dabei
Rückhalt zu geben. Aber das ist nicht nur unsere Aufgabe. Es ist auch die Aufgabe aller gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen.
Ein sichtbares Zeichen des Beistandes wäre beispielsweise ein Innehalten und Gedenken an unsere Soldaten
bei größeren Veranstaltungen. Gerade in diesen Tagen
würde ich mir dies von allen gesellschaftlichen Akteuren
wünschen, denen ich zurufe: Seien Sie gedanklich bei
unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, und halten
Sie für eine Minute inne!
Herzlichen Dank.
({2})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zum Jahresbericht 2009 des Wehrbeauftragten auf den Drucksachen 17/900 und 17/3738.
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ute Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Engagementpolitik im Dialog mit der Bürgergesellschaft
- Drucksache 17/3712 Hierzu ist vorgesehen, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Ute Kumpf das
Wort.
({0})
Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich vermisse jemanden auf der Regierungsbank. Ich
weiß nicht, ob noch jemand aus dem zuständigen Hause
kommt, um uns bei der Debatte zum bürgerschaftlichen
Engagement zu begleiten.
({0})
Soweit dieses Feld die Ministerin interessiert, sollte sie
sich ein bisschen mehr reinknien.
({1})
Ich sehe auch nicht den zuständigen Staatssekretär. Aber
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind ja hier.
Wir debattieren heute über ein sehr wichtiges Politikfeld, das wir am 5. Dezember immer sehr hoch halten,
bei dem wir, wenn es zum Schwur kommt, in Bezug auf
die Regierung aber auch Schwächen feststellen. Jeder
von uns weiß, dass bürgerschaftliches Engagement für
eine vitale Demokratie und für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft unabdingbar ist. Wer sich freiwillig engagiert, leistet in Eigenverantwortung und Eigeninitiative einen wesentlichen Beitrag für unsere Gesellschaft,
mit dem Vertrauen und Solidarität gestiftet wird.
Bürgerschaftliches Engagement hat viele Gesichter.
Das wissen Sie alle. Sie alle sind in den Wahlkreisen unterwegs und kennen Ihren Teil von den 23 Millionen
Menschen, die sich in insgesamt 550 000 Vereinen,
17 000 Stiftungen sowie in Genossenschaften, Netzwerken und Wohlfahrtsverbänden engagieren. Dieses Engagement verdient unsere Anerkennung und Wertschätzung und vor allem eine Politik, die die Förderung
bürgerschaftlichen Engagements als Kernaufgabe versteht.
Bürgerschaftliches Engagement kann nicht verordnet
und darf nicht verzweckt und als Lückenbüßer missbraucht werden. Bürgerschaftliches Engagement ist
nicht zum Nulltarif zu haben. Seit der Vorlage des Abschlussberichts der Enquete-Kommission „Zukunft des
Bürgerschaftlichen Engagements“ waren diese Punkte
über alle Fraktionen in diesem Hause hinweg immer
Konsens. Darauf aufbauend haben wir seit über zehn
Jahren Politik für die Engagierten entwickelt. Noch in
der Großen Koalition wurde im Januar 2009 der Prozess
für eine nationale Engagementstrategie angestoßen. Wir,
die SPD, waren und sind nach wie vor davon überzeugt,
dass eine nationale Engagementstrategie nur im Dialog
und auf gleicher Augenhöhe mit der Bürgergesellschaft
entwickelt werden kann.
({2})
- Jetzt ist das Ministerium endlich auch vertreten, wenn
auch nicht in Person der Ministerin, sondern eines entsprechenden Zuträgers.
({3})
Ich hoffe, er nimmt die Ergebnisse der Debatte auch mit.
Ich hätte mir eine Ministerin gewünscht, die sich für dieses wichtige Politikfeld - vor zwei Wochen hat sie noch
Preise für bürgerschaftliches Engagement verteilt - auch
einmal nachmittags Zeit nimmt. Es wäre den Zeitaufwand von einer Stunde wert, sich einmal ein bisschen
mit dem vertraut zu machen, was wir in den letzten zehn
Jahren gemeinsam geleistet haben. Auch wenn wir hier
nur ein kleiner, aber sehr engagierter Kreis sind, hätten
wir die Aufmerksamkeit der Ministerin verdient.
({4})
- Ich hoffe es.
({5})
Die Bundesregierung hat zu Beginn der Legislaturperiode angekündigt, das Vorhaben einer nationalen
Engagementstrategie, das wir 2009 in der Großen Koalition gemeinsam geschultert haben, weiter zu verfolgen.
Als die nationale Engagementstrategie am 6. Oktober
beschlossen wurde, gab es große Überraschungen, Enttäuschungen und natürlich auch höfliche Bekundungen,
da man es sich mit dem zukünftigen Geldgeber natürlich
nicht verscherzen will; das wissen Sie ja, Herr Grübel.
Die beschlossene Engagementstrategie wurde aber
durch die Haushaltsbeschlüsse konterkariert, die heftige
Einschnitte bei Projekten vorsehen, die wir für wegweisend halten, um Engagement überhaupt zu ermöglichen.
Es darf einen nicht wundern, dass kein Vertrauen wächst,
wenn auf der einen Seite große Versprechungen gemacht
werden, die sich dann auf der anderen Seite aber nicht in
finanzieller Unterstützung niederschlagen.
Ich will einige Beispiele nennen. Mit Engagement als
Motor für Integration und Teilhabe will die Strategie den
gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Diesen Satz
unterschreiben wir alle. Aber was macht die Regierung?
Abrissbirne statt Abbau: Das Programm „Soziale Stadt“
soll nach dem Willen der Bundesregierung totgespart
werden. Zukünftig darf nur noch in Beton, aber nicht
mehr in Bürgerbeteiligung investiert werden.
Zweites Beispiel. Mit Engagement für Bildung und
individuelle Förderung will die Engagementstrategie
faire Chancen in unserer Gesellschaft schaffen. Doch
was geschieht konkret? Statt die Aussetzung der Wehrpflicht für einen entschlossenen Ausbau der Jugendfreiwilligendienste zu nutzen, errichtet die Bundesregierung
mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst Doppelstrukturen und schafft damit vor allem eine Verstaatlichung der
Freiwilligenarbeit.
Auch die angekündigten lokalen Bildungsbündnisse
bleiben leere Versprechungen, wenn die föderale Zusammenarbeit nicht ernsthaft angegangen wird. Statt dass
Bildungspäckchen geschnürt werden, fordern wir von
der SPD, mehr Geld in Ganztagsschulen zu investieren
und die Schule gemeinsam mit der Bürgergesellschaft zu
einer Bürgerschule zu entwickeln, in der Engagement
gelernt und auch erfahren wird.
Drittes Beispiel. Die Engagementstrategie wirbt für
die Bewahrung eines intakten Lebensumfeldes durch
bürgerschaftliches Engagement: Auch das können wir
unterstreichen. Dafür ist aber eine entsprechende Infrastruktur nötig, wie Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros
und auch Selbsthilfegruppen, die vor Ort vermitteln,
qualifizieren und unterstützen, sowie Netzwerke auf lokaler und Bundesebene.
Doch auch hier wieder: Schall und Rauch. Der sowieso
schon kleine Haushaltstitel für Infrastruktur, Netzwerke
und Freiwilligenagenturen, der 2009 noch 2,3 Millionen
Euro umfasste, wird in 2011 auf 1,6 Millionen Euro
„eingedampft“. Die Bürgerstiftungen sollen hier als Ausfallbürgen einspringen, aber ich glaube, keiner von der
Bundesregierung hat die Bürgerstiftungen je gefragt, ob
sie dazu bereit sind, diese Aufgabe zu übernehmen.
Letztes Beispiel. Mit der nationalen Engagementstrategie soll Engagierten durch die Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen geholfen werden. Auch
dazu können wir sagen: Ja, das wollen wir. - Bei der
konkreten Ausgestaltung herrscht aber Fehlanzeige.
Es fehlen Aussagen zum Zuwendungsrecht und zum
Bürokratieabbau. Dabei ist das Feld schon bearbeitet
und beackert. Es gab eine Kommission im Bundeskanzleramt, die Vorarbeiten geleistet hat, es gibt Vorarbeiten
von der Arbeitsgruppe im „Nationalen Forum für Engagement und Partizipation“, und es gibt Empfehlungen
noch und nöcher, die wir aufgrund unserer Erfahrungen
2008 bei dem Gemeinnützigkeits- und Stiftungsrecht
auch schon aufgegriffen haben, um praxistaugliche Lösungen zu finden.
Wir sagen heute an dieser Stelle: Wir bieten unsere
Mitarbeit dabei an, Ihre Engagementstrategie, die diesen
Namen bislang noch nicht verdient, weiterzuentwickeln
und weiter auszubauen. Gehen Sie auf die Vorschläge
ein, die jetzt bei der Onlinebefragung bei Ihnen eingegangen sind, und entwickeln Sie tatsächlich einen Dialog mit der Bürgergesellschaft auf gleicher Augenhöhe,
um eine Engagementstrategie auf den Weg zu bringen,
die diesen Namen wirklich verdient! Wir sind dazu bereit.
Zunächst einmal bitten wir aber um die Beantwortung
unserer Großen Anfrage, damit wir im Jahr 2011 weiter
mit Ihnen diskutieren - ich glaube, das wäre passend;
denn das Jahr 2011 wird das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit sein - und tatsächlich gemeinsam über
die Fraktionen hinweg weiter eine nachhaltige Engagementpolitik hier in diesem Hause betreiben können.
Danke schön.
({6})
Jetzt hat die Kollegin Dorothee Bär für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber
Herr Staatssekretär! Frau Kollegin Kumpf, bevor Sie
sich darüber beschweren, dass die Frau Ministerin nicht
anwesend ist, um Ihrer großartigen Rede zu lauschen,
die, lassen Sie es mich gelinde sagen, nicht so großartig
war, sollten Sie lieber dankbar sein, dass die Ministerin
an großartigen Programmen arbeitet, durch die die Arbeitsbedingungen der Ehrenamtlichen in diesem Lande
verbessert werden.
({0})
Ohne bürgerschaftliches Engagement wäre unsere
Gesellschaft ärmer - nicht nur im materiellen Sinne. Das
hat unsere Fraktion gemeinsam mit unserem Koalitionspartner erkannt.
({1})
Nach den neuesten Ergebnissen des dritten Freiwilligensurveys engagieren sich 71 Prozent unserer Bundesbürgerinnen und Bundesbürger über 14 Jahren ehrenamtlich.
Das sind sage und schreibe 23 Millionen Menschen.
Ich freue mich über jeden Einzelnen, der dazu beiträgt, unsere Gesellschaft menschlicher zu machen, und
der einen persönlichen Beitrag leistet, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Ich glaube, diese Hochachtung
müssen wir denjenigen zollen, die das Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat in diesem Land tun.
Sie tun das natürlich nicht nur in Nachbarschaftshilfen,
in Sportvereinen, bei den Kirchen, bei den Feuerwehren,
bei Rettungsdiensten, in Heimen und in Krankenhäusern. Ich möchte mich auch einmal ganz herzlich bei
denjenigen bedanken, die sich politisch ehrenamtlich engagieren. Auch das ist sehr wichtig für unsere Demokratie.
({2})
Damit diese Begeisterung nicht nachlässt, müssen
förderliche Rahmenbedingungen durch eine zukunftsfähige Engagementpolitik geschaffen werden, und zwar
für alle Altersklassen, für Menschen mit und für Menschen ohne Migrationshintergrund, für Begabte, für
Benachteiligte, für Frauen und für Männer. Das gilt natürlich nicht nur für die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger, nein, gerade auch die Jüngeren wollen sich aktiv
einbringen. Wir haben zusätzlich zu den 35 Prozent der
14- bis 24-Jährigen, die sich bereits engagieren, weitere
49 Prozent, die angeben, dass sie sich vorstellen können,
eine ehrenamtliche Tätigkeit zu übernehmen. Das heißt
für mich ganz deutlich, dass es nicht out ist, sich ehrenamtlich zu engagieren, dass es nicht veraltet ist, sondern
dass ein ganz großes, tiefes Bedürfnis vorhanden ist. Wir
müssen auch die Rahmenbedingungen schaffen, damit
man nicht über diejenigen, die sich ehrenamtlich engagieren, sagt: Bist du blöd, dich zu engagieren. - Vielmehr sollte man dies eigentlich über diejenigen sagen,
die das nicht tun.
Die Zahlen zeigen auch, dass junge Menschen keineswegs ichbezogen, lethargisch und desinteressiert sind,
sondern sich sehr wohl engagieren wollen. Deswegen
haben wir gemeinsam mit der FDP das tolle Modul der
Jugendfreiwilligendienste und des neuen Bundesfreiwilligendienstes entwickelt. Ich freue mich sehr, dass im
Anschluss meine Kollegen Markus Grübel und Dr. Peter
Tauber dazu noch ausführlicher Stellung nehmen werden.
({3})
- Es würde auch schon helfen, wenn man nicht nur kritisiert, dass jemand nicht da ist. Es nützt nämlich auch
nichts, sich hier nur den Hintern platt zu sitzen, Frau
Kumpf, die ganze Zeit zu schwätzen und nicht aufzupassen. Da ist mir jemand lieber, der außerhalb des Parlaments arbeitet, statt dass jemand hier sitzt, der sich die
ganze Zeit überhaupt nicht für die Debatte interessiert,
aber schreit: Wir interessieren uns dafür wahnsinnig.
({4})
- Jetzt ist die SPD endlich auch aufgewacht.
Exemplarisch für funktionierendes Engagement im
kommunalen Bereich sind die Mehrgenerationenhäuser.
Die 500 Häuser, die wir haben, arbeiten in der Regel äußerst erfolgreich. Die Häuser sind offen für die Menschen in Stadt, Gemeinde oder Landkreis. Das Konzept,
das von der damaligen zuständigen Ministerin Frau von
der Leyen vorgestellt und umgesetzt wurde, sieht vor,
dass sich hier Menschen generationenübergreifend treffen, dass es Hilfe zur Selbsthilfe und ein neues nachbarschaftliches Miteinander gibt. Die Mehrgenerationenhäuser werden zu über 60 Prozent von ehrenamtlich
Engagierten getragen. Das heißt, über 16 000 Freiwillige
unterstützen die Arbeit in diesen 500 Häusern.
Ich bin wahnsinnig froh, dass es uns als CDU/CSUBundestagsfraktion in vielen Gesprächen gelungen ist,
dieses Erfolgsprojekt in die Zukunft zu tragen, darüber,
dass wir es nicht nur im Koalitionsvertrag verankert haben, sondern wir nach einem Jahr der vielen Gespräche
und Diskussionen sagen können: Dieses Erfolgsprojekt
wird in die Zukunft getragen.
Ich freue mich, dass wir ein neues Programm mit vier
neuen Schwerpunktthemen haben. Eines davon ist für
unsere Gesellschaft sehr wichtig, nämlich Alter und
Pflege; hinzu kommen die Themen Integration und Bildung, haushaltsnahe Dienstleistungen und freiwilliges
Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Der Förderzeitraum soll drei Jahre betragen, die Fördersumme wie
bislang 40 000 Euro im Jahr. In Zukunft sollen sich aber
auch die Kommunen daran beteiligen, wobei es ihnen
freigestellt sein wird, ob sie dies durch Geld- oder durch
Sachleistungen oder aber durch das Zurverfügungstellen
von Personal tun. Insofern betone ich noch einmal, dass
dies nicht nur ein Erfolg für uns ist, sondern ein großer
Erfolg für jeden Einzelnen in diesem Lande, für diejenigen, die sich engagieren, aber auch für diejenigen, für
die dieses Engagement angeboten wird. Es ist also ein
ganz großartiges Zeichen für gelungene Engagementpolitik.
Ein Letztes, meine lieben Kolleginnen und Kollegen:
Ich bedanke mich bei denjenigen, die am Heiligen
Abend, am 24. Dezember, Freiwilliges leisten. Ich richte
dieses Dankeschön stellvertretend für alle an die CaritasStation in Haßfurt, die an diesem Tag für alle Alleinstehenden ein Weihnachtsfest veranstaltet, damit sie an diesem Tag nicht allein sein müssen.
Vielen herzlichen Dank.
({5})
Heidrun Dittrich hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die nationale Engagementstrategie gibt vor, die
Eigeninitiative der Bürger zu stärken. Aber welche Initiative ist gemeint? Viele Eltern, die Grundschulkinder
haben, kennen das aus eigener Erfahrung: Es wird notwendig, ein Klassenzimmer zu streichen. Aber ach, die
Stadtverwaltung hat kein Geld für ihre Schule.
({0})
Also streichen die Eltern das Klassenzimmer selbst. Besser wäre es, Sie streichen die Steuervergünstigungen bei
den Reichen.
Stellen Sie lieber den arbeitslosen Maler ein, damit er
über guten Lohn am gesellschaftlichen Leben teilhaben
kann und in die Sozialversicherungssysteme einzahlt!
Das wäre aus meiner Sicht besser, als ihm über Freiwilligen- oder Seniorenagenturen ein ehrenamtliches Engagement zu vermitteln.
Wenn die Eltern selbst streichen, übernehmen sie
Aufgaben des Staates, für die eigentlich er zahlen sollte.
Ich frage mich: Wozu zahlen wir Steuern? Was macht
die Bundesregierung mit unseren Steuern? Das Klassenzimmer wird jedenfalls nicht renoviert. Die Steuereinnahmen werden stattdessen dafür verwendet, die Steuerbelastung einer großen Hotelkette zu senken. Dafür ist
sogar in der Wirtschafts- und Finanzkrise Geld da.
Nehmen wir die 480 Milliarden Euro, die allein in der
Bundesrepublik Deutschland für die Rettung der Banken
bereitgehalten werden. Kein Wunder, dass dem Staat das
Geld fehlt, um die Schulen zu sanieren.
({1})
Nicht Deutschland schafft sich ab, wie ein SPD-Mitglied
kürzlich äußerte, sondern der Sozialstaat wird abgeschafft.
Noch steht in Art. 20 unseres Grundgesetzes, dass wir
ein sozialer Bundesstaat sind. Der hauptsächliche Inhalt
des staatlichen Handelns sollte nicht die Umverteilung
zu Unternehmen und Banken sein, sondern die Bereitstellung von Schulen und Kindertagesstätten und die
Vorsorge bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Aber gerade dafür geht das Geld aus.
An dieser Stelle bietet die nationale Engagementstrategie eine unternehmerfreundliche Lösung. Damit wir
uns richtig verstehen: Ich bin nicht dagegen, eine Stiftung für krebskranke Kinder ins Leben zu rufen - aber
nicht zur Ergänzung sozialstaatlicher Aufgaben.
Es wurde immer behauptet, der Sozialstaat sei nicht
mehr bezahlbar. Erst wurde er arm gemacht, und jetzt
wird er abgeschafft.
({2})
Beim bürgerschaftlichen Engagement sind die ganz
Großen aber dabei. Die Deutsche Bank und die
Bertelsmann AG sind bereit, mit Stiftungsmitteln staatliche Aufgaben privat zu finanzieren. Was geschieht ei8990
gentlich beim Einsatz von Stiftungsmitteln? Die Stiftungen erhalten einen Teil des eingesetzten Geldes vom
Staat, also vom Steuerzahler, zurück. Gleichzeitig wird
kostenlos Werbung gemacht. Außerdem wählen sie aus,
wo ihr Geld eingesetzt wird. Jetzt wird es völlig undemokratisch: Diese Gelder fließen an den demokratischen
Institutionen unseres Staates vorbei. Wir bestimmen
nicht mehr durch Wahlen, Wahlprogramme oder das Parlament, wo die Kinder gleichmäßig zu fördern sind. Wir
bestimmen nicht mehr, wie in den Kitas Gruppen verkleinert und mehr Erzieherinnen eingestellt werden können.
({3})
Nur einzelne Projekte werden befristet gefördert. Die
eine Stadt hat Glück; die andere geht leer aus. Auch das
widerspricht dem Grundsatz, gleiche Lebensbedingungen für alle herzustellen. Wer kennt sie nicht, die Sponsorenläufe in der Schule oder die Drittmitteleinwerbung,
damit noch Bundeszuschüsse an Mehrgenerationenhäuser gewährt werden können?
({4})
Ihre Bürgergesellschaft ist das Gegenmodell zum Sozialstaat.
({5})
Sie ist der privatisierte Staat. Vorsorgeeinrichtungen wie
private Krankenhäuser sollen Profit bringen. Bildung
soll Geld kosten. Krankheit soll Geld kosten.
Es ist demokratischer, wenn die großen Unternehmen
höher besteuert werden und die Steuerhinterziehung beendet wird. Dann können soziale Leistungen dauerhaft
bezahlt werden. Nur so stellen Sie den Sozialstaat wieder her.
Was aber ist in diesem Land Realität? Freiwillige des
neuen Bundesfreiwilligendienstes werden als Pflegedienstleistende mit Taschengeld oder gleich als Ehrenamtliche eingesetzt. Deutschland ist weltweit der Lohndrücker Nummer eins geworden, wie die Internationale
Arbeitsorganisation in Genf feststellt. Das stempelt
Deutschland zum Hauptschuldigen der Krise in Europa.
({6})
Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie die Menschen ernst
in ihrem Engagement, statt das Ehrenamt zu benutzen,
um in der Pflege Lücken zu schließen! Frau Bär hat sich
schon dafür bedankt, aber sie meint es bestimmt anders
als ich. Nehmen Sie die Menschen ernst, die gegen
Stuttgart 21 sind!
({7})
Nehmen Sie die Menschen ernst, die in Gorleben und
Lubmin gegen den Castortransport demonstrieren!
({8})
In Stuttgart haben sich Tausende für ihre Interessen eingesetzt. Das wurde mit einem Wasserwerfer beantwortet.
Gehen Sie morgen um 9 Uhr zum Bundesrat! Dort wollen die Menschen gegen die ungerechte Hartz-IV-Gesetzgebung demonstrieren. Denn die Bürgerinnen und
Bürger wollen nicht Niedriglohnland Nummer eins sein.
Beenden Sie endlich die soziale Kälte in unserem Land!
({9})
Florian Bernschneider hat jetzt für die FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Dittrich, ich bin immer wieder erschrocken, wie man so etwas überhaupt sagen kann. Sie müssen sich doch einmal vorstellen, was Sie den Menschen,
die sich in diesem Land ehrenamtlich engagieren, mit
solchen Äußerungen zumuten. Wie kann es denn sein,
dass wir über bürgerschaftliches Engagement sprechen
und Ihr zweiter Satz sich mit dem Mindestlohn beschäftigt?
({0})
Von dieser ewigen Platte, die wir auch aus dem Ausschuss kennen, sollten Sie sich irgendwann trennen; es
wird nicht dadurch besser, dass Sie es ständig wiederholen.
({1})
Aber, liebe Frau Kumpf, ich verstehe auch, ehrlich
gesagt, gar nicht, warum wir heute über diese Große Anfrage diskutieren, wenn zu ihr noch keine Antworten
vorliegen. Sie haben vorhin angemahnt, dass Ihnen an
einem Dialog mit der Bundesregierung liegt. Dann muss
man eben auch abwarten, bis die Antworten auf die Fragen vorliegen, die man stellt, weil der Dialog ansonsten
schwierig ist.
({2})
- Wenn man die Antworten aber nicht abwartet, dann ist
es schwierig, darüber zu diskutieren. Es mag auch an
meiner geringen Erfahrung als junger Abgeordneter liegen; aber ich glaube, es ist nicht gewöhnlich, dass man
über eine Große Anfrage diskutiert, bevor die Antwort
vorliegt.
({3})
- Das scheint jetzt in Ihrer Oppositionsarbeit gewöhnlich
zu werden.
Frau Kumpf, ich werde das Gefühl nicht los, dass
diese Anfrage auch deswegen debattiert wird, damit die
SPD in diesem Jahr noch einmal unter dem Stichwort
„bürgerschaftliches Engagement und Engagementpolitik“ stattfindet;
({4})
denn es scheint Sie zu ärgern, dass wir hier mit großen
Schritten vorankommen. Deswegen zählen Sie ja auch
die engagementpolitischen Erfolge der SPD in den letzten Jahrzehnten in dieser Großen Anfrage noch einmal
auf. Einerseits halte ich das für albern, andererseits kann
ich Ihnen aber auch ehrlich sagen, dass ich es durchaus
akzeptiere und die Erfolge sozialdemokratischer Engagementpolitik anerkenne. Ich glaube nur, dass es an dieser Stelle wenig bringt, sich in der Vergangenheit zu suhlen. Vielmehr sollten wir gemeinsam schauen, wo die
Herausforderungen der Zukunft liegen.
({5})
Wir legen ja Modelle für die Zukunft vor. Das, was
die Bundesregierung hier plant, nämlich den Ausstieg
aus Zwangsdiensten hin zu Freiwilligkeit, ist ein historischer Wandel in der Engagementpolitik. Dann muss man
sich aber auch entsprechend einbringen. Es werden
70 000 Freiwilligendienstplätze geschaffen - das ist der
größte Zuwachs, der in diesem Bereich jemals geschehen ist -, und mit einer pauschalen Förderung in Höhe
von 200 Euro in allen Diensten machen wir endlich mit
den Unübersichtlichkeiten in den Förderstrukturen
Schluss. Ein weiterer Punkt, den Sie ansprechen, ist das
Freiwilligendienststatusgesetz. Natürlich müssen wir darüber sprechen; aber Sie müssen auch anerkennen, dass
das Konzept, das wir hier vorlegen, ein guter Schritt zur
Übersichtlichkeit bei den Freiwilligendiensten ist.
({6})
Wir schaffen es mit dem Bundesfreiwilligendienst,
endlich eine langfristige Perspektive auch für den Einsatz Älterer in den Freiwilligendiensten aufzuzeigen,
und wir fördern gerade diejenigen, die in den Freiwilligendiensten bisher zu kurz kommen, nämlich junge
Menschen mit besonderem pädagogischen Förderbedarf.
({7})
Anstatt sich jetzt konstruktiv zum Beispiel in diese Diskussion einzubringen, Frau Kumpf, kritisieren Sie hier
Doppelstrukturen, die wir mit diesem Bundesfreiwilligendienst und der Stärkung der Freiwilligendienste angeblich schaffen.
({8})
- Hören Sie doch einfach einmal zu! - Ja, meine Damen
und Herren, es sind zwei Dienste, wie es früher übrigens
auch war: der Zivildienst und die Freiwilligendienste.
Aber im Unterschied dazu sorgen wir dafür, dass die
Freiwilligen, die im Einsatz sind, auch tatsächlich die
gleichen Rahmenbedingungen bekommen, ob es nun
beim Gehalt, beim Taschengeld, bei den Urlaubstagen
oder beim pädagogischen Begleitprogramm ist.
Sie fordern hier von uns schlüssige Konzepte, die wir
angeblich nicht haben. Konkret beim Punkt Freiwilligendienste appelliere ich noch einmal an die SPD, sich
selber einmal Gedanken über Konzepte zu machen.
({9})
- Jetzt hören Sie doch einmal zu, Frau Kumpf! - Ihre
stellvertretende Vorsitzende, die Sozial- und Gesundheitsministerin in Mecklenburg-Vorpommern, Manuela
Schwesig, forderte in einer Pressemitteilung vom 19. November:
Wir wollen stattdessen
- also statt unseres Modells einen Bundesfreiwilligendienst auf Bundesebene.
Hört her, so schlecht kann das also gar nicht sein, was
wir da vorlegen. Am letzten Wochenende beschließt
dann das SPD-Präsidium einen schwammigen Beschluss, in dem die Rede davon ist, dass Sie das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr
ausbauen wollen; denn Sie stellen in diesem Beschluss
zu Recht fest, dass „die Jugendfreiwilligendienste, das
freiwillige soziale, ökologische und demokratische Jahr,
die in den vergangenen Jahren großen Zuspruch erfuhren, erfolgreich und langjährig erprobt sind“. Das sind
die Dienste, die Sie ja eigentlich, wie es Ihre Sozialministerin sagt, abschaffen wollen. Sie wollen alles auf
Bundesebene verlagern. Ihr Parteivorsitzender Sigmar
Gabriel sagt danach in einem Interview, dass die Organisation für das FSJ aber zukünftig beim BAZ liegen solle
- das verstehe ich auch nicht richtig -, und der Kollege
von Frau Schwesig, Herr Nieszery aus MecklenburgVorpommern, hat mir bei der NDR-Info-Redezeit empfohlen, wir sollten einmal darüber nachdenken, ob wir
nicht einen sozialen Pflichtdienst für alle wollen. In
puncto Freiwilligendienste ist bei der SPD also für jeden
etwas dabei, außer einem einheitlichen Konzept. Da Sie
uns immer Doppelstrukturen vorwerfen, kann ich Ihnen
nur empfehlen, Ihre eigenen Doppelstrukturen in der Beschlusslage zu untersuchen und sich bis dahin konstruktiv an der Debatte zu beteiligen.
Vielen Dank.
({10})
Britta Haßelmann hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Kues, ich
habe das Gefühl, dass wir in dieser Debatte - das haben
einige der Redebeiträge gezeigt - schon einmal sehr viel
weiter waren; das finde ich bedauerlich. Das Thema bürgerschaftliches Engagement wurde einst - ich bin seit
2005 Mitglied des Deutschen Bundestages; das sage ich
in Ihre Richtung, Herr Bernschneider und Frau Bär von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag getragen.
Es gab hier sehr viele Überschneidungspunkte. Man hat
versucht, konstruktiv zusammenzuarbeiten und die positiven Elemente hervorzuheben, und hat ernsthaft über
die Frage diskutiert, welchen Beitrag der Deutsche Bundestag neben den Ländern, den Kommunen sowie den
vielen Initiativen, Verbänden und Institutionen zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements leisten
kann.
({0})
Wir alle haben sehr ernsthaft darum gerungen.
Bevor ich Mitglied des Deutschen Bundestages
wurde, gab es eine Enquete-Kommission - das war der
Ausgangspunkt -, in der alle Fraktionen festgestellt haben, dass es notwendig ist, dass sich der Deutsche Bundestag in der Verantwortung sieht, das bürgerschaftliche
Engagement von Menschen in diesem Land zu fördern.
Engagement trägt zu einer lebendigen Zivilgesellschaft
bei. Vor diesem Hintergrund erscheinen mir manche Redebeiträge heute wirklich profan. Es tut mir leid, aber es
geht hier nicht darum, kleinteilig aufzulisten, wer was
gemacht hat. Von diesem Debattenniveau sollten wir uns
verabschieden. Sonst macht ein gemeinsamer Unterausschuss zum bürgerschaftlichen Engagement, in dem bislang interfraktionell intensiv gearbeitet wurde, überhaupt keinen Sinn. Ich muss an dieser Stelle deutlich
sagen: Ich bin genervt von solchen Redebeiträgen wie
denen von der FDP und der CDU/CSU. Damit tun wir
uns allen und dem Thema keinen Gefallen.
({1})
Wir können in der Sache darüber streiten, ob die eine
oder andere Idee richtig oder falsch ist.
({2})
- In der Sache kann ich Ihnen gerne ein paar Beispiele
nennen.
Sie haben im Koalitionsvertrag vereinbart, sich drei
Themen auf diesem Feld zu widmen. Das Erste ist ein
Gesetz zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements. - Nichts! Ein solches Gesetz gibt es bisher nicht.
Das Zweite ist: Sie wollten geeignete Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Infrastruktur und Stabilisierung
von Engagement und Partizipation schaffen. - Nichts!
Fehlanzeige! Der gesamte Prozess zur Infrastrukturförderung ist regelrecht eingestampft. Darüber wird mit den
Ländern und Kommunen nicht mehr diskutiert. Das
Dritte ist: Sie wollten einen Entwurf des Freiwilligendienstestatusgesetzes vorlegen. - Auch hier Fehlanzeige! Niemand weiß, ob dieses Gesetz noch kommt.
Das sind die Fakten; die wollten Sie doch hören.
Ein weiterer Punkt. Im Haushaltsjahr 2011 wird der
Haushaltstitel 68472 zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements von 2 Millionen Euro um 400 000
Euro bzw. 20 Prozent gekürzt. Sie wollten doch ein paar
Fakten hören. Das sind die Fakten. Sagen Sie angesichts
dessen also nicht, wie toll Sie von Schwarz-Gelb das
bürgerschaftliche Engagement fördern!
({3})
Ich nenne Ihnen gerne weitere Fakten. Sie haben in
der letzten Legislaturperiode in der Großen Koalition,
unterstützt durch uns Grüne, vereinbart, auch Menschen,
die im Arbeitslosengeld-II-Bezug sind, eine Aufwandspauschale als Anerkennung zukommen zu lassen, die
nicht auf den ALG-II-Satz, also auf das Geld, das man
nach dem SGB II bekommt, angerechnet wird.
Alle diese Vereinbarungen, die Sie, CDU/CSU und
SPD, damals gemeinsam vorgeschlagen haben, wurden
jetzt in den Haushaltsplanberatungen sang- und klanglos
unter dem Stichwort SGB II einkassiert und nicht weiter
berücksichtigt. Als ich die Kollegen von der CDU/CSU
darauf ansprach, wussten sie das nicht einmal. So sieht
Förderung des bürgerschaftlichen Engagements bei Ihnen anscheinend aus.
({4})
Ich finde, wir tun dem Thema keinen Gefallen - deshalb bin ich auch so ruhig gestartet -, wenn wir uns streiten; denn eigentlich stellt sich in Zeiten einer öffentlichen Debatte über Stuttgart 21, eines Volksentscheids in
Hamburg oder von Diskussionen in vielen Städten und
Kommunen über Teilhabe, Partizipation und Bürgerhaushalte doch für uns alle im Deutschen Bundestag eine
ganz zentrale Frage: Wie können wir diejenigen einbeziehen, die sich beteiligen wollen, die teilhaben wollen,
die vielleicht nicht Mitglied einer Partei, eines Gemeinderates oder einer Fraktion sein wollen, die sich aber um
ihr Gemeinwesen Gedanken machen und Verantwortung
übernehmen wollen?
({5})
Wie können wir deren Arbeit anerkennen? Wie können
wir diese Arbeit fördern und absichern, indem wir zum
Beispiel Freiwilligenagenturen oder andere Anlaufstellen in der Infrastruktur absichern? Über solche Fragen
haben wir zu diskutieren.
({6})
Wir reden hier nicht über Klein-Klein, wie Sie es getan haben, Frau Bär, indem Sie gesagt haben, wie toll die
Ministerin ist.
({7})
Verdammt noch mal, diese Luftblasen, die in der nationalen Engagementstrategie aufgeschrieben sind, sind es
doch nicht wert, dass wir uns in der Tiefe lange damit
beschäftigen.
({8})
Markus Grübel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Trotz der schrillen Töne: Deutschland ist ein
wunderbares Land,
({0})
nicht wegen seiner wunderschönen Weihnachtsmärkte
und der Schneelandschaft, sondern weil es einen wertvollen Schatz hat, nämlich das hohe bürgerschaftliche
Engagement der Menschen. Über 23 Millionen Menschen engagieren sich ehrenamtlich. Sie sagen: Das ist
mein Land, darum engagiere ich mich. Das ist meine
Stadt, darum engagiere ich mich. Das ist mein Verein,
das ist meine Schule, das ist mein Anliegen, das ist mein
Ideal, das sind meine Werte, darum engagiere ich mich.
Die Menschen fördern freiwillig das Gemeinwohl.
Sie spenden Zeit, sie spenden Geld, und sie stiften ihr
Vermögen über die Pflichtabgaben, die der Staat verlangt, hinaus. Das ist das Besondere an Deutschland, und
dafür darf ich hoffentlich für uns alle ganz herzlich
Danke sagen.
({1})
Auf zwei Punkte aus der Großen Anfrage und aus den
Beiträgen der Oppositionsredner möchte ich besonders
eingehen. Der erste Punkt ist die nationale Engagementstrategie. Eine solche Strategie gab es bisher noch nicht;
jetzt gibt es sie. In der Strategie werden Grundsätze genannt, Prinzipien und Ziele formuliert und konkrete
Maßnahmen aufgeführt. Die nationale Engagementstrategie hat fünf inhaltliche Schwerpunkte von hoher gesellschaftlicher Relevanz: Integration, Bildung, Bewahrung der Schöpfung, demografischer Wandel und
internationale Zusammenarbeit. Diese fünf Punkte - wir
hören es in fast jeder Rede hier im Bundestag - bilden
die großen Herausforderungen der nächsten Jahre. Die
Ziele sind eine Verbesserung der Zusammenarbeit von
Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft bei der Engagementförderung, um die Schwerpunkte, die ich genannt
habe, besser zu befördern, ein besseres Miteinander der
Bundesministerien, um Synergien zu fördern - kein Nebeneinander bei der Engagementpolitik, sondern ein
Miteinander -, eine bessere Koordinierung zwischen
Bund, Ländern und Gemeinden, die Einbeziehung von
Stiftungen und die Anerkennung und Wertschätzung der
Freiwilligen. All dies steht in der nationalen Engagementstrategie, und all dies ist gut. Die Strategie ist ein
richtiger Schritt in die richtige Richtung.
({2})
Ihre Kritik, Frau Kumpf, ist für mich Oppositionsritual
an der Arbeit der Regierung. Ich glaube, wir sollten uns
daran nicht so lange aufhalten.
({3})
Die nationale Engagementstrategie ist aber nicht, einmal vom Kabinett am 6. Oktober beschlossen, zur allgemeinen und ständigen Verehrung freigegeben, sondern
es ist eine Strategie, die lebt und weiterentwickelt werden wird. Wir haben gerade den Internetbeteiligungsprozess. Jede und jeder in Deutschland kann sich an dieser
Strategie beteiligen. Unter engagementzweinull.de kann
noch bis morgen Abend, 17. Dezember, jeder Anmerkungen, Ergänzungen und Vorschläge machen sowie
Kritik an dieser Strategie äußern. Nach Vorliegen der Ergebnisse werden wir uns im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ wieder mit der nationalen Engagementstrategie befassen und diese weiterentwickeln.
Lassen Sie mich auf eine zweite Kritik eingehen, die
hier genannt wurde. Sie betrifft den neuen Bundesfreiwilligendienst. Schauen wir uns einmal die Zahlen an:
Der Bund wird künftig die Freiwilligendienste mit
350 Millionen Euro fördern.
({4})
Die Länder geben etwas mehr als 12 Millionen Euro,
und 8 Millionen Euro kommen aus dem Europäischen
Sozialfonds. Schon ein oberflächlicher Blick auf die
Zahlen macht deutlich, dass das Geld schwerpunktmäßig
vom Bund kommt, weshalb die Forderung der SPD, dieser Dienst solle in Verantwortung der Länder durchgeführt werden, an unserer Verfassung vorbeigeht. Sie alle
haben in Ihren Schubladen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Darin ist eindeutig geregelt: Die
Finanzierungskompetenz folgt der Verwaltungskompetenz.
Herr Grübel, möchten Sie eine Frage des Kollegen
Gehring zulassen?
Ja, gern.
Bitte schön.
Sie starten gerade mit dem Selbstlob, dass Sie aus
dem Zivildiensthaushalt 300 bis 350 Millionen Euro für
den Bundesfreiwilligendienst aufwenden. Jetzt ist es
aber so, dass im Zivildienstetat knapp 600 Millionen
Euro sind. Was tun Sie überhaupt im Sinne von Zivildienstkonversion? Was wird getan, um den Pflegenotstand zu beheben? Wo sind die Konzepte, die Angebote,
die konkreten Strukturen und die Vorgaben, die man den
Sozial- und Pflegeeinrichtungen machen kann?
({0})
Das fehlt definitiv. Dabei ist allen klar - selbst die
Ministerin formuliert das so -, dass die jetzigen Zivis
nicht allein durch Bundesfreiwilligendienstleistende ersetzt werden können. Die spannende Frage ist: Was ist
eigentlich mit den 200 bis 250 Millionen Euro, die bisher nicht verplant sind?
({1})
Sollen die zum Stopfen von Haushaltslöchern benutzt
werden, oder was machen Sie damit?
Herr Gehring, es sind rund 2 Millionen Menschen in
Deutschland im Bereich der Pflege beschäftigt.
({0})
Wir hatten im letzten Jahr 92 000 Zivildienstleistende.
Sie haben einen wertvollen und wichtigen Beitrag geleistet. Nicht umsonst ist der Begriff „Zivi“ für unsere
Zivildienstleistenden zu einem Markenbegriff geworden.
Die Pflege wird auch ohne die Zivildienstleistenden
funktionieren müssen. Wir haben den Zivildienst ja so
organisiert, dass es nicht zwingend notwendige Arbeiten
sind, die die Zivildienstleistenden ausführen, sondern ergänzende Tätigkeiten.
({1})
Wir nutzen jetzt einen Teil des Geldes für den Pflichtdienst, und zwar einen großen Teil, um die Freiwilligendienste in Deutschland zu stärken.
({2})
Wenn es früher über 700 Millionen Euro waren, ist natürlich die Frage berechtigt: Was ist mit dem Geld? Wir
haben schon einen Teil wegen der Verkürzung des Zivildienstes eingespart. Es ist für eine Regierung sicherlich
ehrenwert, wenn ein Teil des Geldes in die Haushaltskonsolidierung fließt, um die Schuldenaufnahme zu verringern oder Schulden abzubauen.
({3})
Die Finanzierungskompetenz, so hatte ich gesagt,
folgt der Verwaltungskompetenz. Der Bund finanziert
die Freiwilligendienste überwiegend. Dazu möchte ich
Ihnen noch etwas sagen: Bayern und Baden-Württemberg bringen den größten Teil der 12 Millionen Euro auf
Länderseite auf. Abgeordnete aus Ländern, in denen die
SPD regiert, sollten sich davon einmal eine Scheibe abschneiden und ihre Landesregierungen auffordern, die
Jugendfreiwilligendienste deutlich stärker zu stützen und
zu finanzieren. Dann gäbe es auf dem Wege noch etwas
mehr.
Die Kritik, die Sie geäußert haben, halte ich für völlig
unangebracht. Wir können feststellen: Es sind 70 000
Freiwilligendienststellen. Es gab noch nie so viele geförderte Freiwilligendienststellen in Deutschland. Es wurde
noch nie so viel Geld eingesetzt, um Freiwilligendienste
in Deutschland zu fördern.
({4})
Das ist ein gutes Ergebnis der Arbeit der christlich-liberalen Koalition. Damit können wir uns durchaus sehen
lassen.
„Tu was für Dein Land! - Tu was für Dich!“, unter
diesem oder einem ähnlichen Motto gibt es künftig ein
breites Angebot an Freiwilligendiensten, ein Angebot, so
breit und vielfältig wie unsere Gesellschaft: in den Bereichen Soziales, Ökologie, Kultur, Sport, Integration,
Zivil- und Katastrophenschutz. Auch in Verantwortung
des Verteidigungsministers gibt es einen freiwilligen
Wehrdienst.
({5})
Ob Pflegekittel oder Flecktarn, ob Feuerwehrhelm oder
Sportdress - künftig ist vieles freiwillig möglich. Die
Felder für die Freiwilligendienste werden deutlich breiter. Ich glaube, das ist eine gute Bilanz. Wir haben ein
gutes Ergebnis erzielt. Das ist ein deutlicher Fortschritt
für das Engagement in Deutschland.
Wir werden die Debatte im Frühjahr noch einmal führen, wenn die Antwort der Bundesregierung vorliegt. Ich
freue mich auf dieses Gespräch, das wir hier im Plenum,
im zuständigen Fachausschuss, dem Familienausschuss,
und im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ führen werden. Ich denke, es wird gute Antworten
auf die Fragen geben, die die SPD-Fraktion in der Großen Anfrage gestellt hat.
Herzlichen Dank.
({6})
Gerold Reichenbach hat jetzt das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist allgemein anerkannt: Im Bereich des freiwilligen Engagements unserer Bürger spielt Anerkennungskultur eine große Rolle. Aber damit, liebe Vertreter
der Regierungsfraktionen, ist nicht gouvernementales
Selbstlob gemeint, wie wir es hier erlebt haben. Damit
ist Anerkennung für die Bürger gemeint, die sich draußen im Lande freiwillig engagieren. Ich möchte das für
meine Fraktion auch einmal zum Ausdruck bringen:
Danke an all diejenigen, die sich tagaus, tagein in Sportvereinen, karitativen Vereinen, sozialen Organisationen,
Kulturvereinen, Hilfsorganisationen, Feuerwehren, KirGerold Reichenbach
chengemeinden und Moscheevereinen freiwillig engagieren.
Wir haben diese Anfrage gestellt, weil wir den Verdacht haben - und vieles von dem, was Sie vorgetragen
haben, begründet ihn -, dass hinter diesem Begriff der
Engagementstrategie weniger eine wirkliche Strategie
- die Kollegin der Grünen-Fraktion hat das angesprochen - zur Weiterentwicklung des guten Bestehenden
steckt, das wir gemeinsam entwickelt haben, sondern
eher eine - ich sage es einmal vorsichtig - PR-Strategie
dieser Regierung,
({0})
auch um zu verdecken, was inzwischen schon wieder kaputtgemacht wird.
Das Programm „Soziale Stadt“ wurde angesprochen.
Ich sehe das in meinem eigenen Wahlkreis. Dort ist im
Rahmen dieses Programms ein großes, breit angelegtes
freiwilliges Engagement der Bürger zur Wohnumfeldverbesserung und zur Integration entwickelt worden.
({1})
Die dürfen demnächst nur noch Backsteine bezahlen.
Wir beide haben gemeinsam dafür gekämpft, dass das
Vorstandsmitglied der karitativen Hilfsorganisation in
meiner Heimat, das gerade keine Arbeit hat, bei der Aufwandspauschale nicht schlechtergestellt wird als das
Vorstandsmitglied, das ein Bankdirektorengehalt erhält.
({2})
Das wird wieder kaputtgemacht. Das verstehe ich nicht
unter Anerkennungskultur, sondern das ist eher eine Zerstörung des Bestehenden.
Wir haben auch den Verdacht, dass Sie andere Strukturen teilweise weniger aus sachlichen Gründen, sondern
sozusagen aus innerer Koalitionsnot - zum Teil sogar
aus innerer Parteinot - aufbauen, deren Weiterentwicklung nicht sinnvoll ist. Ich nenne das Beispiel Freiwilligendienst. Es geht doch darum, dass die Parallelstrukturen, die Sie jetzt in Bundeshand aufbauen, kein echter
Freiwilligendienst sind, sondern - das liegt ja in der Logik; wahrscheinlich machen Sie das auch, um die Akzeptanz innerhalb der Union zu fördern - ein Pendant
zum „freiwilligen Pflichtdienst“, zu der nach wie vor
aufgehobenen, aber weiter existierenden Wehrpflicht.
({3})
Dabei nehmen Sie in Kauf, dass Doppelstrukturen entstehen. Gegen die Ausweitung haben wir nichts; darüber
kann man sprechen. Aber wenn man das freiwillige Engagement der Bürger breit fördern will, warum erweitert
man dann nicht einfach die bestehenden Strukturen im
Freiwilligen Sozialen Jahr und im Freiwilligen Ökologischen Jahr und baut sie aus? Das hätten wir für eine
sinnvolle Strategie gehalten.
({4})
Der einzige Grund, den ich erkennen kann, ist, dass man
das Instrument des Pflichtdienstes in der Zukunft nicht
ganz weglassen will. Dann hat man einen freiwilligen
Pflichtdienst, den man Bundesfreiwilligendienst nennt.
({5})
Ich nenne ein zweites Beispiel: den Bereich der
Mehrgenerationenhäuser. In diesem Bereich sind Strukturen aufgebaut worden. Bundesweit - in den Ländern
werden sie zum Teil mit unterschiedlichen Modellen gefördert; wir alle haben im Unterausschuss darüber diskutiert - gibt es eine ganze Reihe von bewährten Instrumenten.
Ich nenne die Freiwilligenagenturen, die gerade im
Bereich der Betreuung älterer Bürger, im Bereich der
Pflege, im Bereich der sozialen Zuwendung eine ganze
Menge aufgebaut haben. Jetzt wird ein großes Programm für Mehrgenerationenhäuser aufgepfropft. Was
passiert eigentlich mit dem Programm, das schon besteht? Statt es auszubauen bzw. auszuweiten, werden
neue Etiketten unters Volk gebracht. Unser Verdacht ist:
Das dient nicht dazu, die Strukturen voranzubringen,
sondern dazu, um sagen zu können: Wir haben etwas gemacht. - Das ist nicht im Interesse der Freiwilligendienste.
({6})
Kommen Sie bitte zum Ende.
Das fragen wir konkret ab. Wir wollen auch wissen,
wie es um die anderen angekündigten Vorhaben steht.
Sollen die auch im Rahmen einer PR-Aktion abgearbeitet werden, oder sollen sie doch real abgearbeitet werden?
Herr Kollege?
Wir freuen uns auf Ihre Antworten. Dann werden wir
mit Ihnen auch gerne in einen konstruktiven Dialog eintreten.
({0})
Der Kollege Heinz Golombeck hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bürgerschaftliches Engagement ist eine tragende Säule unserer freiheitlichen Demokratie. In
Deutschland engagiert sich gut ein Drittel der Bevölkerung in Vereinen, Verbänden und Initiativen. Die Engagierten fördern den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens. Dieses Gemeinwesen ist ein wesentliches Element
der aktiven Bürgergesellschaft. Engagierte Menschen
gestalten nicht nur ihr individuelles Leben, sondern auch
das staatliche Gemeinwesen aktiv mit.
Gerade jetzt, in der Vorweihnachtszeit, ist die Arbeit
ehrenamtlicher Helfer besonders wichtig. Ich denke hier
beispielsweise an Bürgerinnen und Bürger, die mit sogenannten Kältebussen unterwegs sind oder die in Suppenküchen aushelfen. Es haben nicht alle das Glück, die Feiertage in der Geborgenheit ihrer Familie an einem
geschmückten Weihnachtstisch und bei einem Festessen
zu verbringen. Insbesondere für jene Menschen, die einsam und verlassen sind, frieren und Hunger haben, leisten ehrenamtliche Helfer in diesen Tagen Unermessliches.
({0})
Wir hatten bereits im Koalitionsvertrag angekündigt,
eine nationale Engagementstrategie auf den Weg zu
bringen. Vor kurzem wurde diese nun verabschiedet.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, die christlich-liberale Koalition hält Wort und setzt den Koalitionsvertrag
um.
({1})
Die nationale Engagementstrategie hebt das bürgerschaftliche Engagement als wesentliche Form der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hervor. Die Strategie
zielt nicht nur auf ein generationenübergreifendes Engagement zwischen jungen und alten Menschen ab; sie fördert ebenso die Einbindung von Migrantinnen und
Migranten. Unser Ziel ist es, die geeigneten Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Infrastruktur und zur Stabilisierung von Engagement zu schaffen. Hieran werden
wir in dieser Legislaturperiode weiter arbeiten. Die nationale Engagementstrategie ist der erste Schritt zur Umsetzung dieser Ziele.
Bürgerschaftliches Engagement ist nicht nur eine gewachsene Säule; es schlägt auch Brücken. Es trägt dazu
bei, dass Europa näher zusammenrückt. In der Europäischen Union leisten Millionen von Bürgerinnen und
Bürgern aller Altersschichten einen positiven Beitrag
hierzu. Die Europäische Kommission sieht die Freiwilligentätigkeit als gelebte Bürgerbeteiligung, die gemeinsame europäische Werte wie Solidarität und sozialen Zusammenhalt stärkt. Daher wurde beschlossen, das Jahr
2011 zum Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit
auszurufen. Die Bundesregierung wird dies aktiv unterstützen.
Ich möchte hier von dieser Stelle aus allen Bürgerinnen und Bürgern, die sich engagieren und ehrenamtlich
tätig sind, noch einmal meinen Dank aussprechen.
Vielen Dank.
({2})
Der Kollege Dr. Peter Tauber hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit dem 6. Oktober dieses Jahres hat Deutschland erstmals eine nationale Engagementstrategie. Das ist erst
einmal eine positive Botschaft. Ich finde es durchaus
schade, dass die Oppositionsfraktionen auch hier schon
wieder den Eindruck erwecken, sie seien einfach nur dagegen.
({0})
Sicher ist das nur ein erster Schritt, dem weitere folgen müssen. Ich glaube aber, die Tatsache, dass wir diese
nationale Engagementstrategie haben, ist erst einmal
eine gute Sache, weil dadurch eines deutlich wird: Bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben.
Ich möchte an die vier Ziele der Engagementstrategie
erinnern. Das erste Ziel ist eine bessere Abstimmung
zwischen den Kommunen, den Ländern und dem Bund.
Das ist auch dringend nötig.
Das zweite Ziel ist, Stiftungen und Unternehmen weiterhin eng in diesen Prozess einzubinden. Ich kann die
Kritik der Linkspartei am Stiftungswesen und dessen
Zunahme in Deutschland überhaupt nicht teilen. Es ist
gelebte soziale Marktwirtschaft, wenn Unternehmen die
Rahmenbedingungen schaffen, damit sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ehrenamtlich engagieren können.
Das ist aller Ehren wert und darf an dieser Stelle einmal
positiv erwähnt werden.
({1})
Der dritte Punkt - das ist schon genannt worden - ist
die Anerkennung und Wertschätzung derer, die sich engagieren. Dabei geht es eben nicht, wie Sie es zum Teil
suggerieren, um eine materielle Besserstellung. Viele
Menschen, die sich engagieren, wünschen sich einfach,
dass man das anerkennt und wertschätzt und dass man
das auch einmal sagt. Ich glaube, das sollten wir in der
Tat ein bisschen öfter tun. Dazu kam vonseiten der Opposition etwas wenig; das hätten Sie stärker betonen
können.
Der vierte Punkt - auch das ist wichtig - sind die
Rahmenbedingungen vor Ort. Da wundere ich mich
schon über Ihre Ausführungen; denn genau das machen
wir. Mit dem Feuerwehrführerschein, den das Kabinett
am 15. Dezember beschlossen hat, wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich Bürgerinnen und Bürger unbürokratischer engagieren können und der Grund,
warum sie sich engagieren, im Mittelpunkt steht. Deshalb muss man dem Bundesverkehrsminister wegen der
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes an der Stelle
herzlich Danke sagen.
({2})
Warum ist eine solche Strategie notwendig? Wir könnten doch sagen: Alles ist ganz wunderbar. Das Ehrenamt
ist in der freiwilligen Feuerwehr, im Sport, in der Musik,
in der Kultur, im sozialen Engagement, in den Tafeln und
in der Hospizbewegung fest verwurzelt. - Wir wissen
aber auch, dass unsere Gesellschaft vor dramatischen
Veränderungsprozessen steht, und zwar wegen des demografischen Wandels und der steigenden Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund, die in ihrem Kulturkreis diese Form des Engagements sehr oft gar nicht
kennen und denen wir es vermitteln müssen. Deswegen
ist es richtig, dass wir eine solche Strategie auf den Weg
gebracht haben und dass wir diejenigen, die sich engagieren, ermutigen, sich selbst zu vernetzen.
Dafür gibt es gute Beispiele. Ein Beispiel ist das Onlinenetzwerk www.weltbeweger.de der Stiftung Bürgermut. Warum ist das so wertvoll? Weil wir wollen, dass
Menschen erleben, dass sie, wenn sie ein Problem in die
Hand nehmen, eine Perspektive für sich selbst und für
die Menschen schaffen können, für die sie sich engagieren. Dann werden sie nämlich merken, dass sie selbst oft
etwas bewegen können, was die Politik - so hat es der
Geschäftsführer der Stiftung Bürgermut formuliert - nie
leisten könnte.
Dabei ist wichtig: Es geht nicht, wie Sie unterstellen,
um den Rückzug des Staates aus gewissen Bereichen. Es
geht nicht um die Botschaft, dass Bürgerinnen und Bürger etwas leisten, was der Staat nicht finanzieren kann;
denn niemand engagiert sich, um die Haushalte seiner
Kommune, des Landes oder des Bundes zu entlasten,
sondern Menschen engagieren sich aus Begeisterung für
eine Sache. Das steht im Mittelpunkt. Das muss man
einmal deutlich sagen.
({3})
Die Menschen erfahren Gemeinschaft. Sie erleben Verantwortung als positive Herausforderung, die Spaß machen kann, und sie erleben Anerkennung. Das ist der
zentrale Punkt. Man muss lernen, Verantwortung zu
übernehmen. Deshalb sind uns junge Menschen, Jugendfreiwilligendienste und der neue Bundesfreiwilligendienst so wichtig. Darüber, was wir hier auf den Weg
bringen, haben Sie jahrelang nur geredet. Das muss man
an dieser Stelle einmal ganz deutlich sagen. Wir sagen
den jungen Menschen, dass sie gebraucht werden.
({4})
- Frau Kumpf, dafür, dass Sie das Bundesverdienstkreuz
verliehen bekommen haben, was eine wirklich würdige
Auszeichnung ist, rufen Sie erstaunlich oft dazwischen.
Hören Sie doch einfach einmal zu.
({5})
Schreien Sie nicht immer dazwischen.
({6})
Wir wollen junge Menschen motivieren, Verantwortung zu übernehmen. Die Botschaft „Tu was für Dein
Land! - Tu was für Dich!“ ist genau richtig. Dasselbe
gilt für die ältere Generation; auch sie wollen wir mitnehmen.
Grundsätzlich gilt: Die nationale Engagementstrategie ist ein Schritt zur Stärkung einer aktiven Bürgergesellschaft, in der Menschen füreinander Verantwortung
übernehmen und Solidarität leben, statt nach dem Staat
zu rufen und sich umzudrehen, wenn sie Probleme sehen.
({7})
- Frau Dittrich, Sie sollten jetzt einmal genau zuhören;
vielleicht trägt das dazu bei, dass Sie einmal eine neue
Platte auflegen. Die größte Gefahr für diese Art von Bürgerkultur, die eine feste Säule der Kultur in Deutschland
ist, besteht in einem paternalistischen Staatsverständnis,
wie Sie es propagieren, nach dem der Staat für alles sorgt
und die Menschen nicht füreinander Verantwortung
übernehmen müssen.
Ich persönlich fühle mich in einer Gesellschaft nicht
wohl, in der der Staat fürsorglich über alle wacht. Ich
wünsche mir eine Gesellschaft, in der Menschen Verantwortung übernehmen und füreinander einstehen, weil
nur das - dies muss das Ziel sein - den Zusammenhalt
und das Miteinander stärkt. Die nationale Engagementstrategie ist ein Beitrag dazu. Ich freue mich auf die weitere Debatte, die in der Tat heute erst beginnt.
Herzlichen Dank.
({8})
Damit schließe ich die Aussprache.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung
von Geldwäsche und Steuerhinterziehung
({0})
- Drucksache 17/4182 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Es ist verabredet, hierüber eine Dreiviertelstunde zu
debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Koschyk das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung wollen wir dazu beitragen, den Wirtschaftsstandort Deutschland noch wirksamer vor Geldwäsche, aber
auch - das ist ein sehr aktuelles Thema - vor Terrorismusfinanzierung zu schützen. Dazu soll der Katalog der Vortaten des Straftatbestandes der Geldwäsche um die Delikte der Marktmanipulation, des Insiderhandels sowie
der Produktpiraterie erweitert werden.
Damit ist das unabdingbare international abgestimmte
Vorgehen im Rahmen des dafür zuständigen internationalen Gremiums für Maßnahmen zur Bekämpfung von
Geldwäsche verbunden, das auf den schönen englischen
Namen Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF, hört. Die 36 Mitgliedstaaten dieses Gremiums haben jetzt Standards vereinbart, um Geldwäsche
und Terrorismusfinanzierung staatenübergreifend besser
bekämpfen zu können. Die Erweiterung des Geldwäschestraftatbestandes im vorliegenden Gesetzentwurf
wird ein wichtiger Beitrag, Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung in Deutschland noch wirksamer zu verhindern.
Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen terroristischen Bedrohung ist es wichtig, dass wir das Thema
über das von Schwarz-Gelb eingebrachte Schwarzgeldbekämpfungsgesetz hinaus mit anderen Gesetzgebungsvorhaben energisch und entschlossen angehen. Die von
der FATF im Finanzsektor identifizierten Defizite wollen
wir mit dem Gesetz zur Umsetzung der Zweiten
E-Geld-Richtlinie beseitigen. Dabei soll insbesondere
der Maßstab der Sorgfaltspflichten, den die Institute bei
Risikogeschäften einzuhalten haben, vollständig an den
internationalen Standard angepasst werden. Die institutsinternen Sicherungsmaßnahmen gegen Geldwäsche und
das Risikomanagement der Institute werden ebenfalls
auf FATF-Standard angehoben. Dieses Gesetz soll bereits im März 2011 in Kraft treten.
Darüber hinaus werden Änderungen im Aktiengesetz
erforderlich sein, insbesondere in Bezug auf Namensbzw. Inhaberaktien, um damit dem Petitum der FATF
nach mehr Transparenz im Wertpapiergeschäft Rechnung zu tragen.
Quellen von Schwarzgeld müssen nicht nur illegale
Geschäfte sein; auch legale Formen der Anlage im Ausland haben in den vergangenen Jahren eine Sogwirkung
auf Kapital von deutschen Anlegern ausgeübt. Die Erträge aus diesen Anlagen sind häufig nicht bei der Steuererklärung in Deutschland angegeben worden, auch
aufgrund der Einschätzung, dass ein deutscher Finanzbeamter niemals einen Hinweis auf Konten im Ausland erhalten wird.
Dieser Umstand führte dazu, dass mittlerweile erhebliche Milliardenbeträge von nicht in Deutschland versteuerten Geldern im Ausland lagern und so der Besteuerung in Deutschland entzogen sind.
Selbst die von der rot-grünen Bundesregierung im
Jahr 2004 durchgeführte Steueramnestie hat zu keiner
flächendeckenden Bewegung hin zu mehr Steuerehrlichkeit in Deutschland geführt. Letztendlich hat der Ankauf
von Steuerdaten, die wir nach der klaren Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts in den Verfahren verwerten dürfen, den alles entscheidenden Impuls gebracht.
Aus Angst vor Entdeckung haben Zehntausende die
Reißleine gezogen, eine Selbstanzeige gemacht und sich
den Finanzämtern offenbart. Allein aufgrund der Selbstanzeigen aus dem Jahr 2010 können wir mit Steuermehreinnahmen in Höhe von rund 2 Milliarden Euro rechnen.
Die christlich-liberale Koalition ist entschlossen,
diese Praxis der Steuerhinterziehung zu beenden. Wir
wollen mehr Steuerehrlichkeit in Deutschland. Deshalb
erhöhen wir mit diesem Gesetzentwurf den Druck auf
die Steuerhinterzieher. Wir zwingen sie in Zukunft, sich
vollständig zu offenbaren. Wer der Bestrafung entgehen
will, der muss künftig eine steuerliche Lebensbeichte ablegen; so will ich es einmal formulieren. Mit der Salamitaktik machen wir Schluss.
({0})
Damit das auch wirklich jeder versteht: Die strafbefreiende Selbstanzeige ist künftig die letzte Chance für
Steuersünder. Als Spielzeug für Taktierer hat die strafbefreiende Selbstanzeige ausgedient.
({1})
Die in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Verschärfungen stärken die Steuergerechtigkeit, und sie machen unmissverständlich klar, dass die christlich-liberale Koalition Ernst macht im Kampf gegen Steuerhinterziehung
in Deutschland.
({2})
Die sogenannte Teilselbstanzeige wird es künftig
nicht mehr geben. Steuerhinterzieher werden sich nicht
mehr scheibchenweise, je nach aktuellem Entdeckungsrisiko strafbefreiend erklären können. Straffrei wird in
Zukunft nur der bleiben, der alle hinterzogenen Steuern
offenbart. Der Zeitraum für die Inanspruchnahme der
strafbefreienden Selbstanzeige wird deutlich verkürzt.
Künftig wird schon dann, wenn die Prüfungsanordnung
des Finanzamtes bekanntgegeben worden ist, die strafbefreiende Wirkung einer Selbstanzeige ausgeschlossen
sein. Auch ein fortwährendes Nachschieben von Begründungen und Erklärungen, so lange, bis der Prüfer
tatsächlich vor Ort erscheint, wird künftig nicht mehr
mit einer strafbefreienden Wirkung möglich sein.
Ich will sehr offen darauf hinweisen, dass wir schon
in der Diskussion über den Gesetzentwurf über die Frage
von weiteren Zuschlägen diskutiert haben. Im parlamentarischen Verfahren werden wir über die Frage entscheiden, ob wir bei der Inanspruchnahme der strafbefreienden Selbstanzeige zusätzlich noch einen Extrazuschlag
erheben, um Steuerhinterzieher auch wirtschaftlich stärker zu belasten als Bürgerinnen und Bürger, die ihre
Steuern lediglich verspätet bezahlen. Hierzu - darüber
sind wir uns einig - brauchen wir aber eine absolut verfassungsfeste Regelung. Deshalb wollen wir die Sachverständigenanhörung, aber auch die Beratungen des
Bundesrates abwarten. Hier gilt eindeutig: Rechtssicherheit geht vor Schnelligkeit.
({3})
Was wir am Schluss brauchen, ist eine verfassungsrechtlich absolut saubere Lösung.
({4})
Die christlich-liberale Koalition macht Ernst im
Kampf gegen Geldwäsche und Steuerbetrug. Wir wollen
den Wirtschaftsstandort Deutschland, aber auch das
Funktionieren unseres Gemeinwesens durch ausgeglichene öffentliche Haushalte und steuerehrliche Steuererhebung sichern. Wirksame und zielgenaue Schritte
dazu enthält der vorliegende Gesetzentwurf. Ich bitte Sie
um Unterstützung bei der parlamentarischen Beratung,
Behandlung und Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs.
Herzlichen Dank.
({5})
Martin Gerster spricht für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob auch Sie die Frage kennen, die
in der Adventszeit vor allem Kindern gestellt wird: Seid
ihr brav gewesen? Es wird abgefragt: Habt ihr alles erledigt, was euch aufgetragen wurde? Habt ihr all das gemacht, was notwendig ist?
({0})
Wenn man der Bundesregierung diese Frage gerade im
Hinblick auf die Bekämpfung von Steuerhinterziehung
und Geldwäsche stellen würde, dann müsste sie, wenn
sie ehrlich wäre, sagen: Nein, und wir verzichten daher
auf die Geschenke.
({1})
Herr Staatssekretär Koschyk, das wird gerade bei diesem Gesetzentwurf deutlich. Man merkt, dass SchwarzGelb bei diesem Thema ein bisschen bockig ist,
({2})
dass Sie dieses Thema nicht so recht angehen wollen. Jedenfalls muss man deutlich sagen, dass Sie bei der Bekämpfung der Geldwäsche noch lange nicht das getan
haben, was wirklich notwendig ist. Allein der Kurztitel,
der für diesen Gesetzentwurf gewählt wurde, macht
nachdenklich. Es stellt sich die Frage, warum Sie es
Schwarzgeldbekämpfungsgesetz und nicht Geldwäschebekämpfungsgesetz nennen.
({3})
Ich habe den Eindruck, dass Sie ein bisschen Etikettenschwindel betreiben und davon ablenken wollen, dass
Sie die Bekämpfung der Geldwäsche nicht so recht angehen wollen, dass Sie sich zieren, all das umzusetzen,
was die Financial Action Task Force on Money Laundering Deutschland ins Stammbuch geschrieben hat.
({4})
Geldwäschebekämpfung bedeutet, dass wir vermeiden wollen, dass illegal erworbenes Geld in den legalen
Geldkreislauf kommt. Bei Schwarzgeld hingegen handelt es sich um steuerpflichtige, aber unversteuerte Einnahmen. Deswegen stellt sich die Frage, warum Sie diesen Begriff und nicht einen anderen gewählt haben. Sie
wollen aus meiner Sicht verschleiern, dass 2010 für
Deutschland wahrlich kein Ruhmesblatt war. Ihnen
wurde durch dieses OECD-Gremium, dem 36 Staaten
angehören, ein verheerendes Zeugnis ausgestellt.
({5})
Sie sagen, Herr Staatssekretär, dass jetzt vereinbart
wurde, dass wir etwas tun müssen. Entschuldigung, der
Bericht lag schon im Februar 2010 vor.
({6})
Sie haben jetzt fast ein Jahr gebraucht, um einen einzigen Punkt aufzugreifen und in einen Gesetzentwurf zu
gießen.
({7})
49 Empfehlungen wurden ausgesprochen. Deutschland
ist in 20 Punkten massiv kritisiert worden.
({8})
15 Kriterien sind teilweise umgesetzt worden, 5 überhaupt nicht. Deutschland wurden gravierende Defizite
bescheinigt. Deutschland ist kurz davor, auf die
schwarze Liste nicht kooperativer Jurisdiktionen gesetzt
zu werden.
({9})
Das wäre eine Blamage. Sie schreiben im Gesetzentwurf
unter B:
Die rasche Beseitigung der … festgestellten Defizite ist notwendig, …
Dazu muss ich sagen: Es ist höchste Eisenbahn, dass
Sie in die Puschen kommen und dass Sie diese Themen
abarbeiten. Wir begrüßen es - das sage ich ganz deutlich -, dass Sie jetzt einen Punkt angehen.
({10})
Natürlich sind wir dankbar, dass Sie Insiderhandel,
Marktmanipulationen und Produktpiraterie in den Katalog der Vortaten des Geldwäschestraftatbestandes aufnehmen wollen. Im Ziel sind wir d’accord, aber über den
Weg müssen wir noch reden. Wir müssen schauen, was
die Anhörung dazu ergibt. Ich kann Ihnen nur dringend
raten, die anderen Punkte unbedingt anzugehen.
Insgesamt stellt sich die Frage: Warum machen Sie
nicht ein Gesamtpaket? Sie gehen hier mit Salamitaktik
vor. Einen Punkt hat man an die Umsetzung der zweiten
E-Geld-Richtlinie angehängt. Jetzt kümmert man sich
um einen kleinen Punkt. Warum behandeln Sie das nicht
als Paket? Ich verstehe das nicht. Es gibt dringenden
Handlungsbedarf, beispielsweise im Gesellschafts- und
Registerrecht, speziell dort, wo es um die Treuhand als
Rechtsform geht. Immobilienmaklerbranche, Goldhändler, Juweliere, Steuerberater, Rechtsanwälte - all diese
Themen sind angesprochen worden. Nichts ist passiert.
Sie kündigen jetzt für März 2011 etwas Weiteres an.
Wir sind gespannt, wie es weitergeht. Ich meine, die
Bundesregierung ist in der Pflicht, insbesondere die heißen Eisen Spielbanken und Kasinos anzugehen. Diese
sind heutzutage schon ein Vergnügungspark für professionelle Geldwäscher. Diese Probleme muss man angehen; man darf da nicht schlafen.
({11})
Deswegen muss man deutlich sagen: Los geht es! Das ist
dringend.
Bereits im Sommer dieses Jahres - auch darauf will
ich hinweisen - haben die Koalitionsfraktionen angekündigt, diese Probleme zu lösen. Große Sprünge sind
uns bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung versprochen worden. Man hat allerdings den Eindruck, Sie laufen in Trippelschritten schleichend um das Ziel herum. Vielleicht steckt auch eine
gewisse Denke dahinter. Womöglich meinen Sie, illegales Kapital ist wie ein scheues Reh und macht sich von
alleine davon.
Ich glaube, das ist weit gefehlt. Hier muss gehandelt
werden. Das zeigt auch der jüngste Bericht des Bundeskriminalamtes und der BaFin zum Thema Geldwäsche.
Die Zahl der Verdachtsanzeigen ist gestiegen. Im letzten
Berichtszeitraum, im Jahr 2009, gab es 9 000; das entspricht einem Anstieg um 23 Prozent. Dies zeigt uns,
dass es gelungen ist, die Leute für diese Gefahr ein bisschen zu sensibilisieren. Es zeigt aus meiner Sicht aber
auch, dass Themen wie Datendiebstahl und Erschleichung von Passwörtern, aber auch die Aktivitäten der
sogenannten Financial Agents, also von Personen, die
ihr Konto gegen Gebühr für illegale Transaktionen zur
Verfügung stellen, dringend angegangen werden müssen.
({12})
Herr Staatssekretär, das erste Problem ist, dass Sie
nicht wirklich etwas tun. Das zweite Problem ist, dass
Sie kleine, eigentlich sinnvolle Schritte bei der Geldwäschebekämpfung mit halbgaren Ansätzen bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung verknüpfen.
({13})
Sie bringen zum Beispiel die Teilselbstanzeige ins
Spiel. Sie sagen, Schwarz-Gelb schafft die Teilselbstanzeige ab. Entschuldigung, aber das tut nicht SchwarzGelb, sondern das hat der Bundesgerichtshof gefordert.
({14})
In seinem Beschluss vom 20. Mai 2010 hat er entschieden: So geht es nicht mehr weiter. - Sie muss man bei
diesem Thema regelrecht zum Jagen tragen; sonst passiert überhaupt nichts.
({15})
Was Sie machen, ist letztendlich nur ein Herumdoktern und Herumlavieren. Die SPD-Fraktion hingegen hat
den Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige eingebracht. Wir glauben, dass
dies der einzig richtige Schritt ist.
({16})
Sie beheben lediglich die Unsicherheit, die bei den beratenden Berufen und der Finanzverwaltung im Moment
herrscht.
Der Bundesrat hat im Zuge des Jahressteuergesetzes
2010 einige Vorschläge unterbreitet. In der Anhörung
hat sich gezeigt, dass das so nicht wirklich praktikabel
ist. Wenn man, wie Sie, das System beibehalten und die
Strafbefreiung nicht abschaffen möchte, dann kann ich
natürlich verstehen, dass man zum Beispiel sagt: Wir
wollen den Zeitfaktor ändern. Wir wollen, dass die Bekanntgabe der Prüfungsanordnung als Ausschlusskriterium für die Straffreiheit bei Selbstanzeige gewählt
wird. - Das ist nachvollziehbar.
({17})
In der Tat wurde in der Anhörung deutlich, dass genau
dieser Zeitraum oft als Opportunitätsfenster zur Selbstanzeige genutzt wird. Insofern sage ich: Hier haben Sie
recht. Das muss man auf jeden Fall abstellen. Aber das
wäre wieder eine Minimallösung, zu der Sie getrieben
werden mussten.
({18})
Weitaus konsequenter wäre das, was wir vorschlagen;
das ist nämlich nicht so ein Herumgeeiere wie bei Ihnen.
Herr Dautzenberg hat selbst gesagt:
({19})
Über die Frage, ob wir den Zinszuschlag erheben oder
nicht, müssen wir noch diskutieren. Darüber gibt es in
der Koalition vielleicht sogar Streit.
({20})
Nein, bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist
klare Kante notwendig. In unserem Gesetzentwurf haben
wir eine eindeutige Regelung vorgeschlagen: Erstens
muss die Straffreiheit abgeschafft werden, und zweitens
muss die Selbstanzeige im Zuge der Bemessung des
Strafmaßes berücksichtigt werden. Das wäre gut.
({21})
Diese Variante wird von der Deutschen Steuergewerkschaft, vom Deutschen Gewerkschaftsbund und vielen
anderen unterstützt. Deswegen bitte ich Schwarz-Gelb:
Zeigen Sie endlich etwas mehr Mut im Kampf gegen
Steuerkriminalität und mehr Mut zur beherzten Tat. Das
wäre auch ein guter Vorsatz für das neue Jahr.
Das würde im Übrigen dazu führen, dass wir uns auf
einen Weg begeben, der uns von der OECD gewiesen
wurde. Die OECD hat nämlich in einer internationalen
Vergleichsstudie festgestellt, dass die zeitliche Befristung und das Auslaufenlassen der Selbstanzeigemöglichkeiten zentrale Kriterien für den Erfolg im Sinne von
mehr Steuerehrlichkeit und mehr Steuereinnahmen sind.
Das alles wird in Ihrem Gesetzentwurf nicht berücksichtigt. Das finden wir sehr schade, und die negativen
Effekte dessen werden wir bei der Anhörung entsprechend herausarbeiten.
Ich werbe noch einmal für unseren Gesetzentwurf,
der sich im Verfahren befindet. Bei der Anhörung werden wir alles Weitere besprechen. Bis dahin wünsche ich
Ihnen besinnliche Tage. Denken Sie noch einmal in
Ruhe darüber nach. Schöne Weihnachtsfeiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Danke schön.
({22})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Daniel Volk für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Gerster, die Grundlage Ihrer Analyse des
Berichts der Financial Action Task Force
({0})
vom Februar 2010
({1})
ist die Gesetzgebung, die Ihre sozialdemokratischen
Finanzminister nach elf Jahren Verantwortung für die
Finanzpolitik hinterlassen haben. Damit haben Sie selbst
Ihren sozialdemokratischen Finanzministern ein Armutszeugnis bei der Schwarzgeldbekämpfung und der
Bekämpfung der Steuerhinterziehung ausgestellt. So viel
Ehrlichkeit zu Weihnachten hätte ich von Ihnen gar nicht
erwartet. Vielen Dank dafür!
({2})
Die Regierung legt dem Parlament heute den Entwurf
eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von
Geldwäsche und der Steuerhinterziehung vor, welches
auf die volle Unterstützung der FDP-Fraktion trifft.
Denn wir werden damit die Empfehlungen der Financial
Action Task Force im Bereich der Geldwäsche umsetzen. Diese Task Force ist das wichtigste internationale
Gremium zur Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung. Deutschland beteiligt sich als
Gründungsmitglied aktiv an der weiteren Entwicklung
der Empfehlungen, die wir mit unserem Gesetz umsetzen werden.
({3})
Auch im Bereich der Steuerhinterziehung ist das Gesetz ein wichtiger und richtiger Schritt für mehr Steuergerechtigkeit in Deutschland. Wir sorgen damit dafür,
dass Missbrauch in Form von Steuerbetrug in Zukunft
besser bekämpft werden kann. Die SPD hat es in den elf
Jahren ihrer Regierungsverantwortung leider nicht geschafft, die strafbefreiende Selbstanzeige so zu gestalten,
dass sie nicht zu einer Besserstellung von Steuerhinterziehern führt. Das Einzige, was der SPD in elf Jahren
eingefallen ist, war ein Steueramnestiegesetz, das als
Rohrkrepierer geendet ist.
({4})
Wir als schwarz-gelbe Koalition handeln jetzt und arbeiten all das auf, was in den letzten elf Jahren versäumt
wurde.
({5})
Wir werden die strafbefreiende Selbstanzeige im
Kern beibehalten, werden aber dafür sorgen, dass sie
nicht für eine Steuerhinterziehungsstrategie missbraucht
werden kann.
({6})
Wenn man über dieses Thema spricht, sollte man als
Erstes die hohe praktische Bedeutung der strafbefreienden Selbstanzeige betonen.
({7})
Das ist bei Ihnen, Herr Gerster, völlig in den Hintergrund
gerückt. Dazu habe ich kein Wort von Ihnen gehört. Fragen Sie einmal bei den steuerberatenden Berufen und bei
den Steuerpflichtigen nach,
({8})
wie wichtig die strafbefreiende Selbstanzeige im täglichen Steuerveranlagungsgeschäft ist. Sie ist eine einfache Möglichkeit der Behebung von Fehlern, die in der
Vergangenheit fahrlässig - nicht mutwillig - begangen
wurden. Insofern ist es vollkommen richtig, dass wir die
strafbefreiende Selbstanzeige im Kern beibehalten.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit zu dem Vorschlag
eines Strafzuschlags, der auch vom Bundesrat kam, ganz
kurz erwähnen, dass wir als FDP-Fraktion erhebliche
Bedenken haben, einen solchen Strafzuschlag einzuführen,
({9})
denn Strafzuschlag bedeutet Strafe.
({10})
Das eine Wort enthält das andere.
({11})
Nach unserer Auffassung ist eine Strafe aber durch ein
Strafgericht und nicht durch die Finanzverwaltung zu
verhängen.
({12})
Dementsprechend haben wir dort allein schon im Hinblick auf die Gewaltenteilung erhebliche Bedenken.
Im Übrigen darf ich darauf hinweisen: Wenn ein solcher Strafzuschlag eingeführt werden sollte, würde die
einfache Möglichkeit der Behebung von fahrlässigen
Fehlern bei der Steuerveranlagung faktisch abgeschafft;
denn jeder Steuerpflichtige wäre gehalten, darauf zu
dringen, dass es keine strafbefreiende Selbstanzeige,
sondern eine Ergänzung, eine Berichtigung oder Ähnliches ist. Dadurch würde die Steuerbürokratie ausgeweitet und das ganze Verfahren nicht vereinfacht werden.
Deswegen sehen wir einen solchen Strafzuschlag als
keine gute und angemessene Ergänzung zu der strafbefreienden Selbstanzeige an.
Ich möchte ganz kurz auch noch darauf hinweisen,
dass wir gerade in den letzten Monaten einen Erfolg mit
der strafbefreienden Selbstanzeige erleben konnten,
({13})
nämlich dadurch, dass Steuerpflichtige tatsächlich eine
strafbefreiende Selbstanzeige erstattet haben, weil sie
die Befürchtung hatten, dass bislang nicht versteuerte
Gelder auf ausländischen Konten entdeckt werden.
Das ist nicht nur eine Entwicklung aufgrund der
Steuer-CDs, also dadurch, dass rechtswidrig erlangte
Bankkundendaten verkauft wurden, sondern das ist eine
Entwicklung aufgrund des immer stärkeren Zusammenwachsens der Welt und der Finanzmärkte, sodass dem
einzelnen Steuerpflichtigen immer klarer wird, dass es
nicht mehr möglich ist, Gelder zu hinterziehen, indem
sie auf ausländische Konten verbracht werden.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gerster zulassen?
Sehr gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Volk, ich möchte Sie gerne fragen, ob
Sie aus heutiger Sicht im Angesicht der Tatsache, dass
jetzt eine entsprechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorliegt, die Entscheidung der Landesregierung Baden-Württemberg noch immer für richtig
halten, seinerzeit auf den Erwerb der Steuerdaten-CD zu
verzichten.
({0})
Herr Kollege Gerster, das ist ein Thema, das ich auch
noch ansprechen wollte, aber ich kann das gerne vorziehen.
({0})
Ich finde es gerade in rechtsstaatlicher Hinsicht und
vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung zunächst einmal sehr gut, dass es jetzt eine Entscheidung des höchsten deutschen Gerichtes zu dieser Frage gibt. Ich glaube,
dass das Bundesverfassungsgericht weitaus besser als
die Finanzverwaltung dazu berufen ist, diese Frage zu
beurteilen.
({1})
Gerade aus Ihren Reihen wird aber immer suggeriert,
man könne das alles sozusagen immer einheitlich beDr. Daniel Volk
trachten, Steuer-CD sei Steuer-CD. Wie gesagt: Es geht
um Bankkundendaten.
({2})
- Ich gehe doch auf die Frage ein, Frau Kressl. Wenn Sie
meiner Antwort lauschen würden, dann würden Sie hören, dass das genau die Antwort auf die Frage Ihres Kollegen ist.
({3})
- Nein? Sie hören also nicht zu, okay.
({4})
Sie suggerieren, dass jeder Fall sozusagen gleich zu
behandeln ist. Die SPD setzt sich dafür ein, dass jede
rechtswidrig erlangte Sammlung von Bankkundendaten
anzukaufen ist. Ich bin der Auffassung, dass jeder Einzelfall gesondert geprüft werden muss, weil eben nicht
alle Fälle immer vergleichbar sind. Insofern ist auch die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Entscheidung in einem Einzelfall.
({5})
Die Verwaltung wird dadurch zu keinem Zeitpunkt davon entbunden, immer den jeweiligen Einzelfall zu prüfen.
Im Übrigen: Die rechtsstaatliche Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts liegt zwar vor, es bleibt aber
weiterhin die Frage offen, ob es politisch opportun ist,
über einen Ankauf rechtswidrig erlangter Daten sozusagen geradewegs in die Gefahr zu kommen, dadurch einen schwunghaften Datenhandel zu befeuern.
({6})
Ich glaube, dieser Verantwortung sollten wir uns in der
Politik auch stellen.
({7})
- Ich habe Ihre Frage klar mit einem Nein beantwortet,
indem ich gesagt habe, dass nicht alle Fälle über einen
Kamm zu scheren sind. Ich denke, diese Frage habe ich
damit durchaus klar beantwortet.
({8})
Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass wir als
schwarz-gelbe Koalition endlich die richtigen Schritte
einleiten, die in diesem Bereich notwendig sind, nachdem die jetzt in der Opposition befindliche SPD dies zuvor vernachlässigt hat.
({9})
Wir werden dafür sorgen, dass die strafbefreiende
Selbstanzeige eben kein Hilfsmittel für eine Steuerhinterziehungsstrategie ist. Deswegen haben wir den Zeitpunkt, ab dem die Straffreiheit nicht mehr in Anspruch
genommen werden kann, vorverlagert. Herr Kollege
Gerster, Sie haben dies dankenswerterweise hier bereits
als positiv eingeschätzt.
Zu der Teilselbstanzeige erwähne ich nur ganz kurz:
Ja, es gibt die Entscheidung des Bundesgerichtshofs,
aber Rechtsprechung kann auch wieder geändert werden. Gesetze sind Maßnahmen, die einen politischen
Willen umsetzen; wir sorgen dafür, dass dies nun endgültig in das Gesetz einfließen wird. Dementsprechend
ist auch dies ein wichtiger Schritt hin zur Regelung dieses Bereichs. Wir stehen klar für den Kampf gegen Steuerhinterziehung.
({10})
Gleichzeitig wollen wir den Steuerpflichtigen weiterhin
eine goldene Brücke hin zur Steuerehrlichkeit bauen.
({11})
Da sind wir auf einem sehr guten Weg. Wir wünschen
uns dabei auch die Unterstützung von der Opposition.
Vielen Dank.
({12})
Barbara Höll hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Sie alle kennen doch den Spruch: Steuern zahlen
nur die Dummen.
({0})
- Hören Sie doch zu, Herr Schick. Sie kennen aber den
Spruch.
Wenn man sich die zahlreichen Selbstanzeigen der
letzten Zeit anschaut, fragt man sich angesichts dieser
großen Zahl, ob an diesem Spruch nicht doch etwas daran sein könnte.
({1})
Fakt ist, Steuern zahlen die Ehrlichen, Herr Schick: Sie
und ich. Die anderen begehen ohne Wenn und Aber eine
Straftat - das ist das Entscheidende - und betrügen die
Gesellschaft.
Oh Wunder, dieses Jahr ist die Zahl der Selbstanzeigen auf etwa 28 000 angestiegen. Das ist 14-mal so viel
wie in den Jahren zuvor. In Baden-Württemberg gab es
7 342 Selbstanzeigen, in Nordrhein-Westfalen 5 158 und
in Bayern 3 870.
({2})
Nicht etwa das schlechte Gewissen plagte die Leute, die
sich auf einmal selbst anzeigen. Sie gehen nicht etwa
deshalb jetzt reuevoll zum Finanzamt, weil sie auf einmal Steuern zahlen wollen. Nein, sie machen es, weil sie
wissen, dass sie bald geschnappt werden könnten, aber,
wenn sie sich jetzt selbst anzeigen, noch straffrei ausgehen könnten. Das ist die Wahrheit. Das kann doch wohl
nicht Ihr Ernst sein. Das ist einfach grob ungerecht.
({3})
Steuergerechtigkeit ist so nicht zu schaffen.
Die Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige
forderten laut Politbarometer vom Oktober dieses Jahres
etwa 60 Prozent der Befragten. Wahrscheinlich sind es
inzwischen noch mehr. Wir wissen, dass mit dieser Bundesregierung eine Abschaffung wohl leider nicht möglich ist. Ich gebe zu, dass auch ich die Hoffnung hatte,
dass Sie zumindest solche verschärfenden Regelungen
planen, die auch tatsächlich verschärfend wirken. Aber
Pustekuchen! Es gibt nur halbherzige Änderungen statt
Konsequenz.
Bevor ich auf Ihre Änderungen eingehe, stelle ich
fest, dass die Regelung der strafbefreienden Selbstanzeige, geregelt in § 371 der Abgabenordnung, eben nicht
zu mehr Steuerehrlichkeit geführt hat, auch wenn Sie das
laufend behaupten. Sie sollten dann wirklich einmal erklären, warum ausgerechnet in diesem Jahr nach dem
Ankauf von Daten-CDs die Zahl der Anzeigen auf einmal gestiegen ist,
({4})
nachdem die Bankdaten in Umlauf waren, nicht aber
vorher. Wenn Sie ehrlich wären, müssten Sie das den
Bürgerinnen und Bürgern sagen. Das tun Sie aber nicht.
Sie tun etwas anderes, und das zeigt, für wen Ihr Herz
schlägt. Herr Volk hat das eben noch einmal sehr deutlich gemacht. Es schlägt eben nicht für den kleinen
Handwerker, der brav seine Steuern zahlt, sondern für
diejenigen, die ihr Vermögen fleißig ins Ausland bringen.
({5})
Nun kommen wir zu Ihrem großen Wurf.
Erstens. Künftig sollen bei einer Selbstanzeige alle
Hinterziehungssachverhalte für alle nicht verjährten Veranlagungszeiträume offengelegt werden. Andernfalls erlischt die Straffreiheit. Das ist aber nicht neu - darauf
wurde schon hingewiesen -; das hat der Bundesgerichtshof bereits im Mai dieses Jahres gefordert. Schätzungen
der Deutschen Steuergewerkschaft gehen davon aus,
dass derzeit noch etwa 100 Milliarden Euro versteckt
liegen, die noch nicht der Verjährung zum Opfer gefallen
sind. Wenn Sie konsequent wären, könnten Sie zugreifen. Aber Sie tun es nicht.
({6})
Zweitens. Die Selbstanzeige soll künftig nicht mehr
möglich sein, sobald der Brief mit der Bekanntgabe der
Prüfungsanordnung im Unternehmen eingeht. Auch das
ist halbherzig. Warum folgen Sie nicht wenigstens hier
der Empfehlung des Bundesrates, der bereits die Absendung des Briefes als Zeitpunkt der Bekanntgabe der Prüfungsanordnung vorsieht?
Drittens. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht keinerlei Strafgebühr - auch das wäre möglich, Herr Volk - auf
den zu entrichtenden Steuerbetrag vor. In der öffentlichen Debatte sind 5 Prozent im Gespräch. Es bleibt dabei: 6 Prozent Zinsen ab Fälligkeit. Damit zahlen - das
ist grob ungerecht - die Unehrlichen genauso viel wie
die Ehrlichen. Das kann doch nicht sein. Hier muss unbedingt etwas geändert werden.
Der Staatssekretär nährt vor Weihnachten ein bisschen die Hoffnung, dass sich die CDU/CSU bewegt. Von
der FDP haben wir leider eben das Gegenteil vernehmen
müssen. Trotzdem hoffe ich - an dieser Stelle werden
Sie unsere Unterstützung haben -, dass wir zu einer jeweils angemessenen Gebühr kommen.
({7})
Wir sagen Ihnen ganz deutlich: Mit Ihrer halbherzigen Herangehensweise wird sich an dem Problem nichts
ändern. Ohne den Druck auf die Steuersünder durch vermehrte Prüfungen können Sie sich das Ganze sparen.
Dann haben wir nur einen zahmen Papiertiger.
Sie verfolgen einen völlig falschen Denkansatz, wenn
Sie sagen - ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage vom 8. April dieses Jahres zur
strafbefreienden Selbstanzeige -:
Eine Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige nimmt den Finanzbehörden daher im Ergebnis Ermittlungsmöglichkeiten und verringert das
Steueraufkommen ….
Genau hier liegt aber der Hase im Pfeffer. Denn die Finanzbehörden haben nicht genug Betriebsprüfer und
Steuerfahnder. Es gibt auch keinen automatischen Informationsaustausch zwischen den Steuerbehörden der verschiedenen Länder.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Wenn Sie etwas ändern wollen, dann müssen Sie dafür Sorge tragen, dass die Finanzbehörden viel besser
ausgestattet werden und Betriebsprüfungen stattfinden.
Sie müssen sich auch endlich auf internationaler Ebene
für den automatischen Informationsaustausch einsetzen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will zuerst etwas zum Thema Geldwäsche sagen. Ich
glaube, man kann es insoweit aus dem Parteienstreit herausnehmen, als man sagen muss: Viele Länder in Europa waren überrascht von dem, was die Financial Action Task Force ihnen zur Geldwäsche ins Stammbuch
geschrieben hat. Dass man seit Februar die Wirklichkeit
noch nicht perfekt geändert hat, liegt nahe. Ich finde, da
müssen wir ehrlich sein.
Aber in einem Punkt ist die Kritik von Herrn Gerster
richtig, und ich möchte sie noch einmal unterstreichen:
Statt einer klaren und vollständigen Bestandsaufnahme
und eines Gesetzentwurfs, mit dem wir die Defizite systematisch aufarbeiten, finden wir jetzt in dem einen oder
anderen Gesetzentwurf jeweils ein bisschen, sodass die
Befürchtung bestehen muss, dass wir am Ende die eklatanten Schwächen, die in Deutschland vorhanden sind,
eben nicht systematisch aufarbeiten und Geldwäsche damit einmal mehr nicht deutlich genug als zentrales Problem unserer Wirtschaft erkennen und entsprechend korrigieren. Das halte ich für die falsche Strategie. Statt hier
und da ein bisschen zu ändern, wäre ein systematischer
Ansatz notwendig.
({0})
Ich komme zum Hauptpunkt: die strafbefreiende
Selbstanzeige. Im Wesentlichen wird in den Gesetzentwurf aufgenommen, was der Bundesgerichtshof festgelegt hat. Dass es schon vorher in der Diskussion war, ändert nichts daran. Es ist trotzdem richtig, das in den
Gesetzentwurf aufzunehmen. Aber es fehlen entscheidende Punkte.
Erstens haben Sie in Ihrem eigenen Antrag im Frühjahr festgestellt: Taktieren darf sich nicht lohnen. Mit
dem, was Sie jetzt vorlegen, bleiben Sie hinter diesem
Anspruch zurück, weil es sich nach wie vor lohnt. Der
Ehrliche, der zu spät zahlt, hat einen höheren Zuschlag
als der Unehrliche, der eine Selbstanzeige macht.
({1})
Herr Dautzenberg hat das dargelegt. Hier ist Korrekturbedarf.
({2})
Der zweite Punkt: Sie greifen bei der Frage der
Selbstanzeige viel zu kurz. Es kann doch nicht sein, dass
man es als tätige Reue bezeichnet, wenn Menschen in
dem Moment, in dem die Untersuchung schon läuft, in
dem die Durchsuchung ihrer Wohnungen und ihrer Geschäftsräume stattfindet, schnell einmal reuig werden.
Die Zunahme - das hat Frau Höll richtig dargestellt - der
Zahl der Selbstanzeigen in diesem Jahr ist darauf zurückzuführen, dass die Leute Angst hatten, dass konkret
in ihrer Bank etwas aufgeflogen ist. Da muss man sich
einmal ehrlich machen. Nach meiner Schätzung haben
etwa 80 Prozent der Selbstanzeigen nichts mit tätiger
Reue, sondern nur mit Taktik zu tun.
({3})
Das muss eingeschränkt werden; sonst ist der Ehrliche
tatsächlich an dieser Stelle der Dumme.
({4})
- Machen Sie eine andere Schätzung. Es ist auf jeden
Fall die überwältigende Mehrheit.
Nehmen Sie den Fall, der vor dem Bundesgerichtshof
behandelt worden ist. Da ging es darum, dass die Untersuchung schon lief und dann jemand meinte, einklagen
zu müssen, dass er noch eine Selbstanzeige machen
könne.
({5})
- Ja, das hat der Bundesgerichtshof festgelegt. Dann ist
aber die Frage, ob man nicht auch Wiederholungstäter
bei diesem Fall klar einschränken müsste. Sie greifen
hier deutlich zu kurz.
Jetzt will ich auf das zentrale Problem Ihres Gesetzentwurfes eingehen, den Art. 3. Es ist richtig, wie es der
BGH gesagt hat: Wer sich nur teilweise ehrlich macht,
also sozusagen nur das Konto bei der Credit Suisse aufdeckt, aber das Konto bei der UBS oder in Liechtenstein
nicht aufdeckt, soll in Zukunft nicht mehr von der
Selbstanzeige profitieren können. Das ist korrekt. Sie
aber schreiben in Art. 3 eine Übergangsregelung hinein,
in der Sie demjenigen, der bisher nur einen Teil aufgedeckt hat, also so getan hat, als sei er jetzt ehrlich, in
Wirklichkeit aber nur für ein Konto etwas aufgedeckt
hat, weil er Angst hatte, dass ihm die Ermittler auf die
Spur kommen, für die Zukunft garantieren, dass er straffrei ausgeht.
({6})
Sie leisten an dieser Stelle einen Bestandsschutz für
Steuerhinterzieher. Das lehnen wir ab; das werden wir
nicht durchgehen lassen.
({7})
- Ich könnte mir vorstellen, dass Herr Kolbe nachher für
die Koalition auf diesen Punkt noch eingehen will.
Sie schreiben in Ihrer Begründung:
Für bereits erstattete Selbstanzeigen, die tatsächlich
({8}) Teilselbstanzeigen waren, bleibt daher der bei
Abgabe der Selbstanzeige bestehende Status der
Straffreiheit insoweit erhalten.
({9})
- Genau. Für unehrliche Leute schaffen Sie Vertrauensschutz. Aber die vielen ehrlichen Steuerzahler, die in der
Zwischenzeit ehrlich gezahlt haben, gucken in die
Röhre.
({10})
Deswegen wäre es richtig, an dieser Stelle eine klare
Frist einzuführen und zu sagen: Die Leute, die sich in
der Vergangenheit nur teilweise ehrlich gemacht haben,
haben jetzt noch ein Jahr Zeit, um sich insgesamt ehrlich
zu machen. Dann können sie davon profitieren. Aber
nach unserer Ansicht darf es keinen Vertrauensschutz für
unehrliche Leute geben, die so tun, als würden sie sich
ehrlich machen, und in Wirklichkeit mit ganz kaltem
Kalkül weiterhin die ehrlichen Menschen in diesem
Lande betrügen. So geht es nicht.
({11})
Der Kollege Manfred Kolbe hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es war allen drei Oppositionsrednern physisch förmlich
anzumerken, dass sie sich ärgern, dass der Koalition
wieder einmal ein guter Gesetzentwurf, diesmal zur
Reform der strafbefreienden Selbstanzeige gemäß
§ 371 AO, geglückt ist.
({0})
Keine eigenen Vorschläge außer der Totalabschaffung,
mehr als ein „weg damit“ wird nicht geboten. Es wird
noch gesagt, es sei ein bisschen zu wenig, zwar richtig,
aber eine Minimallösung usw. Dies zeigt, dass wir auf
dem richtigen Wege sind und einen guten Gesetzentwurf
vorgelegt haben.
({1})
Damit setzt die unionsgeführte Bundesregierung ihre
konsequente Politik der Bekämpfung der Steuerhinterziehung seit 2005 fort. Was haben wir seit 2005 - in den
ersten Jahren teilweise im Zusammenwirken mit der
SPD - erreicht? Wir haben endlich eine vernünftige
Strafvorschrift - § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO - für die
bandenmäßige Hinterziehung von Umsatz- und Verbrauchsteuern geschaffen. Wir haben erstmals eine Telekommunikationsüberwachung für schwere Steuerhinterziehungstatbestände eingeführt; das gab es vorher nicht.
Wir haben die Verjährungsfrist für besonders schwere
Steuerhinterziehung auf zehn Jahre verlängert. All dies
hat eine unionsgeführte Bundesregierung eingeführt.
({2})
- Das haben wir teilweise im Zusammenwirken mit Ihnen erreicht, Frau Kressl. Auch wir haben das gewollt.
Gleichzeitig hat der Bundesgerichtshof vernünftige
Strafzumessungsregeln aufgestellt. Ab 1 Million Euro
hinterzogene Steuern gibt es grundsätzlich keine Strafaussetzung zur Bewährung mehr. Das ist eine richtige
Entscheidung. Wir haben dann bei den Steuer-CDs entschlossen zugegriffen. Ich zitiere die Bundeskanzlerin
vom Februar 2002:
Vom Ziel her sollten wir, wenn diese Daten relevant
sind, auch in den Besitz dieser Daten kommen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundeskanzlerin
eindrucksvoll bestätigt. Zudem schließen wir im internationalen Bereich fast wöchentlich Abkommen ab, mit
denen wir den Informationsaustausch nach OECD-Standard vereinbaren und somit die internationale Steuerhinterziehung bekämpfen. Diese Bundesregierung ist erfolgreich bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung.
({3})
Herr Schick, wenn ich versuche, herauszubekommen,
was Rot-Grün - Sie haben schließlich von 1998 bis 2005
regiert - in sieben Jahren geschafft hat, dann stelle ich
fest, dass das fast nichts ist. Das mag daran liegen, dass
Sie damals dem Hohen Hause noch nicht angehört haben. Aber in Erinnerung sind mir nur ein völlig verkorkster § 370 a AO - den mussten wir aufheben - und
eine Steueramnestie geblieben, die alles andere als ein
Ruhmesblatt war. Das ist die rot-grüne Bilanz bei der
Bekämpfung von Steuerhinterziehung.
({4})
Das Gesetz, über dessen Entwurf wir heute in erster
Lesung beraten, sieht eine Neuregelung der strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 AO vor und geht auf
eine Initiative meiner Fraktion zurück. Diese Initiative
haben wir im März gestartet, also vor dem Urteil des
Bundesgerichtshofs, um das hier einzuflechten. Wir, die
Union, haben damals drei Maßnahmen gefordert.
Erstens. Wir wollen den Ausschluss der Selbstanzeige
bereits bei Bekanntgabe der Prüfungsanordnung und
nicht erst bei Erscheinen des Prüfers. Wir wollen keine
Klausurfälle mehr, in denen davon, ob der Prüfer vor
oder hinter dem Gartenzaun steht, abhängt, ob die
Selbstanzeige wirksam ist oder nicht. Die Bekanntgabe
ist nun entscheidend.
Zweitens. Wir wollen eine umfassende Selbstanzeige.
Teilselbstanzeigen werden nicht mehr anerkannt.
Drittens. Wir wollen einen Zuschlag auf die Hinterziehungszinsen, um den Steuerhinterzieher wirtschaftlich stärker zu belasten.
Wie sah Ihre Reaktion aus, meine Damen und Herren
von der SPD? Sie war simpel. Zuerst haben Sie sich wochenlang geärgert, dass die Union bei der Bekämpfung
der Steuerhinterziehung wieder vorne war. Dann kam
der Antrag auf Totalabschaffung. Diesen haben Sie heute
kaum noch vertreten, weil dieser im Bundesrat sang- und
klanglos untergegangen ist. Der Freistaat Bayern hat die
Unionsinitiative aufgegriffen. 15 von 16 Bundesländern
haben sich im Bundesrat unserer Initiative angeschlossen.
({5})
Ich zitiere wörtlich den Finanzminister von RheinlandPfalz, Herrn Kühl, vom April dieses Jahres:
Ich bin dafür, dass wir die Möglichkeit der Strafbefreiung durch Selbstanzeige beibehalten. Letztlich
profitiert der Staat davon, denn wer sich selbst anzeigt, muss alles offenlegen. Das ist viel effektiver
als der Einsatz von Ermittlern.
({6})
Den Worten Ihres Finanzministers kann man nur wenig
hinzufügen.
Die Selbstanzeige ist auch kein isolierter Fremdkörper im Strafrecht. Es gibt vergleichbare Strafbefreiungsvorschriften auf vielen anderen Gebieten. Es gibt § 149
Abs. 2 Strafgesetzbuch: Wegen Fälschung von Geldund Wertzeichen wird nicht bestraft, „wer freiwillig die
Fälschungsmittel, soweit sie noch vorhanden und zur
Fälschung brauchbar sind, vernichtet“. Es gibt § 261
Abs. 9 Strafgesetzbuch: Wegen Geldwäsche wird nicht
bestraft, „wer die Tat freiwillig bei der zuständigen Behörde anzeigt“. Es gibt § 264 Abs. 5 Strafgesetzbuch:
Wegen Subventionsbetrug wird nicht bestraft, „wer freiwillig verhindert, dass aufgrund der Tat die Subvention
gewährt wird“.
Das sind alles vergleichbare Vorschriften, nach denen
auch ein gesetzlicher Anspruch auf Strafbefreiung besteht, nicht nur auf Milderung im Gerichtsverfahren.
§ 371 AO ist kein Fremdkörper, sondern er entspricht einem allgemeinen Rechtsgedanken.
({7})
Deshalb werden wir ihn auch nicht abschaffen. Sowohl
der Herr Staatssekretär als auch der Vorredner haben ja
schon ausgeführt, was eine Abschaffung in der Praxis
bedeuten würde. Jeder Berichtigungsfall ginge möglicherweise zur Staatsanwaltschaft.
({8})
Das kann nicht gewünscht sein, auch von der Effektivität
her nicht. Immerhin haben wir dieses Jahr bisher über
28 000 Selbstanzeigen. Selbst wenn Sie das Personal
verdoppeln oder verdreifachen, würden Sie diese Fälle
nicht aufklären. Ich kann wieder nur Herrn Kühl zitieren:
Mir ist bewusst, dass Strafgerechtigkeit und Steuergerechtigkeit hier im Konflikt miteinander stehen.
Das ist richtig. Aber wir gehen jetzt einen vernünftigen Mittelweg, um beiden gerecht zu werden, während
die Totalabschaffung der Steuergerechtigkeit nicht dienen würde.
({9})
Lassen Sie mich abschließend noch einen Satz zum
Zuschlag sagen. Derzeit gibt es einen Wertungswiderspruch. Einerseits werden gemäß § 235 AO pro Jahr
6 Prozent Hinterziehungszinsen erhoben, andererseits
beträgt der Säumniszuschlag gemäß § 240 AO, wenn ich
beispielsweise einmal aus Schusseligkeit die Umsatzsteuererklärung ein paar Tage oder nur einen Tag zu spät
abgebe, 1 Prozent pro Monat. Das ist ein Wertungswiderspruch, auf der einen Seite 6 Prozent per annum für
den Hinterzieher, auf der anderen Seite 12 Prozent per
annum für den bloß schusseligen Säumigen.
Deshalb meinen wir als Union, hier wäre ein Zuschlag sachgerecht, damit der Steuerhinterzieher wirtschaftlich spürbarer belastet würde als der ehrliche Steuerzahler. Dieser Zuschlag, Herr Volk, wäre keine Strafe,
hätte keinen Strafcharakter, sondern wäre eine steuerliche Nebenleistung, wie sie schon jetzt in der Abgabenordnung vorgesehen ist, beispielsweise gemäß § 162
Abs. 4 Satz 2 Abgabenordnung bei der Verletzung von
Dokumentationspflichten bei Sachverhalten mit Auslandsbezug. Der Zuschlag ist ein typisierendes Äquivalent für den Mehraufwand, der der Finanzverwaltung
durch die fehlende Mitwirkung des Steuerhinterziehers
entsteht.
Wir werden in der Anhörung prüfen, ob wir dafür
eine verfassungsfeste Formulierung finden können. Im
Ausschuss werden wir dann noch darüber zu reden haben, ob wir diese Regelung treffen oder nicht.
({10})
Vorerst bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit
und bitte Sie alle, diesen guten Gesetzentwurf zu unterstützen.
Danke.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4182 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. Gibt
es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
von Notz, Wolfgang Wieland, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Vorratsdatenspeicherungen über den
Umweg Europa
- Drucksachen 17/1168, 17/3589 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Christine Lambrecht
Halina Wawzyniak
Verabredet ist es, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort
der Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute zum wiederholten Mal über ein
Thema, mit dem wir uns beschäftigen müssen, weil das
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein Gesetz der
Vorgängerregierung quasi pulverisiert hat. Karlsruhe hat
ganz deutlich die Rote Karte für die bisherige Regelung
der Vorratsdatenspeicherung gezeigt. Nach Auffassung
der Liberalen kann es daher bei diesem Thema ein
schlichtes „Weiter so“ mit einigen kleinen Stellschrauben nicht geben.
({0})
Vielmehr müssen wir gründlich nachdenken, was wirklich notwendig ist und was verfassungsrechtlich vereinbar ist mit dem, was wir das Grundgesetz nennen.
Sie alle wissen, dass derzeit in Europa eine Evaluierung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung läuft.
Im September sollten eigentlich Vorschläge dafür vorliegen, was passieren soll. Doch offensichtlich hat die
Kommission in Brüssel dasselbe Problem, das hie und
da die Bundesregierung in Karlsruhe gehabt hat, nämlich
klar und deutlich nachzuweisen, dass die Vorratsdatenspeicherung, wie sie von Brüssel vorgesehen ist und wie
sie hier auch umgesetzt worden ist, wirklich Vorteile
bringt und das ist, was die Sicherheitsbehörden brauchen.
Dazu muss man sich nur einmal ein paar Zahlen ansehen. Die Aufklärungsquote bei Straftaten im Internet vor
der Einführung der Vorratsdatenspeicherung betrug
82,9 Prozent im Jahr 2007 und nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung 75,7 Prozent im Jahr 2009. Da
wurde das Gesetz schon angewandt.
({1})
Das heißt doch, dass die Vorratsdatenspeicherung an
sich offensichtlich nicht das beste Mittel ist.
In anderen EU-Mitgliedstaaten - das ist das besonders Interessante -, wo niemand geklagt hat, wo es keine
politische Diskussion gegeben hat, sind die Zahlen auch
nicht besser. Es gibt also keine belastbaren Zahlen dafür,
dass die anlasslose millionenfache Speicherung von Verbindungsdaten zur Kriminalitätsbekämpfung unbedingt
notwendig ist.
({2})
Was mich persönlich wirklich umtreibt - das habe ich
auch an anderer Stelle schon gesagt -, ist die Tatsache,
dass dann, wenn es ums Geld geht, nämlich bei Urheberrechtsverletzungen, allein im letzten Jahr von der Telekom 2,7 Millionen IP-Adressen gespeichert bzw. verfolgt und mitgeteilt werden konnten. Ich frage mich
ernsthaft: Wie kann es sein, dass das dann, wenn es ums
Geld geht, um die Verfolgung von Urheberrechtsansprüchen, leichter möglich sein soll als bei - in Anführungszeichen - normaler Kriminalität?
({3})
Ich glaube, wir haben hier ein Vollzugsdefizit und
nicht so sehr ein Umsetzungsdefizit. Wir setzen daher
ganz klar auf die Evaluierung der Richtlinie in der EU.
Die Bundesjustizministerin hat das mehrfach sehr deutlich gemacht. Deshalb brauchen die Grünen das auch gar
nicht per Antrag einzufordern.
({4})
Wir tun das. Wir setzen uns für das sogenannte QuickFreeze-Verfahren, für die anlassbezogene Pufferung von
Daten ein, damit Strafverfolgung da möglich ist, wo sie
notwendig ist. Wir sind gern bereit, unseren Vorschlag
mit allen Fraktionen im Deutschen Bundestag zu diskutieren. Wir freuen uns auf eine gute Debatte.
Herzlichen Dank.
({5})
Jetzt hat Eva Högl das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Piltz, das Angebot nehmen wir an. Aber dann
legen Sie doch einmal etwas vor! Darauf warten wir
ganz gespannt. Wir haben vernommen, dass die Spitzen
der Koalition das Thema auf 2011 vertagt haben und
dass das Bundesjustizministerium aufgefordert ist, bis
Ende 2010 noch einen Bericht über die Vorratsdatenspeicherung vorzulegen. Nun schauen wir auf den Kalender
und stellen fest, dass das Jahr noch 16 Tage hat, eher 15;
wir sind ja jetzt schon am Abend. Wir warten gespannt,
was wir unter dem Tannenbaum zur Vorratsdatenspeicherung lesen dürfen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
wir lesen immer nur, dass Sie sich nicht einigen können.
Wir sehen, dass Sie nicht handlungsfähig und nicht in
der Lage sind, dieses wichtige Thema zu entscheiden.
({1})
Frau Piltz hat gesagt: Es darf kein „Weiter so“ geben. Dem kann man zustimmen. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden. Wir warten darauf, dass Sie etwas
vorlegen. Sie sind am Zug. Wir wollen hier über etwas
diskutieren.
({2})
- Ich komme dazu; ich habe ja noch ein paar Minuten.
({3})
Inakzeptabel ist meiner Meinung nach das Argument:
Wir warten auf Europa. - Darüber müssen wir uns wirklich einmal auseinandersetzen. Die Grünen haben den
Antrag mit dem Titel „Keine Vorratsdatenspeicherungen
über den Umweg Europa“ vorgelegt. Ich finde übrigens:
Europa ist nie ein Umweg. Aber wir müssen uns darüber
unterhalten, ob wir auf Europa warten können oder
nicht.
Wir sind der Auffassung, dass wir in Deutschland entscheiden müssen, wie es mit der Vorratsdatenspeicherung weitergeht. Das Bundesverfassungsgericht hat am
2. März dieses Jahres entschieden, dass die Vorratsdatenspeicherung mit Art. 10 Grundgesetz unvereinbar ist. Es
hat klare Kriterien und klare Voraussetzungen formuliert, unter denen eine Vorratsdatenspeicherung möglich
wäre, wenn man sie denn möchte.
Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt - ich
will das zitieren, weil das sehr eindringlich war und für
uns auch ein Handlungsauftrag ist -: Anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten ist geeignet,
„ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen“, das „eine unbefangene Wahrnehmung der
Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen“ kann.
Wir alle haben das gut gelesen.
Diese Frage, liebe Kolleginnen und Kollegen, können
wir nicht kommentarlos nach Europa delegieren. Diese
Frage müssen wir hier im Deutschen Bundestag beantworten. Wir müssen anhand der Maßstäbe des Grundgesetzes entscheiden, wie wir bei der Vorratsdatenspeicherung weiter vorgehen. Wir im Deutschen Bundestag sind
als Gesetzgeber gefragt.
Ich will noch einen zweiten Grund nennen, warum es
falsch ist, auf Europa zu warten. Wir sind nicht irgendein
Mitgliedstaat in der Europäischen Union; das wissen
wir. Wir müssen das europäische Recht gestalten. Wir
sind ein großer Staat mit viel Gewicht. Ich möchte an
dieser Stelle, anders als es sich in der Europapolitik der
Bundesregierung zeigt, nicht sagen, was ich nicht will,
sondern ich möchte Europa gestalten, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Wir haben dazu die Chance.
Frau Kollegin, würden Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Höferlin zulassen?
Ja, bitte sehr.
Bitte schön.
Vielen herzlichen Dank. - Frau Kollegin Högl, ich
lese im Bericht des Rechtsausschusses, dass die SPDFraktion Folgendes von sich gegeben hat:
Die Richtlinie 2006/24/EG werde derzeit auf europäischer Ebene evaluiert. Das Ergebnis solle zunächst abgewartet werden.
Können Sie mir den Zusammenhang zwischen dieser
Aussage und dem, was Sie eben gesagt haben, erklären?
Den verstehe ich nicht ganz.
Das bezog sich auf den Antrag der Grünen.
({0})
- Genau. Der Titel des Antrags der Grünen ist: „Keine
Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“.
Ich sage aber: Wir dürfen nicht auf Europa warten, sondern wir müssen unsere Position in Europa einbringen.
Das ist ein Unterschied. Deswegen haben wir uns damals so positioniert und bei der Abstimmung über den
Antrag der Grünen enthalten.
Ich will kurz ausführen - ich glaube, wir sind gar nicht
so weit voneinander entfernt -, warum ich es falsch finde,
auf Europa zu warten. Ich habe es schon gesagt: Wir müssen unsere Position in Europa einbringen. Wir haben dazu
eine Chance. Es gibt jetzt einen neuen Vertrag, den Vertrag von Lissabon, und die Grundrechtecharta. Das gibt
die Gelegenheit, die Balance von Bürgerrechten und Sicherheit - ich habe das im Deutschen Bundestag schon
öfter gesagt - neu zu justieren. Das ist eine Riesenchance.
Die Bürgerinnen und Bürger warten darauf, dass wir uns
positionieren. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass
die Richtlinie evaluiert wird. Denn es gibt mit dem Vertrag von Lissabon und der Grundrechtecharta neue Maßstäbe. Außerdem ist die Richtlinie in einigen Mitgliedstaaten nicht umgesetzt - das wissen wir auch -, und in
einigen Mitgliedstaaten haben die Verfassungsgerichte
wie in Deutschland die nationale Umsetzung der Richtlinie kritisiert.
Es gibt also Bewegung in der Debatte um Vorratsdatenspeicherungen. Auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs steht noch aus. Wir müssen die
neuen Maßstäbe, die sich aufgrund der neuen Vertragsgrundlagen ergeben, nutzen. Aber ich sage - darin unterscheiden wir uns von den Koalitionsfraktionen und der
Bundesregierung -: Wir dürfen nicht tatenlos dabei zusehen, was in Europa passiert, sondern wir müssen unsere Vorstellungen in die europäische Debatte einbringen.
({1})
Wir erwarten von der Kommission einerseits, dass bei
der Evaluierung das Ergebnis nicht schon vorgegeben
wird, sondern dass sie ergebnisoffen durchgeführt wird.
Im Übrigen schreiben auch vier Mitglieder der FDPBundestagsfraktion an die Kommissarin Malmström,
dass sie das erwarten. Da haben wir sogar die gleiche
Auffassung.
({2})
Wir erwarten andererseits von der Bundesregierung,
dass sie etwas vorlegt und sagt, was sie in die Evaluierung einbringt. Darin besteht der Unterschied; denn dazu
haben wir von Ihnen bisher überhaupt noch nichts gesehen.
({3})
- Sie sind am Zug, Sie müssen etwas vorlegen.
Wir wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die
Kommission auf die deutsche Positionierung wartet.
Deutschland ist am Zug. Wir haben uns im Rechtsausschuss mit der Kommissarin Reding und in Brüssel mit
der Kommissarin Malmström unterhalten. Beide haben
uns gesagt, dass wir unsere Position in die Evaluierung
einbringen müssen und dass die Kommission darauf
wartet, dass Deutschland als großer Mitgliedstaat seine
Auffassung deutlich macht.
Deswegen sage ich es noch einmal: Sie sind am Zug.
Wir bieten an, konstruktiv mitzudiskutieren. Aber uns
muss hier im Deutschen Bundestag etwas vorgelegt werden.
({4})
Ein Brief von FDP-MdBs an die Kommissarin reicht
nicht aus, sondern wir wollen von der Bundesregierung
und den Koalitionsfraktionen etwas vorgelegt bekommen.
({5})
Ich will noch einmal kurz daran erinnern, was uns das
Bundesverfassungsgericht -
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Höferlin?
Ja, der Kollege noch einmal. Aber sicher!
Frau Högl, ich habe noch nicht ganz verstanden, wofür Sie stehen und wie Sie zu dem Antrag stehen. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich aus der letzten Sitzungswoche vorlese, was der Kollege Olaf Scholz aus Ihrer
Fraktion gesagt hat.
Ja.
Er sagte zum Thema Vorratsdatenspeicherung:
Ich jedenfalls versichere Ihnen gerne, dass die Sozialdemokratische Partei, wenn Sie das aufrechterhalten wollen, was schon einmal da war, oder in
einer gesetzlich neuen Fassung wiederherstellen
wollen, Ihnen Unterstützung leistet.
Ich verstehe das so, dass die sozialdemokratische Fraktion gerne möchte, dass die Vorratsdatenspeicherung so,
wie sie schon einmal war, oder in einer neuen Form wiederaufersteht. Ist das so?
Lieber Herr Kollege, wenn Sie meine Sätze zuvor gehört hätten und sich nicht darauf konzentriert hätten,
nachzulesen, was Olaf Scholz gesagt hat, dann hätten Sie
gehört, dass ich für die Fraktion der SPD angeboten
habe, konstruktiv mitzuarbeiten. Wir haben allerdings
nichts auf dem Tisch liegen.
({0})
Am 2. März ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergangen. Wir haben jetzt den 16. Dezember. Wir
haben klare Kriterien aufgestellt und erwarten jetzt, dass
Sie als Koalition etwas vorlegen, das die folgenden Kriterien berücksichtigt: Datensicherheit, Begrenzung der
Verwendung - das ist ja schon gesagt worden und in der
Diskussion -,
({1})
Transparenz, das heißt, die Bürgerinnen und Bürger
müssen informiert werden über das, was gespeichert
wird, und Rechtsschutz. Nun sind Sie am Zug, etwas
vorzulegen.
({2})
Wir wissen auch, dass Sie sich nicht einigen können.
Das lesen wir ja jeden Tag in der Presse.
Deswegen sage ich noch einmal: Der Ball ist in Ihrem
Feld. Wir bieten an, konstruktiv mitzuarbeiten.
({3})
Insofern besteht kein Unterschied zu den Aussagen meines stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Olaf Scholz.
({4})
- Das ist eine klare Position, aber selbstverständlich.
({5})
Meine Damen und Herren, wir warten ab, was Sie vorlegen. Die SPD wird sich dann eine Meinung bilden. Wir
werden uns konstruktiv einbringen.
Ich will noch einmal daran erinnern, was das Bundesverfassungsgericht gesagt hat. Weil ich das wichtig genug finde und das ja wirklich ein ganz entscheidender
Punkt in der Debatte ist, möchte ich gerne, dass die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen in der weiteren Debatte das auch berücksichtigen und in die europäische Debatte einspeisen, nämlich dass Möglichkeiten
zur Wahrnehmung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger bei der Registrierung von Daten zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland
gehören. Von Ihrer Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen, habe ich nicht gehört, dass das erfolgen soll. Es gibt
keinen Beitrag zur Evaluierung. Sie haben keine klare
Position dazu, was Sie in Europa vortragen wollen. Deswegen komme ich zu dem Ergebnis: Nichtstun ist keine
Antwort. Wir haben aber eine klare Position. Diese werden wir einbringen.
Vielen Dank.
({6})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Sensburg
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen - ich
sage das direkt von vorne her frei heraus - ist politisch
durchschaubar, europarechtlich fragwürdig, wenn nicht
gar grenzwertig, und sicherheitspolitisch verantwortungslos.
({0})
Herr Kollege von Notz, damit erübrigt sich auch die
Frage nach unserer Position, die Sie ja eben noch an die
SPD gestellt haben.
({1})
Sie beantragen, die Bundesregierung möge weiteren
Vorhaben zur Vorratsdatenspeicherung auf europäischer
Ebene entgegentreten, und, man solle die vollständige
Aufhebung der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie fordern.
({2})
Bei der Vorratsdatenspeicherung handelt es sich um bindendes Europarecht. Eine Richtlinie bedarf der Umsetzung. Das müssen inhaltlich die Mitgliedstaaten machen.
Die Umsetzung hätte letztendlich bis zum 15. März 2009
erfolgen müssen. Sprich: Wir haben derzeit einen europarechtswidrigen Zustand. Wir verletzen die europäischen
Verträge. Sie fordern, dass wir genau das weitermachen.
Dazu kann ich nur sagen: Auf welchen europarechtlichen
Grundsätzen stehen Sie eigentlich, wenn Sie sehenden
Auges in die Rechtswidrigkeit hereinrennen wollen? Das
ist schon etwas abstrus.
({3})
Die Vorratsdatenspeicherung ist aus sicherheitspolitischen Aspekten ein dringend benötigtes Instrument.
Deswegen haben fast alle Länder diese Richtlinie umgesetzt: 20 Länder haben die Richtlinie umgesetzt, in drei
Ländern befindet sie sich in der Umsetzung, und in zwei
Ländern haben Verfassungsgerichte die Umsetzung aufgehoben, nämlich bei uns in Deutschland und in Rumänien. Die ganz überwiegende Mehrheit der Länder hat
die Richtlinie umgesetzt und arbeitet erfolgreich mit der
Richtlinie; das müssen wir auch sagen.
Wir haben ein Problem durch die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010. Es ist ja
nicht so, wie es gerade dargestellt worden ist, dass das
Bundesverfassungsgericht gesagt hätte, die Vorratsdatenspeicherung wäre verfassungswidrig. Ich zitiere Ihnen auch einmal einen Satz aus dem Urteil:
Eine sechsmonatige, vorsorglich anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten …
ist mit Art. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar …
Das Verfassungsgericht sagt also ganz deutlich: Das,
was uns die europäische Richtlinie vorgibt, ist mit unserer Verfassung vereinbar, aber nur dann - auch das hat
das Bundesverfassungsgericht ganz deutlich gesagt -,
wenn Datensicherheit, Datenverwendung, Transparenz
und Rechtsschutz gegeben sind.
({4})
Wir müssen jetzt daran arbeiten, dass wir eine Richtlinie hinbekommen, die das erfüllt. Die Koalition wird so
etwas vorlegen.
({5})
Karlsruhe hat klipp und klar gesagt: Die Vorratsdatenspeicherung ist nicht verfassungswidrig, sondern sie ist
verfassungsgemäß. - Wir als Gesetzgeber müssen jetzt
handeln. Dazu muss die Bundesregierung einen entsprechenden Vorschlag vorlegen.
({6})
Eigentlich, meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, dürften Sie nicht die vollständige
Aufhebung der Richtlinie fordern. Im Grunde genommen
müssten Sie die zügige Umsetzung fordern, wenn Sie
rechtmäßig handeln würden.
({7})
Sie sagen immer: Setzen Sie europäisches Recht endlich
in nationales Recht um, wie es Ihre Aufgabe ist. - Dazu
kann man nur sagen: Man kann Frau Malmström nur dafür danken, dass die Richtlinie evaluiert wird. Sie wird
aber evaluiert, um zu schauen, wie gut es läuft und wo
Verbesserungen notwendig sind.
({8})
Wir werden nicht vor dem Frühjahr nächsten Jahres mit
Ergebnissen rechnen können. Wenn diese auch noch implementiert werden müssen, dann wird es noch anderthalb bis zwei Jahre dauern. Das soll aber nicht heißen,
dass wir einen europarechtswidrigen Zustand so lange
aufrechterhalten. Vielmehr haben wir die Pflicht, die
Richtlinie verfassungskonform und europarechtskonform umzusetzen. Das müssen wir machen. Auch Frau
Malmström hat das am 3. Dezember ganz deutlich gesagt. Dass evaluiert wird, entbindet nicht von der Verpflichtung, die Richtlinie umzusetzen. Das meinen Sie
aber; allerdings ist das falsch. Wir müssen die Richtlinie
umsetzen. Ich glaube, da stellen Sie Ihre politischen
Wünsche über die Rechtsstaatlichkeit. So geht es leider
nicht.
({9})
Die Generalstaatsanwälte haben auf ihrer Arbeitstagung vom 9. bis 11. November Folgendes beschlossen
- ich trage Ihnen das einmal vor; vielleicht trägt das zu
Ihrer Erhellung bei -: Die Generalstaatsanwältinnen und
Generalstaatsanwälte sowie die Generalbundesanwältin
stellen fest, dass der Wegfall der Vorratsdatenspeicherung dazu geführt hat, dass auch schwere und schwerste
Straftaten nicht mehr aufgeklärt werden können. Sie halten eine schnelle gesetzliche Regelung nach Maßgabe
des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März
2010 für dringend erforderlich. - Auch da sagen unsere
Strafverfolgungsbehörden, dass wir die Vorratsdatenspeicherung brauchen.
({10})
- Wir machen das. Warum stellen Sie solche Anträge?
({11})
Wir debattieren über Ihren Antrag. Das scheint Ihnen
entgangen zu sein. Sie bringen einen Antrag ein „Vorratsdatenspeicherung entgegenwirken - Richtlinie aufheben“ und fragen uns, warum wir jetzt tätig werden.
Das ist wirklich skurril. Dann ziehen Sie doch Ihren Antrag zurück.
({12})
Hinzu kommt noch die Überlegung, dass Sie meinen,
Quick Freeze wäre die Alternative zur Vorratsdatenspeicherung. Auch ich bin inzwischen ein Befürworter von
Quick Freeze geworden, weil Quick Freeze nämlich
ganz eindeutig die Vorratsdatenspeicherung voraussetzt;
denn man kann nichts einfrieren, was man vorher nicht
gespeichert hat.
({13})
Gucken wir uns einmal die Fälle an, die aufgetreten
sind: Aus Luxemburg sind uns 1 200 IP-Adressen von
Delikten gemeldet worden. Dann muss geschaut werden,
wem sich diese IP-Adresse zuordnen lässt und wie man
sie matchen kann. Dazu kann man nur sagen: Das sind
keine Alternativen, sondern wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung. Das ist genauso, als wenn Sie bei einem
Banküberfall zwar ein Autonummernschild registrieren,
dann aber den Halter nicht ermitteln können, weil es
keine Hinterlegung gibt, wem dieses Autokennzeichen
zuzuordnen ist. Wir brauchen also die Vorratsdatenspeicherung für die Ermittlung von schweren und schwersten Straftraten. Wir können nicht einfach wegsehen, wie
Sie es machen wollen, und sagen: Das legen wir jetzt ad
acta.
Verweigern Sie sich nicht aus ideologischen Gründen,
die Vorratsdatenspeicherung zu überarbeiten und zuzulassen. Wir werden das machen. Wir werden die Vorratsdatenspeicherung verfassungskonform ausgestalten. Ihr
Antrag hat weder Hand noch Fuß. Deswegen kann man
ihn nur ablehnen.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das war gerade immerhin ein Standpunkt; das muss man
sagen. Hingegen hat Kollegin Högl nur gesagt, es sei
„sehr richtig und wichtig, dass die Richtlinie evaluiert
wird“ und sie von der Bundesregierung erwarte, „dass
sie etwas vorlegt und sagt, was sie in die Evaluierung
einbringt“.
({0})
Allerdings müssten die Sozen einmal klären, was ihre
Meinung dazu ist. Dann könnte man darüber diskutieren.
Andere Oppositionsparteien haben sich eine Meinung
gebildet; auch die CDU/CSU und die FDP haben eine
Meinung. Nur die Sozen haben keine Meinung dazu.
Das ist die Situation. Damit ist man raus aus der Debatte.
({1})
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat
sich nichts geändert - ich darf überraschenderweise sagen, dass die Kollegin Piltz da schlicht recht hat -: Wir
hatten vor der Einführung der Vorratsdatenspeicherung
offensichtlich kein größeres Problem; nach der Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung durch das Bundesverfassungsgericht gibt es offensichtlich auch kein größeres
Problem. Es ist nicht so, dass jetzt auf einmal überall die
Kriminalität explodiert. Kollegin Piltz, in diesem Falle
haben Sie sehr recht. Ich hoffe, dass Sie das auch Ihrem
Koalitionspartner verklickern können.
Richtig ist - das ist zu Recht gesagt worden -: Das
Bundesverfassungsgericht hat zu der Regelung, die es
gab, gesagt, dass das gar nicht funktioniert. Es hat auch
gesagt, unter bestimmten, hohen Voraussetzungen sei
eine Vorratsdatenspeicherung möglich. Das ist zunächst
einmal richtig: Das Gericht hat nicht gesagt, dass es auf
keinen Fall möglich ist. Das Gericht hat aber auch nicht
gesagt, dass wir Vorratsdatenspeicherung betreiben sollen. In der jetzigen politischen Auseinandersetzung geht
es darum, ob wir sie betreiben wollen oder nicht.
({2})
Wir haben uns eine klare Meinung dazu gebildet. Im
Übrigen werden wir im Gegensatz zur SPD auf keinen
Fall die Einführung der Vorratsdatenspeicherung konstruktiv begleiten. Wir werden extrem konstruktiv dagegen arbeiten. Zumindest das können wir zusagen.
({3})
All Ihre Vorhaben - Ihre Datensammelwut, der Abbau von Grund- und Freiheitsrechten in den letzten Jahren - haben zwei Gemeinsamkeiten: Zum einen werden
dort leichtfertig lang erkämpfte demokratische Rechte
geopfert; zum Zweiten - das ist hier heute zu Recht anerkannt worden - haben Sie weder bei der Onlinedurchsuchung noch bei anderen Maßnahmen dem Bundestag
plausibel darlegen können, warum die Maßnahmen
wichtig sind und worin der konkrete Nutzen besteht. Das
haben Sie nicht gemacht; das wäre einmal schön.
Kollege Korte, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
Sensburg?
Ja. Schöne Bescherung!
Herr Kollege Korte, ist Ihnen bekannt, dass man europäische Richtlinien innerhalb der Frist, die in der Richtlinie genannt ist, umzusetzen hat? Macht das ein Mitgliedstaat nicht, verstößt er gegen Europarecht, gegen
die europäischen Verträge, die wir alle unterzeichnet haben.
({0})
Dann besteht sogar die Möglichkeit, dass es zu einem
Vertragsverletzungsverfahren kommt. Ist Ihnen das bekannt? Denn gerade haben Sie gesagt, es bleibe uns
überlassen, ob wir das machen oder nicht.
Wir beschließen das hier im Bundestag. Wer im Glashaus sitzt, sollte bekanntlich nicht mit Steinen werfen.
Fakt ist: Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass
das, was Sie eingebracht und dem Sie zugestimmt haben,
gar nicht geht und dass alle Daten, die gespeichert worden sind, zu löschen sind. Sie haben dem entsprechenden
Gesetz zugestimmt; die Linke hat dem nicht zugestimmt.
Wir haben uns in diesem Fall offenbar völlig verfassungskonform verhalten; das ist erst einmal festzuhalten.
({0})
Zweitens: Stichwort Europa. Folgendes Verhalten ist
interessant - das waren, um vor Weihnachten etwas Versöhnliches zu sagen, nicht nur Sie -: Bei bestimmten
Maßnahmen im Bereich der inneren Sicherheit - etwa
Biometrie in Ausweisen -, die man hier in der Bundesrepublik nicht durchbekommen würde, weil es zu viel Widerstand in der Gesellschaft gibt, haben Sie und Ihre
Vorgänger immer wieder versucht, über die Bande, über
Europa zu spielen und dort massiv das einzufordern, was
Sie hier nicht durchsetzen können, um dann zu sagen, es
handele sich um eine EU-Richtlinie, die wir umsetzen
müssten. Das geht natürlich nicht. Man müsste es umgekehrt machen: Man müsste die Europäische Union nutzen, um die Grundrechte besser zu schützen. So viel
dazu.
({1})
Kollege Korte, der Kollege Kauder möchte Sie auch
noch etwas fragen.
Ja, bitte.
Herr Kollege, könnten wir uns darauf einigen, dass
Sie die Frage des Kollegen Sensburg bewusst nicht beantwortet haben? Sie haben hypothetisch gesagt, was
Siegfried Kauder ({0})
wäre, wenn es diese europäische Richtlinie nicht gäbe.
Es gibt sie aber. Jetzt sind Sie dran.
({1})
Herr Kollege Kauder, in der Tat gibt es die europäische Richtlinie. Aber gab es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, oder habe ich da irgendetwas übersehen? Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: So, wie
die Richtlinie hier umgesetzt werden soll, ist es nicht zulässig; das geht nicht. Das ist doch die Situation. Sehe
ich das falsch, oder wie?
({0})
Ich finde, ich sehe das vollkommen richtig: Wir haben
kein verfassungsfeindliches Gesetz eingebracht, Sie
schon. Das ist die Situation.
({1})
In diesem Falle ist es spannend, wie sich die FDP verhält. Ich würde mir natürlich wünschen, dass Sie die
ganze Energie, die Sie aufwenden, um Ihren Parteivorsitzenden zu demontieren, in den Widerstand gegen die
Vorratsdatenspeicherung umleiten könnten. Das wäre sehr
gut.
({2})
Eines will ich ganz ernsthaft sagen: In der Tat ist es
besser - Kollege Stadler, damit haben Sie von der FDP
recht, auch wenn Sie das nicht so explizit gesagt haben -,
wenn Sie gar nichts einreichen, als das zu übernehmen,
was die Union möchte. Deswegen hoffe ich, dass Sie in
diesem Punkt weiterhin nichts einreichen werden. Die
Linke steht in dieser Frage an der Seite der FDP. Halten
Sie stand, Kollege Stadler und Kollegin Piltz. Das ist richtig.
({3})
- Schließlich wollen wir sachlich Politik machen.
Lange Rede, kurzer Sinn: Der Antrag der Grünen ist
selbstverständlich sinnvoll. Er ist angebracht und auf der
Höhe der Zeit. Er findet unsere volle Unterstützung. Wir
bleiben ganz klar dabei: Nein zur Vorratsdatenspeicherung
({4})
und Ja zu einer freien und aufmüpfigen Kommunikation.
Das braucht diese Demokratie.
Schönen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Konstantin von Notz für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe SPD, es ist wirklich lustig, wenn man der
Regierung vorwirft, vor lauter Zerstrittenheit nicht liefern zu können, wenn man selbst vor lauter Zerstrittenheit nicht sprechfähig ist.
({0})
Zu dieser zentralen bürgerrechtlichen Frage haben Sie
sieben Minuten lang nichts gesagt. Das ist bedauerlich.
Liebe Union, lieber Herr Kollege Sensburg, lieber
Herr Kauder, diese Europahörigkeit, zumal die einer liberalen Frau Malmström, würde man sich in anderen
Fragen auch wünschen, gerade in diesen Zeiten. Die
Aufmüpfigkeit gegenüber Europa sitzt sozusagen in diesem Tortenstück. Hier tun Sie so, als würde quasi alles,
was in Brüssel gemacht wird, vom Himmel fallen und
als müsse man das schnell ausführen, weil man ein braver Europäer ist. So ist das nun auch nicht. Man kann es
schon kritisch gegen das eigene Grundgesetz halten, und
das wollen wir tun.
({1})
Seit dem Karlsruher Urteil vergeht keine Woche, in
der Sie die Vorratsdatenspeicherung nicht als Allheilmittel gegen alle möglichen Gefahren preisen. Das reicht
bis zu Mobbing und Beleidigungen. Dabei drängt sich
die Frage auf: Ist die Vorratsdatenspeicherung wirklich
ein Allheilmittel, ist sie in Sachen Kriminalpolitik wirklich eine eierlegende Wollmilchsau, was Sie hier heute
wieder suggerieren? Das ist sie eben nicht; denn die Vorratsdatenspeicherung kommt - das hat das Gericht glasklar gesagt -, wenn überhaupt, nur bei schwersten Straftaten in Betracht. Bezüglich der Auswirkungen der
Vorratsdatenspeicherung auf die polizeiliche Kriminalitätsstatistik hat Frau Kollegin Piltz schon darauf hingewiesen, dass der zweijährige Test, der in den Jahren
2008 bis 2010 durchgeführt wurde, gezeigt hat, dass dadurch keine messbaren Änderungen zu verzeichnen sind.
Etwas geht überhaupt nicht. Herr Sensburg, ich bin
Ihnen dankbar, dass Sie auf die Äußerungen von Frau
Malmström eingegangen sind. Man kann nicht wie Frau
Malmström behaupten, dass sich an der Tatsache, dass es
pro Jahr und Land im Durchschnitt 148 000 Zugriffe
gibt - das ist offensichtlich die Zahl -, die Effektivität
der Vorratsdatenspeicherung manifestieren würde. Das
ist total unseriös. Das ist ungefähr so, als würde man sagen, dass sich aus der Tatsache, dass Millionen Menschen morgens Horoskope lesen, Rückschlüsse auf den
Wahrheitsgehalt der Horoskope ziehen lassen.
({2})
Das ist unwissenschaftlich und unseriös. So kann man
mit Fragen, die den Kern unserer Verfassung berühren,
nicht in Brüssel und auch nicht hier im Hohen Haus umgehen.
({3})
Weil Ihnen hartes Zahlenmaterial fehlt, kommen Sie
oft mit dem Einzelfall. Auch das BKA liefert häufig Einzelfälle. Ich sage Ihnen: Die Einzelfälle sind zweifellos
schlimm - daran gibt es nichts zu rütteln -, aber der Einzelfall - Herr Kauder, das ist mein guter juristischer Gedanke, der Sie freuen wird - ist der denkbar schlechteste
Ratgeber für den Gesetzgeber. Ob die Vorratsdatenspeicherung in diesen Fällen, die aufgeführt werden, hilft
oder nicht, ist eine rein hypothetische Frage. Belegbar ist
das nicht. Das Einzelfallargument kann nicht als seriöse
Grundlage für einen so tiefen Grundrechtseingriff dienen.
Zum letzten, einem wundersamen Punkt, Herr Kollege Sensburg, der mir auch in Ihrer Argumentation aufgefallen ist: Bis heute legen Sie keinen Entwurf vor, der
zeigt, wie die Vorratsdatenspeicherung aussehen könnte.
Meine These ist: Sie können es aufgrund der Voraussetzungen, die das Bundesverfassungsgericht genannt hat,
nicht so einfach in einem Gesetz umsetzen; das ist nämlich nicht so ohne.
({4})
Zuletzt. Die aktuelle Debatte über WikiLeaks wirft
ein ganz neues Licht auf die Pläne einer Massenspeicherung. Jede Vorratsdatenspeicherung ist die Schaffung einer beispiellosen Tatgelegenheitsinfrastruktur. Sie ist
eine Einladung zum Datenmissbrauch und führt das Gebot der Datensparsamkeit durch staatliche Speicherverpflichtung ad absurdum.
Ich komme zum Schluss. Ihr Vorhaben ist bürgerrechtlich gesehen Gift für diese Demokratie.
({5})
Sie wollen unsere Kommunikationsinfrastruktur zu einem Strafverfolgungsnetz umbauen. Sie beschädigen damit das Vertrauen der Menschen, in einem freiheitlichen
Rechtsstaat ohne Überwachung kommunizieren zu können. Deswegen ist die Vorratsdatenspeicherung der falsche Weg. Ich bitte Sie in dieser weihnachtlichen Zeit:
Kehren Sie um!
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Christian Ahrendt für die
FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Präsidentin! Meine verehrten Kollegen und
Kolleginnen! Liebe Frau Högl, die Regierung ist für viel
verantwortlich, aber dass wir jetzt von der Opposition
aufgefordert werden, die Weihnachtsgeschenke unter Ihren Tannenbaum zu legen, ist ein ganz besonderer
Wunsch. Tatsache ist: Dass Sie diesen Wunsch überhaupt äußern konnten, ist Abgeordneten wie Gisela Piltz
zu verdanken, die, vertreten von der Justizministerin, gegen die Umsetzung der Richtlinie in Karlsruhe geklagt
haben.
({0})
Dass wir heute überhaupt darüber nachdenken können,
wie wir unsere Vorstellungen zu diesem Thema auf europäischer Ebene formulieren, ist Abgeordneten wie
Gisela Piltz zu verdanken.
({1})
Das muss man an dieser Stelle ganz klar sagen.
({2})
Es stellt sich die Frage - das ist eben in der Debatte
deutlich geworden -: Wie gehen wir mit der Situation
um? Wir haben eine Richtlinie, die umgesetzt werden
muss, und ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, in
dem das, was hier von der Großen Koalition umgesetzt
worden ist, für verfassungswidrig erklärt wurde. In einer
solchen Situation ist zunächst einmal Sorgfalt angezeigt.
Auf europäischer Ebene wird evaluiert. Wir wissen noch
nicht, wie sich die Evaluation entwickeln wird und wie
sie im März 2011 abgeschlossen wird. Sie war für September angekündigt. Man muss abwarten, was kommt.
Spannend ist auch: Wir haben das erste Mal die Situation, dass ein Land, nämlich Irland, über sein höchstes
Gericht dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorlegt, wie mit der Vorratsdatenspeicherung im Hinblick
auf europäische Grundrechte umzugehen ist. Man muss
sich fragen, ob man nicht erst abwartet, wie sich das
Schicksal der Richtlinie auf europäischer Ebene und vor
dem EuGH entwickelt, oder ob man mit vorauseilendem
Gehorsam unterwegs ist.
({3})
Man muss sich auch über einen weiteren Punkt klar
werden. Eine Umsetzung der Richtlinie ist gar nicht
mehr möglich, weil das Bundesverfassungsgerichtsurteil
besagt, dass die Richtlinie so, wie sie formuliert ist, in
Deutschland nicht mehr umsetzbar ist; denn das wäre gegen dieses Urteil. Auch das muss man sich klarmachen.
Man muss sich in dieser Situation fragen: Wie geht
man mit dem Gesamtthema Vorratsdatenspeicherung
um? Man muss zu einem klaren Ergebnis kommen.
Dazu muss man die Entwicklung der Rechtsprechung
hin zu diesem Urteil betrachten. Zunächst kam es zur
Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung. Während dieser Zeit durfte nur im Rahmen des § 100 g der Strafprozessordnung, also bei besonders schweren Straftaten, auf
Vorratsdaten zugegriffen werden. Selbst diese Regelung
hat das Bundesverfassungsgericht nicht aufrechterhalten. Es hat sozusagen seinen eigenen einstweiligen
Rechtsschutz einkassiert und ist in dem Urteil darüber
hinausgegangen.
Das ist ein klares Signal, wohin es gehen muss. Es
kann, weil es darum geht, Straftaten aufzuklären, nur in
eine Richtung gehen: Man puffert kurzfristig Daten,
wenn es dazu einen konkreten Anlass, nämlich einen
Verdacht für eine Straftat, gibt und wenn es einen entsprechenden richterlichen Beschluss gibt, diese Daten
für strafrechtliche Ermittlungen zu nutzen.
({4})
Das ist das, was wir in unserer Rechtsordnung an jeder
Stelle kennen. Das ist auch das, was nach dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts maximal umgesetzt werden
kann. Diese Diskussion müssen wir führen.
Strafrecht muss sein. Aufklärung muss sein. Aber massenhafte, vorbehaltslose Vorratsdatenspeicherung kann es
nicht mehr geben.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zunächst einmal ist und bleibt
festzuhalten: Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 2. März dieses Jahres deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Umsetzung der EU-Richtlinie
zur Vorratsdatenspeicherung möglich und verfassungsgemäß ist.
({0})
Sie können sich sicher sein, meine liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition: Es wird uns gelingen, eine
verfassungskonforme und europarechtskonforme Umsetzung dieser EU-Richtlinie ins Werk zu setzen.
({1})
Wir werden den Grundsätzen der Transparenz, der
Rechtsstaatlichkeit, des Datenschutzes und vor allem der
Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen
({2})
und diese Richtlinie umsetzen.
({3})
Lieber Kollege von Notz, ich habe natürlich Verständnis dafür, dass Sie versuchen, sich über das Thema Verbindungsdatenspeicherung zu profilieren; das ist in Ordnung. Aber ich bitte Sie, auf Ihre Wortwahl zu achten.
Sie sagten, die Umsetzung der Richtlinie oder die Vorratsdatenspeicherung seien Gift für die Demokratie bzw.
Gift für den Rechtsstaat. Ich bitte Sie, auf solche Formulierungen wirklich zu verzichten und entsprechend abzurüsten. Es geht hier um ein hochseriöses und wichtiges
Thema. Da hat solche Polemik nichts verloren.
({4})
Des Weiteren ist festzuhalten, dass wir nicht umhinkommen, diese Richtlinie umzusetzen. Mir kommt es ein
bisschen so vor, dass es denjenigen, die jetzt die Hoffnung haben, Europa wird die EU-Richtlinie und die Verbindungsdatenspeicherung zu Fall bringen, genauso ergehen wird wie denjenigen, die auf Godot gewartet
haben.
({5})
Sie haben nämlich vergebens gewartet.
({6})
Die EU-Kommissarin Malmström hat vor zwei Wochen deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie an dieser
Richtlinie festhalten und es eine Evaluierung geben wird,
dass aber keinesfalls daran gedacht ist, diese EU-Richtlinie abzuschaffen - ganz im Gegenteil. Die EU-Kommissarin Malmström ist bekanntermaßen keine konservative
Politikerin, sondern eine liberale Politikerin.
({7})
Wir kommen gar nicht umhin, diese EU-Richtlinie umzusetzen, genauso wie es 20 andere EU-Länder bereits
getan haben.
Es ist doch kein Geheimnis: Der blaue Brief aus Brüssel ist in Berlin schon eingegangen. Es droht auch gegen
Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren, wie es
gegen Schweden und Österreich bereits läuft. Diese EURichtlinie muss und wird also umgesetzt werden. Davon
bin ich fest überzeugt.
({8})
Eine ganz wichtige Frage lautet: Welche Auswirkungen hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Arbeit unserer Ermittlungsbehörden? Ich
Stephan Mayer ({9})
gebe Ihnen sogar recht, Herr Kollege von Notz, wenn
Sie sagen: Die Verbindungsdatenspeicherung ist kein
Allheilmittel. - Das ist richtig. Aber die Verbindungsdatenspeicherung ist aus meiner Sicht eine essenzielle, eine
nicht verzichtbare Methode, die dazu beiträgt, schwerstkriminelle Straftäter zur Strecke zu bringen oder terroristische Angriffe in Deutschland zu verhindern.
({10})
Die Zahlen liegen auf dem Tisch. Mittlerweile können die Ermittlungsbehörden in Deutschland 78 Prozent
aller Auskunftsersuchen, die sie an Internetprovider
richten, nicht mehr mit einem positiven Ergebnis abschließen. 78 Prozent aller Auskunftsersuchen gehen ins
Leere. Es ist nun einmal so, dass die IP-Adresse insbesondere bei Straftaten im Internet und im Umfeld des Internets der einzige Ermittlungsansatz ist.
({11})
In diesem Jahr gab es ein größeres Ermittlungsverfahren mit 120 Tatverdächtigen. In diesem Verfahren konnten nicht einmal 2 Prozent der Tatverdächtigen ermittelt
werden, weil die Telekommunikationsunternehmen keine
Daten mehr speichern. Nur die Deutsche Telekom speichert noch Daten, aus abrechnungstechnischen Gründen
für eine Woche. Andere Telekommunikationsunternehmen wie Arcor oder HanseNet speichern die Daten überhaupt nicht mehr. Bei Flatrates, die immer mehr im Kommen sind, wird die IP-Adresse nun einmal nicht
gespeichert. Deswegen kommen wir gar nicht umhin,
eine Speicherung der IP-Adressen vorzunehmen. Das ist
für unsere Ermittlungsbehörden ein essenzielles Mittel.
Da Sie, lieber Kollege von Notz, ein bisschen lapidar
von Einzelfällen gesprochen haben,
({12})
bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass es auch Fälle
gab - das ist nicht gelogen; das hat sich in diesem Jahr
leider Gottes so zugetragen -, in denen Selbstmörder
nicht mehr rechtzeitig ausfindig gemacht werden konnten, sondern erst drei Stunden nachdem sie Selbstmord
begangen haben. Wenn in diesen Fällen die IP-Adresse
feststellbar gewesen wäre, dann wären diese Menschen
möglicherweise - nicht mit Sicherheit, aber möglicherweise - noch rechtzeitig gefunden und gerettet worden.
({13})
Ich bitte Sie deshalb eindringlich, nicht lapidar von Einzelfällen zu sprechen.
({14})
Es geht um zahlreiche Einzelfälle in Deutschland, um
Tausende oder Hunderttausende. Ihnen gilt es Rechnung
zu tragen. Deswegen brauchen wir schnellstmöglich eine
vernünftige Regelung zur Mindestspeicherfrist.
({15})
Ein letzter Punkt noch. Es ist ja immer vom Quickfreeze-Verfahren die Rede. Abgesehen davon - das ist
mittlerweile hinlänglich bekannt -, dass man nur Sachen
speichern kann, die man auch wirklich hat - man kann
einem Nackten nicht in die Tasche greifen; Dinge, die
nicht gespeichert sind, kann man auch nicht einfrieren -,
({16})
hat die EU-Kommissarin Malmström deutlich zum Ausdruck gebracht, dass das Quick-freeze-Verfahren nicht
den Voraussetzungen der EU-Richtlinie entspricht.
({17})
Beim Quick-freeze-Verfahren handelt es sich um eine anlassbezogene Speicherung, und es genügt diesen Voraussetzungen deshalb nicht.
Zuallerletzt ist deutlich zu machen, dass das Bundesverfassungsgericht selbst in seinem Urteil vom 2. März
zum Ausdruck gebracht hat, dass das Quick-freeze-Verfahren keine Umsetzung der EU-Richtlinie wäre. Deswegen, glaube ich, sollten wir uns mit dem Thema zwar
beschäftigen, aber wir brauchen eine schnellstmögliche
Umsetzung dieser EU-Richtlinie.
Da selbst Wochenzeitschriften und -zeitungen wie
Die Zeit oder der Stern, die nicht in dem Ruf stehen,
rechtskonservative Publikationen zu sein, sich deutlich
für eine Verbindungsdatenspeicherung aussprechen,
({18})
bitte ich Sie, einzulenken und sich einer vernünftigen
Lösung nicht zu verschließen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Keine Vorratsdatenspeicherung
über den Umweg Europa“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3589,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/1168 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge-
gen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-
Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än9018
Vizepräsidentin Petra Pau
derung des Strafgesetzbuchs - Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
- Drucksache 17/4143 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Strafgesetzbuches ({1})
- Drucksache 17/2165 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ahrendt für die FDP-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Retten, löschen, helfen und schützen das ist das, was Feuerwehrleute, Rettungssanitäter und
Polizisten in Deutschland tagtäglich für unsere Bürgerinnen und Bürger leisten. Trotzdem sehen sie sich in zunehmendem Maße Angriffen ausgesetzt. Deswegen ist
es wichtig, dass wir den Schutz unserer Polizisten, unserer Feuerwehrleute und auch den der Rettungssanitäter
verbessern. Dazu legen wir Ihnen einen Gesetzentwurf
vor, der eine Verschärfung der Gesetzeslage bei Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vorsieht.
Ich will einmal an einem kleinen Beispiel deutlich
machen, worum es geht: Da werden einige Feuerwehrleute Silvester 2008/2009 zu einem Brandeinsatz gerufen. Sie fahren hin, finden brennende Container vor und
werden bei ihrem Einsatz mit Raketen beschossen und
mit Böllern beworfen.
Es ist festzustellen, dass Polizeibeamte, wenn sie
ganz normal ihren Dienst verrichten, sich zunehmend
Angriffen ausgesetzt sehen. Die Bundespolizei verzeichnete im Jahre 2009 1 555 Straftaten gegen Polizeibeamte
bei ganz profanen Dingen wie Identitätsfeststellung, Ingewahrsamnahmen und Festnahmen, die zum normalen
Dienst eines Beamten gehören. 462 körperliche Verletzungen mit Krankenhausbehandlungen waren die Folge.
In den Ländern sieht es nicht besser aus. In Nordrhein-Westfalen gab es im Jahre 2008 6 400 Widerstandshandlungen; in Bayern waren es 3 500. Die Zahlen
sind also auch da hoch. Deswegen ist es von großer Bedeutung, nicht nur den Schutz zu verbessern, sondern
auch den Straftatbestand des § 113 Strafgesetzbuch zu
ändern, und zwar einmal dadurch, dass man die generalpräventive Wirkung verschärft, indem das Strafmaß angehoben wird, zum Zweiten dadurch, dass auch das gefährliche Werkzeug in den Straftatbestand einbezogen
wird, und zu guter Letzt dadurch, dass der Kreis der geschützten Personen auf Rettungskräfte und Feuerwehrleute erweitert wird.
Das ist es, was wir mit dem Gesetzentwurf bezwecken. Wie wichtig das ist, wird an Tagen deutlich, an denen wir erleben, dass diejenigen, die uns schützen, zur
Kenntnis nehmen müssen, dass andere, die eigentlich
mit für ihren Schutz verantwortlich sind, gemeinsam mit
denjenigen demonstrieren, die sie angreifen. Wir erleben
das jetzt gerade in Mecklenburg-Vorpommern, wo der
Ministerpräsident mit solchen Leuten unterwegs ist, die
das berühmte Schottern ausüben, während der Innenminister im Einsatzstab bei seinen Polizisten ist.
Wir senden hier das klare Signal aus, dass diese geistige Beihilfe zum Widerstand gegen Polizeibeamte nicht
weiter geleistet werden darf. Deswegen ist die Verschärfung des § 113 Strafgesetzbuch wichtig.
({0})
- Auch durch Ihren Zwischenruf helfen Sie hier nicht,
Herr Kollege.
({1})
Wir müssen nicht nur die Strafen verschärfen, sondern auch die Länder sind ein Stück weit gefordert, weil
immer mehr Polizisten in immer mehr Einsätzen sind
und die Polizeien in den Ländern in den letzten Jahren
personell ausgedünnt worden sind. Wir brauchen auch
ein Stück weit Verbesserungen bei der Ausbildung unserer Polizisten. Das, was wir als Koalition hier auf Bundesebene zur Verbesserung des Schutzes tun können, ist
das eine, aber auch die Länder sind gefordert, die Situation der Polizeibeamten zu verbessern.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte müssen immer und jederzeit bereit sein, ihre Gesundheit und teilweise auch
ihr Leben einzusetzen, um Menschen in Not und in besonderen Situationen zu helfen. Deswegen ist es wichtig,
dass die Koalition handelt. Sie handelt konsequent.
({2})
Deswegen verschärfen wir den § 113 Strafgesetzbuch.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ahrendt, ich fand es schon ein bisschen befremdlich, dass sich ausgerechnet ein Vertreter der FDP, der
Liberalen, hier hinstellt und das Demonstrationsrecht,
({0})
also die Möglichkeit, zu demonstrieren und seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, die im Grundgesetz verankert ist, infrage stellt und die Teilnahme an Demonstrationen - ich will es kaum wiederholen - als geistige
Beihilfe darstellt.
({1})
Ich glaube, als überzeugter Liberaler sollten Sie sich für
eine solche Äußerung schämen. Schämen, schämen,
schämen!
({2})
- Mich wundert es nicht, dass Sie aufgeregt sind. Wenn
eine solche Äußerung aus unseren Reihen käme, dann
würde auch ich mich aufregen - aber ganz gewaltig. Das
kann ich mir bei den Liberalen noch viel besser vorstellen.
({3})
Jetzt möchte ich aber zum Gesetzentwurf kommen.
Herr Ahrendt, wir alle hier in diesem Hause sind uns einig, dass Gewalt kein Mittel zur Auseinandersetzung
sein darf.
({4})
Ich bin der Meinung: Demonstration ja, aber Gewalt
nein.
({5})
- Nein, ich glaube, Sie stellen hier etwas in einen völlig
falschen Zusammenhang. Eine Demonstration hat nichts
mit Gewalt zu tun,
({6})
eine Demonstration ist das durch die Verfassung gewährte Recht, seine Meinung kundzutun. Wenn das für
Sie Gewalt ist, dann sollten Sie Ihr Verfassungsverständnis überprüfen, lieber Kollege. Mir geht wirklich die
Hutschnur hoch, wenn so etwas in diesem Haus ausgerechnet von den Liberalen zum Besten gegeben wird.
({7})
Ich glaube, ich muss für die SPD nicht besonders erklären, dass für uns Gewalt gegen Polizeibeamte, gegen
Rettungsdienste, gegen den Katastrophenschutz und gegen die Feuerwehr nicht zu akzeptieren ist. Man muss
sich die Frage stellen, was dagegen zu tun ist. In diesem
Punkt bin ich mit Ihnen der Meinung: Da müssen wir genau hinschauen. Ich sage Ihnen aber auch, dass wir die
Diskussion über diese Frage kritisch-konstruktiv begleiten werden, wie wir es auch in anderen Bereichen schon
durchexerziert haben. Jetzt will ich Ihnen einige Punkte
dazu sagen.
Es passt nicht, dass Sie hier alle geplanten Maßnahmen gleichsetzen. In diesem Gesetzentwurf werden drei
verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen. Lassen Sie
uns eine nach der anderen prüfen.
Sie schlagen auf der einen Seite eine Verschärfung
des § 113 StGB vor, indem Sie die Strafandrohung von
zwei Jahren auf drei Jahre hochsetzen wollen. Dazu sage
ich: Das ist nichts anderes als ein Symbolstrafrecht und
sonst nichts.
({8})
Damit helfen Sie keinem einzigen Polizeibeamten;
denn das, was Sie ansprechen, die massive Ausübung
von Gewalt, ist bisher nicht straffrei. Wenn ein Polizist
beispielsweise bei einer Demonstration von jemandem
angegriffen wird und unter Umständen einen Zahn verliert, dann ist es nicht so, dass der Täter nicht belangt
werden kann. Dazu benötigt man aber den § 113 nicht;
dafür sind schon die Gesetze zur gefährlichen Körperverletzung einschlägig. Den § 113 benötigt man hierfür
nicht, weil er nichts anderes als ein Auffangtatbestand
für den Fall ist, dass andere Regelungen nicht greifen.
Das ist selten der Fall. Deswegen sage ich: In diesem
Fall haben wir unsere Probleme mit einer Heraufsetzung
des Strafmaßes.
({9})
Kein Problem haben wir beispielsweise damit, dass
Sie in die strafverschärfenden Regelbeispiele des § 113
Abs. 2 nicht nur die Waffe, sondern auch die gefährlichen Werkzeuge aufnehmen wollen. Darüber können wir
reden; ob wir dem zustimmen, werden die Ausschussberatungen ergeben. Das ist durchaus ein akzeptabler Vorschlag.
Noch etwas halte ich für akzeptabel, weil der zugrunde liegende Sachverhalt mich sehr belastet. Das
liegt vielleicht an einer anderen Funktion, die ich ausübe; ich bin, wie Sie wahrscheinlich wissen, Vizepräsidentin der THW-Bundeshelfervereinigung. Es nimmt
immer mehr zu, dass gegen Helfer während der Ausübung ihrer Aufgaben in irgendeiner Form Gewalt ausgeübt wird. Das muss man sich einmal vorstellen: Die
Leute engagieren sich, die Leute helfen, die Leute ber9020
gen, und dann sind sie Übergriffen ausgesetzt. Deswegen bin ich ebenso wie meine Fraktion vollkommen einverstanden, diese Rettungsdienste mit aufzunehmen.
Die Regelung, die Sie dazu in Ihrem Gesetzentwurf
vorgeschlagen haben, indem Sie die Rettungsdienste und
die Feuerwehren aufgenommen haben, nicht aber beispielsweise den Katastrophenschutz - darauf hat Sie der
Bundesrat zu Recht hingewiesen -, müssen wir wohl
noch einmal genau betrachten. Sie wollen diesen Punkt
zwar weiter prüfen, aber dies wird meines Erachtens in
den Ausschussberatungen genau zu hinterfragen sein;
denn es ergibt keinen Sinn, dass der Katastrophenschutz
in der Regelung nicht enthalten ist.
({10})
Ich halte den Vorschlag, den Sie auf den Tisch gelegt haben, in einigen Punkten für durchaus diskutabel.
Bei der Strafverschärfung haben wir, wie gesagt, das
Problem, dass wir sie für eine Symbolik halten. Das wird
auch von den Betroffenen so gesehen. Es ist keineswegs
so, dass Sie ihnen damit helfen. Glauben Sie allen Ernstes, ein gewaltbereiter Täter überlegt sich, eine Straftat
zu begehen, weil die Strafe von zwei auf drei Jahre
hochgesetzt wurde? Diese Täter gehören zu einer Klientel, die nicht wohlberechnend und abwägend agiert; vielmehr reagieren diese Täter aus dem Bauch heraus, aus
Wut heraus. Deswegen bringt die Verschärfung des
§ 113 gar nichts. Dort, wo es tatsächlich zu gewalttätigen
Übergriffen kommt, haben wir schon längst die Möglichkeit, Strafen wegen Körperverletzung zu verhängen.
Das habe ich schon gesagt, aber vielleicht ist dies noch
einmal eine kleine Nachhilfe. Einige sagen, der Täter
gehe straffrei aus; aber das ist Quatsch.
Wir brauchen diese weiße Salbe nicht, aber wir brauchen durchaus die Möglichkeit, die Regelbeispiele und
den Kreis derjenigen zu erweitern, die geschützt werden
sollen. Deswegen werden wir uns in die Ausschussberatungen einbringen. Allerdings werden wir hinsichtlich
des letzten Punktes prüfen, ob wir das eine oder andere
in den Ausschussberatungen noch verbessern können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat der Kollege Heveling für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei strafrechtspolitischen Debatten hier im Deutschen
Bundestag steht oft der Opferschutz im Mittelpunkt - zu
Recht. In den vergangenen Jahren ist der Schutz der körperlichen Unversehrtheit und der Integrität mehr und
mehr in den Vordergrund der politischen Überlegungen
gerückt. Bestehende Ungleichgewichte zwischen Strafrechtsnormen zum Schutz von Eigentum und Vermögen
und der körperlichen Unversehrtheit wurden bereits an
vielen Stellen beseitigt. Auch das ist gut und richtig.
Opfer haben einen Anspruch darauf, dass der Staat effektiv gegen die sie verletzenden Täter vorgeht. Es ist
eine seiner Kernaufgaben, die Sicherheit und Freiheit
der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen. Wenn es zu
Verletzungen dieser Rechtsgüter gekommen ist, ist es
seine Pflicht, diese Taten angemessen zu ahnden; denn
in unserer Gesellschaft kommt alleine dem Staat das
Recht zu, im Interesse seiner Bürgerinnen und Bürger
notfalls Gewalt anzuwenden.
Bei uns gilt nicht das Faustrecht. Wir haben das archaische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ lange überwunden. Der Staat hat das Gewaltmonopol. Das ist eine
Errungenschaft des modernen Rechtsstaats.
({0})
Diese Errungenschaft müssen wir gegen Erosionen, egal
von welcher Seite, verteidigen.
Gesetze allein setzen das Gewaltmonopol nicht durch.
Auch wir Politiker, die die Gesetze beschließen, setzen
es nicht durch. Der Staat muss sich seiner Organe bedienen. So sind es konkrete Personen, die im Dienste der
Gesellschaft für das Gewaltmonopol stehen: Polizistinnen und Polizisten, Rettungs- und Hilfskräfte, Vollziehungsbeamte. Sie alle halten ihren Kopf hin. Dabei werden sie oftmals selbst Opfer von Gewalt.
Wenn es heute um die Anpassung der Vorschriften bezüglich des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte
geht, dann geht es auch um Fragen des Opferschutzes;
denn es ist auch Aufgabe des Staates, diejenigen zu
schützen, die ihren Dienst für den Staat leisten. Dafür
gibt es neben den allgemeinen Strafvorschriften wie Nötigung oder Beleidigung auch die Sondervorschriften für
Vollstreckungsbeamte.
({1})
Wir als christlich-liberale Koalition sehen hierbei die
Notwendigkeit zu Anpassungen; denn leider müssen wir
feststellen, dass der Respekt gegenüber den Staatsorganen und damit der Respekt gegenüber dem Staat insgesamt an vielen Stellen abnimmt. Das halten wir für eine
bedenkliche Entwicklung.
Ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik ist die
Zahl der Fälle von Widerstandshandlungen gegen die
Staatsgewalt von 1993 bis 2009 um 44 Prozent auf
26 344 Fälle angestiegen. 2009 befanden sich darunter
2 194 Fälle politisch motivierter Kriminalität. Das entspricht einer Steigerung um 100 Prozent gegenüber dem
Vorjahr. Das alles sind Entwicklungen, die uns alarmieren müssen.
Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang einige
zentrale Befunde, die das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen, für das der Name Professor
Christian Pfeiffer steht, in einem jüngst veröffentlichten
Forschungsbericht im Hinblick auf Gewalt gegen Polizeibeamte festgestellt hat: Erstens. Die Täter handeln
meist allein, sind in der großen Mehrheit männlich und
durchschnittlich jüngeren Alters.
Zweitens. Zwei von fünf Tätern haben eine nichtdeutsche Herkunft. Insbesondere Personen aus den Ländern
der ehemaligen Sowjetunion sowie türkische Täterinnen
bzw. Täter oder Täter aus anderen islamischen Ländern
treten überproportional in Erscheinung.
Drittens. Das zweithäufigste Motiv für Angriffe auf
Polizeibeamte ist Feindschaft gegenüber der Polizei
bzw. dem Staat.
Viertens. Es zeigt sich, dass der Anteil unter Alkoholeinfluss verübter Angriffe seit 2005 gestiegen ist.
Fünftens. Zwei Drittel der Angriffe werden von Personen begangen, die bereits polizeilich in Erscheinung
getreten sind.
Sechstens. Personen, die im Rahmen von Demonstrationen Übergriffe ausführen, stellen eine besondere Tätergruppe dar. Hier ist der Anteil von Gruppentaten naturgemäß am höchsten. Zudem werden bei solchen Übergriffen
am häufigsten Waffen eingesetzt. Feindschaft gegenüber
der Polizei und dem Staat allgemein ist dabei ein zentrales
Übergriffsmotiv. Bei etwa einem Viertel der Übergriffe
lässt sich zudem Tötungsabsicht unterstellen.
Die Ergebnisse dieser Studie müssen uns aufrütteln.
Wir können und dürfen es nicht zulassen, dass das Gewaltmonopol des Staates infrage gestellt wird. Wir können und dürfen diejenigen, die das Gewaltmonopol des
Staates repräsentieren, nicht einfach ihrem Schicksal
überlassen.
({2})
Wir sollten uns aber auch vor bloßen politischen Reflexen in jeglicher Hinsicht hüten. Die Befunde des Forschungsberichts sind zu ernst, und sie zeigen, dass das
Problem vielschichtig ist und eines Ansetzens an vielen
Stellen bedarf. So erzeuge ich Respekt vor dem Staat
und seinen Organen sicherlich nicht oder nicht vorrangig
allein durch repressive Maßnahmen und die Mittel des
Strafrechts. Strategien hierfür müssen an anderer Stelle
ansetzen. Aber angesichts der Entwicklung dürfen wir
die Instrumente des Strafrechts auch nicht aus dem Blick
lassen. Wenn sich - die Zahlen belegen dies - eine zunehmende Bereitschaft zur Gewalt in der gesamten
Bandbreite, beim - in Anführungsstrichen - einfachen
Streifengang wie bei der Großdemonstration, konstatieren lässt, müssen wir darauf mit dem Strafrecht reagieren.
Im Hinblick darauf sind im Übrigen drei weitere Befunde des Forschungsberichts von Bedeutung: zum einen, dass es in der deutlichen Mehrheit der Fälle gelingt,
die Täter unmittelbar oder später dingfest zu machen.
Konkret ist dies bei über 90 Prozent der Fall. Zum anderen findet gegen rund 90 Prozent der festgenommenen
oder ermittelten Täter schließlich auch ein Strafverfahren statt. Die Chancen zur Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs sind damit in den Fällen von Gewalt
gegen Polizeibeamte recht groß. Allerdings wird - dies
ist der dritte Befund - fast ein Drittel der Strafverfahren
eingestellt. Kommt es zur Aburteilung, werden in den
meisten Fällen Geldstrafen verhängt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die christlich-liberale Koalition sieht die Notwendigkeit, die Vorschriften
über den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte anzupassen. Die vorgenannten Befunde des Forschungsberichts des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen untermauern dies. Uns geht es dabei um
zweierlei: zum einen um den Schutz des staatlichen Gewaltmonopols. Es hat eine wichtige Befriedungsfunktion
für die Gesellschaft. Wir dürfen es nicht aushöhlen und
unterminieren lassen. Zum anderen geht es aber auch um
den Schutz der Polizistinnen und Polizisten sowie anderer Vollstreckungsbeamter.
Angesichts der zunehmenden Gewalt sprechen wir
uns deshalb dafür aus, den Strafrahmen beim Widerstand
gegen Vollstreckungsbeamte von zwei Jahren auf drei
Jahre anzuheben. Dies findet sich so im Gesetzentwurf
wieder, und ich möchte dazu noch eine Beurteilung zitieren, die der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende
Olaf Scholz zur Erhöhung des Strafrahmens am
14. Oktober 2010 dem Hamburger Abendblatt gegeben
hat:
Die Beschlüsse der Bundesregierung sind zu begrüßen. Sie entsprechen dem, was die sozialdemokratischen Innenminister und der Bundesrat schon lange
gefordert haben.
({3})
Offensichtlich liegen wir bei der Erhöhung des Strafrahmens nicht ganz so falsch.
({4})
Es ist richtig, den Strafrahmen anzuheben; denn es ist
nicht nachzuvollziehen, dass etwa die Beschädigung eines Polizeiautos mit bis zu fünf Jahren Haft wesentlich
härter bestraft werden kann als der Übergriff auf einen
Polizisten, der mit zwei Jahren bestraft werden kann.
Auch hier gilt es, Unwuchten beim Rechtsgüterschutz
auszugleichen.
({5})
Bislang können im Übrigen Fischwilderer genauso bestraft werden wie Täter, die Gewalt gegen Vollstreckungsbeamte ausüben. Hier besteht also Handlungsbedarf.
({6})
Vor allem die besondere gewalttätige Tätergruppe bei
Demonstrationen geht oftmals mit Waffengewalt gegen
die Vollstreckungsbeamten vor. Mit der Anpassung des
§ 113 Abs. 2 StGB wird hierzu eine Differenzierung
durch die Rechtsprechung gesetzlich nachvollzogen.
Bedenkenswert ist - dies sollten wir in der weiteren
Beratung des Gesetzentwurfs sehr genau diskutieren -,
wie wir mit der zunehmenden Gewalt bei den - in Anführungsstrichen - einfachen Diensthandlungen umgehen. Hier sollten wir uns schon die Frage stellen, ob es
die Möglichkeit gibt, auch sie in den Schutz des § 113
einzubeziehen; denn auch das ist eine der wesentlichen
Erkenntnisse der Studie des Instituts von Professor
Pfeiffer: Gerade hierbei hat die Gewaltanwendung zugenommen.
Außerdem sollten wir überlegen, ob die Opfergruppe
in ausreichendem Maße definiert ist. Ins Auge fallen naturgemäß die Fälle von Gewaltanwendung gegenüber
Polizisten. Darüber hinaus repräsentieren aber eben viele
andere Personengruppen von Rettungskräften über die
Feuerwehr bis hin zum THW und dem Katastrophenschutz den Staat. Auch hier sollten wir sorgsam überlegen und intensiv miteinander diskutieren.
Wir haben also noch einige Punkte zu besprechen.
Wir als christlich-liberale Koalition haben dabei aber
auch ein klares Ziel im Blick: deutlich zu machen, dass
wir am staatlichen Gewaltmonopol nicht rütteln lassen
und dass für uns der Schutz von Polizistinnen und Polizisten sowie anderen Vollstreckungsbeamten wichtig ist.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Deutscher Richterbund, Deutscher Anwaltverein und auch die Strafverteidigervereinigungen haben
in Stellungnahmen Ihre Änderungswünsche zum Strafrecht deutlich kritisiert und als sachlich falsch definiert.
({0})
Aber lassen Sie uns dieses Thema ganz nüchtern betrachten. Ausgangspunkt der Diskussion sind Studien
zum Anstieg von Gewalt gegen Polizeibeamte. Um eines
ganz klar zu sagen: Gewalt gegen Menschen ist grundsätzlich abzulehnen.
({1})
Wenn es zu einem Anstieg kommt, muss versucht werden, gegen diesen Anstieg Maßnahmen zu ergreifen. Das
heißt in diesem Fall: Werden Polizeibeamte immer häufiger Opfer von Gewalt, sind wir in der Verpflichtung,
dagegen zu wirken. Insofern besteht keine Zwietracht.
Das Wie ist jedoch die Frage. Damit kommen wir zu
einem grundlegenden Aspekt Ihres Gesetzentwurfs. Sie
schlagen höhere Höchststrafen vor. Was würden wir damit erreichen? Was wäre die Wirkung Ihrer vorgeschlagenen Änderungen? In der Begründung Ihres Gesetzentwurfs findet sich übrigens darüber nicht ein Wort. Mit
Sicherheit wird dieser Vorschlag von den Beschäftigten,
die es zu schützen gilt, als gerecht empfunden. Wer sich
an ihnen vergreift, soll härter bestraft werden. Emotional
habe ich dafür volles Verständnis. Ist es aber vordergründig unsere Aufgabe, das Gerechtigkeitsempfinden zu bedienen, oder sollten wir in erster Linie den Anstieg von
Gewalt gegen Polizeibeamte bekämpfen?
({2})
Letzteres wäre doch sicherlich das oberste Ziel.
Schauen wir uns also Ihren Vorschlag aus dieser Richtung an.
Hält ein härteres Strafmaß irgendeinen Täter von Angriffen ab? Ich erinnere Sie daran, dass solche Handlungen sehr häufig unter Alkoholeinfluss oder hoher Emotionalität stattfinden. Welcher Täter denkt da an das
Strafmaß? Ich kann Ihnen aus eigenem Erleben sagen:
Einen kühlen, abwägenden Eindruck haben solche Täter
auf mich nicht gemacht, und ich habe mehrere solcher
Täter erlebt. Wo setzt Ihr Vorschlag dann an? Gibt es
Übergriffe, die bisher nicht ausreichend unter Strafe gestellt werden können? Es gibt Tatbestände von Beleidigung bis Mord, die, wenn sie dem Sachverhalt entsprechen, angewendet werden können. Nennen Sie mir einen
strafwürdigen Sachverhalt, bei dem die Justiz nicht anlasswürdig handeln kann! Ich denke, das können Sie
nicht.
Das Thema „Gewalt gegen Polizeibeamte“ schlägt
hier im Haus oft in eine Extremismusdiskussion um; das
haben wir gerade erlebt. Es dürfte aber auch Ihnen nicht
entgangen sein, dass der Großteil der Vorfälle im normalen polizeilichen Alltag im Streifeneinzeldienst stattfindet. Das ist nun genau der Bereich, den ich selber viele
Jahre erlebt habe. Da hat sich einiges in den vergangen
Jahren geändert. Wussten Sie, dass es einen Unterschied
ausmacht, ob ich eine Streifenwagenbesatzung oder drei
Besatzungen in den Einsatz schicken kann? Können Sie
sich vorstellen, dass die Kombination aus weniger für
den Einsatz zur Verfügung stehenden Beamten und ein
deutlich höher werdender Altersdurchschnitt sich nicht
gerade fördernd auf die Sicherheit von Einsatzbeamten
auswirkt?
Nehmen wir das Phänomen häusliche Gewalt. Hier
gibt es den deutlichsten Anstieg an Übergriffen gegen
Polizeibeamte. Zu Recht wurden die Handlungsmöglichkeiten gerade bei diesem Phänomen für die Polizei erweitert. Aber bei geringeren Einsatzstärken und höherem Altersdurchschnitt entstehen vermehrt Situationen,
in denen Beamte ihre Gesundheit aufs Spiel setzen müssen. Hier sind also Handlungskonzepte gefragt. Die
Linke will nicht Rache an den Tätern durch härtere Strafen, sondern weniger Opfer durch Prävention und ausreichend personelle und technische Ausstattung.
({3})
Noch ein Gedanke zum Schluss. Es trifft mich persönlich, wenn Polizeibeamte immer wieder mit der Wut
von Menschen konfrontiert werden, mit einer Wut, die
eigentlich nicht den Beamten meint, sondern den Staat,
in dessen Auftrag der Beamte handelt, oder - noch genauer gesagt - die Wut über das, was Regierungen hierzulande machen oder manchmal auch nicht machen. Ob
es das Unvermögen ist, die NPD endlich zu verbieten,
oder Ihre Atompolitik - die Polizei muss es draußen ausbaden. Es ist falsch, die Polizei zu einem Ersatzgegner
zu machen. Aber das fängt eben schon dann an, wenn
eine Regierung an ihrem Volk vorbeiregiert. Ändern Sie
das! Hier können Sie tatsächlich zu einer Entspannung
beitragen, und das ganz ohne Gesetzesverschärfung.
Danke schön.
({4})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Wolfgang Wieland von Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Ahrendt, bisher hielt ich den Vergleich der FDP mit
der implodierenden DDR durch Ihren nordischen Kollegen Wolfgang Kubicki für richtig schräg.
({0})
Aber nun ist mir aufgefallen, dass die Machthaber in der
DDR auch keine Demonstrationen mochten.
({1})
Auch Sie haben friedliche Demonstranten in die Nähe
von Straftätern gerückt. Darüber sollten Sie einmal
nachdenken.
({2})
Wir reden hier über Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, und Sie stellen den Ministerpräsidenten, mit dem
Sie am liebsten selbst eine Koalition gebildet hätten, in
diese Ecke. Ich schließe mich Frau Lambrecht an: Das
war eine Schande!
({3})
Ich will aber nicht nur Schlechtes über die FDP sagen,
sondern ich will jemanden von meiner Kritik ganz deutlich ausnehmen, jemanden, den ich niemals auch nur in
die Nähe von Erich Honecker rücken würde, nämlich
den Kollegen Max Stadler. Er hat in dieser Frage wie immer einen liberalen Standpunkt. Hervorragend!
({4})
- Er wird gleich strahlen. - Ich zitiere aus einem Interview mit ihm in der taz vom 29. April dieses Jahres. Die
Frage lautete:
Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach sagte
jüngst: „Wer einen Polizeibeamten verletzt, dem
drohen zwei Jahre. Das ist absolut nicht nachvollziehbar.“ Kennt er unser Strafrecht nicht?
Antwort von Max Stadler:
Herr Bosbach ist ein exzellenter Jurist.
({5})
Das will ich einmal so im Raum stehen lassen; wir sprechen zurzeit über ein wichtigeres Thema. Stadler weiter:
Er hat hier aber nur den Strafrahmen für den „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ erwähnt.
Daneben gelten selbstverständlich die deutlich höheren Strafdrohungen für Körperverletzungen.
Frage:
Schärfere Strafen für Gewalt gegen Polizeibeamte
lehnen Sie aber ab?
Antwort:
Wir verurteilen jede Gewalt gegen Polizeibeamte.
Es ist unerträglich, wenn sie bei ihrer schweren Arbeit angegriffen werden. Aber die Strafrahmen sind
ausreichend, die Gerichte können sie ausschöpfen …
Das Interview schließt mit dem denkwürdigen Satz:
Wir brauchen weder zum Schutz von Polizisten
noch für andere Berufsgruppen ein Sonderstrafrecht.
Wahr gesprochen; so ist es.
({6})
Nur setzen Sie diese Einsicht leider nicht um.
Was Sie uns hier präsentieren, ist ein reines Placebo.
Ich komme aus Berlin und weiß nun wirklich, was Gewalt gegen Polizeibeamte bedeutet, gerade im täglichen
Dienst. Dass auch nur eine einzige Straftat in Zukunft
nicht mehr geschieht, weil Sie im Strafrahmen von zwei
auf drei Jahre gehen, glauben Sie doch selber nicht.
({7})
Es war eine gute Idee, das Forschungsinstitut von
Pfeiffer in Niedersachsen zu beauftragen, eine umfängliche Untersuchung über Gewalt gegen Polizeibeamte
durchzuführen. Sie warten dann aber noch nicht einmal
das Endergebnis und die Vorschläge zur Prävention ab,
sondern kommen jetzt mit diesem Vorschlag nach dem
Motto „Immer mehr der gleichen Dosis; das wird dann
auch helfen“. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Wer ein
reales Problem einer Scheinlösung zuführt, der handelt
schlimmer als derjenige, der gar keine Lösung vorlegt.
Das ist die Kritik an Ihrem Entwurf.
({8})
Natürlich gibt es vielschichtige Gründe für diese Art
des Vorgehens gegen Polizeibeamte. Da müssen wir herangehen.
({9})
Die Lösung liegt aber in der Prävention. Es gibt soziale
Gründe, die Lebenschancen müssen verbessert werden,
und es ist Antiaggressionsarbeit zu leisten.
({10})
Es bedarf eines breiten gesellschaftlichen Ansatzes. So
müsste das sein. Das, was Sie hier vorlegen, ist wirklich
in keiner Weise geeignet, um zu Verbesserungen zu gelangen. Da können und wollen wir auch nicht konstruktiv sein.
({11})
Das ist der falsche Weg.
Wir brauchen eine Debatte. Wir brauchen Pfeiffers
Ergebnis, um es umfangreich erörtern zu können, und
nicht wieder nur sieben Thesen, die Schünemann ihm
abgenötigt hat - so war es doch -, nach dem Motto: Legen Sie schnell etwas vor! Wir brauchen eine grundsätzliche Auseinandersetzung und Abhilfe bei der Justiz. Die
hohe Zahl an Verfahrenseinstellungen ist doch auch im
Personalmangel begründet, darin, dass die Justiz an dieser Stelle schlecht arbeitet. Da muss man ansetzen. Es
geht nicht an, die Höchststrafe einfach mal so hopplahopp von zwei auf drei Jahre zu erhöhen.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/4143 und 17/2165 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Josip
Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für Fairness beim Berufseinstieg - Rechte der
Praktikanten und Praktikantinnen stärken
- Drucksache 17/3482 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Faire Bedingungen in allen Praktika garantieren
- Drucksache 17/4044 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Alpers, Dr. Petra Sitte, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Missbrauch von Praktika gesetzlich stoppen
- Drucksache 17/4186 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
von der SPD-Fraktion.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss
so anfangen: Ja, wo sind sie denn? Sie werden das kennen. Eigentlich führt das zu einer Geschichte, bei der
man schmunzeln muss. Wenn wir fragen: „Ja, wo sind
sie denn, die Fachkräfte, die wir schon heute so dringend
brauchen und morgen und übermorgen noch mehr?“
- von überall tönt dieser Ruf -, dann ist zu sagen: Sie
verstecken sich gar nicht. Sie sind mitten unter uns, nicht
nur im Bundestag oder in den Ministerien, nicht nur in
den Redaktionen und Industriebetrieben, nein, überall in
der Arbeitswelt treffen wir auf junge Menschen, die eine
abgeschlossene Ausbildung, aber keine reguläre Beschäftigung haben. Zu viele Fachkräfte von morgen und
übermorgen verkümmern in Deutschland im Wartesaal
Praktikum. Genau um diese jungen Menschen geht es
uns in unserem Antrag.
Um Ihnen zu schildern, wie umfangreich das Problem
ist, sage ich: Jede vierte Hochschulabsolventin, jeder
Dritte mit schulischer Ausbildung und jede Fünfte mit
betrieblicher Ausbildung steigt per Praktikum in den Beruf ein, obwohl die Ausbildung abgeschlossen ist, das
Studium mit Erfolg absolviert wurde und im Rahmen der
Ausbildung selbstredend auch viele Praktika abgeleistet
wurden. Seit mehr als fünf Jahren weiß der Deutsche
Bundestag, wissen wir alle um diese Situation. Zwei
große Petitionen, eine davon von der DGB-Jugend, hätten eigentlich auch dem Letzten von uns damals die Augen öffnen müssen. Doch Sie, Kolleginnen und Kollegen
von CDU/CSU und FDP - das muss ich Ihnen wirklich
sagen -, haben die Augen erst einmal ganz fest zugekniffen,
({0})
frei nach dem Motto: Wenn ich nichts sehe, dann ist da
auch kein Problem.
({1})
Das ist die Devise, nach der Sie fünf Jahre lang nichts
getan haben. Fünf Jahre Blockade!
({2})
Dabei ist 2008 auch noch wissenschaftlich unterlegt
worden, dass wir ein dickes Problem haben.
({3})
INIFES, das Internationale Institut für Empirische Sozialökonomie, hat festgestellt: Je jünger die Altersgruppe, desto größer der Anteil derjenigen, die nach
Ausbildungsabschluss nur über ein Praktikum einsteigen
konnten. Nur jeder Vierte wurde anschließend in ein Arbeitsverhältnis übernommen. Dieser negative Trend ist
bis heute ungebrochen. Das heißt, wir haben eine eindeutige Datenlage: Berufseinstieg in Deutschland wird
immer prekärer.
Dann musste ich lesen - Herr Kollege Schummer, ich
sage es jetzt einmal Ihnen -, dass Albert Rupprecht von
einigen wenigen schwarzen Schafen spricht. Dazu kann
ich nur sagen: Es geht nicht um wenige schwarze
Schafe, es geht um einen immer größer werdenden Teil
der Herde. Da sind inzwischen ganz viele schwarz geworden; denn Scheinpraktika sind im Laufe der Jahre salonfähig geworden,
({4})
auch in der Politik. Dieser Missbrauch - Sie alle wissen
das - macht nicht einmal vor den Türen unserer Ministerien halt. Das finde ich skandalös.
({5})
Wahrscheinlich werden Sie sagen: Da gab es doch
auch einmal etwas in einem Ministerium für Arbeit und
Soziales. Ja, stimmt. Auch da waren wir nicht damit zufrieden, wie Praktikantinnen und Praktikanten vergütet
wurden. Aber ich will Ihnen sagen: Daraus haben wir
gelernt. Das ist bei Ihnen bis heute noch nicht passiert.
({6})
Wir reden über Ausbeutung im Zusammenhang mit
jungen Menschen, die eine Ausbildung komplett abgeschlossen haben und zu Recht einen ordentlichen Berufseinstieg erwarten; aber wir ermöglichen ihn in
Deutschland nicht. Deshalb, finde ich, ist es relativ verlogen, wenn wir uns auf der einen Seite alle Möglichkeiten vor Augen halten, wie wir den Fachkräftemangel beheben, aber den jungen Leuten, die wir gut ausgebildet
haben, auf der anderen Seite keinen seriösen Einstieg in
den Beruf ermöglichen. Ich weiß, dass viele von uns solche Beispiele kennen: in der Familie, bei Kindern, Nichten und Neffen, aus der Nachbarschaft. Das spielt sich
nicht im Geheimen ab.
Wir haben mit unserem Antrag voll qualifizierte Berufseinsteiger im Fokus, die ausgebeutet werden. Es ist
nämlich nichts anderes als Ausbeutung, wenn Berufseinsteiger monatelang als flexible und billige Arbeitskräfte
missbraucht werden.
({7})
Dann haben sie vielleicht die Hoffnung, doch irgendwann einmal fest eingestellt zu werden. Sie sind Berufseinsteiger und Opfer unternehmerischer Interessen - immer wieder. Wir wissen: Es gibt Ausnahmen. Ja, es gibt
lobenswerte Unternehmen; aber sie stehen leider nicht
für das große Ganze.
({8})
Wenn Sie sich einmal die Mühe machen, die Internetseite der DGB-Jugend oder die von fairwork e. V. anzuschauen, dann werden Sie feststellen - es wurde eine
große Umfrage durchgeführt -, dass viele junge Leute
gute Erfahrungen im Praktikum gemacht haben und dass
andere hingegen sagen: Nie wieder so; keine Bezahlung,
keine freien Tage und vor allem keine Chance, etwas zu
lernen. - Genau darum soll es in einem guten Praktikum
aber gehen.
({9})
Wir sagen deshalb: Wir möchten, dass der Begriff
„Praktikum“ im BGB definiert ist. Wir wollen eine Mindestvergütung festschreiben. Wir wollen, dass jedes
Praktikum mit einem schriftlichen Vertrag begründet
wird. Wir meinen auch, dass die Zeit der Betriebszugehörigkeit im Rahmen eines Praktikums angerechnet wer9026
den muss, wenn später eine Einstellung erfolgt. Das sind
unsere Mindestforderungen. Außerdem wollen wir die
Rechte von Missbrauchsopfern stärken.
Frau Kollegin Lösekrug-Möller, erlauben Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Kurth?
Selbstverständlich.
Bitte schön, Herr Kurth.
Frau Kollegin, Sie sprachen von Ausbeutung beim
Berufseinstieg, von Opfern unternehmerischer Ausbeutung.
Ja.
In Thüringen wurde jüngst bei den Haushaltsberatungen bekannt, dass das von der SPD geleitete Wirtschaftsministerium keinerlei Mittel für Praktika eingestellt hat.
Es wurde angefragt, wie viele Mittel das Wirtschaftsministerium einzustellen gedenkt. Die Frage wurde von
Herrn Machnig von der SPD wie folgt beantwortet: Er
gedenke nicht, Mittel einzustellen; er bekomme Praktikanten auch so. Ist das unter Ausbeutung zu verstehen?
Sind die dortigen Praktikanten vielleicht Opfer ministerieller Ausbeutung?
Ich freue mich über Ihre Frage, und ich will sie Ihnen
gerne beantworten: Das ist nicht in Ordnung. Das
Schlimme ist: Nichts anderes tun viele CDU- und FDPgeführte Ministerien. Da können alle noch dazulernen.
({0})
Vielleicht haben Sie die entsprechende Passage in meiner Rede, Herr Kollege, überhört.
({1})
Ich halte viel davon, wenn man klar sagt, wo die Probleme liegen, und dann anfängt, die Probleme zu lösen.
Das ist das Ziel unseres Antrags. Sie können sicher sein:
Ich werde den Kollegen Machnig anschreiben. Ich bin
mir sicher, dass er seine Haltung revidieren wird.
({2})
Übrigens bin ich dankbar, dass sich der Ältestenrat
des Bundestages aufgrund unseres hartnäckigen Einsatzes entschieden hat, in Sachen Praktika besser zu werden. Ohne unseren Druck, Herr Kollege, wäre das heute
noch nicht so weit.
({3})
Ich fahre fort. Es geht auch um diejenigen, deren
Rechte missbraucht wurden. Wir wollen, dass sie besser
geschützt werden. Auch dazu finden Sie Vorschläge in
unserem Antrag.
Ich fasse zusammen, worum es der SPD geht: Sie führen eine Debatte über den Fachkräftemangel und tun
zugleich nichts, aber auch gar nichts dafür, dass unsere
jungen ausgebildeten Fachkräfte zuversichtlich und ordentlich in ihr Berufsleben einsteigen können. Das ist
ein Problem. Wenn wir es jetzt nicht lösen, machen wir
uns doppelt schuldig. Sie alle wissen, dass wir einem
doppelten Abiturjahrgang und damit einer großen
Menge von jungen Leuten entgegensehen, die studieren
wollen.
Ich habe die große Sorge, dass sie, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben, nur das Angebot bekommen, erst einmal ein Praktikum zu machen. Dann machen sie vielleicht noch eines und noch eines und noch
eines. Das ist die Erfahrung, die junge Leute machen,
wenn sie in den Beruf einsteigen.
({4})
Ich finde, das ist ein unhaltbarer Zustand.
Ich freue mich, dass nicht nur von uns, sondern auch
von den Grünen und von den Linken ein Antrag vorliegt.
Diese drei Anträge haben ja eines gemeinsam: Sie
schauen der Realität ins Auge und schlagen konkrete Lösungen vor. Diese hätte ich gerne - das sage ich als ehemaliges Mitglied des Petitionsausschusses - vor vielen
Jahren schon gehabt. Da haben sich Zigtausende von
jungen Leuten an den Bundestag gewandt und um Hilfe
gebeten. Diese ist nicht möglich gewesen, weil das Bildungsministerium in der Großen Koalition - Herr
Fuchtel, ich nehme Sie da jetzt aus; Sie vertreten heute
ein anderes Haus - strikt abgelehnt hat, festzustellen,
dass es überhaupt einen Handlungsbedarf gibt.
({5})
Wir sollten unsere jungen Leute nicht so im Stich lassen. Handeln Sie! Das Beste wäre, Sie würden unserem
Antrag zustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Uwe Schummer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Liebe Kollegin Lösekrug-Möller, wenn Sie sagen, dass
es fünf Jahre Stillstand gab, sollten Sie auch bedenken,
dass der Arbeitsminister in der alten Bundesregierung,
also zu Zeiten der Großen Koalition, eine ganz wichtige
Funktion innehatte.
({0})
Sie müssten also auch sagen: Das von uns geführte Arbeitsministerium hat diesen Stillstand mit verursacht.
({1})
Ich denke, miteinander zu regieren und sich dann wie
heute aus dem Staub zu machen, das ist zu billig. Hier
sollten Sie entsprechend Mitverantwortung übernehmen.
({2})
- Die Zwischenrufe zeigen, wie wichtig es ist, dass morgen im Bundesrat das Bildungspaket verabschiedet wird.
Ich wünsche mir allerdings auch ein Bildungspaket für
die SPD-Fraktion.
({3})
Meine lieben Freunde, ich habe seit 2002 selbst hundert Praktikanten über das Bundestagsbüro erlebt.
({4})
- Alle bezahlt. 400 Euro für eine projektbezogene Aufgabe. Sie laufen mit und erleben in der Parlamentswoche
die verschiedensten Gremien. Es gibt ein Zeugnis. Das
ist eine tolle Talentschmiede. Es sind auch wunderbare
Botschafter im Heimatkreis dafür, dass parlamentarische
Demokratie eben nicht nur aus Schimpferei besteht, sondern dass man auch versucht, miteinander vernünftige
Lösungen zu finden und Argumente auszutauschen,
ohne sich aus der Verantwortung zu stehlen.
({5})
So gibt es verschiedenste Praktika, die absolut positiv
und wichtig sind: Praktika zur Berufsorientierung, an denen in diesem Jahr 300 000 Schüler teilgenommen haben und sich weiterentwickeln konnten; Praktika zum
Einstieg in die Berufswelt, die von der Bundesagentur
für Arbeit finanziert werden; studienbegleitende Praktika als integraler Bestandteil des Studiums oder Auslandspraktika. In allen Befragungen, die mir vorliegen,
hat der überwiegende Teil derer, die ein Praktikum absolviert haben, gesagt: Es war sinnvoll; es war hilfreich;
es war gut.
({6})
Es gibt auch eine Studie des Internationalen Zentrums
für Hochschulforschung, bei der 70 000 Absolventen befragt wurden. Als Ergebnis wurde festgehalten, dass jeder Hochschulabsolvent im Schnitt nach drei Monaten
eine solide und vernünftige Arbeit gefunden hat. Nach
18 Monaten lag die Quote der Arbeitslosigkeit bei dieser
Gruppe bei 2 Prozent; hier herrschte folglich Vollbeschäftigung. Das heißt, das Horrorszenario, das Sie eben
gemalt haben, dass es eine Generation Praktikum gibt,
dass flächendeckend Ausbeutung stattfindet, ist völlig
überzogen, falsch und diskriminierend,
({7})
weil all die Unternehmen, die Praktika anbieten, damit in
die falsche Ecke gestellt werden.
Herr Kollege Schummer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lösekrug-Möller?
Immer, wenn sie kurz ist.
Bitte schön.
Die Länge der Frage, Herr Kollege Schummer, bestimme immer noch ich.
Ich möchte wissen, ob Sie mit mir übereinstimmen,
dass, wenn es um die Regelung von Praktika geht, wie
wir sie in unserem Antrag vorschlagen, es mitnichten um
Praktika geht, die im Rahmen einer Ausbildung, eines
Studienganges, einer schulischen Ausbildung im Grunde
genommen Regelungen der Bundesländer unterliegen.
Uns geht es vielmehr ausdrücklich um jene jungen Menschen - der Fachbegriff lautet: Berufseinsteiger -, die
über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Ist
Ihnen dieser Zusammenhang klar?
Die Frage ist, in welcher Form diese Definition in einem Gesetz möglich ist und ob Abgrenzungsnotwendigkeiten vorhanden sind. Das ist ein Thema, über das wir
im Ausschuss und in der weiteren Debatte reden werden.
({0})
- Wir als Parlament können selber definieren; denn wir
sind gesetzgebende Instanz. Das gehört zur Gewaltenteilung, die wir miteinander respektieren sollten.
Das Entscheidende für gute Praktika ist der Paradigmenwechsel. Dieser liegt derzeit darin, dass im Jahr
2005 jeden Tag netto 2 000 Arbeitsplätze vernichtet
wurden und dass in diesem Jahr, also 2010, trotz der
Weltwirtschaftskrise jeden Tag netto 1 100 Arbeitsplätze
neu geschaffen werden. Erstmals seit über 30 Jahren reden wir über einen Fachkräftemangel. Heute ist es nicht
mehr so - das ist der Paradigmenwechsel -, dass sich
viele Qualifizierte auf wenige Arbeitsplätze bewerben.
Vielmehr müssen viele Unternehmen heute um die fähigsten Köpfe kämpfen. Hier hat sich das Gewicht im
Sinne der Beschäftigten massiv verändert.
Ich halte Ihre Anträge für schmalspurig. Wir müssen
in der Tat miteinander überlegen und darüber reden, was
wir tun können, um den Fachkräftemangel und auch die
Abwanderung hier im Land zu stoppen. In einem solchen Diskurs sollten wir verschiedene Themen besprechen. Mit Ihrer Konzentration auf Praktika führen Sie
eine Scheindebatte, die bei der Behandlung des Themas
„Gute Arbeit und gute Konditionen für die Arbeit“ überhaupt nicht weiterführt.
({1})
Ich kann Ihnen nur empfehlen, dafür einzutreten, dass
das Bildungspaket morgen im Bundesrat verabschiedet
wird. Das Niveau Ihrer Zwischenrufe zeigt, dass auch
Sie dieses Bildungspaket benötigen.
({2})
Von folgenden Fragen waren wir als Exportnation in
den letzten Jahren der Krise in besonderer Weise betroffen: Wie ist die Lohnentwicklung, die sich auch dadurch
verbessert, dass wir entsprechende Arbeitsmarktdaten
- es gibt unter 3 Millionen Arbeitslose in unserem
Land - haben? Warum ist die Bürokratie bei Existenzgründungen so überbordend? Wie sind die Sicherheit
und die Standards für Arbeitsplätze? Wie sind die beruflichen Perspektiven? Gibt es ausreichend Akzeptanz für
Technik? Auch das führt dazu, dass Menschen in andere
Länder abwandern. Das wäre ein Breitbandthema, über
das wir im Ausschuss und darüber hinaus reden sollten.
Notwendig ist ein Bündel an Maßnahmen. Die entsprechenden Konsequenzen sind zu ziehen.
({3})
Wenn wir jetzt einmal konkret über Missbrauch reden
- jeder hat dafür sein Beispiel -, dann denke ich an die
SPD in Hamburg; denn sie bietet derzeit ein Wahlkampfpraktikum an. Lernziel: Plakate kleben, Stände aufbauen
und Zettel verteilen. Lernzeit: 37,5 Stunden in der Woche. Die SPD zahlt hierfür 300 Euro monatlich, also
2 Euro die Stunde. Erwartet werden aber: fortgeschrittenes Studium, Führerschein, EDV-Kenntnisse und ein
Höchstmaß an Flexibilität. Das ist das sozialdemokratische Problem: Sie sind Weltmeister in der Theorie und
Anfänger in der Praxis.
({4})
Herr Kollege Schummer!
Aus der Opposition heraus können Sie immer nur
tolle Anträge stellen. Ich finde, für dieses Jahr reicht es.
Alles andere sollten wir im nächsten Jahr weiterdiskutieren.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Agnes Alpers von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es bleibt dabei: Jeder Dritte nach einer schulischen Ausbildung, jeder Vierte nach einem Hochschulstudium und jeder Fünfte nach einer betrieblichen Ausbildung steigt über ein Praktikum in den Beruf ein. Diese
Praktikantinnen und Praktikanten werden oft gar nicht
oder schlecht bezahlt. Nur jeder Fünfte wird nach dem
Praktikum eingestellt. Das ist in Deutschland für viele
der einzige Weg, sich eine berufliche Perspektive aufzubauen.
({0})
Die Bundesregierung tut so, als ob das alles ganz normal sei. Dabei weist eine Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus dem Jahr 2008 darauf
hin, dass viele Betriebe Praktikantinnen und Praktikanten als reguläre Arbeitskräfte ausnutzen. Das darf so
nicht bleiben.
({1})
Für Schwarz-Gelb sind solche Praktika noch immer kein
typischer Weg für den Berufseinstieg. Die Bundesregierung behauptet auch noch, „dass sich der Arbeits- und
der Ausbildungsmarkt seit 2008“ - als die Studie veröffentlicht wurde - „bereits sehr positiv zugunsten der Berufsanfänger entwickelt“ habe.
({2})
Sehen Sie den Tatsachen endlich einmal ins Auge: Für
die Absolventinnen und Absolventen im Praktikum hat
sich in Deutschland nichts verändert.
Die Generation Praktikum ist aktueller denn je. Seit
den Massenpetitionen im Jahre 2006 liegen die Probleme glasklar auf dem Tisch. Unsere Fraktion, Die
Linke, wollte schon im Jahre 2007 das Berufsbildungsgesetz so ändern, dass vertragliche Mindestschutzbestimmungen für alle Praktikantinnen und Praktikanten
gelten.
({3})
Seit Jahren fordern Betroffene und Gewerkschaften,
endlich etwas zu verändern.
Meine Damen und Herren von der Koalition, all das
ignorieren Sie einfach; Sie verbauen Zukunftschancen,
statt sie zu schaffen.
({4})
Das Einzige, was Ihnen immer wieder einfällt, ist, die
Wirtschaft um Selbstverpflichtung zu bitten. Doch die
Unternehmen husten Ihnen da etwas: Nur 1 500 von insgesamt 3,5 Millionen Betrieben haben sich an die Mindeststandards für Praktika gehalten. Gratuliere, meine
Damen und Herren von der Regierung! Sie sagen:
0,5 Prozent sind schon viel mehr als nichts. Ich sage Ihnen heute: Der Weg der Selbstverpflichtung ist einfach
gescheitert.
({5})
Die Folgen für den Staat und für die Betroffenen sind
immens: Durch Ihre Praxis wird ein solider Berufseinstieg bei vielen Absolventen immer weiter hinausgezögert. Dadurch verschiebt sich auch die Familienplanung
immer weiter nach hinten. In Deutschland wandern gut
ausgebildete Fachkräfte aus. Dem Staat entgehen so Sozialversicherungsbeiträge und Steuereinnahmen. Wann
beenden Sie endlich diesen Spuk?
Ich muss die Bildungsministerin auffordern: Bezahlen
Sie die Praktikantinnen und Praktikanten in Ihrem
Ministerium! Wo leben wir eigentlich, wenn die deutsche Bildungsministerin die Praktikantinnen und Praktikanten in ihrem eigenen Hause ausnutzen lässt?
({6})
Wir Linke bleiben dabei: Wir wollen das Berufsbildungsgesetz so gestalten, dass es auch für Praktika nach
der Ausbildung und nach dem Studium gilt. Wir setzen
uns weiterhin dafür ein, dass Praktika nicht länger als
drei Monate dauern, dass Praktikantinnen und Praktikanten die vollen Mitbestimmungsrechte erhalten und dass
Praktika nach der Ausbildung und nach dem Studium
gut bezahlt werden.
Meine Damen und Herren von der Regierung, Größe
zeigt der, der Fehler zugibt und bereit ist, neue Wege zu
gehen. Wir laden Sie deshalb heute ein, unseren Antrag
zu unterstützen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Neumann von
der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beschäftigen uns heute einmal mehr mit
Anträgen der Opposition, die zum Ziel haben, ein Problem zu lösen, das so, wie es in den Anträgen steht, nicht
zu lösen ist.
({0})
Bereits die HIS-Studie aus dem Jahr 2007 mit dem Titel
„Generation Praktikum - Mythos oder Massenphänomen?“ hat mit Blick auf den Vorwurf, dass Praktikanten
als billige Hilfskräfte eingesetzt werden, empirisch
nachgewiesen,
… dass … der Begriff „Generation Praktikum“ mit
Blick auf den beruflichen Verbleib von Hochschulabsolventen nicht gerechtfertigt ist.
({1})
Die Mehrheit der Praktikanten war mit dem Praktikum
auch inhaltlich zufrieden, sowohl hinsichtlich des Niveaus als auch des Lerngehalts. Gleichwohl - das ist der
Unterschied - gab es spürbare Unterschiede bei der Bezahlung der Praktika. Ein Fazit der HIS-Studie war, dass
„der berufliche Einstieg über Praktika mitnichten der
Regelfall“ ist.
Wir müssen den folgenden Punkt ansprechen: Die im
Zuge der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge erfolgte verstärkte Einbettung von Praktika in den
Studienordnungen war eine notwendige Maßnahme.
Herr Kollege Neumann, darf ich Sie kurz unterbrechen? Die Kollegin Mast von der SPD-Fraktion würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Bitte schön, Frau Mast.
Herr Kollege Dr. Neumann, angenommen, Sie hätten
recht und das Problem würde nicht existieren,
({0})
dann dürfte es für Sie doch kein Problem sein, unseren
Anträgen zuzustimmen, weil sie dann ja auch nicht schaden würden. Stimmen Sie mit mir überein?
({1})
Ich bin zwar nicht Ihrer Meinung. Wenn es aber so ist,
wie Sie sagen, wäre es doch kein Problem, die Debatte
jetzt zu schließen. Dann könnten Sie unserem Antrag zustimmen, und die Welt wäre für die Jugendlichen in Ordnung.
({2})
Liebe Kollegin, ich habe ganz klar gesagt, dass die
Anträge der Oppositionsfraktionen mitnichten das Problem lösen.
({0})
- Hören Sie mir weiter zu. Ich werde Ihnen das erklären.
Sie lösen das Problem nicht.
({1})
Dr. Martin Neumann ({2})
Lassen Sie mich ganz kurz etwas zu den Anträgen der
Oppositionsfraktionen sagen:
Erstens. Der allgemeinen Aussage, dass Absolventenpraktika nach einer Ausbildung oder einem Studium
grundsätzlich fragwürdig sind - das merken Sie ja an -,
muss entschieden widersprochen werden. Das zeigen
auch die Ergebnisse der Studie. Eine Vielzahl von Studiengängen, gerade an Universitäten - das muss man
sich einmal genau anschauen -, zielt nicht auf ein klar
umrissenes Berufsfeld. Selbst nach Abschluss eines Studiums kann daher ein Praktikum zur Orientierung oder
zum Ausfüllen von Übergangszeiten sinnvoll sein. Ich
denke, dass es viele Praxisbeispiele gibt, die belegen,
dass es für den Lebenslauf, für die Vita eines Absolventen und damit für seinen weiteren Berufsweg wichtig ist,
vor dem tatsächlichen Berufseinstieg unterschiedliche
Erfahrungen gemacht zu haben.
({3})
Zweitens. Der angebliche Regelungsbedarf hinsichtlich Dauer und Vergütung - darum geht es in Ihren Anträgen - wird nicht gesehen. Das zeigen auch die Ergebnisse der HIS-Studie.
({4})
Herr Gehring, die meisten Praktika dauern nur kurze
Zeit. 50 Prozent dauern maximal drei Monate.
({5})
Ihr Vorschlag, eine Mindestvergütung von monatlich
350 Euro brutto einzuführen - damit komme ich auf das
Kernproblem zurück -, kann doch wohl nicht ernst gemeint sein. Wollen Sie tatsächlich einen weiteren Niedriglohnsektor schaffen? Das wäre ein Missbrauch von
Praktika. An dieser Stelle muss nicht mit gesetzlichen
Regelungen entgegengewirkt werden. Das zeigt die
HIS-Studie. Seltene Ausnahmen, die Sie hier beschrieben haben, sind nicht der Regelfall.
Ich komme jetzt ganz kurz auf die Aussage der Bundesregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drucksache 17/3047 hinsichtlich des Bedarfs an gesetzlichen Regelungen zu
sprechen. Dem ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.
Herr Präsident, ich zitiere ganz kurz aus dieser Antwort:
Entscheidend ist aber, dass sich der Arbeits- und
der Ausbildungsmarkt seit 2008 bereits sehr positiv
zugunsten der Berufsanfänger entwickelt hat und
auch die Prognose auf eine weiter steigende Nachfrage nach qualifizierten jungen Fachkräften schließen lässt.
Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Ich will noch einen dritten Punkt vortragen. Bereits
heute sind junge Menschen, die sich in einer Berufsausbildung befinden oder ein Praktikum absolvieren, hinsichtlich ihrer Vergütungsansprüche, hinsichtlich der Arbeitszeit sowie hinsichtlich Fragen der Sicherheit und
Gesundheit am Arbeitsplatz durch rechtliche Regelungen geschützt. Sie unterliegen den Bestimmungen des
Berufsbildungsgesetzes - das haben Sie gesagt - und des
Arbeitsschutzgesetzes, und sie genießen auch den vollen
Sozialversicherungsschutz.
Interessant ist - das ist der vierte Punkt -, dass sich
bis heute mehr als 1 500 Unternehmen freiwillig der Initiative „Fair Company“ angeschlossen haben.
({6})
Darunter sind 23 von 30 DAX-Unternehmen - das sind
fast 80 Prozent -, die ihre Praktikanten grundsätzlich bezahlen. Selbst wenn Sie das hier bestreiten, sage ich: Die
FDP setzt daher auf die Selbstverpflichtung der Wirtschaft.
({7})
- Hören Sie bitte genau zu. - Die genannten Zahlen geben uns wieder einmal recht.
Wir haben gute Möglichkeiten, Absolventen frühzeitig an das Unternehmen zu binden. Denken Sie bitte daran, dass derjenige Arbeitgeber schlecht beraten ist, der
in diesen Zeiten gute Absolventen, die er als Praktikanten in seinem Unternehmen beschäftigt, gehen lässt, insbesondere mit Blick auf die Zukunft.
({8})
Herr Kollege Neumann, es besteht der Wunsch nach
einer Zwischenfrage der Kollegin Alpers.
Bitte schön.
Herr Kollege Neumann, Sie haben gerade hervorgehoben - das hatte ich vorhin schon einmal gesagt -, dass
sich 1 500 Betriebe an der Selbstverpflichtung bezüglich
Mindeststandards beteiligt haben. Herr Neumann, wir
haben in Deutschland insgesamt 3,5 Millionen Betriebe.
1 500 Betriebe entsprechen ungefähr 0,05 Prozent aller
Betriebe. In all den letzten Jahren haben sich also nur
0,05 Prozent an der Selbstverpflichtung beteiligt. Ich
frage Sie angesichts dieser Erfahrung, dass sich über
viele Jahre eine so geringe Selbstverpflichtungsquote ergibt: Ist das eine Grundlage, auf der wir aufbauen können?
Herr Neumann, Sie sagen, dass diese Orientierung für
den Berufseinstieg positiv ist. Ich frage mich: Wenn wir
in allen Bereichen einen so großen Fachkräftemangel haben, warum müssen sich dann gut ausgebildete Fachkräfte und gut ausgebildete Akademiker orientieren? Die
Akademiker sagen nach dem zweiten oder dritten Praktikum, dass sie das vierte, fünfte oder sechste Praktikum
nicht mehr im Lebenslauf angeben, weil es einen schlechten Eindruck macht. Bitte erklären Sie uns das einmal.
({0})
Das war mehr als eine Frage. Ich möchte ganz kurz
darauf antworten. Das, was ich gesagt habe, bezog sich
auf die Unternehmen, die sich dieser Selbstverpflichtung
angeschlossen haben. Gehen Sie bitte nicht davon aus,
dass eine Regelung für den Umgang mit Praktikanten
unbedingt notwendig ist. Warum soll es nicht möglich
sein - ich habe ja gerade über die Selbstverpflichtung
gesprochen -, dass es auch ohne Regelung faire Bedingungen gibt? Schützen wir doch die Praktikanten vor
übermäßigen Regelungen,
({0})
lassen wir ihnen doch die Perspektive, sich vielschichtig
zu orientieren, um in der beruflichen Weiterbildung Erfahrungen für den zukünftigen Beruf zu sammeln.
({1})
Ich komme zum fünften und letzten Punkt. Da hören
Sie bitte ganz genau zu. Wenn wir eine weitere Regelung
zum Zugang und zur Ausgestaltung von Praktika zulassen würden - das machen wir ja nicht -, dann würden
das Angebot, die Flexibilität und auch die Inanspruchnahme von Praktikumsplätzen gefährdet werden.
({2})
Denken Sie bitte an gemeinnützige Organisationen, an
soziale Organisationen und dergleichen. Bei diesen Organisationen ist es oftmals schwierig, Praktika genau zu
regeln.
Wir brauchen eine Perspektive für die jungen Menschen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Auch das, was auf
EU-Ebene beraten wurde, sehen wir sehr kritisch, weil
wir damit rechnen, dass es in den meisten Fällen Nachteile für die Praktikumssuchenden mit sich bringt. Lassen wir den Unternehmen bei der Schaffung von Regelungen Freiheit und Möglichkeiten und den Praktikanten
und Berufseinsteigern die Chancen, weiter Erfahrungen
zu sammeln, um einen erfolgreichen Weg in den Beruf
zu finden.
Ich bedanke mich.
({3})
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte und die Anträge von SPD, Linksfraktion
und von uns Grünen sind offensichtlich bitter notwendig. Sie sind leider notwendig, weil der Bundesregierung
offensichtlich das Problembewusstsein und der Realitätssinn für die Situation der jungen Generation in diesem Land völlig fehlen.
({0})
Dass die FDP hier heute durch Herrn Neumann erstmals einräumt, dass es ein Problem bei Praktika gibt, ist
zwar durchaus bemerkenswert und interessant, aber ich
hätte mir gewünscht, dass Sie einen praktikablen Lösungsvorschlag machen. Selbstverpflichtungen - das ist
sehr deutlich geworden - sind keine Lösung; sie funktionieren nicht. Mit Ihrer Position schützen Sie nicht die
Praktikanten, sondern Unternehmen, die Praktikanten
nicht schützen.
({1})
Der Berufseinstieg der jungen Generation hat sich in
den letzten Jahren auch infolge der Wirtschaftskrise erschwert. Das ist ganz offensichtlich. Mittlerweile ist es
alltägliche Erfahrung, dass selbst sehr gut ausgebildete
junge Menschen mit Praktika, mit Honorar- und Minijobs sowie mit befristeten Arbeitsverträgen konfrontiert
sind.
Damit können wir uns nicht einfach abfinden, sondern wir müssen die Chancen aller jungen Menschen
ganz klar verbessern. Uns sind faire Praktika während
der Ausbildung und während des Studiums und danach
ein guter Berufseinstieg statt Warteschleifen wichtig.
Das muss das gemeinsame Ziel aller Fraktionen in diesem Haus sein.
({2})
Natürlich sind Praktika in der Regel eine wertvolle
Lernphase; das bestreitet niemand, auch niemand aus der
Opposition. Sie können zur Berufsorientierung dienen;
das ist doch ganz klar. Aber wir können nicht einfach
vom Tisch wischen, dass es Probleme in Form des Missbrauchs von Praktika gibt. Den Problemen, die es hier
gibt, muss sich auch die konservative, neoliberale Seite
dieses Hauses stellen, statt sie weiterhin zu leugnen und
schönzureden.
({3})
Es ist einfach nicht hinnehmbar, dass Unternehmen
unter dem Deckmantel von Praktika billige Arbeitskräfte
einstellen, reguläre Jobs ersetzen oder sogar Lohndumping betreiben. Praktika sind Lernverhältnisse, und sie
müssen endlich auch als solche definiert werden. Sie
dürfen weder als Arbeitsverhältnisse noch als Ausbeutungsverhältnisse missbraucht werden. Auch das müsste
in diesem Hause eigentlich Konsens sein.
({4})
Es ist seit Jahren überfällig, dass die Bundesregierung
klare rechtliche Regelungen zum Schutz von Praktikantinnen und Praktikanten trifft. Bestehende Schutzlücken
müssen endlich geschlossen werden, um für alle Praktika faire Bedingungen zu garantieren.
Ich möchte Ihnen die Daten einer Untersuchung des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, also einer
Studie Ihres eigenen Hauses, ans Herz legen. Die zentralen Ergebnisse sind, dass die Praktikumsphase für jede
zweite Person länger als sechs Monate dauert und das
Praktikum für die Hälfte der Praktikanten unbezahlt ist.
({5})
Bei den Absolventen solcher Praktika geht es nicht um
eine Minigruppe. Denn 20 Prozent der jungen Erwachsenen machen nach dem Abschluss der Berufsausbildung
oder des Studiums ein Praktikum oder mehrere Praktika;
({6})
das sind 1,9 Millionen junger Menschen in diesem Land;
dieser Problematik müssen Sie sich endlich stellen. Nur
bei wenigen von ihnen, nämlich bei genau 11 Prozent,
mündet das Praktikum in ein sicheres Jobverhältnis. Somit ist offenkundig, dass Praktika auch missbraucht werden. Wer das ignoriert, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Schwarz-Gelb, der versündigt sich an den Berufseinstiegschancen der jungen Generation.
({7})
Wir Grüne weisen seit Jahren auf die zunehmende
Ausnutzung von Praktikanten als unter- und unbezahlte
Arbeitskräfte hin. Wir haben 2006, übrigens als erste
Fraktion im Deutschen Bundestag, einen Antrag eingebracht, der Vorschläge zur Beseitigung unfairer Praktikumsbedingungen beinhaltete. Wir waren auch diejenigen, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sich
der Bundestag fraktionsübergreifend eine Selbstverpflichtung im Hinblick auf den fairen Umgang mit Praktikantinnen und Praktikanten im Parlament auferlegt hat.
Nicht zuletzt deshalb sind wir vom Wegsehen und
Nichtstun der jetzigen und im Übrigen auch der vorherigen Bundesregierung so genervt.
({8})
- Ja.
Wenn jetzt - unsere Kleine Anfrage ist schon erwähnt
worden - selbst in den Bundesministerien pro Jahr Hunderte von Hochschulabsolventen im Rahmen mehrmonatiger, unbezahlter Praktika beschäftigt sind, dann ist das
Ausnutzung und keine Bagatelle. Vor diesem Hintergrund geht es nicht an, dass Frau von der Leyen - vorher
war es Herr Scholz - die Schirmherrschaft für die Initiative „Fair Company“ übernommen hat. Hier muss man
endlich geeignete Regelungen treffen. Gerade der Arbeitsminister bzw. die Arbeitsministerin muss ein Vorbild sein und darf kein schlechtes Beispiel geben.
({9})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Wir Grüne fordern, gesetzlich ganz klar zu regeln,
dass Praktika Lernverhältnisse sind, dass jeder Praktikant einen Vertrag und ein Zeugnis bekommt und dass
die Dauer von Praktika auf maximal drei bis sechs Monate begrenzt wird, damit gar nicht erst das Risiko besteht, dass reguläre Jobs ersetzt werden oder der Grundsatz der Arbeitsmarktneutralität verletzt wird.
Der letzte Punkt: Natürlich müssen Studierende und
Azubis, die ein Praktikum machen, eine Aufwandsentschädigung von mindestens 300 Euro pro Monat erhalten. Wenn Sie diese und weitere Regelungsvorschläge
aus den Anträgen der Oppositionsfraktionen aufgreifen
und sie sich zu eigen machen würden, dann würden
Praktika gestärkt und Ausnutzung und Prekarität gestoppt. Das müssen Sie jetzt endlich tun. Ich hätte mir
bei Ihnen einen etwas größeren vorweihnachtlichen
Ruck gewünscht, damit Sie jetzt endlich handeln.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Philipp Murmann von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt kommt der vorweihnachtliche Ruck.
({0})
Dieses Haus befasst sich ja nun schon zum wiederholten Male mit dem Thema Praktika. Die Oppositionsparteien haben uns eine bunte Mischung von Anträgen vorgelegt. Sie konnten sich offensichtlich auch nicht
darüber einigen; denn die Anträge sind sehr unterschiedlich. Die SPD nennt das „Für Fairness beim Berufseinstieg“. Die Grünen fordern: „Faire Bedingungen in allen
Praktika garantieren“. Garantien sind natürlich immer
gut. „Missbrauch von Praktika gesetzlich stoppen“, so
nennen das die Linken. Auf den ersten Blick mag das
eine oder andere ja auch ganz gut aussehen.
({1})
Aber aus meiner Sicht gehen diese Anträge an der aktuellen Lage vorbei. Warum das so ist, möchte ich Ihnen
begründen.
Werfen wir zunächst einmal einen Blick auf die Praxis und nicht nur auf die vielen Papiere, die Sie hier immer wieder zitieren. Wie sieht denn so etwas in der Praxis aus? Bei einem Handwerksbetrieb oder auch bei
einem Mittelständler geht eine Bewerbung ein. Mal geschieht das schriftlich, mal mündlich, mal über einen beDr. Philipp Murmann
kannten Mitarbeiter. In den meisten Fällen möchten die
Mädchen und Jungen oder Jugendlichen einfach einmal
hineinschnuppern. Manchmal kommen sie von einer
Schule, häufig von einer Partnerschule.
({2})
- Das ist auch kein Problem. Aber dann lesen Sie einmal
Ihre Anträge. Sie haben darin die Praktika in Gänze beschrieben.
({3})
- Doch, schauen Sie einmal hinein! Da ist null Differenzierung enthalten. Ich möchte auch noch einmal darauf
hinweisen, dass gerade die Praktika, die von den Betrieben angeboten werden, für eine Berufsorientierung sehr
wichtig sind.
({4})
Das sind mal zwei Wochen; mal sind es vier Wochen.
Selten sind es mehr als zwei Monate.
({5})
- Ja, genau. Aber das sind eben ganz wenige Fälle.
({6})
In Ihren Anträgen fassen Sie einfach alle Praktika zusammen. Das ist undifferenziert und deswegen sinnlos.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie doch einmal den Redner zu Wort kommen. Ihre Redner hatten ja
auch die Möglichkeit. - Bitte, Herr Kollege.
({0})
Danke, Herr Präsident. - Ehe es bei diesen Praktika
wirklich einmal zu wertschöpfenden Tätigkeiten kommt,
vergehen in der Regel mehrere Wochen, sei es im Maschinenbaubetrieb, beim Heizungsbauer, beim KfzMeister oder in der Apotheke. Dem steht ein erheblicher
Aufwand für die Betreuung dieser Praktikanten gegenüber. Das ist auch richtig so; denn die jungen Leute sollen ja auch etwas lernen. Sie sollen durch verschiedene
Bereiche in den Firmen gehen. Das kann natürlich auch
einmal nach einer Berufsausbildung sein. Dies ist aber
nach allem, was mir vorliegt, heute eher die Ausnahme.
Sie zitieren ja immer irgendwelche Zahlen von 2006 und
2007. Das ist längst Vergangenheit.
({0})
Entscheidend sind diese Erfahrungen für die spätere Berufswahl.
Wir stellen auch fest, dass die Nachfrage an Praktika
ständig steigt. Das merke ich zum Beispiel auch in meinem Unternehmen. Deswegen ist die Frage, ob es sinnvoll ist, hier eine staatliche Regulierung einzuführen und
die Hürden für die Betriebe, die Praktika anbieten, weiter nach oben zu schrauben.
({1})
Schon heute scheuen viele kleine Unternehmen, Praktikanten anzunehmen. Wir müssen, wenn wir Regelungen
treffen - gesetzliche Regelungen sind für solche Dinge
meiner Meinung nach unangemessen -, sehr darauf achten, dass wir die Hindernisse für Praktika nicht immer
weiter aufbauen; denn damit vermindern wir die Anreize
für Unternehmen, Praktikanten auszubilden.
({2})
Eine Sache ist natürlich auch klar: Wenn ein Praktikant Arbeitsleistungen erbringt, dann sollte man es ihm
auch vergüten. Das tun auch die meisten Unternehmen.
Dort, wo es tatsächlich Missbrauch gibt - da sind wir
uns sicherlich einig -, ist das auf das Schärfste zu verurteilen.
Aber jetzt noch einmal zu dem von Ihnen immer zitierten Mythos von der Generation Praktikum. Der Mythos stammt aus einem Zeit-Artikel vom März 2005. Darin wurde eine prekäre Situation von Akademikern
beschrieben, die keinen Job finden und daher Praktikum
an Praktikum reihen.
März 2005, vielleicht erinnern Sie sich noch, in welcher Zeit wir uns damals befanden: rot-grüne Regierung,
hohe Arbeitslosigkeit, Frustration in Deutschland; Bundeskanzler Schröder schmeißt hin. In dieser Zeit entsteht
der Begriff „Generation Praktikum“ in der Öffentlichkeit. Es gehen Petitionen ein, die von 60 000 Leuten unterschrieben werden.
({3})
Das bauen Sie jetzt als aktuelles Problem auf. Das ist alter Wein in alten Schläuchen und bringt uns überhaupt
nicht weiter.
({4})
Insgesamt ist festzustellen: Diese Generation Praktikum gibt es in dieser Form heute nicht. Die Bewertung
der Praktika ist überwiegend positiv. Wir sollten den Unternehmen und vielen Betrieben, die Praktikantenplätze
zur Verfügung stellen, auch danken und nicht immer nur
auf ihnen herumhacken.
({5})
Über einige Punkte lässt sich aber sicherlich nachdenken. Ein schriftlicher Praktikantenvertrag, ein Praktikumszeugnis und auch eine Begrenzung von Praktika
sollten sicherlich selbstverständlich sein. Ich bin aber
der Meinung, dass das keine Aufgabe des Gesetzgebers,
({6})
sondern zum Beispiel der Tarifparteien ist. Das können
die Betriebe und die Gewerkschaften miteinander aushandeln. Dafür muss doch nicht der Gesetzgeber tätig
werden.
Herr Kollege Murmann, sind Sie bereit, noch Zwischenfragen von Frau Alpers und Herrn Gehring zu beantworten?
Ja, bitte gerne.
Bitte, Frau Alpers.
Sehr geehrter Herr Murmann, Sie sagten gerade, das
Problem bestehe nicht, das sei ein altes Problem. Ich
möchte Sie noch einmal darauf hinweisen: Dieses Problem besteht für 1,9 Millionen junge Menschen. Das haben wir jetzt schon dreimal gehört.
Das sind Zahlen von 2008 aus dem Ministerium von
Olaf Scholz.
Ja. Herr Murmann, aber die Situation hat sich nicht
verändert.
Das behaupten Sie.
Warum ist das kein Problem? Sie selber wollten keine
neuen Untersuchungen. Warum wollten Sie denn keine
neue Evaluation, wenn das für Sie doch angeblich kein
Problem ist? Das ist der erste Teil meiner Frage.
({0})
Zum zweiten Teil meiner Frage. Ist es für Sie kein
Problem, dass jeder Dritte nach einer abgeschlossenen
Schulausbildung, jeder vierte Hochschulabsolvent und
jeder Fünfte nach einer beruflichen Ausbildung keine
Arbeit als vollwertige Fachkraft erhält? Ist das ein Problem oder ist das kein Problem für die Regierungskoalition?
Sie haben jetzt völlig verschiedene Themen angesprochen. Man sollte sie jetzt nicht alle mit dem Thema Praktikum vermischen.
Es ist natürlich so, dass wir alle uns bemühen - ich
denke, darin sind wir uns auch einig -, dass der Übergang in das Berufsleben nach dem Studium möglichst
reibungslos funktioniert. Ich denke, das ist in der Mehrzahl - leider nicht immer; das ist halt so - auch der Fall.
Ich persönlich kenne kein Unternehmen, das solche Vorgehensweisen, die von Ihnen kritisiert werden, anwendet. Ich hielte das sicherlich auch für fragwürdig.
Wir müssen uns aber die Frage stellen, ob wir jetzt als
Gesetzgeber mit staatlichen Gerüsten gegen dieses
Thema vorgehen oder ob wir nicht lieber dafür plädieren
sollten, dass dies im Rahmen einer Selbstverpflichtung,
die ja schon angesprochen wurde, geregelt wird. Das alles sind tolle Initiativen. Übrigens: Sie sagen, 1 500 Unternehmen hätten sich der Initiative „Fair Company“ angeschlossen. Das heißt aber nicht, dass all diejenigen,
die sich ihr nicht angeschlossen haben, jetzt Missbrauch
betreiben. Das unterstellen Sie ja immer.
({0})
Insofern bin ich der Meinung, dass man über einzelne
Dinge sicherlich reden kann. Aber man muss aufpassen,
dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet, damit der Anreiz für Unternehmen, gerade auch für kleinere, groß bleibt, auch Praktikanten einzustellen. Darauf
kommt es mir an.
({1})
Herr Kollege Murmann, jetzt möchte der Kollege
Gehring noch eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön. So haben wir noch einen fröhlichen
Abend, bevor wir anfangen, Adventslieder zu singen.
Bitte schön, Herr Kollege Gehring.
Bei den Debattenbeiträgen der Regierungsfraktionen
vergeht mir leider die Heiterkeit.
({0})
Da Sie die letzten verfügbaren regierungsamtlichen
Zahlen aus dem BMAS hier mehrfach angezweifelt haben, möchte ich Sie einfach einmal fragen: Wann werden
Sie als Koalition die nächste Umfrage, die nächste Studie, die nächste empirische Erhebung auf den Weg bringen? Dafür sollten Sie sich doch eigentlich einsetzen.
Wenn doch eh alles in Ordnung ist, dann können Sie ja
eine solche Studie durchführen und ihre Annahmen beweisen.
Zum anderen möchte ich einmal eine ganz konkrete
Frage stellen. Im Bundesjugendministerium, im Ministerium mit Frau Schröder - geborene Köhler - an der
Spitze, das für die Jugendlichen zuständig ist, sind
80 Praktika gemacht worden, die bis zu sechs Monate
dauerten und für die es keine Vergütung gab. Diese
80 Praktikanten waren Hochschulabsolventinnen und
-absolventen. Finden Sie das eigentlich in Ordnung? Ist
Frau Schröder, die Bundesjugendministerin, damit ein
Vorbild, oder ist sie eher ein schlechtes Beispiel?
Ich habe es ja schon gesagt: Es kommt sehr darauf an,
was für eine Art Praktikum das ist.
({0})
Bei manchen Praktika schnuppert man einmal in einen
Betrieb hinein. Man will einfach ein Gefühl für die entsprechende Tätigkeit bekommen.
({1})
- Ja, sechs Monate sind ungewöhnlich; das ist richtig.
Deswegen bin ich auch dafür, dass man eine Bezahlung
grundsätzlich in Erwägung zieht. Aber ich bin eben nicht
dafür, dass man mit gesetzlich befohlenen Mindestlöhnen arbeitet. Sie schlagen 10 Euro pro Stunde für einen
Schüler vor, der vielleicht eine Woche in meinem Unternehmen ist.
({2})
- Lesen Sie es einmal nach. Das steht so in Ihrem Antrag.
Sie haben das alles in einen Topf geworfen - das ist es
ja, was ich kritisiere -, und deswegen bin ich dagegen,
solche gesetzlichen Regelungen hier überhaupt zu diskutieren. Vielmehr müssen wir uns die Situation sehr genau
anschauen, weil das Praktikum für junge Leute eine
wichtige Funktion im Hinblick auf ihren späteren Beruf
hat.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Thema ansprechen, und zwar das Thema Beweislastumkehr, das Sie in
die Debatte einbringen. Das bedeutet auch für kleine Unternehmen - Sie sprechen in Ihren Anträgen immer von
allen Praktikumsstellen; das ist ebenfalls ein Problem -,
beispielsweise für eine Apotheke, dass sie nachweisen
müssen, was gemacht wurde. Ich halte dies für einen
weiteren Sargnagel dafür, dass Unternehmen weitere
Praktikumsplätze zur Verfügung stellen.
Wenn Sie sich Praktika in Ministerien der Linken in
Brandenburg oder in Ministerien der SPD oder bei der
Thüringer SPD-Landtagsfraktion ansehen, so finden sich
auch dort diese von mir genannten Punkte. Deswegen ist
es aus meiner Sicht wichtig, dass man zwischen Praktika
und solchen Dingen unterscheidet, die tatsächlich mit
wertschöpfender Arbeit verbunden sind. Die Tarifparteien sollten sich darüber unterhalten, was sinnvoll ist.
Im Übrigen ist dies auch im Europaparlament im Moment ein Thema. Ich bin der Meinung, wir sollten abwarten, wie die Diskussion dort läuft, bevor wir hier vorschnell handeln.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss und möchte Ihnen empfehlen: Machen Sie ab und zu wieder einmal ein Praktikum,
damit Sie sehen, dass die Welt gar nicht so schlecht ist.
({0})
- Ich mache häufiger Praktika; das können Sie mir glauben. - Wir werden im Ausschuss sicherlich noch eine interessante Diskussion führen.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3482, 17/4044 und 17/4186 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Federführung zu den drei Vorlagen ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen jeweils Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Die
antragstellenden Fraktionen wünschen Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
antragstellenden Fraktionen abstimmen, Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Überweisungsvorschläge sind damit abgelehnt.
({0})
- Die Linke hat doch diese Federführung mit beantragt.
({1})
- Genau. So haben wir auch abgestimmt.
({2})
- Nein, ich hatte gesagt: Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der antragstellenden Fraktionen ab9036
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
stimmen, Federführung beim Ausschuss für Arbeit und
Soziales.
({3})
Das ist das, was die SPD beantragt hat.
({4})
- Wir können auch über alle Anträge einzeln abstimmen,
wenn Sie das wünschen. Das Ergebnis wird dadurch
nicht verändert werden. Jedenfalls ist der Antrag, die Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales zu
ressortieren, abgelehnt worden.
Dann lasse ich jetzt über die Überweisungsvorschläge
der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,
Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung. Wer diesem Überweisungsvorschlag zustimmt, den bitte ich um sein Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Überweisungsvorschläge sind angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
SPD-Fraktion. Damit liegt die Federführung jeweils
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5}) zu der
Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für
den Datenschutz und die Informationsfreiheit
Tätigkeitsbericht 2007 und 2008 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit
- 22. Tätigkeitsbericht - Drucksachen 16/12600, 17/790 Nr. 5, 17/4179 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({6})
Gisela Piltz
Dr. Konstantin von Notz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Stephan Mayer von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({7})
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute den 22. Tätigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten für die
Jahre 2007 und 2008 sowie die dazugehörige Entschließung. Man könnte sich zunächst zu der Annahme verleiten lassen, dass das ein alter Hut ist, weil es um einen
Tätigkeitsbericht für die Jahre 2007 und 2008 geht. Wer
sich aber den Bericht näher zu Gemüte führt, wird sehr
schnell feststellen, dass er nichts an Aktualität verloren
hat. Er nimmt sogar in einer gewissen Weise weissagend
manche Dinge voraus, die heute brandaktuell sind. Ich
denke dabei an die Debatte über Geodatendienste oder
an die sehr intensive Debatte über soziale Netzwerke im
Internet.
Ich möchte vorausschicken, dass ich allen Kolleginnen und Kollegen Berichterstatter herzlich dafür danke
- das meine ich sehr ernst -, dass es gelungen ist, wieder
eine fraktionsübergreifende Entschließung zu dem Tätigkeitsbericht zustande zu bringen.
({0})
Das war bisher immer guter Brauch und ist auch dieses
Mal gelungen. Ich möchte nicht verhehlen, dass es sich
für mich dabei nicht um eine Selbstverständlichkeit oder
eine Petitesse handelt. Denn - auch das ist kein Geheimnis - die Positionen und Meinungen zum Thema Datenschutz sind in diesem Hause durchaus kontrovers und
teilweise auch sehr konträr.
Dass es uns wieder gelungen ist, über alle fünf Fraktionen hinweg eine fraktionsübergreifende Entschließung zustande zu bringen, ist, glaube ich, bemerkenswert. Ich möchte in diesen Dank an die Kollegin
Berichterstatter Piltz und an die Herren Berichterstatter
auch den Dank an die Mitarbeiter sowohl der Abgeordneten als auch aus dem Bundesinnenministerium und
beim Bundesdatenschutzbeauftragten mit einbeziehen.
Es waren sehr konstruktive Gespräche, die vor allem in
dem Geist geführt wurden, dass wir zu einem positiven
Ergebnis kommen wollten.
Ich glaube, es ist ein schönes Zeichen, dass der Deutsche Bundestag eine einheitliche Position zum Thema
Datenschutz hat. Ich möchte nicht verhehlen, dass jede
Fraktion auch gewisse Abstriche machen musste, was
Maximalforderungen anbelangt. Bei einem Kompromiss
ist es nun einmal so, dass sich nicht jeder zu 100 Prozent
durchsetzen kann. Aber ich glaube, es ist ein schönes
Zeichen, dass wir, wenn es um Datenschutz und den Tätigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten geht,
mit einer Stimme sprechen.
Datenschutz und Datensicherheit haben deutlich an
Bedeutung gewonnen. Ich halte es für bemerkenswert,
dass es uns gelungen ist, insgesamt zu 16 einzelnen
Punkten sehr dezidierte und meines Erachtens auch substantiierte Aussagen zu treffen. Aus meiner Sicht muss
es, wenn es um das Thema Datenschutz geht, insgesamt
einen Dreiklang geben, und zwar zwischen der Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger, der selbstverpflichtenden Bindung der Wirtschaft und den notwendigen gesetzlichen Regelungen.
Zunächst zum Thema Selbstverantwortung der Bürger. Ich erachte es als außerordentlich interessant und
positiv, dass die jüngste sogenannte JIM-Studie für das
Jahr 2010 festgestellt hat, dass insbesondere die Jugendlichen - es sind über 1 000 Jugendliche zwischen 12 und 19
Stephan Mayer ({1})
befragt worden - deutlich sensibler mit ihren personenbezogenen Daten im Internet umgehen.
Die Ergebnisse zeigen: Noch im Jahr 2009 haben
51 Prozent der Jugendlichen Fotos und Filme von Freunden und Verwandten ins Internet gestellt. Ein Jahr später,
2010, sind es nur noch 41 Prozent. Es geben auch nur
noch 46 Prozent der befragten Jugendlichen persönliche
Informationen im Internet an. Ein Jahr zuvor, 2009, waren es noch 83 Prozent.
Im Jahr 2009 haben immerhin noch 69 Prozent der
befragten Jugendlichen persönliches Material, insbesondere Fotos, ins Internet hochgeladen. Ein Jahr später,
2010, sind es nur noch 64 Prozent.
Das zeigt: Die öffentliche Debatte zum Thema Datensicherheit und Datenschutz und der Auftrag an den Einzelnen, verantwortungsvoll und selbstbestimmt mit personenbezogenen Daten umzugehen, trägt erste Früchte.
Aber natürlich darf dies nicht das Ende sein. Die Aufklärungsarbeit muss weitergehen und noch intensiviert werden, und zwar schon allein deshalb, weil - das hat diese
Studie auch zutage gefördert - die Aufenthaltszeit im Internet zunimmt. Jugendliche bewegen sich im Durchschnitt täglich knapp zweieinhalb Stunden im Internet.
Auch die Mitgliedschaft in sozialen Netzwerken im Internet hat im Vergleich zum Vorjahr noch einmal deutlich zugenommen.
Was das Thema Aufklärung und Bildungsarbeit anbelangt, verspreche ich mir sehr viel von der kommenden
Stiftung Datenschutz.
({2})
Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, im kommenden Haushalt 2011 schon einmal 10 Millionen Euro einzustellen, um diese Stiftung Datenschutz auf den Weg zu
bringen. Ich verspreche mir von dieser kommenden Stiftung Datenschutz vor allem deshalb sehr viel, weil sie in
prädestinierter Weise dazu beitragen kann, der Vertrauensbildung zwischen den Bürgern und den Unternehmen
Vorschub zu leisten. Dabei stellen Themen wie das Datenschutzgütesiegel oder das Datenschutzaudit Chancen
dar. Auch wenn die Wirtschaft diesen Themen vielleicht
etwas reserviert gegenübersteht, glaube ich, dass man
mit den beiden genannten Themen zu einer stärkeren
Vertrauensbildung bei den Verbrauchern beitragen kann.
Ein großes Thema in der aktuellen Debatte ist die
Profilbildung im Internet, insbesondere was personenbezogene Daten anbelangt. Dies ist zunächst einmal kritisch zu sehen, wobei ich hinzufüge, dass nicht jede Profilbildung per se negativ zu sehen ist, insbesondere dann
nicht, wenn sie auf die persönliche Einwilligung des Betroffenen zurückzuführen ist. Sie muss aus meiner Sicht
immer die Grundvoraussetzung dafür sein, dass es überhaupt zu einer Profilbildung von personenbezogenen
Daten im Internet kommt.
In diesem Zusammenhang bin ich dem Bundesinnenminister sehr dankbar dafür, dass er ein Eckpunktepapier
vorgelegt hat, das Grundlage sein wird, um das kommende Gesetz zum Schutz von Persönlichkeitsrechten
im Internet zu erarbeiten. Die rote Linie, von der der
Bundesinnenminister spricht, ist meines Erachtens der
richtige, der zukunftsweisende Weg. Das Internet darf
auf der einen Seite kein rechtsfreier Raum sein; auf der
anderen Seite müssen wir uns aber auch davor hüten, das
Internet und den Umgang mit dem Internet überzuregulieren.
Ich glaube, dass es richtig ist, zu sagen, dass Meinungsfreiheit im Internet, in der virtuellen Welt, genauso
wie in der realen Welt gilt. Aber es muss natürlich auch
bestimmte Grenzen, bestimmte Barrieren geben. Wenn
es schwerwiegende Eingriffe in Persönlichkeitsrechte
und in die Intimsphäre gibt oder es zu ehrverletzenden
Beschreibungen im Internet kommt, muss es auch einen
Rechtsanspruch für den Einzelnen geben, diese Inhalte
aus dem Internet zu tilgen. Ich sage ganz offen: Dieses
Recht des Betroffenen muss natürlich auch sanktionsbewehrt sein, sprich: mit eventuellen Schmerzensgeldansprüchen ausgestaltet sein.
Das Eckpunktepapier zeigt also einen hervorragenden
Weg auf. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch
die Selbstverpflichtung der Wirtschaft anzusprechen.
Die BITKOM hat vor kurzem einen Entwurf für einen
Datenschutzkodex für Geodatendienste vorgelegt. Ich
begrüße diesen Entwurf - das sage ich in aller Deutlichkeit -; er ist meines Erachtens eine gute Diskussionsgrundlage. Aber es muss uns auch erlaubt sein, dabei
noch mit Hand anzulegen und entsprechende Hinweise
zu geben. Es ist ein wichtiger Ansatzpunkt, dass man
eine zentrale Informations- und Widerspruchsstelle für
den Einzelnen schafft, dass er im Internet also an einer
zentralen Stelle seinen Widerspruch deponieren kann,
wenn es um das Pixeln, die Unkenntlichmachung von
Immobilien im Internet, geht.
Ich sage aber auch ganz offen, dass ich ein Problem
mit diesem Vorhaben der BITKOM habe, weil sie die
Kontrolle dieser Selbstverpflichtung nur auf eigene
Rechnung machen will. So kann es nicht gehen. Die
Kontrolle dieser Selbstverpflichtung muss meines Erachtens in staatliche Hand gegeben werden. Man kann
der Wirtschaft nicht einerseits zugestehen, sich Selbstverpflichtungen aufzuerlegen - das ist meines Erachtens
grundsätzlich der richtige Weg -, und ihr andererseits erlauben, die Einhaltung dieser Selbstverpflichtungen
selbst zu kontrollieren. Das geht meines Erachtens zu
weit.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die dritte
Komponente in dem Dreiklang, den ich vorhin beschrieben habe, ist der Gesetzgeber. Es bedarf gesetzgeberischer Änderungen als Leitplanken, die als Schutz im
Hinblick auf die freiwilligen Selbstverpflichtungen der
Wirtschaft dienen. In diesem Zusammenhang ist natürlich festzustellen, dass im Laufe der letzten 20 Jahre das
Bundesdatenschutzgesetz an Übersichtlichkeit und Praxistauglichkeit verloren hat. Deshalb ist es neben dem
Erfordernis, den Beschäftigtendatenschutz neu zu regeln, unser Ansinnen und unser ernsthaftes Bestreben in
der christlich-liberalen Koalition, das Bundesdatenschutzgesetz modern und technikneutral umzugestalten.
Stephan Mayer ({4})
Ich bin sehr froh, dass es uns in der Entschließung gelungen ist, nicht an der Oberfläche zu bleiben, sondern
uns zu konkreten Themen dezidiert zu äußern. Wir haben uns zum Beispiel zum Thema intelligente Stromzähler - der englische Begriff lautet „Smart Metering“ - geäußert. Hier besteht die akute Gefahr des Missbrauchs
durch Unbefugte. Es bedarf entsprechender technischer
und organisatorischer Maßnahmen, um zu verhindern,
dass die Lastenprofile, die durch solche Stromzähler ermittelt werden, missbräuchlich genutzt werden. Wir haben uns zum Melderecht dahin gehend geäußert, dass
wir derzeit kein Erfordernis für ein bundesweites, zentrales Melderegister sehen. Wir haben uns zudem zum
Zensus 2011 geäußert, genauso wie ganz dezidiert zur
Speicherung von Passagierdaten. Ich betone: Es ist aus
meiner Sicht dringend erforderlich, dass die Europäische
Union ein Musterabkommen nicht nur mit den USA,
sondern auch mit anderen Ländern erarbeitet, das ganz
klar festlegt, unter welchen Voraussetzungen Passagierdaten übermittelt werden, und das konkrete Hinweise
gibt und Verpflichtungen aufoktroyiert, wenn es um die
Festlegung der Speicherfrist und den Rechtsschutz geht.
Abgesehen von dem Tätigkeitsbericht für die Jahre
2007 und 2008 stehen wir vor ganz neuen Herausforderungen. Wenn Persönlichkeitsprofile von Gesichtserkennungsdiensten erstellt werden, wenn es zum Beispiel mit
einem internetfähigen Fotohandy möglich ist, in Echtzeit
eine Person auf der Straße oder im Café zu identifizieren, dann ist Vorsicht geboten. Wenn es bei Suchmaschinen immer mehr gang und gäbe ist, Profilbildung vorzunehmen, ist dies höchst gefährlich, wenn aus diesen
Erkenntnissen konkrete Rückschlüsse auf Verhaltensweisen, Vorlieben oder Hobbys gezogen werden. Genauso besteht eine konkrete Gefahr in der zunehmenden
Ermittlung von Standortdaten. Das ist zwar nach § 98
des Telekommunikationsgesetzes verboten. Aber nachdem immer mehr Diensteanbieter auf dem Markt sind,
die nicht dem Telekommunikationsgesetz unterfallen,
besteht auch hier eine konkrete Gefahr des Missbrauchs.
Dem müssen wir uns sehr intensiv annehmen. Ich hoffe
auf die gleiche konsensuale und sachliche Zusammenarbeit, wenn es um diese von mir angesprochenen Themen
geht.
Ich darf mich abschließend bei allen herzlich bedanken. Es ist ein mutiges und schönes Zeichen, dass es uns
gelungen ist, eine fraktionsübergreifende Entschließung
zustande zu bringen. Lassen Sie uns in diesem Sinne
weiterarbeiten, wenn es um Datenschutz und Datensicherheit in Deutschland geht.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerold Reichenbach
von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren Kollegen! Lassen Sie mich vorab Herrn
Peter Schaar, der oben auf der Tribüne sitzt, und seinen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die hervorragende
Arbeit im Bereich des Datenschutzes und der Informationsfreiheit danken.
({0})
Oft kämpfen Sie gegen Windmühlen, manchmal mit großem Rückhalt, oft aber auch ziemlich allein gelassen.
Herr Schaar, vielen Dank für Ihre hervorragende Arbeit!
Obwohl Sie meistens als Mahner und eher als personifiziertes schlechtes Gewissen uns Politikern im Nacken
sitzen, wissen wir alle, dass Sie Ihre Arbeit mit absoluter
Leidenschaft und höchster Gewissenhaftigkeit ausführen. Nichts anderes erwarten wir von Ihnen als unserem
obersten Hüter von Daten und Informationen.
Ein Zeichen dafür ist unter anderem der vorliegende
Tätigkeitsbericht, über den wir heute debattieren. Sie
zeigen uns darin die Möglichkeiten und Gefahren für die
Zukunft auf. Sie mahnen die Politik, zu handeln, und
zwar insbesondere mit Blick auf ein Zeitalter, in dem
sich die Technik derart schnell weiterentwickelt, dass
der Gesetzgeber oft hinterherhinkt und dem technologischen Fortschritt nur hinterherschaut.
Das wird auch dadurch deutlich - das ist schon angesprochen worden -, dass das Gefährdungspotenzial mehr
als aktuell ist, das in dem Bericht für die Jahre 2007 und
2008, den wir heute debattieren, aufgezeigt wird. Darum
haben die Bundestagsfraktionen diesen Bericht zum Anlass genommen, erneut eine gemeinsame Entschließung
zu formulieren. Auch ich möchte mich bei den Kolleginnen und Kollegen, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie bei den Ministerien bedanken.
Natürlich ist diese Entschließung ein Kompromiss.
Inhaltlich gibt es aber trotzdem viele Dinge, in denen
sich die Fraktionen einig waren. Ich möchte hier nicht
alle Punkte aufzählen, aber ein paar Beispiele nennen,
etwa das Erfordernis der Stärkung der Rechte der Betroffenen - das ist angesprochen worden -, eine Regelung
zur Profilbildung sowie eine engere Zweckbindung beim
Umgang mit persönlichen Daten. Das ist ein Problem,
das bei der Zunahme von Diensten, Verknüpfungsmöglichkeiten und neuen Netzwerken nach unserer Ansicht
immer dringlicher wird.
Ebenso einig war man sich grundsätzlich darin, dass
im Bereich der Bildung und Medienkompetenz gehandelt werden muss und die von der Bundesregierung geplante Stiftung Datenschutz keine Parallelstrukturen zu
den Aufgaben der Datenschutzbeauftragten des Bundes
und der Länder herausbilden darf und gleichzeitig ihre
Unabhängigkeit garantiert sein muss.
So weit bestand Einigkeit - um nur die wichtigsten
Punkte zu nennen. Die Nagelprobe jedoch wird die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung der erforderlichen
Maßnahmen sein. Die Bundesregierung ist gefordert,
konkret tätig zu werden; denn der Tätigkeitsbericht ist
nicht nur dazu da, ihn zur Kenntnis zu nehmen und eine
gemeinsame Entschließung mit guten Absichten zu formulieren. Er ist vielmehr dazu da, Missstände und Problemfelder aufzudecken, sie anzugehen und politisches
und gesetzgeberisches Handeln folgen zu lassen.
Davon, Kollege Mayer, kann ich bei den aktuellen
Vorschlägen der Bundesregierung allerdings noch nicht
so viel erkennen. Im Bereich des Datenschutzes ist diese
Bundesregierung nach wie vor, wie in anderen Bereichen, gespalten. Der Bundesinnenminister und die CDU
fordern eine schnelle Regelung zur Vorratsdatenspeicherung. Die Bundesjustizministerin und die FDP - wir haben es vorhin in der Debatte erlebt - sagen: Wir warten
lieber ab, wir wollen Europa nicht vorgreifen.
({1})
Abwarten und möglichst wenig entscheiden scheint
ohnehin ein Prinzip zu sein. Die Verbraucherschutzministerin moniert beispielsweise den mangelnden Schutz
der Persönlichkeitsrechte im Internet, und da sie mit ihren Forderungen bei den Diensteanbietern nicht durchdringt, schaltet sie öffentlichkeitswirksam, aber ziemlich
hilflos ihr Facebook-Profil ab.
Andererseits setzt der Bundesinnenminister mit seinem Vorschlag der sogenannten Rote-Linie-Gesetzgebung und dem gleichzeitig vorgelegten Kodex der Internetbranche - Sie haben das eben angesprochen weitestgehend auf die Selbstkontrolle durch die wirtschaftlichen Interessen der beteiligten Unternehmen.
Wir sagen dagegen ganz klar: Ein lockerer gesetzlicher
Rahmen, der durch jede Menge Selbstverpflichtungen der
Branche ergänzt werden würde, ist nicht ausreichend, um
einen adäquaten Persönlichkeits- und Datenschutz zu gewährleisten. Nach dem sogenannten Rote-Linie-Entwurf
- so wie er uns bekannt geworden ist - werden die Unternehmen auch weiterhin fleißig Daten erheben, verarbeiten
und weitergeben, Profile erstellen und diese wirtschaftlich nutzen dürfen, da nur die gezielte Veröffentlichung
personenbezogener Daten für unzulässig erklärt werden
soll. Bis zu der roten Linie soll der Wirtschaft dann wohl
ohne einklagbare gesetzliche Regelungen ein freier Gestaltungsspielraum gegeben werden, in dem sie sich lediglich nach eigenem Ermessen einschränkt. Sie selbst
haben gesagt, dass es nicht sein kann, dass sich diejenigen, die davon profitieren, selbst kontrollieren.
Was die Effektivität und Reichweite von Selbstregulierungskräften betrifft, haben wir auch aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit unsere Zweifel. Denn
es ist gerade anhand der Banken- und Finanzkrise deutlich geworden, dass es eine Mär ist, dass der Markt sich
selbst reguliert und sanktioniert.
Wir halten es für wichtig - die Datenskandale in der
Vergangenheit haben das gezeigt -, dass die bestehenden
Datenschutzgesetze und Regeln zunächst einmal konsequent vollzogen werden. In der Vergangenheit - ich
denke da etwa an die jüngsten Debatten über den bargeldlosen Zahlungsverkehr - ging es noch nicht einmal
um Selbstkontrolle, sondern darum, dass Grenzsituationen ausgenutzt werden. Da geht es darum, dass zum Beispiel internationale Anbieter sich um Monierungen
durch Landesdatenschutzbeauftragte - ich formuliere es
einmal etwas umgangssprachlich - einen Dreck scheren.
Deshalb meinen wir: Wir brauchen klare Regelungen
und nicht nur eine rote Linie, sodass alles vor der roten
Linie sozusagen freigegeben ist und es der Wirtschaft
überlassen bleibt, Regeln zu entwickeln, an die sie sich
freiwillig hält. Wenn ich mir den Kodex anschaue, stelle
ich übrigens fest: Es gibt nur minimale Sanktionen, die
geradezu einen Anreiz bieten, dann, wenn es wirtschaftlich opportun ist, dagegen zu verstoßen.
Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der
Länder haben mit ihrer Entschließung zu einem modernen Datenschutzrecht für das 21. Jahrhundert vom
Juni 2010 eine ganze Reihe von Vorschlägen vorgelegt.
Die von uns zur Annahme empfohlene Entschließung
nimmt darauf Bezug. Wir fordern die Bundesregierung
auf, die Vorschläge ernsthaft in die Überlegungen einzubeziehen und den gesetzlichen Rahmen wirkungsvoll zu
verbessern, gerade im Hinblick auf Widerspruchsrechte
und andere Betroffenenrechte, sowie ein Verbot der Verknüpfung von Daten zu erlassen, welches an einen klaren Erlaubnisvorbehalt geknüpft werden sollte. Hier sehen wir alle gemeinsam Handlungsbedarf, wie in der
Entschließung auch zum Ausdruck kommt. Es geht darum, rechtsfeste Kategorien umzusetzen.
Wir brauchen klar definierte Regeln und Rechte, die
die Betroffenen wirksam einfordern können und die mit
wirksamen Kontrollen und Sanktionen bewehrt sind.
Dazu bieten wir Ihnen unsere Kooperation an. Wir fordern die Bundesregierung nach wie vor auf: Nehmen Sie
das ernst, was der Bundesdatenschutzbeauftragte, aber
auch die Gesamtheit der Datenschutzbeauftragten des
Bundes und der Länder an Vorschlägen unterbreitet haben, und setzen Sie es in gesetzgeberisches Handeln um!
Dabei wird die SPD-Fraktion Sie in diesem Hause unterstützen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Schaar, Sie sitzen zwar da oben alleine auf der Tribüne, aber Sie sind nicht allein auf weiter Flur im Datenschutz. Ich denke, das wird durch diese
Debatte sehr deutlich.
Ich möchte mich meinen Vorrednern insofern anschließen, als auch ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern, unseren Mitarbeitern, dem BMI und seinen Mitarbeitern
ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit danke.
Ich sitze jetzt schon seit über drei Stunden hier im
Plenum.
({0})
- Ja, das ist schon einen Beifall wert. Dafür bin ich
dankbar. Das ist auch sehr nett, aber darum ging es gar
nicht. - Ich wollte sagen: Es ist schon ein besonderes
Highlight des heutigen Tages, dass es uns gelungen ist,
zu diesem Thema eine fraktionsübergreifende Entschließung zustande zu bringen. Das hebt sich wohltuend von
manch anderer Debatte ab. Dafür mein ganz persönlicher Dank.
({1})
- Gemeinsame Beschlüsse auf Vorrat, gar kein Problem,
lieber Kollege Grindel; darüber können wir einmal reden.
Der Tagesspiegel titelte vor nicht allzu langer Zeit,
die „Idee Datenschutz“ habe sich überlebt. Auch Mark
Zuckerberg von Facebook meint zu wissen: The age of
privacy is over. - Der Deutsche Bundestag ist da augenscheinlich anderer Meinung. Ich persönlich finde: Das
ist auch gut so.
Datenschutz hat sich keineswegs überlebt. Ob in Düsseldorf oder Köln, in Berlin oder Schwerin - Datenschutz ist aktuell. Eine freie und offene Informationsgesellschaft würde genau diese Freiheit verlieren, wenn sie
dem Einzelnen das Bedürfnis nach Privatheit versagen
würde.
Richtig ist natürlich, dass sich die datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen in den zurückliegenden Jahren deutlich verändert haben. Vorbei ist die Zeit von
Hängeordnern und Leitz-Ordnern.
({2})
- Alles relativ, mein Lieber. - Vorbei ist die Zeit von
Stechkarten und Spiralkabeln. Heute mieten wir Serverkapazitäten in Neu-Delhi oder speichern direkt in einer
Cloud. Die globale Dimension des Themas Datenschutz
und die dadurch bedingte, sich stetig verändernde Nachfrage nach datenschutzrechtlichen Vorgaben müssen bei
der Anpassung des Datenschutzrechts an das digitale
Zeitalter umfassend berücksichtigt werden. Dabei sind
wir auf einem guten Weg.
Dass sich diese Koalition des Themas Datenschutz
angenommen hat, lieber Kollege Reichenbach, belegen
die folgenden einfachen Zahlen - ich habe in der vorherigen Debatte ja gelernt: Zahlen sind das A und O -: Im
Koalitionsvertrag von Union und FDP findet sich der
Begriff Datenschutz an 27 unterschiedlichen Stellen.
({3})
Zum Vergleich: Im Koalitionsvertrag zwischen SPD und
Grünen war es genau fünfmal, im Koalitionsvertrag der
Großen Koalition sogar nur dreimal der Fall. Ich finde,
das ist schon ein deutlicher Fortschritt.
({4})
Und wir setzen unsere Vorgaben auch um. Da ist zum
Beispiel die Forderung nach einem Arbeitnehmerdatenschutzgesetz.
({5})
Wir als christlich-liberale Koalition arbeiten an einem
Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, das wir im nächsten
Jahr hier vorlegen und umsetzen werden.
({6})
Das ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber den elf Jahren, in denen die verschiedenen sozialdemokratischen
Arbeitsminister das nicht hinbekommen haben.
({7})
Es ist schon darauf hingewiesen worden: Wir haben
es geschafft, eine Stiftung Datenschutz ins Leben zu rufen. Selbstverständlich wird sie unabhängig sein. Und
selbstverständlich ist doppelte Arbeit nicht sinnvoll.
Aber wir haben das auf den Weg gebracht; Sie haben das
nicht geschafft - genauso wenig wie Sie es geschafft haben, dem Bundesdatenschutzbeauftragten mehr Geld zur
Verfügung zu stellen. Sie haben nur Sprüche gemacht,
wir haben gehandelt und mehr Geld draufgelegt. Von daher haben wir mehr bewegt als Sie in den elf Jahren, in
denen Sie vergeblich versucht haben, etwas beim Datenschutz zu bewegen.
({8})
Wir als christlich-liberale Koalition setzen auf ein Nebeneinander gleich mehrerer Regelungsmechanismen.
So richtig es ist, dass wir an neuen gesetzlichen Regelungen für manche Phänomene nicht vorbeikommen, so
falsch ist der Glaube, allein über neue Gesetze Probleme
lösen zu können. Selbstverpflichtungen, vor allem der
Internetwirtschaft, tragen insofern schlicht der Tatsache
Rechnung, dass deutsches Recht eben nur in Deutschland gilt und nicht auf den Cayman Islands. Das muss
man einfach zur Kenntnis nehmen.
Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass ein solcher
Kodex der Branche nur dann akzeptabel ist, wenn darin
effektive und transparente Verfahren garantiert werden.
Das gilt vor allem auch für Verfahren bei etwaigen Verstößen einzelner Unternehmen gegen die selbst gesetzten
Vorgaben. Funktionieren diese Sanktionsmechanismen
allerdings, würde das zu einer dringend notwendigen
Entlastung der Aufsichtsbehörden beitragen. Auch das
kann ein positiver Effekt sein.
Denn zur Wahrheit beim Datenschutz gehört leider
auch, dass es erhebliche Vollzugsdefizite gibt. Laut Statistik musste ein deutsches Unternehmen im Jahr 2009
alle 39 000 Jahre - in Worten: neununddreißigtausend
Jahre - damit rechnen, durch einen Vertreter einer Aufsichtsbehörde kontrolliert zu werden. Ich glaube, dass
wir hier ansetzen müssen, dass auch die Landesregierungen nachbessern und ihre Landesdatenschutzbeauftragten besser ausstatten müssen.
({9})
Trotz der begrenzten Reichweite müssen gesetzliche
Regelungen - wo nötig - über die Formulierung eines
Rahmens weit hinausgehen und konkret werden. Das gilt
selbstverständlich für die Rechte der Betroffenen wie
Widerspruchsrechte oder Ansprüche auf Sperrung oder
Löschung. Solche Instrumente, die die informationelle
Selbstbestimmung des Betroffenen absichern sollen,
dürfen nicht vom Gutdünken einer datenverarbeitenden
Stelle abhängig gemacht werden. Diese Aussage gilt
umso mehr, wenn die persönlichen Daten des Einzelnen
zu kommerziellen Zwecken ge- oder - und das passiert
nicht selten - missbraucht werden.
({10})
- Ich bin begeistert, Wolfgang. - Ich komme zu einem
tendenziell weihnachtsfreundlichen Abschluss: Noch
einmal mein Dank für die gemeinsame Beratung. Ich
würde mich freuen, wenn wir beim Thema Datenschutz
auch in Zukunft gemeinsam etwas bewegen könnten.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Jan Korte von der Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Peter Schaar! In der Tat ist es eine gute Sache, dass wir eine gemeinsame Beschlussempfehlung
auf den Weg gebracht haben. Ich denke, das trägt auch
der Tatsache Rechnung, dass der Datenschutz innerhalb
der Gesellschaft, der Bevölkerung einen hohen Stellenwert bekommen hat.
Noch eine kleine Anmerkung. Dieser gemeinsame
Antrag ist auch insofern ein gutes Zeichen, als die Kollegen von der CDU/CSU in dieser Beziehung vielleicht
einmal in sich gehen könnten. Bei diesem Sachthema
konnten wir gut zusammenarbeiten. Vielleicht ist das bei
anderen Themen in Zukunft auch möglich. Das wäre
doch ein gutes Zeichen.
({0})
Wichtig ist
({1})
- der Kollege Grindel ist wach geworden; das ist gut,
jetzt kommt ein bisschen Stimmung in den Laden -, dass
wir innerhalb dieser Legislaturperiode versuchen - das
war in den letzten Jahren genauso -, die gemeinsame
Beschlussempfehlung Stück für Stück umzusetzen.
Wenn alle Fraktionen dafür sind und diese Beschlussempfehlung ernst nehmen, wird man das ja wohl irgendwie hinbekommen. Wir als Linke sind auf jeden Fall dabei.
Da Herr Schaar im Haus ist, möchte ich vorab noch
einen Punkt ansprechen. Wir beraten heute den Tätigkeitsbericht von 2007 und 2008. Wir sollten dafür sorgen, dass Herrn Schaar in Zukunft genügend Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung stehen, sodass wir in
späteren Jahren den Bericht des Vorjahres diskutieren
und nicht den von vor drei Jahren. Hier müssen wir unbedingt nachbessern.
({2})
Selbstverständlich fehlen viele wichtige Punkte in
dieser gemeinsamen Beschlussempfehlung. Das ist klar.
Es handelt sich um einen Minimalkonsens.
Auf Seite 45 des Berichtes - ich habe ihn gelesen findet sich zum Beispiel das Thema Onlinedurchsuchungen. Dort wird zu Recht gesagt, das sei ein
schwerwiegender Grundrechtseingriff. Das ist wohl
wahr; wir haben heute schon über die Vorratsdatenspeicherung gesprochen. Bis heute haben Sie, die die Möglichkeit einer Onlinedurchsuchung eingeführt haben,
auch in diesem Fall nicht gesagt, wofür wir dieses Instrument überhaupt brauchen. Das BKA hat laut der
jüngsten Anfrage der Fraktion Die Linke noch gar keine
Onlinedurchsuchung durchgeführt. Wir sollten also die
Aussagen im Bericht hierzu ernst nehmen und diese
Möglichkeit streichen.
({3})
Ein anderer Punkt ist, dass bei allen elektronischen
Großprojekten einige Aspekte nicht beachtet wurden von uns zwar schon, aber darüber gab es keinen Konsens.
So gibt es zum Beispiel beim Millionengrab E-Perso und
bei der gesamten Biometriestrategie weniger Datenschutz. Deshalb muss hier - darauf wurde schon hingewiesen - dringend ein Kurswechsel eingeleitet werden.
Ich erinnere auch an ELENA, an die Gesundheitskarte
und die Vorratsdatenspeicherung, über die wir heute
schon diskutiert haben und die einen der schwerwiegendsten Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung überhaupt darstellt.
Lange Rede, kurzer Sinn: Wenn man die Aussagen
des Berichts ernst nimmt, müsste man ein Moratorium
für all diese Großprojekte fordern und eine wirkliche
bürgerrechtliche Evaluierung vornehmen. Das wäre angemessen.
({4})
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen, über
den noch gar nicht diskutiert worden ist, nämlich den
Umgang mit Sozialdaten. Hartz IV ist nicht nur Armut
per Gesetz, sondern damit einher geht per Gesetz auch
ein Fehlen von Datenschutz. Auch beim Umgang mit
den Daten von Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfängern ist es an der Zeit, endlich einen wirksamen Datenschutz einzuführen. Hier hätten Sie uns an Ihrer Seite.
Hier ist aber, wie ich glaube, noch extrem viel Druck
vonnöten.
Der Bericht sollte für uns also Mahnung und Handlungsanweisung zugleich sein. Wir würden uns in diesem Bereich intensiv engagieren. Wir sollten jetzt aber
erst einmal die Punkte der gemeinsamen Beschlussempfehlung, bei denen wir alle einer Meinung sind - Herr
Grindel schaut begeistert -, umsetzen. Dann sollten wir
einen grundlegenden Kurswechsel einleiten. Dafür muss
allerdings diese Regierung abgewählt werden. Auch daran arbeiten wir.
({5})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Konstantin von Notz von Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Peter Schaar, auch wir Grünen begrüßen
die mit und in dem Bericht zum Ausdruck kommende
Bedeutung der Arbeit des Bundesdatenschutzbeauftragten. Wir bedanken uns bei ihm und all seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die insgesamt geleistete
Arbeit, aber insbesondere für die in den Jahren 2007 und
2008. An diesem Punkt gilt es festzuhalten: Ein unabhängiges Aufsichtssystem ist ein verfassungsfester Baustein unseres Datenschutzkonzeptes.
Auch ich freue mich über die fraktionsübergreifende
Beschlussempfehlung und die konstruktive Zusammenarbeit. Das ist ein positives Signal in diesen manchmal
garstigen politischen Zeiten. Das zeigt auch - da stimme
ich dem Kollegen Mayer völlig zu - die Bedeutung und
die Wichtigkeit dieses Themas in der aktuellen Zeit.
({0})
Für uns besonders wichtig war, dass in den Bericht
die Bedeutung bundesweiter Gütesiegel und ein Prüfantrag zur Schaffung gesetzlicher Regelungen für Smart
Grid Eingang gefunden haben sowie Bezug auf die
wichtigen Anregungen im Eckpunktepapier zur Modernisierung des Datenschutzes genommen wurde. Das alles sind wichtige politische Punkte für einen modernen
Datenschutz. Wir wollen an dieser Stelle offen über Datenschutz sprechen. Nicht nur innerhalb der Regierung
gibt es erhebliche Meinungsunterschiede - nehmen wir
nur das Stichwort „Vorratsdatenspeicherung“ -, sondern
auch uns Grüne trennt manches von der Bundesregierung - das sei hier erwähnt -, zum Beispiel bei ELENA.
Hier findet im Augenblick eine verfahrenstechnisch ausgesprochen unwürdige Beerdigung - häppchenweise
und auf Raten - statt, ohne dass die Datensammelei gestoppt wird. Noch immer werden die Daten jeden Monat
zentral gespeichert und gemeldet, was klar rechtswidrig
ist. Frau Piltz, auch wenn Sie sich hier für die tolle Datenschutzpolitik abfeiern lassen, da versagen Sie leider
komplett.
({1})
Beim neuen Pannen-Personalausweis ist es genauso.
Man kann ihn den Bürgerinnen und Bürgern nicht empfehlen, und dies tut kaum jemand mehr;
({2})
denn über die zugesagte Sicherheit verfügt er gerade
nicht.
({3})
Das Beharren auf der Vorratsdatenspeicherung von
Union und - nach dem halbgaren Vortrag vorhin; wir haben darüber vor zwei Stunden diskutiert - vermutlich
auch dem Kern der SPD steht meiner Ansicht nach im
klaren Widerspruch zu dem vorliegenden Bericht, der
die Sorge zum Ausdruck bringt, dass die Vielzahl der
Datenverarbeitungen und das unaufhörliche Anwachsen
von Datenbeständen es den Bürgerinnen und Bürgern
immer schwerer mache, ihr Recht auf informationelle
Selbstbestimmung auszuüben. Die verpflichtende Vorratsdatenspeicherung trägt genau zu einem solch unaufhörlichen Anwachsen von Datenbeständen bei.
Beim Thema Internet, der zentralen Bewährungsprobe für den Datenschutz unserer Zeit, liefert die Bundesregierung bisher nichts außer einer angedeuteten roten Linie. Frau Piltz, das ist wichtig; jetzt müssen Sie
aufpassen, weil Sie sich eben so gelobt haben.
({4})
Die rote Linie des Innenministers erfasst eben nur die
Veröffentlichung von Daten. Nicht erfasst, sondern der
Selbstregulierung überlassen bleiben die Erhebung, die
Speicherung, die Verwaltung, die Weitergabe und die
Kommerzialisierung von Daten; das ist alles ungeregelt.
Da bohren Sie ein wirklich dünnes Brett. Das geht so
nicht.
({5})
Auch die letzten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Onlinedurchsuchung und zur Vorratsdatenspeicherung mit komplexen umfänglichen Maßgaben zu den verfassungsrechtlich gebotenen SchutzmaßDr. Konstantin von Notz
nahmen machen diesen Bedarf überdeutlich. Da haben
Sie nichts getan.
Kollege Mayer hat das Bundesdatenschutzgesetz angesprochen und es sehr milde gesagt. Es ist in der Tat
völlig überholt und in den 70er- und 80er-Jahren stehen
geblieben. Es stellt auf Großrechnertechnologien ab und
geht an den Realitäten im Jahr 2010 völlig vorbei. Wir
brauchen eine Generalrevision dieses Gesetzes, das für
uns die nächsten Jahre ein ganz zentrales Gesetz werden
muss.
({6})
Ich bin gespannt, was in diesem Bereich erfolgt, wenn es
schon mit der roten Linie so schwierig ist.
Noch wichtiger und grundlegender sind Anstrengungen beim Datenschutz durch Technik. Auch hier muss
der Gesetzgeber tätig werden; denn alle Hoffnungen auf
einen sich selbst entfaltenden Markt der sogenannten
Privacy Enhancing Technologies haben sich nicht hinreichend erfüllt. Bereits ab Werk muss für freiheitswahrende Einstellungen und Optionen in Soft- und Hardware gesorgt werden.
Im Datenschutz liegt der entscheidende Weg noch vor
uns. Der Bericht des Bundesdatenschutzbeauftragten ist
ein erster Schritt; viele weitere große - und nicht kleine Schritte müssen folgen. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erwarten von uns einen effektiven Schutz ihrer Daten.
Ganz herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Tätigkeitsbericht 2007 und 2008 des
Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4179, in Kenntnis des genannten Berichts auf Drucksache 16/12600
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Heinz-Joachim Barchmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichern
- Drucksache 17/4030 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Gustav Herzog von der SPD-Fraktion
das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag der SPD-Fraktion mit dem Titel „Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichern“ ist
die Reaktion auf eine Entscheidung des Haushaltsausschusses, die die Koalitionsfraktionen mit Unterstützung
von Grünen und Linken herbeigeführt haben. Das Bundesministerium wurde vorgeführt, als Sie deutlich gemacht haben, was Sie vorhaben, nämlich dass aus der
bisher sehr gut funktionierenden Ausführungsverwaltung lediglich eine Gewährleistungsverwaltung wird.
Ich will in meiner Rede drei Schwerpunkte setzen
- über die Details der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung können wir sicherlich im Verkehrsausschuss reden,
sobald der angeforderte Bericht des Ministeriums vorliegt -: Ich will mich als Abgeordneter mit der gesellschaftspolitischen Frage beschäftigen, ob es uns um öffentliche Daseinsvorsorge oder um eine reine
Privatisierungsideologie gehen sollte. Ich will mich als
Verkehrspolitiker der Frage stellen, ob Sie sich die richtigen Ziele gesetzt haben, ob Sie ausreichend Mittel zur
Verfügung stellen und ob Sie über die passende Organisation verfügen, um den Ausbau und die Unterhaltung
der Wasserwege zu gewährleisten. Ich stelle mir als Sozialdemokrat die Frage, wie Sie mit 13 000 Menschen
umgehen, die gute Arbeit geleistet haben. Ich sage Ihnen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wasserund Schifffahrtsverwaltung haben aufgrund Ihrer Entscheidung keine schöne Weihnacht.
({0})
Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ist vielen
Prüfungen unterzogen worden: durch Kienbaum in den
Jahren 1996/1997
({1})
und im Rahmen des Gutachtens zu den Kernaufgaben
von 2001. Es gab einen ständigen Personalabbau und
eine ständige Anpassung: Über 27 Prozent der Stellen
sind in den letzten 17 Jahren abgebaut worden. Heute
sind in dieser Verwaltung weniger Menschen beschäftigt, als es die Vorgabe von 2001 vorsah. Ich füge hinzu:
Auch sozialdemokratische Verkehrsminister waren an
diesem Abbau beteiligt.
Wie ist die aktuelle Situation? Ich muss der FDP und
den Grünen ein Kompliment machen: Sie haben geschickte Medienvorarbeit geleistet. Ich lese in der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 21. November dieses Jahres, dass 13 000 Bürokraten 8 000
Binnenschiffern gegenüberstehen. Ich hätte mir von den
Kollegen Wilms und Staffeldt, die dort zitiert wurden,
schon gewünscht, dass sie auf Folgendes hinweisen: In
dieser Verwaltung sind nicht 13 000 Bürokraten tätig.
Natürlich zählen auch der Staatssekretär und Vertreter
des Ministeriums dazu; aber 70 Prozent der Beschäftigten in der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung - es ist
wichtig, darauf hinzuweisen - sind Menschen, die in den
Außenbereichen arbeiten, die sich bei jedem Wetter,
auch bei diesem, darum kümmern, dass die Schleusen
und die Sicherheitseinrichtungen funktionieren und die
Bojen Licht geben, dass die Sicherheit auf See und auf
unseren Binnenwasserstraßen gewährleistet ist.
Zudem sind dort über 1 000 Auszubildende tätig. Es
ist eine spannende Frage an die Bundesregierung, wie
die Bundesverwaltung in Zukunft ihre Ausbildungsquote
halten will, wenn die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung so abgespeckt worden ist. Ich sage Ihnen: Die Lehrlinge, die Sie in der politischen Führung haben, werden
bei der Ausbildungsquote nicht mitgezählt.
({2})
All Ihre Argumente und Sparappelle wären tatsächlich glaubwürdig, wenn Sie von der FDP sich darangemacht hätten, die in Ihrem Sparbuch vorgeschlagenen
Maßnahmen umzusetzen. Sie wollten ein Ministerium
abschaffen; jetzt fühlt sich Ihr früherer Generalsekretär
da sehr wohl. Sie wollten die Anzahl der Staatssekretäre
reduzieren; nichts ist passiert. Aber bei den Leuten, die
draußen an den Schleusen arbeiten, wollen Sie einsparen.
({3})
- Bei bitteren Wahrheiten fehlt einem vielleicht der Enthusiasmus.
Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis will ich zitieren:
Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes verfügt über hohe Kompetenz und stellt sich
mit neuen Methoden und Lösungen den veränderten Herausforderungen.
Jetzt hätte ich natürlich donnernden Applaus von der
Koalition erwartet. Warum? Ich habe Ihren Bundesminister, Herrn Dr. Peter Ramsauer, zitiert. Das steht auf
Seite 1 einer schönen druckfrischen Broschüre, Ausgabe
11/2010, mit dem sehr interessanten Titel „Gut zu wissen, was dahintersteckt“.
Das ist tatsächlich die Frage: Was steckt dahinter? Sie
haben eine andere verkehrspolitische Konzeption. Sie
haben sich vom integrierten Verkehr verabschiedet. Sie
haben in Ihrem Aktionsplan das Ziel „Verlagerung auf
Schiene und Wasserstraße“ relativiert. Vor allen Dingen
haben Sie mit geschlossenen Finanzierungskreisläufen
die Straße privilegiert.
({4})
Die gesamten Mauteinnahmen fließen in den Verkehrsträger Straße.
({5})
Das Haushaltsrisiko und die Auswirkungen der Schuldenbremse tragen in Zukunft allein die Verkehrsträger
Schiene und Wasserstraße. Das werden wir in den nächsten Jahren erst richtig merken, wenn die Verteilungskämpfe noch härter werden.
({6})
Ich habe nicht den Eindruck, dass es Ihnen um eine
effizientere Organisation geht, was der Bundesrechnungshof anmahnt.
({7})
Ihnen geht es darum, vergaberechtlich darauf zu achten,
dass möglichst viele ihr Geld damit verdienen.
({8})
Sie missbrauchen die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung für Ihre Privatisierungsideologie. Das Ganze passiert auf dem Rücken der Beschäftigten, geht zulasten
der Infrastruktur und geschieht auf Kosten des Steuerzahlers.
({9})
Die öffentliche Verwaltung kann sich diesem Wettbewerb stellen, wenn es um Qualität, Sicherheit und Kosten geht. Wenn Sie das einem Sozialdemokraten nicht
glauben wollen,
({10})
dann machen Sie einmal eine Dienstreise nach Hessen.
Herr Westerwelle darf zwar nicht mehr nach RheinlandPfalz; aber ich denke, dass Sie Ihren hessischen Verkehrsminister besuchen dürfen. Dessen Vorgänger hat
vor drei Jahren einen Versuch gestartet. Er hat eine Straßenmeisterei zur Privatisierung ausgeschrieben.
({11})
Es gab einen Wettbewerb mit den anderen Straßenmeistereien. Im Sommer dieses Jahres hat er den Versuch
vorzeitig für beendet erklärt. Er hat gesagt: Die Privaten
waren teurer, die Qualität war nicht so gut, und vor allen
Dingen waren Mängel bei der Sicherheit zu finden. Gehen Sie einmal nach Hessen.
Ich sage Ihnen: Wir Sozialdemokraten treten für mehr
Transport auf der Wasserstraße ein. Dafür brauchen wir
eine leistungsfähige und regional verankerte Wasserund Schifffahrtsverwaltung.
Zum Abschluss noch an die Adresse unserer maritimen Freunde: Es nützt nichts, mit voller Kraft vorauszufahren, wenn das Ruder falsch eingestellt ist.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Kollege Matthias Lietz von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Kollege Herzog, auch ich möchte zu Beginn
zurückblicken: Bereits 1999 richtete das Verkehrsministerium die Projektgruppe „Entwicklungskonzepte für
eine zukunftsorientierte WSV - Konzentration der WSV
auf Kernaufgaben“ ein. Vor dem Hintergrund bisheriger
und künftiger Personaleinsparungen sowie knapper werdender Haushaltsmittel sollten die künftige Aufgabenstruktur und konkrete Umsetzungsvorschläge ermittelt
werden. Ziel des Gutachtens war die zukunftsfähige Gestaltung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes. Mit Blick auf eine künftige Aufgabenstruktur
und ihre Kernaufgaben wurde unter anderem Folgendes
geprüft: Welche Aufgaben müssen oder sollen von der
Wasser- und Schifffahrtsverwaltung mit welcher Intensität selbst wahrgenommen werden und welche nicht?
Welche Aufgaben können oder sollen durch Dritte wahrgenommen werden, und welche Aufgaben können sogar
ganz entfallen? Der Abschlussbericht wurde 2001 vorgelegt.
Heute stellt sich natürlich die Frage: Was wurde aus
dem Gutachten der Projektgruppe, und was wurde von
den damaligen Ergebnissen bis heute umgesetzt?
Seit einem Jahr wird das Verkehrsministerium von einem Minister der christlich-liberalen Koalition geführt.
({0})
Bis dahin - das haben Sie hier selbst erwähnt -, also bis
zum Herbst des Jahres 2009, lag das Verkehrsministerium in der Verantwortung der SPD. Es ist daher interessant, dass der Antrag „Zukunftsfähigkeit der Wasserund Schifffahrtsverwaltung sichern“ ausgerechnet von
Ihnen vorgelegt wurde.
Im Abschlussbericht von 2001 nennt die Projektgruppe beispielsweise für Aufgaben, die der Gewährleistungsverantwortung zugeordnet und auch durch Dritte
erbracht werden können, ein theoretisches Einsparpotenzial von 6 200 Dienstposten bei damals rund 15 000 Mitarbeitern.
({1})
Bei Umsetzung der Vorschläge wäre ein künftiger Personalumfang von 8 800 Dienstposten bei der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung denkbar. Bis zum Ende ihrer Verantwortung im Ministerium hat die SPD darauf verzichtet, auch nur annähernd einen Weg zur Erreichung dieses
Zieles zu beschreiten. Stattdessen hat man sich immer
für die Zementierung bestehender Strukturen entschieden.
({2})
Sie haben sich von Ihrem Leitbild eines aktivierenden
Staates verabschiedet, in dem der Staat nicht einfach weniger, sondern anders werden muss.
({3})
Wenn man über Ihr Leitbild liest, kommt man zu dem
Schluss, dass statt einer Zementierung der Durchführungsverwaltung ein Schritt zu mehr Gewährleistungsverantwortung der richtige Ansatz zur Reform der WSV
ist.
({4})
In Ihrem heute vorliegenden Antrag erwähnen Sie die
gemeinsame Vereinbarung von 2005 und beklagen sich,
dass diese Vereinbarung ausgelaufen ist und nicht verlängert wurde. Eines kann ich Ihnen in diesem Zusammenhang versichern: Wir werden uns als Koalition genau überlegen, wie wir künftig eine Vereinbarung
gestalten. Wir unterstützen eine echte Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Wir wollen die Wasserund Schifffahrtsverwaltung zukunftsfest machen und
uns nicht nur auf die Optimierung bestehender Geschäftsabläufe beschränken.
({5})
Wir unterstützen eine echte Aufgabenkritik und eine
Überprüfung der bisherigen Reformschritte bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung.
Ich bin mir sicher: Eine echte Reform ist nur in einem
engen Dialog mit den Beschäftigten, ihren Interessenvertretungen sowie mit den Gewerkschaften auf den
Weg zu bringen. Dabei müssen beide Seiten vorurteilsund ideologiefrei in den Dialog eintreten. Ich sage nicht,
dass die Gespräche ohne intensive Debatte verlaufen
werden; aber keine Seite sollte sich bereits jetzt auf unverrückbare Positionen versteifen.
({6})
Noch bevor der Bericht aus dem Ministerium überhaupt
vorliegt und somit noch gar nicht klar ist, welche
Schritte die Regierung konkret ergreifen wird, ist es unnütz, hier und heute über eine mögliche Zerschlagung
der Strukturen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
zu reden.
({7})
Die vom Bundesrechnungshof angemahnte Organisationsreform ist notwendig. Wie diese konkret aussieht,
werden wir erst - so ist es angekündigt - nach dem
26. Januar 2011 entscheiden können, wissend, dass auch
die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung den kommenden
Reformprozess konstruktiv begleiten will. Mit Ihrem
Antrag wollen Sie erreichen, dass krampfhaft an der bisherigen Struktur festgehalten wird. Darüber hinaus fordern Sie eine Aufstockung des bestehenden Personals.
Das sichert nicht die Zukunftsfähigkeit der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung, sondern verhindert eine effiziente, langfristige und kritische Betrachtung der Aufgabenerledigung.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({8})
Das Wort hat der Kollege Roland Claus von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für den
Fall, dass uns noch jemand außerhalb dieses Plenarsaals
wahrnimmt: Wir reden hier über eine Beschäftigtengruppe, die selten im Rampenlicht steht, aber wichtige
Aufgaben erfüllt. Wir reden über die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, die WSV. Es geht hier im
besten Sinne des Wortes um einen öffentlichen Dienst
mit etwa 13 000 Mitarbeitern, um eine Verwaltung, die
wir als Abgeordnete oder auch Bürgerinnen und Bürger
keinesfalls alltäglich wahrnehmen, aber der wir viel häufiger begegnen, als wir es wahrnehmen, sei es, wenn wir
mit dem Schiff in Berlin auf der Spree fahren, sei es,
wenn wir als Käufer von Produkten aus Übersee in Erscheinung treten. Die Sache ist uns also lieb und teuer.
Deshalb ist es gut, dass die SPD diesen Antrag einbringt,
in dem es heißt: Der WSV als leistungsfähiger Institution muss eine Zukunft gegeben werden. Wir wollen den
öffentlichen Dienst erhalten und modernisieren und
nicht zerschlagen. - Dem wird die Linke zustimmen.
({0})
Der Grundkonflikt, der hier besteht, ist mit zwei sehr
sperrigen bürokratischen Begriffen besetzt, die ich übersetzen muss. Der erste Begriff lautet „Ausführungsverwaltung“. Dabei geht es um eine Verwaltung, die selbst
tun kann, was notwendig ist. Ein Beispiel: Eine Schleuse
muss repariert werden. Die Verwaltung ist in der Lage,
die Schleuse zu reparieren. - Der zweite sperrige Begriff
lautet „Gewährleistungsverwaltung“. Er bedeutet: Was
zu tun ist, soll anderen übertragen werden. Im genannten
Beispiel muss man also jemanden suchen, der die
Schleuse reparieren kann. Wir sagen, um das klarzustellen, ganz deutlich: Die Linke will, dass die WSV selbst
handeln kann.
({1})
Allerdings wollen wir wissen, was die Bundesregierung vorhat, über Jahre aber nicht öffentlich vorgetragen
hat. Deshalb - nur deshalb - haben wir im Haushaltsausschuss dafür gestimmt, dass bis zum 26. Januar nächsten
Jahres ein Bericht vorzulegen ist. Wir wollen, dass die
Karten auf dem Tisch liegen. Erst dann können wir entscheiden.
({2})
Wir sagen ganz deutlich: Wir wollen keine als Gewährleistung getarnte Privatisierung der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung. Das Bundesverkehrsministerium müsste eigentlich noch wissen, wohin das führt;
denn es ist auch Bundesbauministerium. Bei der Sanierung Ihres eigenen Hauses in der Invalidenstraße hier in
Berlin ist Ihnen selbiges fast auf den Kopf gestürzt,
nachdem Sie die Bauaufsicht privatisiert haben. Liebe
Bundesregierung, aus Fehlern kann man klug oder stur
werden. Sie müssen selbst entscheiden, welchen Weg
Sie gehen.
({3})
Allerdings muss auch die sozialdemokratische Fraktion an die Zeit erinnert werden, als sie noch den Traum
von Tony Blair und Gerhard Schröder träumte. Er ging
so: Wir von der SPD können Privatisierung besser als
CDU, CSU und FDP.
({4})
Immerhin stammt das Konzept, das Sie jetzt kritisieren,
aus dem Jahre 2001. Damals gab es eine rot-grüne Bundesregierung und einen sozialdemokratischen Verkehrsminister, wenn ich das einigermaßen richtig erinnere. Sei
es drum: Eine SPD-Fraktion minus Agenda 2010 ist mir
allemal lieber als eine Agenda-SPD. Deshalb stimmen
wir Ihrem Antrag zu. Wenn auch der Bericht vorliegt,
können wir für Klarheit sorgen. Wir sagen: Klarheit ja,
Privatisierung nein.
({5})
In diesem Sinne habe ich eine kleine lokalpatriotische
Bitte an die WSV. Es gibt in Magdeburg-Rothensee ein
sehr traditionsreiches Schiffshebewerk, das seit 2006 außer Betrieb ist. Es handelt sich um ein technisches Denkmal. Wir setzen uns dafür ein, dass dieses technische
Denkmal erhalten bleibt. Wir sind für die Zukunft der
WSV. Also sollte sich die WSV auch ein Stück weit für
die Zukunft dieses technischen Denkmals einsetzen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Torsten Staffeldt von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wieder einmal bezeichnend, dass sich die Linke für Denkmäler einsetzt.
({0})
Ich beginne mit einem Zitat:
Gerade wer das Bewahrenswerte bewahren will,
muss verändern, was der Erneuerung bedarf.
({1})
Meine Damen und Herren, es mag für die Kolleginnen
und Kollegen von der SPD vielleicht überraschend sein,
aber dieses Zitat stammt von Willy Brandt. Es steht in
völligem Widerspruch zu dem, was wir gerade vom Kollegen Herzog gehört haben.
({2})
- Sie sollten lieber das beherzigen, was Willy Brandt gesagt hat; denn er war zukunftsgerichteter als Sie heute.
({3})
Meine Damen und Herren, was ist geschehen? Wir
haben im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir ein
Gesetz zur Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung vorlegen werden. Ursache dafür ist, dass die bisherigen SPD-Verkehrsminister dies nie geschafft haben
oder schaffen wollten. Seit 1998 haben Sie fünfmal - mit
den Ministern Müntefering, Klimmt, Bodewig, Stolpe
und Tiefensee - die Chance gehabt, die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung zu reformieren. Sie haben es
nicht geschafft.
({4})
Auch jetzt will die SPD das nicht und spielt sich hier
als Retter der Bedrohten auf. Da werden Horrorszenarien und Untergangsvisionen an die Wand gemalt. Ich
möchte gerne ein paar Beispiele aus der Presse der letzten Monate zitieren. So sagte etwa der Kollege Gustav
Herzog am 4. November: Die Koalition hat sich vorgenommen, diese Behörde auf Biegen und Brechen zu demontieren.
Der Kollege Johannes Kahrs aus Hamburg, der jetzt
nicht da ist, sagte:
Hier soll nach dem Willen der Koalition eine Behörde … kaputtmodernisiert werden.
Immerhin redet der Kollege Kahrs von Modernisierung und nicht von Demontage wie der Kollege Herzog.
Mein Bremerhavener Kollege Uwe Beckmeyer, der
leider auch nicht da ist, wusste bereits am 26. Juni, was
kommen wird; denn er behauptete: Das kommt einer
Zerschlagung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
gleich.
Es gab Beschimpfungen und Unterstellungen der
Kollegen aus der SPD in der Öffentlichkeit. Das alles
war völlig sach- und fachfremd und ohne jegliche inhaltliche Auseinandersetzung mit dem, was wir mit dieser
Reform eigentlich vorhaben.
({5})
Meine Damen und Herren, Sie behaupten, dass unsere
Reform zu Problemen bei der Schifffahrt führen wird.
Sie lehnen jede Veränderung ab.
({6})
Herr Herzog, Sie haben eben das Beispiel mit dem
schönen Weihnachten für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebracht. Sie verunsichern doch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung, wenn Sie von einem Stellenabbau sprechen, der angeblich 6 000
Menschen betrifft. Das ist völlig absurd. Diese Zahl haben Sie sich aus den Fingern gesogen.
({7})
- Nein, das ist nicht unser Ziel. Unser Ziel ist es, die Verwaltung zukunftsfähig zu gestalten. Aber darauf komme
ich noch.
Ich will sagen: Sie sind die Brandstifter, die erst Feuer
legen und sich hinterher als Feuerwehr aufspielen wollen.
({8})
Sie sind das eigentliche Problem. Eigentlich hätte ich
das eher - das muss ich in diesem Falle sagen - von der
Dagegen-Partei, nämlich von den Grünen erwartet.
({9})
Zu den Fakten. Viele Berichte des Bundesrechnungshofs weisen nach, dass eine wirkliche Reform längst
überfällig ist. Wenn man die Berichte aufmerksam liest,
stellt man fest, dass die Ursache vieler Probleme in der
Struktur der Verwaltung liegt. Viele Köche verderben
den Brei, könnte man auch ganz platt sagen. Der Bundesrechnungshof mahnt einen ernsthaften ganzheitlichen
und nachhaltigen Sanierungsprozess bei der WSV an,
und das hat seinen Grund.
Der behauptete Stellenabbau in der Verwaltung hat
nicht stattgefunden; darauf hat der Kollege Lietz eben
schon hingewiesen. Die Verwaltung beschäftigt nämlich
nahezu genauso viele Menschen wie 2001, nämlich in
etwa 14 400 und nicht 13 000, wie hier immer gesagt
wird. Gemäß der Antwort auf eine Anfrage der Grünen
vom Sommer dieses Jahres sind es 14 400.
({10})
Das entsprechende Beispiel haben wir schon gehabt. Das
ist, bezogen auf die Gesamtlänge der Schifffahrtsstraßen, so, dass etwa alle 500 Meter ein Mitarbeiter oder
eine Mitarbeiterin stehen müsste.
Die seit langem geforderte und in § 7 der Bundeshaushaltsordnung geforderte Prüfung der Vergabe von
Arbeiten an Externe, wenn es denn wirtschaftlich sinnvoll ist, wird seit Jahren durch unklare Ausschreibungsbedingungen und nicht vollkostenorientierte Vergleiche
unterlaufen. Anstatt umzusteuern wird sogar noch einer
draufgesetzt, indem heutzutage darüber nachgedacht
wird, wieder einen Bagger auf Kosten der Schifffahrtsverwaltung einzusetzen, um angeblich einen Markt herzustellen, der so nicht vorhanden wäre.
({11})
Wenn wir Märkte schaffen wollen, dann müssen wir
den Anbietern am Markt die Möglichkeit geben, Geld zu
verdienen.
({12})
Das heißt, wir müssen die Ausschreibungszeiträume und
die Vergabezeiträume so gestalten, dass es auch Sinn
macht. Die Verwaltung macht das Gegenteil.
({13})
- Genau so ist es. Die Vergabe wird auch günstiger sein,
wenn man eine Vollkostenrechnung betrachtet, lieber
Kollege.
({14})
Das Motto der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
lautet nicht: „Wir machen Schifffahrt“, sondern das
Motto lautet: „Wir machen Schifffahrt möglich.“ - Warum also müssen Seezeichen, umgangssprachlich Bojen
oder seemännisch auch Tonnen genannt, von einer Behörde verlegt werden? Das muss keineswegs zwangsläufig so sein. Die Handelskammer Bremen beispielsweise
hat über Jahrhunderte die Tonnen gelegt, um Bremen für
die Schifffahrt erreichbar zu machen. Erst später wurden
diese Aufgaben vom Staat übernommen. Das Gleiche
gilt für die Schleusen, die nicht unbedingt staatlich betrieben werden müssen, und auch für Schiffskonstruktionen. Es wurden eierlegende Wollmilchsäue konzipiert
und zu astronomischen Kosten gebaut, die hinterher aber
trotzdem nicht nutzbar waren.
Das alles sind Beispiele dafür, dass es zwingend notwendig ist, diese Behörde zu reformieren, zu erneuern
und für die Zukunft fit zu machen. Das ist unsere Aufgabe.
Die Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung liegt uns am Herzen. Die Schifffahrt auf See
und auf Binnenrevieren muss effektiv und möglich sein.
Wir werden daher den Umbau mit dem Ziel betreiben,
die Effizienz zu steigern. Die Verwaltung wird langfristig und sozialverträglich zunehmend zum TÜV und weniger zur Autowerkstatt für Wasserstraßen, um das
Ganze einmal ein bisschen anschaulicher zu machen.
({15})
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden weiter
benötigt, weil sie als Einzige über das detaillierte Knowhow verfügen, um Vergaben auch durchführen, kontrollieren und bewerten zu können. Deswegen sind Ihre Ansätze völlig abstrus. Das, was Sie hier in die Öffentlichkeit hinein propagieren, ist völlig abstrus und absurd.
({16})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich komme
zum Ende.
({17})
Schnell, bitte.
Ja. - Wir haben Verantwortung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schifffahrtsverwaltung übernommen. Vor allem haben wir aber auch eine Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern
unseres Landes, den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, dafür übernommen,
({0})
sinnvoll und effektiv mit den Mitteln umzugehen, die
uns zur Verfügung gestellt werden.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat nun Valerie Wilms für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben jetzt ja schon eine ganze Menge gehört. In die
Historie sind wir vom Kollegen Lietz eingeführt worden,
und Kollege Claus hat es irgendwie geschafft, auch noch
die Agenda 2010 einfließen zu lassen. Es hat mich doch
ganz schön gewundert, dass das mit der Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung in Verbindung zu bringen sein soll.
Ich möchte jetzt wieder auf das zurückkommen, was
auch Kollege Staffeldt angesprochen hat, nämlich auf
die Erfahrungen mit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, und das ansprechen, was hinter dieser Verwaltung
steckt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben ein anstrengendes Jahr hinter uns und freuen uns jetzt wirklich
endlich auf Weihnachten, auch wenn durch dieses Fest
bei manchem zwiespältige Gefühle ausgelöst werden.
Manche Weihnachtsgeschenke sind schön verpackt, aber
Enttäuschung macht sich breit, wenn man hineinschaut.
Dieses Gefühl habe ich leider auch bei dem Antrag der
SPD.
Sie reden von der Zukunftsfähigkeit der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung. Ihre Hauptforderung besteht jedoch darin, alles so zu lassen, wie es ist.
({0})
Für zukunftsfähige Lösungen ist es aber erforderlich,
erstens die Probleme zu erkennen, zweitens sie zu untersuchen und drittens wirkliche Verbesserungsvorschläge
zu machen.
({1})
Sie tun aber nichts davon. Sie ignorieren, dass die Bedingungen an den Wasserstraßen und in den Direktionen
unterschiedlich sind.
Ich gebe Ihnen recht, dass wir zum Beispiel eine leistungsfähige Struktur für den Seeverkehr brauchen. Herr
Staffeldt, Sie kennen das ja auch. Sie müssen aber bitte
auch eines zur Kenntnis nehmen: Trotz Investitionen in
Milliardenhöhe stagniert die Binnenschifffahrt seit
20 Jahren. Sie scheren aber alles über einen Kamm. Damit werden Sie vor allem den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht gerecht. Die Menschen verlangen Ehrlichkeit. Das ist oft nicht populär. Es ist aber nun einmal
unsere Aufgabe, das Gemeinwohl und nicht die Interessen einer Verwaltung im Blick zu haben.
({2})
Wir müssen uns deswegen genau ansehen, was vor
Ort los ist. Ich habe mir im jetzt zu Ende gehenden Jahr
viel Zeit genommen und alle sieben Direktionen im Bundesgebiet und das BSH besucht und vor allem auch intensive Fachgespräche mit den Mitarbeitern über die
dort stattfindenden Arbeiten geführt. Ich habe dort viel
Beeindruckendes gesehen. Vielfach habe ich gute Ansätze dafür kennengelernt, wie man die Verwaltung effizienter machen und auf neue Ziele ausrichten kann.
Aber auch die Defizite sind sehr offensichtlich: Es
existieren zu viele Ideen, Strukturen und Vorschläge nebeneinander. Die linke Hand weiß einfach viel zu oft
nicht, was die rechte macht. Trotz Gutachten, Arbeitsgruppen und deutlicher Kritik vom Bundesrechnungshof
ist hier sowohl unter Unions- wie zum Schluss auch unter SPD-Führung im Verkehrsministerium nichts, aber
auch gar nichts Substanzielles passiert.
Mit dieser permanenten Problemignoranz geschieht
genau das, was die SPD mit ihrem Antrag eigentlich verhindern will: Die Haushälter machen uns nämlich den
Hahn dicht; sie sperren uns das Geld, weil nichts passiert. Damit werden einfach nur Stellen abgebaut, aber
die Struktur wird nicht verändert. Das Ergebnis wird
dann tatsächlich eine schlechtere Bewirtschaftung der
Bundeswasserstraßen sein.
Werte Kolleginnen und Kollegen, was wir jetzt wirklich brauchen, ist eine fundierte Analyse unserer Bundeswasserstraßen. Wir müssen fragen: Wo findet der
Verkehr statt? Welche Wasserstraßen müssen erweitert
und saniert werden? Wie können wir die natürlichen Bedingungen unserer Flusslandschaften erhalten? Erst
müssen wir darauf ehrliche Antworten finden, und dann
können wir sagen, welche Verwaltung wir dafür an welcher Stelle und mit welchen Kompetenzen brauchen.
Ich begrüße deswegen ausdrücklich die Signale aus
dem Verkehrsministerium, Herr Ferlemann:
({3})
Jetzt wird eine Überprüfung der Wasserstraßen für das
nächste Jahr angekündigt. Diese ist verdammt lange
überfällig.
Den Damen und Herren von der Koalition kann ich
hier nur eine im Auftrag meiner Fraktion erarbeitete Studie empfehlen. Wir sind eine konstruktive Opposition,
({4})
und wir haben gar nichts dagegen, wenn Sie, Herr
Ferlemann, einmal bei uns abschreiben.
({5})
Das Ministerium muss jetzt endlich sagen, wohin die
Reise gehen soll. Wir werden uns daran aktiv und konstruktiv beteiligen.
An die Kollegen von der SPD appelliere ich: Lassen
Sie hier die Fundamentalopposition beiseite und beteiligen Sie sich konstruktiv.
({6})
Wer eine Reform blockiert, schädigt nachhaltig die Zukunft unserer Wasserstraßen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Hans-Werner Kammer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Nach dem letzten Beitrag hätte ich
meine Rede fast umschreiben müssen, aber der Antrag,
über den wir heute sprechen, setzt sich mit der Wasserund Schifffahrtsverwaltung des Bundes auseinander. Das
ist ein Thema, dessen Bedeutung in der Tat nicht unterschätzt werden darf.
({0})
Als ich den Titel des Antrags las, war ich überrascht:
„Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichern“ - das ist ein Herzensanliegen der Union.
Sollten die Sozialdemokraten vernünftig geworden sein,
Herr Kollege Herzog?
({1})
Nein, das Undenkbare ist nicht geschehen. Die SPD tut
das, was sie am besten kann: Sie geht auf Distanz zu sich
selbst, verleugnet die Reformen der Regierung Schröder,
ignoriert die Zukunft und lebt mit Begeisterung in der
Vergangenheit.
({2})
Im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages
haben fast alle hier vertretenen Parteien das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung aufgefordert, bis zum 26. Januar des nächsten Jahres einen
Bericht über den Umbau der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung von einer Ausführungs- zu einer Gewährleistungsverwaltung vorzulegen. Grundlage dafür sollten
die Ergebnisse einer Projektgruppe aus der SchröderZeit sein. Es ist klar, dass es die Sozialdemokraten waren, die sich ihren eigenen Erkenntnissen verweigerten.
Sie stimmten wieder gegen sich selbst.
({3})
Wir als Union wollen den Wandel, wir wollen die Zukunft:
({4})
Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung wird zusätzliche Aufgaben erhalten, ohne alte Kernkompetenzen zu
verlieren. Wir denken dabei an Natur- und Umweltschutz, Wasserwirtschaft und Wassertourismus. Auch
die Gewährleistung der ökologischen Durchgängigkeit
an Stauanlagen soll in den Aufgabenkatalog der Wasserund Schifffahrtsverwaltung aufgenommen werden.
Die Welt dreht sich, die Welt bewegt sich und verändert sich. Auch wir müssen uns verändern, um zu bleiben. Das gilt auch für Sie. Die Dinosaurier konnten sich
nicht schnell genug anpassen.
({5})
Deren Schicksal wollen wir der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ersparen.
({6})
Das, was andere besser können, soll die Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung an andere vergeben. Die Kernkompetenzen dieser Verwaltung werden wir nicht antasten. Privatisierung darf nicht zu einem Kompetenzverlust des Staates führen. Die Privatisierung staatlicher
Aufgaben findet ihre Grenze in der Verantwortung für
das Gemeinwohl.
({7})
Für uns bedeutet dies, dass hoheitliche und sicherheitsrelevante Aufgaben auch weiterhin von der Wasserund Schifffahrtsverwaltung erledigt werden müssen.
({8})
Wir wollen keinen trägen und verfetteten Staat. Wir wollen einen starken und schlanken Staat, der entschieden
durchgreift, wo es nötig ist, aber auch nur da. Dieser
Staat kann dann Aufgaben der Baudurchführung,
Schleusendecks- und Fährdienste, Fahrwasserausbaggerung und planbare Unterhaltungsmaßnahmen an Dritte
vergeben, wenn er die Fähigkeit behält, deren Leistung
zu beurteilen und zu überwachen. Das ist der entscheidende Punkt.
({9})
Ich glaube nicht, dass wir durch diese moderaten
Maßnahmen Leistungs- und Sicherheitseinbußen hinnehmen müssen. Im Gegenteil: Nach einer Entschlackung geht es im Normalfall immer wieder besser.
Aber lassen Sie mich bitte noch auf diejenigen zu
sprechen kommen, die am meisten von dem Wandel betroffen sind: die Menschen in der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Neben dem Titel gibt es einen wahren
Satz in Ihrem Antrag:
Die wichtigste Ressource der WSV ist ihr Personal.
({10})
Das kann ich nur unterschreiben. Die Mitarbeiter brauchen klare Ansagen und verlässliche Rahmenbedingungen.
Meine Besuche vor allem im Wasser- und Schifffahrtsamt in meiner Heimatstadt Wilhelmshaven haben
mir gezeigt, dass hier hochmotivierte Menschen hart arbeiten. Sie sind der Zukunft zugewandt und offen für
neue Aufgaben.
Wenn ich allerdings in der Zeitung lese - das kam auch
in Ihrem Beitrag zur Sprache, Herr Kollege Herzog -,
dass SPD-Politiker auch bei mir vor Ort das Amt heimsuchen, um dort Angst zu schüren, Panik zu verbreiten
und den nahenden Weltuntergang in den grellsten Farben
schildern,
({11})
dann verstehe ich, dass die Motivation leidet. Dies
würde auch mir aufs Gemüt schlagen.
({12})
Motivation statt Resignation und Aufbruch statt Lähmung: Das sind die Devisen der Union. Deshalb werden
die neuen Aufgaben der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung auch im Bereich des Personals Konsequenzen haben: Im Bereich der hoheitlichen und sicherheitsrelevanten Aufgaben wird es grundsätzlich keinen Stellenabbau
geben. Unser aller Sicherheit kann nur von Profis garantiert werden. Das wissen wir. Das schätzen wir. Das garantieren wir.
({13})
- Wir schicken niemanden in die Wüste. Das können Sie
vielleicht besser.
Es gibt derzeit bedauerlicherweise eine betrübliche
Entwicklung: Wir haben zurzeit ein Moratorium bei der
Wiederbesetzung vakanter Stellen in der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung. Wir haben einen Beförderungsstopp beim gehobenen und höheren Dienst.
({14})
Leidtragende sind die engagierten Mitarbeiter des Wasser- und Schifffahrtsamtes in Wilhelmshaven und ihre
vielen Kollegen in der ganzen Bundesrepublik. Deshalb
hat der Haushaltsausschuss beschlossen, diese Maßnahmen aufzuheben, wenn das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung einen aussagefähigen
Bericht vorlegt. Nur eine Partei hat gegen die Aufhebung des Beförderungsstopps gestimmt: die SPD.
({15})
Gleichzeitig will die SPD die WSV wie eine basisdemokratische Kolchose im öffentlichen Dienst führen.
Solche Experimente sind noch öfter gescheitert als sozialdemokratische Regierungen.
({16})
Deshalb lehnen wir so rückwärtsgewandte Anträge
ab. Für uns ist klar: Schifffahrt tut not. Machen wir sie
möglich. Eine starke maritime Wirtschaft braucht eine
starke Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Nehmen wir
Kurs auf die Zukunft.
Herzlichen Dank.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4030 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Stephan Mayer ({0}), Wolfgang
Börnsen ({1}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Patrick Kurth ({2}), Lars Lindemann, Reiner Deutschmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen - Aussöhnung vollenden
- Drucksache 17/4193 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Thomas Strobl für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 5. August 1950 gaben sich in Stuttgart Vertreter
der Vertriebenen die Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Sie gilt seither als Grundgesetz der deutschen
Heimatvertriebenen. Sie gehört zu den Gründungsdokumenten unseres Landes, und sie ist untrennbar mit der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland verbunden.
({0})
Dieses Grundgesetz der Vertriebenen, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf als schriftlicher Ausdruck der
Entschlossenheit der damaligen Heimatvertriebenen gelten, ihren Beitrag zum Wiederaufbau in Deutschland und
zum Frieden in Europa zu leisten. Dieser dann tatsächlich und in beispielhafter Weise geleistete Beitrag wurde
vom Deutschen Bundestag in einem Entschließungsantrag vor dem Hintergrund des 50. Jahrestages des Endes
des Zweiten Weltkriegs gewürdigt.
Ziel des nunmehr eingebrachten Antrags ist es, die
Leistung der Heimatvertriebenen erneut zu unterstreichen und dafür Sorge zu tragen, dass der Heimatverlust
von 14 Millionen Deutschen zum Mahnmal für alle Vertreibungen der Gegenwart gemacht wird. Revisionismusabsichten sind damit freilich ebenso wenig verbunden wie Versuche, die Einzigartigkeit des Holocaust und
anderer Verbrechen rund um den Zweiten Weltkrieg zu
leugnen.
Thomas Strobl ({1})
Sieben Forderungen werden nun von uns erhoben, die
allesamt dem Ziel der Vollendung der Versöhnung dienen. Einige Forderungen sind wissenschaftlicher Natur
wie die systematische Erfassung von Zeitzeugenberichten oder die Nachwuchsförderung im akademischen Bereich angesichts auslaufender Stiftungsprofessuren im
Bereich „Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“. Andere unserer Vorschläge haben einen wertvollen kollektivpädagogischen Charakter wie etwa der interessante Vorschlag der Deklarierung des 5. August zum
bundesweiten Gedenktag für die Opfer der Vertreibung
oder der Appell zur Unterstützung der Arbeit der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“.
Am Wichtigsten erscheint mir indes die ganz am Anfang gestellte Forderung nach pragmatischer Zukunftsorientierung und nationaler Selbstversöhnung. Tatsächlich sind es ja weniger die Vertreiber von damals, die
einer Aussöhnung im Wege stehen; teilweise sind wir es
eher selbst. Ich denke hierbei beispielsweise an die Kolleginnen und Kollegen, die ganz links in diesem Hohen
Hause sitzen und aus ideologischen Gründen den deutschen Vertriebenen die berechtigte Aufmerksamkeit bis
heute vorenthalten.
({2})
Sie setzen damit das böse Werk der DDR fort, die
Gleiches tat. In Zeiten der deutschen Teilung galten die
Vertriebenen im Osten als unliebsam. Ihr Schicksal
wurde vom SED-Staat verharmlost und ihrem Schmerz
des Heimatverlustes noch die Demütigung des Leid Ignorierens hinzugefügt.
({3})
Diese beschämende Vernachlässigung hat zwar 1990 mit
dem Ende der DDR-Diktatur nachgelassen. Was aber
immer noch fehlt, ist die endgültige Aussöhnung der
Deutschen mit sich selbst. Diese wollen wir mit dem
vorliegenden Antrag voranbringen.
({4})
Wie schon Abraham Lincoln unter Berufung auf ein
Jesus-Wort sagte:
Ein Haus, das mit sich selbst uneins ist, mag nicht
bestehen.
Wir wollen die Vertriebenen in ihrem Bemühen unterstützen, unser Volk durch Erinnerung zu dieser Selbstversöhnung zu führen und damit jene Einigkeit in dem
von Lincoln beschworenen Haus der Nation herzustellen, die zu dessen dauerhafter Stabilität notwendig ist.
Wir wollen die Vertriebenen aber auch als wertvolle
Mittler und Brückenbauer zwischen den Völkern anerkennen, als welche sie schon der frühere Bundesinnenminister Otto Schily zu Recht betrachtet hat. Tatsächlich
prädestiniert die Vertriebenen ihr Schicksal des Heimatverlustes mehr als andere Gruppen zur grenzübergreifenden humanitären Mahnung und Warnung vor künftigen
Vertreibungen. Die deutschen Heimatvertriebenen können aufgrund ihrer leidvollen eigenen Erfahrungen glaubwürdiger als andere Vertreibung als jene Menschheitsgeißel bezeugen, die sie tatsächlich ist, und damit einen
unschätzbaren Beitrag dazu leisten, dass Vertreibung generell geächtet wird.
({5})
Für diese Rolle, meine Damen und Herren, schulden wir
den Vertriebenen nicht nur Anerkennung, sondern auch
unseren ausdrücklichen Dank, den ich in aller Form zum
Ausdruck bringe.
({6})
Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Seiner Heimat
beraubt zu sein, wie es 14 Millionen deutschen Landsleuten nach 1945 widerfuhr, und dennoch nicht auf Rache zu sinnen, sondern aus Überzeugung am friedlichen
Bau des gemeinsamen Hauses Europa mitzuwirken,
({7})
ist ein Akt christlicher Demut und staatsbürgerlicher
Verantwortung, der aller Ehren wert ist.
({8})
Dass die Vertriebenen sich 1950 bereits eine Charta
mit europäischer Dimension gaben, zeugt von ihrem
Weitblick. Diesen Akt sollten wir Nichtvertriebenen nach
Kräften unterstützen und jene Solidarität mit ihnen beweisen, die ein Werk der Versöhnung verdient hat. In diesem Sinne kann die Antwort des Hauses nur eine klare
und deutliche Mehrheit für den vorgelegten Antrag sein.
Danke fürs Zuhören.
({9})
Leider kann ich dem nächsten Redner nicht das Wort
erteilen, da ich noch immer nicht in der Lage bin, so-
wohl hier oben zu sitzen als auch unten zu reden. Ich
gebe also meine Rede zu Protokoll1). Sie müssen darauf
verzichten, meine wohl abgewogenen Worte zu hören.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Patrick Kurth für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir reden heute erneut über ein Thema, das mehr ist
als eine Geschichtsstunde, ein Erinnerungsfestakt oder
ein Folkloreseminar, obwohl das manche gerne so sehen
möchten. Wir reden mehr als über den Austausch von
gleichen oder unterschiedlichen Anschauungen. Nein,
wir reden heute über Vertreibung und ihre Ausmaße bis
heute und in Zukunft. Das ist ein sehr komplexes Thema,
zu dem jede Partei und jede Generation den eigenen
Standpunkt beständig überprüfen muss. Bis heute, bis in
die Gegenwart ist dieses traurige Thema aktuell. Auch in
der Gegenwart gibt es in der Welt Vertreibung und Ent-
1) Anlage 2
Patrick Kurth ({0})
rechtung. Für die Zukunft ist das Gleiche zu erwarten.
Das ist traurige Realität.
Vertreibung ist durch internationales Recht geächtet.
Sie findet dennoch selbst in jüngster Zeit statt. Die Beispiele in Ruanda, Jugoslawien oder Darfur kennen Sie.
Schätzungsweise 70 Millionen Menschen wurden in den
letzten 100 Jahren im Sinne der Vertreibung, über die
wir heute sprechen, vertrieben. Die bis heute aktuellen
Vertreibungen betrachten wir Deutsche mit ganz besonderer Sensibilität, nicht nur weil wir eine große Verantwortung haben, sondern auch weil wir selbst als Deutsche betroffen sind. In diesem Zusammenhang sind der
Antrag und die BdV-Charta zu sehen. Nach dem von
Deutschland ausgehenden Krieg entstand im Nachgang
der zweifelsohne größten Vertreibung diese Charta. Sie
entstand von und durch die Betroffenen, und sie entstand
auch mit Blick auf die künftige Zeit.
Versuchen Sie sich nur einen Moment in die Nachkriegszeit und die Menschen hineinzuversetzen, die den
von Deutschland verursachten Krieg überlebt haben und
ihre Heimat verlassen mussten. Sie mussten Strapazen
der Flucht, die Trauer um den Verlust von Verwandten,
Nachbarn und Eigentum sowie die Schwierigkeit der Integration in die neuen Gebiete auf sich nehmen. Vor kurzem hat eine Tageszeitung kommentiert:
Man stelle sich die Menschen vor, die quasi noch
mit der Kleidung, die sie auf der Flucht trugen, einen Beschluss fassten und auf ihre Heimat verzichteten.
Wenn Sie an diese Umstände, an die Verhältnisse der
Zeit, die Ungewissheit der Zukunft, den aufziehenden
Kalten Krieg denken, dann stellen Sie fest, dass diese
Charta wirklich erstaunlich und zukunftsweisend ist.
({1})
Dazu gehören mehrere Punkte, zum Beispiel der Impuls der Aussöhnung. Das 20. Jahrhundert war bestimmt
durch Krieg, Gewaltherrschaft, Flucht und Vertreibung,
aber auch durch den Willen, sich auszusöhnen. Die
Charta der Heimatvertriebenen zeigte dies schon kurz
nach dem Krieg. Leider fehlt gerade das Element der
Aussöhnung bei so vielen Vertreibungen bis in die
jüngste Zeit. Dazu gehört auch: Die Worte „Rache“ und
„Vergeltung“ spielten damals eine große Rolle. Sie spielen auch in der Gegenwart oft eine große Rolle. In der
Charta werden sie explizit nicht erwähnt. Natürlich kann
man nicht auf etwas verzichten, das einem ohnehin nicht
zusteht. Aber das Vermächtnis bleibt deswegen stark,
weil gerade Rache und Vergeltung bis in die heutige Zeit
eine große Rolle spielen. Mehr noch: Die Vertriebenen
verpflichteten sich schon damals vor allen Parteien zur
Schaffung eines geeinten Europas. Die Heimatvertriebenen wussten, dass nur ein versöhntes und geeintes Europa dauerhaft den Frieden sichern kann.
({2})
Die Charta ist aber auch deshalb bis in die heutige
Zeit von großer Bedeutung, weil sie innenpolitisch radikalen Versuchungen den Boden entzog. Auch das ist
- gerade wenn wir an Jugoslawien denken - ein ganz
starkes Element.
({3})
Sie hat eine große Bedeutung, weil sie wirtschafts- und
gesellschaftspolitisch die Integration von Millionen von
Flüchtlingen und Vertriebenen ermöglichte. Denken Sie
nur an das Wirtschaftswunder. Gerade die gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Integration von Vertriebenen in ihren jeweiligen neuen Ländern fehlt aber bis
heute an vielen Stellen.
Übrigens ist die Vertriebenenfrage bis in die Gegenwart auch bei einer ganz anderen Diskussion von Bedeutung, nämlich bei der deutschen Integrationsdebatte.
Viele Deutsche haben Zuwanderungs- und Integrationserfahrungen, und zwar im eigenen Land. Erinnern Sie
sich, wie Deutsche ihre eigenen Landsleute nach dem
Krieg aufgenommen haben? Oftmals alles andere als
herzlich. Auch diesbezüglich mussten viele dazulernen.
Viele von denen, die heute über Integration reden, haben
in ihrer eigenen Familie Integration erlebt.
({4})
Am Ende aber gilt: Wir wissen um die deutsche
Schuld. Wir wissen, dass das deutsche Reich einen
fürchterlichen Krieg begonnen hat, dass Verbrechen in
bis dahin unbekanntem Ausmaß stattfanden und furchtbares Leid über Europa gebracht wurde. Wir wissen aber
auch von den schrecklichen Folgen, die eine Flucht mit
sich bringt.
Das ist vielleicht eines der stärksten Leitbilder im internationalen Vergleich: Verbrechen dürfen nicht gegeneinander aufgewogen werden. Sonst legitimieren sie ein
Stück weit zahlreiche weitere Vertreibungen, in diesem
Fall diejenigen seit 1945. Schuld und Leid sind immer
individuell, wobei der Holocaust und die Taten der Naziherrschaft einen herausragenden Stellenwert besitzen.
Es ist gut, dass die Koalition noch einmal klarstellt,
wie sie zu Flucht und Vertreibung steht. Ich möchte mich
ganz herzlich bei Klaus Brähmig und bei der Koalition
für die gute Zusammenarbeit bedanken. Es war ein hartes Ringen, zum Teil um jedes einzelne Wort. Am Ende
ist ein sehr guter Antrag herausgekommen, der nicht nur
an die Vorgänge erinnern soll, die geschehen sind, sondern der auch in die Zukunft weist, damit wir in Sachen
Vertreibung und Unrecht urteilsfähig bleiben.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Lukrezia Jochimsen für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Eins vorweg: Ich spreche heute hier als Kriegskind. In
Ihrem Antrag wird die Generation der Kriegskinder besonders erwähnt als eine Bevölkerungsgruppe, der man
bisher zu wenig Zuwendung und wissenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet hat. Außerdem spreche ich hier
als jemand, der zu keiner Zeit in der DDR ideologisiert
worden ist.
Es ist schon sonderbar, welch unterschiedliche Auffassung von Geschichte man als Zeitzeuge haben kann.
Denn so viel Geschichtsklitterung, so viel Ausblendung
von historischen Tatsachen und so viel Verdrehung wie
in diesem Antrag zur Charta der Heimatvertriebenen
kommt aus meiner Sicht selten zusammen.
({0})
Jetzt gehen wir das einmal Schritt für Schritt durch. In
dem Antrag heißt es:
Die Deutschen nehmen Vertreibungen auch deshalb
mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in
ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen
waren.
Es findet sich kein Wort darüber, dass die Deutschen die
brutalsten Vertreiber waren, und zwar lange bevor sie
von Vertreibungen betroffen waren.
({1})
Ausgeblendet werden die Massenvertreibungen ganzer
Völkerschaften unter deutscher Herrschaft.
({2})
Verschwiegen wird die Vertreibung und Ermordung der
Juden, Roma und Sinti.
({3})
Es wird die Charta von 1950 gefeiert, die, genau wie
der Antrag von 2010, die Vorgeschichte der Vertreibung
vollständig ausklammert. Da wird folgender Satz dieser
Charta gefeiert: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf
Rache und Vergeltung.“
({4})
Verzichten? Verzichten kann man doch nur auf etwas,
von dem man glaubt, dass es einem zusteht.
({5})
Der Satz war 1950 ein Unding.
({6})
Ihn 2010 zu feiern, ist eine politische Zumutung.
({7})
Und rächen? An wem sollten sich Heimatvertriebene
1950 eigentlich rächen können? An den Alliierten vielleicht? Was hier zum Ausdruck kommt und laut Antrag
65 Jahre später immer noch Gültigkeit haben soll, ist aus
meiner Sicht moralische Hybris.
({8})
Ralph Giordano hat vor einem Jahr geschrieben:
Mit dem stets im Brustton großmütigen Verzeihens
vorgetragenen Kernsatz macht die „Charta“
Deutschland zum Gläubiger der Geschichte, die
einst okkupierten Länder Mittel- und Osteuropas
aber zu deren Schuldnern. Darin liegt der eigentliche Skandal der „Charta“.
Skandal!
Nein, diese Charta ist kein Meilenstein zu Integration
und Aussöhnung, wie es im Antrag heißt. Im Gegenteil:
Sie verkehrt die Dimensionen von Opfererfahrungen in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf nicht hinnehmbare Weise.
({9})
- Jawohl, das sage ich.
({10})
Auf nicht hinnehmbare Weise wird in dem Antrag
verschwiegen, wer eigentlich diese Charta geschrieben
und unterschrieben hat, zum Beispiel, dass zahlreiche
Unterzeichner Funktionsträger des NS-Regimes waren,
zum Beispiel, dass die frühe Verbandsgeschichte des
Bundes der Vertriebenen eng mit den Nazis verbunden
war, und zum Beispiel, dass der Bund der Vertriebenen
diese Geschichte bis heute nicht aufgearbeitet hat.
({11})
Pure Geschichtsverfälschung betreiben die Autoren
des Antrags auch damit, dass sie behaupten, die Vertriebenen und ihre Verbände hätten eine positive Funktion
bei der Normalisierung des Verhältnisses zu den östlichen Nachbarländern gehabt.
({12})
Auch da ist das Gegenteil der Fall. Die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze war ihr Dogma, und die
Entspannungspolitik gegenüber dem Osten konnte nur
gegen sie durchgesetzt werden.
({13})
Sie nannten das „Verrat“, und Willy Brandt nannten sie
„Verräter“.
Vertreibungen in der Gegenwart, ja, das ist ein
Thema, in der Tat.
({14})
Aber kein Satz zur Lage der Roma und Sinti in Europa!
Hat man irgendwann vom Bund der Vertriebenen etwas
zu den Abschiebungen der Roma in den Kosovo gehört?
Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, ein
angesehenes CDU-Mitglied, hat diese Abschiebungen
heute in Berlin angeprangert. Gerade an diesem Beispiel
könnten Sie deutlich machen, wie wichtig Ihnen die
Lehren aus der Geschichte wirklich sind.
Stattdessen wollen Sie eine Gedenkmöglichkeit bei
der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ einrichten, wahrscheinlich ein Denkmal.
({15})
Zu allem Überfluss wollen Sie einen nationalen Gedenktag für die Opfer von Vertreibungen.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
({0})
Das ist alles falsches, die Geschichte verdrehendes
Pathos. Wir sagen dazu Nein.
({0})
Ich meine, die Antragsteller spielen ein gefährliches
Spiel mit der Geschichte.
({1})
Ich kann nur hoffen, dass die Mehrheit dieses Hohen
Hauses das erkennt und dabei nicht mitmacht.
({2})
Das Wort erteile ich nun Kollegen Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn all
die salbungsvollen Worte, die zum Thema „Vertreibung
und Flucht“ von der Koalition kamen, ernst gemeint
sind, dann müssen Sie beim Thema „Roma aus dem Kosovo“ flüchtlingspolitisch tatsächlich die Konsequenzen
ziehen; ansonsten ist das alles weiße Salbe und bestenfalls Heuchelei.
({0})
Dass die Charta der Heimatvertriebenen 60 Jahre alt
wird, ist für mich als Kind von Vertriebenen kein Grund
zum Feiern. Der 5. August 1950 ist gewiss kein geeigneter Gedenktag, um an das Vertreibungsschicksal zu erinnern.
({1})
- Lassen Sie mich ausreden, dann erzähle ich es Ihnen.
Oder stellen Sie eine Zwischenfrage.
Ich möchte keinen Zweifel aufkommen lassen: Mein
Vater ist selbst vertriebener Sudetendeutscher. Meine
Großeltern wurden in beiden Weltkriegen vertrieben.
Mit den Vertreibungen aus den Ostgebieten und aus
Tschechien in den letzten Wochen und Monaten des
Zweiten Weltkrieges - mit schweigendem Einverständnis der westlichen Alliierten; das gehört auch zur Wahrheit -, ist den Vertriebenen großes Unrecht widerfahren.
Trotz alledem: Weder diese Charta noch die dahinterstehenden Organisationen tragen zur Versöhnung mit unseren osteuropäischen Nachbarn bei.
Sie schreiben in dem vorliegenden Antrag zwar von
einem Geist der Charta für ein geeintes Europa, doch
auch nach mehrfacher Lektüre dieser Charta habe ich
diesen Geist nicht finden können; ganz im Gegenteil.
Der von uns allen hier geschätzte Professor Micha
Brumlik
({2})
schrieb dazu im August in der taz treffend:
Sogar wenn man von der völkischen Schöpfungstheologie absieht, die den Text durchweht, und den
Umstand übergeht, dass viele der Erstunterzeichner
in der NSDAP oder der SS waren
({3})
bzw. Männer, die sich lange vor 1933 in Ostmitteleuropa als Volkstumskämpfer betätigten, zeigt sich
in der Sache, wie falsch die Grundaussage der
Charta ist:
Weder entspricht es der historischen Wahrheit, dass
das Schicksal der Vertriebenen an Leid vom
Schicksal keiner anderen Gruppe in den Jahren
1939 bis 1945 übertroffen wurde,
({4})
- wie es in der Charta heißt noch ist einsichtig, wie man auf Rache und Vergeltung verzichten kann. … Verzichten - feierlich
dazu - kann man nämlich nur auf etwas, was einem
legitimerweise zusteht …
Volker Beck ({5})
Das hat die Kollegin richtigerweise ausgeführt.
({6})
Meine Damen und Herren, die Charta ist ein einseitiges Dokument. Sie klammert die historische Kriegsschuld Nazideutschlands aus,
({7})
und sie erwähnt mit keinem Wort die Verbrechen der
Deutschen, die im Holocaust und in der Ermordung von
6 Millionen Jüdinnen und Juden gipfelten.
({8})
Diese Verbrechen gingen der Vertreibung voraus. Sie
rechtfertigen sie nicht, aber sie stehen im Kontext miteinander.
({9})
Meine Damen und Herren, eine angemessene Erinnerungskultur im Land der Täterinnen und Täter muss anders aussehen. Ihr Antrag stellt an einem Punkt etwas zu
Recht fest. Da heißt es:
So gilt es ebenfalls, an die Vertreibung von über einer Million Polen aus den damaligen polnischen
Ostgebieten und hunderttausender Ukrainer im
Zuge der von der Sowjetunion erzwungenen „Westverschiebung“ Polens zu erinnern.
Richtig, aber auch dazu findet sich in der Charta der
Vertriebenen kein Sterbenswörtchen. Der Deutsche Bundestag kann sich doch nicht positiv auf ein Dokument
beziehen, in dem behauptet wird, dass das Schicksal der
Vertriebenen an Leid in dieser Zeit dem Schicksal keiner
anderen Gruppe vergleichbar ist, sondern das Vertreibungsschicksal diese übertroffen hat.
Meine Damen und Herren von der Union und von der
FDP, Sie alle waren doch schon einmal in einem Konzentrationslager. Sie alle haben sich in Ihrer Heimatstadt
doch schon einmal gefragt: Wo sind eigentlich die Jüdinnen und Juden hin, die früher in unserer Stadt gelebt haben? - Die gibt es nicht mehr; die Familien sind nicht
mehr da, die Straßenzüge sind nicht mehr da. Die Synagogen sind weg. Sie können doch nicht so tun, als ob das
Vertreibungsschicksal in dieser Art und Weise singulär
war.
({10})
Meine Damen und Herren, die Rache- und Verzichtshaltung des Vertriebenenverbandes, die Haltung von
Frau Steinbach zur Oder-Neiße-Grenze, diese Art von
Politik hat mir als Enkel und Kind von Vertriebenen zum
zweiten Mal die Heimat genommen. Ich war in Tschechien, ich war in der Slowakei, aber als Kind von Sudetendeutschen war ich niemals im Sudetenland, weil ich
mich mit Ihren Verbandsfunktionären und Ihrer Ideologie nicht gemein machen wollte. Das war für mich persönlich vielleicht ein Fehler, aber das zeigt, wie schwierig es ist, zu einer Heimat ein Verhältnis zu finden, wenn
das Heimatgefühl und Rückbesinnungsgefühl mit dieser
Art von revanchistischer Ideologie und der Politik Ihres
Verbandes konnotiert ist.
({11})
- Wenn Sie das unglaublich finden, dann nenne ich Ihnen gerne einige Erstunterzeichner der Erklärung von
Stuttgart 1950:
({12})
- Lassen Sie mich noch drei Sätze sagen. - Rudolf
Wagner, Sprecher der Landsmannschaft der Deutschen
Umsiedler aus der Bukowina - SS-Obersturmbandführer -,
Erik von Witzleben, Sprecher der Landsmannschaft
Westpreußen - SS-Offizier -, Walter von Keudell, Sprecher der Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg ({13})
erst in der DNVP, dann in der NSDAP -, Josef Walter,
Vorsitzender des Landesverbands der Heimatvertriebenen in Hessen - ({14})
Herr Kollege, Sie müssen trotzdem zum Ende kommen.
Er war stellvertretender Hauptgeschäftsführer der sudetendeutschen Wirtschaftskammer und zuständig für
die Verteilung des jüdischen Vermögens im Reichsprotektorat Böhmen/Mähren.
Meine Damen und Herren, das ist nur ein Auszug aus
der langen Liste von Komplizen und Tätern des NS-Regimes, die diese Charta unterzeichnet haben. Im Geiste
Europas brauchen wir eine andere Grundlage für die
Versöhnung. Nur dann werden wir einig sein, Herr
Strobl, in diesem Haus Deutschland.
({0})
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Frau Kollegin Jochimsen,
Herr Kollege Beck, ich halte es für unwürdig und beschämend,
({0})
wie Sie mit Ihren Reden auf dem Schicksal von
15 Millionen Vertriebenen und deren Nachkommen herumtrampeln und einen Gründungsakt der Bundesrepublik Deutschlands diskreditieren,
({1})
der an Größe aus meiner Sicht kaum zu übertreffen ist.
Davor sollte man Respekt haben.
({2})
Um mit den Worten unseres Bundestagspräsidenten,
Professor Lammert, zu sprechen: Es handelt sich bei der
Charta der Heimatvertriebenen um das Gründungsdokument der Bundesrepublik Deutschland und
({3})
- um ihn weiter zu zitieren - um ein bleibendes Vermächtnis für die Zukunft des wiedervereinigten
Deutschlands. Ich möchte hinzufügen: auf das wir Deutsche alle stolz sein können, egal, ob wir einen Vertriebenenhintergrund haben oder nicht.
({4})
Meine sehr verehrten Kollegen Jochimsen und Beck,
ich wundere mich schon, mit welchem Hochmut, mit
welcher Arroganz
({5})
Sie hier ein Dokument diffamieren, das vor 60 Jahren
proklamiert wurde. Das halte ich für abscheulich und für
in jeder Hinsicht traurig und beschämend.
({6})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, man
muss sich wirklich in die Zeit zurückversetzen.
({7})
Es ist leicht, jetzt, 60 Jahre später, über ein Dokument zu
urteilen und zu sagen: Da hätte noch der eine Satz hineingehört, und der andere Satz hätte noch etwas ausführlicher dargelegt werden müssen. Sie müssen sich der
Ehrlichkeit halber einmal in die Zeit um 1950 zurückversetzen: 15 Millionen Deutsche sind am Ende und nach
dem Zweiten Weltkrieg vertrieben worden.
({8})
3 Millionen davon kamen auf schreckliche und barbarische Art und Weise ums Leben. Viele sind gedemütigt
und vergewaltigt worden.
({9})
Fast alle waren traumatisiert. Man hat im Jahr 1950
durchaus andere Dinge angesichts von 8 Millionen Heimatvertriebenen in Westdeutschland erwartet. Die 4 Millionen Heimatvertriebenen in Ostdeutschland durften
sich ja gar nicht äußern. Deren Schicksal ist in jeglicher
Weise verniedlicht und in keiner Weise gewürdigt worden.
({10})
Man hatte durchaus befürchtet, dass sich diese 8 Millionen Deutsche radikalisieren würden. Aber das ist nicht
eingetreten.
({11})
Sie haben auf jegliche Rache, auf jeglichen Revanchismus, auf jeglichen Hass verzichtet.
({12})
Ich halte das im Nachhinein für höchst bemerkenswert.
Alle Deutsche können auf diese heroische Leistung stolz
sein.
({13})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Jochimsen?
Sehr gerne.
Herr Kollege, ich kann mich sehr gut in die Jahre
1950 und folgende versetzen. Ich war damals ein junges
Mädchen und nachher eine junge Frau. Ich frage Sie: Ist
Ihnen eigentlich bekannt, wie viele Millionen Ausgebombte, wie viele Menschen, die alles Hab und Gut verloren haben, wie viele Schwerverletzte 1950 in Deutsch9058
land gelebt haben und dass nicht nur die Vertriebenen
das Schuldschicksal dieses schrecklichen Krieges zu tragen hatten, sondern auch Millionen von Menschen im
Lande selbst?
Es ging mir persönlich nie um eine Aufrechnung.
Aber ich verwahre mich dagegen, dass man sagt,
({0})
eine Gruppe sei die vom Schicksal am schlimmsten betroffene gewesen, und so tut, als hätte es 1950 eine Normalgesellschaft von solchen gegeben, die im Gegensatz
zu den Heimatvertriebenen kein Leid erfahren hätten.
Ich kann Ihnen sagen: Ich kann mich sehr gut in die
Zeit von 1950 versetzen. Ich möchte einmal wissen, ob
Sie eine Vorstellung davon haben, wie viele Millionen
Erwachsene und Kinder in beiden Teilen Deutschlands
1950 unter diesem Kriegsleid gelitten haben.
Frau Kollegin Jochimsen, mir ist nicht nur bekannt,
welch großes Unheil der Zweite Weltkrieg über
Deutschland gebracht hat,
({0})
sondern auch - dies möchte ich ganz deutlich betonen -,
welch schreckliches Unheil der Zweite Weltkrieg, der
unbestreitbar von deutscher Hand ausgegangen ist, über
die gesamte Welt gebracht hat.
({1})
Das wird von niemandem, insbesondere auch nicht vom
Bund der Vertriebenen bestritten, ganz im Gegenteil.
Sie werden doch nicht negieren können, dass am
Ende des Zweiten Weltkriegs Menschen nur aufgrund
der Tatsache, dass sie an einem bestimmten Ort wohnten, vertrieben wurden, unabhängig davon, ob ihnen persönliche Schuld zuteilwurde oder nicht.
({2})
Ich möchte schon betonen: Das Schlimmste und, wie
ich glaube, auch das Schwerwiegendste, was man einem
Menschen antun kann, ist, dass man ihm seine Heimat
nimmt. Ich persönlich habe noch sehr gut die Schilderung meiner Großeltern, die aus dem Sudetenland stammen, in den Ohren, wie schlimm es ist, wenn man aufgefordert wird, innerhalb von zwölf Stunden das eigene
Haus, das man sich mühsam aufgebaut hat, zu verlassen,
({3})
maximal 30 Kilogramm Gepäck mitnehmen darf und die
Heimat nie mehr wiedersieht.
Frau Kollegin Jochimsen, ich möchte auch noch einmal betonen, dass Sie aus meiner Sicht den großen Fehler begehen, Unrecht gegen Unrecht aufzuwiegen. Unrecht ist etwas Singuläres.
({4})
Es bestreitet doch keiner, dass von deutscher Hand katastrophales Unrecht über den ganzen Globus verbreitet
worden ist. Aber das rechtfertigt in keiner Weise das Unrecht, das 12 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten
Weltkriegs und danach zuteilwurde.
({5})
Das ist der historische Fehler, den Sie begehen: Sie wiegen das eine gegen das andere auf. Diesen Fehler machen wir nicht, und diesen Fehler dürfen wir nicht machen.
({6})
Frau Kollegin, Sie haben jetzt nicht das Wort, sondern
Herr Mayer hat das Wort.
Frau Kollegin Jochimsen, es war ein herausragender
Akt der Versöhnung und Verständigung, dass die Heimatvertriebenen am 5. August in Stuttgart-Bad Cannstatt
diese Erklärung proklamiert haben.
({0})
Diese Erklärung sollte heute nicht nur der Erinnerung
dienen, sondern sie sollte in progressiver Hinsicht auch
dafür dienen, dass sich das Leid, das 15 Millionen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg wiederfahren ist, nie
mehr wiederholt. Deswegen ist es umso wichtiger, dass
der 5. August den Status eines nationalen Gedenktags
bekommt.
Ich sage ganz offen: Wir werden hier leisten müssen,
was der Bundesrat im Jahr 2003 beschlossen hat, nämlich dass der 5. August nationaler Gedenktag wird. Hier
sind wir - auch das sage ich ganz offen - als gesamter
Deutscher Bundestag in der Bringschuld. Ich hoffe, dass
uns dies alsbald gelingt. Gerade für die jungen Leute
müssen wir uns dafür einsetzen, dass sich das nicht wiederholt, was sich im letzten Jahrhundert viel zu oft ereignet hat, nämlich massenhafte Vertreibungen.
Vertreibung hat an Aktualität leider Gottes nicht verloren.
({1})
Just an diesem Tag sind 44 Millionen Menschen auf diesem Globus auf der Flucht oder vertrieben worden. Das
zeigt ganz deutlich, dass es leider Gottes noch immer ein
Stephan Mayer ({2})
viel zu aktuelles Thema ist. Gerade deshalb ist es wichtig, dass der 5. August ein nationaler Gedenktag wird.
Ich bin insbesondere sehr dankbar, dass es uns in dem
gemeinsamen Entschließungsantrag der christlich-liberalen Koalition gelungen ist, aufzunehmen, dass wir die
Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ noch weiter
vorantreiben wollen. Wir sind hier auf einem guten
Weg. Es waren schwierige Monate. Das Jahr 2010 war
kein einfaches Jahr. Insbesondere der Hintanstellung
jeglicher persönlicher Interessen der Präsidentin des
BdV - dies sage ich hier in aller Deutlichkeit - ist es zu
verdanken, dass sich die Stiftung so erfolgreich weiterentwickeln konnte. Der Kollegin Erika Steinbach gilt in
diesem Zusammenhang großer Dank und hohe Anerkennung.
({3})
Es ist die historische Wahrheit, dass es die Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht gäbe, wenn
Erika Steinbach als BdV-Präsidentin im Jahr 2000 nicht
die Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ gegründet
hätte, damals mit Peter Glotz an ihrer Seite, der leider
Gottes viel zu früh verstorben ist.
Erika Steinbach hat die Charta der Heimatvertriebenen als Akt der Selbstüberwindung bezeichnet. Ich
glaube, genau das ist es auch. Es ist bemerkenswert, dass
in der Präambel der Charta der Gottesbezug mit aufgenommen wurde. Ich darf deutlich machen, dass der progressive Charakter der Charta sehr entscheidend ist, um
mit den Worten von George Santayana, einem amerikanischen Philosophen und Schriftsteller, zu sprechen:
Wer sich der Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.
({4})
Ich glaube, das sollten wir uns ins Stammbuch schreiben.
Ich darf mit dem Schlusssatz der Charta enden, meines Erachtens ein herausragendes Dokument:
Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus
Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns
alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden
wird.
Den Sinn dieses Satzes sollten wir uns immer vor Augen
halten.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W.
Birkwald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ausweitung der Assistenzpflege
auf Einrichtungen der stationären Vorsorge
und Rehabilitation
- Drucksache 17/3746 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Ilja
Seifert für die Fraktion Die Linke das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einem Beispiel: Zwei Personen werden ungefähr zeitgleich mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert. Beide erhalten ungefähr dieselbe Diagnose. Beide bekommen im
Krankenhaus die erforderliche Behandlung. Der eine ist
Rollstuhlfahrer und wird nicht nur von den Krankenschwestern und -pflegern versorgt, sondern hat auch
noch seine Assistentin oder seinen Assistenten dabei, die
oder der ihm hilft, seinen Alltag zu bewältigen. Der andere geht anschließend in die Reha. Der Mensch mit
Rollstuhl geht nicht in die Reha, weil er seine Assistentin oder seinen Assistenten dorthin nicht mitnehmen
kann. Wie soll er wieder gesund werden? So ist zurzeit
die Situation in Deutschland.
Wir haben hier kurz vor der Bundestagswahl 2009 gemeinsam beschlossen, dass Menschen mit Behinderung
ihre Assistentin oder ihren Assistenten, wenn sie oder er
nach dem Arbeitgebermodell beschäftigt ist, mit ins
Krankenhaus nehmen können, weil inzwischen eingesehen wurde, dass dort besondere Bedingungen herrschen,
die man nur mit der Assistentin oder dem Assistenten
bewältigen kann. Das ist aber weder in der Vorsorge,
also bei prophylaktischen Maßnahmen, noch in der
Nachsorge möglich. Deshalb legt die Linke jetzt einen
Gesetzentwurf vor, der diese Lücke schließt.
Lassen Sie Menschen mit Behinderung sowohl prophylaktische Maßnahmen als auch kurative Maßnahmen
als auch Reha-Maßnahmen mit ihrer Assistentin oder ihrem Assistenten bewältigen, damit sie voll am Leben
teilhaben können, so wie es die UN-Behindertenrechtskonvention vorschreibt.
({0})
Wir schlagen hier eine kleine gesetzgeberische Maßnahme vor. Es entsteht kein großer Aufwand; es ist un9060
problematisch zu regeln. Es bedarf keiner großen Aktionspläne, keiner Umsetzungskonzeptionen und auch
keiner großen Datenerhebungen; die Kosten sind überschaubar.
Ich weiß wie die meisten von Ihnen, die sich mit der
Problematik beschäftigen, dass das nur ein kleiner
Schritt auf dem Weg ist, den wir gehen müssten: Eigentlich müssten wir auch den Menschen, die ihre Assistenz
nicht nach dem Arbeitgebermodell beschäftigen, die
Möglichkeit geben, ihre Assistentin oder ihren Assistenten sowohl bei Vorsorge- als auch bei Behandlungs- und
Nachsorgemaßnahmen mitzunehmen. Aber lassen Sie
uns wenigstens diesen kleinen Schritt gehen.
Das Ziel muss sein - dazu haben wir alle uns verpflichtet, als wir das UN-Übereinkommen über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert und
es damit ohne Vorbehalte in nationales Recht umgesetzt
haben -, die volle Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen zu sichern. Volle Teilhabe heißt im Krankheitsfall, dass wir wieder richtig gesund werden können, jedenfalls, was eine akute
Krankheit wie den Herzinfarkt angeht. Die Menschen
haben gelernt, mit ihrer Behinderung zu leben; aber wir
dürfen ihnen nicht zumuten, zusätzlich krankgemacht zu
werden.
({1})
Bitte ergreifen Sie die Initiative, springen Sie über Ihren
Schatten und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Kollegin Maria Michalk für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch zur fortgeschrittenen Abendstunde wird
wohl niemand in unserem Land ernsthaft bestreiten, dass
die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland
und vor allen Dingen seit der Wiedervereinigung vor
20 Jahren Schritt für Schritt verbessert wurden.
({0})
Es ist aber auch unbestritten, dass es in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit hier und da noch Teilbereiche
gibt, in denen Optimierungsbedarf besteht. Das ist ein
immerwährender Prozess; ich glaube, bei dieser Feststellung sind wir uns einig.
Eher uneinig sind wir uns mit den Initiatoren des in
Rede stehenden Gesetzentwurfs hinsichtlich der Schrittfolgen und der Geschwindigkeit bestimmter Initiativen.
Warum? Kurz vor Ende der letzten Wahlperiode, am
5. August 2009, haben wir das Gesetz zur Regelung des
Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus in Kraft gesetzt.
({1})
Dieses ermöglicht es Behinderten mit besonderem pflegerischen Bedarf, ihre eigenen, bei ihnen beschäftigten
Pflegekräfte mit einem Kostenanspruch für Übernachtung und Verpflegung gegenüber dem jeweiligen Krankenhausträger in das Krankenhaus mitzunehmen. Wir
haben mit diesem Gesetz vor einem Jahr die Hoffnung
verbunden, dass die persönlichen Assistenzkräfte mit
dem Krankenhauspersonal sehr gut zusammenarbeiten
und die pflegerische Versorgung für Menschen mit Behinderung deutlich verbessert wird, weil sie die vertrauten Pflegekräfte Tag und Nacht um sich haben.
Es wurde geschätzt, dass für diese Leistungen der
Pflegeversicherung, für die Weiterzahlung des Pflegegeldes jährlich Aufwendungen in Höhe von 50 000 Euro
entstehen. Das war damals die Einschätzung. Die Kosten
der gesetzlichen Krankenversicherung waren wegen der
nicht bekannten Verweildauer - die spielt in diesem Zusammenhang auch eine Rolle - kaum zu schätzen.
Schon damals hat die Fraktion Die Linke einen Änderungsantrag auf Ausweitung der Leistungen auf Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen nach § 107 SGB V
gestellt. Auch wurden Stimmen laut, die die Anbindung
der Leistungen an das Arbeitgebermodell kritisierten,
weil geistig Behinderte oder Menschen mit Demenzerkrankungen, die von ihren Angehörigen gepflegt werden,
nicht in den Genuss dieser Leistungen kommen. Das kann
ich nachempfinden. Andererseits bauen wir auch in Zukunft nicht nur auf die Solidarität in unserer Gesellschaft
als Ganzes, sondern auch auf die Solidarität in den Familien. Wir werden es nicht schaffen, alles finanziell auszugleichen, was an Liebe, Fürsorge, Unterstützung und Solidarität in der Familie geleistet wird. Das verdient mehr
als bisher unsere größte Hochachtung. Dies ist die richtige
Stelle, um das noch einmal zu erwähnen.
({2})
Nun ist gerade einmal ein Jahr seit Inkrafttreten dieses Gesetzes vergangen. Wir müssen hier und da feststellen - das gebe ich zu -, dass es mit der Umsetzung der
persönlichen Assistenz im Krankenhaus noch nicht hundertprozentig klappt. Manche Krankenhäuser sind über
das Gesetz und seine Inhalte wohl unzureichend informiert. Immer wieder hören wir von Beispielen, dass es
bei der Aufnahme der Assistenzperson zu Problemen
kommt.
Ich finde, wir haben zunächst einmal nicht ein Regelungsdefizit, sondern ein Umsetzungs- und Anwendungsproblem. Gleichwohl nehme ich das Anliegen einer Gleichberechtigung bei der persönlichen Assistenz
in anderen Verweilorten ernst. Wir sind auch nach der
UN-Behindertenkonvention gehalten - da sind wir uns
einig -, uns mit den unterschiedlichsten Lebensumständen und den sehr individuellen Lebensstandards auseinanderzusetzen. Das gilt zum Beispiel auch für stationäre
Einrichtungen zur Behandlung nach einem Suchtentzug;
so etwas ist auch gemeint. Man kann auch vermuten,
dass Menschen mit Behinderung gerade in Rehabilitationseinrichtungen die erforderlichen Hilfen erhalten,
vielleicht sogar eher als in einem Krankenhaus. Darüber
kann man sehr gut reden.
Unser Leben ist sehr individuell. Deshalb haben wir
als Gesetzgeber Schwierigkeiten, nicht nur in diesem
Punkt, die Wechselfälle des Lebens in ein und demselben Gesetz einzufangen. Mancher Fortschritt ist nur deshalb gelungen - gerade in der sozialen Gesetzgebung -,
weil es auch den Mut zur Lücke gab, wenn keine verlässlichen Daten vorlagen. Schritt für Schritt ist dann
nachgebessert worden. Klarheit in der Gesetzgebung bedeutet, neben sachlichen Argumenten immer auch die finanziellen Auswirkungen zu betrachten.
Ich hoffe, die Offenheit für das Anliegen als solches
ist klargeworden. Dazu stehen wir.
({3})
Wir wollen die Daten aber erst einmal dahin gehend prüfen, wie es um die praktische Umsetzung steht. Dafür ist
es ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes aber viel zu
zeitig.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass dies den Regelungsbedarf des SGB IX als auch den des SGB XII
betrifft. Deshalb müssen auch die Kommunen in die
Diskussion einbezogen werden. Ich sage: Im Sinne der
UN-Behindertenrechtskonvention und zugunsten der betroffenen behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger
plädieren wir für eine Gesetzesberatung, aber nach dem
Prinzip „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Hilde Mattheis für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist in diesem Haus wichtig, sich die Lebenssituationen
von Menschen mit Behinderungen immer vor Augen zu
halten und darauf zu achten, dass es in der Tat um Antidiskriminierung und Teilhabe geht.
({0})
Ihre Initiative, das, was Sie vorlegen, ist richtig und
wichtig. Ich bedanke mich ganz ausdrücklich bei Ihnen.
Denn uns alle eint, glaube ich, das Bestreben, für Menschen mit Behinderungen - vor allem in besonderen Lebenslagen - Erleichterungen und Hilfen zu gewährleisten, und zwar für alle.
Deswegen haben wir vor anderthalb Jahren hier im
Deutschen Bundestag das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus verabschiedet.
Dieses gemeinsame Anliegen, Menschen mit Behinderungen, die einen besonderen Assistenzbedarf haben, im
Falle eines Krankenhausaufenthaltes eine Pflegekraft an
die Seite zu stellen, die ihr Vertrauen genießt und die vor
allen Dingen um diesen besonderen Pflegebedarf weiß
und ergänzend zu dem, was das Krankenhauspersonal
leistet, Hilfestellungen bieten kann, ist richtig und wichtig.
Bis dahin gab es keinen Anspruch gegenüber den
Kostenträgern auf Mitaufnahme dieser Pflegekraft ins
Krankenhaus und auch keinen Anspruch auf Weiterzahlung der Leistungen während der Dauer des Krankenhausaufenthaltes. Das hatte zur Folge - dies ist mit unseren Sozialgesetzbüchern das eine oder andere Mal der
Fall -, dass sich die Kostenträger für nicht zuständig erklärt haben oder - das ist noch schlimmer - dass Menschen mit hohem Hilfebedarf notwendige Untersuchungen und Krankenhausaufenthalte vermieden haben, was
natürlich mitunter gravierende Folgen für ihren Gesundheitszustand hatte.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode diese Sicherheit gewährleistet. Wir haben mit diesem Gesetz
nicht nur die Mitaufnahme garantiert, sondern auch die
Zahlung des Pflegegelds für die Dauer von stationären
Aufenthalten zur Akutbehandlung sowie bei krankenhausersetzender häuslicher Krankenpflege und für die
Dauer einer stationären Leistung zur medizinischen Rehabilitation gewährleistet. Wir haben mit dem Gesetz
auch Hilfe zur Pflege für die Dauer des stationären Krankenhausaufenthaltes gewährt, sodass die Möglichkeit
der Weiterbeschäftigung einer besonderen Pflegekraft
gesichert ist.
Mit diesen Maßnahmen haben wir den Forderungen
vieler Verbände entsprochen, die die Interessen von
Menschen mit Behinderungen vertreten. Das war, meine
ich, zu Recht ein großes Anliegen. Mit damals hochgerechnetem geringem finanziellen Einsatz wurde mit dem
Assistenzpflegebedarfsgesetz für eine Personengruppe
in unserer Gesellschaft Gutes bewirkt.
({1})
Wir haben die Gesetzesänderungen in den entsprechenden Sozialgesetzbüchern V, XI und XII verankert.
Allerdings steht eine Evaluierung noch aus. Es ist zum
Beispiel unklar, ob es weiterhin Probleme mit Kostenträgern gibt. Der vorliegende Gesetzentwurf ist sicherlich
ein guter Anlass, das Thema erneut aufzugreifen. In dem
jetzt in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurf der
Partei Die Linke wird gefordert, die Assistenzpflege auf
Einrichtungen der stationären Vorsorge und der Rehabilitation auszuweiten.
Wir als SPD
({2})
können diese Forderung generell unterstützen.
({3})
- Ja, wir als SPD können diese Forderung generell sehr
unterstützen. Wir sind uns absolut einig, dass wir diese
Forderung unterstützen, Herr Zöller.
({4})
Denn sie betrifft, wie ich bereits dargestellt habe, insbesondere Menschen mit einem ganz starken individuellen
Hilfebedarf.
Unser Appell lautet: Lassen Sie uns in dem jetzt beginnenden Verfahren auch die Bilanz aus dem ziehen,
was wir vor anderthalb Jahren gemeinsam auf den Weg
gebracht haben.
({5})
Wie war die Wirkung des Assistenzpflegebedarfsgesetzes seit seinem Inkrafttreten? Wie viele Menschen konnten davon profitieren? War der 2009 aufgestellte Finanzrahmen einigermaßen gut kalkuliert? Wird die Leistung,
wie es unsere Absicht war, auch in der medizinischen
Reha gewährt? Wird dadurch auch die Vorsorge abgedeckt? Denn in § 111 SGB V werden Vorsorgeeinrichtungen und Rehaeinrichtungen gleichgesetzt.
Dies alles sollten wir gemeinsam im Sinne der Menschen mit Behinderungen klären. Ich bin mir sicher, dass
wir dann in diesem Hause, genauso wie 2009, eine ganz
breite Mehrheit für dieses gemeinsame Anliegen hinbekommen und weiter Gutes bewirken können.
In diesem Sinne bedanke ich mich.
({6})
Das Wort hat nun Erwin Lotter für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Gut
gemeint ist nicht immer gut gemacht. Die Motivation
mag nachvollziehbar sein; aber der Gesetzentwurf geht
an der Realität vorbei. Zunächst einmal kommt diese
Diskussion hier und jetzt zur falschen Zeit.
({0})
Denn das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus wurde erst im Juli 2009 vom
Bundestag beschlossen. Über die Erfahrungen bei der
Umsetzung des Gesetzes gibt es seither noch keine Erkenntnisse.
({1})
Niemand weiß das besser als die Linke selbst.
({2})
Sie, Herr Kollege Seifert, haben die Bundesregierung
im Juni und im Oktober 2010 nach einem Erfahrungsbericht gefragt.
({3})
Beide Male lautete die Antwort gleich: Es gibt aufgrund
der kurzen Geltungsdauer des Gesetzes noch keine Erfahrungen.
({4})
Insbesondere gibt es keine Erfahrungen, die auf die dringende Notwendigkeit der Ausweitung der betroffenen
Einrichtungen hindeuten würden. Außerdem hat das Bundesgesundheitsministerium Ihnen, Herr Seifert, deutlich
gemacht: Eine Erweiterung des Leistungsanspruchs auf
Einrichtungen über den Krankenhausbereich hinaus wird
nicht in Aussicht gestellt. Das war vor zwei Monaten.
Wozu also jetzt diese Debatte?
({5})
Die Linke nimmt in ihrem Gesetzentwurf Bezug auf
die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen. Die Ausdehnung des Assistenzbedarfs
für Menschen mit Behinderungen leitet sie aus Art. 25
dieser Konvention ab. Nichts könnte verfehlter sein.
Denn bereits in der Debatte im Juli 2009 wurde deutlich,
dass sich schon das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus nicht aus dieser UN-Konvention ableiten ließ.
Aus diesem Grund hat sich die FDP seinerzeit der
Stimme enthalten. Zu Recht haben wir die Auffassung
vertreten, dass die Aufnahme einer Begleitperson im
Krankenhaus bereits in § 2 der Bundespflegesatzverordnung geregelt ist. Dieser beschreibt die aus medizinischen Gründen notwendige Mitaufnahme einer Begleitperson des Patienten. Eine Neuregelung war daher
unnötig, und unnötigen Gesetzen stimmen wir nicht zu.
Wenn die Linke jetzt auch noch die Ausweitung des
Gesetzes auf die Bereiche Vorsorge und Rehabilitation
aus der UN-Konvention ableiten möchte, ist dies noch
weniger begründet. Bereits in der Debatte im Jahr 2009
wollte die Linke die Zahlungen für Assistenzpfleger ausweiten. Sie wollte neben den Krankenhäusern die Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen gemäß § 107
SGB V in den Leistungskatalog aufnehmen. An der
Situation des letzten Jahres hat sich aber nichts geändert.
Der Gesetzentwurf der Linken kann nicht aus der
UN-Konvention abgeleitet werden.
({6})
Sehen wir uns einmal die Realität an. Es ist sicher aus
behindertenpolitischer Sicht erfreulich, dass die Assistenzpfleger im Krankenhaus an der Seite der Betreuten
sind. Wir haben aber noch keine Erkenntnisse über den
tatsächlichen Bedarf. Die medizinisch hochwertige Betreuung ist ja allein schon durch den Krankenhausaufenthalt rund um die Uhr gewährleistet.
Wir haben ferner keine Erkenntnisse, ob auch im
Vorsorge- und Rehabilitationsbereich Assistenzpfleger
zwingend benötigt werden. In der Regel dauern Vorsorge- und Rehamaßnahmen sehr viel länger und sind
sehr viel zeitaufwendiger als Krankenhausaufenthalte.
Das bedeutet: Die Pfleger werden bei voller Bezahlung
für einen erheblichen Zeitraum auf ihre reine Begleitfunktion reduziert. Die Linke behauptet, das vorhandene
Rehapersonal könne die Assistenzleistung nicht in der
nötigen Qualität und im nötigen Umfang erbringen. Dies
entspricht schlichtweg nicht den Tatsachen. Es entwertet
die Arbeit, die von den Menschen im Krankenhaus und
in den Rehazentren erbracht wird.
Die Argumentation der Linken ist an den Haaren herbeigezogen. Sie behaupten, es seien Mehrkosten von
circa 150 000 Euro zu erwarten. Das ist reines Wunschdenken. Ihr Gesetzentwurf hätte eine fatale Konsequenz.
Die Leistungsverpflichtungen der Kommunen würden
erheblich ausgeweitet. Gleiches gilt für die Verpflichtungen der Pflegeversicherung, und dies ohne jede zwingende Begründung.
Die Linke führt in ihrem Antrag aus: Zu erwartende
Mehrausgaben „sollen im Ergebnis nicht die Kommunen
mit zusätzlichen Kosten belasten.“ Schön wäre es, meine
Damen und Herren. Natürlich würden die kommunalen
Haushalte belastet; denn die Assistenten werden aus dem
SGB XII finanziert. Schon in der Anhörung zum Assistenzpflegebedarfsgesetz im Jahr 2009 wurde übrigens
von der Sozialhilfe klargestellt: Die Kosten wären für
die Sozialhilfeträger erheblich.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Im Jahr 2009 war ich
behindertenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Ich habe die Diskussion um die Assistenzpfleger aufmerksam verfolgt. Damals wie heute sage ich
klar: Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen muss in Deutschland ohne
Wenn und Aber in nationales Recht umgesetzt werden.
Aber für ein Gesetz im Sinne der UN-Konvention gibt es
doch eine ganz klare Voraussetzung: Die vorgeschlagenen Maßnahmen müssen die Situation der betreuungsbedürftigen Behinderten nachweisbar und dauerhaft verbessern. Dann kann man sich auch über eine Novellierung unterhalten. Dann kann man auch darüber sprechen, ob nicht entsprechend Geld in die Hand genommen werden sollte. Wenn künftige Erfahrungsberichte
erweisen, dass die derzeitige Lage nicht zufriedenstellend ist, können wir diese Debatte ansetzen. Voraussetzung wäre die Erkenntnis: Eine Ausweitung eines Gesetzes auf Vorsorge- und Rehaeinrichtungen ist medizinisch zwingend geboten.
Aber zunächst werden wir die Auswirkungen der gerade erst vor 17 Monaten in Kraft getretenen Regelungen
abwarten und sorgfältig auswerten. Vielleicht lässt sich
dann ja Anpassungsbedarf feststellen.
Sie wollen die Parteien der Regierungskoalition als
behindertenfeindlich darstellen. Nicht mit uns, liebe
Kolleginnen und Kollegen, und schon gar nicht mit mir.
Wir werden uns für alle Maßnahmen einsetzen, die sinnvoll sind im Interesse der Behinderten. Schaumschlägerei aber ist ineffektiv und würde Kosten verursachen, die
wir nicht mittragen. Dies ist nicht im Interesse der Betroffenen, und dies ist auch nicht im Sinne derjenigen,
die ihr Engagement und ihre Arbeitskraft für unsere behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen.
({7})
Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor anderthalb Jahren haben wir an gleicher Stelle
schon einmal über den Assistenzpflegebedarf von Menschen mit Behinderung beraten. Wir haben damals unsere Bedenken und auch unsere Anmerkungen zu dem
verabschiedeten Assistenzpflegebedarfsgesetz kundgetan. Uns ging es damals ums Ganze. Es ging uns darum,
Menschen mit Behinderung ganzheitlich zu betrachten.
Es ging uns um die Verbesserung der gesundheitlichen
Versorgung, und es ging uns auch darum, Menschen mit
Pflegebedarf in den Blick zu nehmen.
Das Assistenzpflegebedarfsgesetz hat aber genau diesen ganzheitlichen Blick nicht. Es weist nämlich einen
Mangel auf, den leider auch der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke nicht beseitigt. Der Mangel liegt in dem
kleinen Anspruchskreis von Leistungsempfängerinnen
und Leistungsempfängern. Es profitieren nämlich nur
diejenigen, die ihre Alltagsunterstützung und Pflege
durch von ihnen persönlich angestellte besondere Assistenzkräfte sicherstellen. Dabei stellt sich natürlich die
begründete Frage: Was passiert mit den anderen pflegebedürftigen Menschen mit Behinderung, mit denen nämlich, die ihre Assistenz von ambulanten Diensten oder
anderen Anbietern erhalten? Diese haben zu Recht den
gleichen Wunsch und auch Bedarf, aber dummerweise
beschäftigen sie ihre Assistenzen nicht nach dem Arbeitgebermodell. Eine derartige Ungleichbehandlung bei
gleichen Bedarfen lässt sich wirklich nur sehr schwer
vermitteln.
({0})
Für uns ist das unverständlich und auch inkonsistent.
Je weniger es einem Menschen mit Behinderung möglich ist, selbstbestimmt ein Arbeitgebermodell zu managen - dafür gibt es wirklich gewisse Voraussetzungen -,
umso geringer ist die Chance auf Assistenzpflege im
Krankenhaus oder in Vorsorge- oder Rehaeinrichtungen.
Das erklären Sie einmal einem Menschen mit Behinderung, der von diesen Regelungen nicht profitiert!
Es ist also eine privilegierte Gruppe von Menschen
mit Behinderung, die vom Assistenzpflegebedarfsgesetz
profitiert. Das gilt ebenso bei der geplanten Erweiterung
durch den nun vorgelegten Gesetzentwurf.
({1})
Die Bundesregierung hat in der Beantwortung einer
Kleinen Anfrage vom 15. September 2010 als eine Maß9064
gabe des Assistenzpflegebedarfsgesetzes angeführt, dass
Versorgungsbrüche vermieden werden sollen. Die vertrauten Betreuungspersonen sollen den auf Hilfe angewiesenen Personen auch in kritischen Versorgungssituationen zur Verfügung stehen. Eine Regelungslücke sei
durch das Assistenzpflegebedarfsgesetz geschlossen
worden, so die Bundesregierung.
In ihrer Antwort verkennt die Bundesregierung, dass
diese Lücke eigentlich sehr viel größer ist. Durch das
Assistenzpflegebedarfsgesetz in seiner jetzigen Form
wird nur für einen kleinen Kreis von Menschen mit Behinderung ein Schutzschirm aufgespannt. Ein Großteil
der Betroffenen wird unbeachtet im Regen stehen gelassen. Daran wird auch durch den Gesetzentwurf der Fraktion der Linken nur bedingt etwas geändert.
Hinzu kommt noch, dass wir bisher nur wenig bis gar
nichts über die Annahme der Regelung zur Assistenzpflege in Krankenhäusern wissen. Aus diesem Grund
möchte ich die Bundesregierung auffordern, uns in absehbarer Zeit über den Sachstand und die Erfahrungen
mit dem Assistenzpflegebedarfsgesetz im Krankenhaus
für Menschen mit Behinderung zu unterrichten.
({2})
- Guten Abend.
({3})
Reden Sie ruhig weiter, Frau Kollegin.
Ja, ich möchte aber auch gehört werden.
Das ist ein ganz unerheblicher Vorgang.
({0})
Nein, nein, auch wenn Sie es nicht unerheblich finden, wenn die FDP ihre Reihen auffüllt. Ich möchte
gerne, dass auch diese Herren in den Genuss meiner
Rede kommen.
Uns ist an einer guten und nachhaltigen Gesundheitsversorgung gelegen. Verbesserungen können wir nur erzielen, wenn wir ausreichend und transparent informiert
werden.
({0})
- Es freut mich, dass Sie jetzt hierhergekommen sind, es
würde mich aber noch mehr freuen, wenn Sie zuhören
würden.
({1})
Frau Kollegin, Sie müssen aber allmählich zum Ende
kommen.
({0})
Wir werden uns dem Gesetzentwurf nicht versperren,
weil es uns um die Betroffenen geht, anders offensichtlich als Ihnen gerade. Wir müssen aber grundlegend
überdenken, wie die zukünftige Weiterentwicklung des
Assistenzpflegebedarfsgesetzes, über die wir hier gerade
reden, aussehen soll.
Vielen Dank.
({0})
Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich Kollegen Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte das kurz
zusammenfassen: Wir sprechen gerade - und haben gesprochen; ich möchte das kurz zusammenfassen - über
einen Gesetzentwurf,
({0})
mit dem gefordert wird, dass Menschen mit Behinderung ihre persönliche Assistenz nicht nur ins Krankenhaus, sondern auch in die oft folgende medizinische Rehabilitationsmaßnahme und in stationäre Vorsorgemaßnahmen mitnehmen können.
Man wird sich jetzt natürlich fragen, warum über all
das zu dieser späten Stunde - viele externe Zuhörer gab
es ja nicht - hier noch einmal so ausführlich diskutiert
wird. Ich glaube, das hat auch ein bisschen damit zu tun,
dass die Linken in ihrem Gesetzentwurf neue Leistungen
fordern, was sie deutlich machen und auch in bestimmten Situationen vor Wahlkämpfen deutlich machen wollen, weil sie dort, wo sie selbst in der Regierungsverantwortung sind - ich kann es Ihnen ja nicht ersparen, das
zu sagen -, Leistungen für Menschen mit Behinderung
gekürzt und eingespart haben.
({1})
Das gilt etwa in Berlin für die Kürzung des Blindengeldes zu Zeiten der rot-roten Koalition, das gilt für Einsparungen im Bereich der Behindertenfahrdienste, für Einsparungen bei Mobilitätshilfen und bei Wohlfahrtsverbänden.
({2})
- Ja, ich will nur, dass man versteht, was die Motivation
dafür ist, dass das alles jetzt in dieser Weise als eine einzelne Initiative vorgetragen wird.
({3})
In der Sache leuchtet es mir völlig ein, dass Menschen
mit Behinderung ihre Assistenzkräfte, die sie im Arbeitgebermodell beschäftigen, selbstverständlich sowohl zu
stationären Klinikaufenthalten als auch zu Vorsorge- und
Rehabilitationsmaßnahmen mitnehmen wollen. Nach
wie vor halte ich die Schaffung des gesetzlichen Anspruchs auf die Mitnahme der Assistenz bei stationären
Krankenhausaufenthalten für richtig. Dies ist unter Mitwirkung der Union und aufgrund wesentlicher Impulse
beispielsweise unseres damaligen Behindertenbeauftragten Hubert Hüppe gelaufen, des Vorgängers von Maria
Michalk.
({4})
Ich meine nach wie vor - darin unterscheide ich mich
vielleicht ein bisschen von anderen Rednern -, es war
eine richtige Entscheidung der vorigen Bundesregierung
und der vorigen Koalition, diese Leistung einzuführen.
({5})
- Ich habe ja gesagt, ich habe volles Verständnis für jeden, der sich das als Betroffener wünscht, auch wenn es
eben - Frau Scharfenberg hat das hervorgehoben - auf
das Arbeitgebermodell begrenzt ist. Ich habe volles Verständnis dafür, dass jemand, der dies als Betroffener im
Krankenhaus nutzt, es auch in Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen nutzen will.
Aber wenn wir eine solche Erweiterung des Leistungsanspruchs wollen, dann muss das sorgfältig vorbereitet werden. Darin hat Kollege Lotter doch komplett
recht.
({6})
Dazu gehört, dass die Auswirkungen der bestehenden
Regelung, die immerhin erst am 31. Juli 2009 in Kraft
getreten ist, beobachtet und ausgewertet werden. Ich
habe das Gefühl, auch darüber, dass das zu geschehen
hat, besteht Einvernehmen im Haus.
Auf dieser Grundlage kann dann geprüft werden, ob
und in welcher Form gesetzgeberischer Anpassungsbedarf besteht. Ich bin Herrn Lotter und der FDP-Fraktion
ausgesprochen dankbar dafür, dass er betont hat: Wenn
sich zeigt, dass dort Handlungsbedarf besteht, dann ist
selbstverständlich auch Bereitschaft zum Handeln vorhanden.
({7})
Selbstverständlich bedeutet eine Leistungsausweitung
auch höhere Kosten für die Träger der Sozialhilfe. Das
ist ein Problem, das es immer wieder erschwert, zusätzliche Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen zu
treffen. Dennoch haben wir in den vergangenen Jahren
in der Politik für diese Menschen vieles erreicht. Mit der
Ratifizierung der UN-Konvention, dem Sozialgesetzbuch IX und dem Rechtsanspruch auf Leistungen in
Form des Persönlichen Budgets haben wir wichtige Regelungen auf einem Weg zu gleichberechtigter Teilhabe
von Menschen mit Behinderung verabschiedet. Als
CDU/CSU-Fraktion haben wir daran einen wichtigen
Anteil.
Aber in der Praxis zeigt sich, dass diese Ansprüche
mitunter zu spät, nur zum Teil oder auch gar nicht umgesetzt werden; auch das gehört zur Realität. Das kann uns
alle hier im Haus nicht ruhen lassen. Für uns ist es deshalb ein wichtiges Anliegen, die Eingliederungshilfe
weiterzuentwickeln. Hier besteht Reformbedarf, um eine
moderne und teilhabeorientierte Behindertenpolitik weiterhin zu ermöglichen. Ich glaube, dass wir uns auch in
diesem Punkt fraktionsübergreifend einig sind oder zumindest einig sein müssten. Bei all unseren Forderungen
und Verbesserungsvorschlägen brauchen wir dann aber
auch die Unterstützung der Länder und der Kommunen,
denn sie tragen in erster Linie die Kosten für Eingliederungshilfeleistungen. Der Grundsatz muss sein: Leistungen müssen dem Menschen mit Behinderung entsprechen, nicht der Mensch den Leistungen.
Ich habe vorhin vom Sozialgesetzbuch IX gesprochen. Darin gibt es etwas, was mich regelrecht aufregt,
nämlich dass Menschen mit Behinderung bei der Suche
nach den zuständigen Kostenträgern entgegen der geltenden Rechtslage immer noch viel zu häufig von einer
Stelle zur anderen weitergereicht werden, ohne die für
sie erforderlichen Leistungen zu bekommen.
({8})
Das ist eine besonders ärgerliche Form von Schwarzer
Peter. Fristen für die Bearbeitung von Anträgen werden
nicht eingehalten, unterschiedliche Leistungen nicht koordiniert.
Ich glaube, wir müssen uns über die Zukunft Gedanken machen und gegebenenfalls eine andere Ausgestaltung der gemeinsamen Servicestellen in Betracht ziehen,
die wir im Sozialgesetzbuch IX geschaffen haben. Ich
kann mir zum Beispiel vorstellen, über ein neues Miteinander von Servicestellen, Pflegestützpunkten, Pflegeberatungsstellen und ähnlichen Stellen zu reden.
Ich komme zum Schluss. Politische Entscheidungen,
die Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt
betreffen, müssen sich an den Inhalten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
messen lassen. Ich appelliere an uns alle: Schaffen wir
nicht noch mehr Bürokratie! Vereinfachen wir den Behördendschungel, damit die Betroffenen nicht ständig
von Pontius zu Pilatus laufen müssen, um das zu bekommen, was ihnen zusteht. Das gilt nicht nur für diejenigen,
die ihre Assistenz nach dem Arbeitgebermodell organisieren, sondern für alle Menschen mit Behinderungen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/3746 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Es folgen jetzt zehn Tagesordnungspunkte hinter-
einander. Ich bitte um angemessene Aufmerksamkeit,
wenn Sie schon hier eingetroffen sind.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika
Steinbach, Arnold Vaatz, Ute Granold, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so-
wie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal
Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Freie und gleiche Wahlen in Belarus einfor-
dern - Menschenrechtslage verbessern
- Drucksache 17/4194 -
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Erika
Steinbach, Uta Zapf, Marina Schuster, Wolfgang
Gehrcke, Marieluise Beck.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf
Drucksache 17/4194. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der Grü-
nen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der
SPD angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Tressel, Nicole Maisch, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Durchsetzung und Evaluation des Reiserechts
verbessern
- Drucksache 17/4041 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus
Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
1) Anlage 3
Reisende besser schützen
- Drucksachen 17/2428, 17/4019 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Gabriele Hiller-Ohm
Horst Meierhofer
Abg. Markus Tressel
Auch hier ist vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll
zu geben. - Sie sind einverstanden. Folgende Kollegen
wollten sprechen und haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Peter Wichtel, Marlene Mortler, Gabriele Hiller-
Ohm, Jens Ackermann, Kornelia Möller, Markus
Tressel.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4041 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 18 b. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4019, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2428
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/
Die Grünen und den Linken bei Stimmenthaltung der
SPD angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Einsetzung eines Nationalen
Normenkontrollrates
- Drucksache 17/1954 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2})
- Drucksache 17/4241 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Kai Wegner
Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben, und
zwar von den Kollegen Kai Wegner, Andrea Wicklein,
Frank Schäffler, Michael Schlecht und Kerstin
Andreae.3)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/4241, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/1954 in der Ausschussfassung anzuneh-
2) Anlage 4
3) Anlage 5
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
({3})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Energiesteuer- und des
Stromsteuergesetzes
- Drucksachen 17/3055, 17/3307 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksache 17/4234 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Schindler
Ingrid Arndt-Brauer
Dr. Birgit Reinemund
- Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/4235 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({6})
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Hierzu liegen ein gemeinsamer Änderungsantrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie
ein weiterer Änderungsantrag und ein Entschließungsan-
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Auch hier
sind die Reden zu Protokoll gegeben worden, und zwar
von den Kollegen Norbert Schindler, Peter Aumer,
Ingrid Arndt-Brauer, Birgit Reinemund, Barbara Höll
und Lisa Paus.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4234, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksachen 17/3055 und 17/3307 in der Ausschussfassung anzunehmen.
({7})
1) Anlage 6
- Es finden hier also noch künstlerische Betätigungen
statt?
({8})
Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen, vollbringe ich
doch gerade die rhetorische Meisterleistung, die Abstimmungen in hohem Tempo zu absolvieren.
({9})
Wir stimmen zunächst über die Änderungsanträge ab,
und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4251. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4252: Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD und der Linken abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit denselben Mehrheitsverhältnissen wie zuvor
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4253. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/
CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei
Enthaltung der Linken abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Ulla Burchardt, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern verlässlich weiterentwickeln
- Drucksache 17/4187 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Monika Grütters,
Tankred Schipanski, Ernst Dieter Rossmann, Swen
Schulz, Patrick Meinhardt, Rosemarie Hein und Priska
Hinz.
Vor fast genau sechs Monaten, am 10. Juni 2010, haben wir im Plenum bereits einmal einen Antrag der SPD
diskutiert. Der Titel des Antrags lautet „Nationalen Bildungspakt für starke Bildungsinfrastrukturen schaffen“.
Die Ähnlichkeiten zum nun vorliegenden Antrag „Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern verlässlich weiterentwickeln“ entgehen dem aufmerksamen Leser nicht.
Der Grund dafür, dass die SPD ihren alten Wein noch
einmal in neue Schläuche packt, ist schnell gefunden.
Denn die Verabschiedung des Bundeshaushalts 2011 vor
wenigen Wochen hat noch einmal deutlich gemacht, wie
ernst die christlich-liberale Bundesregierung ihr Bekenntnis zur Schaffung der Bildungsrepublik Deutschland nimmt: Wie schon im Jahr 2010 werden auch im
Jahr 2011 die Mittel für Bildung und Forschung um
mehr als 7 Prozent erhöht. Die Steigerung des Gesamthaushaltes um 782 Millionen auf nun insgesamt mehr
als 11,6 Milliarden Euro ist in Zeiten der Schuldenbremse ein starkes Zeichen, das Bildung und Forschung
für diese Regierung absolute Priorität genießen.
Der gerade erschienene Bildungsfinanzbericht bestätigt diese Einschätzung ausdrücklich. Im Jahr 2010 werden die öffentlichen Bildungsaufgaben in Deutschland
zum ersten Mal die Grenze von 100 Milliarden Euro
überschreiten. Auch einen Hinweis auf die Gründe für
diese Steigerung gibt der Bildungsfinanzbericht: „Als
Ergebnis politischer Entscheidungen stiegen die öffentlichen Bildungsausgaben im Vergleich zu den gesamten
öffentlichen Ausgaben überproportional.“
Ich empfehle den Kollegen hier noch einmal einen
Blick in unseren Koalitionsvertrag „Wachstum. Bildung.
Zusammenhalt“. Die christlich-liberale Koalition hält
ihre Versprechen nicht nur mit einem aktuellen Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent, sondern auch mit einem nie dagewesenen Engagement für Bildung und Forschung.
Das reizt die Opposition natürlich - und statt eine
verantwortungsbewusste und nachhaltige Politik zu
würdigen, legt die SPD ihre wenig originellen Ideen
schon wieder vor. Viel Neues ist Ihnen nicht eingefallen.
Noch immer beschränkt sich Ihre Kreativität auf die
plumpe Forderung nach noch mehr Geld und einem
noch größeren Engagement des Bundes. Fast ein wenig
dreist ist Ihre Haltung, dem Bund die alleinige Verantwortung für die Erreichung des 7-Prozent-Ziels für die
Bildung zuzuschieben, und das auch noch „unbeschadet
der föderalen Zuständigkeiten“, wie Sie es ja ausdrücklich formulieren. Dazu gehört schon ein gerüttelt Maß
an Ignoranz. Sie fordern, dass der Bund bis 2015 die
notwendigen jährlichen Mehrausgaben von 20 Milliarden Euro alleine tragen soll: 10 Milliarden Euro über einen „direkten Beitrag“ und die anderen 10 Milliarden
Euro durch Transfers des Bundes an die Länder und
Kommunen. Dieses Verständnis von „Bildungszusammenarbeit“, in dem der eine zahlt, während der andere
das Geld nach bildungsideologischem Gutdünken ausgeben darf, ist eine gedankenlose Übernahme der Versorgungsmentalität, die so mancher SPD-Bildungsminister in den letzten Wochen zur Schau gestellt hat.
Dabei investiert diese Bundesregierung bereits mehr
Geld in die Bildung, als jede andere Regierung das je
zuvor getan hat. Das gilt im Übrigen auch für alle Regierungen, die von SPD und Grünen gebildet wurden.
Ich darf Ihnen zwei Beispiele nennen: Wir unterstützen
die Studierenden in Deutschland bei der Finanzierung
ihres Studiums im kommenden Jahr mit mehr als
1,7 Milliarden Euro. Damit haben wir die Förderung in
diesem Bereich im Vergleich zu Rot-Grün - 2005:
1,1 Milliarden Euro - um mehr als 53 Prozent ausgebaut.
In die konkrete Verbesserung der Lehre an den Hochschulen investieren wir in diesem Jahr 780 Millionen
Euro, zum Beispiel durch den Wettbewerb „offene Hochschule“ und den Bologna-Mobilitätspakt. Damit übertreffen wir die Förderung der letzten rot-grünen Regierung in diesem Bereich bei weitem. 2005 hatten SPD
und Grüne hierfür nämlich nur 9 Millionen Euro übrig,
obwohl die Umsetzung des Bologna-Prozesses bereits
seit 1999 auf der Tagesordnung stand.
Die ersten Ergebnisse unserer Investitionen in die
Bildungsrepublik Deutschland können wir bereits jetzt
sehen:
Im Jahr 2010 konnte das Statistische Bundesamt wieder einen Rekord bei den Studienanfängerzahlen vermelden. 442 000 junge Menschen haben im Jahr 2010
ein Studium aufgenommen, 4 Prozent mehr als noch
2009. Das ist auch ein Verdienst unseres Engagements
bei der Studienfinanzierung. Mit BaföG-Erhöhung, der
Stärkung der Begabtenförderungswerke und der Einführung des Deutschlandstipendiums schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass möglichst viele junge Menschen ein Studium finanziert bekommen.
Auch sorgen wir dafür, dass sich wieder vermehrt
junge Menschen aus bildungsfernen Schichten für ein
Studium entscheiden. Die letzte Studie des HIS hat gezeigt, dass die Studierquote in dieser Gruppe um 6 Prozent angestiegen ist, während die Studierquote bei Kindern aus bildungsnahen Schichten „nur“ um 3 Prozent
stieg. Anders als die Opposition gern polemisiert, sorgen wir dafür, dass die Kluft zwischen bildungsfernen
und bildungsnahen Schichten kleiner wird und eben
nicht wächst. Das schaffen wir, weil wir unsere Bildungspolitik verantwortungsvoll und nachhaltig gestalten und uns nicht in ideologischen Debatten erschöpfen.
Auch die aktuelle PISA-Studie, die Deutschland signifikante Fortschritte in allen Teilbereichen attestiert,
zeigt, dass die Bundesregierung unter Angela Merkel
und mit Annette Schavan im Bildungsbereich ihre Versprechen hält.
Das beste Beispiel dafür, wie man es nicht macht, ist
leider nicht nur hinsichtlich der PISA-Studie wieder einmal Berlin. Nicht nur, dass wir einen rot-roten Senat haben, dem nicht mehr einfällt, als Gymnasiumsplätze verlosen zu lassen; nun haben wir auch noch eine grüne
Spitzenkandidatin, die sich vorstellen kann, diese erfolgreichste aller Schulformen „mittelfristig“ ganz zur Disposition zu stellen.
Damit bin ich auch schon beim Kooperationsverbot,
das die Bildungsdebatte zwischen Bund und Ländern
wesentlich prägt. Sie sprechen sich in Ihrem Antrag für
eine verstärkte Kooperation zwischen Bund und Ländern aus. Sie haben recht: Schaut man sich die Bildungsergebnisse der SPD-geführten Bundesländer an
und vergleicht diese mit den CDU-geführten Bundesländern, dann kann man wirklich nur zu dem Schluss kommen, dass ein stärkeres Engagement dieser christlich-liberalen Regierung in den SPD-geführten Länder
wirklich notwendig wäre.
Die Bundesbildungsministerin und auch meine Fraktion haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir einer Fortentwicklung der Verfassungswirklichkeit offen
gegenüberstehen. Bund und Länder sollten in der Tat gemeinsam dafür Sorge tragen, die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems nicht nur gemeinsam „festzustellen“ sondern „sicherzustellen“. Es sind allerdings die
Länder, in denen die Bereitschaft, dem Bund eine angemessene Mitsprache zu ermöglichen, noch nicht in ausreichendem Maße gegeben ist. So lange bleibt nur der
Appell an eben diese Länder, ihrer Verantwortung für
die Bildung dann auch finanziell angemessen gerecht zu
werden.
Bisher hat es Annette Schavan jedenfalls mit großer
Kunstfertigkeit verstanden, dem Bund mit intelligenten
Instrumenten ein Engagement in der Bildungspolitik zu
ermöglichen. Mit Exzellenzinitiative und Hochschulpakt
hat die Ministerin Wege jenseits des Kooperationsverbotes gefunden, die wirksam genutzt werden.
So ist die Fortentwicklung des Hochschulpakts eine
Möglichkeit, um auf den absehbaren Anstieg der Studierendenzahlen aufgrund der Aussetzung der Wehrpflicht
zu reagieren. Fest muss aber stehen, dass ein Engagement des Bundes nicht mit einem finanziellen Rückzug
der Länder einhergehen darf, wie das anscheinend dem
Berliner Bildungssenator Zöllner und einigen anderen
Bildungsministern vorschwebt.
Der Bund wird seine Verantwortung für die Bildungspolitik wahrnehmen, das zeigt nicht zuletzt der Haushalt
des BMBF. Er wird aber die Länder nicht aus ihrer
- auch finanziellen - Verantwortung für das Bildungssystem entlassen. Dies zu glauben wäre ein Missverständnis unseres föderalistischen Systems, und das wird
in meiner Fraktion keine Zustimmung finden.
Der Antrag der SPD-Fraktion „Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern verlässlich weiterentwickeln“ findet zumindest in seinem Titel Zustimmung
über Fraktionsgrenzen hinweg. Es ist lobenswert, dass
sich die SPD aktueller bildungspolitischer Fragen annimmt und durchaus konstruktive Vorschläge unterbreitet. Ideen und Vorstellungen müssen aber immer in der
Wirklichkeit, allen voran in der Verfassungswirklichkeit
eingebettet sein, ansonsten wird man schnell wie die
Partei Die Linke zu einer Partei der Utopien.
Die Bildungspolitik liegt in unserem Bundesstaat primär im Verantwortungsbereich der Länder. Dieser verfassungsrechtliche Fakt stößt auf große Ablehnung in
der Bevölkerung. Dies belegen uns beinahe jede Woche
neue Umfragen in den Zeitungen. Unser Volk wünscht
sich ein stärkeres Engagement des Bundes in der Bildung, es wünscht sich mehr Vergleichbarkeit, Transparenz und Konstanz.
Auch wenn wir als Bundespolitiker dies ähnlich bewerten, können wir dies nicht „von oben“ verordnen,
und wir dürfen auch in der Bevölkerung nicht den Eindruck erwecken, dass wir dies könnten. Politik muss ehrlich sein. Zur Ehrlichkeit gehört, dass ohne ein „Mitmachen“ der Länder im Bereich der Bildung nichts geht. So
kann die SPD-Bundestagsfraktion noch so gute Modelle,
Ideen und Vorschläge erarbeiten - ohne ein Miteinander
mit den Bundesländern wird die Umsetzung nicht gelingen.
Der Bund hat durch die christlich-liberale Koalition
seinen Part vorbildlich gestaltet. Wir gestalten die Bildungsrepublik Deutschland. Massive Aufwüchse im
Haushalt des BMBF und ein intensives Arbeiten mit den
Bundesländern bei der Exzellenzinitiative, dem Hochschulpakt 2020, dem Pakt für Forschung und Innovation, dem Qualitätspakt Lehre. Diese Pakte sind finanziell hervorragend ausgestattet. Einen im Antrag
geforderten zusätzlichen „Nationalen Bildungspakt“
bedarf es nicht. Allen voran ist nicht einzusehen, warum
der Bund für Maßnahmen zahlen soll, die im alleinigen
Zuständigkeitsbereich der Bundesländer liegen.
Es sind einige Bundesländer, die nicht „mitziehen“,
insbesondere die, in denen die SPD Verantwortung
trägt. Das haben uns die jüngsten Diskussionen um das
Deutschlandstipendium und die BAföG-Novelle gezeigt.
Es ist ein Versagen der Länder in der Bildungspolitik,
insbesondere bei der finanziellen Schwerpunkt- bzw.
Prioritätensetzung. Auch der Bund hat eine angespannte Haushaltslage, aber für uns haben Bildung und
Wissenschaft höchste Priorität. Für uns ist eine gute
Bildungspolitik die beste Sozialpolitik. Bundesbildungsministerin Annette Schavan ist stetig bemüht, mit den
Ländern Grundlinien der Bildungspolitik festzulegen,
und sucht eine konstruktive Zusammenarbeit. Doch die
Bundesländer verwehren uns oftmals diese konstruktive
Zusammenarbeit, primär aus ideologischen und parteitaktischen Gründen. Die Länder kommen ihrer verfassungsmäßigen Aufgabe im Bereich der Bildung nicht
mehr nach.
Richtig erkennt der vorliegende Antrag daher, dass es
einer Koordinierung der Bildungszusammenarbeit bedarf. Der im Antrag vorgeschlagene Ausbau des Nationalen Bildungsberichtes ist eine Idee. Ob sie zielführend
ist, vermag ich aus der heutigen Perspektive nicht zu beurteilen. Entscheidend ist, dass die Bundesländer die
Notwendigkeit einer Koordinierung durch den Bund anerkennen. Die Kultusministerkonferenz ist das gelebte
Zu Protokoll gegebene Reden
Gegenteil eines modernen Föderalismus. Doch zeigt uns
die Ausgestaltung des Art. 91 b Abs. 2 GG, dass der
Bund eine begrenzte Rolle im Bildungsbereich hat. Hier
wünscht sich unsere Bildungsministerin die Möglichkeit
eines stärkeren Engagements. Art. 104 b GG enthält und
enthielt auch vor den Föderalismusreformen keine generelle Befugnis zur Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Bildungs- und Forschungsbereich. Der Bund
scheint danach nicht befugt zu sein, über Investitionshilfen hinaus inhaltlich Einfluss auf die Bildungspolitik der
Länder zu nehmen.
Wir dürfen aber eines nicht vergessen: Die klare Aufgabenzuweisung im Bundesstaat ist eingebettet in unsere Verfassung. Unsere Verfassung ist gekennzeichnet
von verschiedenen Verfassungsprinzipien. So ist im
Bund-Länder-Verhältnis der „Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens“, die sogenannte Bundestreue,
elementar. Dieses Prinzip ist - als ungeschriebene Generalklausel - als staatsrechtliche Ausprägung des
Grundsatzes von Treu und Glauben zu verstehen. Es verpflichtet - so das Bundesverfassungsgericht - den Bund
und die Länder, „bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das
Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange
der Länder zu nehmen“. Diesen Fakt müssen die Bundesländer begreifen. Sie müssen die koordinierende
Funktion des Bundes wollen. Nur dann kann Bildungszusammenarbeit in einem modernen Föderalismus gelingen.
Gestern haben sich einmal mehr die Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin zu einem Bund-LänderGipfel getroffen, deren Vorgängertreffen in den letzten
zwei Jahren bekanntlich zu „Bildungsgipfeln“ stilisiert
worden sind. Davon könnte nun in diesem Jahr keine
Rede sein, obwohl der Bedarf für eine bessere Koordinierung und für gemeinsame Aktionen von Bund und
Ländern doch aktueller denn je ist. Die jüngsten PISAStudien haben gezeigt, dass das konzertierte Vorgehen
von Bildungspolitikern in Kommunen, Ländern und
Bund für eine gute Bildungspolitik auch gute Ergebnisse
hervorbringen kann. Dies macht Mut, dieses Zusammenwirken auch in der Zukunft fortzusetzen. Nicht zuletzt
deshalb mehren sich auch die Stimmen, die die absolut
überflüssige und unverständliche Selbstfesselung des
Bundes und Selbstkasteiung der Länder durch das sogenannte „Kooperationsverbot“ aus den leidigen Zeiten
der Föderalismusreform I zurecht infrage stellen. Die
Einsicht wächst: Wenn in Zeiten von Finanzenge in den
öffentlichen Haushalten Bildung weiterhin Priorität haben soll, brauchen wir gerade mehr und nicht weniger
Kooperation.
Schließlich stellen wir auch fest: In der bildungspolitischen Debatte fordern immer mehr Stimmen eine Bundeseinheitlichkeit im schulischen Bildungsbereich ein.
Viele sind es leid, zwischen den Bundesländern auf unterschiedliche Schulsysteme und nicht aufeinander abgestimmte Lehr- und Lerninhalte zu treffen. Das müssen
auch die jährlich über 100 000 Kinder, die von einem
Bundesland in ein anderes ziehen, am eigenen Leib erfahren, wenn sie so nicht die Chancen, sondern die
Grenzen des deutschen Föderalismus und seine Zersplitterung im Bildungsbereich leidvoll selbst erfahren müssen.
Konsens und Kooperation müssen also Leitprinzipien
für eine Politik sein, die sich an den tatsächlichen Bildungsbedürfnissen und Bildungserfordernissen orientiert. Dann stellt sich aber die Frage, welche praktisch
zugänglichen Wege wir in der gegenwärtigen Verfassung der Bundesrepublik und bei der Vielfalt der politischen Akteure konstruktiv gehen können, um diesen
Prinzipien gerecht zu werden. Um es glasklar zu sagen:
Die SPD ist nicht dafür, die landespolitische Zuständigkeit für die Bildung durch eine Bundeszuständigkeit abzulösen. Dies würde nicht nur den Grundprinzipien der
Verfassung widersprechen, es wäre auch bildungspolitisch falsch. Denn natürlich liegen in der landesbezogenen, sehr konkreten und direkten Ausgestaltung von
schulischen Bildungsangeboten auch große Chancen.
Die SPD sieht aber auch mit großer Sorge, wie das
Zusammenwirken von Bund und Ländern in der Bildungspolitik in der Vergangenheit hin und her geschwankt ist. Oft gab es da euphorische Ankündigungen
von Bildungsgipfeln, die aber von Kohl bis Merkel dann
doch vor allem Attrappe und schöner Marketing-Schein
gewesen sind. Dem gegenüber steht dann wieder der Minimalismus vieler kleiner Punkt-zu-Punkt-Entscheidungen und Verabredungen, die trotz aller Widerstände unter dem Druck der Verhältnisse dennoch zustande
gekommen sind. Für eine zukunftsgerichtete Bildungspolitik brauchen wir eine neue und nachhaltige sowie
konkret gefasste Bereitschaft, die Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern verlässlich weiterzuentwickeln.
Als machbares Projekt möchten wir Ihnen mit diesem
Antrag die Aufwertung der seit fünf Jahren erfolgreich
eingeführten Bildungsberichterstattung hin zu einem Instrument von offener Bildungskoordinierung und -beratung vorschlagen. Wir sehen hierin eine große Chance
für eine bessere, offene Koordinierung der Bund-Länder-Bildungszusammenarbeit. Dazu soll die Bundesregierung ein Konzept für die Weiterentwicklung des Nationalen Bildungsberichtes vorlegen. Der Bericht soll
sich künftig nicht nur wie bisher auf die wissenschaftliche Feststellung und Beschreibung von Wirklichkeiten
beschränken. Er soll stattdessen ambitionierter, politischer, zielbestimmter und damit auch praxiswirksamer
werden.
Dafür sollen die bildungspolitischen Ziele, die von
den Ländern und vom Bund gemeinsam verfolgt werden,
in diesem alle zwei Jahre vorzulegenden Bildungsbericht klar bestimmt, terminiert und quantifiziert werden.
Die gesamte Bildungskette von der frühkindlichen Bildung bis zur Weiterbildung ist einzubeziehen. Bei der
Auswahl der Zielvereinbarungen sind dabei sowohl die
auf europäischer Ebene vereinbarten Kernziele des strategischen Rahmens für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung 2020 als
auch die in der Qualifizierungsinitiative für DeutschZu Protokoll gegebene Reden
land von Bund und Ländern vereinbarten Ziele angemessen zu berücksichtigen.
Um hier einen politischen Einschub zu machen: Es ist
doch absurd, dass wir im Bildungsausschuss des Bundestages und auch hier im Plenum immer wieder mit
Zielvorstellungen konfrontiert werden, die auf europäischer oder nationaler Ebene von den Exekutivgremien
der Länder und des Bundes festgelegt worden sind, diese
Zielvorstellungen aber der parlamentarischen Begleitung und Beratung entzogen sind, weil sie im entscheidenden Instrument zur Bildungsentwicklung in Deutschland, nämlich dem Nationalen Bildungsbericht, keine
Rolle spielen. Ein Bildungsbericht, der aus seiner Analyse keine Handlungsempfehlungen und Folgerungen
ableitet, kastriert sich selbst und ist damit letztlich ein
verschenktes Instrument. Deshalb sind wir auch dafür,
dass zu diesen Zielen auch der Grad ihrer Verwirklichung, wenn möglich landesspezifisch, ausgewiesen
werden sollte.
Ein solcher Ansatz, Sachstände und Zielvereinbarungen zu den bestehenden Bund-Länder-Initiativen sehr
konkret zu fassen, wie es unter anderem beim Hochschulpakt 2020 bis in Details hinein vorgesehen ist, ist
so auch für andere bildungspolitische Aufgabenstellungen als Methode anwendbar und hilfreich. Die Autorengruppe, die von Bund und Ländern gemeinschaftlich mit
diesem Bildungsbericht beauftragt ist, soll deshalb zusätzlich zu den Zielvereinbarungen, die auf politischer
Ebene zwischen Bund und Ländern respektive nur zwischen den Ländern geschlossen werden, weitere von der
Wissenschaft aus als relevant erachtete Kennzahlen des
Bildungsberichtes sowie bildungspolitische Maßnahmen
von Bund, Ländern und Kommunen Bewertungen und
Handlungsempfehlungen entwickeln und im Rahmen der
Bildungsberichterstattung mit vorlegen.
Die Auseinandersetzung mit solchen bildungspolitischen Gutachten kann die bildungspolitische Diskussion
in Bund und Ländern nur fördern und so am Ende dazu
beitragen, dass dem Interesse von Bund wie Ländern,
von allen bildungspolitischen Akteuren und vor allem
auch von denjenigen, die von guter Bildung in Deutschland am meisten profitieren sollen, an einem möglichst
hochwertigen Bildungssystem in Deutschland gedient
wird.
Um es noch einmal klar herauszustellen: Eine erfolgreiche, konstruktive Bildungszusammenarbeit von Bund
und Ländern setzt Vertrauen, Erwartungs- und Planungssicherheit voraus. Dies gilt umso mehr, als dass
das Grundgesetz im Bereich der Bildungszuständigkeiten klar zwischen Bund und Ländern ordnet, aber auch
bildungsrelevante Gemeinschaftsaufgaben definiert und
die in der Praxis zunehmend entscheidende Frage, wie
die Schnittstellen zwischen den Bildungsphasen trotz unterschiedlicher Zuständigkeiten reibungsfrei zu gestalten sind, offen lässt.
Wir erleben an allen relevanten Bildungsfragen, dass
sich diese Fragen immer dringlicher stellen: Wie steht
es um die Zusammenarbeit zwischen Kindertagesstätten
und Schulen? Wie steht es um die Zusammenarbeit von
Schulen und berufsbildenden Einrichtungen? Wie steht
es um das Zusammengehen von beruflicher Erstausbildung und Weiterbildung, sei es im akademischen oder im
klassisch berufsbildenden Bereich? Wir haben zugleich
auch noch die Schnittstellen zwischen den verschiedenen politischen Ebenen: Wie steht es um die Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Ländern? Wie steht es
um die Zusammenarbeit zwischen den Ländern und dem
Bund? Auch wenn eine durchsetzungsstarke Plattform
für eine gemeinsame bildungspolitische Steuerung oder
Koordinierung bisher verfassungsrechtlich nicht vorgesehen ist - das praktische Bedürfnis danach besteht offensichtlich umso dringlicher.
Allein schon die Übersicht über bildungsrelevante
Entscheidungen in den Ländern und Kommunen zu behalten, wird immer schwieriger. Nicht anders ist es bei
den Berichten über Sachstände und Fortschritte bei bestehenden Bund-Länder-Initiativen oder bildungspolitischen Zielvereinbarungen. Die entsprechenden Bildungsberichte von kommunaler Seite, von Ländern und
vom Bund sind selbst Legion. Allerdings verhält sich
ihre bildungspolitische Bedeutung proportional umgekehrt zu ihrer Rezeption. Diese erfolgt in der Regel nur
in engen Experten- und Fachpolitikerkreisen und reicht
wenig in die parlamentarische und öffentliche Meinungsbildung hinein. PISA ist hier eine Ausnahme.
Umso wichtiger ist deshalb ein Koordinierungsinstrument, das es ermöglicht, dass die Erreichung europäischer wie nationaler Bildungsziele besser überprüfbar
ist.
Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Gerade
weil wir keine Allzuständigkeit des Bundes in Bildungsfragen wollen, müssen wir jetzt die vorhandenen Instrumente im konstruktiven Sinne weiter entwickeln. Das
Ziel ist nicht die direkte Steuerung von Bildungsmaßnahmen durch den Bund, sondern die Etablierung und
Unterstützung einer gemeinschaftlichen Zielorientierung von Bund, Ländern und Kommunen. In diesem
Sinne werben wir bei der Bundesregierung und auch bei
den anderen Fraktionen um Unterstützung für unsere
Initiative.
Eine zentrale Herausforderung ist die Verbesserung
unseres Bildungswesens. Damit dies gelingen kann,
müssen alle Kräfte zusammengenommen werden, auch
und gerade die von Bund und Ländern. Das gegenseitige
Beharren auf Zuständigkeiten oder Nichtzuständigkeiten behindert gute und schnelle Problemlösungen. Den
Bürgerinnen und Bürgern ist es vollkommen egal, welche staatliche Stelle denn nun wofür zuständig ist. Am
Ende nehmen sie uns - vollkommen zurecht - alle in die
Pflicht. Wir sind also, ob wir wollen oder nicht, alle,
egal ob auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene, in
der Verantwortung.
Es gibt wahrlich viel zu leisten. Die aktuellen Ergebnisse der PISA-Studie haben deutlich gezeigt, dass sich
Anstrengungen lohnen, dass unser Bildungswesen aber
weiterhin unter unseren Erwartungen und Möglichkeiten bleibt. Die SPD-Fraktion hat mit diesem Antrag den
Rahmen für einen nationalen Bildungspakt definiert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Swen Schulz ({0})
Wir wollen, dass der Bund 10 Milliarden Euro jährlich
zusätzlich für Bildung einsetzt. Dieses Ziel ist erreichbar, wenn wir auf Steuergeschenke und auf das falsche
Betreuungsgeld verzichten und gleichzeitig Vermögende
und Hochverdienende stärker zur Finanzierung heranziehen. Einige der zentralen Ziele, die mit diesen Mitteln
im nationalen Bildungspakt umgesetzt werden sollen,
möchte ich hier kurz skizzieren.
Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Kinder
und Jugendlichen in den Kindertagesstätten und in den
Schulen optimal gefördert werden. Dazu braucht es zum
Ersten flächendeckend kostenlose Ganztagsangebote
mit kostenlosem Mittagessen. Zum Zweiten braucht es
deutlich mehr pädagogisches Personal, also Lehrer,
aber auch Sozialpädagogen, Erzieher, Pädagogen für
Musik, Sport, Theater und anderes mehr. Das muss bezahlt werden; aber das können die Kommunen und die
Länder allein unmöglich auf die Beine stellen, nicht zuletzt, weil diese Regierungskoalition ihnen mit ihrer unseriösen Finanzpolitik finanzielle Spielräume genommen hat. Der Bund muss also bei der Finanzierung
helfen.
Doch selbst wenn das Geld zur Verfügung steht, fallen
diese Leute ja nicht vom Himmel. Um sie überhaupt zu
bekommen, braucht es eine entsprechende Ausbildungs-,
eine Fachkräfteoffensive. Auch hier müssen Bund und
Länder zusammenarbeiten, sonst wird das wahrscheinlich in hundert Jahren nichts.
Aber wie soll denn nun die Zusammenarbeit von
Bund und Ländern erreicht werden? Es gibt dazu viele
Überlegungen. Die Länder stellen sich unter Kooperation vor, dass der Bund ihnen möglichst viel Geld mit
möglichst wenig Vorbedingungen zur Verfügung stellt,
und dann machen die Länder schon alles gut. Das ist
verständlicherweise nicht die erste Wahl aus Bundessicht. Der Bund wiederum hätte sicher am liebsten,
wenn er Geld nur für Dinge gibt, die klar in seiner Verantwortung liegen und unter seiner Kontrolle stehen.
Dann gibt es die Mischvariante der Kooperation, so wie
sie im Hochschulbereich etwa beim Hochschulpakt erfolgreich angewandt wird - nachdem die SPD-Bundestagsfraktion dies bei der Föderalismusreform durchgesetzt hat. Dort nehmen Bund und Länder gemeinsam
Verantwortung wahr, indem sie eine gemeinsame Ziel-,
Verwaltungs- und Finanzierungsvereinbarung treffen.
Die Lösung des Problems liegt möglicherweise in einer Mischung aus allen drei Bereichen. Was spricht dagegen, wenn der Bund in den von ihm verantworteten
Bereichen ordentlich nach vorne prescht. Etwa bei der
Versorgung von Schulen mit Sozialarbeitern? Das dürfte
kaum auf den Widerstand der Länder treffen und der
Bund könnte das einfach machen.
Die Länder brauchen auch mehr Mittel, um ihre ureigenen Aufgaben wahrzunehmen, beispielsweise zur Einstellung von Personal. Der Bund muss ihnen also Spielraum geben, etwa durch die Überlassung von höheren
Mehrwertsteueranteilen oder indem in bisherigen
Mischfinanzierungen der Anteil des Bundes erhöht und
die Länder dadurch entlastet werden. Das könnte etwa
beim BAföG so funktionieren.
Schließlich braucht es auch eine Änderung des
Grundgesetzes zur Aufhebung des Kooperationsverbotes, damit so erfolgreiche Initiativen wie das Ganztagsschulprogramm der Regierung Gerhard Schröder neu
ermöglicht werden.
Wir haben schon lange kein Erkenntnis-, sondern ein
Umsetzungsproblem. Eigentlich braucht es nur den guten Willen der Akteure. Dann könnten wir mit der Bildungsrepublik Deutschland starten. Fangen wir an!
Wir haben hier in dieser Woche in einer aktuellen
Stunde bereits über die Ergebnisse der neuesten PISAStudie für Deutschland gesprochen. PISA hat Deutschland bildungspolitisch wachgerüttelt. Wie auch schon
bei den vorangegangenen Untersuchungen wurde deutlich, dass gute Ergebnisse bei den PISA-Studien immer
dort erzielt werden, wo FDP und Union verantwortlich
sind. Die größten Schwierigkeiten haben dagegen die
Schülerinnen und Schüler, auf deren Rücken die ideologischen Bildungsexperimente der rot-rot-grünen Landesregierungen ausgetragen werden. Und weil diese
genau solche Fehlentwicklungen offensichtlich zur
Kenntnis nehmen, fällt Ihnen nichts anderes ein, als
Geld aus dem Bundeshaushalt zu fordern - um eigene
Fehler auszugleichen. Das ist Bildungsflucht vor der
Verantwortung!
Machen Sie doch bitte zuerst Ihre Hausaufgaben in
den Ländern, anstatt auf das Geld des Bundes zu setzen.
Das wäre ehrlich, und das wäre vor allem redlich gegenüber den Kindern und Jugendlichen in den Ländern, in
denen Rot-Rot-Grün regiert. Wir jedenfalls sind nicht
bereit, Geld in Ihre überschuldeten Landeshaushalte zu
pumpen, um Ihre verfehlten Bildungsexperimente zu finanzieren.
Und was sind denn die Konsequenzen Ihrer Politik?
Betrachten Sie einmal die Zahl der Schulabgänger ohne
Abschluss! Diese ist nirgends so hoch wie in den Bundesländern, in denen Sie regieren: 7,2 Prozent in Rheinland-Pfalz, 10,6 Prozent in Berlin, und in MecklenburgVorpommern verlassen 17,9 Prozent aller Schülerinnen
und Schüler die Schule, ohne über einen Abschluss zu
verfügen. In Baden-Württemberg sind es gerade noch
5,6 Prozent.
Dies sind junge Menschen, die es Ihrer verfehlten Bildungspolitik verdanken, dass sie sich ohne jede Chance
und ohne Perspektive auf einem zunehmend hochqualifizierten Arbeitsmarkt zurechtfinden sollen. Eines zeigt
sich damit doch ganz deutlich: Die rot-rot-grünen Bildungsexperimente sind die beste Garantie für weniger
Bildungsgerechtigkeit und für mehr Bildungsarmut in
unserem Land.
Gerade beim Thema Bildungspartnerschaft kann man
doch deutlich sehen, wie Anspruch und Wirklichkeit sozialdemokratischer Politik auseinanderklaffen. Dieses
Land braucht endlich eine echte Bildungspartnerschaft
zwischen Bund, Ländern und vor allem den Kommunen.
Dafür steht diese Regierung der Mitte!
Zu Protokoll gegebene Reden
Als Oppositionspartei legen Sie uns heute einen umfangreichen Antrag mit mehr oder weniger sinnvollen
Forderungen vor - und wenn Sie gefordert sind, dann
kneifen Sie. Das konnte man bei Ihrer Blockade der
BAföG-Modernisierung erleben, als Sie eine notwendige
Erhöhung der Leistungen verzögert haben, und das
konnte man beim nationalen Stipendienprogramm sehen. Dieses wird nun aufgrund Ihrer Blockadepolitik
ausschließlich vom Bund finanziert und eben nicht in einer Partnerschaft von Bund und Ländern. So ernst ist es
Ihnen mit Bildungspartnerschaften in unserem Land.
Hören Sie also auf, immer nur Sonntagsreden über Bildungspartnerschaften zu halten, und gestalten Sie diese
endlich.
Natürlich ist es notwendig, über die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern zu diskutieren. Spannend ist, was in Ihrem Antrag nicht steht. Kein Wort zum
Kooperationsverbot. Hier haben wir quer durch die Parteien sehr unterschiedliche Positionen. Hier haben Sie
sich bisher als die moralischen Entrüster aufgespielt.
Und jetzt schweigen Sie. Was ist da los? Hat Sie Ihr
rheinland-pfälzischer Ministerpräsident zum Schweigen
verdonnert? Hier haben Sie die Möglichkeit: Sagen Sie
es doch offen!
Wenn es um Finanzbeziehungen geht, darf es doch
nicht darum gehen, dass wir über Bundesbeglückungsprogramme Milliarden in Ihre Bildungsirrwege pumpen,
ohne dass Ihre Landesregierungen endlich die Fehlentwicklungen in der Bildungspolitik korrigieren.
Wir werden nicht über Bundesmittel die Kürzungen
ausgleichen, die Sie bei den Bildungsausgaben vornehmen. Wir werden nicht aus dem Bundeshaushalt Ihre
Bildungsbürokratie finanzieren, ohne dass Sie den Schulen endlich mehr Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten geben. Und wir werden keinen Cent dafür geben,
dass Sie in den Ländern den Menschen kostenfreie Kindergärten und Universitäten versprechen, während andere dafür zahlen müssen.
In Ihrem Antrag kritisieren Sie die Bildungsgipfel, die
angeblich ohne greifbare Ergebnisse geblieben seien.
Also, meine Damen und Herren von der SPD, das ist
doch nun wirklich heuchlerisch. Sie waren doch in der
Regierung, als die Bildungsgipfel eingeführt wurden,
und Sie haben diese doch mitgetragen. Aber wie in vielen Punkten gilt bei den Sozialdemokraten wohl auch
hier, dass man sich aus Opportunismus und Wahltaktik
von dem verabschiedet, was man in der Regierung beschlossen hat. Dies ist unredlich, und dies werden wir
Ihnen nicht durchgehen lassen.
Und eines sage ich Ihnen auch: Für mich sind die Bildungsgipfel auch nicht das Allheilmittel, und ich bin
auch nicht überzeugt, dass die Bildungsgipfel immer genug konkrete Ergebnisse bringen. - Dies habe ich bereits in der Vergangenheit gesagt, und zu dieser Meinung stehe ich auch weiterhin. Aber dass dabei eben
doch auch Ergebnisse herauskommen können, die unserer Bildungs- und Wissenschaftslandschaft positive Impulse geben, zeigt nicht zuletzt der Qualitätspakt Lehre.
Und es wäre gut, wenn Sie dies auch anerkennen würden, anstatt alles immer nur schlechtzureden.
Sie reden bei Bildungspartnerschaften immer nur
vom rechtlichen Verhältnis zwischen Bund und Ländern.
Sie reden von mehr Geld vom Bund an die Länder. Ja,
der Bund hat seine Verantwortung wahrzunehmen. Und
mit 12 Milliarden Euro mehr für Bildung und Forschung
- dem bisher höchsten Aufwuchs - nimmt diese Regierung der Mitte ihre Verantwortung so wahr wie keine
Vorgängerregierung.
Ja, diese Regierung will eine ehrliche Partnerschaft
zwischen allen Beteiligten. Und wir wollen klare Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Wir wollen mehr
Freiheiten für Schulen, sich an solchen Partnerschaften
zu beteiligen. Aber ich sage Ihnen gerade als bekennender Bildungsföderalist: Die Länder haben ihre Verantwortung genauso wahrzunehmen und der Bildung die
höchste Priorität einzuräumen und dürfen sich nicht in
die Büsche zu schlagen.
Niemand ist unfehlbar. Aber wenn einer einen Fehler
gemacht hat und das erkennt, sollte er ihn korrigieren.
Die Einführung des Kooperationsverbotes zwischen
Bund und Ländern in der Bildung war ein Fehler. Projekte, wie das Ganztagsschulprogramm, das bei aller berechtigter Kritik für manche sanierte Schule gesorgt hat,
können nun nicht mehr vereinbart werden. Nun macht
der Bund erstaunliche Verrenkungen, um doch noch irgendwie in die Bildung hineinzuregieren. Bildungsketten,
Berufseinstiegsbegleiter etc. werden erfunden, um die
schlimmsten Auswüchse einer verfehlten Bildungspolitik
von Bund und Ländern zu kaschieren, sogar Umwege
über die Bundesanstalt für Arbeit werden nicht gescheut,
um Geld für die Bildungsbeteiligung Benachteiligter locker zu machen. Da wird manches zum bürokratischen
Monstrum und läuft an den für Bildung Zuständigen vorbei. Dabei wäre es so einfach: mehr Geld in Schulen und
Kindereinrichtungen, für Volkshochschulen und andere
Träger der Erwachsenenbildung und natürlich in die
berufliche Weiterbildung. Letzteres kann durchaus zumindest teilweise durch die Bundesagentur für Arbeit
verantwortet werden. Aber das alles passiert nicht, jedenfalls nicht durch den Bund - er darf ja nicht -, und zu
wenig durch Länder und Kommunen - die können nicht
mehr.
Darum hat Die Linke schon im März beantragt, das
Kooperationsverbot aufzuheben. Nun wagt sich eigentlich fast niemand mehr, die Aufkündigung der Zusammenarbeit in Bildungsfragen gutzuheißen, aber es hat
auch niemand den Mut, die notwendige Grundgesetzänderung in Angriff zu nehmen. Solange reicht es aber
auch nicht, immer aufs Neue einzuklagen, dass man
7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die Bildung stecken und - gleich wie viele Milliarden jährlich - mehr
ausgeben will. Uns sind die Instrumente fürs Ausgeben
abhandengekommen, und eine neue Verteilung der
Geldströme zwischen Bund, Ländern und Kommunen,
die eine bessere Finanzierung der Bildungsinfrastruktur
möglich machen würde, ist nicht in Sicht. Außerdem sind
20 Milliarden Euro wohl zu gering bemessen; selbst die
Hans-Böckler-Stiftung geht von 37 Milliarden Euro aus.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aber das Problem liegt tiefer. Die jüngste PISA-Studie war noch nicht richtig veröffentlicht, da tönte es aus
dem Süden des Landes, die Nordländer versauten den
Durchschnitt. Aber es geht hier um den Durchschnitt,
und man sollte sich damit auch nicht zufrieden geben.
Bildungspolitisch verliert die Bundesrepublik als Ganzes und jede einzelne Schülerin und jeder einzelne Schüler, der oder die sich nicht ausreichend Bildung aneignen kann. Dem stehen aber noch andere Dinge im Wege
als die mangelhafte Ausfinanzierung des bundesdeutschen Bildungssystems.
Neulich erklärte mir eine junge Frau aus einer Besuchergruppe - sie steht kurz vor dem Abitur -, dass sie
aus Bayern in ein anderes, nördlicher und östlicher gelegenes Bundesland gezogen sei und dort einen Vorteil
und einen Nachteil für sich verspürte. Der Vorteil: Die
Fremdsprachenausbildung war in Bayern intensiver.
Der Nachteil: In Chemie fehlten ihr zwei vollständige
Schuljahre an Unterrichtsstoff. Denn in Bayern wird
Chemie erst von der 9. Klasse an unterrichtet, in Sachsen-Anhalt bereits ab Klasse 7. Wer für sein Abitur die
zweite Fremdsprache braucht, hat Pech, wenn er nach
einem Umzug die begonnene Sprache nicht weiterführen
kann, weil die neue Schule sich auf andere Fremdsprachen konzentriert. Beim Abitur kommt es nämlich nicht
darauf an, ob man die Fremdsprache beherrscht, sondern ob man drei Jahre dem entsprechenden Unterricht
beigewohnt hat. Die Liste solcher Unmöglichkeiten
ließe sich fortsetzen.
Ein Zentralabitur, bei dem alle bundesweit die gleichen Aufgaben lösen, wird das nur noch verschlimmern.
Dabei gibt es inzwischen für jedes Fach einheitliche Bildungsstandards, in denen akribisch genau aufgelistet
wird, welche Fähigkeiten und welche Wissenskomplexe
am Ende eines Bildungsganges erreicht werden müssen.
Das eigentlich müsste reichen, um Vergleichbarkeit herzustellen.
Im bundesdeutschen Bildungssystem sind aber Vereinbarungen, die ein halbes Jahrhundert alt sind, wichtiger als ein vielfältiges und hohes Bildungsniveau. Die
Bildungspolitiker und die bildungsinteressierte Lobby
der Betuchten achten peinlich genau darauf, dass ihnen
keines der überkommenen Privilegien verloren geht.
Dagegen scheint kein Kraut gewachsen. Fast verschämt
werden darum alle möglichen Förderinstrumente entwickelt, weil man ja nicht als unsozial gelten will.
Nun haben Bildungsforscher und Autoren der PISAStudie diesem System eine ziemliche Abfuhr erteilt. Aber
ob Bewegung in die Sache kommt? Ich fürchte, mit einer
noch ausgeprägteren Bildungsberichterstattung wird
man da nicht viel ausrichten, weil der Wille zum Umsteuern nicht vorhanden ist. Das ginge nämlich auch mit
den vorhandenen Instrumenten. Aber es geht nicht in
diesem System. Ein Beispiel dafür ist der Ansatz der Inklusion. Das scheint zum neuen Modewort zu verkommen. Jeder benutzt es, kaum einer weiß, was das ist. Inklusion meint alle: Mädchen und Jungen, mit und ohne
Behinderung, mit und ohne Migrationshintergrund, aus
allen sozialen Milieus. Inklusion, die nicht auch im Gymnasium stattfindet, geht nicht; das ist Exklusion. Wenigstens die Gymnasiasten werden ausgeschlossen aus der
neuen Form des Lernens. Wer es - wie die SPD - also
schon für einen Fortschritt hält, Haupt- und Realschule
zusammengeschlossen zu haben, der hat von Inklusion
noch überhaupt nichts verstanden.
In dem ausführlichen Forderungsteil hat die SPD
übersehen, dass es auch bei den Lehrerinnen und Lehrern zu dramatischen Engpässen kommen wird, wenn
nicht mehr Lehrkräfte ausgebildet werden. Darum hat
Die Linke im Sommer ein Fachkräfteprogramm „Bildung und Erziehung“ beantragt, das könnte man zwischen Bund und Ländern sogar vereinbaren. Vielleicht
wäre ja das ein Anfang für weitergehende Vereinbarungen, die endlich dem ganzen Bildungssystem und allen
Lernenden in allen Ländern der Bundesrepublik zugutekommen.
Die Advents- und Weihnachtszeit ist voll von Ritualen. Im Dezember 2010 fehlt nun ein Ritual, das Bundeskanzlerin Merkel im Jahr 2008 erfunden hat und seitdem
vorantreiben wollte: „Die Bildungsgipfel auf dem Weg
zur Bildungsrepublik“. - Heute ist der Tag, an dem eigentlich der Bildungsgipfel Nr. 4 hätte stattfinden müssen. Stattdessen? Fällt aus wegen „ist nicht“.
Im Herbst 2008 haben Bundeskanzlerin und Bundesbildungsministerin die Länder aufgefordert, mit einer
nationalen Qualifizierungsinitiative Deutschland zu einer Bildungsrepublik zu machen. Seitdem werden Bestandsaufnahmen gemacht, Übersichten erstellt und Listen ausgefüllt - mehr leider nicht. Im Dezember 2008
begannen dann die Trauerspiele, genannt „Bildungsgipfel“.
Nr. 1 war im Dezember 2008 ein Warmlaufen, bei
dem sich die Konflikte um Geld und Steuerung schon
glasklar abzeichneten.
Nr. 2 im Dezember 2009 brachte statt erster Ergebnisse einen bildungspolitischen Offenbarungseid. Statt
wie angekündigt, „in die Bildungsrepublik aufzubrechen“, einigten sich Bund und Länder nur aufs Vertagen
und darauf, den Finanzbedarf kleinzurechnen. Die
OECD errechnet konstant einen jährlichen Mehrbedarf
von gut 20 Milliarden Euro, Bund und Länder rechneten
das gemeinsam schön auf nur noch 13 Milliarden Euro.
Schlimmer noch: Wieder wurden die notwendigen Qualitätsziele nicht formuliert.
Bildungsgipfel Nr. 3 im Sommer 2010 war dann das
letzte Aufbäumen. Der unauflösbare Interessenwiderspruch wurde deutlich. Nebulöses Vertagen - Ende.
Das ist kein gutes Signal gewesen. Auch wenn die
PISA-Ergebnisse in der letzten Woche einen ermutigenden Zwischenstand aus den Schulen geben, so bleibt
klar: Deutschland ist noch immer keine Bildungsrepublik. Schlimmer noch: Seit dem Herbst 2008 ist viel zu
wenig passiert. Da stellt sich die Frage: Warum fällt der
Bildungsgipfel Nr. 4 heute aus, obwohl Ergebnisse so
dringend nötig wären? Die Antwort ist so kurz wie ernüchternd: weil die Kanzlerin die „Bildungsrepublik“
Zu Protokoll gegebene Reden
Priska Hinz ({0})
nicht mehr für ein Gewinnerthema hält. Nach drei blutigen Nasen hat sie gelernt, dass sie ihre unionsphysikalischen Gesetze der Macht hier nicht anwenden kann. Mit
der Föderalismusreform hat sie sich als Bundeskanzlerin im Bildungsbereich selbst entmachtet.
Diese Erkenntnis ist in Teilen der Union nun immerhin angekommen: Bildungsministerin Schavan lässt öffentlich immer wieder verlauten, dass sie das Kooperationsverbot für einen Fehler hält. Bisher folgt aus dieser
Erkenntnis leider nichts. Sobald CSU-Kultusminister
Spaenle neben Frau Schavan sitzt, versteigt sie sich zu
so aberwitzigen Argumenten wie -, der Föderalismus an
sich stehe einer guten Bildungspolitik nicht im Wege, so
bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der PISA-Ergebnisse letzte Woche. Den Föderalismus will ja auch
niemand abschaffen, aber das Kooperationsverbot.
Hier lässt allerdings leider auch die SPD zu wünschen übrig. Der heute vorliegende Antrag der Bundestagsfraktion ist da so wachsweich, dass ich mich frage,
warum sie da der Mut verlassen hat. Statt sich klar gegen das Kooperationsverbot auszusprechen, verschwurbeln Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, die
derzeitige bildungsfeindliche Verfassungslage. Zitat aus
Ihrem Antrag: „Eine durchsetzungsstarke Plattform für
eine gemeinsame bildungspolitische Steuerung oder Koordinierung ist verfassungsrechtlich nicht vorgesehen“.
Und dann schlagen Sie allen Ernstes vor, dass der
Nationale Bildungsbericht „das Koordinierungsinstrument“ sein soll, nennen ihn aber selbst ein „Hilfsinstrument“ und überfrachten ihn dann völlig? Liebe Kollegen, das ist, gelinde gesagt, undurchdacht. Wir
brauchen den politischen Willen zur Zusammenarbeit,
damit Bund und Länder ihre gemeinsame Verantwortung
auch gemeinsam wahrnehmen können. Mit diesem politischen Willen kann dann auch die Verfassung entsprechend geändert werden.
Gestern Abend hat sich die Kanzlerin routinemäßig
mit den Ministerpräsidenten getroffen. Unter ferner liefen stand auch ein Bildungsthema an: die Finanzierung
von zusätzlichen Studienplätzen angesichts der Aussetzung der Wehrpflicht. Was dabei rausgekommen ist, geht
zulasten der Studierenden. Bund und Länder wahren ihr
Gesicht, indem sie alles dem Hochschulpakt aufbürden.
Die Hochschulen bleiben überfordert, weil der Hochschulpakt eh schon unterausgestattet ist. Den Studienberechtigten wird keine gute Perspektive geboten - trotz
Fachkräftemangels. Ich frage mich, wann Bund und
Länder endlich konkrete Maßnahmen und verbindliche
inhaltliche Zielmargen im Bildungssystem vereinbaren
oder wenigstens überhaupt formulieren werden. Das ist
nämlich notwendig, um die Schwächen bei frühkindlicher und schulischer Bildung sowie an den Hochschulen
zu beseitigen.
Die Bundeskanzlerin und die Bundesbildungsministerin sollten eingestehen, dass die Überhöhung der Treffen
zu „Bildungsgipfeln“ ein Fehler war. Stattdessen sollten
sie sich mit den Ländern zusammensetzen und konkrete
Fortschritte vereinbaren. Das ist die Aufgabe einer Bundesregierung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4187 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen
vom 29. April 2008 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Serbien andererseits
- Drucksache 17/3963 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Peter Beyer,
Wolfgang Götzer, Günter Gloser, Rainer Stinner, Sevim
Dağdelen und Marieluise Beck.
Als Ende letzter Woche in Oslo der chinesische Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo geehrt wurde, konnte
er selbst der Zeremonie nicht beiwohnen. Er ist im Nordosten Chinas inhaftiert. Seine Frau konnte ebenfalls
nicht nach Oslo reisen. Sie steht in Peking unter Hausarrest. Der Stuhl des Preisträgers war nicht der einzige,
der leer blieb. Gleich eine Reihe von Staaten hatten auf
Druck Chinas keine Vertreter nach Oslo entsandt.
Ein Signal der Stärke hingegen war die Teilnahme
Serbiens. Nach heftigen Diskussionen im Lande zog Belgrad die ursprüngliche Absage zurück. Sicherlich, die
Europäische Union hatte zuvor hinter den Kulissen an
Serbien appelliert, beim Festakt in der norwegischen
Hauptstadt Präsenz zu zeigen; denn wer die EU-Mitgliedschaft anstrebt, sollte die europäischen Werte, zu
deren Kern die Menschenrechte gehören, bedingungslos
teilen.
Bemerkenswert am serbischen Sinneswandel waren
jedenfalls die ermutigenden Erklärungen aus der Belgrader Politik, vom Präsidenten, von Regierungsmitgliedern
und Abgeordneten. Überzeugend war die wahrnehmbare
Kritik der Zivilgesellschaft an den Boykottplänen des
serbischen Außenministers. Die Bürger halten nichts von
einer Rückkehr zur längst überwunden geglaubten Ära
Milosevic und allen damit verbundenen negativen Auswirkungen. Serbien war am vergangenen Freitag also in
Oslo vertreten: Ein Gewinn für Europa und ein Zeichen
für die Stärkung der Menschenrechte.
Russlands Stimme ist ebenfalls in Serbien gut wahrnehmbar. Deshalb ist die anstehende Einleitung des Ratifikationsprozesses des Stabilisierungsabkommens mit
Serbien durch den Bundestag ein richtiger und notwendiger Schritt nach vorn.
Der Ratifizierungsprozess ist das Ergebnis der positiven Entwicklungen im Verhältnis Serbiens zur Europäischen Union. Die Bundesregierung hat diesen Annäherungsprozess mit Engagement und Nachdruck begleitet.
Die Koalitionsfraktionen hatten Anfang Oktober dieses
Jahres unter dem Titel „Beitrittsantrag der Republik
Serbien zur Prüfung an die Europäische Kommission
weiterleiten“ einen Antrag ins Plenum eingebracht und
mit Mehrheit des Hauses verabschiedet. Denn wir befürworten, dass der Beitrittsprozess in Gang gesetzt wird.
Serbien hatte zuvor im September zusammen mit allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Resolution in die VN-Generalversammlung eingebracht, die
das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur
Kenntnis nimmt, dass die Unabhängigkeitserklärung des
Kosovo nicht gegen das Völkerrecht verstößt, und direkte Gespräche zwischen Serbien und Kosovo mit Unterstützung der Europäischen Union vorsieht. Das
gemeinsame Vorgehen mit der EU zeigt, dass Serbien
auf Kooperation statt Konfrontation setzt und sich klar
auf einen proeuropäischen Weg begeben hat. Dieser
Weg nach Europa lohnt sich für die Menschen.
Serbien wird im Rahmen des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses indes hart daran arbeiten müssen,
alle Kriterien der Europäischen Union vollständig und
uneingeschränkt zu erfüllen. Dazu gehört die verlässliche und aktive Zusammenarbeit mit dem Internationalen
Strafgerichtshof. Dazu gehören des Weiteren die regionale Zusammenarbeit und die gutnachbarschaftlichen
Beziehungen auch und gerade mit dem Kosovo, einschließlich eines konstruktiven Lösens offener bilateraler Fragen.
Gerade mit Blick auf die gutnachbarschaftlichen Beziehungen sind durchaus positive Entwicklungsansätze
erkennbar. So stelle ich in diesem Zusammenhang erfreut
fest, dass Serbien in Bosnien und Herzegowina - das war
nach meinem Eindruck weitgehender Konsens in der
Debatte zum Althea-Einsatz vor zwei Wochen an dieser
Stelle - allmählich mehr und mehr stabilisierend wirkt.
Ein weiteres Beispiel für die intensiver werdende Zusammenarbeit im ehemals jugoslawischen Raum ist die
verstärkte Kooperation im internationalen Güterbahnverkehr. Und der serbische Präsident Boris Tadic hat
jüngst nicht nur Zagreb besucht, sondern auch Vukovar.
Zusammen mit seinem kroatischen Amtskollegen Ivo
Josipovic setzte er ein starkes Signal der Versöhnung an
dem Ort, der so sehr für die Schrecken des Krieges zwischen beiden Ländern steht. Es gibt sie also, die so wichtigen ermutigenden Signale, Symbole und Aktionen, die
ernsthaftes Bemühen erkennen lassen.
Am Ende des Tages gelten für Serbien wie übrigens
für alle EU-Beitrittsaspiranten die gleichen Kriterien.
Kein Beitrittsland darf zeitlich bevorzugt werden. Einen
EU-Beitritt gibt es nur bei strikter, vollständiger Erfüllung aller Kriterien, ansonsten nicht. Das müssen alle
am Prozess Beteiligten verinnerlichen.
Vor zwei Monaten haben wir uns dafür ausgesprochen, das Beitrittsgesuch Serbiens zur Europäischen
Union zur Prüfung an die Europäische Kommission weiterzuleiten, und heute geht es darum, mit der Zustimmung zur Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens mit Serbien einen umfassenden
rechtlichen Rahmen zu schaffen, in dem die Vorbereitungen Serbiens auf den von ihm gewünschten EU-Beitritt
erfolgen.
Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess, in
den Serbien nach der Ratifizierung dieses Abkommens
in allen EU-Mitgliedstaaten eintreten wird, ist für Serbien eine große Chance und eine große Herausforderung. Für die EU ist das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen ebenfalls eine sehr gute Möglichkeit,
die Beziehungen zwischen der EU und Serbien zu gestalten. Wir bauen damit eine Arbeitsstruktur auf, und es
wird regelmäßige Berichte und Konferenzen geben. Dadurch wird Serbien klar bestimmen können, wo es auf
seinem Weg bei der Integration in die EU steht, und wir
können klar sehen, welche Entwicklungen sich in Serbien vollziehen, und klar definieren, was wir von Serbien
auf seinem Weg in die EU erwarten.
Bayern hat mit Serbien im Rahmen der Zusammenarbeit in der seit 40 Jahren bestehenden Ständigen Kommission viele Erfahrungen sammeln können. Serbien gilt
in der Region als verwaltungsstark und wirtschaftlich
innovativ. Insofern bietet das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen durch die Heranführung an den europäischen Markt insbesondere große Vorteile für die
Entwicklung der serbischen Wirtschaft und aufgrund der
zentralen Lage Serbiens die Möglichkeit zur Prosperitätssteigerung in der gesamten Region. Serbien wird die
einmalige Möglichkeit bekommen, von dem Expertenwissen der europäischen Beamten und von den Vorbeitrittshilfen des EU-Heranführungsinstruments IPA zu
profitieren. Ich hoffe, dass Serbien diese große Chance
nutzen wird und dadurch schnelle Fortschritte auf dem
Weg in die EU macht.
Gleichzeitig möchte ich dem Wunsch Ausdruck geben, dass Deutschland Serbien auf diesem Weg auch in
der Zukunft weiterhin so eng diplomatisch begleitet, wie
dies in den letzten Monaten geschehen ist. Deutschland
hat unter der christlich-liberalen Regierung endlich
wieder eine aktive Rolle in der Westbalkan-Politik eingenommen.
Die Herausforderungen, vor denen Serbien steht,
sind groß, wie der letzte Fortschrittsbericht der EUKommission zeigt: Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen, Reform des Justizwesens, Korruptionsbekämpfung und Regelung der Wahlkampffinanzierung, Klärung von Eigentumsrechten und des Status von
Flüchtlingen, Reform des Arbeitsmarkts, Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit und des Schwarzmarktes, Fortführung der Privatisierung - all dies, um nur einige wenige
Beispiele herauszugreifen, sind Aufgaben, die Serbien in
den nächsten Jahren ernsthaft angehen muss.
Hinzu kommen zwei weitere wichtige, für Serbien innenpolitisch höchst sensible Herausforderungen, bei denen wir das Land nicht aus der Verantwortung lassen
können. Erstens muss Serbien unter Respektierung der
bestehenden Grenzen einen Modus Vivendi mit Kosovo
Zu Protokoll gegebene Reden
finden, der dazu führt, dass die noch offenen bilateralen
Fragen schrittweise mit dem Ziel gelöst werden, dass
Kosovo zunehmend tatsächlich als souveräner Staat
agieren kann. Die Förderung regionaler Kooperation im
Zeichen eines von guter Nachbarschaft und friedlichem
Herangehen geprägten europäischen Geistes gehört zu
den Kernpunkten des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens. Auf der Erfüllung dieses Kernpunktes
- und zwar sowohl im Verhältnis zu Kosovo als auch im
Verhältnis zu seinen anderen Nachbarn, insbesondere
Kroatien und Bosnien-Herzegowina - werden wir gegenüber Serbien bestehen.
Zweitens muss sich Serbien seiner Verantwortung
stellen, die es beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens
gespielt hat. Hierbei ist die uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für
das frühere Jugoslawien von größter Bedeutung und aus
meiner Sicht gehört hierzu auch ganz klar die Auslieferung von Ratko Mladić und Goran Hadžić, die wegen
Kriegsverbrechen angeklagt sind. Ich möchte in diesem
Zusammenhang daran erinnern, dass 2005 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Kroatien so lange
hinausgezögert wurde, bis die damalige Chefanklägerin
Carla del Ponte am 4. Oktober 2005 die uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof bestätigte. Zwei Monate später wurde der flüchtige General Gotovina auf Teneriffa festgenommen. Ich glaube,
dass es sehr wichtig ist, dass wir in dieser Frage eine
klare und konsequente Linie verfolgen.
Zu einer wahrhaftigen Aufarbeitung der Kriegsgeschehnisse gehört aber bei allen ehemaligen Beteiligten
noch mehr, zum Beispiel sich zu den historischen Fakten
zu bekennen, Schuld einzugestehen und sich dafür zu
entschuldigen und echte Aussöhnung anzustreben. Ich
finde, wir sollten hierbei Unterstützung leisten.
Serbien bekommt mit dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen eine große Chance. Wir begrüßen
dies und stimmen deshalb dem Gesetzentwurf zu.
Die Menschen in Südosteuropa vertrauen auf das
Versprechen einer europäischen Perspektive. Mit diesem
Ziel vor Augen unternehmen sie große Anstrengungen,
um ihre Länder an europäische Standards anzupassen.
Mit diesem Ziel vor Augen muten Politiker in dieser Region ihren Wählerinnen und Wählern harte Reformschritte zu.
Deshalb sollten wir Serbien wie auch die anderen
Länder der Region auf ihrem Weg in die Europäische
Union wohlwollend begleiten und unterstützen. Denn
wenn wir ihnen am Ende ihrer Bemühungen die Tür vor
der Nase zuschlagen, werden wir nicht nur eine Entwicklungsmöglichkeit für die Europäische Union verpasst haben. Wir werden mitten in der EU - denn die
Länder des Balkans sind schließlich vollständig von EULändern umringt - erneut massive Sicherheitsprobleme
haben, etwa politische, soziale und ethnische Unruhen,
Migration und möglicherweise auch wieder bewaffnete
Konflikte.
Für eine mögliche Erweiterung der EU müssen aber
nicht nur die Länder Südosteuropas noch viele Voraussetzungen erfüllen. Auch die EU selbst muss erst noch
erweiterungsfähig werden. Denn Europa scheint ja weiterhin in einer Dauerkrise zu sein. Trotz wirtschaftlichen
Aufschwungs gibt es nur noch ein Thema: die Staatsfinanzen und den Euro.
So wichtig das auch ist, durch diese Debatten werden
wichtige Reformthemen hintangestellt. Eigentlich gilt es
ja, Europa nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wieder flottzumachen und auf Kurs zu bringen.
Stattdessen wird die EU weiter auf unbestimmte Zeit auf
das Trockendock gelegt. Was wir damit riskieren, habe
ich eingangs dargestellt. Auch deshalb ist die Verunsicherung in der deutschen Europapolitik, die Kanzlerin
Merkel und ihr Außenminister Westerwelle zu verantworten haben, nicht nur bedauerlich, sondern höchst gefährlich. Europa braucht Orientierung und Klarheit
über die eigene Entwicklung. Die derzeitige Bundesregierung liefert leider das Gegenteil: Sie erzeugt den Eindruck von nationalem Egoismus und verhindert damit
nicht nur eine positive Entwicklung in Europa, sondern
sie schwächt in der Folge auch die dringend notwendige
Fähigkeit der EU zu einer Erweiterung in Südosteuropa.
Im Fall von Serbien ist das besonders bedauerlich.
Serbien als ehemaliger Kriegsgegner der NATO im Kosovo-Krieg 1999 hatte und hat wohl von allen Staaten
des ehemaligen Jugoslawiens den weitesten Weg nach
Europa zu gehen. Umso mehr müssen wir anerkennen,
welche Strecke Serbien erfolgreich zurückgelegt hat,
und das Land weiter unterstützend und sehr aufmerksam
begleiten. Heute hat Serbien bei allen Problemen, auf
die ich noch zu sprechen kommen werde, auf jeden Fall
einen europäischen Weg eingeschlagen und manchen
Nachbarn auf dem Weg nach Europa sogar überholt.
Angesichts dieser Erfolge erwartet und verdient das
Land unsere aktive Unterstützung und Begleitung.
Für die Menschen in Serbien selbst stellt sich die Situation freilich etwas anders dar. Sie verspüren jetzt
- nach den beschriebenen historischen Umbrüchen schmerzlich die Mühen der Ebene. Die europäische
Orientierung der derzeitigen Regierung wird zwar
mehrheitlich von der Bevölkerung mitgetragen - selbst
in der Kosovo-Frage sind viele Menschen pragmatisch
eingestellt -, Inflation, Arbeitslosigkeit, Bürokratie,
Korruption und organisierte Kriminalität lassen sich
aber nicht von heute auf morgen bekämpfen. Wie überall
messen die Menschen eine Regierung letztlich an dem,
was bei ihnen persönlich ankommt.
Die Erfahrung anderer Reformländer in Mittel-, Ostund Südosteuropa zeigt, dass die Zeitspanne kurz ist, in
der Reformen die volle Unterstützung der Menschen haben. Soziale Härten und wachsende soziale Ungleichheiten können schnell den Reformeifer untergraben.
Deshalb ist es wichtig, dass besonders die wirtschaftliche Öffnung und die Modernisierung von Verwaltung
und Justiz zügig vorangetrieben und die weit verbreitete
Korruption effektiv bekämpft wird.
Dies sind auch aus Sicht der Europäischen Union die
wichtigsten Arbeitsfelder für weitere Reformen. Und
Zu Protokoll gegebene Reden
machen wir uns nichts vor: Ohne den freundschaftlichen
Druck aus Brüssel, ohne den ständigen Wettbewerb unter den Ländern der Region würde es viele positive Entwicklungen nicht geben. Deshalb müssen wir kritisch
sein. Deshalb dürfen wir keine politischen Rabatte für
Beitrittskandidaten geben. Deshalb müssen wir aber
auch die europäische Perspektive als positiven Anreiz
glaubwürdig anbieten.
Wenden wir uns aber noch einmal der internationalen
Diplomatie zu: Die nach einigem Zögern doch sehr konstruktive Reaktion Belgrads auf das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Unabhängigkeit des Kosovo bedeutete für die serbische Führung ein hohes
politisches Risiko. Sie hat es auf sich genommen und ist
mit der formellen Empfehlung der EU-Außenminister
zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zur EU zurecht belohnt worden.
Dieser Punkt entspricht geradezu mustergültig den
drei Grundprinzipien des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses: nämlich erstens, den Ländern der Region attraktive Anreize für eine europäische Orientierung zu geben und mittelfristig die volle Integration in
die EU in Aussicht zu stellen, zweitens dafür auch mutig
Reformschritte und umfassende Kooperation zu verlangen und drittens die regionale Zusammenarbeit zu intensivieren.
Das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen
stellte den Anreiz dar, den Serbien brauchte, um auf einen konstruktiven Weg der Auseinandersetzung mit der
Existenz eines unabhängigen Kosovo einzuschwenken.
Die Änderung der harten Haltung Serbiens war das Ergebnis. Das ist eine erhebliche Leistung angesichts der
Stimmung in dem durch den Verlust des Kosovo noch immer traumatisierten Land.
Die in Aussicht gestellten Verhandlungen zwischen
Serbien und dem Kosovo werden die regionale Zusammenarbeit stärken und zur Einsicht beitragen, dass mittel- und langfristig beide Seiten ein großes Interesse an
einer umfassenden Zusammenarbeit haben. Wenn sich
diese Erkenntnis erst durchsetzt, werden sich auch Probleme wie die Situation der serbischen Minderheit im
Kosovo oder die Anerkennung von Zolldokumenten des
Kosovo durch Serbien lösen lassen.
Die Europäische Union hält Wort, und Deutschland
hält Wort: Wir stehen zu der Zusage, dass die Zukunft
der Länder des westlichen Balkans in der Europäischen
Union liegt. Wir gehen dabei Schritt für Schritt vor, und
nun steht ein weiterer konkreter Schritt an. Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag das Assoziierungs- und Stabilisierungsabkommen der Europäischen
Union mit Serbien zur Ratifizierung vorgelegt, und die
FDP unterstützt diesen Antrag.
Diese Ratifizierung ist, gemeinsam mit der Weiterleitung des serbischen Beitrittsantrages an die Kommission, ein klares Signal an Serbien, dass wir Serbiens
Weg in die Europäische Union voll und ganz unterstützen. Ich will hier aber auch noch einmal ganz klar sagen: Serbien muss die notwendigen Bedingungen dafür
erfüllen. Wir haben hier im Deutschen Bundestag im Oktober einen Antrag beschlossen, in dem wir die Bundesregierung aufgefordert haben, sich für die Weiterleitung
des Beitrittsantrages Serbiens an die Europäische Kommission einzusetzen. Das ist in der Zwischenzeit erfolgt.
Wir haben in diesem Antrag aber auch ganz deutlich gemacht, dass Serbien sich nicht auf bisherigen Fortschritten ausruhen darf. Wir haben ganz deutlich die Voraussetzungen für die weitere Annäherung benannt. Das
sind, neben den Kopenhagener Kriterien, eben auch die
beiden folgenden ganz wichtigen Punkte: volle Kooperation mit dem internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag und eine einvernehmliche Grenzregelung mit dem Kosovo. Von diesen Kriterien werden und
können wir nicht abgehen, wenn wir das Wertefundament und die Handlungsfähigkeit der Europäischen
Union nicht gefährden wollen. Ich habe es immer für
fair gehalten, das von Anfang an ganz klar zu sagen und
Serbien hier keine falschen Hoffnungen zu machen. Ich
halte es für besser, von Anfang an die Karten auf den
Tisch zu legen, denn nur dann können wir Serbien auch
zusagen, dass es keine weiteren Hürden geben wird.
Wie sieht es nun mit beiden Punkten aus? Die Gespräche mit dem Kosovo sind in Vorbereitung. Hier gab
es natürlich durch die Neuwahlen im Kosovo Verzögerungen. Ich hoffe aber, dass auf der technischen Ebene
bald Gespräche beginnen können. Wir werden beide Seiten genau beobachten und auch jeden für sich bewerten.
Niemand muss befürchten, zur Geisel eines anderen gemacht zu werden. Ich warne aktuell aber die serbische
Seite ganz ausdrücklich, die vom Europarat veröffentlichten Vorwürfe gegen den amtierenden kosovarischen
Ministerpräsidenten Hashim Thaći als Vorwand für weitere Verzögerungen zu missbrauchen. Diesen Vorwürfen
muss eindeutig nachgegangen werden. Sie sind aber
kein Grund, die dringend notwendigen Gespräche über
praktische Kooperation zwischen Serbien und Kosovo
zu verschieben.
Die uneingeschränkte Kooperation mit dem internationalen Kriegsverbrechertribunal ist unabdingbare Voraussetzung für weitere Fortschritte. Hier müssen und
werden wir genau hinschauen. Die letzten Äußerungen
von Chefankläger Brammertz mahnen stärkere Bemühungen Serbiens an. In seinem Bericht vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vom 6. Dezember 2010
verlangt er von Serbien einen pro-aktiveren Ansatz zu
Festnahme von Ratko Mladić und Goran Hadžić. Die
serbische Regierung müsse deutlicher machen, dass sie
Unterstützungsnetzwerke nicht toleriere, sondern im
Gegenteil jede Unterstützung der Angeklagten bei ihrer
Flucht strafbar sei. Der Schlüssel zur Festnahme von
Mladić und Hadžić liegt nach Brammertz in Serbien.
Hier muss es also dringend klarere Bemühungen geben.
Das ist auch mein Appell an die serbische Regierung:
Unterstützten Sie uns deutsche Politiker durch gute
Nachrichten aus Ihrem Land. Wir haben in Deutschland
und in der gesamten EU eine gewisse Erweiterungsmüdigkeit. Wir Politiker in Deutschland werden dauerhaft
unsere Wählerinnen und Wähler nur dann von neuen
Beitritten überzeugen können, wenn wir substanzielle
Zu Protokoll gegebene Reden
Fortschritte der Kandidatenländer vorweisen können.
Politische Rabatte kann sich die Europäische Union
nicht mehr leisten, und es wird sie auch nicht mehr geben. Die Tür zur Europäischen Union bleibt offen. Den
Weg hindurch gehen müssen die Länder selber. Dazu erfolgt jetzt hier ein weiterer wichtiger Schritt. Ich hoffe
und wünsche mir eine Entwicklung in Serbien, die uns
ermöglicht, weitere Schritte schnell folgen zu lassen.
Der deutsche Außenminister Westerwelle ließ in seiner Pressemitteilung zur Wahl im Kosovo am vergangenen Wochenende verlauten:
Ich bin zuversichtlich, dass der 12. Dezember ein erfolgreicher Tag für die Demokratie und die Menschen in
diesem jungen Staat wird.
Nach der Wahl hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der EU-Außenbeauftragten Ashton und des EU-Erweiterungskommissars Stefan Füle:
Wir freuen uns darauf, mit der neuen kosovarischen
Regierung zusammenzuarbeiten und baldmöglichst den
Dialog zwischen Pristina und Belgrad zu beginnen.
Einen Tag zuvor hatte der Europarat einen Bericht
von Dick Marty veröffentlicht, nach dem der wiedergewählte kosovarische „Regierungschef“ Hashim Thaci
während des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien
schwere Kriegsverbrechen an Serben begangen habe ein Krieg, den die damalige rot-grüne Bundesregierung
mit teilweise gefälschten Berichten über serbische Massaker und „Hufeisenpläne“ begründete. Aus dem Bericht geht auch hervor, dass Thaci bis heute ein führender Kopf des organisierten Verbrechens sei und sich
wegen seiner politischen Ämter und seiner guten Kontakte zu westlichen Regierungen und Geheimdiensten
„unberührbar“ fühle. Die NATO, die EULEX, der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und sämtliche westlichen Geheimdienste wüssten
von den schmutzigen Geschäften der kosovarischen
„Regierungen“, hätten aber ihre Ermittlungen auf politischen Druck hin eingestellt. Laut dem Bericht des Europarates hätten sie sogar Beweismittel vernichtet.
Das verwundert kaum. Denn es war Hashim Thaci,
der nach Verhandlungen mit der deutschen und den europäischen Regierungen im Februar 2008 die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo ankündigte, die bereits
nach wenigen Tagen von der deutschen Regierung anerkannt wurde. Der deutsche Geheimdienst warnte damals
schon, hier werde ein Mafiastaat errichtet. Ende August
traf sich Westerwelle noch mit Thaci, schüttelte - wie zuvor schon seine grünen und rosaroten Vorgänger
Fischer und Steinmeier - diesem Kriegsverbrecher die
Hand und brüstete sich damit, dass Deutschland „einer
der ersten Staaten“ war, „die die Republik Kosovo als
unabhängigen Staat anerkannt haben“.
Bundesaußenminister Westerwelle wurde bei seiner
damaligen Reise auf den Balkan nicht müde, auch den
folgenden Satz zu sagen: „Das, was uns betrifft, gehört
nach Brüssel und nicht nach New York.“ Was er damit
gemeint hat, war unverblümt: Hier in Europa gilt unser
eigenes Gesetz und nicht das Völkerrecht. Dieses Gesetz
schreiben wir in Brüssel, und wir schreiben es in jedem
Fall neu, je nach unseren Interessen. Deshalb erklären
wir die Abspaltung des Kosovo für legitim, während wir
drohen, die Unabhängigkeit der Republik Srpska von
Bosnien und Herzegowina notfalls auch mit Waffengewalt zu verhindern.
Es ging damals um einen Resolutionsentwurf, den
Serbien in die UN-Vollversammlung eingebracht hatte,
der erneut - im Einklang mit dem Völkerrecht und den
vorangegangenen UN-Resolutionen - die Prinzipien der
Souveränität und territorialen Unversehrtheit betonte
und neue Statusverhandlungen im Rahmen der UN einforderte. Deutschland drohte damals, die Weiterleitung
des serbischen Beitrittsersuchens zur EU nicht an die
Kommission weiterzuleiten, sollte Serbien von diesem
Entwurf nicht Abstand nehmen. Serbien knickte ein und
brachte stattdessen einen neuen Entwurf ein, in dem die
EU aufgefordert wurde, einen Dialog zwischen Belgrad
und Pristina zu moderieren. Deutschland hat somit verhindert, dass die UN-Vollversammlung im Namen des
Völkerrechts zur Sezession des Kosovo Stellung nehmen
konnte und somit tatsächlich das Völkerrecht durch ein
Brüsseler Recht ersetzt.
In diesem Zusammenhang ist auch zu verstehen, warum wir erst heute über den vorliegenden Gesetzentwurf
debattieren, mit dem ein Abkommen vom Frühjahr 2008
ratifiziert werden soll. Das Stabilisierungsabkommen,
über das wir heute diskutieren, ist datiert auf den
29. April 2008. Abgeschlossen wurde es zu diesem Zeitpunkt, um die Pro-EU-Kräfte bei den damals stattfindenden Parlamentswahlen in Serbien zu stärken. Dass
das Abkommen so bald nicht ratifiziert würde, wurde
schon damals offen ausgesprochen.
Die Linke warnt davor, den EU-Beitrittsprozess zur
Aushebelung des Völkerrechts zu missbrauchen. Das
Völkerrecht gilt auch für Europa, und die Kriegsverbrecher aller Seiten müssen im gleichen Maße verfolgt werden. Sie können nicht die einen vor Gericht stellen und
die anderen zum „Regierungschef“ eines illegitimen
Mafiastaates machen. Die Linke fordert die Bundesregierung auf: Kündigen Sie den Pakt mit dem Teufel, und
geben Sie Ihre Unterstützung für die Sezession des Kosovo auf!
Zuletzt noch zum Inhalt dieses Abkommens, der hier
leider sehr kurz kommt, da das Abkommen instrumentalisiert wurde. Das Abkommen zwingt Serbien - ich zitiere aus dem Gesetzentwurf -, „seinen Außenhandel gegenüber der Union vollständig zu liberalisieren“.
Dadurch sollen - ich zitiere weiter - „deutschen Unternehmen verbesserte Exportchancen“ geboten und „die
Niederlassung von Unternehmen aus der Europäischen
Union in Serbien“ erleichtert werden. Schon heute
drängen deutsche Telekommunikations- und Energieunternehmen massiv auf den serbischen Markt, was zu
steigenden Preisen für die Bevölkerung führen wird.
Zugleich wird Serbien gezwungen, Löhne und Sozialleistungen drastisch zu kürzen, um, wie es heißt, „dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der Europäischen Union standhalten zu können“. Zugleich lehnt die
Zu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
Bundesregierung jeden „Beitrittsautomatismus“ ab.
Das heißt: Selbst wenn Serbien all diese neoliberalen
Reformen durchführt, wird es vermutlich niemals selbst
in die EU aufgenommen werden und mitbestimmen können. Erkauft wird dieses Abkommen mit Heranführungshilfen und Darlehen in Milliardenhöhe. Wenn diese eines Tages versiegen, wird sich die EU mit dem nächsten
völlig verarmten und verschuldeten Staat an ihrer Peripherie konfrontiert sehen. Mit ihrer neoliberalen Politik
arbeitet die Bundesregierung mitten in der Krise schon
an den Zusammenbrüchen und Aufständen von morgen.
Die Linke lehnt diesen Irrweg ab und fordert eine Abkehr vom Neoliberalismus und eine Rückkehr zum Völkerrecht. Maxime deutscher Außenpolitik muss Demokratie, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit sein.
Das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen
zwischen der Europäischen Union und Serbien ist ein
wichtiger Schritt für beide Seiten. Er bringt das Land
der EU näher, und er trägt dazu bei, im noch immer
glimmenden Krisenherd mitten in Europa die Voraussetzungen für eine sich dynamisch entwickelnde Region zu
schaffen. Das ist jedenfalls die Hoffnung, die wir sicher
hier im Bundestag und in der EU alle gemeinsam teilen.
Deshalb begrüßen wir dieses Abkommen als Chance
und nicht zuletzt als Signal an Serbien.
Wir tun dies, obwohl nach wie vor eine der lange Zeit
geltenden Bedingungen für sein Zustandekommen nicht
erfüllt ist: die Überstellung von Ratko Mladić und
Goran Hadžić nach Den Haag. Mehr noch: Der jüngste
Bericht des Chefanklägers zur Bewertung der Zusammenarbeit Serbiens mit dem Internationalen Gerichtshof
ist deutlich kritisch. Er formuliert es natürlich diplomatisch, aber es ist zu verstehen: Nach wie vor fehlt der
politische Wille in Serbien, diese Bedingung zu erfüllen.
Brammertz fordert zugleich - wiederum verklausuliert anhaltenden Druck seitens der EU, ohne den eine Auslieferung der Beschuldigten wohl kaum zu erwarten sei.
Es steht also noch viel Arbeit bevor, die eigentlich vor
der Geltung des Stabilisierungsabkommens zu leisten
gewesen wäre. Aber auch das Abkommen selbst ist zugleich ein Katalog zu erfüllender Aufgaben - und auch
dies für beide Seiten. Denn es verpflichtet die EU zu
dauerhaftem und verstärktem Engagement, und es verpflichtet Serbien zur Erfüllung der Bedingungen, derer
es zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bedarf.
Dabei geht es nicht allein um innenpolitische Entwicklungen, sondern auch um intensivierte regionale Kooperation.
Denn trotz aller Fortschritte ist die ganze Region im
Südosten Europas nach wie vor eine ernsthafte Herausforderung für die europäische und nicht zuletzt deutsche
Politik. Deutschland als größter Staat der EU und Verursacher eines Teils der historischen Lasten in Südosteuropa in den großen Kriegen des vergangen Jahrhunderts hat hier besondere Verantwortung.
Es gibt ein miteinander verflochtenes Dreieck aus
Serbien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo. Sie
alle wollen in die EU, und sie alle sollen in die EU. Ein
schwarzes Loch in ihrer Mitte kann sich die EU auf
Dauer nicht leisten. Dazu müssen jedoch die Beziehungen zwischen diesen drei Nachbarn verbessert werden.
Was sie entwickeln müssen, ist konstruktive Zusammenarbeit.
Vor einigen Wochen habe ich hier im Plenum eine falsche Information verbreitet. Dafür möchte ich mich entschuldigen und das heute richtigstellen. Die serbische
Regierung war trotz vorheriger Ankündigung nicht geschlossen zur Amtseinführung des neuen serbischen Patriarchen in das kosovarische Pec gereist, und Serbien
beansprucht auch nicht diese Stadt, wie es das im Fall
von Nord-Mitrovica tut. In Pec steht das Patriarchatskloster, dessen Schutz Serbien beansprucht und auch erhält.
Aber Serbien beharrt auf dem Kosovo als Teil seines
Staates und erschwert so die Stabilisierung des Kosovo.
Verschiedene internationale Institutionen agieren deshalb dort nebeneinander und stehen sich oft genug im
Weg. Eine dynamische Wirtschaft kann so kaum entstehen.
Problematisch bleibt auch die Entwicklung BosnienHerzegowinas. Noch immer ist das Land blockiert durch
das Fehlen einer modernen Verfassung. Der Vertrag von
Dayton bleibt Grundlage und Hürde zugleich. Und der
serbische Präsident Tadic tritt im Wahlkampf mit dem
härtesten Blockierer einer Verfassungsreform, dem Präsidenten der serbischen Teilrepublik Dodik, und der früheren Vertrauten des Serbenführers Karadzić Biljana
Plavsić auf.
Die beiden Staaten, die Hauptopfer der Kriege waren, bleiben auch heute zurück, und Serbien tut sich
schwer mit seiner Vergangenheit und Gegenwart.
Deutschland und die EU, involviert in die Geschichte
der Kriege und mitverantwortlich für ihr Ende, sind angesichts des Reformstaus in den Ländern des Balkans
müde geworden. Jetzt werden auch die Mittel zur Unterstützung der Region gekürzt. Aber wir brauchen Dynamik und Anstrengungen. Wir brauchen ständiges und
anhaltendes, ernsthaftes Engagement. Das aber fehlt,
teils in der Region selbst, teils in der EU.
Außenminister Westerwelle hat mit seinem ersten und
bisher einzigen Besuch zur Entspannung im serbisch-kosovarischen Verhältnis beigetragen. Vor Zeiten gab es
Außenminister, die in anderen Regionen monatelange
Pendeldiplomatie betrieben, um Einigungen zu erzielen,
Verhandlungen voranzubringen. Ich wünschte mir einen
deutschen Außenminister, der heute dasselbe auf dem
westlichen Balkan tut und der für die Anerkennung der
staatlichen Realitäten auch in der EU wirbt, um dort
endlich Geschlossenheit zu erzielen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3963 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
anderweitige Vorschläge dazu? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Für eine Stärkung der breit aufgestellten europäischen Grundlagenforschung - Keine finanziellen Einschnitte beim Europäischen Forschungsrat zu Gunsten des Einzelprojekts
ITER
- Drucksache 17/3483 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Stefan Kaufmann,
René Röspel, Martin Neumann, Petra Sitte und Sylvia
Kotting-Uhl.
Das Grundanliegen des vorliegenden Antrags der
SPD - Stärkung des Europäischen Forschungsrates
- ERC - und eine ausgewogene Finanzierung des ITERProjektes - ist richtig. Auch die Forderung nach Verringerung von administrativen Hürden für den ERC erhält
unsere Unterstützung.
Die Bundesregierung ist jedoch schon weiter als die
Opposition:
Bereits im Frühjahr 2010 hat die Bundesregierung in
einem Leitlinienpapier die deutschen Vorstellungen für
die Struktur des 8. Forschungsrahmenprogrammes der
EU-Kommission übermittelt. Dieses Leitlinienpapier
beinhaltet auch eine finanzielle und administrative Stärkung des ERC. Außerdem gehen die Schlussfolgerungen
des Europäischen Rates vom Juli mit dem Ziel einer besseren Kostenkontrolle und einer Verbesserung des Managements bei ITER auf die Initiative der Bundesregierung zurück. Vor diesem Hintergrund fordern Sie nur,
was die Bundesregierung schon lange getan hat.
Ihre weiteren Forderungen, zum Beispiel jene, dafür
Sorge zu tragen, dass ITER nicht auf Kosten gut funktionierender und auch international als innovativ bewerteter Institutionen und Projekte finanziert wird oder dass
ITER nicht auf Kosten der Erforschung und Nutzung der
erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz finanziert wird, sind eher dazu bestimmt, das ITER-Projekt
zum Scheitern zu bringen. Auch das Abstimmungsverhalten Ihrer Parteikollegen im Haushaltsausschuss des
Europäischen Parlaments macht dies deutlich. Der am
6. Dezember im Trilog mit Rat, Kommission und Vertretern des EP mühsam ausgehandelte Kompromiss über
die Bereitstellung zusätzlicher Mittel für das ITER-Projekt wurde nicht zuletzt von Ihrer Fraktion im Haushaltsausschuss zu Fall gebracht. Von einer konstruktiven Opposition keine Spur.
Auch Ihre Einlassungen zur Energieproblematik sind
realitätsfremd. So behaupten Sie in Ihrem Antrag, die
Fusionsforschung käme als Energiequelle definitiv zu
spät. Dabei ist bekannt, dass noch in diesem Jahrhundert der weltweite Strombedarf etwa auf das Sechsfache
des heutigen Bedarfs ansteigen wird. Selbst Greenpeace
rechnet mit einer Vervierfachung des Bedarfs. Dieser
von Experten prognostizierte Bedarf an Energie ist mit
keiner der heute bekannten Technologien zu decken,
auch nicht etwa mit regenerativen Energien.
Die Fusionsenergie verspricht vor diesem Hintergrund gegenüber den bekannten Energiequellen derart
große Vorteile, dass sich alle Anstrengungen lohnen, ihr
zum Durchbruch zu verhelfen. Das gilt im Übrigen auch
dann, wenn man das Projekt noch der Grundlagenforschung zurechnet. Funktioniert die Kernfusion wie geplant, können wir unseren Energiebedarf ab der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts einfach und sauber decken.
Lassen Sie mich Ihnen nur vier Punkte zu bedenken geben:
Erstens: Die für den Fusionsprozess nötigen Grundstoffe - einerseits Deuterium, das in natürlichem Wasser
enthalten ist, andererseits Tritium, das aus Lithium gewonnen wird - sind nahezu überall auf dieser Welt vorhanden; der Vorrat ist nach menschlichen Maßstäben
unerschöpflich. Da die Fusionstechnik eine extrem hohe
Energiekonzentration zur Folge hat, wird im Gegensatz
zur Solar-, Wind- und Wasserkraft auch nur sehr wenig
Fläche verbraucht. Klimatische Schwankungen haben
- wie auch bei der Kernspaltung - keinerlei Einfluss auf
die Fusion. Gerade deshalb ist die Kernfusion ideal für
die Grundlastversorgung von Ballungsräumen sowie
der Großindustrie.
Zweitens: Bei der Kernfusion entstehen praktisch keinerlei CO2-Emissionen. Es ist eine saubere Energieform. Wir dürfen daher die Kernfusion - anders als
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in
Abs. 2 Ihres Antrags - nicht gegen die Förderung erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz ausspielen.
Bei der harten internationalen Konkurrenz liegt die Zukunft Deutschlands als Innovationsstandort in der Forschung. Die Fortführung von ITER hat also nichts damit
zu tun, die Förderung erneuerbarer Energien oder Forschungsausgaben in diesem Bereich zurückzufahren. Im
Übrigen ist die Kernfusion aufgrund der faktisch unbegrenzten Verfügbarkeit ihres Brennstoffs den erneuerbaren Energien gleichzustellen.
Drittens: Die Kernfusionstechnologie bietet auch jenseits der Energiegewinnung im Kraftwerk bahnbrechende Entwicklungsmöglichkeiten. So ist beispielsweise eine Weiterentwicklung für den wichtigen Bereich
der Antriebstechnik vorstellbar.
Viertens: Wir stehen in internationaler Verantwortung. Wie Sie in Ihrem Antrag hervorheben, sind am
ITER-Projekt neben der EU auch Japan, Russland, die
USA, China, Indien und Südkorea beteiligt. Das bietet
Chancen, setzt uns aber auch einer erhöhten Beobachtung aus. Unsere Partner beobachten sehr genau, wie
sich die Bundesrepublik bei diesem wichtigen, zukunftsweisenden Projekt verhält. Auch das verpflichtet uns zu
einer sehr gewissenhaften Prüfung des weiteren Vorgehens. Bei einem Ausstieg müssen insbesondere die Auswirkungen auf die europäische Forschungszusammenarbeit, auf die deutschen Fusionsprojekte in Garching
und Greifswald, aber auch auf andere deutsche Großforschungsprojekte mit internationaler Beteiligung wie
XFEL in Hamburg und FAIR in Darmstadt geprüft werden. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass unsere deutschen Forschungseinrichtungen, zum Beispiel die Helmholtz-Zentren in Jülich und am KIT in Karlsruhe, vor
allem aber das IPP in Garching, bisher überproportional von den Euratom-Mitteln für ITER profitiert haben.
Ohne ITER ist Garching in seiner Existenz bedroht,
ohne ITER fehlt Wendelstein 7-X in Greifswald bzw. dem
Nachfolger DEMO ab circa 2025 die Perspektive.
Die deutsch-französische Zusammenarbeit und
Freundschaft könnte aufgrund des ITER-Sitzes in Cadarache und des damit zusammenhängenden starken französischen Interesses am Projekt in Mitleidenschaft gezogen werden. Auch diese Überlegungen gehören zu einem
ehrlichen Umgang mit der Zukunft von ITER. Eine einseitige Kündigung des ITER-Abkommens ist - abgesehen von den außenpolitischen Verwerfungen - auch forschungs- und umweltpolitisch unverantwortlich. Das
ITER-Abkommen enthält im Übrigen auch keine Rücktrittsmöglichkeit für Euratom als einem der Vertragspartner. Gemäß Art. 24 Abs. 6 ist die Beendigung des
Vertrages nur durch eine Vereinbarung aller Partner
möglich.
Wir - die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bekennen uns zur Fusionsforschung, weil wir die darin
liegenden immensen Chancen zur Sicherung unserer
Energieversorgung über das Jahr 2050 hinaus sehen.
Die Kernfusion ist eine der wichtigsten Zukunftstechnologien überhaupt.
Bei Ihnen hingegen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, lässt sich keine klare Position erkennen.
Einerseits erklären Sie Ihre grundsätzliche Zustimmung
zum ITER-Projekt und beschreiben in Ihrem Antrag die
Fusionsforschung als einen „spannenden Forschungsbereich“, dessen „Vorteile die dafür langfristig verfügbaren Ressourcen und die relative Umweltverträglichkeit im Vergleich zur Kernspaltung sind“. Andererseits
versuchen Sie alles, um das Projekt zu torpedieren. Dies
ist ein erneutes Beispiel für die unklare Haltung der Sozialdemokraten zu beinahe allen politischen Themen. Es
ist schade, dass Sie in der Opposition immer mehr die
Regierungsfähigkeit verlieren, sich mehr und mehr den
Grünen annähern und offensichtlich eine zweite Dagegenpartei werden wollen.
Festzuhalten bleibt: Genau wie bei Stuttgart 21 ist
unklar, ob die SPD das ITER-Projekt unterstützt oder
nicht. Bekennen Sie Farbe und sagen Sie endlich, ob Sie
für oder gegen das ITER-Projekt sind.
Wir stimmen jedenfalls mit voller Überzeugung gegen
Ihren Antrag.
Letzte Woche waren wir auf Ausschussdelegationsreise in Brüssel. Gemeinsam haben wir mit Experten der
Ständigen Vertretung, des Europäischen Parlaments,
der Europäischen Kommission, des Europäischen Rates,
der deutschen Forschungsorganisationen und der Wirtschaft über die europäische Forschungspolitik gesprochen. Das waren zwei sehr intensive und hoch spannende Tage, für deren Organisation ich mich hier noch
einmal ganz ausdrücklich bei den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der Ständigen Vertretung und des Deutschen Bundestages bedanken möchte.
Ich glaube, keiner der Delegationsteilnehmerinnen
und -teilnehmer widerspricht, wenn ich zusammenfassend sage, dass alle Vertreter eine europäische Forschungsinstitution am meisten gelobt haben: den Europäischen Forschungsrat - ERC. Dieses seit 2007 auf der
europäischen Ebene neue Instrument ist Bestandteil des
7. Forschungsrahmenprogramms - FRP. Die Deutsche
Forschungsgemeinschaft - DFG - hat dabei in Bezug
auf Arbeitsweise und Strukturen Pate gestanden. Wie bei
der DFG fördert der ERC einzelne Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler aller Fachrichtungen der Grundlagenforschung. Die Umsetzung des Bottom-up-Prinzips,
Projekte werden dabei von der Basis her von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entwickelt und
allein nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten bewertet, ist hierbei ein Kernelement der Förderung. Eine
Steuerung „von oben“ etwa seitens der EU-Kommission
soll nicht stattfinden. Dies ist für die europäische Forschungsförderung ein neues Prinzip.
Für den Zeitraum 2007 bis 2013 stehen für den ERC
circa 7,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Diese werden
als „starting grants“ für junge Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler sowie als „advanced grants“ an bereits etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben. Die Nationalität der Bewerberinnen und
Bewerber spielt dabei keine Rolle; sie müssen aber innerhalb der EU oder in den assoziierten Staaten forschen. Dass die ausgewählten Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler zur weltweiten wissenschaftlichen Spitzenklasse gehören, zeigt exemplarisch die Verleihung
des diesjährigen Nobelpreis für Physik an Kostya
Novoselov. Herr Novoselov erhielt bereits 2008 einen
„starting grant“.
Dr. Jack Metthey, Direktor der ERC Executive
Agency, erklärte uns letzte Woche in Brüssel, dass im
Vergleich zum Durchschnitt die Bewerbungen von Deutschen für einen ERC-Grant überproportional positiv beschieden wurden. Hier wirkt sich wohl die gute Vorbereitung der Anträge aus, unter anderem durch die DFG.
Feststellen muss man aber auch, dass wir Deutschen
„Exporteure von Talenten“ sind. Denn viele deutsche
Staatsbürger, die einen Grant gewinnen, forschen mit
diesem Geld im europäischen Ausland, insbesondere in
Großbritannien. Auch ziehen wir immer noch zu wenig
ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
nach Deutschland. Hier müssen wir auf Bundes-, aber
auch Landesebene unbedingt nachbessern.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bei aller Euphorie für das Instrument war bei der Delegationsreise aber auch nicht zu überhören, dass die
Administration des ERC durchaus noch verbesserungsfähig ist. Das betrifft die administrativen Regularien für
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber besonders auch die institutionelle Anbindung des ERC und
damit die Sicherstellung des Bottom-up-Prinzips.
So wie das Thema ERC bei unseren Gesprächspartnern die Augen leuchten ließ, so verdrehten sie diese bei
einem anderen Thema: dem Internationalen Thermonuklearen Experimental-Reaktor, kurz ITER. Dabei handelt es sich um ein gemeinsames Projekt der EU,
Japans, Russlands, der USA, Chinas, Indiens und Südkoreas zum Bau und Unterhalt eines Fusionsforschungsreaktors. In diesem Reaktor sollen Abläufe, die in der
Sonne stattfinden, in einem Kraftwerk nachempfunden
werden. Als Standort wurde das französische Cadarache
gewählt. Die EU trägt 45,5 Prozent der Kosten. Im Unterschied zum ERC handelt es sich bei ITER um ein typisches Top-down-Projekt. Dies bedeutet, dass über die
Förderung des Projektes maßgeblich auf politischer
Ebene entschieden wurde und wird.
Was unseren Gesprächspartnern in Brüssel - und ich
denke, uns geht es dabei ähnlich - bei dem Thema besonders übel aufstieß, sind die bekannt gewordenen
enormen Kostensteigerungen für das Projekt. Nach aktuellen Informationen werden die Baukosten für ITER
auf über 15 Milliarden Euro steigen, was eine Verdreifachung der ursprünglichen Kosten bedeutet. Für die EU
heißt dies einen Kostenanstieg auf circa 7,2 Milliarden
Euro, im Vergleich zu den 2,7 Milliarden Euro, die bei
Vertragsunterzeichnung vereinbart waren. Diese Gelder
sollen nach der Entscheidung des Europäischen Rates
aus dem EU-Haushalt fließen. Allein für die Jahre 2012
und 2013 klafft nach heutigen Informationen eine
Finanzierungslücke von 1,3 Milliarden Euro. Ein großer
Teil soll davon aus dem EU-Forschungsbudget gegenfinanziert werden, was nachhaltig negative Auswirkungen
auf die gesamte europäische Forschungslandschaft haben könnte. Frau Professor Helga Nowotny, die Generalsekretärin des ERC, sieht deshalb die Gefahr, dass
auch am ERC gespart werden könnte. Das ist sicher
keine abwegige Einschätzung.
Eigentlich hatten sich Rat, Kommission und Vertreter
des Europäischen Parlaments letzte Woche auf einen
Haushaltskompromiss geeinigt. Geplant waren Budgetumschichtungen im Bereich 1a ({0})
und 2 ({1}) für den Zeitraum 2010 bis 2013.
Dieser Vorschlag ist aber vom Europäischen Parlament
abgelehnt worden. Eine Entscheidung über die ITERFinanzierung ist nun mit ungewissem Ausgang auf 2011
verschoben worden. Wie mögliche Erhöhungen nach
2013, die bei diesem Mammutprojekt leider auch für die
Zukunft nicht ausgeschlossen werden können, abgefangen werden, ist noch vollkommen unklar. Die Kommission hat bereits vorgeschlagen, diese bzw. ähnliche Projekte in Zukunft nicht mehr aus dem allgemeinen EUHaushalt, sondern über einen extra Topf zu finanzieren.
Woher das Geld dafür kommen soll, ist ebenfalls noch
vollkommen unklar. Eine stärkere finanzielle Beteiligung der Mitgliedstaaten an ITER wird somit wahrscheinlicher. Wir als SPD-Bundestagsfraktion lehnen
dies ab.
Ob die Kernfusion in der Zukunft wirklich zu einer
bezahlbaren und sicheren Energiequelle wird, ist vollkommen unklar. Herausfinden werden das unsere Nachnachfolger frühestens 2050. Fusionsforschung ist ein
spannender Forschungsbereich. Für die bereits heute
nötige Energiewende kommt sie als Energiequelle aber
definitiv zu spät. Wir als SPD-Bundestagfraktion fänden
es nicht hinnehmbar, wenn ITER auf Kosten regenerativer Energiequellen finanziert werden würde. Nicht akzeptierbar wäre es außerdem - und ich glaube, da sind
wir uns in diesem Hohen Hause einig - wenn ITER auf
Kosten des bereits heute überaus erfolgreichen ERC gebaut werden würde. Ein einziges Forschungsprojekt darf
einfach nicht auf Kosten aller anderen Forschungsbereiche durchgedrückt werden. Dr. Metthey wies in seinem
Vortrag darauf hin, dass die Einrichtung des ERC ohne
die starke Unterstützung Deutschlands nicht möglich
gewesen wäre. Der ERC benötigt auch weiterhin diesen
Beistand. Eine einstimmige Unterstützung durch den
Deutschen Bundestag wäre deshalb aus meiner Sicht
wünschenswert.
Bei der Fusionsforschung geht es um die Auswirkungen von Strömungen auf die Stabilität der magnetisch
eingeschlossenen Plasmen und auf den Transport von
Energie und Teilchen aus dem Plasma heraus. Das
große Ziel der weltweiten Fusionsforschung ist es, ein
heißes Gas aus Wasserstoff möglichst lange und stabil in
einem Magnetfeldkäfig zusammenzuhalten, um so die
Energieerzeugung durch Verschmelzung der Teilchen
nach dem Vorbild der Sonne in einem Kraftwerk auf der
Erde zu verwirklichen. Diesem Ziel wollen die Forscher
in Zukunft mit dem Fusionsexperiment ITER näherkommen. Auf dem Weg zur Nutzung der Fusionsenergie sind
aber nicht nur einige technische, sondern auch noch
grundlegende physikalische Fragen zu lösen.
Das ist Ihnen alles bekannt, und dennoch habe ich
immer wieder den Eindruck, dass die Kollegen der Opposition, insbesondere Bündnis 90/Die Grünen, die Fusionsforschung zu einseitig betrachten. Immer wieder
höre ich die gleichen Sätze: Bis ITER Energie erzeugt,
vergehen noch vierzig Jahre und mehr. Das lohnt sich
nicht. - Es geht aber bei dem Fusionsreaktor ITER nicht
ausschließlich um die Stromerzeugung. ITER ist ein Forschungsreaktor. Er dient dem Erkenntnisgewinn zur
Plasmaforschung. Was kann Plasma, was tut es unter
bestimmten Bedingungen usw.? Hier geht es um Grundlagenforschung, und die muss finanziert werden, aber
nicht unter den gegenwärtigen Voraussetzungen und
schon gar nicht zum Nachteil anderer Forschungsvorhaben.
Die Ergebnisse des Rates für Wettbewerbsfähigkeit
vom 26. November 2010 stellen die geplante Finanzierung des europäischen Großprojektes ITER vor neue
Herausforderungen. Die Ergebnisse machen ganz deutlich, dass es nach wie vor einen erheblichen Handlungsbedarf bei der Finanzierung gibt und dass das Projekt
Zu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Neumann ({0})
innerhalb kurzer Zeit auf eine nachhaltige finanzielle
Grundlage gestellt werden muss. Dem stimmen wir voll
und ganz zu. Kostendeckelung, nachvollziehbare Kontrollmechanismen und gutes Management sind dafür die
Basis.
Das Großprojekt ITER aber einfach fallen zu lassen,
halten wir nach wie vor für den falschen Ansatz. Denn
ein Scheitern des Projektes kommt aus forschungspolitischer Betrachtung einem immensen Gesichtsverlust
gleich. Internationale Partner jetzt im Regen stehen zu
lassen, hätte auch für andere internationale Projekte fatale Auswirkungen.
Es ist unstrittig, dass bei der Finanzierung des Projektes sowie bei der Arbeitsweise des Managements
noch erheblicher Klärungsbedarf besteht. Der erste Lösungsvorschlag ist nicht, wie wir gehofft hatten, akzeptiert worden. Das zwingt uns zu neuen strategischen und
finanzplanerischen Überlegungen.
Aus den Berichten der Kommission werden zwei
grundlegende Probleme in der Konzeption um das Forschungsprojekt sichtbar: die Finanzierung auf der einen
Seite und die konzeptionelle Umsetzung und Controlling
auf der anderen Seite. Von Anfang an hätten reale wirtschaftliche Kennzahlen und ökonomische Gesetzmäßigkeiten dem Vorhaben zugrunde gelegt werden müssen.
Die Kalkulation rechnete damals mit einer Gesamtsumme der Kosten von 5,5 Milliarden Euro. Jetzt sind
wir bei Gesamtkosten von 7,2 Milliarden Euro angekommen. Diese Kostensteigerung ist auf erhöhte Rohstoffpreise, neue wissenschaftliche Erkenntnisse, höhere
Qualitätsanforderungen und Fehleinschätzungen über
den notwendigen Umfang von Diagnostiken zurückzuführen.
Erst jetzt wird erkennbar, dass ein wesentliches Einsparpotenzial vorhanden ist. Eine strategisch ausgerichtete Kostenkontrolle hätte bereits zu Beginn eingeführt
und ein konkreter Finanzplan vorgelegt werden müssen.
Das erwarten wir von jedem anderen Forschungsprojekt
auch. Hier liegt vielleicht auch die Volksweisheit „Zu
viele Köche verderben den Brei.“ zugrunde. Hohe Erwartungen, die Verpflichtungen gegenüber wichtigen
wirtschaftlichen Partnern und der potenzielle Verlust
der internationalen Anerkennung haben wohl den Instinkt für Wirtschaftlichkeit und sinnvolle Kosten-Nutzen-Analyse überlagert.
Wir sind daher immer wieder gefordert, uns mit den
enormen Kostensteigerungen zu befassen, die sich bereits im Jahre 2008 abgezeichnet hatten. Die Verteuerung des Projektes ist und bleibt ein ernst zu nehmendes
Problem. Deshalb ist es wichtig, eine Kostendeckelung
einzuführen und Geld zur Verfügung zu stellen, ohne dabei andere wichtige Forschungsprojekte zu gefährden.
Es geht an dieser Stelle aber auch um eine strategische
Entscheidung, in welche Bereiche die EU perspektivisch
Geld investieren möchte. Deswegen halte ich es für
wichtig und richtig, eine Umschichtung aus dem EUAgrarhaushalt zugunsten der Fusionsforschung vorzunehmen. Wir wollen nicht länger unrentable Bereiche
mit enormen Mitteln fördern. Wir wollen in die Zukunft
investieren.
Die bisher geleisteten Forschungsarbeiten dürfen
nicht vergeblich gewesen sein. Deswegen wird das Fusionsforschungsprojekt ITER, auch wenn wir zukünftige
Entwicklungen aufmerksam und kritisch beobachten
und analysieren müssen, von der Bundesregierung nach
wie vor befürwortet und unterstützt. Denn der ITER wird
bahnbrechende Forschungs- und Entwicklungsarbeit ermöglichen.
Das Megaprojekt ITER, der Versuchsreaktor zur Erprobung der Kernfusion, beschäftigt uns hier seit längerem. Aktuell geht es um die Frage, wie kurzfristig
1,4 Milliarden Euro aufgebracht werden können, um
überhaupt weiter planen zu können. Denn bereits vor
dem eigentlichen Baubeginn sind die Kosten explodiert
und lassen sich auch weiterhin kaum verlässlich planen.
Das ist auch der Haken am vorliegenden SPD-Antrag: Die Geschichte der bisherigen ITER-Planung
zeigt, dass die Kosten nicht beherrschbar sind, also
auch nicht zuverlässig gedeckelt werden können, wie
dies die Kolleginnen und Kollegen in ihrem Antrag fordern. Wir treten seit langem dafür ein, aus diesem Projekt auszusteigen, bevor unumkehrbare Tatsachen geschaffen werden - nicht weil wir technikfeindlich sind,
sondern weil neue Technologien nicht ohne ihren sozialen und ökologischen Kontext zu denken sind. Vor diesem Hintergrund fällt ITER aus der Zeit. Es ist ein Produkt der 80er-Jahre, einer Zeit, als internationale
Zusammenarbeit an Großtechnologien über die Grenzen
der Blöcke hinweg etwas Neues war. Unsere Grundkritik
ist, dass eine Technologie, die - wenn überhaupt - frühestens 2050 zur Verfügung steht, nichts zum Kampf
gegen den Klimawandel beitragen kann, bleibt. Die
Zukunft gehört dezentralen und erneuerbaren Energieformen, die jetzt schnell und flächendeckend durchgesetzt werden müssen. Auch dies wird Geld kosten,
Geld, das nicht für den Bau von Megareaktoren verbrannt werden darf.
Der SPD-Antrag lenkt jedoch den Blick auch auf den
Europäischen Forschungsrat, dessen Budget, so der Antragstext, keinesfalls unter den Mehrausgaben für ITER
leiden dürfe. Dieser Forderung kann sich die Linke natürlich anschließen. Die Einzelförderung einer wirklich
innovativen Pionierforschung durch eine wissenschaftsgeleitete Auswahl der geförderten Personen ist eine
richtige Idee. Wir sagen aber auch: das Konzept der
Förderauswahl muss überarbeitet werden.
Mich hat, wie andere Kolleginnen und Kollegen im
Forschungsausschuss auch, die Präsentation des Gründungsgeneralsekretärs des ERC, Professor Winnacker,
im vergangenen Jahr schockiert. Die aktuellen Förderstatistiken bestätigen seine Aussagen:
Die Beitrittsländer in Mittel- und Osteuropa spielen
bei der Vergabe der Fördermittel keine nennenswerte
Rolle. Als Begründung gibt der ERC an, dass diese Länder eben noch nicht solch eine leistungsfähige WissenZu Protokoll gegebene Reden
schaftslandschaft hätten und diese erst aufgebaut werden müsse. Diese Aussage konterkariert das eigentliche
Förderkonzept: Wenn wirklich innovative Köpfe und
nicht große Strukturen gefördert werden sollen, erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass diese Pionierforscher alle in Westeuropa sitzen. Und selbst wenn die Tatsache Berücksichtigung findet, dass knapp 30 Prozent
der Geförderten außerhalb ihres Heimatlandes arbeiten,
bleibt die Feststellung, dass die Verteilung wohl nicht
nur die Leistungsfähigkeit der einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler widerspiegelt. Viel eher
dürfte die Zusammensetzung der Gutachterkommitees
Aufschluss über Präferenzen der ERC-Förderung geben. Die ERC-Präsidentin Helga Nowotny sieht einen
eindeutigen Zusammenhang zwischen Forschungsausgaben des jeweiligen Sitzlandes und Erfolg bei der Förderung durch den Forschungsrat.
Wenn also bei der Förderung nur die ohnehin schon
finanz- und drittmittelstarken Institutionen zum Zuge
kommen, bleibt die Frage: Wie soll die Wissenschaftslandschaft in den neuen EU-Staaten ohne spezifische
Förderung jemals auf Augenhöhe kommen, wenn der
Vorsprung der etablierten Staaten noch zusätzlich durch
ERC-Milliarden und andere Initiativen ausgebaut wird?
Frauen sind schlicht unterrepräsentiert bei der Förderung. Der Anteil sank zuletzt sogar von 20,7 auf
19,4 Prozent. Auch hier ist es sehr unwahrscheinlich,
dass mehr als 80 Prozent der begabtesten Nachwuchswissenschaftler Männer sein sollen. Die Frage, was
Spitzenforschung ausmacht, kann nicht ohne die Berücksichtigung sozialer Kontexte beantwortet werden.
Wer die innovativsten Köpfe sucht, sollte die spezifischen Forschungsansätze aus weiblicher Sicht stärker
berücksichtigen.
Wenn also die Reformen der europäischen Forschungsförderung, auch des Forschungsrates, derzeit
vorbereitet werden, dann geht es nicht nur um Entbürokratisierung. Die Kommissionsdirektion Forschung und
die neue ERC-Präsidentin Helga Nowotny sollten sich
dringend mit der Frage beschäftigen, wie die Förderung
von Spitzenforschung nicht nur denjenigen eine Chance
gibt, die schon qua Publikationsliste und Titel als exzellent gelten, sondern auch denen, die es qua eigener
Ideen werden könnten. Die Förderung von Frauen und
die Unterstützung für die Wissenschaft in den Beitrittsländern muss eine stärkere Rolle im Begutachtungsprozess spielen. Nur dann hat die Bezeichnung Pionierforschung - oder neudeutsch: Frontier Research - für die
Förderung des ERC seine Berechtigung.
Unbestreitbar ist die Fusionsforschung ein spannender Forschungsbereich, der bereits Generationen von
Naturwissenschaftlern fasziniert und der durch die entsprechende Grundlagenfinanzierung politisch zur Blüte
gebracht wurde. Ob die Kernfusion aber jemals in das
Stadium einer verlässlichen Energieproduktion überführt werden kann, steht vollkommen in den Sternen. Für
die bereits heute einzuleitende Zukunft nachhaltiger
Energiegewinnung ist die Fusion kein Beitrag, denn sie
kommt frühestens nach 2050 und damit viel zu spät und
sie ist nicht umweltverträglich.
Seit einem Jahr sind bei ITER erhebliche Kostensteigerungen, eklatante Managementfehler und strukturelle
Probleme bekannt. Die Finanzierung der Mehrkosten
von 1,3 bis 1,4 Milliarden Euro allein in den Jahren
2012/2013 konnte bisher nicht bewerkstelligt werden.
Jetzt hat die Bundesregierung im Ausschuss der Ständigen Vertreter der EU einem Vorschlag der europäischen Präsidentschaft zugestimmt, der eine Finanzierung innerhalb des EU-Haushaltes vorsieht. Es sollen
460 Millionen Euro aus der Rubrik 1 a - unter anderem
Forschung - und 814 Millionen Euro aus der Rubrik 2
- Landwirtschaft - entnommen werden. Aus der Rubrik 1 a werden neben dem Forschungsrahmenprogramm die Programme Lebenslanges Lernen und Erasmus, das Innovationsprogramm für Kleine und Mittlere
Unternehmen sowie die Energieprojekte des Konjunkturbelebungsprogramms finanziert. Das EU-Parlament
hat seine Zustimmung dazu bisher mit Recht verweigert:
ITER ist ein Fass ohne Boden und verhindert ein nachhaltiges Energiekonzept, weil es die Mittel für erneuerbare, kurz- und mittelfristig zu entwickelnde Energien
bindet.
Die Zukunftsaufgabe der europäischen Energierevolution liegt in den erneuerbaren Energien, im Netzausbau und -management, in der Effizienz und in der Green
Economy. Die Herausforderung der klimaverträglichen
Wohlstandssicherung gilt es durch Innovationen zu bewältigen, statt an unhaltbaren Versprechen auf dem Weg
zu „unendlich viel Energie“ zu kleben. Nach mehr als
einem halben Jahrhundert Fusionsforschung haben sich
andere, zukunftsweisendere Wege gezeigt als die fossilen, atomaren Visionen der Fusionsforschung des vergangenen Jahrtausends.
Wir halten deshalb an unserer Forderung nach Ausstieg aus dem Milliardengrab ITER fest und bitten die
Bundesregierung, über den Ministerrat und durch entsprechende europäische Initiativen darauf hinzuwirken,
dass - solange die Finanzierung des Prestigeprojektes
nicht gesichert ist - auch keine weiteren Aufträge für
Komponenten und zum Bau von ITER vergeben werden.
Es ist hochgradig unseriös, das Festhalten am ITERKonzept zu beteuern, ohne die finanzielle Beteiligung absichern zu können. Den europäischen Landwirtschaftsetat für ländliche Entwicklung zu plündern, ist jedenfalls
genau so wenig seriös, wie die europäische Energieforschung einseitig auf ein Fusionsprojekt auszurichten.
ITER is