Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/16/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Vorweg einige Mitteilungen: Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Konsequenzen der Bundesregierung aus der aktuellen PISA-Studie für die Bildungspolitik von Bund und Ländern ({0}) ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver- fahren Ergänzung zu TOP 42 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip Juratovic, Anton Schaaf, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Richtlinien zur konzerninternen Entsendung und zur Saisonarbeit sozial gerecht gestalten - Drucksache 17/4190 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Federführung strittig b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({3}), Marieluise Beck ({4}), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen stärken - Drucksache 17/4196 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbesserung der Versorgung der im Beitrittsgebiet vor dem 1.1.1992 Geschiedenen - Drucksache 17/4195 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- sprache Ergänzung zu TOP 43 a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7}) Sammelübersicht 190 zu Petitionen - Drucksache 17/4215 - b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 191 zu Petitionen - Drucksache 17/4216 - c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 192 zu Petitionen - Drucksache 17/4217 - d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 193 zu Petitionen - Drucksache 17/4218 - Redetext Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 194 zu Petitionen - Drucksache 17/4219 - f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 195 zu Petitionen - Drucksache 17/4220 - g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 196 zu Petitionen - Drucksache 17/4221 - h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 197 zu Petitionen - Drucksache 17/4222 - i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 198 zu Petitionen - Drucksache 17/4223 - j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 199 zu Petitionen - Drucksache 17/4224 ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Ergebnisse des Weltklimagipfels in Cancún ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Kein Atomendlager bei Lubmin Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Tagesordnungspunkt 24 wird abgesetzt. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken entsprechend vor. Darüber hinaus entfallen die Tagesordnungspunkte 5 b und 27 b. Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam: Der am 24. November 2010 überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Auswärtigen Ausschuss ({17}) zur Mitberatung überwiesen werden: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kein Atommüllexport nach Russland - Drucksache 17/3854 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({18}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister des Auswärtigen Fortschritte und Herausforderungen in Afghanistan Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat nun der Bundesminister des Auswärtigen, Guido Westerwelle. ({19})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Bei ihrem Amtsantritt vor etwas mehr als einem Jahr hat die Bundesregierung den Einsatz in Afghanistan einer schonungslosen Analyse unterzogen. Über acht Jahre dauerte der internationale Einsatz da schon. Die großen Anstrengungen schienen ins Leere zu laufen, und ein Ende des Einsatzes war nicht in Sicht. Mit einem umfassenden Afghanistan-Konzept hat die Bundesregierung unser Engagement auf eine neue Grundlage gestellt. Wir haben die Lage realistisch beschrieben. Wir haben uns realistische Ziele gesetzt. Wir haben diese Ziele, unsere Strategie und die dafür notwendigen Mittel mit den Afghanen und mit unseren internationalen Partnern konsequent aufeinander abgestimmt. Wir haben mit der Unterstützung dieses Hauses zusätzliche Soldaten und Polizisten entsandt, um schneller und besser afghanische Sicherheitskräfte auszubilden. Wir haben zusätzliche Mittel für den zivilen Aufbau mobilisiert. Wir haben die politische Lösung vorangetrieben und das Reintegrations- und Aussöhnungsprogramm auf den Weg gebracht. Wir haben unsere eigenen Erwartungen nüchterner und auch realistischer formuliert. Good Governance bleibt ein richtiger Maßstab. Aber wenn wir realistisch sind, dann ist „Good Enough Governance“ - eine ausreichend gute Regierungsführung - das, was wir auf absehbare Zeit in Afghanistan erreichen können. Wir haben uns verabschiedet vom Bild des Entwicklungshelfers in Uniform. Dieses Bild mag manchem im Deutschen Bundestag in der Vergangenheit die ZustimBundesminister Dr. Guido Westerwelle mung zum Einsatz der Bundeswehr leichter gemacht haben; es hat gleichwohl nie gestimmt. Die Lage ist eine andere. Unsere Soldatinnen und Soldaten kämpfen in Afghanistan. Dieser Einsatz kostet Menschenleben. Wir verteidigen in Afghanistan unsere eigene Sicherheit. Deshalb ist dieser Einsatz richtig. Richtig ist auch, dass er nicht endlos dauern darf. ({0}) Wir trauern um unsere 44 toten deutschen Soldaten dieses Einsatzes. Wir fühlen mit ihren Angehörigen. Wir trauern um die vielen Opfer, gleich welcher Nationalität. Wir trauern um die Opfer in Uniform und um die vielen getöteten Zivilisten, die dieser Konflikt und das Ringen um Frieden bis heute gefordert haben. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zu einem Mann sagen, der die Arbeit in Afghanistan maßgeblich mitgestaltet hat. Wir trauern um Richard Holbrooke. Mit seinem plötzlichen Tod verlieren wir einen guten und engen Freund Deutschlands. In London haben wir im Januar den Weg zu mehr afghanischer Führungsverantwortung geebnet. Die afghanische Regierung legte erstmals ganz konkret dar, wie sie ihre Ziele erreichen will: bei der Regierungsführung, bei Aufbau und Entwicklung, bei der Sicherheit, bei Reintegration und Versöhnung. Im Gegenzug haben wir uns verpflichtet, unsere Anstrengungen zu verstärken. Im Juli in Kabul, der ersten Afghanistan-Konferenz in Afghanistan, setzte die afghanische Regierung ihre politischen Zusagen in konkrete Reformprojekte um. Mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft hat sie die notwendigen Strukturen und Institutionen geschaffen, um diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen. Vor vier Wochen in Lissabon haben wir den nächsten Schritt getan und formell mit der afghanischen Regierung und allen NATO-Partnern den Beginn des Übergabeprozesses beschlossen. Wir werden die Übergabe der Sicherheitsverantwortung in den Provinzen im ersten Halbjahr 2011 beginnen. Diese Übergabe in den ersten Provinzen ist nicht gleichbedeutend mit einem sofortigen Truppenabzug, aber sie wird den schrittweisen Abbau der internationalen militärischen Präsenz in Afghanistan einläuten, auch den schrittweisen Abzug der Bundeswehr. Die Abzugsperspektive nimmt dank der erreichten Fortschritte jetzt konkret Gestalt an. In meiner Regierungserklärung am 10. Februar habe ich gesagt: Ende des Jahres 2011 wollen wir so weit sein, unser eigenes Bundeswehrkontingent reduzieren zu können. Heute bin ich zuversichtlich genug, um zu sagen: Ende 2011 werden wir unser Bundeswehrkontingent in Afghanistan erstmals reduzieren können. Wir werden jeden Spielraum nutzen, um damit so früh zu beginnen, wie es die Lage erlaubt, und es vor allem unsere verbliebenen Truppen nicht gefährdet. 2014 wollen wir die Sicherheitsverantwortung in vollem Umfang an die Afghanen übergeben. Dann sollen keine deutschen Kampftruppen mehr am Hindukusch im Einsatz sein. Der Fahrplan steht. Der Weg zu einer selbsttragenden Sicherheit in Afghanistan ist markiert. Wir haben uns vorgenommen, nüchtern einen Schritt nach dem anderen zu tun und das Erreichte immer wieder zu prüfen. Deshalb legt die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag zum ersten Mal einen umfassenden Fortschrittsbericht zu Afghanistan vor. Der Bericht, der Ihnen allen seit Montag zur Verfügung steht, beschreibt das deutsche und internationale Engagement. Er bietet eine ehrliche und realistische Darstellung der Lage. Sicherheit, Regierungsführung und Entwicklung sind darin gleichermaßen gewichtet. Ich danke den Bundesministern der Verteidigung und des Innern sowie dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit für die ausgezeichnete Kooperation in Afghanistan und auch bei der Erstellung dieses ungeschminkten Berichts. Er macht deutlich, was Deutschlands Frauen und Männer der Bundeswehr und der Polizei, die vielen zivilen Helferinnen und Helfer und auch unsere Diplomatinnen und Diplomaten in Afghanistan geleistet haben. Er skizziert auch, was noch alles geleistet werden muss, damit wir die Verantwortung, die wir jetzt dort schultern, an die afghanische Regierung übergeben können. Wir wollen nichts schönreden. Meldungen über Rückschläge gibt es noch immer viel zu viele. Es gibt Korruption, und es hat bei den Wahlen Unregelmäßigkeiten gegeben. Aber es ist ein ermutigendes Zeichen, dass die Afghanen selbst den Fällen von Wahlbetrug unnachgiebig nachgegangen sind. Vieles in Afghanistan ist im Vergleich zum Vorjahr besser geworden. Auch durch unsere Aufbauarbeit im Gesundheitssektor haben inzwischen 80 Prozent der Bevölkerung Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Die Mütter- und Kindersterblichkeit ist signifikant gesunken. Mehr als ein Drittel der Mädchen in Afghanistan gehen heute regelmäßig zur Schule. Allein im Jahre 2010 haben wir über 20 Schulen gebaut. ({1}) Wir haben in diesem Jahr mehrere Stabilisierungsfonds zum Ausbau der Infrastruktur im Norden aufgelegt. Gerade in den strukturschwachen Grenzgebieten zu Tadschikistan und Pakistan zeigen sie Wirkungen bei der Bevölkerung. Neu gebaute Straßen und Brücken fördern die langsam in Gang kommende wirtschaftliche Entwicklung. Die Ausbildung von Soldaten und Polizisten macht schneller Fortschritte als erwartet. Die in London vereinbarte Zahl von rund 300 000 Sicherheitskräften bei Armee und Polizei wird deutlich früher erreicht als geplant. Deutschland trägt seinen Teil dazu bei: Rund 200 Polizistinnen und Polizisten tun in Afghanistan ihren Dienst bei der Ausbildung der afghanischen Polizei. Deutschland hat 2010 insgesamt 77 Millionen Euro für die Polizeiausbildung bereitgestellt. Es ist wahr: Die Zahl der Sicherheitszwischenfälle hat noch einmal deutlich zugenommen. Eine der Ursachen hierfür ist die Verstärkung der internationalen Schutztruppe. Nach einem Jahr mit schweren Kämpfen und zahlreichen Opfern geht es aber auch im Sicherheitsbe8910 reich voran. Das ist nicht nur den ISAF-Truppen, sondern auch den gewachsenen Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte zu verdanken. Es zeigt sich, dass die verstärkte Ausbildung durch die internationale Gemeinschaft, auch durch die Bundeswehr, Früchte trägt: Die afghanische Armee und die afghanische Polizei sind erkennbar professioneller geworden. 2010 haben wir den Fahrplan hin zur vollen Souveränität Afghanistans entwickelt. Wir haben unseren Mitteleinsatz verstärkt und so eine Trendwende geschafft. Im nächsten Jahr wird es darauf ankommen, die Strategie der vernetzten Sicherheit mit ihren militärischen, zivilen und politischen Elementen so konsequent umzusetzen, dass wir in allen Bereichen substanzielle Fortschritte erreichen. Die Selbstverpflichtung der afghanischen Regierung ist Grundlage und Bedingung für solche Fortschritte. Es ist an der afghanischen Regierung, die notwendigen Strukturen zu schaffen und schließlich die Verantwortung für das Leben der Afghanen selbst in die Hand zu nehmen. Sie hat durchaus nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten unterstrichen, dass sie diese Verpflichtung ernst nimmt. Der Konflikt in Afghanistan kann nicht militärisch, sondern nur durch eine politische Lösung beendet werden. Dazu gehört auch, dass mit Vertretern der Aufständischen gesprochen werden muss. Wir haben gemeinsam mit den Afghanen drei rote Linien für die Gespräche definiert - vieles ist verhandelbar, diese Bedingungen nicht -: Erstens: der Rahmen der afghanischen Verfassung und die darin garantierten Menschenrechte. ({2}) Zweitens: das Abschwören von Gewalt. Drittens: das Kappen der Verbindungen zum internationalen Terrorismus. Mit dem Mandat der großen Friedensdschirga vom Juni dieses Jahres wurde das Friedens- und Reintegrationsprogramm der afghanischen Regierung ins Leben gerufen. Der Hohe Friedensrat soll als Scharnier für die notwendigen Gespräche mit den Aufständischen dienen. Wir wissen, dass Gespräche über mögliche Mechanismen der Zusammenarbeit stattfinden. Es liegt in der Natur der Sache, dass dieser Prozess der Versöhnung Zeit brauchen wird und allzu große Öffentlichkeit ihm eher schadet als nutzt. Gleichzeitig geht es um Reintegration, um ausstiegswilligen regierungsfeindlichen Kämpfern einen Weg zurück in die afghanische Gesellschaft zu ebnen. Für diejenigen, die die Waffen niederlegen wollen, muss die Chance geschaffen werden, ein normales Leben zu führen. Deutschland hat sich 2010 mit 10 Millionen Euro am Reintegrationsprogramm beteiligt; weitere 40 Millionen Euro sind bis 2014 fest eingeplant. Das ist besonders wichtig; denn Reintegration und Versöhnung hängen voneinander ab und sind wesentliche Bestandteile des Übergabeprozesses. ({3}) Anfang des nächsten Jahres wird die NATO gemeinsam mit den afghanischen Partnern eine Provinz nach der anderen nach vereinbarten Sicherheitskriterien auf Übergabereife prüfen und die Verantwortung in die Hände der afghanischen Sicherheitskräfte legen. Wir können fest davon ausgehen, dass auch Gebiete im deutschen Verantwortungsbereich in Nordafghanistan zu den ersten Regionen gehören werden, in denen Sicherheitsverantwortung an die Afghanen übergeben wird. Bis 2014 soll dieser Prozess im ganzen Land abgeschlossen sein. So wollen wir es. So will es auch die Regierung Karzai. So ist es gemeinsam verabredet in der internationalen Gemeinschaft. Klar ist aber auch, dass Transition nicht heißt, dass wir unseren Einsatz von heute auf morgen beenden und uns einfach aus Afghanistan zurückziehen können. ({4}) Mit fortschreitender Verantwortungsübergabe werden wir unsere Prioritäten immer wieder anpassen. Der Übergabeprozess muss sorgfältig, nachhaltig und vor allem unumkehrbar sein. Wenn einen Tag nach dem Abzug internationaler Truppen die Taliban wieder einziehen könnten, wäre niemandem geholfen, den Afghanen nicht und auch nicht unserer eigenen Sicherheit. ({5}) Eines ist klar: Wir wollen und werden Afghanistan langfristig weiter in seiner Entwicklung unterstützen. Die NATO-Partner haben sich in Lissabon zu einer langfristigen Zusammenarbeit verpflichtet. Ohne glaubhaftes Engagement der internationalen Gemeinschaft auch über 2014 hinaus wird die Strategie der Übergabe der Verantwortung in Verantwortung nicht funktionieren. In den nächsten zwei Jahren werden wir als nichtständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen besondere Verantwortung für Frieden und Sicherheit tragen. Die Mandatierung des internationalen Engagements in Afghanistan wird für unsere Arbeit in New York eine wichtige Rolle spielen. Unser Ziel ist dabei, die Rolle der Vereinten Nationen und ihrer Mission in Afghanistan langfristig zu stärken. Dafür werden wir nicht nur auf unsere traditionellen Partner, sondern auch auf andere Akteure und besonders auf die entscheidenden regionalen Mächte setzen. Das war Teil meiner Gespräche in Indien, und ich werde das im Januar in Pakistan fortsetzen. Präsident Karzai hat beim NATO-Gipfel in Lissabon angeregt, dass Deutschland Ende 2011, zehn Jahre nach der Petersberg-Konferenz, erneut in Bonn eine internationale Konferenz zu Afghanistan ausrichtet. Wir werten diese Bitte als Beweis dafür, dass Deutschland in Afghanistan als vertrauenswürdiger und ehrlicher Partner gilt. Die Bundesregierung wird dieser Bitte mit Blick auf unser elementares Interesse an einer guten Entwicklung in Afghanistan und der Region insgesamt nachkommen. Noch ist es zu früh, über Einzelheiten der Tagesordnung zu reden, aber diese Konferenz wird uns ein Jahr nach Lissabon Gelegenheit geben, den Stand der ÜberBundesminister Dr. Guido Westerwelle gabe der Sicherheitsverantwortung zu bewerten und die nächsten Schritte bis Ende 2014 vorzuzeichnen. Wir werden auch über das langfristige Engagement der internationalen Gemeinschaft nach 2014 diskutieren. Unser Ziel ist außerdem, dass von einer solchen Bonner Konferenz Impulse ausgehen, die den politischen Prozess in Afghanistan fördern. Nach Jahren, in denen die Anstrengungen der Staatengemeinschaft in Afghanistan vielfach unkoordiniert nebeneinander herliefen, ziehen jetzt erkennbar alle an einem Strang. Wir wollen alles Notwendige tun, damit dieses von Jahrzehnten des Konflikts gezeichnete und zerrüttete Land in einer explosiven Region unserer Welt nicht wieder Rückzugsraum für Terroristen werden kann. ({6}) Wir arbeiten daran, Frieden, Sicherheit und bescheidenen Wohlstand in ein Land zu bringen, das in seiner jüngsten Geschichte nur Krieg, Unsicherheit und bittere Armut erlebt hat. Deutschland hat sich als verantwortungsvolles Mitglied der Weltgemeinschaft und der transatlantischen Allianz dieser Aufgabe von Beginn an gestellt. Wir werden daher dieses Hohe Haus im Januar 2011 erneut um eine Verlängerung des Mandats für den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der internationalen ISAF-Truppen ersuchen. ({7}) Ich möchte mich an die mutigen Frauen und Männer der Bundeswehr wenden, von denen uns viele jetzt zusehen: Wir danken Ihnen für Ihre Arbeit. Wir sind stolz auf das, was Sie leisten. Für viele von Ihnen sind die Belastungen des Einsatzes leider auch nach der Rückkehr in die Heimat noch nicht zu Ende, weil so vieles von dem, was gesehen wurde, verarbeitet werden muss. Ich glaube, dieses Haus darf zum Ausdruck bringen, dass wir auf die Frauen und Männer, die dort vor Ort ihren Dienst tun, stolz sind. ({8}) In diesem Jahr haben mehr als 60 Abgeordnete und auch der Präsident dieses Hohen Hauses Afghanistan besucht. ({9}) Bundestag und Bundesregierung stehen hinter diesem Einsatz. In diesem Jahr haben fünf Bundesminister Afghanistan besucht, ({10}) allein der Bundesverteidigungsminister war siebenmal dort. ({11}) Ich hatte eigentlich nicht vor, etwas dazu zu sagen, ({12}) weil ich diesen Fortschrittsbericht hier heute sehr nüchtern einbringen wollte. Ich will Ihnen nur eines sagen: Es ist Ihr gutes Recht, die Mitglieder der Bundesregierung jeden Tag zu kritisieren, ({13}) aber Ihre Schmähkritik an Frau zu Guttenberg war einfach unanständig. ({14}) Die große Präsenz und die Besuchsdichte zeigen, dass es Interesse und Anteilnahme gibt. Das gibt unseren Frauen und Männern in Afghanistan auch Rückendeckung. Das ist - auch ich stelle bei meinen Reisen immer wieder fest, dass unsere Frauen und Männer in der Bundeswehr und vor Ort dies brauchen und wollen sichtbar. Wenn wir heute ehrlich Bilanz ziehen, ergibt sich ein gemischtes Bild: Licht und noch immer viel zu viel Schatten. Dennoch gibt es jetzt Grund zur Zuversicht, dass wir unsere Ziele erreichen können. ({15}) Dann werden wir nicht nur uns selbst, Europa und die Welt sicherer gemacht, sondern auch Millionen Afghaninnen und Afghanen die Chance auf ein etwas besseres Leben eröffnet haben. Unsere Verantwortung für unser Land, aber eben auch für Afghanistan gebietet uns, dass wir diesen Auftrag wahrnehmen. Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gernot Erler für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der jetzt vorgelegte „Fortschrittsbericht Afghanistan zur Unterrichtung des Deutschen Bundestages“ ist in Wirklichkeit nicht in allen Teilen ein Bericht über Fortschritte. Das ist gut so. Er zeichnet auf 108 Seiten und in 27 Kapiteln ein realistisches und detailliertes Lagebild darüber, wie es in Afghanistan in den zentralen Bereichen Sicherheit, Staatswesen und Regierungsführung sowie Wiederaufbau und Entwicklung steht. Er spricht Fehler der Vergangenheit an, er benennt Defizite und kritisiert auch die afghanische Seite, wo dies angebracht ist. Mit der Vorlage dieses Berichts, in den offensichtlich viel Arbeit investiert wurde - dies erkennen wir an -, hat die Bundesregierung auch auf Forderungen der SPD reagiert. Wir brauchen definitiv bessere Grundlagen für die schwierigen Entscheidungen in Sachen Afghanistan, die wir immer wieder treffen müssen. Da die nächste Entscheidung über eine Mandatsverlängerung bereits im Januar des kommenden Jahres ansteht, ist dieser Bericht auch zur rechten Zeit vorgelegt worden. Der Bericht nutzt verschiedene Informationsquellen, stellenweise auch von außen kommende wissenschaftliche Expertisen. Dadurch wird er aber natürlich nicht zu einer unabhängigen Evaluierung des deutschen Afghanistan-Einsatzes, wie sie SPD und Grüne eingefordert haben. ({0}) Bis heute verstehe ich nicht, warum die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung uns hier so brüsk vor den Kopf gestoßen haben, nachdem eine Verständigung über einen solchen Auftrag schon zum Greifen nahe schien. ({1}) Genau hier liegt die Quelle einiger Leerstellen und Defizite des Berichts, die nicht zu übersehen sind. Die Entwicklung wird generell kritisch beleuchtet. Aber eine selbstkritische Überprüfung der deutschen Aktivitäten in Afghanistan unter Hinzuziehung der Erfahrungen von vor Ort tätigen NGOs und wissenschaftlicher Experten findet eben nicht statt, und das ist bedauerlich. ({2}) Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Vorgestern hat die SPD ihre zweite große Afghanistan-Konferenz in Berlin durchgeführt, mit mehr als 400 Teilnehmern, unter Heranziehung ganz verschiedener Experten. Wir haben dabei übrigens kein einziges verwertbares Bild produziert und auf keinen Effekt abgehoben, sondern eine sehr ernsthafte und lehrreiche Debatte geführt. ({3}) Auf dieser Konferenz wurde das Problem angesprochen, dass durch die zusätzlichen 5 000 US-Soldaten und die ganzen zusätzlichen amerikanischen Programme in der Region des Nordkommandos, wo Deutschland eine besondere Verantwortung trägt, eine Art Überangebot entsteht. Es gibt mehr Geld und mehr Programme, als die afghanische Gesellschaft vor Ort überhaupt aufnehmen und umsetzen kann. Die Folge ist, so wird uns berichtet, dass sich dadurch die Gefahr der Korruption erhöht. Das leuchtet ein, und darauf muss man reagieren. Vorher aber muss man solche kritischen Betrachtungen natürlich erst einmal an sich heranlassen, um dann das eigene Verhalten korrigieren zu können. Das ist der Grund, meine Damen und Herren, warum wir bei aller Würdigung des vorgelegten Fortschrittsberichts an unserer Forderung nach einer unabhängigen Evaluierung des gesamten deutschen Afghanistan-Einsatzes unter systematischer Heranziehung von wissenschaftlichen Expertisen und der vor Ort gewonnenen Erfahrungen von Nichtregierungsorganisationen festhalten. ({4}) Was die Gesamtanalyse der Entwicklung in Afghanistan im zu Ende gehenden Jahr angeht, so decken sich die Feststellungen des Fortschrittsberichts in vielen Punkten mit unseren Eindrücken. In der Tat: Es gibt Licht und Schatten nebeneinander. Am düstersten sieht es immer noch bei der Sicherheitslage aus. Nicht zufrieden sein können wir mit der unverzichtbaren Verbesserung der Regierungsführung, mit den Fortschritten beim Kampf gegen die Korruption und beim Kampf gegen den Drogenanbau - alles auch wichtige sicherheitspolitische Bereiche. Nicht ohne Erfolgsaussicht scheinen die innerafghanischen Aussöhnungs- und Reintegrationsprogramme zu sein, die allmählich anlaufen. Messbaren Fortschritt gibt es beim zivilen Aufbau, wo wir unsere Anstrengungen verstärkt haben. Deutlich mehr müsste im Bereich der regionalen Stabilisierung passieren. Dabei geht es um die Frage, welche Rolle eigentlich Länder wie Pakistan, China, Russland, Iran, die Türkei und die zentralasiatischen Staaten für eine bessere Zukunft Afghanistans spielen können. Hier würden wir uns in der Tat noch mehr Engagement des Außenministers in der Tradition seines Vorgängers erhoffen. ({5}) Wir wie hören, soll der amerikanische Bericht zur Umsetzung der neuen Afghanistan-Strategie zu einer ähnlichen gemischten Bilanz kommen; er wird heute vorgelegt. Botschafter Richard Holbrooke hat bis zu seinem plötzlichen Tod, den wir als schmerzlichen und schwer auszugleichenden Verlust empfinden, unermüdlich an dieser Strategie und an dem Bericht gearbeitet. Unser Mitgefühl gilt seiner Familie und allen Amerikanern, die um diesen großartigen Diplomaten trauern. Von besonderer Bedeutung ist, dass es bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte offenbar vorangeht. Die für Ende Oktober dieses Jahres formulierten Zwischenziele wurden sogar übertroffen, bei der Ausbildung afghanischer Soldaten um 8 000, bei der Ausbildung von Polizisten sogar um 12 000 Mann. Das ist deswegen so wichtig, weil die gesamte internationale Afghanistan-Strategie darauf abzielt, diese Ausbildungsprozesse zu beschleunigen, um Schritt für Schritt die Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände übergeben zu können. Die SPD hat Anfang dieses Jahres für den Abschluss dieses Prozesses den Zeitkorridor 2013 bis 2015 genannt. Wir sind froh, dass jetzt mit dem Zieldatum 2014 ein international anerkannter Konsens erzielt worden ist. Wir glauben, dass es auch realistisch ist, das zu erreichen, wenn wir tatsächlich auf dem Pfad dieser neuen Strategie bleiben und wenn wir rechtzeitig mit den Truppenreduzierungen beginnen. Leider mussten wir aber feststellen, Herr Außenminister, dass Sie selber es waren, der hier Unsicherheiten und sogar ein Durcheinander geschaffen hat. Sie sind soeben auf Ihre Erklärung vor dem Deutschen Bundestag vom 10. Februar zurückgekommen. Da hatten Sie gesagt, dass Ende 2011 mit der Reduzierung begonnen werden soll. Aber wir haben natürlich auch gelesen, was Sie am 6. Dezember in einer Presserklärung gesagt haben - ich darf das zitieren -: Wir werden mit aller Konsequenz darauf hinarbeiten, dass 2011 regional mit der Übergabe der Sicherheitsverantwortung begonnen werden kann. Unser Ziel ist, damit die Voraussetzungen zu schaffen, dass 2012 das deutsche Bundeswehrkontingent in Afghanistan erstmalig reduziert werden kann. In dem jetzt vorgelegten Zwischenbericht gibt es einen Satz auf Seite 9, der auf Seite 34 wiederholt wird. Da heißt es - das ist die dritte Variante -: Im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung beabsichtigt die Bundesregierung, einzelne nicht mehr benötigte Fähigkeiten, soweit die Lage dies erlaubt, ab Ende 2011/2012 zu reduzieren. Sie müssen verstehen, dass man da Klarheit braucht. Man kann in dieser Frage nicht wie ein Schilfrohr schwanken. ({6}) Wir brauchen Sicherheit und Vertrauen zu diesem Fahrplan. Ich hoffe, dass wir uns jetzt auf das, was Sie hier gesagt haben und was wir nur begrüßen können, verlassen können und dass das auch Ausdruck in dem Text des Mandates findet. Das ist außerordentlich wichtig für uns. ({7}) Sie können sich dabei durchaus auf den Fortschrittsbericht berufen. Ich hatte ja schon gesagt, dass der genau festhält, dass in dem zentralen Bereich der Ausbildung tatsächlich Fortschritte erzielt worden sind. Meine Damen und Herren, das ist kein kleinliches Gezerre über Monate, Wochen oder Tage, wie man es manchmal in der Öffentlichkeit hört. Bei dieser Frage geht es um ziemlich viel, nämlich darum, ob wir selber dem vertrauen, was wir uns mit der neuen Strategie in Afghanistan vorgenommen haben, ob wir bereit sind, auch den notwendigen Druck auf die afghanische Seite aufrechtzuerhalten, ihrerseits alles für die Umsetzung der politischen Fahrpläne zu tun, und ob wir in zeitlicher Tuchfühlung mit der amerikanischen Planung bleiben. Hier gibt es nach wie vor die Ankündigung von Präsident Obama, im Juli nächsten Jahres mit der Reduzierung zu beginnen. Dabei wird es mit Sicherheit bleiben. Wir sprechen heute nicht bereits über die Mandatsverlängerung. Wir sprechen über Fortschritte und ausbleibende Fortschritte. Aber wir fordern Sie heute hier schon auf, Herr Außenminister und die ganze Bundesregierung: Machen Sie nicht noch einmal den Fehler wie mit dem Evaluierungsauftrag. Vermeiden Sie unnötige Provokationen und Irritationen. Es gibt offene Fragen. Wir sind heute durch das, was Sie gesagt haben, weitergekommen. Ich habe den Eindruck, dass es bei gutem Willen auf beiden Seiten möglich ist, die Gegensätze zu überbrücken. Sprechen Sie mit uns. Sprechen Sie mit uns, bevor Sie den Mandatstext festlegen. Wir sind dazu bereit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Volker Kauder für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Dass wir heute über einen Fortschrittsbericht unseres Engagements in Afghanistan sprechen können, ist ein großer Fortschritt. Es haben sich alle in diesem Hause daran beteiligt, dass wir einen solchen Bericht bekommen. Es war aber im Wesentlichen doch diese Koalition, die gesagt hat: Wir wollen von der Bundesregierung regelmäßig eine Information darüber, was in Afghanistan erreicht wird und wo noch offene Fragen sind. Ich danke Ihnen, Herr Bundesaußenminister, für diesen sehr differenzierten Bericht, den Sie abgegeben haben. Er zeigt, wo Fortschritte sind. Er schildert aber ebenfalls die Aufgaben; er sagt auch, wo es noch nicht so weit ist, dass wir beruhigt sein können. In dem Bericht steht auch, wo noch etwas getan werden muss. Das weitere Mandat ist natürlich mit diesen Aufgaben verbunden. Herzlichen Dank für diese offene Darstellung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, es muss immer wieder an den Ausgangspunkt zurückgegangen werden, wenn wir in der Öffentlichkeit über Afghanistan sprechen. Wenn es um Afghanistan geht, kann nicht einfach immer nur von „im Augenblick“ oder „in diesem Status“ gesprochen werden. Ausgangspunkt war - das haben auch Sie alle von SPD und Grünen klar so formuliert - der Kampf gegen internationalen Terrorismus und gegen Islamismus. ({0}) Wir haben in einer großen Allianz durch das UNO-Mandat in wenigen Wochen dafür sorgen können, dass das System in Afghanistan die Menschen dort nicht mehr terrorisieren und die ganze Welt nicht mehr in Atem halten konnte. Um an den Ausgangspunkt zu erinnern: Es ist notwendig, zu wissen, was mit diesem Mandat erreicht werden muss, wie es der Außenminister gesagt hat. Es muss erreicht werden, dass eine solche Gefahr von Afghanistan nicht mehr ausgehen kann. Das ist das Ziel. Wir wollen ein Afghanistan, das den Menschen in diesem Land dient und nicht Aufmarschbasis für Terroristen ist. ({1}) Deswegen werden in diesem Bericht ja auch ganz klar die Punkte formuliert, auf die es entscheidend ankommt. Wir unterstützen die Regierung Karzai darin, dass wir das Herstellen von Sicherheit und die Kontrolle dieser Sicherheit in Afghanistan ab 2014 den dortigen heimischen Kräften übertragen können. Dafür wurden das Mandat und die Aufgaben in Afghanistan noch einmal neu definiert. Wir alle haben gewusst, dass diese Neuorientierung auch mit neuen Risiken verbunden sein wird. Wir sind den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr natürlich dankbar dafür, dass sie diesen Auftrag trotz der Gefahren, die damit verbunden sind, erfüllen. Wir sind aber auch allen anderen, die durch die UNO und die NATO an diesem Auftrag beteiligt sind, dankbar. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es in unserer Geschichte schon einmal eine solche konzentrierte Zusammenarbeit zur Lösung eines Problems gab. Man muss sagen: Das ist eine großartige Aktion. ({2}) Ich war in diesem Jahr mit einigen Kollegen in Afghanistan und habe dort mit Soldaten gesprochen. Wir haben natürlich auch darüber gesprochen, wie die Perspektive sein wird, wenn wir ab 2011, 2012, wie es der Außenminister formuliert hat, damit beginnen, Verantwortung auf Afghanistan und die afghanischen Sicherheitseinrichtungen zu übertragen und Fähigkeiten abzuziehen, die wir dort nicht mehr brauchen. Ich war beeindruckt nicht nur von Offizieren und Generälen, sondern auch von ganz normalen Soldatinnen und Soldaten, die uns im Gespräch gesagt haben: Es darf nicht sein, dass unser Einsatz sinnlos war. Sinnlos wäre er gewesen - so haben sie formuliert -, wenn Afghanistan wieder in den Zustand käme, aus dem wir Afghanistan eigentlich befreien wollten. Das war eine beeindruckende Aussage unserer Soldatinnen und Soldaten. Daran müssen wir unseren Einsatz messen. Wir wollen, dass die Situation in Afghanistan wesentlich sicherer ist, als sie war, bevor wir mit unserem Auftrag begonnen haben. ({3}) Natürlich ist völlig klar, dass die Angehörigen der Bundeswehr mit besonderem Interesse darauf schauen, wie in Deutschland über den Einsatz diskutiert wird. Es beschwert den einen oder anderen, wenn er spürt, dass nicht der gesamte Deutsche Bundestag hinter den Einsätzen und den Aufgaben der Bundeswehr steht. ({4}) Deswegen sind wir außerordentlich dankbar, dass so viele Kolleginnen und Kollegen und dass auch die Bundesregierung so regelmäßig in Afghanistan präsent sind. Das zeigt das Interesse und den Rückhalt für den Auftrag und für unsere Soldatinnen und Soldaten. ({5}) Mancher, der sich auch in diesen Tagen zu Besuchen in Afghanistan geäußert hat, hätte allen Grund, selbst einmal dorthin zu fahren und zu fliegen und mit den Soldatinnen und Soldaten darüber zu sprechen. Kritik an der Regierung und an Regierungsmitgliedern gehört zur parlamentarischen Demokratie. ({6}) Aber sich in einer ordinären Art und Weise zu äußern, wie es der SPD-Parteivorsitzende gemacht hat, ist wirklich nicht zu akzeptieren. ({7}) Wenn man sich so äußert, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann muss man damit rechnen, dass das zurückkommt, wie es heute geschehen ist. Ich kann mir vorstellen, dass es den allermeisten in Ihrer Fraktion außerordentlich peinlich ist, wenn jene Dame, die Sigmar Gabriel genannt hat, ihn heute in der BILD-Zeitung mit „Lieber Sigi Knuddelbär“ anschreibt. Wie weit muss man in der SPD sinken, um so etwas zu produzieren? ({8}) Damit haben Sie jeden Anspruch verloren, sich in dieser Frage noch seriös zu äußern, es sei denn, Sie distanzierten sich davon. ({9}) - Jetzt will ich Ihnen einmal etwas sagen - das hat Herr Gabriel produziert -: Was müssen Soldaten darüber denken, wie sich diese Frau zum Zweck ihrer Reise äußert? Ich will es hier nicht sagen. Das, was da aus Ihren Reihen gemacht worden ist, ist unter jedem Niveau. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, selbstverständlich werden wir Verantwortung übergeben. Wir werden unsere Arbeit in Afghanistan fortsetzen, so wie es der Außenminister beschrieben hat. Aber wir wissen natürlich auch, dass wir in Afghanistan noch über viele, viele Jahre hinweg präsent sein müssen, nicht mit Streitkräften, sondern mit Entwicklungshilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Herr Bundesaußenminister, wir wissen auch, dass die Erfüllung der eigentlichen politischen Aufgabe dann erst beginnt; denn Afghanistan kann natürlich nur im Umfeld mit Pakistan, mit Indien, mit all den Anrainerstaaten gesehen werden, wo zwar gute Erklärungen zu den Absichten formuliert werden, wir aber bei weitem noch nicht so weit sind, Afghanistan in ein stabiles Netz der Sicherheit in seiner Region einbinden zu können. Es bleiben also eine Menge Aufgaben, und ich bin dankbar dafür, dass die Bundesregierung dies so differenziert formuliert hat. Natürlich wissen wir ebenso, dass wir auch der Regierung Karzai, um es einmal sehr freundlich zu formulieVolker Kauder ren, beistehen müssen, damit sie die von ihr gesetzten Ziele auch tatsächlich erreicht. ({11}) Ich sage also der Bundeswehr und der Bundesregierung einen herzlichen Dank für das, was in Afghanistan geschieht. Wir begleiten diese Arbeit, weil wir ein Interesse daran haben, dass in Afghanistan eine Situation entsteht, in der die Menschen nach Jahrzehnten von Krieg endlich befriedet leben können, Mädchen wie selbstverständlich in die Schule gehen können, in der Kinder eine Perspektive haben - und nicht mehr der Terrorismus und der Islamismus. Das ist unsere Aufgabe, und sie werden wir zum Erfolg führen. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jan van Aken für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal, Herr Westerwelle, muss ich sagen, dass es tatsächlich ein Fortschritt ist, dass es diesen Bericht überhaupt gibt. Seit neun Jahren führt die Bundesrepublik Krieg in Afghanistan. Neun Jahre lang hat es niemand für nötig gehalten, einmal zu schauen, was dieser Krieg eigentlich in Afghanistan anrichtet. Das richtet sich auch an die Grünen und an die SPD. Sie haben vor neun Jahren gemeinsam diesen Krieg beschlossen. Herr Steinmeier, Sie waren acht Jahre lang Minister einer Bundesregierung, die in Afghanistan Krieg führt. Sie haben es nie geschafft, so einen Bericht vorzulegen. Jetzt plustern Sie sich auf und fordern eine unabhängige Evaluation. Das ist zwar richtig, aber weil Sie das in der Regierung versemmelt haben, können Sie sich jetzt nicht so aufplustern. Das glaubt Ihnen kein Mensch mehr. ({0}) Herr Westerwelle, ich war beim Lesen der ersten Seiten des Berichtes positiv überrascht, weil Sie darin ein ehrliches, ein ganz katastrophales Bild der Situation in Afghanistan zeichnen. Sie schreiben, dass die Sicherheitslage immer schlechter wird. Gerade haben Sie gesagt, dass es eine Trendwende gibt. Aber Ihre Zahlen und Ihr eigener Bericht bieten ein anderes Bild. Sie sagen: Die Sicherheitslage ist so schlecht wie nie zuvor. Sie schreiben in dem Bericht: Es gibt in diesem Jahr mehr Tote als je zuvor, bei den NATO-Soldaten, bei den Bundeswehrsoldaten und natürlich auch, und zwar viel mehr, bei den Afghaninnen und Afghanen. Die Willkür, die Korruption, die Armut sind unvorstellbar groß. Sie schreiben sogar - als ich das las, habe ich gedacht, bei Ihnen gibt es auch einen Maulwurf der Linken; denn wir sagen das schon seit Jahren -: Weil wir mehr Soldaten hingeschickt haben, gibt es mehr Tote in diesem Land. - Das ist doch das beste Argument dafür, die Bundeswehrsoldaten jetzt und sofort aus Afghanistan abzuziehen, wenn sie nur die Sicherheitslage verschlechtern. ({1}) Wenn Sie ein derart ehrliches katastrophales Bild der Lage zeichnen, frage ich mich, warum Sie das Ganze „Fortschrittsbericht“ nennen. Es gibt keinen Fortschritt. Der ganze Bericht ist ein Dokument des Scheiterns. Auf 108 Seiten dokumentieren Sie, wie der Krieg in Afghanistan in neun Jahren auf der ganzen Linie gescheitert ist. ({2}) Sie reden hier heute von Abzug, Sie reden hier heute von Aufbau, und Sie reden hier heute von Terrorismus, Herr Kauder. Ich muss Ihnen sagen: Ihr Abzug ist kein Abzug, Ihr Aufbau ist kein Aufbau, und Ihre Terrorbekämpfung hat nichts mit Terrorbekämpfung zu tun. ({3}) Kommen wir zum ersten Punkt, dem Abzug. Heute Nachmittag wird der amerikanische Präsident, Barack Obama, erklären, dass es beim vorgesehenen Zeitplan bleibt: Im Juli nächsten Jahres beginnt der Abzug der amerikanischen Truppen. Was kann Barack Obama, was Sie nicht können, Herr Westerwelle? Warum können Sie nicht im nächsten Juli mit dem Abzug beginnen? Von mir aus schon heute, aber warum können Sie nicht wenigstens im nächsten Juli damit beginnen? Was kann er besser? Dann komme ich zu dem Punkt, dass Ihr Abzug überhaupt kein Abzug ist. Sie haben gerade gesagt: Es wird nach 2014 keine deutschen Kampftruppen mehr geben. Das ist eine Vernebelungstaktik. ({4}) Denn das heißt, dass offensichtlich andere Bundeswehrsoldaten noch im Land bleiben werden. Sie wollen gar nicht ganz aus Afghanistan herausgehen. In dem Bericht schreiben Sie - das ist nur noch peinlich -, dass die afghanische Regierung Sie bitten wird, im Jahre 2014 noch Bundeswehrsoldaten im Land zu lassen. Wenn Sie das schon heute wissen, dann gibt es offensichtlich Gespräche, vielleicht sogar schon Absprachen, dann müssen Sie das auf den Tisch legen. Sie müssen deutlich sagen, welche Einheiten der Bundeswehr auch nach 2014 bleiben sollen. Wenn Sie jetzt vom Abzug 2014 reden, ist das gelogen. Das sollte kein einziger Mensch da draußen glauben. ({5}) Kommen wir zur Terrorbekämpfung. Herr Kauder hat es gerade gesagt - es steht auch im Bericht -: Der Anfangsgrund und der fortdauernde Grund für den Einsatz in Afghanistan ist die Terrorbekämpfung. Ein paar Seiten weiter ist im Kleingedruckten zu lesen: Al-Qaida ist gar nicht mehr in Afghanistan. Bei Hillary Clinton lese ich - ich bin mir sicher, dass Sie dieselben Informationen haben -: Die Hauptquelle für die Finanzierung von al-Qaida und die ganzen sunnitischen Terroristen kommt aus Saudi-Arabien. Aber mit Saudi-Arabien und seinen Menschenrechtsverletzungen kuscheln Sie. Stattdessen schicken Sie die Bundeswehr nach Afghanistan, obwohl dort gar keine Al-QaidaKämpfer sind. Wenn es Ihnen um Terrorbekämpfung geht, dann müssen Sie das anders machen. Mit Militär und Krieg in Afghanistan geht das nicht. ({6}) Jetzt zum Aufbau. Der Aufbau, wie Sie ihn betreiben, ist gar kein Aufbau. Ich war Anfang des Jahres in Afghanistan. Wir waren im Bundeswehrlager Kunduz und haben gesehen, wie dort der Aufbau funktioniert. Das Lager heißt sogar noch „Wiederaufbaulager Kunduz“. Dazu muss man wissen, dass dort über 1 400 Bundeswehrsoldaten stationiert sind, von denen ganze 12 Wiederaufbauhelfer sind. Die Soldaten selbst sagen, dass sie seit zwei Jahren keinen einzigen Brunnen mehr gebaut und keine einzige Schule mehr eröffnet haben. Unter den Bedingungen des Krieges findet dort kein Aufbau statt. Wir waren auch in Kabul und haben dort mit echten Entwicklungshelfern geredet. Ich habe eine Geschichte gehört, die mich bis heute beeindruckt. Ein Deutscher - er war ein staatlicher Entwicklungshelfer, also kein wildgewordener Nichtregierungsmensch - hat mir von einer Anfrage der holländischen Armee erzählt, die - anders als die Bundeswehr - mittlerweile abgezogen ist, in der Provinz Uruzgan ein Projekt durchzuführen. Uruzgan ist Taliban-Land, schwer umkämpft. Dort wird viel geschossen. Alle Kollegen haben ihm gesagt: Mach das bloß nicht, da wirst du sofort vom Acker geschossen. Dann hat er etwas Schlaues gemacht. Er hat sich an eine afghanische Institution gewandt, die Wissenschaftler in allen Provinzen, Distrikten und ethnischen Gruppen hat. Sie hat ihm eine Analyse erstellt, wer eigentlich das Sagen in Uruzgan hat - die traditionellen Strukturen, die neuen Strukturen -, wer dort auf wen schießt und warum. Mit dieser Analyse in der Hand ist er nach Uruzgan gegangen, hat mit den richtigen Leuten geredet und mit ihnen gemeinsam ein Projekt entwickelt, in dessen Rahmen er nicht nur den Brunnen gebohrt hat, sondern landwirtschaftliche Projekte dazu gemacht hat und sogar eine weiterverarbeitende Industrie aufgebaut hat, damit die jungen Menschen dort nicht nur die Wahl haben, zu den Taliban zu gehen, sondern auch in die Fabrik gehen können. Am Ende sagte er lapidar, er sei nicht vom Acker geschossen worden. Die einzige Bedingung, damit es geklappt hat, war: kein Militär. Die Holländer haben sich daran gehalten und sind nicht in die Nähe des Projektes gegangen. Diese Geschichten hören Sie überall in Afghanistan. Sie können vernünftig aufbauen - ohne Militär. ({7}) Wenn Sie schon nicht auf mich hören - das kann ich ja noch verstehen - und wenn Sie auch nicht auf Ihre eigenen Entwicklungshelfer hören - das könnte ich auch noch verstehen -, dann hören Sie doch vielleicht auf den ehemaligen Bundeswehrarzt, Herrn Erös, der seit Jahren Schulen, auch Mädchenschulen, mitten im Taliban-Gebiet baut. Er sagt genau das Gleiche: erstens mit den richtigen Leuten reden, zweitens ohne Soldaten. Dann klappt es. Das ist für mich das zweite sehr gute Argumente dafür, sofort die Bundeswehr abzuziehen und dort dann endlich einen richtigen Aufbau, einen zivilen Aufbau, anzuschieben. ({8}) Ich muss sagen, dass es auf diesen 108 Seiten tatsächlich eine Erfolgsgeschichte gibt. Sie haben mit zwei großen Kästen herausgestellt, wie Sie den Distrikt Chahar Darreh bei Kunduz von den Taliban befreit haben, wie der Aufbau dort jetzt wieder beginnt. Beim zweiten Lesen habe ich gesehen, dass diese Erfolgsgeschichte zwei, drei Wochen alt ist; das haben Sie in diesem November gemacht. Vorgestern habe ich dann aber in der Zeitung gelesen, dass diese Erfolgsgeschichte schon wieder Makulatur ist, bevor Ihr Bericht überhaupt in Druck gegangen ist. Am Freitag gab es in Chahar Darreh einen schweren Anschlag von Taliban mit vielen Toten und Verletzten. Ihre Erfolgsgeschichten halten zwei, drei Wochen, weil Sie unter Bedingungen des Krieges keinen Frieden in Afghanistan herstellen können. Das funktioniert so nicht. ({9}) Wenn Sie eine Lösung, vor allen Dingen eine langfristige Lösung, in Afghanistan wollen, dann ist am Ende der einzige Weg, dass Sie dort die wirklich demokratischen Kräfte unterstützen. Sie wissen genauso gut wie alle hier im Hause, dass in der Regierung Karzai Kriegsverbrecher, Folterer und Vergewaltiger aus den 90er-Jahren sitzen. Auch viele Abgeordnete im Parlament sind Kriegsverbrecher der 90er-Jahre. Solange sie dort und vor allen Dingen auch in der Regierung Karzai sitzen, wird es keinen Frieden geben. Der einzige Weg ist die Unterstützung der wirklich demokratischen Kräfte, die es ja auch gibt, zum Beispiel den Präsidentschaftskandidaten Baschardost und viele andere, die wir getroffen haben. Wir werden sie im Januar zu einer Konferenz nach Berlin einladen, auf der wir das demokratische Afghanistan vorstellen wollen. Diese Kräfte gilt es zu stärken, und zwar nicht in den nächsten 10 Monaten, sondern in den nächsten 10, 20 Jahren, damit irgendwann der Fortschritt in Afghanistan wirklich stattfindet. ({10}) Ich möchte noch ein letztes Wort zu dem Bericht sagen. Anfang des Jahres haben Sie sich endlich durchgerungen, den Krieg in Afghanistan einen Krieg zu nennen. In diesem Bericht wird der Begriff „Krieg“ kein einziges Mal verwendet; da reden Sie nur von Engagement usw. Ich kann ja noch verstehen, dass Sie nicht gerne von den Realitäten, also vom Krieg, in Afghanistan reden. Aber dann steht hier an drei Stellen für das heutige Afghanistan, für das Afghanistan des Jahres 2010, tatsächlich der Begriff „Nachkriegsgesellschaft“. Wie verquast muss man im Kopf eigentlich sein, dass man in einer Situation, in der in jedem Jahr Tausende von Toten zu beklagen sind, von Nachkriegsgesellschaft spricht? Das geht so nicht. Herr Westerwelle, Sie haben da noch ordentlich Aufbauarbeit zu leisten, vor allem in Ihrem Ministerium, in Afghanistan aber natürlich auch. ({11}) Diese ganze Vernebelungstaktik, dass Sie vom Abzug reden, ihn aber gar nicht meinen, dass Sie nicht von Krieg reden, obwohl er dort tobt, führt natürlich dazu, dass immer mehr Deutsche den Krieg ablehnen. Die letzte Zahl von gestern: 71 Prozent der Menschen wollen den Krieg in Afghanistan nicht. Diese Zahlen steigen immer weiter. Vor einem Jahr, als Sie die Bomben auf Kunduz abgeworfen haben, ist die Ablehnung gestiegen, im April, als es viele in Afghanistan gestorbene Bundeswehrsoldaten zu beklagen gab, ist sie gestiegen, und sie steigt immer weiter. Solange Sie den Menschen nicht die Wahrheit sagen - dies versuchen Sie mit Ihrer Vernebelungstaktik immer wieder -, so lange wird die Ablehnung steigen. Ich sage Ihnen: Sie halten es nicht mehr lange durch. ({12}) Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland keine Waffen mehr exportieren sollte. Gestern hat die Bundesregierung den Rüstungsexportbericht 2009 vorgelegt. Die Zahlen sind wie immer katastrophal. Deutschland ist noch immer der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Nach Ihren Zahlen wurden Waffen im Wert von über 5 Milliarden Euro exportiert. Und das sind Ihre Zahlen! Die Waffenexporte in Entwicklungsländer haben sich verdoppelt. Wissen Sie, wer der zweitgrößte Abnehmer deutscher Waffen ist? Das sind die Vereinigten Arabischen Emirate, die laut Hillary Clinton - das alles können Sie bei WikiLeaks nachlesen - einer der größten Finanziers von al-Qaida sind. Ich finde, wenn Sie wirklich an einer friedlichen Lösung von Konflikten in der Welt interessiert sind, dann müssen Sie grundsätzlich die Waffenexporte einstellen. Am schlimmsten finde ich: Sie haben Saudi-Arabien sogar genehmigt, eine eigene Fabrik für Maschinengewehre der Marke Heckler & Koch zu bauen. Wissen Sie, was das bedeutet? Diese Fabrik wird 50 Jahre, wenn nicht sogar länger, Maschinengewehre der modernsten Bauart produzieren. Diese Maschinengewehre werden mindestens 50 Jahre in Kriegen auf dieser Welt eingesetzt werden. Das heißt, das, was Sie jetzt entschieden haben, wird noch in 100 Jahren überall auf der Welt zu Toten führen. Mir fehlen die Worte. Ich finde das einfach nur furchtbar. ({13}) Eigentlich finde ich das sogar unchristlich. Herr Kauder, Sie müssen sich dabei doch auch an das Christliche in Ihrem Parteinamen erinnern. Ich kann verstehen, dass Sie nicht alle Rüstungsexporte einstellen. Aber wenigstens den bei den Maschinenpistolen, Maschinengewehren und Sturmgewehren, die weltweit zu so vielen Toten führen, müssen wir einstellen. Wir sollten an diesem Punkt zusammenkommen und endlich den Export solcher Waffen verbieten. Ich bedanke mich bei Ihnen. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man nach Herrn van Aken spricht, ist man versucht, seine ganze schöne Redezeit darauf zu verwenden, diesen Unsinn zu widerlegen. ({0}) Ich möchte dieser Versuchung widerstehen und sage deshalb zusammenfassend nur: Herr van Aken, Sie haben ein weiteres Mal bewiesen, dass Ihre Partei außenpolitisch nicht handlungsfähig und nicht ernst zu nehmen ist, Punkt, aus, Ende. ({1}) Wenn wir über den vorliegenden Fortschrittsbericht reden, müssen wir auch analysieren, woher wir kommen, wie die Lage 2001 war. Ohne jeden Zweifel sind zu Beginn unseres Einsatzes durchaus Fehler gemacht worden, unter denen wir heute noch leiden. Fehler eins. Die Strategie des Light Footprints, des zarten Fußabdrucks, zu glauben, dass mit einigen Tausend Soldaten in Kabul so fabelhafte Dinge zu erreichen sind, dass diese auf das ganze Land ausstrahlen, hat nicht funktioniert. Das zweite Problem ist, dass wir in der NATO bedauerlicherweise bis zur Londoner Konferenz in diesem Jahr, bei der die Bundesregierung eine ganz wesentliche Rolle gespielt hat, keine gemeinsame Strategie und keine gemeinsame Zielvorstellung für das weitere Vorgehen hatten. Es stellt einen Fortschritt dar, dass wir nun eine entsprechende Strategie haben. Drittens. Das Nation Building, der Aufbau eines Rechtsstaates, der so ähnlich funktioniert, wie wir das in den westlichen Ländern gewohnt sind, war ein zu ambitioniertes Ziel. Auch hier mussten wir dazulernen. Viertens. Natürlich leiden wir noch heute darunter, Herr Außenminister, dass von Anfang an in Afghanistan eine sehr zentralisierte Organisation aufgebaut und nicht berücksichtigt wurde, wie divers, wie unterschiedlich das Land eigentlich ist. Afghanistan besteht aus 34 Provinzen und 368 Distrikten. Wir müssen tiefer schauen. Unter der zentralen Organisation, die 2001 eingeführt wurde, leiden wir noch heute. Das kommt auch in Ihrem Bericht sehr deutlich zum Ausdruck. Wir sind seitdem einen langen Weg gegangen. Ich darf sagen, dass in den letzten zwölf Monaten sehr viel passiert ist. Sehr viele Fortschritte wurden erzielt. Das fing mit der bereits erwähnten Londoner Konferenz an. Ohne jeden Zweifel hat die Bundesregierung einen we8918 sentlichen Anteil daran, dass wir in London wie nie zuvor in der NATO zusammengekommen sind. Daraufhin hat es die Kabuler Konferenz gegeben, die ausformuliert hat, was Afghanistan tun soll. Das ist zwar noch ungenügend, wie wir alle wissen, aber der Weg ist definiert. Dann folgte die Konferenz in Lissabon, auf der die NATO deutlich gesagt hat, wohin wir gehen und wie das Commitment aussieht. In Lissabon ist sehr deutlich geworden - das ist ganz wichtig -, dass es sich in Afghanistan nicht nur um ein Engagement der NATO handelt. Nicht 28 Staaten sind dort engagiert. Nein, in Afghanistan sind 48 Staaten aktiv. Die Kontaktgruppe, die von dem deutschen Diplomaten Steiner geleitet wird, umfasst auch viele muslimische Staaten. Wir müssen hier im Bundestag und auch in der Öffentlichkeit deutlich darauf hinweisen, dass das Engagement in Afghanistan weit über den Westen im engeren Sinne und die NATO hinausgeht. Es handelt sich um ein Engagement der internationalen Gemeinschaft gegen Menschen, die uns allen etwas Böses wollen. ({2}) Bei diesem Fortschrittsbericht fällt zunächst einmal die sehr prägnante, gute Sprache auf, Herr Außenminister. Sie erlauben mir, Sie zu bitten, das Kompliment an die Verfasser dieser Schrift weiterzugeben; denn diese Sprache ist beispielgebend. Ich wünschte mir, Regierungsdokumente hätten häufiger diese klare, deutliche, verständliche, sympathische Sprache. Dieser Bericht ist ein Fortschritt gegenüber anderen Dokumenten. Er ist klar gegliedert. Auf das Thema Sicherheit wird meine Kollegin Elke Hoff gleich noch näher eingehen. Ich möchte einen Punkt besonders herausstellen, der mir sehr am Herzen liegt, das ist der Einfluss der Region auf die Stabilität Afghanistans, der unter Punkt 9 des Berichts behandelt wird. Hier geht es um einen ganz kritischen Punkt. Ich bin in diesem Sommer in den Iran und nach Indien gefahren, um zu verstehen, inwieweit die Region mehr einbezogen werden kann. Hier sind wir einfach noch nicht gut genug. ({3}) - Das liegt am Außenminister. Liebe Leute, lassen Sie uns hier doch ehrlich sein. Das ist eine Aufgabe, die Sie nun wirklich nicht bewältigt haben und an der wir jetzt gemeinsam weiter arbeiten müssen. ({4}) In Bezug auf den Iran müssen wir deutlich machen, dass es neben dem Nukleardossier noch andere wichtige Themen gibt, die in unserem Interesse sind. Deshalb müssen wir den Iran einbeziehen, und ich bin dankbar, dass Herr Steiner auch in den Iran gefahren ist, um das zu versuchen. Bei meinem Besuch in Indien musste ich feststellen, dass die Inder sich beiseitegesetzt fühlen. Die Inder haben mir gesagt: Im Jahre 2001 in Bonn waren wir noch dabei, im Jahre 2010 in London nicht mehr. Warum eigentlich nicht? Wenn ihr genau hinguckt, müsstet ihr eigentlich alle um unsere intensiven Beziehungen zu Afghanistan und unsere Kenntnis über Afghanistan wissen. - Hier müssen wir einfach besser werden. Aber natürlich ist klar: Der Kernpunkt und Knackpunkt ist Pakistan. Auch hier müssen wir konstatieren - das gehört zu einer offenen Aussprache -, dass wir nicht da sind, wo wir hin müssen. Wir alle von links bis rechts sagen immer gerne den wohlfeilen Satz: Wir können das Problem Afghanistan nicht lösen, wenn wir die Region nicht einbeziehen. - Hier haben wir noch eine große Aufgabe vor uns. Wir müssen Pakistan insbesondere dazu bewegen, auch gegen die afghanischen Taliban in seinem Lande vorzugehen und sich nicht auf ein Vorgehen gegen pakistanische Aufständische zu beschränken. Dabei müssen wir Pakistan unterstützen und Überzeugungsarbeit leisten. Natürlich ist klar, dass auch Pakistan an einem stabilen Afghanistan interessiert sein muss; denn wenn Afghanistan explodiert, explodiert die ganze Region. Dieses Argument müssen wir sehr deutlich weitergeben. Auch beim Thema Regierungsgewalt in den Provinzen, das auf Seite 45 des Berichtes erwähnt ist, haben wir großen Nachholbedarf. Hier ist das Bild ebenfalls unterschiedlich. Es gibt eine ganze Reihe von Provinzen und Distrikten, in denen sehr wohl verantwortungsvolle Distriktführer und Regionsführer im Amt sind, die sehr wohl in der richtigen Weise arbeiten. Aber natürlich müssen wir hier flächendeckend noch sehr viel besser werden. Wir haben heute nicht über das Mandat zu diskutieren. Die heutige Diskussion, die wir alle wollten, ist aber eine Voraussetzung für die Entscheidung über die Verlängerung des Mandats im Januar. Ich möchte deshalb auch gar nicht auf das Mandat eingehen, sondern nur sagen: Lassen Sie uns im Sinne des hier vorgelegten Fortschrittsberichtes und des in Lissabon verabschiedeten Planes für Afghanistan gemeinsam weitere Schritte definieren - gemeinsam, lieber Herr Erler. Ich bin dazu bereit, und ich habe Ihre Rede so verstanden, dass auch Sie dazu bereit sind. Lassen Sie uns gemeinsam an eventuellen Konfliktstellen arbeiten. Dazu möchte ich aber wirklich sagen, lieber Herr Erler: Wir sollten uns nicht zu sehr an Zwischenzeitplänen aufhalten. Die Perspektive 2014 ist das Entscheidende. Zwischenschritte müssen definiert werden, aber ob die Zwischenschritte nun im Februar oder im März eines Jahres kommen, ist meines Erachtens weniger wichtig als die Sicherheit, dass wir auf dem richtigen Wege sind. Die Sicherheit haben wir nicht, aber wir haben ein klares Bild, und wir haben gemeinsam mit unseren Partnern klare Ziele. Wir wollen gemeinsam daran arbeiten, ein besseres Ergebnis zu erzielen, als wir es im Augenblick haben. Schönen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Außenminister, Sie haben seit März den gemeinsamen Antrag von Grünen und Sozialdemokraten zu einer unabhängigen Evaluierung des Einsatzes in Afghanistan mit Ihrer Mehrheit im Haus blockiert und schließlich abgelehnt. Damit haben Sie die Tür zu einer gemeinsamen Bewertung zugeschlagen. Das ist nicht im Interesse der Sache. Das ist und bleibt ein großer politischer Fehler. ({0}) Jetzt haben Sie uns zum ersten Mal einen Fortschrittsbericht zum Einsatz vorgelegt. Damit bewerten Sie sich sozusagen selber, und das ist leider auch deutlich zu merken. Erst einmal sei zugestanden: Die Beschreibungen der Lage sind in vielen Punkten realistisch. Der Bericht skizziert zutreffend die Verschlechterung der Sicherheitslage, die wirklich gravierend ist, die Probleme beim Staatsaufbau, die Korruption und andere Entwicklungshemmnisse in Afghanistan. Da ist Ihr Bericht sehr detailliert, informativ, und das stellt eine Verbesserung im Vergleich zu vielen früheren Unterrichtungen dar. Das erkennen wir auch ausdrücklich an. Aber bei Ihren politischen Bewertungen fragt man sich schon, woher Sie die nach den Beschreibungen eigentlich nehmen. Sie müssen einräumen, dass der Abwärtstrend 2010 nicht gestoppt wurde. Bei Ihnen heißt das dann aber beschönigend: Die Voraussetzungen sind geschaffen worden, um den Abwärtstrend zu stoppen. ({1}) Aus dieser Vermutung leiten Sie dann die Prognose ab, dass es aber Mitte 2011 zur Trendwende kommen wird. Warum? Weil ja der politische Versöhnungsprozess im nächsten Jahr besser laufen wird. - Das nenne ich: Pfeifen im dunklen Walde. Mit seriöser Tatsachenbewertung hat das wenig zu tun. ({2}) Was völlig fehlt, ist jede politische Selbstkritik bezogen auf die Schwächen der neuen ISAF-Strategie. Vor wenigen Tagen haben Experten der amerikanischen Denkfabrik Carnegie Endowment und der International Crisis Group den Afghanistan-Einsatz im letzten Jahr bewertet; das ist der gleiche Zeitraum. Das Ergebnis fällt jeweils deutlich schlechter aus als das, was Sie uns hier vorgelegt haben. Meine Damen und Herren von der Koalition, das sollte Ihnen wirklich zu denken geben. Es läuft gegenwärtig nicht gut in Afghanistan. Die letzten zwölf Monate waren die blutigsten seit Beginn des Einsatzes. Die ISAF-Truppen haben gemeinsam mit der afghanischen Armee großflächig eine offensive Aufstandsbekämpfung begonnen. Für den Süden wurde eine entscheidende militärische Schwächung der Aufständischen angekündigt. Sie ist offenkundig nicht gelungen. Die Carnegie-Studie spricht von einem Patt im Süden. Die International Crisis Group sieht „wenig Anzeichen dafür, dass die Militäroperationen den Aufstand geschwächt hätten“. Das Internationale Rote Kreuz hat diese Woche erklärt, die Lage sei so schlecht wie seit 30 Jahren nicht mehr. Deswegen sage ich: Mit Durchhalteappellen werden Sie diesen Herausforderungen nicht gerecht. Auch Talkshowinszenierungen im Kampfgebiet, Herr zu Guttenberg, helfen da nicht weiter. ({3}) Gleichzeitig sind wenig Fortschritte bei den halboffiziellen Verhandlungen mit den Aufständischen zu erkennen. Es ist festzustellen: Die Strategie, die Taliban an den Verhandlungstisch zu bomben, geht nicht auf. Auch im Norden des Landes, für den wir als Deutsche zentral verantwortlich sind, hat sich die Sicherheitslage verschlechtert. Nach einem Bericht des Wall Street Journal sind die Taliban in der Region so aktiv wie nie zuvor. Was noch schlimmer ist: Die Einstellung gegenüber Deutschland hat sich in der afghanischen Bevölkerung im Norden im letzten Jahr dramatisch verschlechtert. Das zeigt die große Umfrage der ARD und anderer Medien sehr deutlich. Das ist wirklich Anlass zur Sorge; denn ohne das Vertrauen der Bevölkerung - das war einmal das große politische Kapital der deutschen Präsenz werden wir gar nichts erreichen. ({4}) Aber es zeigt sich leider: Mit der offensiven Strategie der Aufstandsbekämpfung wird die Unterstützung vieler Afghaninnen und Afghanen offensichtlich weiter verspielt. Woher Sie angesichts dieser Fakten Ihre optimistische Einschätzung nehmen, 2011 stünde die Trendwende bevor, ist mir schleierhaft. Die Fakten Ihres eigenen Berichts geben das nicht her. Auch die Einschätzung unabhängiger Expertinnen und Experten gibt das nicht her. Herr Westerwelle, nehmen Sie das bitte endlich zur Kenntnis! ({5}) Meine Fraktion hat dem neuen Mandat im Februar mit großer Mehrheit - auch aus genau solchen Befürchtungen heraus - nicht zugestimmt. Sie, Herr Außenminister, haben damals behauptet, mit dem Mandat vollzöge sich - ich zitiere aus Ihrer Erklärung - „eine Schwerpunktverlagerung von dem gegenwärtig eher offensiven Vorgehen der QRF zu einer grundsätzlich defensiven Ausrichtung auf Ausbildung und Schutz“. Meine Damen und Herren von der Koalition, das müssen Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen und mit den Beschreibungen in dem Bericht vergleichen. Das haben wir Ihnen damals schon nicht geglaubt. Sie haben das „Partnering“ neu in das Mandat eingeführt, ohne es klar zu definieren. Wir hatten die Befürchtung, dass das eine schleichende qualitative Veränderung des Mandats bedeutet: die Abkehr von ISAF als Stabilisierungseinsatz hin zu einer Strategie der offensiven Aufstandsbekämpfung in der Fläche. Das - mit Verlaub - ist das Gegenteil von einer defensiven Ausrichtung. ({6}) Ich muss leider feststellen: Diese Befürchtung hat sich bewahrheitet. Damit haben Sie den deutschen Einsatz in Afghanistan auf einen falschen Weg gebracht. Es gibt keine ausreichende Klarheit über den militärischen Auftrag und die politischen Ziele. Das gilt auch für die weitere Perspektive des Einsatzes: die viel zitierte „Übergabe in Verantwortung“ und die konkrete Planung des Abzuges der internationalen Truppen. Eine präzise Planung wäre hier das Gebot der Stunde. Andere Länder gehen diesen Weg. Unser westlicher Nachbar, die Niederlande, hat seine Armee bereits weitgehend nach Hause geholt. Polen, unser östlicher Nachbar, hat erklärt, seine Truppen in den kommenden zwei Jahren abzuziehen. Italien, der viertgrößte Truppensteller, will von 2011 bis 2014 den Abzug vollziehen. Und Schweden, mit dem wir gemeinsam im Norden Afghanistans engagiert sind, hat parteiübergreifend beschlossen, zwischen 2012 und 2014 stufenweise abzuziehen. Und was ist jetzt mit der deutschen Bundeswehr? Das allgemeine Beschwören einer Abzugsperspektive ist noch kein Plan. Wie andere europäische Regierungen muss auch die Bundesregierung einen vollständigen und ehrlichen Abzugsplan vorlegen - mit klaren Zielen und konkreten Zwischenschritten. Jetzt vor der anstehenden Mandatsverlängerung im Bundestag wäre der Zeitpunkt dafür. Ich sage - auch vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Bewertungen -: Länger als bis 2014 sollten die Verbände der Bundeswehr nicht in Afghanistan bleiben. ({7}) Drei Jahre sind ein verantwortbarer Zeitraum für einen koordinierten Abzug. Wenn von der Bundesregierung erwogen wird, der afghanischen Regierung über diesen Zeitpunkt hinaus eine begrenzte Anzahl von Militärausbildern anzubieten, dann sollten Sie das offen sagen und klare Konditionen nennen, aber das nicht einfach so in den Raum stellen. Weichen Sie an diesem Punkt nicht weiter aus! Betreiben Sie keinen Etikettenschwindel - das sage ich noch dazu - mit den Worten von der defensiven Ausrichtung bei Ausbildung durch Partnering - am Ende nach dem Motto: Wir ziehen die Kampftruppen ab, aber die gleichen Soldaten bleiben als Ausbildungseinheiten da. Sagen Sie konkret, was Sie in den nächsten drei Jahren machen wollen! Sagen Sie konkret, was Sache ist! Das erwarten wir spätestens dann von Ihnen, wenn Sie uns in einem Monat das neue Mandat vorlegen. Danke für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/ CSU-Fraktion.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich unsere Grüße an all diejenigen nach Afghanistan senden, die diese Debatte verfolgen. Ich hatte Anfang der Woche zusammen mit dem Kollegen Willsch die Gelegenheit, den Minister auf seiner wichtigen Reise zu begleiten. Wir haben bei der Gelegenheit mit sehr, sehr vielen Soldaten sprechen können. ({0}) Die Ernsthaftigkeit, mit der unsere Debatten verfolgt werden, sollte auch den Stil dieser Debatte hier prägen. ({1}) Ich bin der Meinung, auch nach diesem Besuch und nach vielen Gesprächen mit Soldaten vor Ort, dass sie allen Respekt dafür verdient haben, dass sie mit Mut und Tapferkeit in unserem Auftrag bzw. aufgrund unserer Mandatierung ihren Dienst für unser Land und für die Sicherheit unseres Landes leisten. Deshalb, liebe Soldatinnen und Soldaten, herzlichen Dank für Ihren Mut, Ihren großen Einsatz und für die großen Opfer, die Sie gerade in dieser besonderen Zeit des Jahres, nämlich der Advents- und Weihnachtszeit, bringen! Herzlichen Dank! ({2}) Ich habe Soldaten getroffen, die sich gerade jetzt vor Weihnachten große Sorgen darüber machen, was ihre Angehörigen fühlen, was die Freundin bzw. der Freund denkt, was ihr Lebenspartner oder ihre Lebenspartnerin fühlt und was ihre Eltern beschwert. Ich habe Soldaten getroffen, die versuchen, das ein Stück weit zu überbrücken. Ich begrüße deshalb jede Initiative, insbesondere auch Initiativen von Soldaten selbst, die sich dafür engagieren, diesen Rückhalt in der Bevölkerung, den wir die ganze Zeit beschwören, weiter zu verstärken. Exemplarisch nenne ich Radio Andernach und empfehle allen Kolleginnen und Kollegen, sich einmal intensiv mit der Website zu beschäftigen. Sie werden dann sehen, welche Brücken von Afghanistan bis zu uns hier möglich sind. Über persönliche Begegnungen hinaus kann hier dauerhaft der Kontakt gehalten werden. Den Kontakt zur Truppe zu halten, ist auch Aufgabe des Parlaments; das ist auch Aufgabe der Regierung. Das haben Minister zu Guttenberg und Minister Westerwelle auf vielfältige Weise immer wieder getan. Auch unsere hier getroffenen politischen Entscheidungen werden dadurch legitimiert, dass man in ständigem Kontakt mit den Soldatinnen und Soldaten ist. Das begrüße ich außerordentlich.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollege Ströbele?

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das hat schon Ritualcharakter. Ich nehme die Frage trotzdem an.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Dann gibt es auch noch vom Kollegen Arnold den Wunsch nach einer Zwischenfrage.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Können wir gerne machen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön, Herr Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke schön, Herr Präsident und Herr Kollege. Herr Kollege, haben Sie den Soldaten bei Ihrem Besuch in Afghanistan auch gesagt, dass über 70 Prozent der deutschen Bevölkerung den Einsatz in Afghanistan nicht richtig finden und den Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan befürworten? Haben Sie den deutschen Soldaten in Afghanistan auch gesagt, dass ihr derzeitiger Außenminister die deutsche Öffentlichkeit getäuscht hat, indem er durch Trickserei den Eindruck zu erwecken versucht hat, dass im Jahr 2011 mit dem Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan begonnen werde, während im Bericht der Bundesregierung, den Sie hier verteidigen, steht, dass nicht schon für das Jahr 2011, sondern erst für das Jahr 2012 eine Perspektive für den Beginn des Abzugs der Soldaten aus Afghanistan entwickelt werden soll? Haben Sie den deutschen Soldaten in Afghanistan auch gesagt, dass sie als deutsche Soldaten jetzt bereits längere Zeit in Afghanistan im Kriegseinsatz sind, als der Erste und der Zweite Weltkrieg zusammen gedauert haben, und dass sie nach den Plänen dieser Bundesregierung perspektivisch gesehen noch mindestens vier bis fünf Jahre dort bleiben müssen? ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ströbele, zunächst einmal eine Bemerkung zu Ihrer erneuten Zwischenfrage an mich. Es hat ja wirklich schon bald ritualhaften Charakter, dass Sie sich zu Wort melden, wenn ich am Rednerpult stehe. Ich nehme Ihre Zwischenfragen trotzdem jederzeit gerne an, um Ihnen Ihren Wunsch, hier im Parlament reden zu können, zu erfüllen. Ich bitte aber Ihre Fraktionsführung inständig: Bitte setzen Sie Herrn Ströbele einfach einmal auf die Rednerliste, damit er seine Statements hier nicht immer in Zwischenfragen verpacken muss. ({0}) Herr Ströbele, ich brauche den Soldaten nicht zu sagen, wie lange der Einsatz dauert, denn sie selbst wissen es am besten. Ich brauche den Soldaten auch nicht zu sagen, in welch schwieriger Situation wir uns in Deutschland befinden und wie sehr der Rückhalt in der Bevölkerung für dieses Mandat bröckelt. ({1}) Selbst wenn ein großer Teil der Bevölkerung in unserem Land gegen diesen Einsatz ist, rufe ich den Soldaten trotzdem zu, dass das nicht bedeutet, dass die Menschen in unserem Land gegen unsere Soldaten sind. Das ist nicht so. ({2}) Man kann gegen die Politik der Regierung in diesem Land sein. Es sollte aber nicht der Eindruck erweckt werden, dass sich diese Gegnerschaft auch auf die Bundeswehr bezieht. Ich fahre auch nicht nach Afghanistan, um die Soldaten zu belehren oder ihnen gar so etwas nahezulegen, wie Sie es in Ihrer Frage gerade gemacht haben. Insofern ist, wie ich denke, Ihre Frage beantwortet, und Sie haben die Möglichkeit gehabt, hier Stellung zu beziehen. Der Kollege Arnold hatte noch eine Frage, Herr Präsident. Ihm möchte ich auch die Möglichkeit dazu geben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön, Kollege Arnold.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Mißfelder, wir haben gerade zum ersten Mal gehört, dass zwei Kollegen aus der CDU/CSU den Minister auf dieser Reise begleitet haben. Meine Frage ist: Ist Ihnen bekannt, ob der Minister auch Abgeordnete von anderen Fraktionen eingeladen hat, wie es gerade bei den Weihnachtsreisen der Minister nach meiner Beobachtung in den vergangenen zwölf Jahren der Brauch war? Oder sind Sie inzwischen der Auffassung, dass Parlamentsarmee bedeutet, dass es sich um eine Familienarmee bzw. eine CDU-Armee handelt? ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Arnold, dazu ist mir nichts bekannt, und ich kann deshalb nichts dazu sagen. Ich weiß nur, dass Sie an Reisen teilgenommen haben, zu denen ich nicht eingeladen war. Das hat aus meiner Sicht zum Teil damit zu tun, dass es durchaus Einladungen an verschiedene Kreise geben kann. Mal ist der Teilnehmerkreis auf den Auswärtigen Ausschuss, mal auf den Verteidigungsausschuss und mal auf den Entwicklungshilfeausschuss beschränkt. Es gibt auch Fälle, in denen Persönlichkeiten aus der Verwaltung wie beispielsweise Staatssekretäre dabei sind. Nach meinem Wissensstand kann ich Ihre Frage nur so beantworten, wie ich es gerade getan habe. Ich möchte jetzt noch auf andere Punkte näher eingehen. Selbstverständlich handelt es sich bei diesem Mandat nicht allein um ein Mandat der christlich-liberalen Koalition. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diesen Einsatz verantwortungsvoll fortzuführen. Ich möchte deshalb auch auf das eingehen, was Herr Erler gesagt hat. Ich bin froh, dass Sie hier Ihre Anliegen vorgetragen haben, und nehme das, was Sie gesagt haben, ernst. Ich möchte dazu beitragen, dass in den kommenden Wochen die Gelegenheit genutzt wird, eine breite Unterstützung im Hause für dieses Mandat zu bekommen. Auch das, was Herr Ströbele vorhin zum Thema Abzugsperspektive gesagt hat, ist nicht ganz falsch. Aber diese Verantwortung tragen wir gemeinsam. Natürlich war es ein Fehler, diesen Einsatz in uneingeschränkter Solidarität zu beginnen, ohne festzulegen, wie und nach welchen Kriterien man sich aus dieser schwierigen Mission wieder verabschieden will. Gerade das abgelaufene Jahr zeigt, wie schwierig es ist, entsprechende Kriterien zu entwickeln. Ich mache das nicht nur an Schröders Äußerung von der uneingeschränkten Solidarität fest. Ich mache das insgesamt an unserem Verhalten fest. Wir tragen für dieses Mandat gemeinsam die Verantwortung. Der Fortschrittsbericht zeigt eindeutig: Wir bewegen uns in einem Spannungsbogen. Einerseits müssen wir die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung und auch die der Entwicklungshelfer und all derjenigen, die sich für den Zivilaufbau in Afghanistan engagieren, sehen. Andererseits müssen wir - das ist ein schwieriges Unterfangen - die Übergabe in Verantwortung nach unseren selbstgesetzten Maßstäben, die ich für richtig halte, umsetzen. Unsere selbstgesetzten Maßstäbe sind an Humanität, an Menschenrechten und insbesondere an den Rechten der Frauen in Afghanistan ausgerichtet. Der Minister hat es vorhin sehr deutlich gesagt: Was wir an Erfolgen im Hinblick auf die Verbesserung der Situation der Frauen in Afghanistan erreicht haben, wollen wir nicht leichtfertig aufgeben. Wir bewegen uns in diesem Spannungsbogen zwischen Sicherheitsinteressen in Bezug auf den zukünftigen zivilen Aufbau und den roten Linien, bei denen wir uns im Übrigen mit vielen Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion der Grünen sehr einig sind. Herr Schmidt, ich nehme deshalb das, was Sie gesagt haben, gerne auf. Wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, wie wir es schaffen können, mehr Verantwortung in afghanische Hände zu legen. Das bedeutet, dass wir die Armeeausbildung und die Polizeiausbildung vorantreiben müssen. Der Fortschrittsbericht zeigt in ganz großer Klarheit: Da gibt es sehr viele Fragezeichen. Wenn wir an die staatlichen Institutionen in Afghanistan denken - ich meine nicht den einzelnen Soldaten, sondern die dortigen Verantwortungsträger -, dann müssen wir sehen, dass wir es mit sehr schwierigen Figuren zu tun haben. Wir können es uns aber nicht aussuchen, mit wem wir es dort zu tun haben. Natürlich trifft man den einen oder anderen, von dem man meinen könnte, dass er vielleicht ein besserer Präsident Afghanistans sei. Ein Vertreter der Linken hat es vorhin gesagt. Es stellen sich aber folgende Fragen: Haben diese Personen die Durchschlagskraft, ein Land zu führen? Gibt es in Afghanistan überhaupt die Perspektive einer starken Zentralregierung? Wie wird Afghanistan in 10 bis 15 Jahren aussehen, und mit welchen Leuten hat man es dann in welcher Region zu tun? Deshalb muss man ganz genau hinschauen, wie sich die Abzugsperspektive gestalten soll. Deshalb tun wir uns auch so schwer, einfach mir nichts, dir nichts ein Datum zu nennen, meinetwegen an Landtagswahlen oder an anderen politischen Überlegungen ausgerichtet. Wir machen es uns nicht leicht. Wir reden Klartext mit dem Fortschrittsbericht. Wir übernehmen die Verantwortung, selbst wenn ein großer Teil in unserer Bevölkerung zunehmend Probleme bei der Mandatierung sieht. Wir stehen auch zu dieser Verantwortung, weil wir der Meinung sind, dass man Afghanistan nicht kopflos verlassen darf, sondern nach unseren Kriterien, die ich gerade klar genannt habe, einen Weg aus dieser Mission heraus finden muss. ({0}) Selbst Kritiker des Einsatzes, zum Beispiel wie der Autor Ahmed Rashid, geben uns doch deutliche Hinweise, wie man mit dem Wiederaufbau in Afghanistan umgehen soll. Unser zentraler Punkt ist ja nicht das militärische Engagement. Unser zentraler Punkt - das war der Strategiewechsel, den Minister Westerwelle dankenswerterweise mit eingeleitet hat - ist der Wiederaufbau in Afghanistan. Ahmed Rashid sagt, wenn dieser Wiederaufbau scheitern sollte - Voraussetzung für den Wiederaufbau ist nun einmal Sicherheit -, dann haben die Extremisten in Afghanistan gesiegt. Das wollen wir nicht zulassen. Deshalb wollen wir eine Übergabe in Verantwortung. Der Fortschrittsbericht gibt uns darüber Klarheit und gibt die Richtlinien vor, wie wir sie in Zukunft gestalten können. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Johannes Pflug für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Pflug (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der von Herrn Minister Westerwelle heute vorgestellte Fortschrittsbericht zu Afghanistan ist durchaus kritisch und wenig schönfärberisch. Wir erwarten allerdings immer noch, dass die Bundesregierung den Vorschlag von SPD und Grünen einer unabhängigen Evaluation des internationalen Engagements in Afghanistan ebenfalls aufgreift und bei zukünftigen Berichten entsprechend umsetzt. Herr Minister, neben Erfolgen und Misserfolgen findet man im Bericht der Bundesregierung eine Menge Hoffnung, die weder aufgrund der Ergebnisse des Fortschrittsberichts noch aufgrund der Aussagen unabhängiger Experten angebracht ist. Ob zum Beispiel eine Verbesserung der Sicherheitslage wirklich aufgrund der neuen Counterinsurgency-Strategie gegeben ist, wird sich erst im Frühjahr, nämlich dann, wenn viele Aufständische wieder zu den Waffen greifen und aus ihren pakistanischen Rückzugsräumen nach Afghanistan zuJohannes Pflug rückkehren, zeigen. Die anhaltende massive Verschlechterung der Sicherheitslage in diesem Jahr gibt zumindest wenig Anlass zu Optimismus. Fakt ist außerdem, dass der Bericht selbst einräumt, dass keine der bisherigen Verstärkungen der Militärpräsenz eine Verbesserung der Sicherheitslage bewirkt hat. Und Fakt ist auch, dass der Bericht selbst einräumt, dass letztlich gegenwärtig nur knapp die Hälfte der afghanischen Armeeverbände überhaupt in der Lage ist, ISAFOperationen zu unterstützen. ({0}) Bei der afghanischen Polizei, deren Ausbildung ein Schwerpunkt des deutschen Engagements sein soll, stellt sich die Situation dabei noch weit schlechter dar. Es wird vor diesem Hintergrund nicht ersichtlich, woher die Bundesregierung ihren Optimismus für eine positive Entwicklung im Jahr 2011 nimmt. ({1}) Es wird erst recht nicht ersichtlich, auf welche Fehler, Versäumnisse und Ursachen in der Vergangenheit die schlechte gegenwärtige Sicherheitslage zurückzuführen ist und ob und wie diese in Zukunft vermieden werden können. Besonders bedauerlich ist daher, dass mit dem Fortschrittsbericht eine Chance auf kritische Prüfung der bisherigen Politik und Maßnahmen verschenkt wurde. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Bundesregierung, geschlagen mit ihrem Tunnelblick unter dem Motto „Alles wird gut in Afghanistan“, wesentliche strukturelle Schwierigkeiten des Engagements in Afghanistan bis heute nicht zur Kenntnis nimmt. Diese strukturellen Mängel reichen zurück bis in das Jahr 2001, als sich die Vereinigten Staaten unter maßgeblicher Federführung ihres damaligen Verteidigungsministers Donald Rumsfeld dazu entschlossen, die Taliban und al-Qaida im Wesentlichen aus der Luft zu bekämpfen und die Kämpfe am Boden den ehemaligen Mudschaheddin und Kriegsherren der sogenannten Nordallianz zu überlassen. Erst als bekannt wurde, dass diese Kriegsherren gegen Bezahlung Führer der Taliban und al-Qaida schützten und in Tora Bora zur Flucht verhalfen, während ihre Männer Gräueltaten an der paschtunischen Bevölkerung verübten, entschlossen sich die USA, selbst stärker aktiv zu werden. Allerdings wurde schnell deutlich, dass die amerikanische Regierung keinerlei tragfähiges Konzept für den Staatsaufbau in Afghanistan besaß und diesen dazu auch noch über den Krieg im Irak in der Folgezeit zu lange erheblich vernachlässigte. Dies hatte zur Folge, dass jede der anderen beteiligten Nationen ihre eigene Afghanistan-Politik verfolgte und dass bis zur Afghanistan-Konferenz in London Anfang des Jahres wenig unternommen wurde, um die verschiedenen Engagements zu koordinieren. Nun hat nicht die Bundesregierung allein diese früheren Verfehlungen zu verantworten. Allerdings krankt der Einsatz in Afghanistan noch immer an der mangelhaften Koordination des internationalen Engagements, insbesondere mit der Führungsmacht USA. Herr Minister, konnte die jetzige Bundesregierung beispielsweise in Erfahrung bringen, wann, wo und mit welchen Gruppenkontingenten die USA ihren angekündigten Abzug beginnen wollen und welche Aufgabe sie dabei unserer Bundeswehr zugedacht haben? Hat die Bundesregierung zur Kenntnis genommen, dass sich der US-Truppenabzug im Zweifelsfall an amerikanischen Wahlterminen und weniger an der Situation in Afghanistan orientiert? Muss man davon ausgehen, dass sich die amerikanischen Truppen im deutschen Verantwortungsbereich des Regionalkommandos Nord auf Frühjahrsoffensiven vorbereiten? Wenn dem so ist, wie gedenkt sich die Bundesregierung bei solchen Offensiven im nächsten Jahr zu verhalten, insbesondere wenn die USA deutsche Unterstützung anfordern? Auf all diese Fragen ist die Bundesregierung bisher eine Antwort schuldig geblieben. Es waren in der Vergangenheit keine Initiativen erkennbar, die maßgeblich zur Verbesserung der Situation beigetragen hätten. Herr Minister Westerwelle, da Dauer, Umfang und Art des amerikanischen Engagements zweifellos von direkter Bedeutung für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sind, gilt nach wie vor: Tragen Sie endlich zur Klärung der genannten offenen Fragen bei! Nicht nur die mangelnde Koordination mit unseren Verbündeten in Afghanistan selbst bereitet uns Sorgen: Aktuelle Geheimdienstberichte der Vereinigten Staaten dokumentieren zum wiederholten Mal die besondere Bedeutung, die Pakistan bei der Stabilisierung - oder sollte ich besser Destabilisierung sagen? - Afghanistans zukommt. Solange die afghanischen Aufständischen das afghanisch-pakistanische Grenzland als Rückzugsraum nutzen können, solange Pakistan Afghanistan als Spielball und strategisches Hinterland in seinem Verhältnis zu Indien sieht und die pakistanische Regierung an einem stabilen Afghanistan lediglich unter einer propakistanischen Regierung interessiert ist, wird die Stabilisierung Afghanistans erheblich erschwert. Auch der Iran, China, Indien und Russland besitzen erhebliches Potenzial, das es für den Wiederaufbauprozess in Afghanistan nutzbar zu machen gilt. Wir fordern die Bundesregierung daher auf, die Wahl Deutschlands in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nicht als bloßes Prestigeprojekt zu sehen, sondern als Grundlage, Initiativen für regionale Lösungsansätze für Afghanistan anzustoßen. ({2}) Die Bundesregierung verweist in ihrem Fortschrittsbericht auf die Binsenweisheit, militärisch sei der Konflikt in Afghanistan nicht zu gewinnen. Die SPD-Fraktion war sich dessen stets bewusst; sie hatte dies auch nie vor. Wir fordern die Bundesregierung nachdrücklich auf, die außenpolitische Initiative zu übernehmen, die Koordination mit unseren Verbündeten zu verbessern und auf eine regionale Lösung des Afghanistan-Konfliktes hinzuwirken. ({3}) Außerdem erwarten wir, dass der vorgestellte Fortschrittsbericht in Zukunft durch kritische Quartalsevaluationen ergänzt wird. Schönen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem von der Bundesregierung vorgelegten „Fortschrittsbericht Afghanistan“ wurde zum ersten Mal nicht nur uns Kolleginnen und Kollegen, sondern auch den Bürgerinnen und Bürgern eine Grundlage gegeben, um den Afghanistan-Einsatz nachzuvollziehen. Das ist in den letzten Jahren häufig viel zu kurz gekommen. Unsere Bürgerinnen und Bürger haben jetzt zum ersten Mal die Möglichkeit, die Maßnahmen, die die Bundesregierung ergreift, nachzuvollziehen und vor allen Dingen die weiteren Schritte zu begleiten; denn bei all der berechtigten Kritik in der Vergangenheit: Jetzt müssen wir den Blick nach vorne richten. Ich glaube, dass es der Bundesregierung hier sehr gut gelungen ist, diesen Blick nach vorne zu ermöglichen, sodass wir nachvollziehen können, welche die wesentlichen Schritte beim weiteren Engagement in Afghanistan sein werden. ({0}) Meine Damen und Herren, Herr Minister, ich möchte dem Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Afghanistan vor dem Hintergrund der Kürze der Zeit, die ihm zur Verfügung stand, für seinen Einsatz danken. Herr Steiner hat sich innerhalb kürzester Zeit hervorragend in diese komplexe Materie eingearbeitet. Es ist ihm, der Bundesregierung und uns allen gelungen, die bedeutsame Rolle unseres Landes in der internationalen Gemeinschaft darzustellen. Herr Minister, Sie haben eine Konferenz in Bonn in Aussicht gestellt. Das zeigt, dass Deutschland, verkörpert durch die deutsche Diplomatie und insbesondere durch die Bundeswehr, gerade in dieser Frage hohes Ansehen in der Welt genießt. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön. ({1}) Herr Schmidt, Sie haben eben den Begriff des Partnerings kritisch beleuchtet. Ich glaube, dass es keine Alternative dazu gibt, die afghanischen Sicherheitskräfte ernsthaft in die Lage zu versetzen, dass sie in einem der schwierigsten Konflikte mit einer Aufstandsbekämpfung strategisch umgehen können. Vor allen Dingen muss die Identität der afghanischen Nationalarmee hergestellt werden. Bei Auseinandersetzungen vor Ort und kleinen Scharmützeln zu bestehen ist das eine; eine wirklich funktionsfähige Armee und Polizei aufzubauen, die auf den afghanischen Staat eingeschworen ist, ist aber etwas anderes. Ich glaube, dass die internationale Gemeinschaft in diesem Zusammenhang eine ganz entscheidende Rolle spielt, und zwar nicht nur bei der Ausbildung der Streitkräfte, wozu wir uns meines Erachtens langfristig verpflichten müssen. Wir müssen die afghanischen Sicherheitskräfte vielmehr in die Lage versetzen, in Afghanistan in Zukunft das Gewaltmonopol auszuüben. Es kann nicht sein, dass einzelne Warlords, dass einzelne, selbsternannte Chefs in den Regionen das Gewaltmonopol, das eigentlich der Staat haben sollte, an sich reißen. Deswegen sollten wir die afghanische Regierung, aber auch die afghanischen Streitkräfte bei dieser wichtigen Aufgabe unterstützen. ({2}) Dazu gehört natürlich auch, lieber Kollege Schmidt, dass die afghanische Armee in die Lage versetzt wird, zu kämpfen. Dazu gehört, dass sie dafür ausgebildet ist. Dazu gehört aber auch, dass sie entsprechend finanziert ist. Die internationale Gemeinschaft hat Verantwortung übernommen und Unsummen von Geld zur Verfügung gestellt. Ich möchte auch die Bundeswehr mit allem Nachdruck bei dieser Aufgabe unterstützen. Unsere Soldatinnen und Soldaten verdienen für das, was sie im Rahmen des Partnerings, das schon jetzt stattfindet, auch im Bereich unserer OMLTs, allen Dank und alle Anerkennung. Sie sind diejenigen, die das Vertrauen der afghanischen Sicherheitskräfte gewinnen müssen. Unsere Soldatinnen und Soldaten sind in diesem Zusammenhang auch Botschafter unseres Landes. Wenn es keine Nähe zwischen der deutschen Bundeswehr und den afghanischen Streitkräften gibt, entsteht auch kein Vertrauen. Dabei haben wir mit Recht auch Erwartungen an die Afghanen. Ich habe uneingeschränktes Vertrauen, dass wir auf dem richtigen Weg sind und die richtige Strategie umsetzen. Wir müssen uns ein Weiteres vor Augen halten: Eine Counterinsurgency, eine Aufstandsbekämpfung, ist eine der schwierigsten militärisch-zivilen Missionen, die man sich überhaupt denken kann. Ohne die Unterstützung und die Geduld der Parlamente - ich weiß, dass es schwer ist, immer wieder erklären zu müssen, warum es keinen riesengroßen Fortschritt gibt - ist sie nicht möglich. Wir haben uns verpflichtet, und die NATO hat sich einstimmig auf dieses Ziel festgelegt. Deshalb ist es meines Erachtens unsere Aufgabe, unsere Streitkräfte, unsere Diplomaten und unsere zivilen Aufbauhelfer mit der höchstmöglichen Rückendeckung für diese schwierige Aufgabe zu versehen. ({3}) Herr Minister, ich kann Sie nur unterstützen und ermuntern, auf diesem Weg weiterzugehen. Ich hoffe, dass die Konferenz in Bonn ein Schritt auf dem Weg zu einem langfristigen, kontinuierlichen und politischen Versöhnungsprozess ist. Wir können nicht den dritten Schritt vor dem ersten machen. Ich glaube, dass Sie hiermit das richtige Signal setzen und einen Schritt in die richtige Richtung gehen. Ich hoffe, dass es gelingen wird, alle Akteure an den Tisch zu bringen. Es ist ein besonderes Verdienst Ihres Hauses, dass es gelungen ist, auch den Iran in die Afghanistan-Kontaktgruppe einzubinden. Es gibt eine Menge gemeinsamer Interessen. Ohne die Nachbarn Afghanistans - das haben viele Kollegen heute zu Recht deutlich gemacht - können wir als Bundesrepublik Deutschland diese Aufgabe in dieser Region mit Sicherheit nicht stemmen. Lassen Sie uns in der internationalen Gemeinschaft nach dem Motto verfahren: Wir sind zusammen hineingegangen, wir sollten auch zusammen hinausgehen. ({4}) Ganz herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Karl Lamers für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Dr. Karl A. Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002716, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Jahr 2010 kann durchaus als Wendepunkt im Afghanistan-Einsatz betrachtet werden. ({0}) Durch den vollzogenen Strategiewechsel, durch neue militärische und zivile Anstrengungen und durch die verstärkte Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte ist es uns gelungen, die Sicherheitslage in Afghanistan zu verbessern. ({1}) Genau das ist die wichtigste Voraussetzung dafür, unser Ziel zu erreichen: eine Übergabe in Verantwortung. Diese Übergabe kann stattfinden, wenn die Afghanen in der Lage sind, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen. Der Zeitpunkt dafür muss sich an konkreten Fortschritten vor Ort, an klaren Fakten und Kriterien bemessen und nicht an einem Datum, das zum Beispiel Herr Gabriel ein Jahr vorher wahllos festlegt. So geht es nicht. Herr Erler, Herr Steinmeier, Sie wissen das. Wer ankündigt, zu einem exakt festgelegten Zeitpunkt aus Afghanistan zu gehen, gleich in welchem Zustand sich das Land befindet, ({2}) ermutigt doch die Taliban geradezu zum Durchhalten, der gibt ihnen die Möglichkeit, sich zurückzulehnen, uns in Sicherheit zu wiegen und abzuwarten, bis sie das Land wieder unter ihre Kontrolle bringen. Herr Gabriel führt das Wort „Verantwortung“ verdächtig oft im Mund. Allein das Wort im Mund zu führen, reicht aber nicht. Man muss der Verantwortung auch gerecht werden, der Verantwortung gegenüber dem afghanischen Volk, das nicht wieder unter die Terrorherrschaft der Taliban geraten will, der Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, die nicht wollen, dass Terror aus Afghanistan erneut in unsere Länder gebracht wird, und insbesondere der Verantwortung gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten, die täglich ihr Leben für unsere Sicherheit riskieren. An dieser Stelle sage ich unseren Soldatinnen und Soldaten Dank für ihren Einsatz. Sie alle machen sich um unser Land und um unser aller Sicherheit verdient. ({3}) Ich weiß, dass Politik kein Wunschkonzert ist, aber ich habe - insbesondere mit Blick auf Herrn Gabriel eine Bitte: Versuchen Sie wenigstens einmal, Fähigkeit zur Verantwortung über ausgeprägten Hang zum Populismus zu stellen. Das wäre ein Fortschritt. ({4}) Ich danke Ihnen, Herr Minister Westerwelle, und insbesondere unserem Verteidigungsminister zu Guttenberg für ihr überzeugendes Engagement für unsere Soldaten auch und gerade im Einsatzgebiet. Unsere Soldaten brauchen Rückhalt und Unterstützung. Auf peinliche, unsägliche Kommentare können sie gut verzichten. ({5}) Der Einsatz der Bundeswehr war und ist im dringenden Interesse der Sicherheit unseres Landes. ({6}) - Durch Geschrei wird das, was Sie machen, nicht besser. - Vergessen wir nicht den 11. September 2001 und dass die Brutstätten dieses Terrors in Afghanistan waren. Vergessen wir nicht die nachfolgenden verheerenden Anschläge überall in der Welt. Ein Abzug zum falschen Zeitpunkt würde alles, was wir bisher erreicht haben, zunichtemachen. Deutschland hat international Verantwortung übernommen. Wir haben vor, ein verlässlicher Partner im Bündnis zu bleiben. Wir stehen zu unserer Verantwortung. Die NATO hat auf dem Gipfel in Lissabon im November dieses Jahres eine neue Strategie für Afghanistan beschlossen. Diese gilt auch für uns, für Deutschland. Unsere Verbündeten zählen auf uns, so wie wir auf sie zählen. Bis Ende 2014 soll die schrittweise Übergabe der Sicherheitsverantwortung an afghanische Sicherheitskräfte erfolgen. Unser Ziel ist - der Außenminister hat dies in seiner Rede genannt -, 2011 auch im deutschen Verantwortungsbereich im Norden den Übergabeprozess einzuleiten, wenn die Sicherheitslage es zulässt, und ab dem genannten Zeitpunkt nicht mehr benötigte Fähigkeiten zu reduzieren. Das bedeutet keinen vollständigen Rückzug aus Afghanistan. Wir werden in Afghanistan Dr. Karl A. Lamers ({7}) auch nach dem Abzug der Kampftruppen eine langfristige Aufgabe haben. Wir werden die Menschen in Afghanistan nicht im Stich lassen. Es liegt letztlich an uns, die Lage so zu verändern, dass ein verantwortlicher Rückzug in überschaubarer Zeit möglich wird. Mit dem Fortschrittsbericht wird erstmals aufgezeigt, wo wir in Afghanistan stehen. Der Bericht zeigt deutlich die gemachten Fortschritte, aber auch die Defizite. Viel ist zwischenzeitlich erreicht worden - diese Fortschritte dürfen wir nicht gefährden -: Aufbau staatlicher Institutionen, Ausbau der Infrastruktur, des Schulwesens, Fortschritte auf dem Gesundheitssektor. Aber es bleibt noch viel zu tun: Bekämpfung des Drogenanbaus, gute Regierungsführung, Bekämpfung der Korruption ({8}) und insbesondere - das ist für mich wichtig - die Gewinnung der heute in Afghanistan lebenden Jugend für ein besseres Afghanistan. Wir müssen die Afghanistan-Mission zum Erfolg führen, im Rahmen von ISAF, im Verbund der NATO. Ich meine, wir sind auf dem richtigen Weg. In all dem ist aber auch und gerade Präsident Karzai gefordert, seinen Beitrag dazu zu leisten, dass diese Mission erfolgreich durchgeführt wird. Meine Damen und Herren, von Afghanistan darf nie wieder Terror ausgehen. Nach dieser Zielsetzung werden wir auch künftig handeln. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Burkhard Lischka für die SPDFraktion. ({0})

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem haben Sie recht, Herr Außenminister: Der Aufbau eines funktionsfähigen und stabilen afghanischen Staates erfordert einen umfassenden Ansatz, mit der Förderung der Sicherheit, aber auch der guten Regierungsführung und Entwicklung. Nur, Herr Außenminister, Sie ziehen daraus teilweise den falschen Schluss. Wenn Sie und Ihr Parteifreund und Kabinettskollege Dirk Niebel derzeit beispielsweise darangehen, in Afghanistan nur noch solche deutschen Hilfsorganisationen zu unterstützen, die im Norden des Landes tätig sind und bereit sind, dort mit dem Militär zu kooperieren, dann sage ich Ihnen: Das ist ein falscher Schluss, den Sie ziehen. ({0}) Ein solcher Schluss behindert den Aufbau in Afghanistan und befördert ihn nicht. Wer so vorgeht wie Sie, der verengt ziviles Engagement, der begrenzt es, und der beschädigt es. Sie als Außenminister waren es doch, der vor einigen Wochen höchstpersönlich den Geldhahn für ein Rechtsberatungsprojekt für afghanische Frauen zugedreht hat, das die Kölner Organisation Medica Mondiale in Herat, im Westen Afghanistans, seit vielen Jahren sehr erfolgreich betreibt. ({1}) Nur weil Herat nicht im Verantwortungsbereich der Bundeswehr liegt, haben Sie den Geldhahn für dieses Projekt zugedreht. So gefährden Sie die gute und erfolgreiche Arbeit einer deutschen Hilfsorganisation in Afghanistan. ({2}) Herr Außenminister, wenn diese Hilfsorganisation nicht einen neuen Geldgeber in Form einer amerikanischen Stiftung gefunden hätte, dann wäre dieses Projekt jetzt am Ende. Mit einer solchen Art von Politik, Herr Außenminister, unterstützt man Afghanistan und die dort lebenden Menschen nicht, sondern man beschädigt die Menschen und die Helfer, die sich in Afghanistan tagtäglich um eine bessere Zukunft bemühen. Das ist die bittere Kehrseite Ihrer Afghanistan-Politik. ({3}) Wenn der Aufbau in Afghanistan gelingen soll, dann sind wir gerade auf die zum Teil jahrzehntelangen Erfahrungen der Hilfsorganisationen mit den lokalen Gegebenheiten und ihre Kontakte angewiesen. Deren Kenntnisse und vor allen Dingen das Vertrauen, das den Helfern entgegengebracht wird, ist ein immenser Schatz, den wir beim Aufbau Afghanistans benötigen. Diesen Schatz schieben Sie aber offensichtlich arglos beiseite. Wenn diese Hilfsorganisationen in den letzten Monaten wiederholt in der Öffentlichkeit geäußert haben, sie würden von dieser Bundesregierung erpresst, dann zeigt das nur, welchen Scherbenhaufen Sie und Herr Niebel hier inzwischen angerichtet haben, einen Scherbenhaufen, für den Sie die politische Verantwortung tragen. ({4}) Meine Damen und Herren, nach der Lektüre dieses Berichts lautet mein Hauptfazit: Wir müssen vor allen Dingen den Prozess der innerafghanischen Versöhnung, insbesondere unter Einbeziehung der afghanischen Nachbarstaaten, unterstützen und befördern. In der Debatte ist wiederholt gesagt worden: Dabei kommt Pakistan eine Schlüsselrolle zu. Ich weiß nur nicht, Herr Außenminister, ob das bei Ihnen schon so richtig angekommen ist. Ich hätte mir jedenfalls ein stärkeres Engagement von Ihrer Seite und deutlich mehr Aktivitäten dieser Bundesregierung zur Unterstützung dieses Friedensprozesses unter Einbeziehung der afghanischen Nachbarn gewünscht. Die deutsche Außenpolitik hätte eigentlich gerade in dieser Region Gewicht, Herr Minister. Nur, dieses Gewicht muss man auch nutzen. Den Beweis sind Sie bislang schuldig geblieben. ({5}) Der Fortschrittsbericht zeigt auch: Militärisch ist dieser Konflikt in Afghanistan nicht zu lösen. Im Gegenteil, die Akzeptanz der ausländischen Truppen sinkt. Das Ansehen des Westens - so der Bericht - befindet sich auf einem Allzeittief. Daraus kann doch nur folgen, dass wir in absehbarer Zeit den militärischen Teil unseres Engagements beenden müssen. Wir Sozialdemokraten haben deshalb, wie Sie wissen, zu Beginn des Jahres einen sehr verantwortungsbewussten Abzugsplan mit einem Beginn des Abzugs in 2011 und einer Beendigung des militärischen Engagements zwischen 2013 und 2015 vorgelegt. Zu diesem Versprechen stehen wir. Aber an diesem Versprechen werden wir auch alle künftigen Handlungen dieser Bundesregierung messen. ({6}) Ich bin schon etwas verwundert. Anfang des Jahres hatte die Bundesregierung selbst einen Abzugsbeginn im Jahre 2011 in Aussicht gestellt sind. Dann haben Sie, Herr Westerwelle, vor einigen Wochen in der Presse versucht, sich aus diesen Zusagen irgendwie wieder herauszumogeln. Sie haben als Abzugsbeginn das Jahr 2012 ins Gespräch gebracht. Dann haben Sie sich in dieser Debatte an das Pult gestellt und das Jahr 2011 genannt. Die Kollegen Mißfelder und Lamers hingegen haben versucht, das wieder zu relativieren. Also, was gilt denn nun? Wir brauchen eine klare Aussage. ({7}) Ich sage Ihnen: Stehen Sie zu Ihren Aussagen gegenüber den Afghanen, gegenüber den Angehörigen der Bundeswehr, aber auch gegenüber der deutschen Öffentlichkeit. Ein Hinausschieben des Abzugsbeginns kommt nicht infrage; denn ein solches Verschieben würde doch nur den unbedingt notwendigen Druck auf die afghanische Regierung lockern, schrittweise die Sicherheitsverantwortung zu übernehmen. Ein solches Verschieben würde mögliche Ressentiments in der afghanischen Bevölkerung, deren Vorhandensein dieser Bericht auch zeigt, gegenüber einer ausländischen Truppenpräsenz möglicherweise verstärken. Das würde einen verantwortungsbewussten Abzug insgesamt infrage stellen. Deshalb: Stehen Sie zu Ihren Zusagen. Beginnen Sie mit einem Abzug im Jahre 2011. Die Unterstützung der deutschen Sozialdemokratie hierfür werden Sie jedenfalls haben. Recht herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Florian Hahn für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Florian Hahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004048, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht, den uns die mit dem Thema Afghanistan befassten Ressorts vorgelegt haben, beschönigt nichts, sondern er legt in einer sachlichen Art und Weise die Lage der Dinge dar. Eines kommt dabei ganz klar zum Ausdruck: Frieden in Afghanistan kann nicht allein mit militärischen Mitteln erreicht werden. Nein, es sind vor allem politische Maßnahmen, bei denen wir das afghanische Volk unterstützen müssen. Das wissen wir nicht erst seit heute. Wir haben bereits in diesem Jahr mit der geänderten Strategie des vernetzten Ansatzes auch entsprechende Maßnahmen ergriffen. Wir haben durchaus Erfolge zu verzeichnen. Der Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte kommt nach Jahren der Stagnation und fehlender Gesamtkonzeption jetzt zügig voran. Die von uns gesetzten Meilensteine wurden vorzeitig erreicht. Auch die von uns angestrebten Fähigkeiten wurden in Teilbereichen aufgebaut. Es hat sich gezeigt, dass der deutsche Ansatz bei der Polizeiausbildung, sich nicht nur auf Teilbereiche zu beschränken, sondern Ausbildungs-, Ausrüstungs- und Infrastrukturprojekte umzusetzen, zielführend ist. Dies wurde uns nicht zuletzt auch von afghanischer Seite bestätigt. Besondere Herausforderungen für den Aufbau einer professionellen und nach rechtsstaatlichen Prinzipien agierenden Polizei sind die Implementierung von Polizeistrukturen, die Verringerung der Analphabetenrate und die Bekämpfung von Korruption. Nur so kann die Bevölkerung mehr Vertrauen in die Polizei fassen. Neben der weiteren Ausbildung von afghanischen Sicherheitskräften müssen wir auch in den Bereichen Regierungsführung und Infrastruktur, Bildung und Gesundheit die notwendigen Voraussetzungen für eine Übergabe in Verantwortung schaffen. Ein Baustein, der mir beim Aufbau der demokratischen und zivilgesellschaftlichen Strukturen besonders am Herzen liegt, ist die Durchführung der Wahlen. Bereits zweimal hat das afghanische Volk ein Parlament und den Staatspräsidenten gewählt. Die Wahlen waren leider alles andere als frei und demokratisch, sondern von Wahlbetrug und Manipulation geprägt, wie das auch aus dem Bericht hervorgeht. Dennoch ist das meines Erachtens trotz aller Kritik ein erster Ansatz hin zu einer demokratisch legitimierten Gesellschaft. Ich bin fest überzeugt, dass sich derjenige, der sich nach einer Wahl nicht in der Volksvertretung repräsentiert fühlt, zurückzieht oder neu orientieren wird. Das ist ein Nährboden für radikale Kräfte; das wissen wir. Sie dürfen nicht noch mehr Einfluss gewinnen und die Entwicklung hin zu Frieden und Freiheit nicht zunichtemachen. Bei den vielen Meilensteinen, die in Afghanistan erreicht werden müssen, ist die nächste Präsidentschaftswahl aus meiner Sicht einer, dem wir Beachtung schenken müssen, auch wenn die nächste Präsidentschaftswahl erst im Jahre 2014 ist. Gerade diese wird aber besonders spannend sein; denn nach geltender Rechtslage darf der derzeitige Präsident Karzai dann nicht wiedergewählt werden. Die Zeit bis dahin müssen wir nutzen, um das Vertrauen der Bevölkerung in diese demokratische Form der Volksrepräsentation zu gewinnen. Schon im Vorfeld müssen wir entschieden auf eine bessere Vorbereitung hinwirken und einen demokratischen Ablauf gewährleisten. Sehr geehrte Damen und Herren, durch den vorliegenden Bericht wird uns einmal mehr aufgezeigt, dass die Bevölkerung in Afghanistan wenig Vertrauen in die eigene Regierung hat. Hierbei sind vor allem die Entschlossenheit und Bereitschaft seitens der afghanischen Regierung gefragt. Die Korruption auch in den eigenen Reihen muss noch stärker als bisher bekämpft und eingedämmt werden. Hier erwarte ich einen größtmöglichen Einsatz und Verbesserungen seitens der afghanischen Regierung. Es liegt in unserem ureigenen deutschen Interesse, dass von Afghanistan keinerlei Gefahr mehr für uns und die internationale Gemeinschaft ausgeht. ({0}) Das ist unser Ziel; das wollen wir mit unserem Einsatz am Hindukusch erreichen. Der Weg zu einem friedlichen Afghanistan ist steinig und gefährlich. Eines ist jedoch klar: Der jetzige Weg des vernetzten Ansatzes ist der einzig gangbare. Durch einen zu schnellen und unüberlegten Abzug würden wir das bisher Erreichte wieder zunichtemachen. Das ist nicht in unserem und erst recht nicht im Interesse der afghanischen Bürger. Der Einsatz, den unsere Soldaten und die zivilen Kräfte tagtäglich erbringen, hat unsere vollste Wertschätzung verdient. Ich möchte unseren Einsatzkräften auf diesem Wege danken und ihnen und ihren Familien von dieser Stelle aus ein frohes Weihnachtsfest und Gottes Segen wünschen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Roderich Kiesewetter für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, durch die Debatte in den letzten eineinhalb Stunden wurde deutlich, wie sachlich wir uns über dieses Thema auseinandersetzen können - trotz einiger Schärfen. Ich glaube, ein Grund dieser Sachlichkeit liegt auch darin, dass wir diesen Fortschrittsbericht haben, Herr Außenminister. Wir haben nun klare - ich möchte fast „Benchmarks“ sagen, aber der Begriff ist schon belegt - Richtpunkte, an denen wir unser Handeln messen können, und es stehen dort Aussagen, durch die uns sehr klar gemacht wird - das erkennen wir, wenn wir sie genau betrachten -, wo die Schwierigkeiten liegen. Zuallererst möchte ich sagen, dass wesentliche Fähigkeiten der afghanischen Regierung noch gar nicht gegeben sind. Durch eine ganz wesentliche Aussage auf den Seiten 41 und 45 des Berichts wird klar: Das afghanische Regierungshandeln ist in weiten Teilen verbesserungsbedürftig. Deshalb haben wir die wesentlichen zivilen und militärischen Ziele unseres Einsatzes bei weitem noch nicht erreicht. Ich danke für diese Klarheit. Auf der anderen Seite möchte ich auch sagen - der Kollege Philipp Mißfelder hat das vorhin angesprochen -: Die Öffentlichkeit braucht viel mehr Informationen. Wir Abgeordnete sind parteiübergreifend gefordert, den Afghanistan-Einsatz zu erklären und uns der Kritik und den Fragen zu stellen. Durch den Fortschrittsbericht wird uns geholfen, dies richtig zu machen. Ich glaube, es ist ganz entscheidend, dass wir mit dem Fortschrittsbericht zu der Bevölkerung gehen und ihr klarmachen, wo die Knackpunkte sind. Es klang vorhin so ganz leicht an: Am kommenden Wochenende werden von unserem Bundesverteidigungsminister parteiübergreifend Abgeordnete nach Afghanistan eingeladen, und zwar all diejenigen, aus deren Wahlkreisen Soldaten in Afghanistan sind. Kompliment und Dank an den Bundesverteidigungsminister! ({0}) Vielleicht ist auch - erlauben Sie mir diese nette Spitze Herr Gabriel dabei. ({1}) Ich möchte kurz über die außenpolitischen Implikationen und anschließend über die Übergabe in Verantwortung sprechen. Über die internationale Kontaktgruppe sind 43 Staaten an der Beantwortung der Frage beteiligt, wie wir die Verantwortung in Afghanistan übergeben. Unter diesen Staaten sind auch 13 muslimische Staaten. Es ist ein Zeichen für die Qualität deutscher Außenpolitik, dass wir dabei eine ganz wesentliche Rolle spielen. Botschafter Steiner leitet die internationale Kontaktgruppe. Von dieser Stelle aus Kompliment und Dank an Herrn Botschafter Steiner für die wesentliche Leistung, die er hier erzielt hat. ({2}) Hierbei geht es auch darum, dass islamische Staaten eingebunden sind. In dem Bericht kommt die regionale Einbindung - das liegt in der Natur der Sache - noch etwas zu kurz. Das wird sich mit der Fortschreibung des Berichts ändern. Wir brauchen glasklar eine Perspektive für den Umgang mit den Taliban in Pakistan. Wir müssen auch der pakistanischen Regierung deutlich machen, was wir von ihr erwarten. Das Abschmelzen, die Rückführung unseres militärischen Engagements kann nicht damit einhergehen, dass die Taliban ihre Einsätze verstärken. Wir können einen Abzugstermin also nicht einfach festlegen. Das sage ich an Ihre Adresse, Herr Dr. Erler. Entscheidend ist - ich glaube, darin sind wir uns alle sehr einig -, dass wir in diesem Parlament im Sommer und im Herbst dieses Jahres eine ganze Menge geleistet haben. Meines Erachtens ist auch der Brückenschlag mit Blick auf die Evaluierung gelungen. Wir hatten eine Anhörung. Wir haben dem Vorschlag nicht zugestimmt, dass wir die Evaluierung wissenschaftlichen Experten überlassen. ({3}) Wir wollen als Abgeordnete die Verantwortung übernehmen und sie nicht der Wissenschaft übertragen. Für uns ist es entscheidend, dass wir als Abgeordnete in der Verantwortung bleiben, statt uns darauf zu berufen, die Wissenschaft habe dieses und jenes gesagt. Dennoch ist die Wissenschaft beteiligt. Darin sind wir uns wieder einig. ({4}) Auch die heutige Aussprache zeigt: Die Tendenz weist in die richtige Richtung. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der die Übergabe in Verantwortung und unser Engagement dort betrifft. Sie fordern die Rückführung von Fähigkeiten; wir sprechen es auch im Bericht an. Aber seien wir ehrlich: Wir haben doch schon längst damit begonnen. Das Kommando Spezialkräfte nimmt schon längst nicht mehr an der Operation Enduring Freedom teil. Außerdem haben wir die Anzahl der Tornados zurückgeführt. Wir bauen also schon Fähigkeiten ab. Das ist doch schon ein erstes Zeichen dafür, dass wir unseren Einsatz umstellen. Wir haben die Zahl der Ausbilder von ursprünglich 200 auf 1 500 erhöht. So sieht unsere Perspektive aus. Wir gehen in die richtige Richtung. ({5}) - Lassen Sie sich Redezeit geben; dann können Sie das deutlicher machen. ({6}) Das Engagement unserer Soldaten ist ohne ziviles Engagement nicht denkbar. Die Rückführung militärischen Engagements ist nur möglich, indem wir verstärkt in den zivilen Einsatz gehen. Ich teile nicht die Ansicht, die eben ein Kollege der SPD vortrug, dass wir die zivile Hilfe usw. immer weiter zurückführen. Allein im Bereich der vernetzten Sicherheit hat das Entwicklungshilfeministerium die Mittel um 10 Millionen Euro aufgestockt. In weiteren Bereichen sind wir mit fast einer halben Milliarde Euro dabei. Seit dem Jahr 2001 hat Deutschland in den Bereich der zivilen Entwicklungshilfe 2 Milliarden Euro investiert. Das ist ein starkes Signal in Richtung Afghanistan. Lassen Sie uns von hier aus ein verlässliches Zeichen der Hilfe geben. Lassen Sie uns den Afghanen sagen: Wir lassen euch nicht im Stich; wir bleiben dort, solange ihr uns braucht und solange wir in der internationalen Unterstützung zu eurem Erfolg beitragen können. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4225. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür gestimmt hat die Fraktion Die Linke. Dagegen gestimmt haben die Kolleginnen und Kollegen aller anderen Fraktionen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gute Arbeit in Europa stärken - Den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai 2011 einführen - Drucksache 17/4038 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eineinhalb Stunden zu debattieren. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke das Wort. ({1})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir die Presseberichte richtig verfolgen, dann müssen wir uns langsam über die Lohnentwicklung in Deutschland Sorgen machen. In der Süddeutschen Zeitung war am 9. Dezember zu lesen - ich zitiere -: In Deutschland steigen die Löhne seit Jahren wesentlich langsamer als im Rest Europas. Weiter heißt es, dass wir bei der Lohnentwicklung inzwischen Schlusslicht in Europa sind. Meine Damen und Herren - das richte ich vor allem an diese Regierung -, Sie hängen mit Ihrer Lohnpolitik und Ihrer Arbeitsmarktpolitik den Arbeitnehmern in Deutschland die rote Laterne um. Wenn wir die Lohnentwicklung in Deutschland mit der Lohnentwicklung in anderen Ländern vergleichen, dann müssen wir langsam darüber nachdenken, wie wir weiter mit diesen Fakten umgehen. Bei Spiegel Online war gestern zu lesen, wie sich die Reallöhne in Europa entwickeln: In Norwegen sind sie in den Jahren 2000 bis 2009 um 25,1 Prozent gestiegen. Finnland: plus 22 Prozent. Schweiz: plus 9,3 Prozent. Frankreich: plus 8,6 Prozent. Niederlande: plus 4,8 Prozent. Selbst in Österreich waren es plus 2,7 Prozent. In Deutschland aber sind es minus 4,5 Prozent. Vor kurzem hat die Kanzlerin hier gesagt: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt. - Angesichts der Lohnentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland ist festzustellen: Für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gilt das offensichtlich nicht. Sie müssen permanent unter ihren Verhältnissen leben. ({0}) Während Sie alle jetzt den Aufschwung bejubeln, für den angeblich die Kanzlerin verantwortlich ist, stellen wir fest, dass im dritten Quartal 2010 die Arbeitskosten im Verhältnis zum Vorquartal um 0,5 Prozent abgenommen haben. Die Löhne in der Bundesrepublik Deutschland befinden sich weiter auf einer Rutschbahn nach unten. ({1}) Diese Politik und diese Fakten haben Sie zu verantworten. Sie haben eine Politik der Lohndrückerei betrieben und gleichzeitig über die wirtschaftliche Situation in der Bundesrepublik gejubelt. Ich habe eben den Zwischenruf gehört. Sie sind zurzeit an der Regierung. Wenn selbst im Deutschen Bundestag Dumpinglöhne üblich sind, wie in der Presse zu lesen war, und das Sicherheitspersonal, das in diesem Hause für unsere Sicherheit zuständig ist, offensichtlich mit einem Stundenlohn von 6,25 Euro abgespeist wird, dann sollten Sie besser die Verhältnisse ändern, statt dazwischenzurufen. Wie hat das funktioniert? Wie ist es Ihnen gelungen, die Löhne zu drücken? Zum einen haben die Hartz-Gesetze dazu geführt, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit in unserem Land so groß ist, dass die Menschen bereit sind, niedrige Löhne zu akzeptieren, ohne sich zu wehren. Sie haben es zum anderen durch die Deregulierung der Leiharbeit erreicht, die dazu führt, dass bei gleicher Arbeit deutlich unterschiedliche Löhne gezahlt werden. Sie haben es auch durch Deregulierung bei den befristeten Beschäftigungsverhältnissen erreicht. Inzwischen haben 40 Prozent der unter 25-Jährigen nur noch befristete Jobs, für die in der Regel andere Löhne gezahlt werden als für unbefristete Jobs. Auch diese Beschäftigten sind vorsichtig, was höhere Löhne angeht, um ihren Job nicht zu gefährden. Wenn Sie in einer Situation der sinkenden Löhne zu einer Politik übergehen, die einen gesetzlichen Mindestlohn und damit eine Begrenzung der Lohnentwicklung nach unten verhindert, dann ist das das Unverantwortlichste, was eine Regierung in solch einer Situation tun kann. ({2}) Ich möchte Ihnen einige Beispiele für Löhne in diesem Land geben, weil ich den Eindruck habe, dass Sie nicht mehr bereit sind, die Realität zur Kenntnis zu nehmen: im Hotel- und Gaststättenbereich in MecklenburgVorpommern ein Stundenlohn von 5,39 Euro, in Nordrhein-Westfalen 6,63 Euro, bei den Floristen in SachsenAnhalt ein Stundenlohn von 4,35 Euro. Wir könnten auch noch die Friseure heranziehen: In Berlin sind es beim ungelernten Beschäftigten inzwischen 3,65 Euro, beim gelernten Beschäftigten 4,65 Euro in der Stunde. Bei den Fleischern in Thüringen sind es 5,49 Euro. Wissen Sie was, meine Damen und Herren? Für diese Löhne würden Sie hier in diesem Hause morgens nicht einmal das Augenlid heben. Das ist die Realität! ({3}) - Ja, da haben Sie recht; das sind teilweise vereinbarte Löhne. Wenn Sie als Regierung feststellen, dass Gewerkschaften in vielen Bereichen offensichtlich nicht mehr in der Lage sind, in freien Verhandlungen Löhne durchzusetzen, die dazu führen, dass man davon leben kann, dann sollten Sie nicht auf die Gewerkschaften schimpfen, sondern selber die Initiative ergreifen, dass solche Löhne unterbunden werden. Das wäre eine richtige Antwort, nicht aber dieses Lamentieren. ({4}) Bei solchen Löhnen verliert Arbeit ihren Sinn. Von Arbeit muss man leben können, und zwar von seiner eigenen Arbeit. ({5}) Von seiner Arbeit leben zu können, ist auch eine Frage der Würde. Wenn Sie den Menschen durch solch niedrige Löhne zumuten, ihre Existenz trotz Vollzeitarbeit dadurch sichern zu müssen, dass sie zu einem Amt gehen, dann ist das entwürdigend. Sie nehmen ihnen die Würde. ({6}) Um die Existenz der Menschen zu sichern, stocken Sie die Löhne auf. Fakt ist, dass allein im Jahr 2009 für Aufstocker 11 Milliarden Euro aus dem Staatshaushalt ausgegeben wurden. ({7}) Seit 2005 wurden 50 Milliarden Euro ausgegeben, um diese Niedrigstlöhne zu subventionieren und die Menschen, die trotz Arbeit so wenig verdienen, am Verhungern zu hindern. Das könnten wir uns sparen, wenn wir durch einen Mindestlohn dazu beitrügen, dass Arbeit so bezahlt wird, dass man von ihr leben kann und nicht zum Sozialamt rennen muss. ({8}) Sie akzeptieren, dass in diesem Lande Löhne zulasten Dritter abgeschlossen worden. Es geht zulasten Dritter, wenn wir zulassen, dass zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern - wobei der Arbeitnehmer immer in der schlechteren Situation ist - ein Lohn vereinbart wird, von dem man nicht leben kann, was aber gleichzeitig bedeutet, dass der Lohn automatisch vom Steuerzahler aufKlaus Ernst gestockt werden muss. Dies ist sittenwidrig; Löhne zulasten Dritter sind aus unserer Sicht sittenwidrig. Ändern Sie dies! Das wäre besser, als solche Zwischenrufe zu machen. ({9}) Ein Mindestlohn muss gewährleisten, dass eine alleinstehende Person durch eine Vollzeitbeschäftigung ein Einkommen erzielt, das über dem Existenzminimum liegt. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Ein Mindestlohn muss auch die Voraussetzung dafür bieten, dass jemand, der diesen Lohn sein ganzes Leben lang erhalten hat, zumindest eine Rente bekommt, von der er selber leben kann, ohne dass er auch die Rente aufstocken muss. Das muss ein Mindestlohn erreichen. ({10}) Wenn insbesondere die FDP in diesem Land mit dem Spruch „Leistung muss sich lohnen“ durch die Gegend saust, dann mag dies ja richtig sein. ({11}) Aber wenn es richtig ist, dass sich Leistung lohnen muss, warum eigentlich nur für Ihre Klientel? Sie von der FDP haben nichts dagegen, dass es eine Architektenverordnung gibt, in der letztendlich die Gebühren der Architekten vereinbart wurden. Sie haben nichts dagegen gehabt, dass es bis vor kurzem die BRAGO, die Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung, gab, in der festgelegt wurde, was ein Rechtsanwalt bekommt, wenn er eine bestimmte Leistung erbringt. Was für Ihre Klientel gilt, meine Damen und Herren von der FDP, müsste auch für die gelten, die weniger verdienen. Dann wären Sie in diesem Hause ein wenig glaubwürdiger. ({12}) Dann wollen wir einmal über den Lohnabstand reden. Auch ich bin dafür, dass jemand, der sein Geld mit seiner Arbeit verdient, mehr hat als derjenige, der möglicherweise alimentiert werden muss. Einverstanden! Das, was Sie machen, ist allerdings etwas ganz anderes. Sie drücken - verfassungswidrig - das Existenzminimum so weit nach unten, dass auch die Löhne nach unten gedrückt werden können. Das ist Ihre Methode, den Lohnabstand herzustellen. Wir sagen: Das muss anders gehen. Wir brauchen einen vernünftig abgesicherten Sockel für die Menschen, die aus irgendwelchen Gründen nicht arbeiten können. Wir brauchen ein vernünftig festgelegtes Existenzminimum, das gemäß der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts den betroffenen Menschen die soziokulturelle Teilhabe ermöglicht. Aber Sie versuchen permanent, den Sockel nach unten zu drücken, um so die Löhne weiter sinken zu lassen. Das ist Ihre Methode. Dagegen wehren wir uns. ({13}) Ich möchte darauf hinweisen, dass Sie sich bei der Mindestlohnpolitik inzwischen vollkommen außerhalb Europas stellen. So liegt der Mindestlohn beispielsweise in Luxemburg bei 9,73 Euro, in Frankreich bei 8,86 Euro - er soll auf 9 Euro erhöht werden - und in den Niederlanden bei 8,64 Euro. In allen europäischen Ländern haben selbst die Liberalen - im Gegensatz zur FDP in Deutschland - begriffen, dass es in einem Land nicht nur den Großkopferten, sondern auch den normalen Bürgern einigermaßen gut gehen soll. Weil Sie das nicht begriffen haben, liegen Ihre Umfragewerte zurzeit bei 5 Prozent, und das zu Recht. ({14}) Da in Kürze die Freizügigkeit in der Europäischen Union vollständig hergestellt ist und dann nach Angaben der Regierung eine Vielzahl von Bürgern berechtigterweise versuchen wird, ihren Lohn in der Bundesrepublik Deutschland zu verdienen, fordern wir Sie auf, einen flächendeckenden Mindestlohn einzuführen; sonst wirken diese Bürger als Lohndrücker, und wir öffnen der Ausbeutung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Tür und Tor. Damit muss Schluss sein. Führen Sie deshalb einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ein! Folgen Sie unserem Antrag! Danke fürs Zuhören. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind es in den Sitzungswochen gewohnt, dass die linke Seite des Hauses mit uns entweder über die Rente mit 67 oder über den Mindestlohn diskutieren möchte. Andere Themen fallen Ihnen offensichtlich nicht ein. Ich rege an, sich in Zukunft etwas mehr zu bemühen. Eine Opposition muss auch Qualitätsarbeit leisten. Lassen Sie sich neue Themen einfallen. Diskutieren Sie mit uns über andere sozialpolitische Themen als jede Woche über denselben Aufguss alter Themen. ({0}) Herr Ernst, wenn Ihre Fraktion einen Antrag mit dem Titel „Gute Arbeit in Europa stärken - Den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland am 1. Mai 2011 einführen“ in den Deutschen Bundestag einbringt, dann sollten Sie nicht eine Rede halten, in der Sie auf die europäische Diskussion überhaupt nicht eingehen. Sie haben Ihre letzte Rede sozusagen auf Wiedervorlage gelegt. Sie hätten schon auf die europäischen Gesichtspunkte eingehen sollen. Das haben Sie verabsäumt. ({1}) Stattdessen haben Sie von Dumpinglöhnen im Deutschen Bundestag gesprochen. Dazu fällt mir Ihre Gehaltsstruktur ein, Herr Ernst. Sie können als Vorsitzender der Linksfraktion nicht gerade über Dumpinglöhne klagen. ({2}) Verlangen Sie bitte nicht von uns, lieber Herr Ernst, Ihre persönliche Gehaltspolitik in der Linkspartei zum Allgemeingut im Deutschen Bundestag zu machen. ({3}) Bei Ihnen hat die Formel „Leistung muss sich lohnen“ eine ganz besondere Note. ({4}) Das müssen Sie Ihren Wählerinnen und Wählern schon selber erklären. Wir jedenfalls machen so etwas nicht mit. ({5}) Wenn Sie die Lohnentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland nun komplett der Regierung oder den Regierungsfraktionen anlasten, dann muss ich Ihnen, obwohl Sie Gewerkschafter sind, offensichtlich noch ein bisschen Nachhilfe geben und Ihnen erklären, wie Lohnfindung in Deutschland stattfindet. Die Lohnfindung unterliegt dem Wechselspiel zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden; ihr zugrunde liegt die grundgesetzlich garantierte Tarifautonomie. Bei der Lohnfindung wird über die Lohnhöhe und die Lohnentwicklung entschieden. Die Tarifautonomie in der Bundesrepublik Deutschland war und ist ein Erfolgsmodell, und wir werden auf keinen Fall dazu beitragen, dass dieses Erfolgsmodell, das eine hohe Beschäftigung garantiert hat, aufs Spiel gesetzt wird, sondern wir unterstützen die Tarifautonomie. Wir unterstützen die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände. Sie sind für die Lohnentwicklung in Deutschland verantwortlich und haben eine gute Arbeit geleistet. ({6}) Bevor Sie hier schwarzmalen, schauen Sie sich einmal an, was selbst das Neue Deutschland mittlerweile berichtet, Herr Ernst. Sie können hier doch nicht im Ernst so tun, als nähme Deutschland bei der Arbeitslosigkeit einen Spitzenplatz ein. Ganz im Gegenteil, die Arbeitslosigkeit ist unter die 3-Millionen-Marke gesunken. ({7}) Wir haben in Deutschland einen neuen Höchststand an Beschäftigung. An dieser Stelle hätten Sie einmal die Ursache dafür herausstreichen können. Seitdem Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, haben wir eine derart positive Entwicklung am Arbeitsmarkt. Dass wir das erreicht haben, ist in der Tat das Verdienst der Merkel-Regierungen seit 2005. ({8}) Das erkennen mittlerweile auch andere an. Lesen Sie doch einmal die internationale Presse: Germany’s next superstar - economy; Deutschland, ein neues Powerhouse. Die deutschen Medien reden vom „Europameister in Jobfragen“. Deutschland ist bei Wachstum und Beschäftigung Lokomotive in ganz Europa. Wenn Sie einmal den Blick über die nationalen Grenzen hinaus in Nachbarländer werfen würden - das kann ich Ihnen nur anraten; von Linken, die einst eine Internationale gegründet haben und eine internationale Geschichte haben, sollte man eigentlich ein bisschen mehr Internationalismus erwarten können -, dann würden Sie feststellen: Die erfolgreichste Beschäftigungspolitik mit einem sozialen Ausgleich wird in Deutschland gemacht. Darauf sind wir stolz. Man muss noch ein wenig nachbessern. Aber man darf auf keinen Fall das Kind mit dem Bade ausschütten. Dazu gibt es überhaupt keinen Anlass. Schauen Sie sich den Anstieg der Arbeitslosigkeit in den europäischen Nachbarländern in der Krise einmal an. ({9}) In Spanien ist sie um 60 Prozent gestiegen, in Frankreich um 23 Prozent, in England um 35 Prozent, in Deutschland um nur 3 Prozent. Wir sind die Ersten, bei denen die Beschäftigung wieder anzieht, die Ersten also, die mehr Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit haben. ({10}) Es ist immer auch die Frage, vor welchen Zahlen man die Augen verschließt. Ich verstehe durchaus, dass Sie gerade in diesen Tagen Luxemburg hier erwähnen. Man greift sich ja immer die Zahlen heraus, Herr Ernst, die einem gerade passen. Aber warum reden Sie, wenn Sie uns schon auf Mindestlöhne in vielen europäischen Staaten hinweisen wollen, nicht von den 89 Cent Mindestlohn in Bulgarien? Soll das allen Ernstes der Maßstab für uns sein? Warum reden Sie nicht von den Zahlen in Polen oder im Vereinigten Königreich? Gäbe es bei uns einen gesetzlichen Mindestlohn wie in anderen europäischen Staaten, würden die Verdienste in Deutschland in der Tat noch sinken. Das kann doch niemand im Ernst wollen. Wir lehnen Ihr Vorhaben also ab.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege, Sie haben von Mindestlöhnen in Europa gesprochen und Niveaus verglichen. Hubertus Heil ({0}) Ist Ihnen bekannt - falls ja, stützt das Ihre Argumentation? -, wie hoch der Mindestlohn in Luxemburg ist?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie hoch denn?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das hat der Kollege Ernst vorhin selber erwähnt. 9,49 Euro, nach meinen Informationen. ({0}) Dabei muss man freundlicherweise beachten, Herr Kollege Heil: Die Bedeutung der Volkswirtschaft und der Beschäftigtenzahl in Luxemburg ist in Relation zu den von mir erwähnten Ländern, die einen geringeren Tariflohn und einen geringeren gesetzlichen Mindestlohn haben, kleiner. ({1}) Dazu will ich Ihnen noch eines sagen: Lohn und Gehalt müssen im Zusammenhang mit der Produktivität stehen. Das haben Gewerkschaften in Deutschland anerkannt. Deswegen haben sie sich in der Krise mit Lohnforderungen zurückgehalten. Das ist auch der Grund dafür, dass der Mindestlohn in anderen Ländern niedriger ist. Es hat also überhaupt keinen Sinn, einen Mindestlohn einzuführen, der der Produktivität in den einzelnen Ländern nicht entspricht. ({2}) Das muss ausbalanciert sein. Man muss branchenspezifisch vorgehen. In der Branche, in der eine höhere Produktivität gegeben ist, in der von allen, die dort tätig sind, ein höheres Ergebnis erwirtschaftet wird, kann man höhere Gehälter zahlen. Dafür sind auch wir. Das sollen die Tarifvertragsparteien miteinander entscheiden. ({3}) In allem Ernst, Herr Ernst, schreiben Sie in Ihrem Antrag unter der Nr. 11 - darauf sind Sie bedauerlicherweise nicht eingegangen; es wäre aber lobenswert gewesen, wenn Sie es getan hätten; ich darf den ersten Satz zitieren -: Zur Weiterentwicklung der europäischen Integration bedarf es auch einer europäischen Mindestlohnpolitik. Wenn Sie das im Ernst wollen, dann müssen Sie - das wäre die Folgerung - in allen europäischen Staaten einen Mindestlohn einführen. ({4}) Dafür werden Sie in Europa aber keine Mehrheiten finden, weil in vielen Staaten gesehen wird, dass man die Produktivität, die Deutschland hat, nicht erreicht. Das ist die Kehrseite der Forderung, die Sie hier aufstellen. Das ist im Grunde eine ganz uneuropäische Kehrseite Ihres Antrags. Viele Staaten, auch europäische Nachbarstaaten, haben nur deshalb eine Chance, ihre Produkte auf dem deutschen Markt abzusetzen, weil die Arbeitskosten und damit die Gestehungskosten bei ihnen geringer sind als bei uns. Sie haben die Chance also nicht etwa deshalb, weil die Qualität oder Produktivität höher wäre. In dem Moment, wo Sie überall einen entsprechenden Mindestlohn einführen, verunmöglichen Sie es Ländern wie Polen, Bulgarien oder Rumänien, ihre Produkte in Deutschland abzusetzen. Ihr Ansatz ist folglich gar kein europäischer Ansatz, sondern bedeutet im Grunde eine Renationalisierung. Das ist ein zutiefst nationaler Ansatz, ein Ansatz der Abschottung des deutschen Marktes gegenüber unseren europäischen Nachbarstaaten. ({5}) Wir lehnen Ihren Antrag auch aus ganz grundsätzlichen Gründen ab. Was Sie vorhaben, ist nicht europäisch gedacht. Deswegen unterstützen wir das auch nicht. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Wadephul, recht herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Sie haben gerade unterstellt, unsere Politik sei uneuropäisch. Erstens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass seit der Einführung des Euro sich die Konkurrenzverhältnisse in Europa vor allem deshalb unterschiedlich entwickelt haben, weil wir uns - im Gegensatz zu allen anderen - durch Lohndumpingpolitik Vorteile im Wettbewerb verschafft haben, ({0}) die dazu geführt haben, dass wir zwar Exportweltmeister, aber nicht Importweltmeister geworden sind, dass es also geradezu die Lohnpolitik der Bundesrepublik Deutschland ist, die insofern uneuropäisch ist, als sie alle anderen Länder so weit unter Druck setzt, dass sie sich entweder verschulden müssen oder dieselbe Lohn8934 dumpingpolitik betreiben müssen, wie wir in der Bundesrepublik Deutschland sie betrieben haben? Zweitens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass man sich in anderen europäischen Ländern einschließlich Frankreichs, aber auch in Ländern außerhalb Europas und selbst in Amerika unter Obama über diese Politik inzwischen in einer Weise äußert, die uns eigentlich dazu veranlassen müsste, sie zu beenden? ({1})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ernst, ich teile Ihre Auffassung in beiden Punkten ausdrücklich nicht. Richtig ist, dass Deutschland nach wie vor Exportweltmeister ist, was viele Arbeitsplätze in Deutschland sichert. Darauf sind wir stolz. Es gibt gar keinen Anlass, das in irgendeiner Weise infrage zu stellen. Ursache dafür ist unsere hohe Arbeitsproduktivität. Sie ist darin begründet, dass wir in Deutschland nach wie vor den technischen Fortschritt vorantreiben und ihn auch in den Arbeitsprozess integrieren. Unser Vorteil auf anderen Märkten ist nicht, dass unsere Arbeitskosten am niedrigsten sind. Unser Vorteil ist, dass wir nach wie vor gute Forscher und gute Techniker und eine Industrie haben, die ihre Ergebnisse schnell in ihre Arbeitsprozesse implementiert. Diesen Weg sollte Deutschland fortsetzen. Eine Dumpingpolitik im Lohnbereich gibt es hier nicht, ({0}) und wir sollten ihr auch keinen Vorschub leisten. Wir sind deshalb gut, weil in unseren Betrieben tüchtige Leute arbeiten, die gute bzw. bessere Arbeitsergebnisse erzielen, als es in anderen Ländern der Fall ist. Insofern sollten wir Benchmark für andere sein, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({1}) Um konkret etwas zu der Situation der Branchen zu sagen, auf die der Antrag eigentlich abzielt - der Kollege Ernst ist darauf nur wenig eingegangen -: Es geht dabei um die Frage der Zeitarbeit und die Frage, was am 1. Mai 2011 passiert. Die Unionsfraktion hat dazu ein Hearing veranstaltet und mit Experten darüber diskutiert. ({2}) Im Interesse der europäischen Verständigung, insbesondere auch der nachbarschaftlichen Beziehungen zur Republik Polen, die für Deutschland von großer Bedeutung sind, würde ich empfehlen, dass wir mit einer gewissen Vorsicht argumentieren und uns die Situation ganz genau anschauen. Niemand aus dem Sachverständigenbereich der Wirtschaft und der Gewerkschaften - weder in Deutschland noch in Polen - erwartet eine riesige Zuwanderungswelle. Das erwartet niemand. Deshalb gibt es auch überhaupt keinen Anlass, auf dem deutschen Arbeitsmarkt oder in der innerdeutschen Diskussion Panik zu erzeugen. Natürlich besteht die Gefahr, dass insbesondere in der Zeitarbeitsbranche Mittel und Wege genutzt werden, um die Arbeitskosten in Deutschland weiter zu senken. Deswegen sage ich für meine Fraktion ganz klar, dass wir uns für diesen Bereich baldmöglichst eine Mindestlohnregelung wünschen. Wir befinden uns in guten Diskussionen mit unserem Koalitionspartner, um dies zu erreichen. ({3}) Dabei müssen wir in Rechnung stellen, dass die Zeitarbeit an der Stelle nicht verunmöglicht werden darf. Sie hat eine wichtige Brückenfunktion. Sie ermöglicht es, in Übergangssituationen zu überbrücken. Aktuell erleben wir, dass in diesem Bereich viele Menschen Anstellungen finden. Diese Möglichkeit darf man nicht zerstören. Aber auf der anderen Seite sage ich auch: Natürlich darf die Zeitarbeit nicht dazu missbraucht werden, dauerhaft Löhne und Gehälter in den Branchen zu senken. Deswegen halten wir eine gesetzliche Regelung in dieser Branche für angemessen und notwendig. Wir setzen uns gemeinsam mit Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen für eine derartige Lösung ein. ({4}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt bleibt es dabei: Lohnfindung muss die Aufgabe von Tarifvertragsparteien sein. Hier sind die Gewerkschaften gefordert. Ich finde es eigentlich schade, dass ein ehemaliger Gewerkschafter wie Sie, Herr Ernst, hier im Grunde den Eindruck erweckt, als seien die deutschen Gewerkschaften nicht in der Lage, auf die Situation zu reagieren. Gerade in der Zeit des Aufschwungs, in der Zeit der verstärkten Nachfrage nach Arbeitskräften, in der Zeit einer demografischen Entwicklung, in der Jüngere auf dem Arbeitsmarkt fehlen, merken viele Gewerkschaften, dass ihre Bedeutung und ihre Durchsetzungsmacht auf dem Arbeitsmarkt wieder größer werden. In der Unionsfraktion finden die Gewerkschaften einen verlässlichen Partner. Bedauerlicherweise haben Sie sich an dieser Stelle verabschiedet. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. ({0})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist eigentlich schade, dass man darauf RedeHubertus Heil ({0}) zeit verwenden muss, aber diese oberflächliche Form von ökonomischer Debatte meiner beiden Vorredner miteinander verdient schon eine gewisse Kommentierung. Herr Wadephuhl, Sie tun gerade so, als hätten wir im Binnenmarkt mit Dienstleistungen und Löhnen kein Problem. Auf der anderen Seite wird so getan, als sei die Lohnentwicklung bei den Chemiefacharbeitern, bei denen es, Kollege Ernst, wirklich nicht um Mindestlöhne geht, problematisch. ({1}) Das ist nicht wahr. Ich sage Ihnen deshalb aus ökonomischer Sicht: Es geht nicht darum - jedenfalls nicht für uns Sozialdemokraten -, Export und Wettbewerbsfähigkeit der Binnennachfrage gegenüberzustellen. Denn jeder weiß: Wir brauchen beides, und wir sind in der Tat aufgrund der besten Produkte, Verfahren und Dienstleistungen wettbewerbsfähig, nicht aufgrund der niedrigsten Löhne. Auf der anderen Seite haben wir - das betrifft vor allem Dienstleistungen im Binnenmarkt; da brauchen wir Mindestlöhne - in diesem Problemfeld zu niedrige Löhne. ({2}) Diese Differenzierung muss sein. An dieser Stelle bringt die Holzhammerpolitik von Rechts und ganz Links den Arbeitnehmern, die es betrifft, nichts. Deshalb will ich zur Sache reden, Kollege Ernst: Es geht um die Arbeitnehmerfreizügigkeit zum 1. Mai. ({3}) Wir haben den Antrag ja, wie Sie wissen, Frau Kollegin, die Sie dazwischengerufen haben, etwas früher als Sie gestellt, nämlich im Mai dieses Jahres. Ich finde es in Ordnung, dass wir einer Meinung sind, ({4}) dass wir mit Blick auf den 1. Mai 2011 noch mehr Druck ausüben müssen, damit Lohnuntergrenzen in diesem Land eingeführt werden. Wir haben vor zwei, drei Jahren auf europäischer Ebene eine heftige und intensive Debatte über die Dienstleistungsrichtlinie geführt. Damals gab es einige in Europa - das waren eher die politischen Freunde der FDP -, die das sogenannte Herkunftslandprinzip durchsetzen wollten. Sie wollten die Freizügigkeit in Europa, also die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit, so ausgestalten, dass Menschen aus anderen Staaten, wenn sie hier in Deutschland Dienstleistungen anbieten bzw. ihre Arbeit ausüben, quasi im Rucksack das Verbraucherrecht und das Sozialrecht der Slowakei, von Polen oder anderen Ländern mitnehmen können. Dieses sogenannte Herkunftslandprinzip haben wir dank massiven Widerstands auch von sozialdemokratischer Seite weitestgehend im Europäischen Parlament verhindern können. Tatsache ist, es gibt Dienstleistungsfreiheit in Europa. Wer aber hier Dienstleistungen erbringt, muss sich an die deutschen Gesetze halten, egal ob deutscher oder ausländischer Herkunft. Wir haben also auf europäischer Ebene durchaus wirksame Maßnahmen gegen Dumping von Sozialstandards und gegen Dumping von Umweltund Verbraucherstandards geschaffen. Aber - das wurde uns bei der europäischen Debatte damals auch ins Stammbuch geschrieben - zur Verhinderung von Lohndumping braucht es nationale Lohnuntergrenzen, sprich Mindestlöhne, auch in Deutschland. Das ist das, was Sie nicht begriffen haben. ({5}) Was das Herkunftslandprinzip bedeutet hätte, möchte ich an einem Beispiel deutlich machen: Jemand fährt mit dem Auto von Deutschland nach England - das geht heutzutage; denn da gibt es einen Tunnel - und sagt sich, sobald er in England aus dem Tunnel herauskommt: Guten Tag, ich halte mich jetzt nicht an die Straßenverkehrsordnung von Großbritannien, sondern an meine eigene, die ich aus Berlin mitgebracht habe. - Das ist keine gute Idee, wenn man an die Sonderregelungen in der Straßenverkehrsordnung Großbritanniens denkt. Das heißt für unsere Frage: Wer für fairen Wettbewerb zwischen den Unternehmen und für freien Markt in einem geeinten Europa ist, der muss dafür sorgen, dass überall die gleichen Wettbewerbsbedingungen gelten und kein Dumping zulasten von Verbrauchern, in diesem Fall von Arbeitnehmern, stattfinden kann. ({6}) Nun möchte ich Ihnen etwas zum Thema Produktivität sagen: Sind Sie ernsthaft der Meinung, dass ein Lohnniveau von 3 oder 4 oder 5 Euro die Produktivität in den Bereichen, über die wir reden, abbildet? Das frage ich Sie, weil Sie ja behauptet haben, ein Mindestlohn würde dem Gebot, dass Arbeitslöhne der Produktivität entsprechen müssen, widersprechen. Andersherum wird ein Schuh daraus: Die Tarifautonomie in Deutschland hat sich bewährt. ({7}) Die alte Lohnformel „Produktivitätsfortschritt plus Inflationsausgleich“ hat lange gegolten. Tatsache ist aber auch, in vielen Branchen funktioniert die Tarifautonomie nicht mehr so richtig, weder auf Arbeitgeber- noch auf Arbeitnehmerseite. Das ist der Grund, warum wir heute Lohnuntergrenzen brauchen, die wir früher in Deutschland nicht brauchten. Das ist auch der Grund - die CDU bewegt sich da ja mittlerweile mehr als die FDP -, warum wir Mindestlöhne Stück für Stück in Branchen umsetzen. Ich sage hier noch einmal: Wir Sozialdemokraten sind für den Vorrang tarifvertraglicher Lösungen, wo immer es geht. Sie brauchen aber auch eine Antwort für die Branchen, in denen das nicht geht. ({8}) - Nein, das widerspricht sich überhaupt nicht. ({9}) Hubertus Heil ({10}) Da, wo sich Gewerkschaften und Arbeitgeber auf Lohnuntergrenzen verständigen, können wir diese über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz allgemeinverbindlich erklären. Aber, Herr Straubinger, was machen Sie denn in Branchen, in denen die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert? - Weil es das immer häufiger gibt, sagen wir, dass wir einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland als verbindliche Lohnuntergrenze benötigen. ({11}) Meine Damen und Herren von der Koalition, ich will Ihnen ins Stammbuch schreiben: Es macht ordnungspolitisch Sinn, Mindestlöhne einzuführen, weil es nicht die Aufgabe der sozialen Marktwirtschaft ist, mit immer mehr Steuergeld Stück für Stück ein System staatlicher Lohnbewirtschaftung aufzubauen. Es ist nicht der Sinn sozialer Marktwirtschaft, dass die Steuerzahler immer stärker - in diesem Jahr sind es 11 Milliarden Euro - Armutslöhne subventionieren müssen. Das ist nicht der Sinn sozialer Marktwirtschaft. Es macht auch finanzpolitisch Sinn - Stichwort: Aufstockerei -, dass wir dafür sorgen, dass nicht immer mehr Menschen, die hart arbeiten, sich ergänzendes Arbeitslosengeld II abholen müssen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Jetzt wird Herr Kolb gleich sagen: Aber Herr Heil, die 11 Milliarden Euro werden ja nicht ausschließlich für Vollzeitbeschäftigte ausgegeben. - Ich kenne diese Phrase. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Erstens. Auch Vollzeitbeschäftigte werden auf diese Weise subventioniert. Das werden Sie nicht leugnen. ({12}) Zweitens. Selbst wenn nicht alle, die auf diese Weise subventioniert werden, Vollzeitbeschäftigte sind, stellt sich doch nach wie vor die Frage, warum Sie Teilzeitbeschäftigten zumuten wollen, Löhne in Höhe von 3 oder 4 Euro zu akzeptieren ({13}) und ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amt abholen zu müssen. Das macht keinen Sinn. ({14}) Ein Mindestlohn macht sowohl ordnungspolitisch und finanzpolitisch als auch wirtschaftspolitisch durchaus Sinn. Sosehr ich dagegen bin, unsere Exporterfolge kleinzureden und zu glauben, wir müssten schlechtere Produkte herstellen, damit andere Länder in Europa bessere Chancen haben, so sehr bin ich der Meinung, dass wir eine stärkere Binnennachfrage in Deutschland brauchen. Da spielt - nicht nur, aber auch - die Frage von verbindlichen Lohnuntergrenzen eine Rolle; denn eine solche Untergrenze würde das gesamte Tarifgefüge stabilisieren und dazu führen, dass Menschen mehr Geld in der Tasche haben. Das sind gerade Menschen mit einem geringen Verdienst, die ihr Geld nicht in internationale Finanzblasen stecken, sondern in den Konsum. Das ist der Grund, warum ich sage, dass ein Mindestlohn auch wirtschaftspolitisch Sinn macht. Last, but not least: Auch im Hinblick auf die Einnahmebasis unserer sozialen Sicherungssysteme in Deutschland macht es Sinn, dass wir zu stabileren Lohnuntergrenzen kommen. Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn Sie uns schon nicht glauben - das kann Ihnen keiner vorwerfen; es ist im politischen Geschäft so üblich, dass die Regierung alles schlecht findet, was die Opposition gut findet -, dann sollten Sie wenigstens das zur Kenntnis nehmen, was der Deutsche Juristentag, der unverdächtig ist, eine Vorfeldorganisation der Sozialdemokratie oder der Gewerkschaften zu sein, Ihnen ins Stammbuch geschrieben hat. Wenn Sie das nicht glauben, dann schauen Sie sich einmal in Europa um. Über 20 Länder in Europa kennen gesetzliche Lohnuntergrenzen. ({15}) Ihre ideologische Borniertheit ist das Einzige, was im Moment Mindestlöhnen in Deutschland entgegensteht. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn wir in diesem Bereich bis zum 1. Mai finanzpolitisch, wirtschaftspolitisch und sozialpolitisch nicht vorankommen, dann werden wir nicht nur diejenigen Menschen demotivieren, deren Leistung sich tatsächlich lohnen soll, sondern dann werden wir die Gesellschaft weiter spalten. Sie, meine Damen und Herren von der schwarz-gelben Koalition, sind die Spalter in diesem Land. Sie vertiefen die Spaltung zwischen Geringverdienern und Arbeitslosen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nur noch dieser Gedanke. - Wenn Herr Westerwelle, der derzeitige Parteivorsitzende der FDP, wiederum das Spiel betreibt, Geringverdiener gegen Arbeitslose auszuspielen, dann kann ich nur sagen: Das ist weder christlich noch liberal, sondern es ist zynisch. Das merken die Leute. Deshalb werden Sie die Quittung bekommen. Herzlichen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit den Anträgen der Linken, Herr Kollege Ernst, ist es ein bisschen wie mit einem schlecht gemachten Adventskalender: Egal welches Türchen Sie aufmachen, es ist immer das Gleiche dahinter. ({0}) So ist es auch heute bei Ihrem Antrag. Sie haben gekreißt, und am Ende kommt die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn heraus. Ich glaube - in diesem Punkt unterscheiden wir uns sehr deutlich von Ihnen -, dass Sie da das falsche Pferd satteln. Wir reden heute über einen gesetzlichen Mindestlohn und am Freitag über einen Branchenmindestlohn für die Zeitarbeit. Ich will mich deswegen heute auf die Frage des gesetzlichen Mindestlohns konzentrieren. Dieses Gesetz würde bundesweit gelten. Wenn Sie ernsthaft glauben, mit einem bundesweit geltenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro positive Beschäftigungseffekte erzielen zu können, dann sind Sie falsch gewickelt. Es gibt glaubwürdige Untersuchungen, die belegen, dass das gerade zulasten der neuen Länder gehen würde. ({1}) Es wäre vergleichbar mit einem Morgenthau-Plan für die neuen Länder, wenn man ihnen nicht mehr gestatten würde, ihre komparativen Vorteile auszunutzen, wenn Sie also alle über einen Kamm scheren würden. ({2}) Herr Kollege Ernst, wir haben doch keine Probleme dort, wo es eine gute Infrastruktur gibt, wo es Flughäfen und Anschluss an das Schienennetz und an Autobahnen gibt. ({3}) Ich nenne das Rhein-Main-Gebiet, das Rhein-NeckarGebiet und das Gebiet um Hamburg herum. Die Probleme traten in den ländlichen Regionen auf, wo bisher niedrigere Löhne gezahlt werden, weil höhere Löhne einfach nicht zu erwirtschaften sind. Denn am Ende müssen die Kosten für einen Arbeitsplatz wieder hereingeholt werden. Ich glaube, es wäre für die neuen Länder fatal, wenn Sie sich mit Ihrem Programm durchsetzen könnten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Kolb, ich darf Sie einmal unterbrechen. Die Kollegin Golze möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte. ({0})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kolb, dass Sie die Zwischenfrage erlauben. - Ich komme aus einem der östlichen Bundesländer, genauer gesagt aus dem Bundesland Brandenburg. Auch nach einem Jahr Rot-Rot können Sie es uns nicht anlasten, dass dort eine Arbeitslosigkeit von 20 bis 25 Prozent herrscht, je nach Region. Ich komme aus einer Region mit sogar deutlich mehr als 25 Prozent Arbeitslosigkeit. Nun möchte ich von Ihnen wissen: Was hat es denn dem Osten genutzt, dass dort seit 20 Jahren mit so geringen Löhnen für diese Region sogar noch Werbung gemacht wurde, wenn dort gleichzeitig eine so große Langzeiterwerbslosigkeit herrscht? Was ist denn der Standortvorteil von Niedrigst- und Billiglöhnen für den Osten? ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir mögen die gleiche Medaille anschauen, aber sehen zwei verschiedene Seiten. Ich glaube, dass wir in den 20 Jahren seit der deutschen Einheit eine wirklich erfolgreiche Aufbauarbeit geleistet haben. Ich glaube auch, dass es in vielen Bereichen gelungen ist, moderne Arbeitsplätze zu entwickeln, die sich übrigens auch, was die Löhne, die gezahlt werden, anbelangt, mit Regionen im Westen vergleichen lassen, vielleicht nicht mit den Spitzenregionen, aber mit anderen durchaus. Natürlich gibt es nach wie vor Bereiche, in denen wir Probleme haben. Aber denen werden Sie nicht dadurch helfen, dass Sie die Löhne, die sich heute etwa bei der Hälfte Ihrer Mindestlohnforderung bewegen, sozusagen über Nacht verdoppeln ({0}) und dann auf ein Wunder hoffen, dass die Unternehmen, die bisher Schwierigkeiten hatten - schauen Sie sich doch einmal die Bilanzen der Unternehmen in den neuen Ländern an -, in der Lage wären, diese Löhne dann auch tatsächlich zu zahlen. Sie werden erleben, Frau Kollegin Golze, dass massenhaft Arbeitsplätze verloren gehen. Es liegen Gutachten vor, die besagen, dass 1,5 bis 2 Millionen Arbeitsplätze in den neuen Ländern bedroht sind oder mit Sicherheit verloren gehen, wenn sich Ihre Lohnforderung durchsetzen würde. Deswegen heißt es: Wir müssen mit dem Aufbau der Beschäftigung voranschreiten und industrielle Strukturen entwickeln. Aber wir dürfen nicht den Fehler machen, den Leuten dort, wo es noch Probleme gibt, den Boden unter den Füßen wegzuziehen und den Arbeitsverhältnissen die Grundlage zu nehmen, indem man über Nacht die Lohnkosten verdoppelt. ({1}) Ich will zu einem zweiten Punkt kommen; der Kollege Heil hat ihn schon angesprochen. Ich finde es bemerkenswert, Herr Kollege Heil, dass Sie gesagt haben, es habe nichts mit sozialer Marktwirtschaft zu tun, wenn Löhne aufgestockt würden. Es sind 50 Milliarden Euro Steuergelder genannt worden, die angeblich umsonst verausgabt würden. Ich will nur darauf hinweisen, dass dieses Konzept Ihr Konzept gewesen ist. Sie waren Generalsekretär der SPD, als man sich entschieden hat, genau dieses zu tun. ({2}) - Nein, es ist damals die Forderung der SPD gewesen. Ich habe Bundeskanzler Schröder noch im Ohr, der gesagt hat - Herr Heil, hören Sie gut zu -: Wir haben 5 Millionen Arbeitslose in Deutschland, und deswegen braucht Deutschland einen Niedriglohnsektor. - Das war Politik der SPD, als Sie Generalsekretär dieser Partei waren. ({3}) Heute muss man natürlich feststellen, dass Sie in machen Dingen erfolgreich waren, in dieser Hinsicht vielleicht sogar zu erfolgreich. Aber am Ende bleibt stehen - das war ja auch Ihre Grundüberlegung, und das hat etwas mit sozialer Marktwirtschaft zu tun -, dass diejenigen, die aufstocken, zu einem guten Teil etwas erwirtschaften und dass der Staat dann ergänzend das hinzugibt, was erforderlich ist, um den Gesamtbedarf abdecken zu können. ({4}) So läuft es. Jetzt können wir uns die Gruppe der Aufstocker noch einmal differenzierter anschauen. Sie wissen so gut wie ich, dass 75 Prozent der Aufstocker weniger als 800 Euro verdienen. Das ist in der Regel nicht Ergebnis der Tatsache, dass sie zu niedrige Stundenlöhne haben, sondern dass sie von der Stundenzahl her zu wenig arbeiten, um ein bedarfsdeckendes Gesamteinkommen zu erzielen. ({5}) Bei denjenigen, die über 800 Euro liegen, handelt es sich zu einem ganz erheblichen Teil um Verheiratete mit Kindern, denen Sie auch mit einem Stundenlohn von 10 Euro - Sie liegen ja noch ein bisschen niedriger, wenn ich es richtig verfolge -, wie ihn sich die Kollegen von der Linken vorstellen, nicht helfen würden, weil ein Familienvater - verheiratet, die Ehefrau arbeitet nicht mit, zwei Kinder - einen Stundenlohn von 12 bis 13 Euro bräuchte, um am Ende transferbezugsfrei zu werden. In diese Größenordnung kann man nicht gehen. Deswegen empfinde ich Ihre Rechnung als Milchmädchenrechnung. Wenn das Ergebnis wäre, dass vor allen Dingen in den neuen Ländern Arbeitsplätze verloren gingen, würden wir wahrscheinlich am Ende, gesamtfiskalisch gesehen - auch was die Auswirkung auf die Sozialversicherung anbelangt -, schlechter dastehen. ({6}) Ich finde, wir wenden hier eine sehr konsequente Sichtweise an. Ich warne davor, das rückgängig zu machen. Ich beobachte, wie Sie sich in der SPD mit der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetzgebung quälen, die Sie damals auf den Weg gebracht haben, wie Sie sie Stück für Stück rückabwickeln wollen. Sie sollten das aber nicht mit Hinweisen auf die soziale Marktwirtschaft verbrämen, die nicht kompatibel sind. Sie haben Ihre Maßnahmen damals sozialpolitisch und marktwirtschaftlich begründet.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich freue mich auf eine Zwischenfrage des Kollegen Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kolb, Sie haben mich persönlich angesprochen. Ich will die ganze Geschichte so nicht stehen lassen. Ich will Ihnen eines sagen: Ich stehe unabhängig davon, wann ich Generalsekretär war - Sie sollten das einmal nachrechnen, aber das ist nicht der Gegenstand der Diskussion -, zu dem, was wir damals gemacht haben - ich sage das nach wie vor -, nämlich dafür zu sorgen, dass Arbeit in Deutschland zumutbar sein muss. Das war der Kern der Reformen; so ist es. Wenn es so ist, dass jede Arbeit zumutbar ist, muss dafür gesorgt werden - früher haben wir das mit der Tarifautonomie geschafft, heute nicht mehr -, dass Menschen, die hart arbeiten, von der Arbeit leben können. ({0}) Das ist der Punkt. Das ist kein Gegensatz; es geht hier - anders als Sie behaupten - nicht darum, dass wir etwas „rückabwickeln wollen“. Die Arbeitsmarktreformen auf der einen Seite und Mindestlöhne auf der anderen Seite gehören zusammen; das sind zwei Seiten derselben Medaille. ({1}) Ich will Ihnen dazu ganz deutlich sagen: Es gab eine Zeit, in der Gewerkschaften und Sozialdemokraten miteinander der festen Überzeugung waren, dass man faire Löhne mit der Tarifautonomie in Deutschland hinbekommt. Sie müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass es Bereiche gibt, in denen weder Arbeitgeberverbände noch Gewerkschaften so mobilisierungsfähig sind, dass anständige Tariflöhne möglich sind. ({2}) Herr Kolb, ich frage Sie: Glauben Sie, dass es fair und anständig ist, dass wir Menschen im Friseurgewerbe in Thüringen mit 3,18 Euro pro Stunde abspeisen? Glauben Sie, dass diese Menschen arbeitslos würden, wenn ihr Hubertus Heil ({3}) Stundenlohn ein bisschen erhöht würde? Ich kann das nicht glauben. ({4})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Heil, ich glaube nicht ernsthaft, dass das, was Sie vorgetragen haben, Ihrer Erinnerung entspricht. Ich glaube nicht, dass die SPD, die auf festen Füßen stand und Erfahrungen mit den Betrieben hatte, damals einfach übersehen hat, dass es bei der Zumutbarkeit von Arbeit dazugehört, entsprechende Regelungen zu Lohnuntergrenzen zu treffen. Nein, es war umgekehrt - ich habe die Debatten hier im Haus verfolgt -: Sie haben es bewusst so gemacht. Die Argumentation war: Jeder Beitrag - auch ein kleiner Beitrag -, den ein Arbeitsloser selbst leistet, ist hilfreich; er reduziert die von der Gesellschaft insgesamt zu erbringenden Transferkosten. Sie wollten das genau so. Sie haben die Löhne von 3,18 Euro pro Stunde angesprochen. Ich muss darauf hinweisen, dass sich die Situation damals schon genau so darstellte, wie sie heute ist; es gab schon damals diese Löhne. Sie stellen sich heute hierhin und sagen: Das haben wir ganz anders gemeint. ({0}) Dazu muss ich sagen: Die Rahmenbedingungen waren schon damals - 2004/2005, als Sie die Gesetze auf den Weg gebracht haben - genau so, wie sie sich heute präsentieren. Nur haben Sie Ihre Argumentation geändert - Sie haben sich um 180 Grad gedreht -: Vorwärts, Genossen, es geht zurück! Sie wollen nichts mehr mit der Agenda 2010 zu tun haben; Sie wickeln sie ab. Das ist die Wahrheit; das muss man hier so deutlich sagen. ({1}) Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen. Wir diskutieren jetzt schon wieder so intensiv. Die Kollegen von der Linken freuen sich, weil sie nämlich hoffen, dass sie mit ihren Maximalforderungen am Ende ein bisschen ein Geschäft machen können, wenn die SPD im Fokus steht. ({2}) Man kann Ihnen die Diskussion trotzdem nicht ersparen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Kolb, ich muss Sie noch einmal unterbrechen. Der Kollege Kurth auf der rechten Seite von Ihnen möchte eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich finde, das gehört zur Debattenkultur dazu. Bitte. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir reden hier über das wichtige Thema Mindestlohn. Darüber wird oft sehr ideologiebehaftet gesprochen. Stimmen Sie mir zu - es wurde über solche Zahlen gesprochen -, dass es weder in Brandenburg noch in Mecklenburg-Vorpommern einen einzigen Landkreis mit einer Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent gibt? Stimmen Sie mir auch zu, dass man solche Kennzahlen, gerade wenn man über einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland spricht, kennen müsste, erst recht, wenn man aus diesen Regionen kommt?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kurth, ich kann Ihnen zustimmen, was die statistische Bewertung anbelangt. Natürlich würde man sich wünschen - auch beim zweiten Punkt stimme ich zu -, dass die Kollegin der Linken ihre Argumentation besser vorbereitet hätte. ({0}) Ich komme zum Schluss, Herr Kollege Heil. Es gibt - das haben Sie ja gesagt - in 20 anderen europäischen Ländern Mindestlöhne. Man muss aber auch ihre Höhe sehen. In Bulgarien liegt er bei 71 Cent. In Luxemburg liegt er bei den hier schon zitierten 9,61 Euro. Der Durchschnittslohn, nach Arbeitnehmern gewichtet, liegt in Europa - darüber hat uns das Bundesministerium für Arbeit und Soziales informiert - bei 5,20 Euro. Mit einem Mindestlohn in Höhe von 10 Euro - das ist das, was Sie, Herr Kollege Ernst, vorschlagen - wären wir allen anderen Mitgliedstaaten weit voraus. Wie es mit der europäischen Solidarität vereinbar sein soll, dass Deutschland einen Mindestlohn einführt, der über dem eines Landes liegt, in dem die Lebenshaltungskosten deutlich höher sind als in Deutschland, also in Luxemburg, erschließt sich mir nicht. Ich komme auf das Anfangsbild zurück. Wir machen das Türchen des Adventskalenders wieder zu. Es hat sich heute nicht gelohnt, einen Blick hineinzuwerfen. Aber ich fürchte, Sie werden uns auch künftig mit Ihren Vorschlägen nicht verschonen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Golze.

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Herr Kolb und werter Herr Kollege - ich weiß den Namen des Kollegen, der nach der Statistik gefragt hat, nicht mehr -, ({0}) ich weiß nicht, ob es besser ist, wenn es nur 24 oder 23 Prozent Arbeitslose sind. ({1}) Das finde ich immer noch furchtbar. Die Situation ist trotzdem dramatisch. Zweitens. Ich habe während meines Studiums pflichtgemäß drei Semester lang einen Kurs absolviert, in dem es um die Erstellung von Statistiken, um Berechnungsmethoden ging. ({2}) Der erste Satz, den ich von meinem Professor gehört habe, war: Traue nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. ({3}) Sie wissen selbst, nach welchen Methoden Sie die Arbeitslosenstatistiken zusammenstellen. ({4}) Sie wissen selbst, dass Sie jeden, der in irgendeiner Maßnahme steckt oder eine Mehraufwandsentschädigung erhält, herausrechnen. Sie wissen, dass Sie die Menschen herausrechnen, deren Ehepartner einen Lohn beziehen, der knapp über dem Bedarfssatz liegt. Sie wissen, dass diese Menschen in keiner Statistik auftauchen. Ich kann es nicht nachvollziehen, dass Sie sich mit statistischen Angaben herausreden und sagen, dass es keine Landkreise gibt, in denen die Arbeitslosigkeit bei über 25 Prozent liegt. Ich finde, jeder Erwerbslose, der qualifiziert ist und arbeiten möchte, ist einer zu viel, und davon gibt es viele im Osten. Sie verhindern mit einer absolut verbohrten Ideologie - das sage ich Ihnen jetzt einmal so -, dass diese Leute in Lohn und Brot kommen. ({5}) Ich kann diese Diskussion nicht mehr nachvollziehen. Ich wünsche mir von einer christlich-liberalen Bundesregierung, dass sie auch an die Menschen denkt, die in diesem Jahr keinen Weihnachtsbaum haben - Entsprechendes haben Sie in der letzten Sitzungswoche beschlossen -, weil sie ihn sich nicht leisten können. Darunter sind auch Menschen aus dem Osten, die 40 Stunden in der Woche arbeiten gehen, dabei aber so schlecht verdienen, dass sie ergänzende Hartz-IV-Leistungen beziehen müssen. Daran sind Sie schuld. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Kurth, bitte.

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, zunächst einmal stelle ich fest, dass wir zusammen einmal einen Kaffee, einen Matetee oder Ähnliches trinken sollten. Ich kenne Ihren Namen nämlich auch nicht. Das können wir an dieser Stelle vielleicht beiseite schieben. Sie haben Herrn Kolb direkt nach einer Zahl gefragt. Sie sagten, in Ihrem Landkreis liege die Arbeitslosigkeit bei 25 Prozent. ({0}) In keinem Landkreis in Meck-Pomm liegt die Arbeitslosigkeit über 18 Prozent. Also kann sie auch in der gesamten Region nicht über 18 Prozent liegen. Das kann man sich nicht schönrechnen. Sie haben nach einer Zahl gefragt, diese Zahl hinterher aber selbst aus dem Gefecht genommen, indem Sie gesagt haben, dass diese Zahl gefälscht sei. Ich frage Sie: Warum nutzen Sie eine Zahl, die aus Ihrer Sicht gefälscht ist? Ich sage Ihnen noch eines: Aus meiner Sicht ist es sehr schade, dass wir in Meck-Pomm und Brandenburg eine hohe Arbeitslosigkeit haben. Ich glaube aber auch, dass das etwas mit politischen Entscheidungen zu tun hat; denn Thüringen - da komme ich her - zieht in Sachen Arbeitslosigkeit zurzeit im positiven Sinne an Nordrhein-Westfalen, wo Rot-Grün mit Unterstützung der Linken regiert, vorbei. ({1}) Wir werden in den nächsten Monaten Nordrhein-Westfalen eingeholt haben. Das liegt an politischen Entscheidungen. Danke. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kolb, bei Ihren Reden frage ich mich immer, ob Sie Ihre Propaganda eigentlich selbst noch glauben. ({0}) In der Bevölkerung glaubt jedenfalls niemand mehr diese Propaganda. Ich habe in der letzten Woche in der Berliner Zeitung gelesen, dass allein im letzten Jahr 3 000 Arbeitsplätze in der fleischverarbeitenden Industrie aus Dänemark in das Billiglohnland Deutschland verlagert worden sind. In Frankreich passiert gerade das Gleiche. Die französische fleischverarbeitende Industrie hat eine Vereinigung gegen Sozialdumping gegründet und die EuroBrigitte Pothmer päische Union aufgefordert, Deutschland zu einem Mindestlohn zu drängen. Kommen wir zu der Situation in Deutschland. Nehmen wir als Beispiel das Land Niedersachsen; da kenne ich mich gut aus. Dort arbeiten sehr viele Beschäftigte in der fleischverarbeitenden Industrie für weniger als 5 Euro die Stunde. ({1}) Das geschieht - jetzt richte ich mich an Sie, Herr Wadephul - mit dem Segen der niedersächsischen Landesregierung. Die niedersächsische Landwirtschaftsministerin, Frau Grotelüschen, hat in einer Plenardebatte gesagt, Löhne für 5 Euro die Stunde seien durchaus akzeptabel. ({2}) Für Frau Grotelüschen gilt, glaube ich, der Satz von Karl Marx, nach dem das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt. ({3}) Frau Grotelüschen hängt selber sehr tief drin in diesen Geschäften mit den Billiglöhnen. Ihr Mann ist mit 14 Prozent an einem Unternehmen beteiligt, das von diesen Schmutzlöhnen profitiert. Sie selber hat in den letzten Jahren als Prokuristin in der fleischverarbeitenden Industrie Verträge abgeschlossen, die Löhne von 3,50 Euro pro Stunde vorsahen. Herr Wadephul, solange in Ihrer Partei Menschen, die diese Machenschaften betreiben, ein Ministerinnenamt bekleiden können, ({4}) so lange wird Ihnen niemand glauben, dass Sie gegen Lohndumping sind. ({5}) Sie leisten selber einen Beitrag dazu, dass Deutschland zum Niedriglohnsektor für ganz Europa wird. Schon jetzt werden Millionen Schweine zwischen Dänemark und Deutschland hin- und hertransportiert. Was glauben Sie, was nach dem 1. Mai 2011 passiert, wenn die Arbeitnehmerfreizügigkeit umgesetzt wird? ({6}) Das Problem wird um ein Vielfaches vergrößert, wenn wir nicht das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ in ganz Europa, das heißt auch in Deutschland, durchsetzen. ({7}) Diese Bundesregierung hat sich in dieser Frage ideologisch eingemauert. Die schlimmsten Ideologen sitzen in der FDP. ({8}) Können Sie sich noch an den Satz von Guido Westerwelle erinnern: „Mindestlohn ist DDR pur ohne Mauer“? Was die DDR betrifft, kennen Sie sich ja offensichtlich aus, wenn man Herrn Kubicki Glauben schenken darf. ({9}) Die DDR ist implodiert, und die FDP steht vor genau diesem Prozess. ({10}) Bei Ihnen ist es genau so wie in den letzten Tagen der DDR. ({11}) Da war es auch die Führung, da waren es Herr Honecker und Herr Mielke, die am meisten überrascht waren, als der Zusammenbruch kam. So ist es auch bei Ihnen. ({12}) Diese Bundesregierung arbeitet gerade mit Hochdruck daran, Deutschlands Ruf in Europa zu ruinieren. Aber das scheint Ihnen nicht zu reichen. Sie arbeiten mit Hochdruck auch daran, Europas Ruf in Deutschland zu ruinieren. Denn das wird passieren, wenn Sie nicht endlich Ihren Widerstand gegen die Mindestlöhne aufgeben. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Der Kollege Blumenthal würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte. ({0})

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kollegin Pothmer, Sie haben gerade erneut das Zitat wiederholt, die FDP befinde sich zurzeit im gleichen Zustand, in dem sich auch die DDR befunden habe. ({0})

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe Herrn Kubicki zitiert.

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. - Ich möchte nachfragen: Möchten Sie hier vor uns und in der Öffentlichkeit wiederholen, dass sich der Zustand der FDP mit dem Zustand der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik vergleichen lässt? ({0}) Möchten Sie diese Behauptung öffentlich bestätigen?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe Herrn Kubicki zitiert. ({0}) Ich glaube, Zitate sind im Bundestag erlaubt. ({1}) - Ich habe nur ein Zitat von Herrn Kubicki vorgetragen. Es wäre gut, wenn Sie auf die Leute aus Ihren Landesverbänden, die sich zum Zustand Ihrer Partei äußern, hören würden. ({2}) Meine Damen und Herren, Deutschland hat inzwischen den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa. 6,6 Millionen Beschäftigte arbeiten in Deutschland unterhalb der Niedriglohnschwelle. ({3}) Fast 2 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten für Löhne unterhalb von 5 Euro die Stunde. Dies ist ein deutsches Alleinstellungsmerkmal, das der Tatsache zu verdanken ist, dass wir zu den wenigen Ländern in Europa gehören, in denen es keinen Mindestlohn gibt. ({4}) Dieses Problem wird sich durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit verschärfen. Sie gefährden mit Ihrer Politik den sozialen Frieden in diesem Land, weil Sie die Geringverdiener in Deutschland und die Bezieher von Dumpinglöhnen in unseren Nachbarländern gegeneinander ausspielen. Das ist eine ganz miese Nummer, die wir von Ihnen allerdings schon kennen. Es geht um die Frage: Führt die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu Problemen? Die Bundesagentur für Arbeit geht jedenfalls davon aus, dass besonders sehr viele angelernte bzw. ungelernte Beschäftigte nach Deutschland kommen werden. Das IAB weist darauf hin, dass es Schmuddelfirmen, die Hungerlöhne zahlen, geben wird. Alle Experten raten dazu, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, um dieses Problem zu bekämpfen. Auch die Arbeitgeber sind doch längst dafür, Mindestlöhne einzuführen. ({5}) Auch sie sind gegen diesen ruinösen Wettbewerb, gegen Lohndumping. Fairer Wettbewerb und faire Löhne sind nicht nur für die Beschäftigten, sondern auch für die Arbeitgeber und vor allen Dingen für die Steuerzahler ein Thema. Schon jetzt könnten wir jedes Jahr 1,5 Milliarden Euro mehr in Bildung investieren, wenn wir nur einen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde hätten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, ich muss Sie noch einmal unterbrechen. Der Herr Kollege Kolb würde gerne noch eine Zwischenfrage stellen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, Herr Kollege Kolb, Sie hatten nun wirklich hinreichend Redezeit. ({0}) Üben Sie sich ein bisschen in Bescheidenheit. ({1}) Ich will deutlich sagen: Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn. Mit der Salamitaktik kommen wir einfach nicht weiter. Herr Wadephul hat gesagt: Beim Mindestlohn in der Zeitarbeit wird sich etwas tun. - Das löst aber nicht das Problem. Wird dadurch etwa das Problem im Wach- und Sicherheitsgewerbe gelöst? Das Problem, das in der fleischverarbeitenden Industrie besteht, habe ich schon angesprochen. Wo, bitte schön, löst der Mindestlohn in der Zeitarbeit die Probleme in diesen Bereichen? Jetzt wende ich mich an die CDU/CSU, an diejenigen, die das C in ihrem Namen führen. ({2}) Aus meiner Sicht steht das C für Helfen, Teilen und Gerechtigkeit. ({3}) Aber Sie machen mit Ihrer Politik genau das Gegenteil. Sie machen keine Politik für diejenigen, die Hilfe brauchen. ({4}) Sie machen eine Politik für diejenigen, die ein großes Portemonnaie haben. Das ist nicht nur unsozial. Das ist auch unchristlich. ({5}) Jetzt will ich Ihnen sagen, worin der Unterschied zwischen der CDU/CSU und den Grünen besteht: ({6}) Sie kämpfen im Wesentlichen für christliche Symbole, zum Beispiel in Schulen oder Amtsstuben. Wir kämpfen für christliche Werte. ({7}) Von Ihrer Art der Frömmigkeit können sich die Leute nichts, aber auch gar nichts kaufen. Eines kann ich Ihnen, gerade kurz vor Weihnachten, sagen: Maria und Josef, selbst das Christkind und die zwölf Apostel wären für einen gesetzlichen Mindestlohn. ({8}) Fröhliche Weihnachten! ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Pothmer, dass die Grünen für christliche Werte kämpfen, merken wir in Bayern anhand diverser Anträge, etwa denen, dass die Kreuze aus den Klassenzimmern verschwinden sollen, dass islamische Feiertage in Bayern eingeführt werden sollen. Das ist offensichtlich das Verständnis der Grünen, die angeblich für christliche Werte kämpfen, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({0}) - Das hat nichts mit Toleranz zu tun, sondern das hat mit Respekt vor Religionen zu tun, lieber Herr Kollege Beck. ({1}) Wir behandeln zum wiederholten Male einen Antrag der Linken-Fraktion für gesetzliche Mindestlöhne hier im Parlament. Diesmal wird es mit europäischen Gesichtspunkten begründet. Aber wie der Kollege Kolb und der Kollege Wadephul bereits ausgeführt haben, ist der Kollege Ernst letztendlich nicht sehr auf diese europäischen Gesichtspunkte eingegangen. Wahrscheinlich wäre ihm bei einem europäischen Mindestlohn auch schwindlig und flau in der Magengrube geworden, wenn er das deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hätte verklickern müssen; denn wir können uns ausmalen, dass wir angesichts der 20 Lohnuntergrenzen, die es in Europa gibt, bei einem Mindestlohn von ungefähr bei 3 Euro wären, werter Kollege Ernst. Deshalb ist es richtig und sinnvoll, auf die verschiedenen Tariflandschaften und auch auf die entsprechenden Rahmenbedingungen in den einzelnen Regionen Bezug zu nehmen. Das gilt für die Länder in Europa ebenso wie für die Bundesländer und die einzelnen Regionen in Deutschland. Deshalb ist ein gesetzlicher Mindestlohn, wie Sie ihn fordern, nur Gift und keine Bereicherung für Arbeitsplätze in unserem Land.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Straubinger, der Kollege Ernst würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dem kann ich es nicht abschlagen. ({0}) - In Bayern muss der Kollege Ernst seinen Parteitag besänftigen; da hat er keine Zeit.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, aber ihr müsst schauen, dass ihr irgendwann wieder über 40 Prozent kommt. - Herr Straubinger, wollen wir doch wieder über das Thema reden! Ich möchte Ihnen einfach die Frage stellen, ob Sie denn in unserem Antrag irgendwo gelesen haben, dass wir einen durchschnittlichen Mindestlohn in Europa fordern, wie Sie es gerade darzustellen versucht haben.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, natürlich.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin noch nicht ganz fertig. - Sind Sie denn nicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Mindestlohn in Europa, den wir schon in fast allen europäischen Ländern haben, natürlich die jeweilige wirtschaftliche Leistungskraft des Landes berücksichtigt - er wird zum Beispiel in Frankreich gerade auf 9 Euro erhöht -, weil die wirtschaftliche Leistungskraft in den einzelnen Regionen Europas unterschiedlich ist? Sind Sie ferner bereit zu akzeptieren, dass wir uns, wenn wir einen gesetzlichen Mindestlohn einführen, wie es viele andere Länder bereits getan haben, natürlich nicht mit den Leistungsschwächsten vergleichen dürfen, sondern dass wir uns mit denen vergleichen müssen, die eine ähnliche wirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben? Ist es dann in der Folge nicht sinnvoll, dass wir uns, da wir das wirtschaftlich leistungsfähigste Land, das konkurrenzfähigste Land Europas sind, wie man an unseren Handelsbilanzüberschüssen sehen kann, eher an dem durchschnittlichen Lohn, den die leistungsstärksten Länder haben, orientieren? ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist logisch. Aber es spricht gegen seinen eigenen Antrag.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die letzte Frage, die ich anschließen möchte, ist folgende: Ist es, Herr Straubinger, im Sinne des Gesetzes über Wachstum und Stabilität in der Wirtschaft von 1967 - ausgeglichene Handelsbilanzen, ausgeglichene Leistungsbilanzen, außenhandelswirtschaftliches Gleichgewicht ({0}) nicht richtig, wenn man feststellt, dass es zu Ungleichgewichten in Europa kommen kann, weil sich ein Land durch Lohndumping Vorteile gegenüber anderen verschafft, und ist es dann nicht sinnvoll, dass das Land mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit par excellence zumindest das Lohndumping nach unten durch einen gesetzlichen Mindestlohn verhindert? ({1})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ernst, Sie haben hier vortrefflich gegen Ihren eigenen Antrag argumentiert. ({0}) - Ja, natürlich. - Sie fordern in Ihrem Antrag einen gesetzlichen Mindestlohn in ganz Deutschland, unabhängig von den Voraussetzungen der verschiedenen Regionen. Diese sind unterschiedlich: Sie sind im Osten anders als im Westen, im Norden und im Süden. ({1}) - Ja, natürlich. Dementsprechend gibt es richtigerweise sehr viele verschiedene Tarifverträge, weil durch diese Tarifverträge die regionalen Besonderheiten und vor allen Dingen auch die Wettbewerbsfähigkeit in den jeweiligen Räumen berücksichtigt werden können. Das ist auch richtig so. ({2}) Wenn das in der Vergangenheit nicht so gewesen wäre, dann wäre Niederbayern nie zum Aufsteigerland Nummer eins geworden. Nur durch die Ansiedlung neuer Betriebe und neuer Industrien ist es gelungen, dass das Pendeln aus Niederbayern heraus ein Ende hat und in Dingolfing, ({3}) wo ich herkomme, schöne und gute Arbeitsplätze entstanden sind, zum Beispiel bei dem Automobilbauer BMW. ({4}) Herr Kollege Heil und Herr Kollege Ernst, alle Menschen dort profitieren davon, weil die Löhne durch das erhöhte Arbeitsplatzangebot insgesamt gestiegen sind. ({5}) Ein solch starkes Unternehmen ist letztendlich ein Trendsetter, der hinsichtlich der Entlohnung in den verschiedensten anderen Bereichen in unserem Land einen Trend setzt. Es ist deshalb sehr deutlich: Ihre eigene Argumentation ist gegen einen gesetzlichen Mindestlohn gerichtet, weil ein zu niedriger gesetzlicher Mindestlohn - Sie erkennen das ja indirekt an - keine Wirkung hat und ein zu hoher Mindestlohn Arbeitsplätze vernichtet. Herr Kollege Ernst, Sie legen immer dar, wir hätten Wettbewerbsvorteile, weil die Löhne so niedrig sind. Die Arbeitskosten sind gesunken; das ist richtig. Zu den Arbeitskosten gehören aber nicht nur die Löhne. Die Arbeitskosten können bei der Automobilindustrie durch Zulieferungen von Teilen aus anderen Ländern der Welt gesenkt werden. Natürlich bedeutet das dann Wettbewerbsvorteile. Es geht also nicht nur um die Arbeitskosten, sondern auch darum, wie wir Wettbewerb insgesamt gestalten. Die deutschen Unternehmen sind sehr erfolgreich, Herr Kollege Ernst. Das sollten wir durch Ihr Wirtschaftsprogramm nicht unterbinden. Ich habe mich getraut, mir die Homepage des Kollegen Ernst anzuschauen. ({6}) Dort steht die schöne Forderung, die EU solle Deutschlands Exporte begrenzen. Herr Kollege Ernst, was heißt das denn? ({7}) Wenn wir die Exporte begrenzen, dann werden Arbeitsplätze bei uns zunichtegemacht. Das ist doch völlig klar. Wir produzieren dann weniger und haben damit weniger Arbeitsplätze. ({8}) - Herr Kollege Ernst, diese Traumgebilde seien Ihnen unbenommen, aber das wird es so eben nicht geben. Wir müssen mit unseren Produkten in einer Wettbewerbsgesellschaft bestehen - in Europa und in der ganzen Welt. ({9}) Dabei sind wir sehr erfolgreich. Diesen Erfolg der Unternehmen sollte man im Sinne der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht schmälern. Deshalb ist die Politik der Bundesregierung unter Angela Merkel und der sie tragenden Parteien CDU, CSU und FDP richtig. Herr Kollege Ernst, wir kämpfen gemeinsam für mehr Arbeitsplätze in unserem Land und für mehr Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, weil damit natürlich auch die soziale Sicherheit der Menschen und Einkommensmöglichkeiten verbunden sind. ({10}) Ich habe es ja bereits ausgeführt: Ein zu niedriger Mindestlohn hat keine Wirkungen, und ein zu hoher Mindestlohn gefährdet Arbeitsplätze. ({11}) - Das ist kein Quatsch, Herr Kollege Heil. ({12}) - Herr Kollege Heil, Frankreich hat den höchsten Mindestlohn - der Kollege Ernst und auch Sie haben das gerühmt -, und er wird noch angehoben. ({13}) Die Realität sollte man dabei aber auch betrachten. Was hat das bewirkt? ({14}) Armut wurde bewirkt - insbesondere bei den Jugendlichen, die auf den Arbeitsmarkt drängen. ({15}) In Frankreich haben wir über 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit zu verzeichnen. ({16}) - Natürlich wegen des Mindestlohnes. ({17}) - Der Mindestlohn stellt eine Einstiegsbarriere dar, weil die Jugendlichen noch nicht so gut ausgebildet sind, nicht die entsprechende fachliche Erfahrung nachweisen können und es deshalb für die Betriebe nicht möglich ist, den so hohen gesetzlichen Mindestlohn für sie zu schultern. ({18}) Das sind dann die praktischen Auswirkungen. Wäre Ihnen denn eine höhere Jugendarbeitslosigkeit lieber? ({19}) - Das ist ja nicht wahr. Die Auswirkungen gesetzlicher Mindestlöhne bestehen nicht nur in erhöhter Arbeitslosigkeit. Sie verursachen darüber hinaus in vielen anderen Bereichen große Schwierigkeiten bei der Umsetzung. Aber ich bin überzeugt, dass es vor allen Dingen aufgrund der Konkurrenz über die Landesgrenzen hinweg Arbeitsplatzverluste geben wird, so in den Grenzgebieten zu Tschechien und Polen. ({20}) - Das ist nicht wahr. Schön ist auch noch, dass der Kollege Ernst es als unwürdig betrachtet, soziale Leistungen in Anspruch zu nehmen und dafür einen Antrag zu stellen. Es ist aber gerade der Ausdruck eines Sozialstaats, dass jemand, wenn er mit seinem erwirtschafteten Einkommen nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, Unterstützung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler erfährt. ({21}) - Ja, Herr Kollege Heil, auch der Kollege Kolb hat bereits dargestellt, dass die meisten Aufstocker nur teilzeitbeschäftigt sind. ({22}) Im Juli 2010 gab es 1,3 Millionen abhängig beschäftigte Erwerbstätige, die zusätzlich ALG II benötigten, zudem mehr als 100 000 Selbstständige. Aber fast 1 Million aus diesem Personenkreis arbeitet nur Teilzeit. ({23}) Mit Teilzeitarbeit kann ich eben kein Vollzeiteinkommen erreichen. Somit ist das keine Frage der Höhe eines Stundenlohns, sondern es geht darum, wie viel Zeit jemand aufgrund seiner familiären Situation der Arbeit widmen kann, weil er Kinder zu betreuen hat, weil er möglicherweise auch einen behinderten Angehörigen zu pflegen hat und, und, und. Für solche persönlichen Situationen haben wir - darauf sollten wir doch stolz sein - ein dichtes soziales Netz, an dem wir alle gearbeitet haben. Das möchte ich nicht als unwürdig betrachten, wie es der Kollege Ernst getan hat, als er sagte, es sei unwürdig, soziale Leistungen beantragen zu müssen. Aber entlarvend im Hinblick auf den Antrag der Linken ist durchaus, dass auf der einen Seite behauptet wird, es sei unwürdig und für den Einzelnen mühsam, Aufstockungen zu beantragen, aber dort gleichzeitig steht: Wenn ein Unternehmer den gesetzlichen Mindestlohn nicht bezahlen kann, dann soll er unterstützende Leistungen des Steuerzahlers erhalten. ({24}) Dann subventionieren wir die Arbeitgeber direkt. Lieber Kollege Ernst, im Gegensatz zu Ihnen bin ich dafür, dass wir dieses Geld den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den betroffenen Personen auszahlen, bevor wir es Unternehmen geben, um damit einen gesetzlichen Mindestlohn für manche Unternehmen in unserem Land überhaupt bezahlbar zu machen. Ich frage mich: Wo ist da der Unterschied? ({25}) Sie verurteilen auf der einen Seite die Aufstockung. Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem Antrag, dass dann die Unternehmen eine staatliche Unterstützung erhalten sollen, um diesen gesetzlichen Mindestlohn bezahlen zu können. Lieber Kollege Ernst, wenn dies ein Fortschritt sein soll, dann frage ich mich wirklich, wie es in unserer Gesellschaft zukünftig weitergehen soll. ({26}) Im Antrag wird auch dargestellt: Der gesetzliche Mindestlohn hilft in allen Bereichen. Er sichert ein ausreichendes Einkommen und in der Regel damit auch die Kaufkraft der Bürgerinnen und Bürger. Man könnte genauso gut argumentieren, dass dadurch eine Lohn-PreisSpirale in Gang gesetzt wird und die Kaufkraft somit nicht steigt, Herr Kollege Ernst. Dies sollte man unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten vielleicht auch einmal betrachten. Vor allen Dingen aber steht in den diversen Anträgen immer wieder, dass der Mindestlohn unseren Sozialstaat rettet und die Rente sichert. Herr Kollege Ernst, ich meine, dass die Menschen in ihrem Leben wesentlich mehr verdienen können als einen imaginären gesetzlichen Mindestlohn. ({27}) Der gesetzliche Mindestlohn, den Sie fordern, zeigt sehr deutlich, wie realitätsfern Sie in dieser Frage diskutieren. Dass jemand 45 Jahre lang durch den gesetzlichen Mindestlohn alimentiert wird, ist für mich eine Horrorvorstellung. ({28}) Es mag vielleicht den Linken angemessen sein und in ihr Programm passen. Denn Sie sind letztlich dafür, dass der Staat alles vorgeben soll. Sie sind eigentlich Gewerkschaftsführer, geben aber lapidar die Tarifautonomie damit auf. ({29}) - Natürlich. In Ihrem Antrag fordern Sie nicht nur einen gesetzlichen Mindestlohn, sondern auch weitere Branchenmindestlöhne. ({30}) Das bedeutet die Einschränkung bzw. die Aufgabe der Tarifautonomie. Dabei sollten Sie als Gewerkschaftsführer für die Stärkung der Tarifautonomie eintreten, statt zu ihrem Abbau beizutragen. ({31}) Ihr Vorschlag ist auch keine Lösung, um zu einer sicheren und guten Rente zu kommen. Entscheidend ist vielmehr, dass es in unserem Land vernünftige Arbeitsplätze gibt, die auch gut bezahlt werden. ({32}) Lieber Kollege Ernst, die derzeitige wirtschaftliche Entwicklung trägt mit dazu bei, dass die gute Bezahlung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer möglich wird. Ich kann mich noch gut daran erinnern, was Sie in einem früheren Antrag und auch in der Diskussion vorgebracht haben, nämlich dass Arbeitgeber bereit sind, zu zocken, dass sie sich übernommen haben und dadurch Arbeitsplätze gefährdet werden. Das haben Sie damals insbesondere im Zusammenhang mit der Fusion von Schaeffler und Continental verbreitet. Bei diesen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern steht jetzt eine Sonderzahlung an. Es zeigt den Charakter der sozialen Marktwirtschaft, dass sich auch die Unternehmen dieser Frage stellen. In vielen Bereichen, auch in der Automobilbranche, wird von Neueinstellungen der Unternehmen berichtet, ({33}) und zwar bei guter Bezahlung. ({34}) - Mir ist eine befristete Beschäftigung lieber als gar keine Beschäftigung, Herr Kollege Ernst. ({35}) Ihnen mag das möglicherweise egal sein. Wir kämpfen für dauerhafte Arbeitsplätze. ({36}) Darauf, dass dies umgesetzt wird, können wir stolz sein. Wir bedanken uns auch bei den betreffenden Unternehmen. Wenn aber alle für einen gesetzlichen Mindestlohn kämpfen, dann richte ich auch eine Empfehlung an die SPD, die wie alle Parteien im Wahlkampf ist, derzeit vor allem in Hamburg: Dass die Wahlkampfhelfer, die 37,5 Stunden in der Woche im Einsatz sind, mit 300 Euro im Monat entlohnt werden, ist meiner Meinung nach durchaus verbesserungsbedürftig. ({37}) Wenn man schon so heftig für einen gesetzlichen Mindestlohn kämpft, dann sollte man vielleicht auch über diesen Punkt nachdenken. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({38})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Präsidentin! Herr Straubinger, ich glaube, auch meine Ausführungen regen dazu an, über einige Punkte nachzudenken. ({0}) Wir erleben zurzeit eine ziemlich trübe Jahreszeit. Trotz Vorfreude auf Weihnachten sind graue Tage nichts Besonderes. Sie können von uns glücklicherweise auch nicht beeinflusst werden. Was mir aber in dieser Zeit große Sorge bereitet und was wir beeinflussen können - das gilt besonders für die zuständige Ministerin -, ({1}) ist die Tatsache, dass sich die Stimmung besonders bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in diesem Land immer mehr verfinstert. ({2}) Sie sind frustriert und haben konkrete Erwartungen an die Arbeitsministerin, dass sich etwas zu ihren Gunsten verändert und dass ihnen mehr Gerechtigkeit beim Lohn für gute Arbeit widerfährt. ({3}) Enttäuscht hat vor kurzem die Sozialministerin von der Leyen schon viele Menschen in diesem Land mit ihrer Neuregelung zu den Regelsätzen in der Grundsicherung und mit ihrem spärlichen Bildungspaket für bedürftige Kinder. Hinzu kommt nun ihre Untätigkeit als Arbeitsministerin bei der Frage eines gerechten Lohns für geleistete Arbeit. Arbeiten und dann noch Geld vom Staat zu brauchen, diese Situation gibt es in Deutschland immer häufiger. Die Zahl derer, die trotz Jobs auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, ist gestiegen. Wir alle kennen die Zahl: 1 325 000 Bürger müssen ALG II bekommen, obwohl sie ganz oder teilweise berufstätig sind. Diese Tatsachen können auch Sie nicht vom Tisch wischen, und diese Tatsachen verlangen politisches Handeln. ({4}) Wenn Sie - jetzt spreche ich die Regierungskoalition mit ihrer Ministerin an - ernsthaft für das nächste Jahr die Lösung arbeitsmarktpolitischer Probleme angehen wollen, dann sollte die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ganz oben auf Ihrer Tagesordnung stehen; denn darum kommen Sie nicht herum. Die Menschen im Lande erwarten für ihre geleistete Arbeit eine gerechte Mindestvergütung. Die heutige Debatte zu diesem Thema ist nicht neu und nicht der erste Aufschlag. Ich erinnere daran, dass wir im März 2010 einen Antrag eingebracht haben. Sicherlich sind wir uns in einigen Fragen sehr nahe, aber wir haben unterschiedliche Meinungen zu der Festlegung der Höhe der gesetzlichen Lohnuntergrenze. Wir, Herr Straubinger, wollen Fairness auf dem Arbeitsmarkt. In Abwägung aller Chancen und Risiken - Sie haben nur von den Risiken gesprochen - sind wir für realistische 8,50 Euro pro Stunde. Da sind wir uns mit den Gewerkschaften einig, und aus allen Kreisen der Bevölkerung kommt diese Forderung. ({5}) Ganz zuletzt hat Ihnen das Bundesverfassungsgerichtsurteil bescheinigt, dass das Lohnabstandsgebot hinfällig ist. Mit diesem Urteil ist bestätigt, dass das Existenzminimum nicht unter den untersten Löhnen liegen muss, sondern die untersten Löhne über dem Existenzminimum liegen müssen. ({6}) Das ist nachzulesen, und das heißt im Klartext: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die vollzeitnah erwerbstätig sind, müssen ein Nettoarbeitsentgelt erzielen, mit dem sie verlässlich oberhalb der Schwelle von Hartz IV liegen. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn ist also die Konsequenz auch aus diesem Urteil zur Neubemessung der Regelsätze. Das ist der Auftrag an Sie und an Ihre Ministerin. ({7}) - Das sehen viele Menschen in diesem Land ganz anders. ({8}) Ich glaube, dass Sie da in einer Sackgasse sind und sich vor dem Bundesverfassungsgericht darüber noch einmal streiten müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim gesetzlichen Mindestlohn geht es um zwei Dinge. Es geht erstens um die gesellschaftliche Anerkennung von Arbeit und die Würde des Menschen, der sich in diese Gesellschaft einbringt; er muss für das, was er an Arbeit leistet, auch gerecht entlohnt werden. Zweitens geht es aber auch um die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass Unternehmen ihre Niedriglohnbeschäftigung nicht durch die öffentliche Hand finanzieren lassen. Beides hat viel mit Gerechtigkeit zu tun, die wir in dieser Gesellschaft so dringend brauchen. Zahlreiche unserer Nachbarländer sind uns da schon einen deutlichen Schritt voraus. Viele Menschen fragen immer wieder, warum es nicht möglich ist, dass wir in Deutschland einen Mindestlohn haben, den es bereits in 20 der 27 Länder der Europäischen Union gibt. In den Ländern, die mit uns am ehesten vergleichbar sind - wie Belgien, Frankreich, Dänemark oder den Niederlanden -, ({9}) gibt es weltweit die höchsten Mindestlöhne in einer Spanne von 8,15 Euro bis 13,80 Euro. Keine dieser Volkswirtschaften ist daran zugrunde gegangen, und die Arbeitslosigkeit ist dort nicht höher als bei uns. Ganz im Gegenteil, sie ist niedriger, und die Beschäftigungsquote ist höher. Das ist nachzulesen. ({10}) - Ich habe vergleichbare Länder erwähnt; Herr Straubinger, hören Sie zu. Die Legenden, die Sie immer wieder pflegen - das haben Sie auch heute getan -, wonach Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten, ({11}) haben sich bisher in unseren Nachbarländern und angesichts der Mindestlohnvereinbarungen einzelner Branchen bei uns nicht bestätigt. Trotz all dieser Entwicklungen weigern Sie sich beharrlich, diese Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und daraus die richtigen Schlüsse für unser Land zu ziehen, die nur heißen können: Gesetzlicher Mindestlohn nun auch in Deutschland! ({12}) Frau von der Leyen hat uns in den letzten Wochen und Monaten sehr oft gesagt, wie wichtig ihr die Kinder in diesem Land sind. Wenn sie es ernst meint, dann muss sie auch an die Kinder denken, deren Eltern ein so geringes Einkommen haben, dass es für das Existenzminimum nicht ausreicht. Diese Kinder müssen erleben, dass die Eltern auf ergänzende Hilfe angewiesen sind. Besonders Alleinerziehende und Paare mit geringem Einkommen müssen oft das Jobcenter aufsuchen. Ein gesetzlicher Mindestlohn würde die Aufstockung vermeiden. Das käme schließlich 1,2 Millionen bedürftigen Kindern zugute. Das wäre eine echte Unterstützung für bedürftige Kinder. ({13}) Ich muss leider zum Schluss meiner Rede kommen. ({14}) - Das ist in der Tat bedauerlich. - Ich möchte einen Satz aufgreifen, den Ihre Ministerin am 18. Juni in diesem Hause gesagt hat. Es handelt sich um einen sehr schönen Ausspruch von Victor Hugo. Er hat gesagt: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist“. Ich greife diesen Satz ganz bewusst auf und sage Ihnen: Die Idee des gesetzlichen Mindestlohns ist nicht neu. Spätestens jetzt ist aber die Zeit gekommen, zu handeln. Wir laden Sie ein, auch in dieser trüben Jahreszeit das richtige Signal zu geben, das viele Menschen in diesem Land erwarten und das die Wünsche der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erfüllt. Mit einem gesetzlichen Mindestlohn würden auch die Differenzen in der Bezahlung von Männern und Frauen sowie die Lohnunterschiede zwischen Ost und West verringert oder beseitigt werden. Das wäre doch eine wirklich gute Aussicht für das neue Jahr. Danke. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Pascal Kober. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Ernst, bekanntlich ist Reden Silber und Schweigen Gold. Entsprechend war es bemerkenswert, wie Sie elf Minuten lang über einen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro gesprochen, aber über den konkreten Inhalt des von Ihrer Fraktion eingebrachten Antrags beharrlich geschwiegen haben. ({0}) Das verwundert überhaupt nicht; denn das Konzept, das Sie vorlegen, ist schlicht nicht konsistent. Sie fordern einen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro brutto pro Stunde, und dann sollen die jeweiligen Anpassungen durch einen paritätisch besetzten sogenannten nationalen Mindestlohnrat verbindlich vorgeschlagen werden. Da stellt sich mir und vielleicht auch jedem anderen unvoreingenommenen Betrachter und aufmerksamen Leser die Frage, warum dieser nationale Mindestlohnrat nicht schon die Eingangshöhe festlegt oder warum er nicht darüber nachdenkt, ob es überhaupt einen Mindestlohn geben soll. Ich kann Ihnen sagen, warum Sie einem solchen Rat nicht vertrauen: Sie vermuten, dass ein solcher sicherlich mit Experten besetzter nationaler Mindestlohnrat in seiner Expertise nicht zu dem Ergebnis kommen würde, dass der Mindestlohn bei 10 Euro liegen soll. ({1}) Diese Vermutung wird durch die Tatsache gestützt, dass die Gewerkschaften keinen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro fordern. Diese wissen, dass ein hoher Mindestlohn Arbeitsplätze gefährden würde, und stimmen daher Ihrer Forderung nach 10 Euro nicht zu. Sie haben viel über das europäische Ausland geredet. Sie verschweigen aber die jeweiligen Hintergründe in den einzelnen europäischen Ländern. In vielen Ländern Europas ist der Mindestlohn vom Durchschnittslohn bzw. vom normalen Lohn so weit entfernt, dass nur ein sehr geringer Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überhaupt vom Mindestlohn erfasst wird. In Großbritannien galt der Mindestlohn 2008 für nur 1,9 Prozent der Vollzeitbeschäftigten, in Irland für 3,3 Prozent und in Spanien für weniger als 1 Prozent. Die Mindestlöhne, die dort gelten, sind ganz weit von den 10 Euro entfernt, die Sie fordern. Beim Blick aufs Ausland verschweigen Sie natürlich auch, dass es dort, wo es Mindestlöhne gibt, zugleich immer auch eine Fülle an Ausnahmetatbeständen gibt, um negative Arbeitsmarkteffekte - sprich: Arbeitslosigkeit - zu mildern oder zu verhindern. Wenn Sie beispielsweise in Frankreich einen Arbeitslosen einstellen, bekommen Sie Abschläge bei den Sozialversicherungsbeiträgen. Ähnliche Ausnahmetatbestände gibt es nahezu überall, wo es in Europa Mindestlöhne gibt. Das sollten Sie dann auch sagen. Wir sagen: Ein Mindestlohn muss in sich konsistent sein. Einen Mindestlohn einzuführen und gleichzeitig eine Vielzahl von Ausnahmetatbeständen zu schaffen, macht keinen Sinn; dann lieber kein Mindestlohn. ({2}) Viele Kolleginnen und Kollegen haben schon darauf hingewiesen, dass Sie von Deutschland ein völlig falsches Bild zeichnen. Ich möchte es allen in Erinnerung rufen: In Deutschland gibt es nur 4 000 Personen, die Vollzeit arbeiten und zusätzlich sogenannte aufstockende Leistungen erhalten. Die Regel ist das nicht. ({3}) In Deutschland werden ordentliche Löhne gezahlt, und die Menschen können von ihnen leben, wenn sie einen Vollzeitjob haben. Noch ein Wort an die Kollegin Pothmer. Frau Pothmer, Sie sollten vielleicht die Weihnachtszeit nutzen, um nicht nur das Weihnachtsevangelium zu hören, sondern auch einmal über die Geschichte hinaus zu lesen und zu erfahren, wie es weitergeht. Die von Ihnen angesprochenen Apostel ({4}) - zwölf - haben allesamt ihr angestammtes Arbeitsverhältnis verlassen und sind Jesus nachgefolgt, ohne Kündigungsschutz, ohne Mindestlohn, ohne Arbeitszeitregelung. ({5}) Wenn Sie das als Maßstab für eine christliche Arbeitsmarktpolitik nehmen wollen, dann sage ich in der Tat: Das ist nicht die Vorstellung dieser christlich-liberalen Koalition. Vielen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Für und Wider eines gesetzlichen Mindestlohns haben wir - wieder einmal - sehr engagiert, sehr emotional und sehr ernst, teilweise auch mit großer Theatralik, abgewägt. Ich gehe deshalb davon aus, dass ich zu den Differenzen in diesem Hause nichts weiter sagen muss. Ich möchte das Thema von einer anderen Seite her angehen, nämlich von den vermuteten Gemeinsamkeiten her, und die Frage stellen, ob wir jenseits des gesetzlichen Mindestlohns auch andere ordnungspolitische Möglichkeiten finden können. ({0}) Vielleicht ist das dann - Herr Kolb hat es angesprochen das Überraschungsei im Adventskalender, das Sie bei dem Kollegen Ernst so schmerzlich vermisst haben. Meine Damen und Herren, in den vergangenen Tagen haben wir die Unterrichtung der Bundesregierung über das 18. Hauptgutachten der Monopolkommission zur Kenntnis genommen. Mich haben bei der Lektüre zwei Sachverhalte verwundert: erstens, dass die Monopolkommission eine starke Einschränkung der Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen befürwortet, und zum Zweiten, dass sie die Möglichkeit abschaffen will, Mindestarbeitsentgelte nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz festzulegen, so als ob an dieser Stelle tatsächlich Monopole entstünden. Ich habe dann etwas genauer nach den Begründungen gesucht und zwei gefunden, die mich geärgert haben: Zum einen befürchtet die Monopolkommission negative Auswirkungen auf den nachgelagerten Produktmarkt, zum anderen scheint sie Wettbewerb als Ziel der Ordnungspolitik zu sehen. Ich hingegen bin der festen Überzeugung: Wettbewerb ist nicht das Ziel des Marktes, sondern ein Mittel. Als Christlich-Sozialer stehe ich auf dem Standpunkt: Der Mensch steht im Mittelpunkt des Marktes. Er ist Urheber, Mittelpunkt und Ziel der Wirtschaftsordnung. Deshalb ist das Ziel des Marktes nicht der Wettbewerb, sondern Ziele sind das Gemeinwohl und der darin eingebundene Mensch. Ein zweiter Irrtum der Monopolkommission scheint mir in der Annahme der Funktionsweise von Markt und Staat zu liegen. Der Arbeitsmarkt ist kein perfekter Markt. In einem perfekten Arbeitsmarkt gibt es keine Einkommensunterschiede. Wenn alle Menschen in etwa gleich qualifiziert wären, würde es ein Überangebot an Arbeitskräften für die prestigehaltigen Arbeiten geben. Ihre Entlohnung würde sinken. Gleichzeitig würde für die weniger angesehenen Arbeiten der Lohn steigen müssen, weil sich sonst keiner findet, der diese Arbeiten verrichtet. Nun ist klar: Einen solchen Markt gibt es nicht. Die Menschen kommen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen und auch mit unterschiedlicher Verhandlungsstärke auf den Arbeitsmarkt. Auf dem Arbeitsmarkt besteht Ungleichheit, schon wegen der unterschiedlichen Machtpositionen von Anbietern und Nachfragern. Ungleichheit besteht aber auch, wenn wir nur diejenigen betrachten, die ihre Arbeitskraft anbieten. Hier muss der Staat dann eingreifen, wenn diese Ungleichheiten zu Arbeitsverhältnissen führen, die jeglicher Idee des Gemeinwohls zuwiderlaufen. ({1}) Der Staat ist Garant dieses Gemeinwohls. Er ist mit dem schönen Wort von Sismondi Repräsentant des dauernden, aber stillen Interesses aller gegen das nur zeitweilige, aber leidenschaftliche Interesse der Einzelnen. Ich denke, so weit stimmen wir im Hohen Hause überein: Die Lohnfindung allein dem Markt zu überlassen, wäre falsch und weder mit unseren Vorstellungen von Grundwerten noch mit unseren Vorstellungen von Gemeinwohl vereinbar. Das war im Übrigen auch die Auffassung von Adam Smith. In seinem Buch über den Reichtum der Nationen schreibt er - hier zitiere ich -: Der Mensch muss stets von seiner Arbeit leben, und sein Lohn muss wenigstens hinreichend sein, um ihm Unterhalt zu verschaffen. ({2}) In den meisten Fällen muss er sogar noch etwas höher sein, sonst wäre der Arbeiter nicht imstande, eine Familie zu gründen. - Wir sehen: Smith war weniger reiner Marktwirtschaftler als Moralphilosoph. Die katholische Soziallehre hat diesen Hinweis aufgegriffen und spricht vom gerechten Lohn, einem Lohn, der es einem Arbeitnehmer gestattet, sich und seine Familie zu ernähren. ({3}) Hier steht die katholische Soziallehre bei aller Betonung der Freiheit und der Eigenverantwortung des Menschen in der Tradition der Moralphilosophie und der Naturrechtslehre. Wir in der Union stehen in der Tradition dieser Soziallehre, meinen aber zur Frage der Mindestlöhne: Die Lohnfindung ist wegen des Prinzips der Subsidiarität zunächst Aufgabe der Tarifpartner. ({4}) Über viele Jahre, Herr Kollege Ernst, waren es gerade die Gewerkschaften, die mit Hinweis auf die Tarifautonomie staatliche Interventionen in die Lohnfindung zu Recht abgelehnt haben. ({5}) Wenn sich aber Tarifpartner nicht mehr finden, ihre Bindungswirkung verlieren oder nicht die Tarifmächtigkeit aufweisen können, dann läuft die Subsidiarität ins Leere und der Staat muss eingreifen. Wir haben dies getan mit der Grundidee, dass so viel wie möglich die Tarifpartner besorgen und dass wir dann je nach Notwendigkeit auf Antrag einzelne Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklären. In der Großen Koalition ist vereinbart worden, dort, wo sich keine Tarifpartner finden, die Lohnfindung über das Mindestarbeitsbedingungengesetz zu regeln - ein etwas kompliziertes, aber durchaus gangbares Verfahren. Einen allgemeinen und flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn haben wir im Wesentlichen aus drei Gründen abgelehnt: ({6}) Erstens besteht die Befürchtung, damit könnten Arbeitsplätze verloren gehen. ({7}) Hierzu gibt es Untersuchungen, die ich vor einiger Zeit im Deutschen Bundestag zitiert habe. Die spannende Frage aber lautet - das ist auch durchaus selbstkritisch -: Wie viele Arbeitsplätze gehen verloren, wenn wir keinen Mindestlohn haben? ({8}) Ich finde es richtig, über diese Bilanz zumindest einmal zu diskutieren. ({9}) Das zweite Argument ist, dass die Lohnfindung die Tarifpartner doch unter sich ausmachen sollten. Hier gilt es kritisch anzumerken: Wir haben nicht mehr die große Bindungskraft der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, ({10}) die in anderen Ländern ohne Mindestlohn selbstverständlich ist. ({11}) Wo die Tarifautonomie aufgerissen ist, müssen andere Wege gegangen werden. ({12}) Das dritte Argument ist, der Mindestlohn sei nicht flexibel genug, weder für Branchen noch für Regionen. Der Kollege Straubinger hat darauf hingewiesen. Das halte ich für ein schwerwiegendes Argument. Die Lebenshaltungskosten unterscheiden sich in den Regionen deutlich. Mit welcher Begründung können wir dann durch einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn mit Blick auf die Lebenshaltungskosten einige besser-, andere schlechterstellen? ({13}) Wie kann ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn die Bedürfnisse unterschiedlicher Branchen befriedigen? ({14}) Ich persönlich könnte mir vorstellen, dass man viele dieser Einwände durch die Idee eines subsidiären Mindestlohns oder - anders formuliert - eines gesetzlichen Mindestlohns mit einer tariflichen Öffnungsklausel entkräften kann. ({15}) Die Tarifpartner könnten den Mindestlohn für Regionen, Branchen oder für eine gewisse Zeit außer Kraft setzen. ({16}) Sie müssten sich aber gegenüber dem gesetzlichen Mindestlohn rechtfertigen, der den Charakter einer auch normativ zu verstehenden Setzung trägt. Begründungspflichtig wäre dann die Unterschreitung des subsidiären Mindestlohns, nicht der Mindestlohn selbst. Ein solcher subsidiärer Mindestlohn bietet nach meinem Dafürhalten Anreiz, die Lohnfindung durch die Tarifpartner dort vorzunehmen, wo es gute Gründe gibt, den Mindestlohn nicht anzuwenden. ({17}) Das Instrument wäre hinreichend flexibel, um regionalen oder branchenspezifischen Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Es wäre eleganter als das Mindestarbeitsbedingungengesetz und wesentlich unbürokratischer als die Verfahren zur Erklärung einer Allgemeinverbindlichkeit. Das würde uns viele Diskussionen im Zusammenhang mit dem 1. Mai 2011 ersparen. Das wäre nach meinem Empfinden ein ambitioniertes Projekt der christlich-liberalen Koalition, die gelingende Synthese der liberalen Tradition eines Adam Smith und der Tradition der Soziallehre in einem Themenfeld, in dem wir bald überzeugende Lösungen brauchen. Danke schön. ({18})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic für die SPDFraktion. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Zimmer, vielen Dank für Ihren wissenschaftlichen Beitrag. Aber nun möchten wir uns den Menschen in diesem Land widmen. ({0}) Wenn wir über Europa und Arbeitnehmerfreizügigkeit reden, die ab dem 1. Mai 2011 für acht weitere EUStaaten gilt, dann spüre ich bei den meisten Menschen vor allem Verunsicherung, ja auch oft Angst. ({1}) Sie fürchten, dass Arbeitnehmer aus osteuropäischen Staaten nach Deutschland kommen, um hier zu Niedriglöhnen und unter schlechten Bedingungen zu arbeiten. Besonders transnationale Leiharbeitsfirmen wollen die Arbeitnehmerfreizügigkeit ausnutzen. Herr Dr. Wadephul, es ist kein Geheimnis, dass deutsche Leiharbeitsfirmen bereits Verträge vorbereiten, um vermeintlich teure deutsche Leiharbeiter durch billigere polnische oder tschechische Leiharbeiter zu ersetzen. Der polnische Arbeitgeberpräsident spricht von Löhnen zwischen 2 und 5 Euro für polnische Leiharbeiter. Das sind Ersparnisse für die Unternehmen von bis zu 5 Euro pro Stunde und Mitarbeiter. Damit halten menschenunwürdige Entlohnung und unfaire Arbeitsbedingungen Einzug auch in unseren Arbeitsmarkt. Wir wollen keine Angst vor der Arbeitnehmerfreizügigkeit schüren; aber dieser Gefahr, die ab dem 1. Mai droht, muss die Bundesregierung schleunigst begegnen. ({2}) Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, was Sie zu dieser Thematik in den letzten Wochen gesagt haben, war sehr konfus. Die Union ist auf einmal für einen Mindestlohn in der Leiharbeit. ({3}) Auch das Schauspiel von Ursula von der Leyen bekommt einen neuen Akt: Sie macht sich plötzlich Sorgen um deutsche Leiharbeitnehmer. - Nun gut, aber leider sind Sie zu spät: In der Großen Koalition hätten wir mit Leichtigkeit einen solchen Mindestlohn umgesetzt. ({4}) Jetzt kriegen Sie das mit der Dagegen-Partei FDP nicht mehr hin. ({5}) - Das gilt für Sie. ({6}) Selbst die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände fordert einen Mindestlohn in der Leiharbeit. Trotzdem verweigern sich die Liberalen. Kolleginnen und Kollegen von der FDP, welche Klientel vertreten Sie eigentlich noch, wenn Sie nicht einmal mehr die Arbeitgeberforderungen unterstützen? ({7}) Herr Kolb, ich schätze Sie als einen vernünftigen Kollegen. ({8}) Sie haben die Problematik bereits erkannt, wie wir alle wissen. Reden Sie doch noch einmal mit Ihrem Vorsitzenden, Herrn Westerwelle, und bringen Sie endlich Ordnung in Ihre Arbeitsmarktpolitik, am besten durch Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in Deutschland. ({9}) Kolleginnen und Kollegen, die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist eine positive Errungenschaft, die wir in Europa geschaffen haben. Wir haben vier Dimensionen in Europa: den gemeinsamen Markt, die offenen Grenzen, die gemeinsame Währung und die soziale Dimension. Die ersten drei Dimensionen haben wir erfolgreich umgesetzt. Nun gilt es, den sozialen Frieden in Europa zu sichern. Europa heißt nicht nur, dass wir uns um den Euro oder die Finanzkrise kümmern. Europa bedeutet auch, dass wir Wohlstand und soziale Sicherheit für alle Menschen garantieren. ({10}) Dazu gehören auch faire Arbeitsbedingungen. Deshalb müssen wir Lohn- und Sozialdumping mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verhindern und den gesetzlichen Mindestlohn einführen. ({11}) Mit Lohn- und Sozialdumping schwächen wir zum einen unsere anständigen Unternehmer, die bei dem ständigen Unterbieten nicht mithalten können und wollen. Zum anderen schwächen wir mit Niedriglöhnen unsere Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmer hier in Deutschland verlieren entweder ihren Job, weil es billigere Arbeitskräfte aus anderen Ländern gibt, oder sie müssen zu Hungerlöhnen arbeiten - diese Gefahr besteht -, um mit der ausländischen Konkurrenz mithalten zu können. Das sind Verwerfungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die auftreten, wenn wir nicht politisch handeln, und zwar vor dem 1. Mai 2011. ({12}) Unser Grundprinzip muss lauten: Gleiche Lohn- und Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Das ist keine Gleichmacherei, sondern Grundlage für Anstand, Fairness und Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt. ({13}) Kolleginnen und Kollegen von der Linken, die Forderung nach Einführung eines Mindestlohns und der Aufnahme aller Branchen ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz teile ich. Aber ich teile nicht Ihre Analyse, dass allein mit Einführung eines Mindestlohns alles getan wäre, um uns auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit vorzubereiten. Ihre Forderungen greifen etwas zu kurz. Wir brauchen zum Beispiel auch eine grundlegende Regelung zur Beratung von entsandten Arbeitnehmern. Herr Staatssekretär Fuchtel, hören Sie zu. Sie können der Arbeitsministerin überbringen, welche Erfahrungen ein Facharbeiter bei diesem Thema gemacht hat. Wir müssen nämlich auch regeln, wie entsandte Arbeitnehmer in unser System der Mitbestimmung integriert werden. Wir müssen dafür sorgen, dass auftraggebende Unternehmer haften, wenn Subunternehmer aus dem Ausland Lohn- und Sozialdumping betreiben. Wir brauchen eine wirksame Kontrolle; denn die Finanzkontrolle Schwarzarbeit ist derzeit personell nicht dazu in der Lage. - Dies sind einige der Forderungen, neben der Einführung eines Mindestlohns, die die SPD-Fraktion nach der Weihnachtspause in einem eigenen Antrag einbringen wird. ({14}) Die Einführung eines Mindestlohns allein reicht nicht aus, um den Menschen in Deutschland Schutz zu gewähren. Erlauben Sie mir zum Schluss eine tiefer gehende Bemerkung in eigener Sache: Als jemand, der als Gastarbeiter nach Deutschland kam, vom Ausländer zum Migranten und heute zu einem Deutschen mit Migrationshintergrund wurde - eigentlich wollte ich immer nur ein Mensch sein -, ist mir wichtig, dass wir einen Fehler aus der Zeit der Gastarbeiter nicht wiederholen: Bei der Debatte um Zuwanderung und Arbeitnehmerfreizügigkeit müssen wir uns immer vor Augen halten, dass Menschen zu uns kommen und nicht nur Arbeitskräfte. Das ist eben auch ein wichtiger Aspekt für eine gelungene Integrationspolitik. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Gabriele Molitor für die FDP-Fraktion. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt ({0})

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Sie, meine Damen und Herren von den Linken und von den Grünen, höhlen mit Ihren Forderungen nach Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns die Tarifautonomie aus. ({0}) Im Vorgriff auf die ab Mai 2011 für die neuen EU-Mitgliedstaaten geltende Arbeitnehmerfreizügigkeit schüren Sie bei den Bürgerinnen und Bürgern Ängste gegenüber einem freien Europa. Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes garantiert die Tarifautonomie. Dort ist das Recht festgeschrieben, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber Koalitionen bilden können, um Vereinbarungen über Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen zu treffen. Gewerkschaften schließen mit Arbeitgeberverbänden Tarifverträge über das Arbeitsentgelt ab. Warum überlassen Sie von den Linken und Grünen es also nicht den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, einen Mindestlohn zu vereinbaren? Die Tarifautonomie gibt es schon jetzt her, Mindestlöhne einzuführen. ({1}) Ihre Argumentation an dieser Stelle ist bekannt. Sie sagen, dass in ganz vielen Branchen keine Tarifbindung herrscht. Das ist unzutreffend; denn der Anteil der Beschäftigten, auf die Tarifverträge Anwendung finden, lag laut des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im Jahr 2009 bei 81 Prozent. ({2}) Außerdem stelle ich mir die Frage: Wenn der Mindestlohn so notwendig ist, warum schaffen es die Gewerkschaften dann nicht, mehr Arbeitnehmer für sich zu gewinnen und ihre Forderung bei Tarifverhandlungen auch durchzusetzen? ({3}) Es ist doch offensichtlich so, dass Sie es den Gewerkschaften nicht zutrauen; denn sonst würden Sie nicht den Gesetzgeber auffordern, hier aktiv zu werden. Damit eines klar ist: Die Tarifautonomie ist für mich ein hohes Gut. ({4}) Sie gehört unverzichtbar zum Ordnungsrahmen der sozialen Marktwirtschaft. ({5}) Weil das genauso bleiben soll, sage ich: Nicht der Staat und auch nicht das Parlament haben die Aufgabe, Lohnhöhen festzusetzen, sondern die Tarifpartner. ({6}) Wir haben Standpunkte ausgetauscht. Ich sage Ihnen: Ein staatlicher Mindestlohn dient nicht der sozialen Absicherung. Über 98 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten verfügen laut BDA über ein existenzsicherndes Einkommen. ({7}) Arbeitnehmern, die ein solches zum Beispiel wegen fehlender Qualifikation nicht erzielen können, gewährleistet das Arbeitslosengeld II ein Mindesteinkommen. Das ist der richtige Weg. Der Effekt der Agenda 2010 war doch gewünscht, Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten den Einstieg in den Arbeitsmarkt über einfache Tätigkeiten zu erleichtern. Zu Beginn habe ich bereits gesagt, dass Ihre Anträge Ängste bei den Menschen gegenüber einem offenen Europa schüren. ({8}) Was passiert denn im Mai 2011? Grenzen auf dem Arbeitsmarkt fallen. Das ist für mich als Liberale etwas sehr Positives. Genau das heißt Freiheit. ({9}) Sie hingegen verstehen Arbeitnehmerfreizügigkeit als Bedrohung, vor der wir uns schützen müssen. Offene Grenzen sehen Sie als Bedrohung. Damit leisten Sie einen gefährlichen Beitrag zur Europaskepsis. Das halte ich gerade an einem solchen Tag wie heute, wo in Brüssel über die Stabilität unserer Währung beraten wird, für besonders fahrlässig. ({10}) Wenn es Ihnen, Herr Heil, wirklich um die Menschen und um ihre soziale Absicherung geht, müssen die Anträge zurückgezogen werden, und stattdessen müsste morgen im Bundesrat dafür gesorgt werden, dass die Neuregelung bei Hartz IV mitgetragen wird. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4038 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Wahl von Mitgliedern des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau gemäß § 7 Absatz 1 Nummer 4 des Gesetzes über die Kreditanstalt für Wiederaufbau - Drucksachen 17/4176, 17/4177 Hierzu liegen ein Wahlvorschlag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke sowie ein Wahlvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Bevor wir zur Abstimmung über die Wahlvorschläge kommen, erteile ich zunächst dem Abgeordneten Volker Beck das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir stimmen jetzt in einer offenen Wahl über die Besetzung des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau ab. Es ist unerlässlich, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages im Verwaltungsrat der KfW vertreten sind, um über die Geschäftsstrategie der staatseigenen Bank zu entscheiden und sie zu kontrollieren. ({0}) Es ist undemokratisch und widerrechtlich, dass die schwarz-gelbe Koalition die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen aus dem Kontrollorgan der Kreditanstalt für Wiederaufbau heraushalten will. Die KfW ist in erster Linie eine Bank für die Förderung des Mittelstandes. Unsere Kandidatin Christine Scheel ist die Mittelstandsbeauftragte der Fraktion. Sie hat schon viele Jahre diesem Gremium angehört und hat hier eine wichtige Arbeit geleistet, die von allen geschätzt wird. Die KfW finanziert Kommunalkredite und ermöglicht Export- und Projektfinanzierungen in großem Umfang. Sie hat im letzten Jahr mit der Kreditgewährung an Griechenland im Auftrag des Bundes eine wichtige Funktion zur Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarktes mit einem stabilen Euro übernommen. Es ist unerlässlich, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages an der Kontrolle einer solch zentralen Stelle beteiligt sind und keiner ausgeschlossen wird. ({1}) Herr Grund wird vermutlich gleich zu erklären versuchen, dass sich aus dem Beschluss des Deutschen Bundestages vom 28. Oktober 2009 zu dem Antrag mit dem Titel „Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen“ ergebe, dass uns kein Platz zustünde. Nach dem gängigen Stellenverteilungsverfahren nach Sainte-Laguë/Schepers steht den Grünen ein Platz zu. Sie berufen sich dabei auf folgenden Satz: Führt dieses Verteilverfahren nicht zu einer Wiedergabe der parlamentarischen Mehrheit, … errechnet sich die Verteilung nach d’Hondt. Danach stünde uns kein Platz zu. Dies ist aber angesichts der Regelungen zum Verwaltungsrat im Gesetz über die Kreditanstalt für Wiederaufbau an der Sache vorbei. Die gesetzliche Konzeption sieht vor, dass die Vertreter des Deutschen Bundestages und ihre Zusammensetzungen wegen sieben Vertretern der Bundesregierung in diesem Gremium auf die Mehrheitsbildung keinerlei Einfluss haben. Die Regierungsmehrheit ist ohnehin gesichert. Das gesetzliche System dieses Verwaltungsrats, das sich nicht an den Legislaturperioden des Deutschen Bundestages, sondern an der Amtszeit der Verwaltungsratsmitglieder orientiert, zeigt schon, dass es auf eine Abbildung der Mehrheitsverhältnisse des Deutschen Bundestages nicht ankommt, sondern auf eine Repräsentanz aller Fraktion bei der Kontrolle dieses Gremiums. ({2}) Das Bundesverfassungsgericht hat in einem ähnlichen Fall, nämlich bei der Zusammensetzung der Bundestagsbank im Vermittlungsausschuss - damals gegen unsere Koalition - entschieden: Funktion und Aufgaben des Vermittlungsausschusses fordern keine zwingende Ausrichtung der Besetzung des Ausschusses am Mehrheitsprinzip in einem Umfang, dass der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit - nämlich der Beteiligung aller Fraktionen im Zweifel zu weichen hätte. Das Bundesverfassungsgericht hat zum Grundsatz der Spiegelbildlichkeit ausgeführt: Er muss im Konfliktfall der mit dem Prinzip stabiler parlamentarischer Mehrheitsbildungen in Einklang gebracht werden. Kollidieren der Grundsatz der Spiegelbildlichkeit und der Grundsatz, dass bei Sachentscheidungen die die Regierung tragende parlamentarische Mehrheit sich auch in verkleinerten Abbildungen des Bundestages muss durchsetzen können, so sind beide Grundsätze zu einem schonenden Ausgleich zu bringen. Ein schonender Ausgleich liegt aber dort nicht vor, wo eine Bundestagsfraktion von den Kontrollmöglichkeiten - hier der Staatsbank - ausgeschlossen wird. ({3}) Herr Kauder, sogar für den Vermittlungsausschuss - damals haben Sie ja geklagt - sagt das Bundesverfassungsgericht: Dabei schließt die normative Ausgestaltung des Vermittlungsausschusses nicht aus, dass die politische Opposition auf Bundesebene in dem Ausschuss in bestimmten Fällen über eine Mehrheit verfügt; - was hier gar nicht der Fall wäre. Das zeigt aber, dass Sie hier willkürlich und widerrechtlich in die Kontrollrechte meiner Fraktion eingreifen. Volker Beck ({4}) Herr Grund, es gibt keinen guten rechtlichen und verfassungsrechtlichen Grund für die Beschneidung unserer parlamentarischen Kontrollrechte. Beteiligung ist auch keine Belohnung für parlamentarisches Wohlverhalten gegenüber der Koalition. Deshalb stimmen Sie unserem Wahlvorschlag zu. Diese Bitte richte ich auch an die beiden anderen demokratischen Fraktionen. Bitte unterstützen Sie uns in dem Anliegen, dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages gemeinsam die Staatsbank kontrollieren können müssen. Das dient der parlamentarischen Demokratie und ist gut für unser Land. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat der Kollege Manfred Grund das Wort zu einer Erklärung. ({0})

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gut für unser Land, wenn wir uns an die Grundsätze halten, die wir uns selber gegeben haben. Herr Kollege Beck, Ihre Argumentation führt in die Irre und geht an dem Grundsatz vorbei, den Sie in Ihrer Eigenschaft als Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen bis vor wenigen Jahren selber vertreten haben: Mehrheit ist Mehrheit. Worum geht es in der Sache? Erstens. Wir haben heute drei der insgesamt sieben Mitglieder des Verwaltungsrats der Kreditanstalt für Wiederaufbau, die der Deutsche Bundestag nach dem Gesetz über die Kreditanstalt für Wiederaufbau zu bestellen hat, neu zu bestellen. Zweitens. Der Deutsche Bundestag hat am Anfang dieser Legislaturperiode in Übereinstimmung und Absprache mit allen Fraktionen eine Regelung getroffen, wie in Zukunft - in dieser Legislaturperiode - Positionen in Ausschüssen und anderen Gremien zu besetzen sind, damit sich die durch Wählerentscheidung - Herr Kollege Beck, wir bestrafen und belohnen nicht; der Wähler bestraft und belohnt - herbeigeführte parlamentarische Mehrheit in allen Gremien widerspiegelt und abbildet. Die Drucksache 17/4 trägt die Unterschrift aller Fraktionen, natürlich auch Ihrer Fraktion. Darin heißt es: Die Zahl der auf die Fraktionen entfallenden Sitze im Ältestenrat und in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages sowie die Verteilung der Vorsitze in den Ausschüssen werden nach dem Verfahren der mathematischen Proportion ({0}) berechnet, soweit nichts Abweichendes vereinbart wird. Das Gleiche - das ist entscheidend gilt für die Besetzung von anderen Gremien, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Führt dieses Verteilverfahren nicht zu einer Wiedergabe der parlamentarischen Mehrheit …, errechnet sich die Verteilung nach d’Hondt. Genau diese Verteilung ist hier anzuwenden. Es gibt einen gemeinsamen Vorschlag aller anderen Fraktionen in diesem Haus, auch von einer Fraktion, die heute nicht auf dem Wahlvorschlag steht. Ausgerechnet die Fraktion der Grünen bricht hier aus einer parlamentarischen Tradition aus, die bisher für alle bindend gewesen ist. Ich will auf zwei oder drei Argumente eingehen, die der Kollege Beck hier vorgetragen hat. Das eine Argument stützt sich auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Demnach seien die Grünen aus verfassungsrechtlichen Gründen - Grundsatz der Spiegelbildlichkeit zu beteiligen. Herr Kollege Beck, dieses Urteil bezieht sich ausdrücklich auf den Vermittlungsausschuss, also auf ein Gremium, das sich aus Vertretern von Bundesrat und Bundestag zusammensetzt. Die Bestimmung der Zahl der Sitze, die im Verwaltungsrat der KfW zu besetzen sind, liegt überhaupt nicht in unserer Hand. Wir sind hier nur ein entsendendes Organ unter vielen anderen. Es gibt viele andere Gremien, die unter anderem von Mitgliedern des Bundestages besetzt werden, wo aber nur ein oder zwei Mitglieder des Bundestages vertreten sein können. Hier gibt es überhaupt keinen Streit darüber, ob man alle Fraktionen beteiligen sollte, weil das überhaupt nicht möglich ist. Sie haben ein zweites Argument vorgetragen: Die Regierung, die auch im Verwaltungsrat vertreten ist, könne die Mehrheit der Regierungskoalitionen darstellen. Herr Kollege Beck, wir haben aus guten Gründen seit der Französischen Revolution eine Gewaltenteilung: ({1}) hier das Parlament, der Gesetzgeber, da die Regierung, dort im Gericht die Justiz. Glauben Sie, dass wir das uns zustehende Mandat an die Regierung abgeben? Das werden wir nicht tun. Wenn Sie auf die Gewaltenteilung verzichten wollen, schlage ich vor: Sprechen Sie doch zum Beispiel Frank Bsirske von der Gewerkschaft Verdi an. Er ist Mitglied der Grünen und sitzt im Verwaltungsrat; er kann nach Ihrer Vorstellung von Gewaltenteilung in Zukunft Ihre Interessen dort wahrnehmen. Wir werden unser Mandat nicht abgeben. Herr Kollege Beck, Ihr drittes Argument: Beim KfWVerwaltungsrat handele es sich nicht um ein Gremium, auf das die Vereinbarung, die wir zu Beginn der Legislaturperiode gemeinsam getroffen haben, zutreffe. Es gibt insgesamt 42 Gremien - die Liste wurde von der Bundestagsverwaltung zusammengestellt und war bisher zwischen allen Fraktionen unstrittig -, wonach dieses Berechnungsverfahren - mit diesem Ergebnis - beim KfW-Verwaltungsrat anzuwenden ist. ({2}) Jetzt, wo es einmal nicht Ihrer Interessenlage entspricht, stellen Sie dieses Verfahren infrage. Herr Kollege Beck, Sie führen Ihre Fraktion mit Ihrer Argumentation auf ei8956 nen sehr abschüssigen Pfad. Sie führen Ihre Fraktion erkennbar ins parlamentarische Abseits und die Gewaltenteilung und die parlamentarische Demokratie ins Elend. ({3}) Ich fordere die Fraktion der Grünen, die hier so stark vertreten ist, auf: Schließen Sie sich dem Antrag der anderen Fraktionen an. Bleiben Sie beim bewährten Verfahren. Lassen Sie sich von Volker Beck nicht in die Irre führen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nach diesen beiden Erklärungen kommen wir nun zur Abstimmung, und zwar zunächst über den Wahlvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4176. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist mit der Mehrheit des Hauses abgelehnt. ({0}) Wir stimmen nun über den Wahlvorschlag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke auf Drucksache 17/4177 ab. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Wahlvorschlag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 42 a bis 42 d sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf. Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der die Federführung strittig ist, zum Zusatzpunkt 2 a: Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip Juratovic, Anton Schaaf, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Richtlinien zur konzerninternen Entsendung und zur Saisonarbeit sozial gerecht gestalten - Drucksache 17/4190 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Federführung strittig Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4190 mit dem Titel „Richtlinien zur konzerninternen Entsendung und zur Saisonarbeit sozial gerecht gestalten“ an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim In- nenausschuss. Die Fraktion der SPD wünscht Federfüh- rung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der SPD - Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales - abstimmen. Wer stimmt für diesen Vorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koali- tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak- tionen abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP - Federführung beim Innenausschuss - abstimmen. Wer stimmt für die- sen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Ent- haltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungen. Tagesordnungspunkte 42 a bis 42 d sowie Zusatz- punkte 2 b und 2 c: 42 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie im Eichgesetz sowie im Geräte- und Produktsicherheitsgesetz und zur Änderung des Verwaltungskostengesetzes - Drucksache 17/3983 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Koenigs, Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Für einen nachhaltigen Ausbau des Bildungsund Hochschulsystems in Afghanistan - Drucksache 17/3866 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({4}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Kerstin Müller ({5}), Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den friedenspolitischen und krisenpräventiven Auftrag des Europäischen Auswärtigen Dienstes jetzt umsetzen - Drucksache 17/4043 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({6}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Fritz Kuhn, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Versorgungslücke nach Krankenhausaufenthalt und ambulanter medizinischer Behandlung schließen - Drucksache 17/2924 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({7}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales ZP 2 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({8}), Marieluise Beck ({9}), Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechtsschutz bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen stärken - Drucksache 17/4196 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({10}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn, Stephan Kühn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbesserung der Versorgung der im Beitrittsgebiet vor dem 1.1.1992 Geschiedenen - Drucksache 17/4195 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 43 a bis 43 o sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 j auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 43 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Post- und Telekommunikationssicherstellungsrechts und zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 17/3306 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({12}) - Drucksache 17/4054 Berichterstattung: Abgeordneter Martin Dörmann Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4054, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3306 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 43 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({13}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Philipp Murmann, Dr. Joachim Pfeiffer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann ({14}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Existenzgründungen aus Forschung und Wissenschaft fördern - Für einen starken deutschen Innovationsstandort - Drucksachen 17/3480, 17/4115 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Heinz Riesenhuber Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4115, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3480 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD und den Linken und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 43 c: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen vom 12. Dezember 2006 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits ({15}) - Drucksache 17/3121 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({16}) - Drucksache 17/4181 Berichterstattung: Abgeordnete Ulrike Gottschalck Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4181, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3121 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 43 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({17}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Eva Högl, Dr. Peter Danckert, Sebastian Edathy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verhütung und Bekämpfung von Menschenhandel und zum Opferschutz sowie zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2002/629/JI des Rates ({18}) hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Menschenhandel bekämpfen - Opferschutz stärken - Drucksachen 17/2344, 17/4247 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Marco Buschmann Raju Sharma Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4247, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/2344 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 43 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({19}) Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages hier: Beratungsfrist bei Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses ({20}) - Drucksache 17/4166 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 43 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({21}) Übersicht 4 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 17/4240 Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkte 43 g bis 43 o sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 j. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 43 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 181 zu Petitionen - Drucksache 17/4020 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 181 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 43 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 182 zu Petitionen - Drucksache 17/4021 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Auch Sammelübersicht 182 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 43 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 183 zu Petitionen - Drucksache 17/4022 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 183 ist angenommen mit den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Tagesordnungspunkt 43 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 184 zu Petitionen - Drucksache 17/4023 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 184 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 43 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 185 zu Petitionen - Drucksache 17/4024 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 185 ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 43 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 186 zu Petitionen - Drucksache 17/4025 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 186 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 43 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 187 zu Petitionen - Drucksache 17/4026 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 187 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 43 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 188 zu Petitionen - Drucksache 17/4027 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 188 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von SPD und Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 43 o: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 189 zu Petitionen - Drucksache 17/4028 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 189 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Zusatzpunkt 3 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 190 zu Petitionen - Drucksache 17/4215 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 190 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 3 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 191 zu Petitionen - Drucksache 17/4216 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 191 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 3 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33}) Sammelübersicht 192 zu Petitionen - Drucksache 17/4217 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 192 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 3 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34}) Sammelübersicht 193 zu Petitionen - Drucksache 17/4218 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 193 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 3 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35}) Sammelübersicht 194 zu Petitionen - Drucksache 17/4219 8960 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 194 ist einstimmig angenommen. Zusatzpunkt 3 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36}) Sammelübersicht 195 zu Petitionen - Drucksache 17/4220 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 195 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat dagegen gestimmt. Zusatzpunkt 3 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 196 zu Petitionen - Drucksache 17/4221 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 196 ist bei Gegenstimmen der SPDFraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen. Zusatzpunkt 3 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 197 zu Petitionen - Drucksache 17/4222 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 197 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 3 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39}) Sammelübersicht 198 zu Petitionen - Drucksache 17/4223 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 198 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 3 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40}) Sammelübersicht 199 zu Petitionen - Drucksache 17/4224 Wer stimmt dafür? - Dagegen? - Sammelübersicht 199 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Ergebnisse des Weltklimagipfels in Cancún Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Thomas Gebhart von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. - Ist er nicht da? Ich darf einmal die Geschäftsführung der CDU/CSU-Fraktion fragen, wo der Redner ist. ({41}) Herr Kollege Gebhart, Sie sind als erster Redner aufgerufen. Deswegen wäre es gut, wenn Sie sich die Zeit nehmen könnten, zum Rednerpult zu kommen. ({42}) Bitte schön, Sie haben das Wort.

Dr. Thomas Gebhart (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004038, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herzlichen Dank für die Einladung und die Aufforderung, hier zu sprechen. ({0}) Meine Damen und Herren, wir begrüßen die Ergebnisse von Cancún. Die Ergebnisse übertreffen die Erwartungen. Am Ende wurde ein ganzes Paket von wichtigen Punkten beschlossen. Entscheidend ist: Alle sind an Bord. Entscheidend ist auch: Der Prozess hin zu weltweiten verbindlichen Vereinbarungen über die Mengenbegrenzung bei den Treibhausgasemissionen kann weitergehen. Wer sich gefragt hat - ich gestehe, auch ich habe mich das zwischenzeitlich kritisch gefragt -, was solche Konferenzen eigentlich bringen, und dann am Ende diese Schlussnacht von Cancún erlebt hat, in der sich so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl und eine unglaublich positive Stimmung herausgebildet haben, die zu diesem Ergebnis beigetragen haben, der hat die Frage so beantworten können: Diese Konferenzen haben ihren Wert. Ein maßgeblicher Erfolgsfaktor - ich denke, da sind wir uns alle einig - war die mexikanische Konferenzleitung. Sie war ausgezeichnet. Aber auch die deutsche Bundesregierung hat einen unglaublich positiven Beitrag geleistet. Die Rolle der Bundesregierung vom Anfang bis zum Ende der Verhandlungen war hilfreich und außerordentlich gut. Das Ansehen Deutschlands in der internationalen Klimaschutzpolitik - dies ist in allen Gesprächen mit Delegationen anderer Länder deutlich geworden - ist außerordentlich hoch. Deswegen ist es an dieser Stelle auch einmal angebracht, der Bundesregierung, insbesondere dem Bundesumweltminister, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich zu danken. ({1}) Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich auch sehen, dass das, was in Cancún beschlossen worden ist, noch nicht ausreicht, um am Ende die Probleme lösen zu können. Also stellt sich die Frage: Was ist zu tun? Ich will nur drei Punkte nennen. Erster Punkt. Der Prozess über die Vereinten Nationen muss selbstverständlich fortgeführt werden. Zweiter Punkt. Es ist völlig klar: Auch wenn Europa, wenn Deutschland alleine die Probleme nicht wird lösen können, so ist es dennoch ein Teil unserer Verantwortung, dass wir unseren Beitrag zur Lösung dieser Probleme leisten. Deshalb ist es richtig, dass sich die Bundesregierung und dieses Parlament beim Energiekonzept entschlossen haben, bis 2020 zu einer Reduktion der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent zu kommen. Nun ist es an der Europäischen Union, mit einer Reduktion um 30 Prozent nachzuziehen. Das ist möglich. Das ist geboten. Es ist auch - das füge ich ausdrücklich hinzu - in unserem ureigenen ökonomischen Interesse, dass unsere europäischen Wettbewerber möglichst ähnliche Verpflichtungen eingehen, wie wir es in Deutschland tun. ({2}) Der dritte Punkt. Es muss uns gelingen, die Klimaschutz- und die Umweltschutzziele in echten Einklang mit Wohlstand und Wachstum zu bringen. Der Schlüssel dazu liegt in technologischen Innovationen. Deutschland ist heute in vielen Bereichen der Technologie führend. Wir müssen diesen Weg konsequent weitergehen. Das ist eine große Herausforderung für die nächsten Jahre. Zugleich ist es aber auch eine große wirtschaftliche Chance. Wir werden auf diese Art und Weise auch die Arbeitsplätze von morgen schaffen und sichern können. Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die Technologiekooperation in den Ergebnissen von Cancún einen so großen Stellenwert einnimmt. Das ist etwas Bemerkenswertes und durchaus Neues. Meine Damen und Herren, zum Schluss will ich einen Punkt herausgreifen. Es ist gut, dass durch die Beschlüsse von Cancún dem Thema „Anpassung an die Folgen des Klimawandels“ ein genauso hoher Stellenwert beigemessen wird wie dem Klimaschutz an sich. Wir haben viele Gespräche mit Delegationen geführt, insbesondere auch von Entwicklungsländern. Es ist dabei sehr deutlich geworden, wie diese Länder teilweise schon heute enorm unter bestimmten Folgen des Klimawandels leiden. Ich will nur dieses eine Beispiel nennen: Tief beeindruckend waren für mich die Schilderungen einer jungen Frau aus dem Tschad. Sie hat uns sehr eindringlich deutlich gemacht, dass im Tschad in diesem Sommer Rekordtemperaturen von sage und schreibe 50 Grad Celsius erreicht wurden. Sie hat auf eine besonders eindrucksvolle Weise geschildert, was dies für das alltägliche Leben der Menschen dort bedeutet. Für den, der dies verinnerlicht und ernst nimmt, ist klar: Das Thema „Anpassung an die Folgen des Klimawandels“ ist mindestens genauso wichtig wie der Klimaschutz an sich. Deswegen werden wir beide Wege - sowohl Maßnahmen zum Schutz des Klimas als auch Maßnahmen und Hilfen im Hinblick auf die Anpassung an die Folgen des Klimawandels - angehen, und zwar in aller Konsequenz. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Frank Schwabe von der SPD-Fraktion. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will ausdrücklich sagen, dass wir eine große Übereinstimmung in diesem Hause darin haben, die Ergebnisse von Cancún zu begrüßen. Ich will auch ausdrücklich sagen, dass wir uns fraktionsübergreifend - ich glaube, so kann man das sagen - und sehr solidarisch dafür eingesetzt haben, dass diese Ergebnisse zustande gekommen sind. Ich habe zwei beeindruckende Erfahrungen aus Cancún mitgebracht. Die erste beeindruckende Erfahrung ist die, die auch Herr Dr. Gebhart schon geschildert hat. Es ist nämlich deutlich geworden, dass jenseits der Zahlen, die wir uns anschauen - dort steht dann, wie groß die Temperaturerhöhung schon gewesen ist und wie der Anstieg des CO2Gehalts aussieht -, der Klimawandel konkret stattfindet und für ganz viele Menschen auf der Welt Realität ist. Wir haben dort mit vielen Delegationen geredet, und man könnte dem Beispiel aus dem Tschad ganz viele Beispiele aus Zentralamerika, von vielen Inselstaaten und aus Bangladesch hinzufügen. Die zweite Erfahrung ist, dass sich viele Staaten auf der Welt völlig unabhängig davon, was in diesem UNProzess passiert, auf den Weg gemacht haben, sich dieser Herausforderung zu stellen. Viele Staaten entwickeln völlig unabhängig vom UN-Prozess eine unheimlich dynamische Technologiepolitik. Meine Sorge ist, dass die Europäische Union und letztlich auch Deutschland in diesem Prozess zurückbleiben. Wir sind sicherlich noch vorne - gar keine Frage -, aber die Dynamik ist so groß, dass wir in dem Moment, in dem Länder wie Brasilien, Südkorea, China und andere neben uns sind, sie möglicherweise nur kurz sehen, während sie ganz schnell an uns vorbeiziehen, weil wir unsere Politiken nicht entsprechend weiterentwickeln. Das ist jedenfalls meine Sorge. Ich glaube, das wichtigste Ergebnis von Cancún war, dass diejenigen, die hier national und in Europa als Bremser und gar als Klimaskeptiker auftreten, jetzt in ihre Schranken verwiesen werden. Auch deswegen war Cancún unglaublich wichtig. Ich würde nicht so weit gehen, wie das der Umweltminister getan hat, und von einem sehr großen Erfolg reden. Das hat der Umweltminister ja gesagt. Ich würde sagen, es war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem sehr großen Erfolg. Dieser Fortschritt muss dann dementsprechend in Durban kommen. Es wird nicht verwundern, dass wir völlig unterschiedliche Einschätzungen hinsichtlich der Rolle der Europäischen Union und auch der Rolle Deutschlands haben. Es ist ganz zweifellos so, dass wir hohe Anerkennung im internationalen Klimaprozess genießen, gar keine Frage. Allerdings glaube ich, dass dies eine Anerkennung ist, die auf der Politik der vergangenen 20 Jahre basiert. ({0}) Ich sage ausdrücklich 20 Jahre, weil daran auch Umweltminister der CDU beteiligt waren. Mein Eindruck ist allerdings, dass wir mittlerweile ins Mittelfeld zurückfallen. Die deutsche Delegation und die Verhandler waren natürlich hervorragend; man kann ihnen nur danken. Die Rolle allerdings, die Deutschland insgesamt und auch der Umweltminister gespielt haben, ist aus meiner Sicht schlichtweg nur noch mittelmäßig. Das hat aber auch Gründe. Ich will das gar nicht dem Herrn Minister persönlich zuschreiben. Einer der Gründe ist, dass man auf einer solchen Konferenz natürlich nur das verhandeln kann, was man zu Hause hier im Hohen Hause beschlossen bekommt und dorthin mitnehmen kann. Da gibt es einen großen Rucksack; der Herr Minister hat mit Blick auf Durban und auch das, was dorthin mitgenommen werden muss, das Bild des Rucksacks gewählt. Meiner Meinung nach gibt es zwei Dinge, die schwer im Rucksack von Herrn Röttgen liegen. Das eine sind die Ziele, ist die Frage des Anhebens des europäischen Ziels auf 30 Prozent, worüber es in der Koalition Uneinigkeit gibt. Das andere ist die Frage, ob die Mittel, die wir für den Finanztransfer zur Verfügung stellen, neu und zusätzlich vorgesehen worden sind. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Auf der linken Seite des Hauses haben Sie die Zustimmung für diese Politik. Ob Sie die Zustimmung auch auf der anderen Seite des Hauses haben, wird sich in den nächsten Wochen erweisen müssen. In der Europäischen Union müssen wir jetzt in Richtung 30-Prozent-Ziel gehen, jenseits dessen, was BDI und VCI schon wieder in Pressemitteilungen verkünden. Ich glaube, dass sie schon vor der Konferenz vorbereitet worden sind, dass man auf ein Scheitern gehofft und dann gleich verkündet hat, in der Europäischen Union dürfe es die 30 Prozent auf gar keinen Fall geben. Meines Erachtens gibt es drei Gründe, jetzt diese 30-Prozent-Reduzierung anzustreben. Erstens haben wir in Cancún mit dem Beschluss festgestellt, dass die Kioto-Staaten sich zu einer Reduktion in einem Spielraum von 25 bis 40 Prozent verpflichten. Ich glaube, dass wir deswegen unsere Ziele anheben müssen. Wir sind mittlerweile bei minus 17,3 Prozent in der Europäischen Union angelangt. Vielleicht sind wir in zwei, drei Jahren bei den minus 20 Prozent, die wir uns bisher als Ziel gesetzt haben. Dann würde jeglicher ökonomischer Anreiz entfallen, in eine Klimaschutzpolitik zu investieren. In der Tat: Wie wollen Sie eigentlich die Klimaschutzziele in Deutschland von minus 40 Prozent, die wir unterstützen, erreichen, wenn der Teil der CO2-Reduzierung, die auf dem Emissionshandel basiert, nicht möglich ist, weil der Emissionshandel auf dem 20-Prozent-Ziel basiert? Ihren Rucksack erleichtern müssen Sie zweitens auch im Hinblick auf die Frage nach den neuen und zusätzlichen Mitteln. Vielleicht kann Frau Staatssekretärin dazu gleich noch Erhellendes sagen. Zum Glück ist es so gewesen, dass dies die Verhandlungen in Cancún am Ende nicht zu sehr belastet hat. In Durban wird das ganz anders sein; dort wird nach drei Jahren abgerechnet, 2010 bis 2012, inwieweit die Mittel neu und zusätzlich sind, die Sie damals in Kopenhagen versprochen haben. Ich will mit Frau Espinosa, der Außenministerin von Mexiko, schließen, die als Präsidentin der COP allumfassend gelobt wurde: Es ist Zeit, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, bevor es zu spät ist. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Kopp. ({0})

Gudrun Kopp (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003160

Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Cancún war zum Glück nicht Kopenhagen. Ich möchte Ihnen vorweg einmal ein paar andere Eindrücke schildern, nämlich vom Hergang der Gesamtkonferenz, weil ich das für nicht unwichtig halte, wenn ich nach Durban im kommenden Jahr sehe und dabei feststelle, was nötig ist. Meiner Einschätzung nach war Cancún ein Meisterstück an Verhandlungsdiplomatie; denn man muss einfach sehen: Es galt zunächst einmal, verloren gegangenes Vertrauen wieder aufzubauen, und es galt, viele Skeptiker einzufangen. Ich empfand es als positiv, dass im Vorfeld dieser Konferenz die Messlatte der Einigung nicht zu hoch gelegt wurde, also kein großer Medienhype, keine Riesenerwartungen, sondern einfach nur - das habe ich schon bei meiner Ankunft und bei den verschiedenen Gesprächen mit den unterschiedlichen Ländergruppen oder auch mit den NGOs gespürt - eine Atmosphäre der konParl. Staatssekretärin Gudrun Kopp struktiven Zusammenarbeit herrschte. Viele Länder wollten zu einem soliden Ergebnis kommen, zu einem Ergebnis, das geeignet ist, die Brücke zur nächsten Konferenz in Durban 2011 zu bauen, die sehr wichtig ist. Ich fand es beispielsweise sehr wichtig, dass nicht schon am Anfang fertige Papiere zur Choreografie der Verhandlungen vorgelegt wurden, die die verhandelnden Delegationen dann nur noch abnicken sollten, wie es bei den zahlreichen internationalen Konferenzen in der Vergangenheit häufig der Fall war. Das fand ich sehr klug, bis hin zu der Tatsache, dass die Reihenfolge der Redner bei der Eröffnung und auch anschließend mit sehr großem Einfühlungsvermögen und internationalem Geschick gewählt wurde. Diese Art der Verhandlungsführung war sehr gut und ist, hoffe ich, beispielhaft für die nächste große Runde, die vor uns liegt. Das lag auch an der mexikanischen Außenministerin Espinosa, die ihre Arbeit hervorragend gemacht hat. Aber auch die UN haben dabei ebenso wie die Europäische Union und wir als Bundesregierung eine sehr gute Rolle gespielt. Ich danke Minister Röttgen noch einmal herzlich für die sehr gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Ich habe nichts anderes erwartet. ({0}) Europa hat bei diesen Verhandlungen mit einer Stimme gesprochen. Auch das ist ein wichtiger Punkt. Das war bei den bisherigen internationalen Konferenzen längst nicht immer so. Ich habe mich gefreut, dass heute zu Beginn der Diskussion Klimaschutz und Entwicklungszusammenarbeit endlich zusammen diskutiert werden. Denn ich finde, die Entwicklungszusammenarbeit wurde in diesem Zusammenhang in der Tat in der Vergangenheit unterbelichtet. Minderung von Treibhausgasen, Anpassung an den Klimawandel und Waldschutz waren die drei Hauptthemen. Ich finde es gut, dass wir damit ein gehöriges Stück weitergekommen sind. ({1}) Wir sind als Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit vier zentralen Anliegen in die Verhandlungen gegangen. Dazu gehören erstens die Sicherstellung der Kohärenz von Klimaschutzfinanzierung und Entwicklungsfinanzierung und zweitens die Verabschiedung eines Rahmenwerkes für die Anpassung an den Klimawandel, das auch die Entwicklungsländer und deren Eigenverantwortung stärken sollte. Die Vereinbarung eines Mechanismus für den Waldschutz in Entwicklungsländern ist ein weiterer sehr wichtiger Punkt. Damit kann man hocheffizienten Klimaschutz erreichen. Außerdem streben wir die Stärkung des Kohlenstoffmarktes in Entwicklungsländern durch Ausweitung auf Industriesektoren und die kosteneffiziente Standardisierung von Verfahren an. Ich denke, all dies war sehr zufriedenstellend. Wir als BMZ sind sehr zufrieden mit den substanziellen Fortschritten, die erzielt wurden. Wie ich schon gesagt habe, ist es gelungen, eine Vereinbarung auf den Weg zu bringen, die die Beiträge der Schwellenländer zur Minderung der Treibhausgase ebenso wie die Einigung auf eine maximale Klimaerwärmung um 2 Grad einbezieht. Auch dies ist ein wichtiger Punkt. ({2}) Im Pflichtenheft für die nächste Verhandlung stehen der Schutz tropischer Wälder, die Aufforstung und die Biodiversität. All das ist wichtig. Ich will aber auch etwas zur Finanzierung sagen. Sehr geehrte Herren und Damen, die Bundesregierung wird ihre Zusage einhalten, zusätzliche Finanzmittel für die Klimaschutzfinanzierung bereitzustellen. Mit dem jüngst beschlossenen Bundeshaushalt 2011 ist ein weiterer Baustein gesichert. Deutschland wird in den Jahren 2010 bis 2012 rund 4 Milliarden Euro für Klimaschutzvorhaben in Entwicklungsländern bereitstellen, davon 1,26 Milliarden Euro im Rahmen der in Kopenhagen angekündigten zusätzlichen Fast-Start-Finanzierung. Über 80 Prozent dieser Summe werden vom BMZ bereitgestellt. Damit ist das Entwicklungsministerium der wichtigste deutsche Finanzier klimapolitischer Maßnahmen. Auch das ist, glaube ich, ein ganz wichtiger Punkt. ({3}) Ich habe mich gefreut, beispielsweise bei Gesprächen mit den NGOs, auch zu hören, dass sie unsere Definition von „neu und zusätzlich“ - es gibt keine internationale Definition dafür - sehr gut gefunden und gelobt haben. ({4}) - Sie waren bei den Gesprächen nicht dabei; bleiben Sie ganz ruhig. ({5}) Die Transparenz ist wirklich sehr gut. Wir haben auf dieser Konferenz unsere Daten veröffentlicht und genau dargestellt, wie sich die Finanzierung zusammensetzt. Dies wurde ausdrücklich begrüßt. Im Übrigen sind wir als Deutsche die Einzigen, die eine solche Transparenz bei der Mittelbereitstellung aufweisen. ({6}) Auch das, finde ich, muss erwähnt werden und ist sehr positiv. ({7}) Des Weiteren wurde der Green Climate Fund, also der Grüne Fonds, der bereits in Kopenhagen beschlossen wurde, in ein neues Instrument überführt. Er wurde formell eingerichtet, und es wurde ein vorläufiger Verwaltungsrat eingesetzt, der den Fonds aufbauen und gestalten soll. Auch dies ist ein wichtiger Punkt auf dem Weg zu einer wirklich kohärenten Arbeit. Zum Schluss, sehr geehrte Herren und Damen, liebe Kollegen und Kolleginnen, freut es mich, darauf aufmerksam machen zu können, dass just in diesem Moment die Unterzeichnung des Fusionsvertrags der GIZ, der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, läuft. Das bedeutet, dass wir mit einer so effizient gestalteten Durchführungsorganisation, wie es die neue GIZ sein wird, und zusammen mit der KfW, was die Finanzierung der Projekte angeht, unsere Projekte effizient am Markt platzieren werden. Auch dies findet - jedenfalls habe ich es so erfahren - große internationale Anerkennung. Damit sind wir auch bei der Durchführung von Projekten mit Blick auf die Entwicklungsländer und die Schwellenländer, die von uns eine solche effiziente Zuarbeit erwarten, auf einem guten Weg. Ich kann nur hoffen, dass dieser Fortschritt, diese große Leistung, die wir erbracht haben, wirklich genügend gewürdigt wird. Ich danke allen hier im Hause, die daran sehr gut mitgearbeitet haben, dass diese Fusion zustande kommen konnte. Das war keine Selbstverständlichkeit - das wissen Sie -, sondern ein großer Kraftakt. Ich bin stolz darauf, freue mich darüber, dass dies gelungen ist, und hoffe, dass wir mit gutem Gepäck zur nächsten Klimakonferenz nach Durban gehen und dort die Ergebnisse erzielen können, die wir uns noch wünschen; denn es bleibt noch viel zu tun. Wir wollen diese Arbeit gemeinsam angehen. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der Fraktion Die Linke. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Einschätzung zu Cancún scheint selbst bei den meisten Umweltverbänden durchaus positiv zu sein, sieht man einmal vom BUND ab. Aber ich halte diesen Jubel nicht für angebracht; denn an den Verhandlungsergebnissen kann es ja wohl nicht liegen. Ich habe mich gefragt, warum sie das so einschätzen, und ich vermute, dass es eher eine Art Stockholm-Syndrom ist. Sie erinnern sich: Geiseln solidarisieren sich in scheinbar aussichtsloser Lage gelegentlich mit den Geiselnehmern. Als Geiselnehmer bezeichne ich diejenigen, die mittlerweile seit Jahrzehnten blockieren. Hier geht es nicht um die Regierung von Bolivien, sondern um die USA, Japan und verschiedene Ölstaaten, ({0}) also um Staaten mit enormer Wirtschaftskraft und hohem CO2-Ausstoß. Es geht um Länder und Interessengruppen, die der Weltgemeinschaft zynisch ihre Regeln aufzwingen. Sie heißen: Umweltschutz nur so weit, wie es Konzerne und Establishment zulassen. An diesen Staaten orientieren sich dann gerne Schwellenländer, die nicht einsehen, warum gerade sie auf Wachstum verzichten sollen. Der Pro-Kopf-Ausstoß zum Beispiel von China und Indien ist wesentlich niedriger. Das müssen wir immer wieder betonen. Die EU will erst dann in Vorleistung gehen, wenn andere Industriestaaten mitziehen. Die Bundesregierung unterstützt noch immer diese passive Haltung. Frau Kanzlerin Merkel blockiert hier. Die Opposition muss Herrn Röttgen mächtig unterstützen, damit das noch etwas wird. ({1}) Für uns ist der wichtigste Schluss aus Cancún: Die EU muss sich sofort und bedingungslos verpflichten, bis 2020 den CO2-Ausstoß um 30 Prozent, ausgehend vom Jahr 1990, zu reduzieren. 20 Prozent sind ein Witz. Wenn wir die Beschlüsse von Cancún ernst nehmen, dann müssen wir einsehen, dass eine höhere Reduktion dringend notwendig ist. Was heißt das? Die Industriestaaten sollen - darüber ist in Cancún diskutiert worden bis 2020 ihren Ausstoß um 25 bis 40 Prozent mindern. Das steht so nicht drin, wie fälschlich immer behauptet wird, sondern es ist nur als Kenntnisnahme der entsprechenden Stelle im UN-Klimabericht formuliert. Aber ich denke, das sollte uns reichen. In Wirklichkeit liegt der Jubel über Cancún nur an den heruntergeschraubten Erwartungen. Das Ergebnis ist leider sehr mager. Das 2-Grad-Ziel wird nach Kopenhagen und G 8 nun schon zum dritten Mal gefeiert. Welch ein Fortschritt nach 15 Jahren Forschung über Klimawandel und seine Folgen! Ich halte es auch für eine tolle Leistung, dass konkrete Minderungsziele wieder vertagt wurden. Es gibt keine konkreten Minderungsziele. Im Dokument lässt sich kein einziges verbindliches Ziel finden, nicht einmal für Gruppen von Ländern, auch kein Langfristziel bis 2050. Schauen Sie sich die freiwilligen Zusagen an! Wenn ich diese addiere, dann komme ich auf eine Klimaerwärmung um 3,5 Grad; es kann auch mehr sein. Herzlichen Glückwunsch! Im Übrigen hat Bolivien recht: Bei einer Erwärmung um 2 Grad wird der Meeresspiegel langfristig um 2 bis 3 Meter steigen. Die Abgeordneten von Bangladesch haben uns klargemacht, dass 18 Prozent der Landesfläche versinken werden, wenn der Meeresspiegel um nur 1 Meter steigt. Das betrifft 30 Millionen Menschen. Das sind keine Peanuts. Was passiert dann mit den Umweltflüchtlingen? In Cancún blieb wieder vollkommen offen, welche Industriestaaten die Klimaschutzmaßnahmen und Anpassungsmaßnahmen im globalen Süden in welcher Höhe bezahlen sollen. Frau Kopp, was Sie gesagt haben, ist nicht richtig. Fragen Sie einmal Oxfam und andere Initiativen! Wir reden wieder über ungedeckte Schecks. Es gab auch keine Einigung zur Finanzierung des globalen Waldschutzes. Dafür wurde die unsägliche CO2Verpressung als vermeintliches Klimaschutzinstrument etabliert. Im Dokument steht, es werde sichergestellt, dass zwischen dem Auslaufen des Kioto-Protokolls 2012 und einem neuen Abkommen keine Lücke entsteht. Auch das ist nur Prosa. Auf die Ratifizierung hat die UN überhaupt keinen Einfluss. Beim Kioto-Abkommen hat sie sieben Jahre gedauert. Zum Schluss. Es mag sicherlich kleine Fortschritte in Cancún gegeben haben. Der größere Erfolg ist für uns, dass der UN-Prozess nicht gänzlich gescheitert ist. Angesichts dessen, was klimapolitisch notwendig wäre, muss ich aber sagen, dass wir nach 18 Jahren Klimadiplomatie leider wieder am Anfang stehen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Ott von Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Hermann E. Ott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004125, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind in Cancún gerade noch einmal davongekommen. Dass es überhaupt ein Ergebnis gegeben hat, grenzt an ein Wunder. Ich möchte mich zunächst dem Lob einiger Kolleginnen und Kollegen für die gute Betreuung, die wir durch das BMU erfahren haben, anschließen. Die Betreuung war hervorragend. Ebenso loben möchte ich die Verhandlerinnen und Verhandler aus dem BMU und anderen Ministerien, die trotz großem Schlafdefizit enorm viel geleistet haben. Die in Cancún erzielten Ergebnisse sind allerdings nur das absolute Minimum. Sie besagen nichts weiter, als dass der multilaterale Prozess im Rahmen der UN fortgesetzt wird. Das ist auch gut so. Erträglich ist dieses Ergebnis allerdings nur vor dem Hintergrund des totalen Scheiterns. Das Ergebnis von Cancún als Durchbruch zu bezeichnen, so wie es der zuständige Minister Röttgen getan hat, ist allerdings etwas sehr kühn; denn außer einem Auftrag zum Weitermachen ist ja nichts entschieden. Es fehlt alles, was ein gutes Verhandlungsmandat ausmacht. Es fehlt zum Beispiel an einem Endtermin für die Verhandlungen. Soll denn nächstes Jahr in Durban ein Durchbruch gelingen und ein Abkommen abgeschlossen werden oder erst im Jahr 2012 in Katar oder, hoffentlich, in Südkorea? Es fehlt auch jeglicher Hinweis auf die rechtliche Form. Was soll denn eigentlich verhandelt werden? Ein rechtlich verbindlicher Vertrag, so wie es sinnvoll erscheint, oder doch nur ein einfacher Beschluss ohne Durchschlagskraft? Den Rest der Defizite spare ich mir. Herr Minister, es tut mir leid, aber das Ergebnis von Cancún ist nicht nur kein Durchbruch. Es besteht auch keine Veranlassung dafür, dass Sie sich diesen winzig kleinen Erfolg an die stolzgeschwellte Brust heften. Im Gegenteil, dass die Ergebnisse von Cancún so schwach sind, dafür sind auch Deutschland und die EU verantwortlich. ({0}) Symptomatisch dafür war Ihre Rede vor dem Plenum in Cancún. Das war eine typische klimapolitische Sonntagsrede: schön, aber ohne Substanz. Es war wie immer. Sie blinken „grün“ mit ökologischer Modernisierung und biegen dann ab ins schwarz-gelbe Nirwana. Wo war denn das Bekenntnis zum 30-Prozent-Ziel für die Europäische Union? Nach der Konferenz haben Sie sich wieder dazu bekannt. Warum nicht dort, wo es wirklich Sinn macht, um die Verhandlungen zu beeinflussen? Wer hat Ihnen das herausgestrichen? Ich glaube Ihnen und Ihrem Hause ja, dass Sie etwas bewegen wollen, aber Sie müssen sich auch darum bemühen, sich innerhalb Ihres Kabinetts ab und zu durchzusetzen. Im letzten Jahr ist erschreckend wenig geschehen in der Klimapolitik. Sie haben sich vermutlich vor allem auf die Wahl für den Vorsitz Ihres Landesverbandes konzentriert. Das haben Sie erreicht. Jetzt ist es wieder an der Zeit, sich auf Ihren eigentlichen Job als Umweltminister zu konzentrieren; ({1}) denn ein erfolgreicher Minister muss sich wenigstens ab und zu mit seiner Position auch in der Bundesregierung wiederfinden. Darum ist es jetzt Zeit, sich um Ihren Kollegen Brüderle zu kümmern, der Ihnen permanent in die Suppe spuckt, hier in Berlin und auch in Brüssel. Sie müssen sich von diesem Klotz am Bein befreien, sonst wird Ihre Klimapolitik nicht fliegen können. ({2}) Wolfgang Kubicki, der Fraktionsvorsitzende der FDP in Schleswig-Holstein, hat den Zustand der FDP mit der Spätphase der DDR verglichen. Abgesehen davon, dass geschichtliche Vergleiche in der FDP eine etwas unglückliche Tradition haben, sind die Parallelen in der Klimapolitik offensichtlich. Da ist zum Beispiel der absolute Realitätsverlust, der große Teile der FDP bei der Klimapolitik auszeichnet, wo der drohende Klimawandel überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wird. Und da ist zweitens das verkrampfte Festhalten an alten Strukturen. Der Wirtschaftsminister verteidigt verbissen die alten fossil-atomaren Energiesysteme und bekämpft die Wende hin zu einer solaren Gesellschaft auf Basis der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz. Das erinnert doch sehr an die Spätphase der DDR, meine Damen und Herren. Herr Kollege Kauch, es reicht nicht, ab und zu die Opposition im Bundestag das Fürchten zu lehren. Das können Sie sehr gut, das werden Sie gleich wieder unter Beweis stellen. Aber Herr Minister Brüderle ist Ihr Minister, und es ist an der Zeit, dass Sie ihn einmal zur Ordnung rufen, wenn Ihnen etwas am Erfolg des Klimaschutzes liegt und - so darf ich hinzufügen - wenn Ihnen etwas daran liegt, nicht in der Spätphase der FDP mit in den Strudel gerissen zu werden. Die Ergebnisse von Cancún sind kein Freibrief für Nichtstun, sondern ein Auftrag zum entschlossenen Handeln. Es muss Vorreiter geben, die den Worten auch Taten folgen lassen. Wir brauchen deshalb eine Klimapolitik der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Jetzt müssen die Partner für eine Klimaallianz geworben werden - ohne die USA. Die können es aufgrund ihrer innerpolitischen Lage und ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften nicht leisten. Ich muss es noch einmal sehr deutlich sagen: Wer ein Kioto-Folgeabkommen mit den USA anstrebt, der will in Wirklichkeit überhaupt kein Abkommen, oder er will es erst am Sankt-NimmerleinsTag. Aber vorher ist Wahltag. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundesumweltminister Dr. Norbert Röttgen. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Minister:in)

Politiker ID: 11002765

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer in der Nacht die Erleichterung, die Freude und - ich glaube nicht, dass es übertrieben ist, es so zu sagen - das Glück in den Gesichtern von Teilnehmern aus China, Indonesien, Indien, den USA, Frankreich, Großbritannien, Deutschland gesehen hat - manche Teilnehmer haben es schon geschildert -, der hat ein Gefühl dafür bekommen, was erreicht worden ist. Wenn es gelingt, eine Katastrophe zu vermeiden, ist viel erreicht. Darum würde ich Sie bitten, darüber einfach noch einmal nachzudenken. Wer das erlebt hat, wer das mitempfunden hat und wer die Dimension der Menschheitsherausforderung Klimawandel verinnerlicht hat, muss, glaube ich, zu dem Schluss kommen: Ihre kleinkarierte, provinzielle Mäkelei ist einfach deplatziert. ({0}) - Hören Sie doch einmal zu! Es gibt vielleicht ein paar Themen und Herausforderungen, die wirkliche Menschheitsfragen sind, ({1}) die zu bedeutend sind, als dass man sie immer nur unter der sozialdemokratisch-provinziellen Brille betrachten dürfte. Vielleicht gibt es einmal eine größere Dimension, der man gerecht werden will. ({2}) - Zu Ihnen komme ich gleich noch etwas genauer. Es gibt überhaupt nichts schönzureden. Es ist ein Gradmesser für die Glaubwürdigkeit, dass wir hier, die Politik, Kriterien des Erfolgs vorher benennen und sie nachher anwenden. Das habe ich zum Beispiel zu Kopenhagen im letzten Jahr auch gemacht. Ich habe vorher die Erfolgsbedingungen benannt, habe darum in Kopenhagen und auch hier im Bundestag erklärt: Das ist weitgehend gescheitert. - Es gibt keinen Grund, das zu beschönigen. Es war am Ende sogar noch etwas mehr, als ich gesagt habe; denn der sogenannte Copenhagen Accord hat sich als lebensfähig erwiesen. Wir haben jetzt darauf aufgebaut. Ich habe vor Cancún gesagt: Es wird keinen Durchbruch geben. Den zu erwarten, ist nicht realistisch. Was wir erreichen können, ist ein ausgewogenes Paket von einzelnen Entscheidungen, für die sich alle bewegen müssen. Das ist dann ein fairer Kompromiss. Das ist machbar. Das ist aber überhaupt nicht gesichert. Wer tagelang und auch nächtelang dort gesessen hat und dann miterlebt hat, dass förmlich in letzter Minute die mexikanische Präsidentschaft einen Vorschlag von einer Qualität und Reichweite vorgelegt hat, mit dem die Versammlung nicht mehr gerechnet hat, der weiß zu schätzen, was erreicht worden ist. Dafür, dass es erreicht worden ist, bin ich dankbar, weil es gemeinsam erreicht worden ist. Herr Ott, man braucht sich nicht mit Feststellungen zu beschäftigen, die keiner getroffen hat. Ich habe immer gesagt: Es ist kein Durchbruch zu erwarten. Ich habe nie behauptet, dass es ein Durchbruch war. Wenn Sie mir jetzt unterstellen, ich hätte es doch gesagt, drückt das ein bisschen Ihre intellektuelle Not aus, sich mit dem Ergebnis zu beschäftigen. Warum haben Sie die? Weil Sie aus parteipolitischen Gründen nicht bereit sind, sich mit der Qualität dieses Ergebnisses, aber auch mit der Problematik, die ihm innewohnt, seriös zu beschäftigen. Legen Sie doch diese Haltung ab! ({3}) Das wird Ihnen nicht gerecht und dem Thema schon gar nicht. ({4}) Was haben wir erreicht? Wir haben erreicht, dass die Staatengemeinschaft ihre Handlungsfähigkeit bewiesen hat. Das ist deshalb eine gewichtige Feststellung, weil das Scheitern an dieser Stelle möglich war. Wenn nicht nur Bolivien dagegen gewesen wäre, sondern auch ein anderer Staat, dann wäre schon sehr fraglich gewesen, ob es zu diesem Ergebnis hätte kommen können. Das zeigt, wie dünn das Eis ist. Mit deutschen Belehrungen, dass am deutschen Wesen die Welt zu genesen habe, kommen wir leider international nicht weiter. ({5}) Davon können wir uns wechselseitig überzeugen. Die Welt ist etwas komplizierter, als dass Sie immer gleich wissen könnten, wie es für alle auf der Welt zu machen ist. ({6}) Dass die Staatengemeinschaft die Handlungsfähigkeit - fast würde ich es so sagen - wiederhergestellt hat, erhalten hat, ist von enormer Bedeutung, weil ein Zeichen unserer Zeit ist, dass sich globale Herausforderungen ergeben, dass es aber noch keine globale Handlungsmacht, keine globale Handlungsstruktur gibt. Die muss sich erst entwickeln - mit aller Mühsal, bei allen Interessengegensätzen, die vorhanden sind. Dass es gelungen ist, die Interessen wirtschaftlicher Art, politischer Art, machtpolitischer Art, zusammenzubringen, ist ein wesentlicher Teil des Erfolgs. ({7}) Aber es ist auch ein inhaltlicher Erfolg. Zum ersten Mal ist das 2-Grad-Ziel von der Staatengemeinschaft förmlich anerkannt worden. Darüber müssen sich doch alle freuen, die am Klimaschutz interessiert sind. Wie kann man das ignorieren? Wir haben das erreicht. ({8}) Die entsprechenden Instrumente sind mit erarbeitet worden, ob es der internationale Waldschutz ist, ob es die Technologiekooperation ist, ob es die Langfristfinanzierung ist oder ob es die Transparenzregeln sind. Das ist gut. Darauf können wir weiter aufbauen. All das ist selbstverständlich mit europäischer Beteiligung geschehen. Ich habe es auch hier schon mehrfach ausgeführt: Die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union allein haben nicht die Fähigkeit und nicht die Macht, diesen Prozess zu steuern. Wir müssen unsere Möglichkeiten und unseren Willen einbringen, damit Europa mit einer klaren Stimme spricht und entschieden gegen den Klimawandel antritt. Das ist die Aufgabe deutscher Politik. Europa ist auch die Interessenvertretung unseres deutschen Nationalstaates. Und so verhalten wir uns. Europäische Interessenvertretung dient auch unseren Interessen, und so haben wir das eingebracht. ({9}) Ich glaube, es ist ein Erfolg, dass es seit 1997, seit Kioto, zum ersten Mal wieder eine dermaßen umfassende völkerrechtliche Entscheidung gibt. Das ist seit langen, langen Jahren nun wieder der Fall. Vor uns liegt auch weiterhin ein schwieriger Prozess, aber nicht, weil etwa eine unwillige deutsche Bundesregierung die 40 Prozent CO2-Reduzierung einseitig und unkonditioniert beschlossen hätte. Es ist doch nicht das Problem, dass die deutsche Regierung nicht vorangeht. ({10}) Die Frage ist doch: Schaffen wir es, daraus einen weltweiten Akkord, ein weltweites Niveau abzuleiten? Wir sind die Vorreiter, und wir wollen die Vorreiter in diesem Prozess sein. Das ist doch überhaupt keine Frage. ({11}) Wir haben eine Vorreiterrolle, weil wir ein Energiekonzept zu einer Treibhausgasreduzierung von 80 bis 95 Prozent vorgelegt haben. ({12}) Der Primärenergieverbrauch soll um 50 Prozent - das haben wir hier im Deutschen Bundestag beschlossen reduziert werden. Das konnten wir darlegen. Deutschland ist in Europa als Treiber akzeptiert, und Europa ist weltweit als Treiber akzeptiert. Das ist ohne jede Frage unsere Politik, die wir betreiben. ({13}) Aber es ist trotzdem nicht so einfach. Wir als deutsche Bundesregierung wollen ein international einheitliches, rechtlich verbindliches Abkommen für alle Staaten. Das ist unsere Position, aber das ist noch nicht der Stand der Verhandlungen. Wenn wir dieses Ziel nicht erreichen können, dann sind wir auch für eine zweite Verpflichtungsperiode des Kioto-Protokolls bereit. Das ist schon ein „Weniger“, weil es bedeutet, dass man die zwei rechtlichen Stränge beibehält. Aber wir stellen auch inhaltliche Anforderungen an die zweite Verpflichtungsperiode. Sie muss auch wirksam sein. Die heiße Luft, die im aktuellen KiotoProtokoll noch enthalten ist, muss beseitigt werden. Darüber müssen wir mit den Ländern reden, die sie als ihren rechtlichen Besitzstand verteidigen wollen, etwa Russland. Aber das Kioto-Protokoll selber und unsere Bereitschaft, weiterzumachen, lösen das Problem nicht. Das Kioto-Protokoll deckt 27 Prozent - nicht 100 Prozent der globalen CO2-Emissionen ab. Das heißt, wir brauchen die Beiträge der großen Emissionsländer - China und USA -, damit sich hier etwas bewegt. ({14}) Das alles führt uns zu der entscheidenden Frage des Selbstverständnisses. Was ist das Selbstverständnis von Klimaschutzpolitik? Das ist in der Tat die entscheidende Frage. Ich möchte diese Frage - wie immer - eindeutig beantworten: Erstens. Es ist eine moralische Verpflichtung, die Lebensgrundlagen dieses Planeten für unsere Kinder und Enkelkinder und die nächsten Generationen zu erhalten. Das ist eine Verpflichtung, die wir heute zu erfüllen haben; dieser Aufgabe wollen wir gerecht werden. ({15}) Zweitens. Es ist eine große Chance, Lebensqualität zu sichern. Es ist eine große Wachstumschance auf der Basis einer anderen Vorstellung von Wachstum, nämlich der qualitativen Vorstellung von Wachstum, durch neue Technologien Marktanteile, Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätze zu erhalten. Es ist unsere europäische und deutsche Chance. Darum stimme ich zum Beispiel mit dem Bundesaußenminister völlig überein, der öffentlich gesagt hat: Europa und Deutschland sollen und werden ihre Vorreiterrollen behalten. Das ist unsere Position, weil wir Herausforderer sein wollen. Wir wollen vorangehen. ({16}) Dazu gehört, das 40-Prozent-Ziel, das wir vorgegeben haben, auf die EU auszuweiten. Deshalb trete ich seit langem in der EU ausdrücklich dafür ein, eine europäische Position zum 30-Prozent-Ziel zu erreichen. Das ist meine Position in Europa und hier in Deutschland. ({17}) Es liegt in unserem Interesse, dass die anderen europäischen Länder Anschluss halten. Aber auch dabei ist nicht die Frage, ob Deutschland dazu bereit ist, sondern die Frage ist, ob die anderen Länder in Europa dazu bereit sind. ({18}) Man braucht die anderen als Partner, um auf diesem Gebiet etwas zu erreichen. Das ist das Problem. Wir sind bereit, voranzugehen, weil wir darin eine Verpflichtung und eine Chance sehen. Es stellt erstens außenpolitisch eine Chance für uns dar, weil Klimaschutz eines der wichtigsten außenpolitischen Aktionsfelder Deutschlands ist. Es stellt zweitens wirtschaftlich eine Chance für uns dar, weil wir nur durch entsprechende Anreize und Ambitionen unsere Technologieführerschaft behalten, die ja Basis für unseren Wohlstand und unser Wachstum ist. Es ist drittens notwendig, um den nötigen Klimaschutzbeitrag zu leisten. Das werden wir tun. Dafür setzen wir uns ein. Die Kunst besteht allerdings nicht darin - das haben die mexikanische Präsidentschaft und ihre Außenministerin gezeigt -, die Welt zu belehren, dass man weiß, wie es geht, und alle anderen das zu akzeptieren haben, sondern die Kunst besteht darin, offen und gesprächsbereit zu sein und die anderen partnerschaftlich von unseren Vorstellungen zu überzeugen. ({19}) Diese Demut müssen wir als Deutsche und Europäer schon aufbringen. Auf dieser Basis werden wir unsere Vorreiterrolle zum Wohl des Klimaschutzes und zum Wohle unseres Landes aktiv ausfüllen. Herzlichen Dank. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Miersch von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesumweltminister, was ist los? So empfindlich haben Sie selten reagiert. Anscheinend sind die Argumente, die hier von der Opposition gekommen sind, doch nicht so falsch. ({0}) Ich glaube, es geht hier nicht um Belehrung der Welt durch Deutschland, sondern es geht hier um das Wahrnehmen einer Vorbildfunktion, um aktive Schritte in der Klimapolitik. ({1}) Hier versagen Sie augenblicklich, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({2}) Es bringt nichts, in großen Hochglanzbroschüren 2050er-Szenarien zu malen. Hier geht es vielmehr um Förderung von Erneuerbaren statt Wiedereinstieg in die Atomtechnologie. Sie sind somit auf dem völlig falschen Weg. Auf der einen Seite so zu handeln, zugleich aber schöne Worte zu machen, das bringt nichts. Das merkt auch die internationale Staatengemeinschaft. ({3}) Wenn Sie, Herr Bundesumweltminister, uns vorwerfen, unseriös zu handeln, dann frage ich mich, ob es nicht erst recht unseriös war, als die Parlamentarische Staatssekretärin eben gesagt hat, die Bundesregierung sei in Cancún dafür gelobt worden, dass sie ihre Versprechungen bezüglich zugesagter Mittel in Sachen Entwicklungshilfe wahrgemacht habe. Nennen Sie uns, Frau Kopp, bitte die NGO, nennen Sie bitte uns die Organisation, die so etwas gesagt hat. Alle Verlautbarungen gingen in die Richtung, dass die Bundesregierung massiv dafür kritisiert wurde, dass sich von den zugesagten Mitteln bislang erst 10 Prozent in den Haushalten wiederfinden. ({4}) Das ist eben die Diskrepanz zwischen Taten und Worten, Herr Bundesumweltminister. Es geht hier nicht um Belehrung, sondern um aktives Vorgehen. Das misst sich nicht an Worten. Vielmehr muss Deutschland der internationalen Staatengemeinschaft klarmachen, dass es diesen Weg wagt. Ich nehme Ihnen Ihre Ziele und Ihre Absichten ab, vor allem auch Ihre christliche Verbundenheit, und sehe die Größe der Aufgabe, die Sie vor sich haben. Ich glaube, dass auch Sie momentan Schmerzen verspüren angesichts der Konstellation, in der Sie sich bewegen. Als Daheimgebliebener kann ich Ihnen sagen, was hier in den Tagen, in denen Sie in Cancún verhandelt haben, los gewesen ist. Wir haben das an mehreren Stellen problematisiert. So hat die umweltpolitische Sprecherin der CDU/ CSU-Fraktion, Frau Dött, wieder einmal nachgelegt. Sie hat in einem Interview mit der Zeit gesagt, es sei verdächtig, wenn sich alle immer nur auf den IPCC berufen. ({5}) Ihr Berater sei wohl bleich geworden - so schreibt es jedenfalls der Reporter der Zeit - und hat dann gesagt, das wissenschaftliche Gremium IPCC sei schon Maßstab des Handelns. Wie hat darauf die umweltpolitische Sprecherin reagiert? Sie hat mit dem Kopf geschüttelt. ({6}) Das sind Dinge, die man problematisieren muss. Es kann doch nicht sein, dass die umweltpolitische Sprecherin der größten Koalitionsfraktion das Regelwerk, auf dem alles aufbaut, an dem Hunderte von Wissenschaftlern in zwischenstaatlichen Organisationen arbeiten, infrage stellt. Das ist die Widersprüchlichkeit, die außen ankommt. ({7}) Herr Kauch - Sie reden nach mir -: Ihr Kollege Martin Lindner - nicht der Generalsekretär - sprach von dogmatischen Schreihälsen, die so tun würden, als ob die Eisbären wieder in Norddeutschland Einzug hielten, wenn wir die CO2-Ausstöße senken würden. Ich weiß nicht, wozu die 14 Prozent, die Sie bei der Bundestagswahl bekommen haben, geführt haben. Da sind anscheinend Leute ins Parlament gespült worden, die die elementare Menschheitsaufgabe nicht begreifen und hier Sprüche von sich geben, die völlig unangemessen sind, zumal wenn Sie in Cancún deutsche Interessen vertreten. ({8}) Das entscheidende Argument lautet - Herr Döring, da können Sie auch noch lernen, Ihre Sprüche sind nicht viel besser -, dass es wie in der UNO darum geht, dass man Allianzen schmiedet, die über Legislaturperioden hinausreichen. Deshalb sage ich Ihnen: Wir werden Ihnen die Hände reichen. Deswegen werden wir Ihnen im nächsten Jahr konkret anbieten: Lassen Sie uns einen Entschließungsantrag auf den Weg bringen, in dem sich der Deutsche Bundestag dafür ausspricht, dass die Europäische Union unkonditioniert ein 30-Prozent-Minderungsziel aufgreift. ({9}) Lassen Sie uns ein Klimagesetz verabschieden, in das wir nicht Minderungsziele für 2020 oder 2030 hineinschreiben, sondern in dem wir festlegen, kontinuierlich alle zwei oder drei Jahre zu überprüfen, wie weit wir sind. Lassen Sie uns miteinander in die Haushalte hineinschreiben, wie wir den Schwellen- und Entwicklungsländern in den kommenden Jahren helfen wollen. Das sind konkrete Schritte und keine Hochglanzankündigungen für 2050. Dann haben wir, so glaube ich, Chancen, auch in Durban wieder eine Vorreiterrolle einzunehmen. Das wünsche ich jedenfalls uns und der Menschheit. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Michael Kauch von der FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht um die Zukunft des Planeten. Es geht um die Zukunft der kommenden Generationen. Dieser Opposition fällt jedoch in dieser Debatte nichts anderes ein, als innenpolitische Beschimpfungen zu bringen. Das wird dem Anspruch nicht gerecht, den wir an die Klimapolitik zu stellen haben. ({0}) Richtig billig war zum Beispiel der Kollege Ott mit sachfremden Attacken, die nichts mit der Klimapolitik zu tun haben. Wie die Geier warten Sie offensichtlich darauf, dass die FDP in sich zusammenfallen wird. Das hat Ihnen die Fraktionsführung wahrscheinlich aufgeschrieben. ({1}) dass man das jetzt in jeder Debatte sagen muss. ({2}) Ich kann Ihnen nur sagen: Sie werden niemals die Erben der FDP werden; nicht nur deswegen, weil es keinen Erbfall gibt, sondern auch, weil Sie höchstens die Erb8970 schleicher wären. Denn Sie sind doch nichts anderes als eine grünlackierte Linkspartei mit bürgerlicher Maske. Die Kraft der Freiheit hat 150 Jahre Tradition. Die Kraft der Freiheit wird diese Krise ebenso überstehen, wie sie jede Krise zuvor überstanden hat. ({3}) - Sie können hier ja noch nervöser werden. ({4}) Ich fand es zum Beispiel total peinlich, was Herr Gabriel gemacht hat. Herr Gabriel hat am letzten Donnerstag während der Weltklimakonferenz ein Interview gegeben, in dem er erklärte: Dabei wird nichts rauskommen. Im Übrigen ist die EU schuld, und deswegen sowieso die Bundesregierung. - Das hat es noch nie gegeben, dass ein Parteivorsitzender einer deutschen, im Parlament vertretenen Partei der Bundesregierung derart in den Rücken fällt, und das, während die Bundesregierung in Cancún um ein Ergebnis für den Klimaschutz ringt. Das ist stillos, gerade für den Amtsvorgänger von Herrn Röttgen. Das ist peinlich, ({5}) und es zeigt: Der Opposition geht es nicht um das Klima. Ihnen geht es nur darum, Ihr innenpolitisches Süppchen zu kochen. ({6}) Das ist so etwas von schäbig. Es nützt nichts, aber es schadet den deutschen Interessen. ({7}) Deutschland wird Vorreiter im Klimaschutz sein. Der Bundesaußenminister hat das für die Bundesregierung sehr deutlich gemacht. Die beschlossenen CO2-Minderungsziele - 40 Prozent bis 2020, 80 bis 95 Prozent bis 2050, national und einseitig - sind ein Signal der Glaubwürdigkeit Deutschlands insbesondere gegenüber den Schwellen- und Entwicklungsländern. Die anderen europäischen Staaten sind gefordert, ein vergleichbares Signal zu geben. Deshalb muss die EU ihr Ziel der Verringerung der CO2-Emissionen um 20 Prozent vor der UNKlimakonferenz 2011 anheben. Dies erfordert auch, die Einigung von Cancún anzuerkennen, dass die Industriestaaten eine Minderung der CO2-Emissionen um 25 bis 40 Prozent erreichen sollen. ({8}) Bliebe es beim 20-Prozent-Ziel der EU und beim 40-Prozent-Ziel Deutschlands, so müssten in Deutschland vorrangig die Sektoren, die nicht vom Emissionshandel erfasst werden, die Emissionseinsparungen erbringen; dadurch hätten vor allem die Verbraucher die Kosten zu zahlen, weil der Emissionshandel europäisch organisiert ist. Wir sagen: Wir brauchen eine Balance der Anstrengungen von Wirtschaft und privaten Haushalten. Dabei müssen Produktionsverlagerungen in energieintensiven Branchen vermieden werden. Wir müssen hier die Balance finden. Deswegen werden wir uns dafür einsetzen, dass sich die Europäische Union hier bewegt. ({9}) Wir müssen nicht nur über die großen Linien streiten: Werden die Emissionsminderungsziele der Industrieländer erhöht? Welche Beiträge werden vonseiten der Schwellen- und Entwicklungsländer geleistet? Wir müssen auch einige Detailverhandlungen zu Aspekten führen, die zunächst einmal sehr technisch wirken, aber große Auswirkungen darauf haben werden, wie effektiv der Klimaschutz sein wird. Das betrifft insbesondere die Reform des sogenannten Clean-Development-Mechanismus, also die Frage, inwiefern deutsche Unternehmen, die ihre Auslandsprojekte umweltverträglich ausgestalten, ihren dort erzielten Beitrag zur Senkung der CO2Emissionen auf die entsprechenden Verpflichtungen im Inland anrechnen können. Die FDP - das sage ich sehr deutlich - will diesen Mechanismus; sie will, dass er stärker genutzt wird, dass er gerade in den Ländern, für die er eigentlich gedacht ist - beispielsweise in den afrikanischen Staaten -, tatsächlich handhabbar und unbürokratischer wird. Auf der anderen Seite verlangen wir, dass es nicht zum Ökodumping kommt. Deshalb sage ich an dieser Stelle sehr klar: Wir müssen bei der Frage der Unabhängigkeit derjenigen, die diese Projekte überprüfen, nachverhandeln. Wir müssen mehr Rechtsstaatlichkeit in die Verfahren bringen, sodass sich Unternehmen gegen Entscheidungen der Verwaltung wehren können. Ich sage auch ganz eindeutig: Das Dumping mit Industriegasen wie HFC-23 muss ein Ende finden, wenn nicht im UNProzess, dann auf europäischer Ebene. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kauch, Sigmar Gabriel hat als Umweltminister für eine Politik gestanden, erneuerbaren Energien in Deutschland und weltweit zum Durchbruch zu verhelfen. Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht so aufblasen, wenn Sie hier als Vertreter der FDP sprechen, einer Partei, die im Augenblick nicht nur in Deutschland ins Steinzeitalter der Atomkraft zurückkehrt, sondern die Atomkraft auch in Entwicklungs- und Schwellenländern mit Hermesbürgschaften befördern will. Ich wäre froh, wenn die Bundesregierung und Sie als Vertreter einer maßgeblichen Koalitionsfraktion zur vernünftigen Umweltpolitik Sigmar Gabriels zurückkehren und nicht mit Anschuldigungen um sich werfen würden, die der Sache wirklich nicht dienen. ({0}) Die Auswirkungen des Klimawandels auf Entwicklungsländer sind dramatisch. Drei Viertel der ärmsten Menschen leben im ländlichen Raum und sind dringend darauf angewiesen, dass sie für die Bewässerung ihrer Felder genug Regenwasser oder Schmelzwasser von den Gletschern zur Verfügung haben. Bereits jetzt nehmen in Afrika die Dürren zu; Ernteerträge sinken, Menschen verhungern. Hinzu kommt die Abschmelzung von Gletschern in Hochgebirgen wie dem Himalaya oder den Anden. Das kann in Ländern wie Indien dazu führen, dass dort die Reisversorgung in Zukunft ernsthaft gefährdet wird. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass in Cancún die Schaffung eines Fonds für Anpassungsmaßnahmen in Entwicklungsländern in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar beschlossen wurde. Die ärmsten Menschen dieser Welt haben - ich weiß das, weil ich schon seit 2002 in diesem Haus Entwicklungspolitik betreibe - auf internationalen Konferenzen aber schon ganz oft Versprechen erhalten. Im Jahr 2000, auf der Millenniumskonferenz, haben sie gehört, dass bis zum Jahr 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens der Industriestaaten für die Armutsbekämpfung zur Verfügung gestellt werden sollen; im Jahr 2010 sollten es 0,51 Prozent sein. Auch die Bundesregierung hatte sich dazu verpflichtet. Frau Staatssekretärin Kopp, was ist passiert? Ihr Haus, Entwicklungsminister Niebel hat das Versprechen gebrochen. Wir haben 2010 die Marke gerissen. Wir sind nicht bei 0,51 Prozent angekommen, und Sie legen eine Finanzplanung bis 2014 vor, nach der die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit gekürzt werden. Deswegen können wir Ihnen nicht glauben, wenn Sie sagen, dass Sie das, was Sie jetzt in Cancún versprochen haben, halten werden. Sie haben leider immer wieder bewiesen, dass Sie internationale Versprechen brechen. Das müssen wir hier anprangern; denn den ärmsten Menschen in den Entwicklungsländern muss es gut gehen, und mit warmen Worten allein können wir das warme Wetter nicht bekämpfen. Es müssen endlich Taten folgen. ({1}) Am Dienstag war der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu Gast. Er hat ausdrücklich gesagt - ich zitiere -: Ich möchte keine neuen Versprechen von Deutschland zur Bekämpfung der Armut und des Klimawandels, sondern ich möchte die Einhaltung der bisher gegebenen Versprechen. - Frau Staatssekretärin Kopp, Sie sagen, dass zusätzliche Mittel für den Klimaschutz aufgebracht werden sollen, 80 Prozent davon beim BMZ. Da muss man sich schon fragen, wo Sie das Geld hernehmen möchten und wie Sie das mit den Entwicklungsgeldern verrechnen wollen. Wenn Sie alle Mittel, wie es jetzt der Fall ist, auf die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit anrechnen - im Fachchinesisch heißt das ODA-Quote -, dann bedeutet das, dass am Ende zwei Drittel der 0,7 Prozent, falls wir dieses Ziel überhaupt jemals erreichen, aus Ausgaben für Umwelt- und Klimaschutz bestehen und wir für die klassische Armutsbekämpfung nichts mehr übrig haben. ({2}) - In den Jahren, in denen wir an der Regierung waren, Herr Kollege Kauch, haben wir die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit - Stichwort: ODA-Quote von 0,26 Prozent auf faktisch 0,4 Prozent gesteigert. Wir hätten die Mittel weiter erhöht, aber das ist mit Ihnen nicht möglich gewesen. Die sogenannten innovativen Finanzierungsinstrumente, die jetzt auch international in der Diskussion sind, zum Beispiel die Flugticketabgabe, haben Sie zwar eingeführt, aber Sie nutzen sie zur Stopfung von Haushaltslöchern und eben nicht zur Stärkung des Bereichs Umwelt und Entwicklung. ({3}) Zu dem Instrument, bei dem die meisten Mittel zu holen sind - es geht um die Einführung der Finanztransaktionsteuer -, sagt ausgerechnet Ihr Entwicklungsminister Niebel bei uns im Ausschuss: Was interessiert mich, was die Kanzlerin sagt; auch wenn die Kanzlerin das mittlerweile will, bin ich dagegen. - Da frage ich: Wie will man glaubhaft machen, dass man das Versprechen, das in Cancún gegeben wurde, einhält, obwohl man die Mittel, die in Kopenhagen zugesagt wurden, nicht zur Verfügung gestellt hat, obwohl man Mittel in Höhe von 0,51 bzw. 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit nicht in den Haushalt eingestellt hat? Dazu sage ich nur: Es scheint so zu sein, dass wieder viel versprochen wird, am Ende aber leider wieder die ärmsten Menschen dieser Erde in die Röhre schauen werden. Sie gehen leer aus. Sie werden sich der Fluten, der Witterungsstürme und der Dürren nicht erwehren können. Deswegen werden wir weiter dafür kämpfen, dass den Versprechen auch Taten folgen. Leider ist diese Regierung auf einem ganz schlechten Weg. Wir werden alles dafür tun, dass das anders wird. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Andreas Jung von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will auf drei Fragen eingehen, die in dieser Debatte thematisiert wurden. Die erste Frage lautet: War dieser Gipfel in Cancún ein Erfolg? Zunächst einmal ist unstrittig, dass das, wofür wir als Bundesrepublik Deutschland stehen, dass das, was wir in der EU gemeinsam wollen, nämlich ein international verbindliches Abkommen als Antwort auf einen schneller voranschreitenden Klimawandel, auf diesem Gipfel nicht erreicht werden konnte. Das wussten wir alle schon während der Debatte hier vor dem Gipfel. Andererseits ist es aber so, dass das, was möglich war, dass das, was auf dem Gipfel greifbar war, am Ende auch tatsächlich erreicht wurde. Das Wichtigste hat die Kanzlerin gestern in ihrer Regierungserklärung unterstrichen. Es ist erstmals gelungen, das 2-Grad-Celsius-Ziel, also die Begrenzung der globalen Erwärmung auf höchstens 2 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau, in ein offizielles Dokument der Vereinten Nationen zu schreiben. Sie haben es selber gesagt: Dieses Ziel konnte 15 Jahre lang nicht erreicht werden. Jetzt, im 16. Jahr, ist es gelungen. Damit ist nach Ihrer eigenen Beschreibung ein Fortschritt erzielt worden, über den wir uns, bevor wir fragen, wie es gelingt, dies mit konkreten internationalen Maßnahmen zu unterlegen, zunächst einmal gemeinsam freuen können. ({0}) Darüber hinaus ist es gelungen - dies war in Kopenhagen angedacht worden -, einen Klimafonds einzurichten und die Verabredung zu treffen, dass ab 2020 100 Milliarden US-Dollar im Jahr in diesen Fonds fließen. Es gibt konkrete Verabredungen zur Anpassung, zur Technologiekooperation und zum Waldschutz. Dies sind ganz konkrete Ergebnisse und wichtige Schritte auf dem Weg zu einem völkerrechtlich verbindlichen Abkommen; dies ist unser Ziel. Ich finde, das ist ein gutes Ergebnis. Die Botschaft von Cancún heißt: Der internationale Klimaschutzprozess geht weiter. Die Weltgemeinschaft zerstreitet sich nicht und man verfolgt nicht nur egoistische nationalstaatliche Interessen, sondern - dies wird unterstrichen - wir sind bereit, die Herausforderung des Klimawandels gemeinsam anzugehen. Wir wollen gemeinsam zu einem Ziel kommen. Das ist das, was bei diesem Gipfel erreicht werden konnte. ({1}) Die zweite Frage ist: Wie konnte dieses Ergebnis, wie konnte dieser Erfolg erreicht werden? Es ist immer so: Ein Erfolg hat viele Väter. In diesem Fall sind es im Zweifel alle Staaten, die zu frühmorgendlicher Stunde, gegen 4 Uhr, in Cancún diesem Paket zugestimmt haben. Wir wissen: Es gibt auch eine Mutter. Das ist die mexikanische Außenministerin, die mit Herz, mit Hartnäckigkeit und einem Hammerschlag zum Abschluss die Weltgemeinschaft in diplomatisch vorbildlicher Manier zusammengeführt hat. Ich finde, es ist unstreitig, dass einer der Väter dieses Erfolges der deutsche Umweltminister, Dr. Norbert Röttgen - an der Spitze der deutschen Delegation -, ist. ({2}) Er hat für die Bundesregierung in seiner Plenumsrede in Cancún herausgehoben, dass wir Klimaschutz vor allem auch als wirtschaftliche Chance sehen und daraus Konsequenzen gezogen haben. Wir haben in unserem Energiekonzept verbindlich verankert - dies sind Taten, nicht Worte -, bis 2020 und nicht erst langfristig bis 2050 den Ausstoß von Treibhausgasen in Deutschland um 40 Prozent zu reduzieren, und zwar egal was andere machen. Damit wollen wir unsere Vorreiterrolle unterstreichen und zeigen: Wir gehen voran und warten nicht auf die anderen, die zögern oder möglicherweise noch bremsen. Das zeigt - das wurde uns in vielen Gesprächen in Cancún mit Delegationen aus aller Welt bestätigt -: Deutschland wird nach wie vor als Vorreiter wahrgenommen. Deutschland ist Vorreiter in diesem internationalen Klimaprozess. Ich glaube, wenn jemand dies anders wahrnimmt und von Mittelfeld spricht, wie es Sigmar Gabriel getan hat, dann ist das nur so zu erklären, dass man so weit im Abseits steht, dass man nicht mehr richtig mitbekommt, was vorne passiert. ({3}) Hier gilt es anzuknüpfen. Deshalb ist die dritte Frage: Was passiert jetzt nach Cancún? Ich glaube, wir haben mit diesen Schritten von Cancún die Grundlage für eine neue Dynamik und eine Aufwärtsspirale in diesem internationalen Prozess geschaffen. Darauf müssen wir aufbauen. Deshalb bin ich der Meinung, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, an dem sich die Bundesregierung in der Europäischen Union klar dafür einsetzen sollte, das Reduktionsziel von 20 auf 30 Prozent zu erhöhen. ({4}) Damit leisten wir unseren Beitrag - nicht nur als Deutschland, sondern auch als Europäische Union -, um Vorreiter in diesem Prozess zu sein. Im Übrigen ist das auch im deutschen Interesse. Wenn wir bei unserem unbedingten 40-Prozent-Ziel bleiben, die Europäische Union aber bei dem bedingten 30-Prozent-Ziel bleibt, wäre das Ergebnis, dass „scharfe“ Klimaziele in der Bundesrepublik „weichen“ Vereinbarungen in der Europäischen Union gegenüberstehen. Wir wollen, dass für Deutschland und für die Europäische Union anspruchsvolle, verbindliche und ehrgeizige Klimaziele vereinbart werden und wir mit diesem Rückenwind gemeinsam nach Durban fahren. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Marina Schuster von der FDP-Fraktion. ({0})

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines sollte jedem, spätestens seit Kopenhagen, klar geworden sein: Internationale Klimapolitik ist längst nicht mehr nur Umweltpolitik. Seit der Konferenz von Rio 1992 ist dieses Politikfeld vom Rande in den Mittelpunkt der internationalen Diplomatie gerückt. Auch das Auswärtige Amt hat daran seinen Anteil, gerade wenn es um die Vorbereitung von Verhandlungspositionen geht, aber auch im Hinblick auf die Energieaußenpolitik. Verträge wie das Kioto-Protokoll haben weitreichende Veränderungen zur Folge, für Gesellschaften und für Ökonomien. Dabei geht es schon lange nicht mehr nur um die Verminderung von Treibhausgasen. Vielmehr ist damit auch ein umfassender globaler Interessenausgleich verbunden. Diese Frage muss mit der Handelsund Sicherheitspolitik verknüpft werden. Es ist wichtig, dass wir dabei ressortübergreifend arbeiten. ({0}) Das Ergebnis von Cancún ist nicht nur aus deutscher und europäischer Sicht erfreulich, sondern es ist auch für die Länder Afrikas eine gute Nachricht. Manche Kollegen haben schon die Erfahrungen, die sie auf Reisen nach Afrika gemacht haben, geschildert. Wir wissen zum Beispiel, dass das südliche Afrika mit der weltweit zweitgrößten Erwärmung konfrontiert sein wird. Man kann die Folgen schon heute beobachten. Ich selbst habe die Veränderungen der Biodiversität bei einer Reise nach Südafrika, in die Kapregion, festgestellt. Insofern ist es wirklich wichtig, dass wir in Cancún zu diesem Ergebnis gekommen sind. ({1}) Der Klimawandel wird weitere Auswirkungen haben, nicht nur auf die Regenzeiten. Es wird eine Zunahme von Dürren geben, und es wird zu Ernteausfällen kommen. Das Problem der Wüstenbildung haben wir schon in mehreren parlamentarischen Initiativen, auch in der letzten Wahlperiode, deutlich gemacht. Hinzu kommen Fehler in der Landwirtschaft, Monokulturen, Überweidung und Abholzung. Das alles sind Probleme, die dazu führen, dass Agrarflächen zu Wüsten werden. Weitere Probleme sind die Wasserknappheit und der fehlende Zugang zu sauberem Trinkwasser; wir haben uns im Menschenrechtsausschuss schon über diese Themen unterhalten. Nach wie vor sterben viel zu viele Kinder an den Folgen von unsauberem Trinkwasser. Hier geht es um die existenziellen Fragen der Ernährungssicherheit. Deswegen war es richtig und wichtig, im Koalitionsvertrag zu verankern, dass die ländliche Entwicklung und der Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutz die Schlüsselsektoren unserer Entwicklungszusammenarbeit sind. Herr Kollege Raabe, ich füge hinzu: Das ist auch ein Beitrag zur Armutsbekämpfung. Ich verstehe nicht, warum Sie sich in jeder Ihrer Plenarreden über Quoten aufregen. ({2}) Als wir den Haushalt des BMZ von Ihnen übernommen haben, betrug die ODA-Quote 0,36 Prozent, also weniger als 0,4 Prozent des Bruttonationaleinkommens. Dennoch machen Sie hier jedes Mal auf dicke Hose und behaupten, wir würden unsere Versprechen nicht einhalten. ({3}) Unsere Politik ist konkret und transparent. Mit Erlaubnis des Präsidenten zeige ich Ihnen ein Dokument - ich kann es Ihnen nachher gerne überreichen -, in dem zusammengestellt ist, wo sich die einzelnen Maßnahmen wiederfinden. ({4}) Das sollte auch die Opposition anerkennen; ({5}) sie sollte sich freuen, dass dieses Ergebnis erzielt worden ist. ({6}) Lassen Sie mich noch einen Punkt erwähnen, der auch bei unseren Reisen nach Afrika immer wieder thematisiert wird. Die Abgeordneten, die wir dort treffen, fordern uns immer wieder auf: Schickt uns eure Unternehmer, die im Bereich erneuerbarer Energien tätig sind! In Afrika gibt es ein unglaublich großes Potenzial für erneuerbare Energien. Auf diesem Gebiet können wir wirklich einen großen Beitrag leisten, auch zur dezentralen Stromversorgung. Im Bereich der Windenergie sind ebenfalls Potenziale zu heben. Deswegen ist es wichtig, dass wir ressortübergreifend arbeiten. Es geht hierbei auch um einen Wissenstransfer, um einen Know-how-Transfer. Wir müssen bei der Ausbildung von Ingenieuren, Facharbeitern und Technikern aktiv sein. Wir müssen den Menschen das notwendige Know-how zur Verfügung stellen, damit erneuerbare Energien auch in Afrika zunehmend zum Einsatz kommen. Der Bedarf an Energie wird weltweit steigen, gerade in Afrika. Erfreulicherweise verzeichnen viele Länder Afrikas ein Wirtschaftswachstum. Es ist wichtig, dass wir diesen Ländern im Rahmen des Technologietransfers zur Seite stehen. Das BMZ führt zu diesem Zweck sehr gute Projekte durch, die wir nur unterstützen können. ({7}) Von Cancún geht ein wichtiges Signal aus: Die Phase der Stagnation und der gegenseitigen Schuldzuweisungen muss jetzt vorbei sein. Wir müssen den neuen Schwung nutzen, um weltweit verbindliche Vereinbarungen zu treffen. Wir müssen auf diesem Weg voranschreiten. Deutschland und die EU sind dabei Vorreiter. Besonders wichtig ist, dass wir auch den Entwicklungsund den Schwellenländern partnerschaftlich begegnen. An dieser Stelle setze ich auf unser ressortübergreifendes Konzept. Diesen Weg werden wir weiterhin unterstützen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Josef Göppel von der CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Schwung von Cancún hat bereits zu einem weiteren erfreulichen Ergebnis geführt: Gestern hat das Europäische Parlament mit großer Mehrheit beschlossen, dass das CO2-Einsparungsziel von 20 Prozent bis 2020 verbindlich werden soll - das war es bisher nicht -, und die Kommission aufgefordert, einen Richtlinienentwurf dazu vorzulegen. Das zeigt, dass es jetzt in allen Ländern wieder das Bewusstsein gibt, dass wir mehr zum Schutz der Erde tun müssen, und wir können auch mehr tun. Folgende Beobachtung habe ich bei meiner Teilnahme an der Konferenz von Cancún gemacht: Es gibt eine Reihe konkreter Projekte zwischen Entwicklungsländern und Industrieländern, aus denen ein Bewusstsein dafür erwachsen ist, dass wir den Klimawandel bewältigen und mehr Klimaschutz realisieren können. Aus den konkreten Projekten entsteht dann auch die Bereitschaft, in den Verhandlungen weitere Schritte zu gehen und zuzusagen. Das hat sich insbesondere beim Waldschutz gezeigt, auf den ich schwerpunktmäßig eingehen möchte. Der sogenannte REDD-Mechanismus - das Programm zur Unterstützung von Entwicklungsländern bei der Walderhaltung - wurde in Abs. 70 der Vereinbarung von Cancún festgeschrieben. Es heißt dort, dass Maßnahmen zum Waldschutz gefördert und unterstützt werden. Zusammen mit dem Kollegen Andreas Jung habe ich mir einen Tag lang auf Yucatán einen Wald der Maya angesehen und bin dabei auf Folgendes besonders hingewiesen worden: In diesen Wäldern leben Menschen, wenn auch nur wenige. Es geht darum, die Waldschutzmaßnahmen so anzulegen, dass die Menschen in den ländlichen Räumen bleiben und mit modernen Methoden eine nachhaltige Wirtschaft weiterführen. ({0}) Es geht darum, dass auch junge Leute in den ländlichen Gebieten der Entwicklungsländer für sich und ihre Familien eine Zukunft sehen. Die Maya nutzen ihre Wälder beispielsweise, indem sie immer wieder einen einzelnen Baum heraussuchen und daraus wertvolle Möbelstücke machen. Mithilfe der mexikanischen Regierung ist es der Dorfgemeinschaft, die ich besucht habe, möglich geworden, eine neue Seilwinde anzuschaffen, sodass die Bäume nicht mehr stückweise auf den Schultern aus dem Wald herausgetragen werden müssen, sondern mit der Seilwinde herausgezogen werden können. Das alles erinnert mich sehr an die ländliche Entwicklung in der Europäischen Union. Was machen wir in den Programmen zur ländlichen Entwicklung in der EU? Wir fördern kleinteilige Investitionen, soziale Einrichtungen in den Dorfgemeinschaften und Einrichtungen zur Wertschöpfung im ländlichen Raum. Ganz ähnlich wurde bei den Maya in Yucatán zum Beispiel eine Schreinerei gefördert, in der die Produkte des eigenen Waldes weiterverarbeitet werden. Den jungen Leuten wird damit eine Perspektive gegeben. Man muss die Dinge nicht neu erfinden. Ich habe gespürt, dass wir mit den Maßnahmen zur ländlichen Entwicklung in der Europäischen Union einen Instrumentenkasten haben, der beim Waldschutz sehr brauchbar ist. Die Prämisse muss dabei immer sein, dass die Menschen, die in den ländlichen Räumen leben, ihre traditionelle Wirtschaft mit modernen Mitteln weiterführen können und auf diese Weise die nachhaltige Entwicklung ermöglichen, die wir uns auch aus ökologischen Gründen wünschen. ({1}) Der Waldschutz ist dafür ein sehr schönes Beispiel. Ich möchte mich abschließend der Aussage meiner Kollegen Andreas Jung und Thomas Gebhart anschließen, die hier bereits deutlich gemacht haben: Wir wollen, dass sich die Europäische Union jetzt auf 30 Prozent festlegt, ({2}) weil nur mit dieser Festlegung ein Fortschritt in Durban erreicht werden kann. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat der Kollege Christian Hirte von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Christian Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003890, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Über den Erfolg von Cancún ist im Vorfeld und auch während der Konferenz - wir haben das heute in der Debatte schon gehört - vielfach spekuliert worden. Ich glaube, bei allen Differenzen im Einzelnen sind wir uns insgesamt doch insoweit einig, dass das Ergebnis sehr viel besser als das ist, was ursprünglich erwartet wurde. Wenn man sich anschaut, wer für dieses Ergebnis und auch für den Erfolg verantwortlich ist, dann stellt man fest - das ist auch schon klar gesagt worden -: Zum einen tragen dafür natürlich die Mexikaner und insbesondere deren Außenministerin Espinosa die Verantwortung, zum anderen gilt dies aber natürlich auch für die deutsche Delegation - ich habe mich gefreut, dass der Kollege Miersch das so deutlich gesagt hat -, die in ihren jeweiligen Panels und Verhandlungsrunden mit dazu beigetragen hat. ({0}) - Es war nicht der Kollege Miersch, sondern der Kollege Schwabe. Entschuldigung! Einigen Rednern scheint dieses Lob nicht ganz gefallen zu haben. Den Grünen passt es offensichtlich nicht ganz in ihr politisches Kalkül, ({1}) wenn die deutsche Delegation unter Führung eines CDU-Bundesumweltministers nach Hause kommt und ein positives Ergebnis verkünden kann. ({2}) - Die Grünen freuen sich immer, wenn sie bei positiven Ergebnissen am Ende noch einen Wermutstropfen finden. Das entspricht auch der allgemeinen Stimmungslage und dem Stimmungsbild, das die Grünen in der politischen Debatte permanent vermitteln. ({3}) Ich will jetzt gar nicht ins Einzelne gehen und sagen, an welchen Stellen, bei welchen Dingen und auch bei welchen Personen Sie immer dagegen sind. ({4}) - Nein. Ich will jetzt nicht auf Stuttgart 21 und auf Energiewege in Deutschland eingehen, sondern auf unser Thema zurückkommen. ({5}) - Sie sagen, Sie seien für den Ausbau erneuerbarer Energien, aber Sie sind gegen den Ausbau der Energiewege in Deutschland. ({6}) Diese permanente Oppositionspolitik nimmt Ihnen am Ende keiner ab. Die Wähler werden das merken - nicht nur in Berlin, sondern mit Sicherheit auch in BadenWürttemberg. ({7}) Meine Damen und Herren, der Erfolg von Cancún, aber auch die daraus folgenden weiteren Handlungsnotwendigkeiten sind schon hinreichend dargestellt worden. Die grundsätzliche Frage, die man aus Cancún mit nach Hause nehmen kann, muss aber sein: Ist ein bindender Klimavertrag unter dem Dach der UN das, was man anstreben muss, oder geht es vielmehr darum, mit wenigen Staaten Verträge zu schließen, energiepolitisch vielleicht sogar nationale Alleinwege zu gehen oder sich in regionalen Gemeinschaften zusammenzuschließen? Ich bin der Meinung, dass es sich beim Klimaschutz um ein globales Problem handelt, das natürlich auch einer globalen Lösung bedarf. ({8}) Das eine anzustreben, nämlich die globale Lösung, heißt aber nicht notwendigerweise, dass man das andere sein lässt, nämlich auch zu Hause, auf nationaler Ebene, das Mögliche anzustreben. Deutschland - darauf ist schon hingewiesen worden nimmt seine Rolle als Vorreiter nicht nur in Europa, sondern auch weltweit wahr. Daher möchte ich den Bundesumweltminister und seine Forderung, das 30-ProzentZiel in Europa zu erreichen, ausdrücklich unterstützen. ({9}) Wir sind in Deutschland aufgefordert, selbst und auch unkonditioniert mit gutem Beispiel voranzugehen. Das tun wir auch, etwa mit unserem Energiekonzept, mit dem wir die Rahmenbedingungen für die Transformation in ein Zeitalter der erneuerbaren Energien festgelegt haben. Wir werden Treibhausgasersparnisse von etwa 40 Prozent bis 2020 und 80 bis 95 Prozent bis 2050 erreichen. Ab dem kommenden Jahr werden wir mit dem Sonderfonds, der im Zusammenhang mit dem Energiekonzept eingerichtet wird, auch einen Beitrag zur Förderung umweltschonender, zuverlässiger und bezahlbarer Energie leisten. Damit leisten wir natürlich auch einen Beitrag für den weltweiten Klimaschutz. Aber wir sind natürlich nicht nur in Deutschland aufgerufen, sondern auch in Europa; das habe ich gerade ausgeführt. Ebenso geht es darum, zu erreichen, dass es weltweit weitere Verbesserungen gibt, insbesondere in Abstimmung mit den stark wachsenden Schwellenländern. Der Bundesumweltminister hat schon darauf hingewiesen, dass es in diesem Bereich durchaus auch große Chancen für uns in Deutschland gibt. Wir in Deutschland haben die Technologien und die Ressourcen und können die deutschen Klimatechnologien in die Schwellenländer exportieren. Davon können der weltweite Klimaschutz, aber auch unsere deutsche Wirtschaft und am Ende natürlich auch unsere Arbeitnehmer profitieren. Daher sind Technologiekooperation und Technologieexport unabdingbar. Kollege Gebhart hat dies vorhin schon einmal kurz erwähnt. Die Weltgemeinschaft und Deutschland haben es in der Hand. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir dazu unseren Beitrag leisten werden, aktuell in unserer nationalen Politik, aber auch bei der nächsten Runde in Durban. Wir werden zu unserer Verantwortung stehen, und Deutschland wird weiterhin seinen Beitrag leisten. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 2009 ({1}) - Drucksachen 17/900, 17/3738 Berichterstattung: Abgeordnete Anita Schäfer ({2}) Lars Klingbeil Paul Schäfer ({3}) Omid Nouripour Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die an dieser Aussprache nicht teilnehmen wollen, den Plenarsaal zu verlassen, damit die anderen ungestört mitarbeiten können. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus. ({4}) Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete! Das ist sozusagen meine Jungfernrede hier, jedenfalls in der Funktion als Wehrbeauftragter. Es handelt sich um den Bericht des Jahres 2009, den mein Vorgänger Reinhold Robbe erarbeitet hat. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, ihm für seine Arbeit, für diesen Bericht und auch für das herzlich zu danken, was er in den Jahren davor getan hat. ({5}) Meines Erachtens hat er ein Fundament gelegt, auf dem ich aufbauen kann. Natürlich möchte ich die Gelegenheit auch nutzen, den Mitarbeitern bei mir im Amt zu danken. Das ist ein tolles Team; sie haben eine hervorragende Arbeit geleistet. Sie haben viel zu tun, und ich freue mich, dass sie das auch weiterhin tun werden. ({6}) Mein Dank gilt auch den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, die die Hinweise aus diesem Bericht und auch den vorherigen Berichten des Wehrbeauftragten stets aufgenommen und verarbeitet haben. Sie werden verstehen, dass ich auch einen herzlichen Gruß an die Soldatinnen und Soldaten richte, die mit ihren oftmals aufopferungsvollen Einsätzen schwer gefordert sind. Auch sie sollen heute in den Dank eingeschlossen sein, genauso wie die Mitarbeiter im Ministerium und in den Stäben, ({7}) die die manchmal, wie man hört, nervigen und nervenden Anmerkungen des Wehrbeauftragten aufzunehmen hatten. Meine Damen und Herren, wir stehen heute vor historischen Umbrüchen in der Verteidigungspolitik: Aussetzung der Wehrpflicht, drastische Verkleinerung der Streitkräfte, struktureller Umbau der Streitkräfte. Vor diesem Hintergrund muss man sich als Außenstehender fragen, ob der Jahresbericht 2009 noch relevant ist. Augenscheinlich ja, glaube ich; das kann man so sagen. Denn viele der Probleme, die in diesem Bericht aufgeführt sind und die wir heute erörtern, sind schon im Vorjahresbericht - manche sogar über mehrere Jahresberichte hinweg - angesprochen worden. Das zeigt: In vielen Bereichen ist ein langer Atem erforderlich. Es zeigt aber auch, dass es innerhalb der bürokratischen Strukturen im Ministerium, aber auch im militärischen Apparat manchmal an einer konstruktiven Fehlerkultur und an der Bereitschaft fehlt, Probleme konstruktiv aufzugreifen und zu bearbeiten, statt sich darauf zu beschränken, vergangenes Handeln oder auch Unterlassen zu rechtfertigen. Diesen Punkt hat auch die Strukturkommission erkannt und angesprochen. Ich bin sehr froh, dass wir in diesem Bereich vorankommen werden. Der Vorsitzende der Kommission, Dr. Weise, hat dazu einmal gesagt, die Verantwortung diffundiere. Das wird auch in dem Bericht manchmal Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus deutlich, wenn man nach den Ursachen fragt. Das wird sicherlich durch die neuen Strukturen, die gerade vorbereitet werden, besser. Das ist auch dringend nötig. ({8}) Die Sicherheitslage in Afghanistan beispielsweise hat sich in einigen Bereichen, insbesondere rund um Kunduz, seit einigen Jahren kontinuierlich verschlechtert. Das gilt auch für den Berichtszeitraum und ging, wie gesagt, im laufenden Jahr so weiter. Dennoch haben wir feststellen müssen, dass sich Ausrüstung und Ausbildung noch immer nicht in einem vernünftigen Zustand befinden. Sie werden der Situation nicht gerecht. Es fehlt insbesondere nach wie vor an einer ausreichenden Zahl geeigneter geschützter Fahrzeuge. Geschützte Fahrzeuge gibt es; das ist richtig. Es fehlt aber an geeigneten geschützten Fahrzeugen für spezielle Zwecke. Es fehlt oftmals nach wie vor an der persönlichen Ausstattung. Noch immer klagen viele Soldatinnen und Soldaten darüber, dass sie aus eigenen Mitteln erhebliche Aufwendungen leisten, bevor sie in den Einsatz gehen, um ihren Wünschen entsprechend ausgerüstet zu sein. Für all dies gibt es Erklärungen: Lieferschwierigkeiten der Industrie, langwierige Tauglichkeitsprüfungen und technische Probleme bei der Zertifizierung. Aber bei genauer Betrachtung sind diese Gründe - das kann man, glaube ich, sagen - nicht immer stichhaltig. Was beispielsweise das Route Clearance Package - also die Möglichkeit, aus geschützten Fahrzeugen heraus Sprengsätze zu erkennen und zu beseitigen - angeht, wird immer wieder auf die langen Lieferfristen hingewiesen, wenn es darum geht, am Markt erhältliche Systeme zu erwerben. Das stimmt zwar - davon habe ich mich überzeugt -, aber wenn die Bestellung etwas früher erfolgt wäre, wären die Lieferfristen inzwischen abgelaufen und die Fahrzeuge schon da. Das heißt, man hätte die Dringlichkeit früher erkennen müssen. Auch für fehlende Fahrzeuge gilt: Die Industrie kann nur dann rechtzeitig liefern, wenn sie rechtzeitig bestellt werden. Sie werden nur auf Bestellung produziert. Es sind keine Produkte, die im Supermarkt um die Ecke erworben werden können. Es gibt aber auch Gutes zu berichten. Der Minister hat in einigen Bereichen entscheidende Verbesserungen entweder eingeleitet oder vorbereitet. Ich möchte hierbei insbesondere rühmlich hervorheben, dass er die Arbeitsgruppe ESB - ESB steht für „Einsatzbedingter Sofortbedarf“ - eingesetzt hat, die sich um die genannten Defizite kümmert. Sie kümmert sich insbesondere darum, wie weit man im Rahmen des einsatzbedingten Sofortbedarfs schnellstmöglich Abhilfe schaffen kann. Die Fortschritte sind unübersehbar, im Übrigen auch bei der Bewaffnung. Zum Beispiel sind jetzt Panzerhaubitzen in Afghanistan, um den Soldaten dort etwas mehr Rückhalt zu geben. Wir haben wesentlich mehr Schützenpanzer im Einsatz. Wir haben die TOW-Rakete im Einsatz und inzwischen auch Hubschrauber in ausreichender Zahl; leider sind es nicht unsere eigenen, sondern amerikanische. Ich glaube, dieser Verbund gleicht das früher vorhandene Defizit gut aus. ({9}) Wir müssen allerdings nach wie vor die Situation im Sanitätsdienst beklagen. Wir müssen leider bis heute feststellen - auch das ergibt sich aus der Stellungnahme, die Ihnen vorliegt -: Das Fehlen von Ärzten und medizinischem Personal und die hohe Dienst- und Einsatzbelastung bestehen fort. In der truppenärztlichen Versorgung haben wir zum Teil Tagesantrittsstärken von 40 Prozent. In einigen Bereichen bin ich darauf gestoßen, dass nur 20 Prozent ihren Dienst angetreten haben, und in einem Fall stand sogar überhaupt kein Truppenarzt zur Verfügung, übrigens auch kein ziviler Arzt, der dort als Vertragsarzt gearbeitet hätte. Dies hat mit dem generellen Personalmangel zu tun, und das gilt natürlich auch für die hohe PTBS-Belastung des Sanitätsdienstes, über die schon vielfach gesprochen wurde. Auf diese Belastung ist der Sanitätsdienst ebenfalls nicht ausgerichtet. Auch hier muss man anerkennend sagen, dass das Ministerium gegenzusteuern versucht. Es gibt für das medizinische Personal Leistungszulagen, und es gibt für die Ärzte Facharztzusagen und auch eine Höherbewertung einzelner Facharztdienstposten. Trotzdem ist noch kein Durchbruch zu erkennen. Man weiß natürlich nicht, ob hier eine Überkompensation bei anderen, belastenden Faktoren erfolgt oder ob es sich in der Öffentlichkeit und in den betreffenden Kreisen noch nicht herumgesprochen hat, welche Möglichkeiten es hier inzwischen gibt. Wir müssen daher die Attraktivität gerade in diesem Bereich weiter steigern. Aber gerade wenn wir das Thema PTBS ansprechen, das im Zentrum dieses Berichts steht, dann muss man sagen, dass es auch in der Regelversorgung und im zivilen Bereich an Fachkräften fehlt. Man kann diese Kräfte nicht einfach irgendwo abwerben. Vielmehr muss man gezielt dafür sorgen, dass neues Personal dafür ausgebildet und herangezogen wird. ({10}) Nach wie vor fehlt es an hinreichenden Maßnahmen, die Vereinbarkeit von Familie und Dienst zu verbessern. Ich habe zwar gehört, was in Dresden gesagt wurde, dass nämlich in diesem Bereich einiges passieren soll; aber es fehlt nach wie vor an einer ausreichenden Anzahl an Pendlerwohnungen für die vielen Soldaten - es sind bis zu 70 Prozent der Truppe -, die regelmäßig zwischen ihrem Wohnort und dem Dienstort hin- und herfahren müssen. Nach wie vor fehlt es an Kinderbetreuungseinrichtungen und an Maßnahmen zur Bekämpfung der häufigen Versetzungsnotwendigkeit und der häufigen Abwesenheit durch Lehrgänge. Dies wird natürlich weiterhin ein Schwerpunkt der Arbeit des Wehrbeauftragten sein. Ein weiterer Schwerpunkt bleibt das hier bereits genannte Problem der Kommunikation mit der Heimat, und zwar nicht nur aus den Einsatzgebieten, sondern auch von den Schiffen. Auch dort habe ich den Ein8978 Wehrbeauftragter Hellmut Königshaus druck, dass die Dringlichkeit dieses Problems nicht in allen Bereichen der militärischen und politischen Organisation erkannt ist. Hier muss etwas getan werden. Die Ausschreibung, die gerade durchgeführt worden ist und über die demnächst entschieden werden wird, wird dieses Problem nicht so lösen, wie ich es mir wünsche. Bei der Kommunikation aus den Einsatzgebieten und von den Schiffen nach Hause geht es nicht einfach ganz allgemein um Fürsorge, sondern darum, dass die Soldatinnen und Soldaten die Möglichkeit erhalten, ihre Grundrechte wahrzunehmen, sich aus allen zugänglichen Quellen frei zu informieren und - jetzt geht es um Art. 6 des Grundgesetzes - mit ihren Familien Kontakt zu halten. ({11}) Dies geht nur mit verbesserten Angeboten. Um das zu ändern, wird noch viel zu tun sein. Das habe ich dem Ministerium schon angekündigt. Zum Ende meiner Rede nutze ich die Gelegenheit, die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und ihre Angehörigen zu Hause zu grüßen und ihnen, aber auch den Mitgliedern dieses Hohen Hauses frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr zu wünschen. Herzlichen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Anita Schäfer hat für die CDU/CSUFraktion das Wort. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, gerade gestern hat das Bundeskabinett der Reform der Bundeswehr zugestimmt. Damit werden Sie, Herr Wehrbeauftragter, in Ihrer Amtszeit die Truppe während des größten Umbruchs seit ihrer Gründung begleiten. Die geplante Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Juli nächsten Jahres ist eine einschneidende Veränderung. Sicherlich werden Sie sich in den nächsten Jahren nicht zuletzt mit den Auswirkungen zu befassen haben, die die Reform auf einzelne Soldatinnen und Soldaten haben wird. Wir hoffen natürlich, dass alles möglichst reibungslos verläuft. Dabei werden wir den Minister und seine Mitarbeiter nach allen Kräften unterstützen. Aber bei Umstellungen dieses Ausmaßes werden sich Probleme im Einzelfall nicht vermeiden lassen. Dabei will ich eines hier in aller Deutlichkeit sagen: Durch die Umstellung auf eine Freiwilligenarmee wird das Amt des Wehrbeauftragten keinesfalls überflüssig. Wie der Jahresbericht 2009 wieder aufführt, kommt bereits jetzt die größte Zahl der Eingaben aus dem Bereich der Soldaten auf Zeit und aus der Dienstgradgruppe der Unteroffiziere mit Portepee. In der Wehrpflichtdiskussion der vergangenen Jahre scheint mir manchmal in den Hintergrund geraten zu sein, dass es sich dabei ebenso um Staatsbürger in Uniform handelt wie bei den Grundwehrdienstleistenden. Sie haben ja nicht geringere Rechte, weil sie sich freiwillig zu diesem oft gefährlichen Dienst für unser aller Sicherheit gemeldet haben. Dass die Bundeswehr untrennbar Teil unserer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft ist, wird sich auch durch den Übergang zu einer Freiwilligenarmee nicht ändern. Das Konzept der Inneren Führung ist und bleibt ein Markenzeichen der Bundeswehr. Gerade der Bereich der politischen Bildung wird in Zukunft eher noch wichtiger. Stärker denn je gilt es zu vermitteln, dass die Streitkräfte kein Fremdkörper und die Soldaten Bürger dieser Gesellschaft sind, besonders wenn ihre Zahl sinkt und der Dienst auf Freiwilligkeit beruht. Übrigens gilt es, das nicht nur innerhalb der Truppe, sondern in der ganzen Gesellschaft zu vermitteln. Da haben wir alle noch eine Menge nachzuholen. In jedem Fall bleibt der Wehrbeauftragte gerade für uns Abgeordnete im Verteidigungsausschuss ein wesentliches Kontrollorgan im Hinblick auf den Zustand der Truppe; er bleibt sozusagen unser aller Frühwarnsystem. Dafür wünsche ich Ihnen, Herr Wehrbeauftragter Königshaus, und Ihren Mitarbeitern im Namen der Unionsfraktion weiter viel Erfolg. Wir freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit mit Ihnen und Ihrem Hause. ({0}) Lieber Herr Königshaus, der heute debattierte Jahresbericht 2009 ist zwar noch unter der Ägide Ihres Amtsvorgängers entstanden, Sie haben aber bereits im Juni einen Zwischenbericht über die Entwicklung im ersten Halbjahr 2010 und erst kürzlich einen weiteren Bericht auf Grundlage Ihres Truppenbesuchs in Afghanistan sowie beim Fallschirmjägerbataillon 263 aus meinem Wahlkreis vorgelegt, das im Januar mit Masse in den Einsatz geht. Am Freitag vor drei Wochen habe ich am Verabschiedungsappell des Bataillons in Zweibrücken teilgenommen. Ich möchte den Soldaten an dieser Stelle nochmals viel Glück und eine vollzählige, gesunde Heimkehr wünschen. ({1}) Ich hoffe, sie mit allem Notwendigen versorgt vorzufinden, wenn ich sie im nächsten Halbjahr in Kunduz besuche. Im Einzelnen möchte ich vier Punkte herausgreifen. Erster Punkt. Am wichtigsten sind mir die Klagen über mangelnde Ausstattung mit Waffen und Munition. Hierzu hat das BMVg inzwischen klargestellt, dass dies beispielsweise beim Ausbildungs- und Schutzbataillon in Kunduz lediglich in der Phase des planmäßigen Aufwuchses der Fall war. Mittlerweile verfügt jeder Soldat über eine fest zugeordnete Handwaffe. Die Munitionsvorräte entsprechen den operativen Vorgaben. Auch der Anita Schäfer ({2}) beklagte Mangel an Munition für die Granatmaschinenwaffen ist umgehend behoben worden. Zweite Punkt: Problematisch sein könnte einmal mehr die Situation bei den geschützten Fahrzeugen sowohl für den Einsatz als auch für die einsatzvorbereitende Ausbildung. Es ist bekannt, dass wir uns hier in einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess befinden. Das Bundesministerium der Verteidigung hat kürzlich nochmals festgestellt, dass derzeit rund 1 000 Fahrzeuge im Einsatz sind und 160 für die einsatzvorbereitende Ausbildung zur Verfügung stehen. Für die kommenden beiden Jahre ist der Zulauf von 600 weiteren, vor allem von moderneren Typen geplant. Gerade gestern haben wir im Verteidigungs- und im Haushaltsausschuss der Beschaffung weiterer 195 Eagle IV zugestimmt, sodass ich davon ausgehe, dass diese Fahrzeuge im nächsten Jahr zeitgerecht nicht nur der Truppe in Afghanistan zulaufen können, sondern dass auch die vorbereitende Ausbildung zunehmend auf dem gleichen Modell wie im Einsatz stattfinden kann. Dritter Punkt - er ist nicht wirklich lebenswichtig, aber ärgerlich angesichts der Dauer, seit der wir diese Klagen schon hören -: die durchgängigen Beschwerden in allen Feldlagern über die mangelhaften Angebote zur Kommunikation mit der Heimat, besonders im Vergleich zu den Möglichkeiten, die Soldaten der Verbündeten teilweise zur Verfügung stehen. Das gilt nicht nur für Afghanistan. Hierzu hat das Bundesministerium der Verteidigung mitgeteilt, dass für Mitte dieses Monats, also jetzt gerade, die Entscheidung über den Zuschlag für einen neuen Vertrag zur Betreuungskommunikation vorgesehen ist. Offenbar hat nur einer von vier Wettbewerbern mit seinem Angebot alle Anforderungen erfüllt. Ich gehe in jedem Fall davon aus, dass es rasche Verbesserungen für die Truppe im Einsatz geben wird. Vierter Punkt: die knappen Personalressourcen für wichtige Aufgabenbereiche durch die Mandatsobergrenze, insbesondere bei Infanterie und Aufklärung. Diese Frage geht uns als Parlament direkt an; denn wir entscheiden mit der Zustimmung zum Mandat, ob genug Personal für eine sichere Auftragserfüllung eingesetzt werden kann. Die Koalition hat immer klipp und klar gesagt, dass die Geschwindigkeit der geplanten Truppenreduzierung über die nächsten Jahre vom Erfolg der Stabilisierungsmaßnahmen abhängt. Der Außenminister hat das heute Morgen in der Debatte zum Afghanistan-Fortschrittsbericht sehr gut zusammengefasst: Die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen muss sorgfältig, nachhaltig und unumkehrbar geschehen. ({3}) Dieses Thema eignet sich nicht für parteitaktische Spielchen; denn die würden auf dem Rücken unserer Soldaten ausgetragen. Gegenstand solcher Spielchen sollte auch nicht ein gemeinsamer Besuch des Verteidigungsministers mit seiner Frau in Afghanistan sein. Die letzten Jahresberichte des Wehrbeauftragten, auch der hier besprochene, haben immer wieder deutlich gemacht, wie der Mangel an Interesse und Anerkennung in der Gesellschaft die Soldaten belastet. Wir haben immer wieder beklagt, dass die Medien nur dann groß berichten, wenn es Tote und Verwundete gegeben hat. Nun schafft das Ehepaar zu Guttenberg einmal außerhalb solch trauriger Vorfälle Aufmerksamkeit für den Einsatz und trotzdem ist es vielen nicht recht. Wenn Fernsehzuschauer durch diesen Besuch motiviert werden, sich heute Abend die in Masar-i-Scharif aufgezeichnete Sendung mit Herrn Kerner anzusehen, und wenn sie dabei einen ehrlichen Einblick in das Leben und die Sorgen unserer Soldaten dort bekommen, wofür sie sich sonst nicht interessiert hätten, dann kann ich nur sagen: Herzlichen Dank für diese Aktion, Herr Minister! Das war es wert. ({4}) Lassen Sie mich kurz auf ein Thema zurückkommen, das ich bereits bei der ersten Behandlung des Jahresberichts 2009 angesprochen habe, nämlich auf die Lage im zentralen Sanitätsdienst und hier besonders auf die Möglichkeit zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen. Mittlerweile ist das lange geforderte Traumazentrum am hiesigen Bundeswehrkrankenhaus Berlin eingerichtet und der Beauftragte als Anlaufstation für alle Probleme in diesem Bereich eingesetzt. Dieser wichtige Schritt wird die Dinge künftig sehr vereinfachen, weil es jetzt eine zentrale Adresse für alle Bemühungen auf diesem Gebiet gibt. Nicht nur, aber auch wegen dieser Problematik muss dem Sanitätsdienst weiterhin höchste Aufmerksamkeit gelten. Das Attraktivitätsprogramm zur Verbesserung der Personallage ist bereits eingeleitet. Herr Wehrbeauftragter, jetzt habe ich noch einen letzten Gedanken: Sie wissen, dass Reservisten zukünftig eine größere Rolle in der Bundeswehr spielen sollen. Deshalb wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie in Ihren nächsten Berichten ein besonderes Augenmerk auf diesen Bereich legen würden. Ich möchte auch diesmal mit einem Dank an die Soldaten und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr schließen. Wir denken besonders an die Männer und Frauen im Einsatz, die Weihnachten und Neujahr fernab ihrer Familien in gefährlicher Umgebung verbringen müssen. Wir denken zugleich an die Familien, die auch an den Festtagen in Sorge um ihre Angehörigen sein werden. Wir denken an die Familien der in diesem Jahr Gefallenen ebenso wie an die Soldaten, die schwere Verwundungen davongetragen haben und sich zum Teil mit neuen Lebensumständen zurechtfinden müssen. Ich darf Sie bitten, alle diese mutigen Menschen in Ihre Gedanken und vielleicht auch in Ihre Gebete einzuschließen. Herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Karin Evers-Meyer hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Karin Evers-Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003523, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Herr Wehrbeauftragter! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es gut, dass die Bundeswehr in diesen Tagen so viel Aufmerksamkeit bekommt wie schon lange nicht mehr. Die Soldatinnen und Soldaten in den Einsatzgebieten verdienen unsere Aufmerksamkeit, ({0}) und sie wollen diese Aufmerksamkeit für ihre wichtige und gefährliche Arbeit auch. Ob das nun in der Art und Weise passieren muss, in der der Verteidigungsminister dafür sorgt, oder ob es auch anders geht, das sind Geschmacksfragen, die eine untergeordnete Rolle spielen. ({1}) Worum es wirklich geht: Wir müssen das, was wir mit Worten ankündigen, auch tatsächlich machen. Wenn hier nur öffentlichkeitswirksam Themen besetzt werden sollen, dann bleibt es bei heißer Luft, ({2}) dann richten die handelnden Personen mehr Schaden an, als sie nützen. Seien Sie sich darüber im Klaren, Herr Minister zu Guttenberg, dass Sie mit Ihren Worten und Bildern Erwartungen wecken, die wir auch erfüllen müssen. Da habe ich als Fachpolitikerin aber meine Bedenken. Ich habe seit einiger Zeit den Eindruck: Es wird viel angekündigt, und es passiert sehr wenig. Ich will in diesem Zusammenhang nicht auf die angekündigte Bundeswehrreform eingehen, sondern mich an das halten, worum es im Bericht des neuen Wehrbeauftragten, Herrn Königshaus, geht. Ich greife nur einmal das Beispiel der Posttraumatischen Belastungsstörungen, PTBS, heraus. Dieses Thema war ein Schwerpunkt im Jahresbericht 2008 des Wehrbeauftragten, der damals noch Reinhold Robbe hieß. Also bereits vor einem Jahr hat Herr Robbe auf die sprunghaft gestiegenen Zahlen der an PTBS erkrankten Soldaten hingewiesen, und er hat öffentlich Druck gemacht. Dazu braucht es auch die Medien. Das ist legitim. Ich erinnere mich noch sehr gut an den erschütternden Fernsehbericht, in dem der Wehrbeauftragte einen Soldaten mit PTBS zum Sozialamt begleitet, weil dieser nach einem Auslandseinsatz arbeitsunfähig geworden ist. Franz Josef Wagner hat gestern in seiner Bild-Zeitungs-Kolumne geschrieben - den Kommentar finde ich passend -: Es gibt einen Punkt, wo man entweder kotzt oder weint. Dass dieser Soldat quasi um Unterstützung betteln musste, war für mich so ein Punkt. Der damalige Wehrbeauftragte hat beim Thema PTBS seinen Job gemacht, tut das übrigens auch heute noch, etwa mit dem von ihm ins Leben gerufenen runden Tisch „Solidarität mit Soldaten“, dem inzwischen rund 40 Organisationen und Selbsthilfegruppen angehören und der auch bereits wirklich konkrete Erfolge vorweisen kann. Aufseiten der jetzigen Bundesregierung jedoch ist seit dieser Zeit fast nichts Erwähnenswertes mehr passiert außer vielen schönen Worten und einem Entschließungsantrag mit einer Reihe wohlklingender Ankündigungen. Wenn man sich aber so weit aus dem Fenster lehnt und in Afghanistan eine Fernsehsendung vor Soldatinnen und Soldaten im Einsatz macht, dann reichen schöne Worte nicht, dann muss man zu Hause etwas tun. ({3}) Das erwarten wir jetzt von Ihnen, Herr Minister zu Guttenberg. Sie haben mit Ihrem Politikstil große Erwartungen geweckt, die Sie jetzt auch erfüllen müssen. Ansonsten werden Sie ein charmanter Ankündigungsminister bleiben und letztlich Ihr und auch unser aller Vertrauen bei den Soldatinnen und Soldaten verspielen. ({4}) Lassen Sie uns beim Thema PTBS einfach gemeinsam konkret werden. Wir brauchen ein selbstständig arbeitendes Traumainstitut, das über ausreichende, qualifizierte Stellen verfügt, um auf den Feldern Prävention, Therapie und Forschung etwas zu tun. Wir brauchen Screening-Verfahren zur Früherkennung. Wir brauchen Therapieeinrichtungen. Wir brauchen professionelle Informationsangebote. Solche Angebote werden derzeit immer noch ehrenamtlich organisiert, etwa auf der Internetseite von Frank Eggen und Dr. Peter Zimmermann. Wir brauchen konkrete Gesetzentwürfe für eine deutliche Verbesserung der Versorgungs- und Weiterverwendungsgesetze. Wir müssen auch wieder über Einsatzzeiten und Einsatzbedingungen sprechen, insbesondere darüber, dass einer wissenschaftlichen Studie zufolge nach 127 Einsatztagen die Gefahr einer PTBS-Erkrankung signifikant ansteigt. Wir müssen Prävention, Nachsorge und Fürsorge sehr ernst nehmen. Deutschland muss an dieser Stelle professioneller werden und sich besser aufstellen. Ein Jahr ist schon ins Land gegangen, ohne dass sich auch nur für eine Soldatin oder einen Soldaten spürbar etwas verbessert hat. Der Fall des Soldaten, der zum Sozialamt geht, ist nach wie vor Realität. Deswegen müssen wir dieses Thema endlich einmal gemeinsam anpacken. In diesem Punkt - das will ich hier deutlich sagen würde ich mir auch etwas mehr öffentliches Engagement des amtierenden Wehrbeauftragten wünschen. Sie sind in große Fußstapfen getreten, Herr Königshaus. Sie müsKarin Evers-Meyer sen bei diesem Thema jetzt Akzente setzen. Ihr Amtsvorgänger Robbe hat gezeigt, wie das geht: Vertrauen bei den Soldaten, große öffentliche Reputation und natürlich auch Durchsetzungsvermögen. Das braucht das Thema, und das sind Sie und wir den Soldatinnen und Soldaten schuldig. Wir können etwas daraus machen. ({5}) Es gibt ein zweites Thema, das ich heute noch ansprechen möchte - ich bin dem amtierenden Wehrbeauftragten, Herrn Königshaus, wirklich sehr dankbar dafür, dass er hierbei den Finger in die Wunde legt -: Es geht noch einmal um die Kommunikationswege zwischen Einsatzgebiet und Heimat und damit für mich letztendlich auch um die Wertschätzung der Soldatinnen und Soldaten und die Attraktivität der Bundeswehr insgesamt. Für uns hier im Bundestag ist die Kommunikation mit Freunden und Verwandten zu Hause eine Selbstverständlichkeit. Wir skypen, wir kommunizieren über SMS, E-Mails und Mobiltelefone. All diese Möglichkeiten stehen uns zur Verfügung. Wir sind ständig und überall erreichbar. Das ist gerade für uns sehr wichtig. Wenn man aber als Soldatin oder Soldat in Afghanistan stationiert ist oder auf einer Fregatte am Horn von Afrika seinen Dienst versieht, dann sind die Kommunikationswege zur Familie natürlich beschränkter. Ein Marinesoldat hat mir erzählt, dass auf seinem Schiff höchstens einmal am Abend, wenn die Dienstrechner für eine Stunde abgeschaltet werden, ein Internetzugang zur Verfügung steht. Gleichzeitig erfahre ich dann, dass belgische, kanadische und amerikanische Kameraden jeden Abend per Skype mit ihren Partnern und Kindern sprechen können. Das ist beschämend. Das geht einfach nicht. Auch in Deutschland leben wir im 21. Jahrhundert, und ich habe wirklich keine Lust mehr, Soldatinnen und Soldaten vor Ort Begründungen aus dem Verteidigungsministerium vorzulesen, in denen fein säuberlich aufgelistet steht, warum die Soldaten in den Feldlagern oder auf den Schiffen keinen brauchbaren Internetanschluss und keine vernünftige Telekommunikationsanlage bekommen können. ({6}) Im Schreiben vom Ministerium steht natürlich nicht, dass die entsprechenden Verträge des Verteidigungsministeriums mit den Kommunikationsanbietern letztlich wenig vorausschauend ausgeschrieben wurden. Natürlich sind die Datenmengen heute viel größer als vor zehn Jahren; aber man kann entsprechende Verträge abschließen. ({7}) Es ist heutzutage möglich, dass man bei steigender Inanspruchnahme mehr Kapazitäten bekommt. Wie ich höre, sind die neuen Ausschreibungen nicht wesentlich besser und genauso dürftig wie die alten. Lassen Sie uns doch diese Blackbox, um die wir nun schon seit Jahren herumschleichen, endlich gemeinsam aufbrechen. ({8}) Herr Minister zu Guttenberg, ich bitte Sie ganz herzlich: Geben Sie Ihrem Haus den Auftrag, dieses Problem einmal zu prüfen, um uns zu sagen - das will ich einfach nur wissen -, wie es gehen könnte und was das kosten würde. Dann können wir hier entscheiden, ob uns unsere Soldatinnen und Soldaten das wert sind. Ich finde, es sind die kleinen Dinge, die Vertrauen schaffen und die Wertschätzung zeigen. Wenn das mit dem Internet vonseiten des Ministeriums wirtschaftlich nicht vernünftig umsetzbar sein sollte, dann werden wir die Telekom oder welche Firma auch immer darum bitten, vor Ort geeignete Funkmasten, vielleicht zum Selbstkostenpreis, zu installieren. So haben die Belgier das im Übrigen gemacht. Das muss doch auch hier bei uns möglich sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Bundeswehr ein attraktiver Arbeitgeber bleiben will - und das muss sie angesichts unserer Vorhaben unbedingt bleiben -, dann dürfen wir uns gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten nicht in dieser Weise als Krämerseelen aufführen. Kommunikation mit der Familie ist wichtig. ({9}) Sie macht es Soldatinnen und Soldaten überhaupt erst möglich, über lange Einsatzzeiten hinweg die Beziehung zu ihren Partnern aufrechtzuerhalten. Wir sollten uns bei diesen Dingen die kleinen Karos verkneifen und zu mehr Größe gelangen. Das ist meine dringende Bitte und mein Plädoyer. Ich danke heute dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Herrn Königshaus, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre Arbeit und den vorliegenden Bericht. Lassen Sie uns weiterhin gemeinsam dafür eintreten, dass unsere Soldatinnen und Soldaten in ihrem Alltag die Wertschätzung bekommen, die sie verdienen. Mit Ihrem Bericht haben Sie einen wichtigen Beitrag dazu geleistet. Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Christoph Schnurr hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Christoph Schnurr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004147, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Es ist schon interessant gewesen, Frau Kollegin Evers-Meyer, was Sie gesagt haben. Ich glaube, dass man das eine oder andere schon noch einmal ansprechen muss. Zunächst einmal ist zu sagen: Die Arbeit des ehemaligen Wehrbeauftragten Reinhold Robbe war sicherlich beachtlich, und jeder seiner Berichte und jede seiner Stellungnahmen hat in diesem Hohen Hause Zuspruch und Anerkennung gefunden. Wir behandeln heute den letzten Bericht, den Herr Robbe vorgelegt hat, und auch die Antworten des Ministeriums auf diesen Bericht. Sie, Frau Evers-Meyer, haben dann gesagt, dass große Fußstapfen vorhanden gewesen sind und dass der neue Wehrbeauftragte diese nach Möglichkeit ausfüllen soll, was aber wohl schwierig sein mag. Ich sage Ihnen ganz offen: Es geht nicht darum, Fußstapfen auszufüllen, sondern darum, neue Akzente zu setzen. Deswegen finde ich es besonders gut und lobenswert, dass der neue Wehrbeauftragte seine Erkenntnisse, die er bei Truppenbesuchen und bei seinen Reisen in die Einsatzländer gewinnt, nicht zuerst in Zeitungen vermittelt. Er hat vielmehr seine beiden Zwischenberichte, die er im letzten halben Jahr bereits geschrieben hat, erst dem Ausschuss zur Diskussion vorgelegt und hat damit zugleich auch dem Ministerium die Möglichkeit gegeben, mit entsprechenden Antworten auf diese Zwischenberichte zu reagieren. Es ist der richtige Weg, das auf diese Weise im Parlament kundzutun. ({0}) Nun zum Bereich PTBS: Wir Abgeordnete und insbesondere wir Verteidigungspolitiker wünschen uns natürlich oft, dass Dinge schneller, zügiger und vielleicht auch effizienter ablaufen. Wenn wir uns aber einmal klarmachen, welchen Stellenwert das Thema PTBS vor fünf Jahren hatte - es sage mir keiner, dass es zu diesem Zeitpunkt keine PTBS-Betroffenen gegeben habe -, kommen wir nicht umhin, festzustellen, dass wir heute auf einem richtigen und guten Weg sind. Ich glaube, das darf man an dieser Stelle auch einmal sagen. ({1}) Meine Damen und Herren, es handelt sich - das habe ich bereits gesagt - nicht nur um den 51. Jahresbericht eines Wehrbeauftragten, sondern auch um den Abschlussbericht von Reinhold Robbe. Dieser Bericht stellt verschiedene Mängel, Probleme und Schwierigkeiten im Jahr 2009 innerhalb der Bundeswehr heraus. Darin werden alle Teilstreitkräfte, Organisationsbereiche, Dienstgradgruppen, die Relationen von Frauen und Männern, von Einsatzgebieten und Heimatländern, von Reservisten und Aktiven genannt. Viele Probleme sind herausgestellt worden. Das einzig Richtige, das man dagegen tun kann, ist letztendlich, gegenzusteuern, die Probleme abzustellen und niemals die Augen und Ohren zu verschließen. Der ehemalige Wehrbeauftragte hat nicht die Ohren verschlossen, sondern er hat immer zugehört. Hellmut Königshaus, der neue Wehrbeauftragte, tut dies genauso. Er hört sich die Sorgen, die Nöte, die Anregungen, zum Teil die Bitten und manchmal an der einen oder anderen Stelle auch die bittere Wahrheit von unseren Soldaten an und transportiert sie in den Deutschen Bundestag. Ich bedanke mich bei dem ehemaligen Wehrbeauftragten und auch beim heutigen Wehrbeauftragten recht herzlich für ihre Arbeit. ({2}) Die rund 5 500 Eingaben im Jahr 2009 sind in ihren Anliegen äußerst unterschiedlich. Einige Eingaben sprechen Probleme und Vorfälle an, die menschlicher Natur sind. Dennoch können sie ärgerlich für die Betroffenen sein. Wenn beispielsweise ein Geschäftszimmersoldat Akten verlegt und deshalb eine Beförderung nicht sofort durchgeführt werden kann und dann Monate auf sich warten lässt, dann ist das für den Betroffenen zwar ärgerlich, aber es ist menschliches Versagen. Allerdings werden auch zu Recht Probleme der Soldaten geschildert, die einen politischen Handlungsbedarf aufzeigen, bei denen Bundestag und Ministerium letztendlich gefordert sind, beispielsweise beim eklatanten Mangel an Ärzten. Allein heute fehlen über 600 Ärzte in der Bundeswehr; beruhigend ist das nicht. Jedoch denke ich, dass mit der Zulage für Ärzte der erste Schritt in die richtige Richtung gemacht worden ist. Der erhöhte Haushaltsansatz 2011 für das Sanitätswesen ist ein Anfang für die Attraktivitätssteigerung in diesem Organisationsbereich. Wenn Soldaten lesen, dass im Jahr 2009 466 Kameradinnen und Kameraden mit PTBS behandelt worden sind, so schätzen einige in der Truppe diese Zahl wiederum als wesentlich höher ein. Das ist alarmierend. Um diese Dunkelziffer mache ich mir - ich glaube, wir uns alle - große Sorgen. Ich setze daher auch auf die Vorgesetzten, Freunde und Familien von Soldaten und hoffe, dass sie sich bei Verdacht für eine Untersuchung der Betroffenen einsetzen. Denn eines ist klar: Es ist keine Schmach und auch kein Makel. Der Soldatenberuf fordert viel, und dementsprechend besteht auch der Anspruch, viel zurückzubekommen, was die Genesung sowohl des Körpers als auch des Geistes betrifft. Dieses Land kann und wird darauf verzichten, seine gedienten Frauen und Männer ins Abseits zu stellen. ({3}) Allerdings beschäftigen mich auch andere Dinge, vorneweg die Reservisten. Auch ich bin Reservist. Es macht Spaß, auf diese Art und Weise etwas für das Land tun zu können. Doch zum Teil sind wohl einige Truppenteile nicht in der Lage, adäquat mit ihren Reservisten umzugehen. 188 Vorgänge im Jahr 2009 befassen sich mit der Thematik von Reservisten. Das sind Eingaben von Menschen, die freiwillig ihr soziales Gefüge - sprich: Familie, Freunde und Arbeit - für eine gewisse Zeit verlassen. Da ist es aus meiner Sicht nicht zu viel verlangt, dass die personalbearbeitenden Stellen diesen Personen entgegenkommen und sie sachgerecht behandeln; denn die Reservisten sind gerade vor dem Hintergrund der Strukturreform und der neuen Bundeswehr, die auf uns zukommt, notwendig. Eigentlich sind, wenn wir einmal ganz ehrlich sind, die Reservisten schon heute aus der Bundeswehr nicht mehr wegzudenken. Jeden Tag leisten im Schnitt 2 400 Reservisten ihren Dienst in der Bundeswehr. Auch hier ein Dankeschön an die Reservisten. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Bundeswehr. ({4}) Ein weiteres oft debattiertes Problem, das wir im Ausschuss begleitet haben und das in der Tat in vielen Berichten immer wieder thematisiert wird, ist die Ausstattung der Soldaten, und zwar von der Kleinstausstattung, die teilweise - so mag man denken - sehr schnell zu beschaffen ist, bis hin zu größeren Waffensystemen bzw. geschützten Fahrzeugen. Ja, wir brauchen mehr geschützte Fahrzeuge, nicht nur in Einsatzgebieten, sondern auch an den Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr im Inland. Es ist von elementarer Wichtigkeit, dass wir unsere Soldaten auf den Fahrzeugen ausbilden, auf denen sie im Einsatz arbeiten. Die Militärkraftfahrer müssen ihre Fahrzeuge in- und auswendig kennen und wissen, wie sich das Fahrzeug in jeglicher Situation verhält. Wenn auch nur ein Soldat nicht auf dem richtigen Fahrzeug ausgebildet wird, dann ist das ein Soldat zu viel. Ein wichtiges Thema bleibt die Frage der Kommunikation im Auslandseinsatz. Dazu gehört die Möglichkeit, mit der Familie zu sprechen. Das bisherige Angebot ist zu gering. Deshalb liegt meine Hoffnung, Herr Minister, auf der Neuausschreibung und vor allem auf der Neuvergabe dieser Leistungen. Wir müssen noch viel tun. Meine Redezeit geht zu Ende; es gäbe aber noch einiges zu sagen. Meine Ausführungen haben gezeigt, dass der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus für seinen neuen Bericht noch einiges zu tun hat, angefangen beim Sanitätsdienst, über die Frage der Steigerung der Attraktivität des Dienstes und die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die weiterhin im Raum steht, bis hin zur neuen Struktur. Herr Wehrbeauftragter, vor diesem Hintergrund möchte ich sagen, dass wir uns auf die Zusammenarbeit freuen. Ich bedanke mich bei Ihnen allen recht herzlich. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Paul Schäfer ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Es ist eine gute Tradition, dass wir nicht erst zu mitternächtlicher Stunde, sondern zu einer prominenten Zeit über den Jahresbericht des Wehrbeauftragten diskutieren. Es ist zwar etwas komisch, dass wir jetzt über den Jahresbericht 2009 eines Wehrbeauftragten diskutieren, der nicht mehr im Amt ist, aber immerhin! Es gehört auch zur Tradition, dass in diesem Rahmen immer den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Dank ausgedrückt wird. Abgesehen davon, dass mir die ritualisierte Form, in der das sehr oft geschieht, fremd ist - Ritualisierung bedeutet oft auch Sinnentleerung -, stört uns - das ist ein wichtiger Punkt - das Missverhältnis zwischen diesen Dankesgesten und dem, was in der Praxis für die persönlichen Belange der Soldatinnen und Soldaten getan wird. Es gibt in diesen Tagen eine Postkartenaktion des Deutschen BundeswehrVerbandes. Auf der Postkarte ist eine Frau abgebildet, die unschwer als die Kanzlerin zu erkennen ist, der die Worte in den Mund gelegt werden: Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienen unsere Solidarität … Der Soldat, der ihr auf dem Bild gegenübersteht, fragt: … sind 2,5 % Bezügekürzung wirklich solidarisch? Ich glaube, das trifft den Punkt. Man kann es ein bisschen verallgemeinern: Wenn es um rüstungsindustrielle oder beschaffungspolitische Maßnahmen geht, dann sind die jeweiligen Regierungen und die sie tragenden Fraktionen sehr großzügig. Wir haben es gestern erlebt - diese Übung gibt es immer vor Weihnachten -, wie großzügig man da ist. Wenn es aber um die persönlichen Belange der Soldatinnen und Soldaten geht, dann ist man eher zurückhaltend. Das ist das Missverhältnis, das ich meine. Es reicht vom ursprünglich versprochenen Weihnachtsgeld, das man dann verweigert hat, über die völlig unzulänglichen Möglichkeiten der Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz, mit ihren Freunden und Familienangehörigen zu kommunizieren - das ist angeblich viel zu teuer -, bis zur unzureichenden Ausstattung des Sanitätsdienstes, aber auch der Soldatinnen und Soldaten im Hinblick auf ihren persönlichen Schutz. Der neue Wehrbeauftragte hat hierzu einen sehr umfangreichen Mängelbericht vorgelegt. Das ist bemerkenswert und richtig; das ist auch seine Aufgabe. Es muss uns aber schon zu denken geben, dass sich das Bundesministerium der Verteidigung erst dadurch gezwungen sieht, bestimmte Defizite einzugestehen und sie abzustellen sowie Verbesserungen auf den Weg zu bringen, deren Umsetzung allerdings eine längere Zeit in Anspruch nehmen wird. Das ist überhaupt nicht gut. Das ist der Punkt: Shows zu inszenieren, ist das eine; das andere ist, sich wirklich um diese kleinen, aber drängenden Probleme der Truppe zu kümmern. Herr Verteidigungsminister, das ist Ihre Aufgabe. Ein anderes Thema ist aus unserer Sicht vordringlich: die nun in Gang gesetzte Reform der Bundeswehr an Haupt und Gliedern und die Aufgaben, die auf den Wehrbeauftragten in diesem Zusammenhang zukommen. Wenn sich diese Reform durchsetzt, die darauf gerichtet ist, die Bundeswehr auf Auslandseinsätze zu trimmen und sie da noch besser zu machen, wird es ohne Zweifel zu beträchtlichen Veränderungen im inneren Gefüge der Streitkräfte kommen: Veränderungen der Struktur, Zentralisierung, stärkere Unterordnung der zivilen Säule der Bundeswehr. Die andere Seite ist der mögliche Wandel der Kultur in der Truppe, genauer gesagt des Selbstverständnisses der Truppe. Eine Armee, die eine offensive Aufstandsbekämpfung und die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen auf der Agenda hat, pflegt eine andere Kultur als eine Armee, die sich an den Zwe8984 Paul Schäfer ({0}) cken der Verteidigung orientiert. Es ist die Frage, was dann vom Staatsbürger in Uniform übrig bleibt; das ist für den Wehrbeauftragten ein zentrales Thema. Man kann aggressive Patches an der Uniform oder im Selbstdruck hergestellte T-Shirts als Randerscheinungen abtun. Schwieriger wird es, wenn man in den Einsätzen dazu kommt, gezielte Tötungen zumindest billigend in Kauf zu nehmen. Es wird ganz gefährlich, wenn sich - nicht zuletzt in Verbindung mit diesen Einsätzen - ein elitäres Korpsdenken und eine sich vertiefende Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus durchsetzen sollten. Die Ergebnisse der im März 2010 veröffentlichten SOWI-Studie der Bundeswehr müssen uns in diesem Zusammenhang zu denken geben. Das ist ein wichtiges Thema, über das wir im nächsten Jahr dringend zu diskutieren haben. 2011 haben wir also nicht nur über Standortentscheidungen und Ausrüstungsvorhaben zu reden, sondern auch darüber, wie man die Innere Führung und damit ein gewisses Maß an Zivilität - darum geht es schließlich in den Streitkräften wiederbeleben bzw. stärken kann. Folgende Themen stehen also an: Beteiligungsrechte der Soldatinnen und Soldaten, strikte Ausrichtung der Streitkräfte an internationalem Recht und Gesetz sowie Fortführung der Bundeswehr als Ausbildungsarmee unter veränderten Bedingungen. Wenn man den Anteil der Zeitsoldaten erhöhen will, muss man auch etwas tun, um sie besser auf die Zeit danach vorzubereiten. All das sind dringende Fragen, über die diskutiert werden muss. In diesem Zusammenhang ist das Amt des Wehrbeauftragten von zentraler Bedeutung. Natürlich wünsche ich uns allen hier und auch allen, die uns zusehen, frohe Weihnachten und wünsche, dass die Soldatinnen und Soldaten gesund zurückkehren. Dabei gilt: Je früher, desto besser. Danke. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Agnes Malczak hat jetzt das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Königshaus, ich möchte Ihnen genauso wie Ihrem Vorgänger, Reinhold Robbe, im Namen meiner Fraktion danken. Ich möchte aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danken, die die Vielzahl der Eingaben bearbeiten und ihre Aufgabe engagiert erfüllen. ({0}) Der vorliegende Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2009 nimmt die Situation der Soldatinnen und Soldaten und der Bundeswehr insgesamt in den Blick sachlich, klar und differenziert. Das Parlament und die Regierung sind aufgefordert, diesen Bericht nicht einfach nur zur Kenntnis zu nehmen; wir müssen ihn auch als Aufforderung zum Handeln verstehen. Eine Funktion des jährlichen Berichtes des Wehrbeauftragten ist die Herstellung von Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit für den Zustand der Bundeswehr und die Situation der Soldatinnen und Soldaten; denn die Bundeswehr ist kein Staat im Staate, und sie soll es auch nie werden. Gleichzeitig haben wir eine besondere Verantwortung für die Soldatinnen und Soldaten. Der jüngste Versuch des Verteidigungsministers, diese notwendige Aufmerksamkeit herzustellen, ging allerdings fehl. Es ist doch vollkommen klar: Mit einer Aktion wie diesem Truppenbesuch mit Gattin und Talkmaster wird die Aufmerksamkeit von der schwierigen Situation in Afghanistan abgelenkt. ({1}) Im Vordergrund stehen schöne Bilder des Ehepaares zu Guttenberg. Im grellen Blitzlichtgewitter aber verblassen Probleme, Sorgen und Nöte. ({2}) Das kann nicht im Sinne der Soldatinnen und Soldaten sein. Die Intention mag richtig gewesen sein, diese Inszenierung aber war unangemessen. ({3}) Gewisse Themen haben für eine bestimmte Zeit Konjunktur. Doch kaum rutschen diese Themen von den vorderen Seiten der Zeitungen, scheint auch der Handlungsdruck nachzulassen. Als dieser Bericht vorgestellt wurde, dominierten die Personalprobleme im Sanitätsdienst generell die Debatte. Die Personallücken dort haben gravierende Folgen. ({4}) Es geht beim Sanitätsdienst auch um die psychologische und psychiatrische Betreuung der Bundeswehrangehörigen. Ein anderes Thema, das vor einiger Zeit Konjunktur hatte, nun aber viel zu wenig Aufmerksamkeit genießt, ist die steigende Zahl der Soldatinnen und Soldaten, die unter einer einsatzbedingten posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Ich freue mich, dass eigentlich alle Redner und Rednerinnen vor mir dieses wichtige Thema angesprochen haben. Die Soldatinnen und Soldaten, die davon betroffen sind, sind auf psychologisch gut ausgebildetes Personal und eine qualifizierte psychotherapeutische Behandlung angewiesen. Ich halte es für falsch und gefährlich, dass das Verteidigungsministerium in seiner Stellungnahme beschönigend so tut, als sei in diesem Bereich alles Nötige bereits getan. ({5}) Das ist Realitätsverweigerung. Die Maßnahmen, die das Verteidigungsministerium für den Sanitätsdienst bisher ergriffen hat, greifen zu kurz oder wirken zu langsam. Entscheidend wird sein, was im Zuge der Bundeswehrreform in Sachen Sanitätsdienst geschieht. Natürlich müssen die Bundeswehr und der Verteidigungshaushalt insgesamt einen Beitrag zur Erreichung der Sparziele leisten. Doch die Koalition schafft es derzeit nicht, im Zusammenhang mit der Bundeswehrreform ein Gesamtpaket zu schnüren, mit dem auch nur geringe Einsparungen erreicht werden. Am Ende stehen wir wieder vor der Frage: Was kann sich die Bundeswehr noch leisten? Ich befürchte, dass es dann bei den Fürsorgeleistungen Abstriche geben wird, statt diese zu verbessern. Darum kann ich die Entscheidung für eine Truppenstärke in einer Größenordnung von 185 000 Soldatinnen und Soldaten nicht nachvollziehen. Masse auf Kosten von Qualität macht keinen Sinn. ({6}) Ein Thema, das in der öffentlichen Debatte in diesem Jahr nur an einer Stelle eine Rolle gespielt hat, ist die Innere Führung. Thematisiert wurde sie nur im Zusammenhang mit den Vorfällen in Mittenwald. Aufmerksamkeit für die Innere Führung brauchen wir aber auch jenseits der negativen Ereignisse und extremen Vorfälle. Ihre Prinzipien binden die Bundeswehr an die Werte unserer Gesellschaft, zuallererst an die Achtung der Menschenrechte. Das ist keine Einbahnstraße: Die Bundeswehr muss nicht nur auf die Gesellschaft schauen, die Gesellschaft muss auch auf die Bundeswehr schauen. Der Bericht des Wehrbeauftragten ist dafür nur ein Instrument, wenn auch ein sehr wichtiges. Die Tätigkeit des Wehrbeauftragten entbindet nicht von der Verpflichtung zur weiteren und intensiven Auseinandersetzung mit der Bundeswehr und der Inneren Führung. Der Bericht wirft in diesem Zusammenhang bedenkenswerte Fragen auf, über die dringend diskutiert werden muss und die nicht auf die lange Bank geschoben werden dürfen. Die Einsätze im Ausland sind in vielerlei Hinsicht - auch im Hinblick auf die Innere Führung - eine besondere Herausforderung. Hier stellen sich ebenfalls Fragen, die wir nicht ignorieren dürfen. Werden die Prinzipien der Inneren Führung in der Einsatzsituation umgesetzt? Was bedeuten zum Beispiel die multilateralen Zusammenhänge in den Einsätzen für die Innere Führung? Dies sind einige Entwicklungen, die es zu begleiten gilt, auch weit über die Vorlage des Berichtes des Wehrbeauftragten hinaus. Lassen Sie mich abschließend noch auf einen letzten Punkt zu sprechen kommen. Manche Zeitgenossen kritisieren gerne diejenigen, die Kritik üben. So manches Mal wurde beispielsweise gegen die Kritik an der Strategie in Afghanistan die Behauptung ins Feld geführt, mit Kritik würde die Solidarität mit den Soldatinnen und Soldaten unterlaufen. Dabei ist es gerade für die Soldatinnen und Soldaten ungeheuer wichtig, dass kritisch gefragt wird, ob eine Strategie funktioniert oder nicht. ({7}) Adressat solcher kritischen Fragen sind nicht die Soldatinnen und Soldaten, sondern in erster Linie die politische und militärische Führung. Das mag für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, unbequem und unangenehm sein, aber das müssen Sie aushalten. Kritische Stellungnahmen und Fragen zu den Einsätzen werden Sie sich von meiner Fraktion auch weiterhin gefallen lassen müssen. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Robert Hochbaum hat jetzt das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Robert Hochbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003557, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter Königshaus! Ich möchte zunächst ganz kurz auf die Rede von Frau Evers-Meyer eingehen, die davon gesprochen hat, dass im letzten Jahr im Bereich PTBS überhaupt nichts passiert sei. Ich weiß nicht, ob Ihnen entgangen ist, dass wir inzwischen ein PTBS-Traumazentrum, einen PTBS-Beauftragten etc. haben. Die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden. Ich möchte betonen, dass viel getan worden ist. Dafür danke ich unserem Minister an dieser Stelle ausdrücklich. ({0}) Wir beraten heute den 51. Bericht des Wehrbeauftragten, der von dem damaligen Wehrbeauftragen, Reinhold Robbe, vorgelegt wurde. Wir haben inzwischen einen neuen Wehrbeauftragten. Interessant ist: Dessen aktuelle Berichte sind dem Bericht, der dieser Debatte zugrunde liegt - zum Beispiel bezüglich der Ausrüstung in den Einsätzen -, zumindest ähnlich. Aus diesem Grund möchte ich einen mir besonders wichtigen Punkt herausgreifen: die beschriebenen Mängel an der Ausrüstung der Soldaten, ob im Einsatz oder bei der Vorbereitung zu Hause. In diesem Zusammenhang hat auch der neue Wehrbeauftragte, wie ich finde, bereits auf nachhaltige Weise seiner Funktion, Anwalt der Soldaten zu sein, Ausdruck verliehen. Dafür möchte ich an dieser Stelle dir, lieber Hellmut Königshaus, und deiner Mannschaft großen Dank sagen. ({1}) Zurück zu den aufgeführten Mängeln beim Material, von denen Soldaten mir und, wie ich weiß, auch anderen meiner Kolleginnen und Kollegen vor Ort in Afghanistan, aber auch in den Heimatstandorten immer wieder berichtet haben. Wir sollten dies nicht einfach beiseitewischen, sondern sehr genau zuhören und natürlich für Abhilfe sorgen. Wenn es um geschützte Fahrzeuge, um Waffen, ja sogar - so lapidar das klingt - um Munition für unsere Einsatzkräfte geht, sollte bei allen die berühmte rote Lampe aufleuchten. Bei aller Kritik weiß ich eines genau: Gerade diesen Hinweisen wird vonseiten unseres Ministers sehr verantwortlich nachgegangen, und das Abstellen tatsächlich erkannter Mängel wird unverzüglich angeordnet. Doch warum tauchen sie dann immer wieder auf? Warum dauert ihre Behebung oft länger, als es für mich persönlich ertragbar ist? Beim näheren Beleuchten dieser Frage stößt man unweigerlich, über kurz oder lang, auf ein leider weithin bekanntes Stichwort: die Bürokratie. Sie stellt schon ein Problem dar, wenn es um die Frage geht, wie schnell angesichts eines erkannten Mangels eine Entscheidung über seine Behebung erfolgen kann. Noch konkreter: Wie lange dauert es dann, bis der Mangel behoben wird? Um es deutlicher zu sagen: Gerade beim Letztgenannten kommt es mir oft so vor, als ob mancherorts Beamte im Spiel sind, die nicht immer die Notwendigkeit, vor allem aber nicht die Dringlichkeit von Beschaffungen und Maßnahmen für unsere Soldatinnen und Soldaten in den Einsätzen sehen. Hier darf es, wenn es darauf ankommt, auch einmal keinen normalen Feierabend und keine Regelstundenzahl in der Woche geben. Ich will es auf den Punkt bringen: Im und für den Einsatz hat Bürokratie nichts zu suchen. Ich darf die in genau dieselbe Kerbe treffenden Worte des Ministers, die er bei der Kommandeurstagung der Bundeswehr in Dresden sagte, zitieren: Es gibt auch noch die andere Bundeswehr, ein System bürokratischer Regelungswut, die Praxis des Absicherns und des Nach-oben-Schiebens - melden soll angeblich frei machen. Wenn wir damit nicht Schluss machen, dann werden wir scheitern! Richtig, Herr Minister. Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang meine Hochachtung und meinen Dank aussprechen. Sie haben, neu im Amt, die Problematik, die schon seit langer Zeit bestanden hat, erkannt und bauen die Bundeswehr um. Ich weiß, dass es dabei nicht nur, was immer die Runde macht, um Kopfzahlen und Geld geht, sondern auch um Effizienz, um Effizienz, die helfen wird, auch diese Probleme zumindest zu minimieren. Das tun Sie nicht für uns - das weiß ich -, sondern für die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Dafür danke ich Ihnen und wünsche Ihnen tatkräftige Unterstützung aus diesem Haus und viel Erfolg auf diesem nicht ganz einfachen Weg. Sehr geehrte Damen und Herren, abschließend noch einige Sätze zum Stichwort „Rückhalt in der Gesellschaft“. In einer Woche feiern wir Weihnachten. Nichts ist schöner, als dieses Fest mit seiner Familie zu begehen. Viele Soldatinnen und Soldaten können dies nicht tun, weil sie im Einsatz sind und für unsere Sicherheit Leib und Leben riskieren. Es liegt an uns, ihnen dabei Rückhalt zu geben. Aber das ist nicht nur unsere Aufgabe. Es ist auch die Aufgabe aller gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen. Ein sichtbares Zeichen des Beistandes wäre beispielsweise ein Innehalten und Gedenken an unsere Soldaten bei größeren Veranstaltungen. Gerade in diesen Tagen würde ich mir dies von allen gesellschaftlichen Akteuren wünschen, denen ich zurufe: Seien Sie gedanklich bei unseren Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, und halten Sie für eine Minute inne! Herzlichen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zum Jahresbericht 2009 des Wehrbeauftragten auf den Drucksachen 17/900 und 17/3738. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ute Kumpf, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Engagementpolitik im Dialog mit der Bürgergesellschaft - Drucksache 17/3712 Hierzu ist vorgesehen, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Ute Kumpf das Wort. ({0})

Ute Kumpf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003166, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich vermisse jemanden auf der Regierungsbank. Ich weiß nicht, ob noch jemand aus dem zuständigen Hause kommt, um uns bei der Debatte zum bürgerschaftlichen Engagement zu begleiten. ({0}) Soweit dieses Feld die Ministerin interessiert, sollte sie sich ein bisschen mehr reinknien. ({1}) Ich sehe auch nicht den zuständigen Staatssekretär. Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind ja hier. Wir debattieren heute über ein sehr wichtiges Politikfeld, das wir am 5. Dezember immer sehr hoch halten, bei dem wir, wenn es zum Schwur kommt, in Bezug auf die Regierung aber auch Schwächen feststellen. Jeder von uns weiß, dass bürgerschaftliches Engagement für eine vitale Demokratie und für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft unabdingbar ist. Wer sich freiwillig engagiert, leistet in Eigenverantwortung und Eigeninitiative einen wesentlichen Beitrag für unsere Gesellschaft, mit dem Vertrauen und Solidarität gestiftet wird. Bürgerschaftliches Engagement hat viele Gesichter. Das wissen Sie alle. Sie alle sind in den Wahlkreisen unterwegs und kennen Ihren Teil von den 23 Millionen Menschen, die sich in insgesamt 550 000 Vereinen, 17 000 Stiftungen sowie in Genossenschaften, Netzwerken und Wohlfahrtsverbänden engagieren. Dieses Engagement verdient unsere Anerkennung und Wertschätzung und vor allem eine Politik, die die Förderung bürgerschaftlichen Engagements als Kernaufgabe versteht. Bürgerschaftliches Engagement kann nicht verordnet und darf nicht verzweckt und als Lückenbüßer missbraucht werden. Bürgerschaftliches Engagement ist nicht zum Nulltarif zu haben. Seit der Vorlage des Abschlussberichts der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ waren diese Punkte über alle Fraktionen in diesem Hause hinweg immer Konsens. Darauf aufbauend haben wir seit über zehn Jahren Politik für die Engagierten entwickelt. Noch in der Großen Koalition wurde im Januar 2009 der Prozess für eine nationale Engagementstrategie angestoßen. Wir, die SPD, waren und sind nach wie vor davon überzeugt, dass eine nationale Engagementstrategie nur im Dialog und auf gleicher Augenhöhe mit der Bürgergesellschaft entwickelt werden kann. ({2}) - Jetzt ist das Ministerium endlich auch vertreten, wenn auch nicht in Person der Ministerin, sondern eines entsprechenden Zuträgers. ({3}) Ich hoffe, er nimmt die Ergebnisse der Debatte auch mit. Ich hätte mir eine Ministerin gewünscht, die sich für dieses wichtige Politikfeld - vor zwei Wochen hat sie noch Preise für bürgerschaftliches Engagement verteilt - auch einmal nachmittags Zeit nimmt. Es wäre den Zeitaufwand von einer Stunde wert, sich einmal ein bisschen mit dem vertraut zu machen, was wir in den letzten zehn Jahren gemeinsam geleistet haben. Auch wenn wir hier nur ein kleiner, aber sehr engagierter Kreis sind, hätten wir die Aufmerksamkeit der Ministerin verdient. ({4}) - Ich hoffe es. ({5}) Die Bundesregierung hat zu Beginn der Legislaturperiode angekündigt, das Vorhaben einer nationalen Engagementstrategie, das wir 2009 in der Großen Koalition gemeinsam geschultert haben, weiter zu verfolgen. Als die nationale Engagementstrategie am 6. Oktober beschlossen wurde, gab es große Überraschungen, Enttäuschungen und natürlich auch höfliche Bekundungen, da man es sich mit dem zukünftigen Geldgeber natürlich nicht verscherzen will; das wissen Sie ja, Herr Grübel. Die beschlossene Engagementstrategie wurde aber durch die Haushaltsbeschlüsse konterkariert, die heftige Einschnitte bei Projekten vorsehen, die wir für wegweisend halten, um Engagement überhaupt zu ermöglichen. Es darf einen nicht wundern, dass kein Vertrauen wächst, wenn auf der einen Seite große Versprechungen gemacht werden, die sich dann auf der anderen Seite aber nicht in finanzieller Unterstützung niederschlagen. Ich will einige Beispiele nennen. Mit Engagement als Motor für Integration und Teilhabe will die Strategie den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Diesen Satz unterschreiben wir alle. Aber was macht die Regierung? Abrissbirne statt Abbau: Das Programm „Soziale Stadt“ soll nach dem Willen der Bundesregierung totgespart werden. Zukünftig darf nur noch in Beton, aber nicht mehr in Bürgerbeteiligung investiert werden. Zweites Beispiel. Mit Engagement für Bildung und individuelle Förderung will die Engagementstrategie faire Chancen in unserer Gesellschaft schaffen. Doch was geschieht konkret? Statt die Aussetzung der Wehrpflicht für einen entschlossenen Ausbau der Jugendfreiwilligendienste zu nutzen, errichtet die Bundesregierung mit dem neuen Bundesfreiwilligendienst Doppelstrukturen und schafft damit vor allem eine Verstaatlichung der Freiwilligenarbeit. Auch die angekündigten lokalen Bildungsbündnisse bleiben leere Versprechungen, wenn die föderale Zusammenarbeit nicht ernsthaft angegangen wird. Statt dass Bildungspäckchen geschnürt werden, fordern wir von der SPD, mehr Geld in Ganztagsschulen zu investieren und die Schule gemeinsam mit der Bürgergesellschaft zu einer Bürgerschule zu entwickeln, in der Engagement gelernt und auch erfahren wird. Drittes Beispiel. Die Engagementstrategie wirbt für die Bewahrung eines intakten Lebensumfeldes durch bürgerschaftliches Engagement: Auch das können wir unterstreichen. Dafür ist aber eine entsprechende Infrastruktur nötig, wie Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros und auch Selbsthilfegruppen, die vor Ort vermitteln, qualifizieren und unterstützen, sowie Netzwerke auf lokaler und Bundesebene. Doch auch hier wieder: Schall und Rauch. Der sowieso schon kleine Haushaltstitel für Infrastruktur, Netzwerke und Freiwilligenagenturen, der 2009 noch 2,3 Millionen Euro umfasste, wird in 2011 auf 1,6 Millionen Euro „eingedampft“. Die Bürgerstiftungen sollen hier als Ausfallbürgen einspringen, aber ich glaube, keiner von der Bundesregierung hat die Bürgerstiftungen je gefragt, ob sie dazu bereit sind, diese Aufgabe zu übernehmen. Letztes Beispiel. Mit der nationalen Engagementstrategie soll Engagierten durch die Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen geholfen werden. Auch dazu können wir sagen: Ja, das wollen wir. - Bei der konkreten Ausgestaltung herrscht aber Fehlanzeige. Es fehlen Aussagen zum Zuwendungsrecht und zum Bürokratieabbau. Dabei ist das Feld schon bearbeitet und beackert. Es gab eine Kommission im Bundeskanzleramt, die Vorarbeiten geleistet hat, es gibt Vorarbeiten von der Arbeitsgruppe im „Nationalen Forum für Engagement und Partizipation“, und es gibt Empfehlungen noch und nöcher, die wir aufgrund unserer Erfahrungen 2008 bei dem Gemeinnützigkeits- und Stiftungsrecht auch schon aufgegriffen haben, um praxistaugliche Lösungen zu finden. Wir sagen heute an dieser Stelle: Wir bieten unsere Mitarbeit dabei an, Ihre Engagementstrategie, die diesen Namen bislang noch nicht verdient, weiterzuentwickeln und weiter auszubauen. Gehen Sie auf die Vorschläge ein, die jetzt bei der Onlinebefragung bei Ihnen eingegangen sind, und entwickeln Sie tatsächlich einen Dialog mit der Bürgergesellschaft auf gleicher Augenhöhe, um eine Engagementstrategie auf den Weg zu bringen, die diesen Namen wirklich verdient! Wir sind dazu bereit. Zunächst einmal bitten wir aber um die Beantwortung unserer Großen Anfrage, damit wir im Jahr 2011 weiter mit Ihnen diskutieren - ich glaube, das wäre passend; denn das Jahr 2011 wird das Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit sein - und tatsächlich gemeinsam über die Fraktionen hinweg weiter eine nachhaltige Engagementpolitik hier in diesem Hause betreiben können. Danke schön. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat die Kollegin Dorothee Bär für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Staatssekretär! Frau Kollegin Kumpf, bevor Sie sich darüber beschweren, dass die Frau Ministerin nicht anwesend ist, um Ihrer großartigen Rede zu lauschen, die, lassen Sie es mich gelinde sagen, nicht so großartig war, sollten Sie lieber dankbar sein, dass die Ministerin an großartigen Programmen arbeitet, durch die die Arbeitsbedingungen der Ehrenamtlichen in diesem Lande verbessert werden. ({0}) Ohne bürgerschaftliches Engagement wäre unsere Gesellschaft ärmer - nicht nur im materiellen Sinne. Das hat unsere Fraktion gemeinsam mit unserem Koalitionspartner erkannt. ({1}) Nach den neuesten Ergebnissen des dritten Freiwilligensurveys engagieren sich 71 Prozent unserer Bundesbürgerinnen und Bundesbürger über 14 Jahren ehrenamtlich. Das sind sage und schreibe 23 Millionen Menschen. Ich freue mich über jeden Einzelnen, der dazu beiträgt, unsere Gesellschaft menschlicher zu machen, und der einen persönlichen Beitrag leistet, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Ich glaube, diese Hochachtung müssen wir denjenigen zollen, die das Tag für Tag, Woche für Woche und Monat für Monat in diesem Land tun. Sie tun das natürlich nicht nur in Nachbarschaftshilfen, in Sportvereinen, bei den Kirchen, bei den Feuerwehren, bei Rettungsdiensten, in Heimen und in Krankenhäusern. Ich möchte mich auch einmal ganz herzlich bei denjenigen bedanken, die sich politisch ehrenamtlich engagieren. Auch das ist sehr wichtig für unsere Demokratie. ({2}) Damit diese Begeisterung nicht nachlässt, müssen förderliche Rahmenbedingungen durch eine zukunftsfähige Engagementpolitik geschaffen werden, und zwar für alle Altersklassen, für Menschen mit und für Menschen ohne Migrationshintergrund, für Begabte, für Benachteiligte, für Frauen und für Männer. Das gilt natürlich nicht nur für die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger, nein, gerade auch die Jüngeren wollen sich aktiv einbringen. Wir haben zusätzlich zu den 35 Prozent der 14- bis 24-Jährigen, die sich bereits engagieren, weitere 49 Prozent, die angeben, dass sie sich vorstellen können, eine ehrenamtliche Tätigkeit zu übernehmen. Das heißt für mich ganz deutlich, dass es nicht out ist, sich ehrenamtlich zu engagieren, dass es nicht veraltet ist, sondern dass ein ganz großes, tiefes Bedürfnis vorhanden ist. Wir müssen auch die Rahmenbedingungen schaffen, damit man nicht über diejenigen, die sich ehrenamtlich engagieren, sagt: Bist du blöd, dich zu engagieren. - Vielmehr sollte man dies eigentlich über diejenigen sagen, die das nicht tun. Die Zahlen zeigen auch, dass junge Menschen keineswegs ichbezogen, lethargisch und desinteressiert sind, sondern sich sehr wohl engagieren wollen. Deswegen haben wir gemeinsam mit der FDP das tolle Modul der Jugendfreiwilligendienste und des neuen Bundesfreiwilligendienstes entwickelt. Ich freue mich sehr, dass im Anschluss meine Kollegen Markus Grübel und Dr. Peter Tauber dazu noch ausführlicher Stellung nehmen werden. ({3}) - Es würde auch schon helfen, wenn man nicht nur kritisiert, dass jemand nicht da ist. Es nützt nämlich auch nichts, sich hier nur den Hintern platt zu sitzen, Frau Kumpf, die ganze Zeit zu schwätzen und nicht aufzupassen. Da ist mir jemand lieber, der außerhalb des Parlaments arbeitet, statt dass jemand hier sitzt, der sich die ganze Zeit überhaupt nicht für die Debatte interessiert, aber schreit: Wir interessieren uns dafür wahnsinnig. ({4}) - Jetzt ist die SPD endlich auch aufgewacht. Exemplarisch für funktionierendes Engagement im kommunalen Bereich sind die Mehrgenerationenhäuser. Die 500 Häuser, die wir haben, arbeiten in der Regel äußerst erfolgreich. Die Häuser sind offen für die Menschen in Stadt, Gemeinde oder Landkreis. Das Konzept, das von der damaligen zuständigen Ministerin Frau von der Leyen vorgestellt und umgesetzt wurde, sieht vor, dass sich hier Menschen generationenübergreifend treffen, dass es Hilfe zur Selbsthilfe und ein neues nachbarschaftliches Miteinander gibt. Die Mehrgenerationenhäuser werden zu über 60 Prozent von ehrenamtlich Engagierten getragen. Das heißt, über 16 000 Freiwillige unterstützen die Arbeit in diesen 500 Häusern. Ich bin wahnsinnig froh, dass es uns als CDU/CSUBundestagsfraktion in vielen Gesprächen gelungen ist, dieses Erfolgsprojekt in die Zukunft zu tragen, darüber, dass wir es nicht nur im Koalitionsvertrag verankert haben, sondern wir nach einem Jahr der vielen Gespräche und Diskussionen sagen können: Dieses Erfolgsprojekt wird in die Zukunft getragen. Ich freue mich, dass wir ein neues Programm mit vier neuen Schwerpunktthemen haben. Eines davon ist für unsere Gesellschaft sehr wichtig, nämlich Alter und Pflege; hinzu kommen die Themen Integration und Bildung, haushaltsnahe Dienstleistungen und freiwilliges Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Der Förderzeitraum soll drei Jahre betragen, die Fördersumme wie bislang 40 000 Euro im Jahr. In Zukunft sollen sich aber auch die Kommunen daran beteiligen, wobei es ihnen freigestellt sein wird, ob sie dies durch Geld- oder durch Sachleistungen oder aber durch das Zurverfügungstellen von Personal tun. Insofern betone ich noch einmal, dass dies nicht nur ein Erfolg für uns ist, sondern ein großer Erfolg für jeden Einzelnen in diesem Lande, für diejenigen, die sich engagieren, aber auch für diejenigen, für die dieses Engagement angeboten wird. Es ist also ein ganz großartiges Zeichen für gelungene Engagementpolitik. Ein Letztes, meine lieben Kolleginnen und Kollegen: Ich bedanke mich bei denjenigen, die am Heiligen Abend, am 24. Dezember, Freiwilliges leisten. Ich richte dieses Dankeschön stellvertretend für alle an die CaritasStation in Haßfurt, die an diesem Tag für alle Alleinstehenden ein Weihnachtsfest veranstaltet, damit sie an diesem Tag nicht allein sein müssen. Vielen herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Heidrun Dittrich hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die nationale Engagementstrategie gibt vor, die Eigeninitiative der Bürger zu stärken. Aber welche Initiative ist gemeint? Viele Eltern, die Grundschulkinder haben, kennen das aus eigener Erfahrung: Es wird notwendig, ein Klassenzimmer zu streichen. Aber ach, die Stadtverwaltung hat kein Geld für ihre Schule. ({0}) Also streichen die Eltern das Klassenzimmer selbst. Besser wäre es, Sie streichen die Steuervergünstigungen bei den Reichen. Stellen Sie lieber den arbeitslosen Maler ein, damit er über guten Lohn am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann und in die Sozialversicherungssysteme einzahlt! Das wäre aus meiner Sicht besser, als ihm über Freiwilligen- oder Seniorenagenturen ein ehrenamtliches Engagement zu vermitteln. Wenn die Eltern selbst streichen, übernehmen sie Aufgaben des Staates, für die eigentlich er zahlen sollte. Ich frage mich: Wozu zahlen wir Steuern? Was macht die Bundesregierung mit unseren Steuern? Das Klassenzimmer wird jedenfalls nicht renoviert. Die Steuereinnahmen werden stattdessen dafür verwendet, die Steuerbelastung einer großen Hotelkette zu senken. Dafür ist sogar in der Wirtschafts- und Finanzkrise Geld da. Nehmen wir die 480 Milliarden Euro, die allein in der Bundesrepublik Deutschland für die Rettung der Banken bereitgehalten werden. Kein Wunder, dass dem Staat das Geld fehlt, um die Schulen zu sanieren. ({1}) Nicht Deutschland schafft sich ab, wie ein SPD-Mitglied kürzlich äußerte, sondern der Sozialstaat wird abgeschafft. Noch steht in Art. 20 unseres Grundgesetzes, dass wir ein sozialer Bundesstaat sind. Der hauptsächliche Inhalt des staatlichen Handelns sollte nicht die Umverteilung zu Unternehmen und Banken sein, sondern die Bereitstellung von Schulen und Kindertagesstätten und die Vorsorge bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Aber gerade dafür geht das Geld aus. An dieser Stelle bietet die nationale Engagementstrategie eine unternehmerfreundliche Lösung. Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin nicht dagegen, eine Stiftung für krebskranke Kinder ins Leben zu rufen - aber nicht zur Ergänzung sozialstaatlicher Aufgaben. Es wurde immer behauptet, der Sozialstaat sei nicht mehr bezahlbar. Erst wurde er arm gemacht, und jetzt wird er abgeschafft. ({2}) Beim bürgerschaftlichen Engagement sind die ganz Großen aber dabei. Die Deutsche Bank und die Bertelsmann AG sind bereit, mit Stiftungsmitteln staatliche Aufgaben privat zu finanzieren. Was geschieht ei8990 gentlich beim Einsatz von Stiftungsmitteln? Die Stiftungen erhalten einen Teil des eingesetzten Geldes vom Staat, also vom Steuerzahler, zurück. Gleichzeitig wird kostenlos Werbung gemacht. Außerdem wählen sie aus, wo ihr Geld eingesetzt wird. Jetzt wird es völlig undemokratisch: Diese Gelder fließen an den demokratischen Institutionen unseres Staates vorbei. Wir bestimmen nicht mehr durch Wahlen, Wahlprogramme oder das Parlament, wo die Kinder gleichmäßig zu fördern sind. Wir bestimmen nicht mehr, wie in den Kitas Gruppen verkleinert und mehr Erzieherinnen eingestellt werden können. ({3}) Nur einzelne Projekte werden befristet gefördert. Die eine Stadt hat Glück; die andere geht leer aus. Auch das widerspricht dem Grundsatz, gleiche Lebensbedingungen für alle herzustellen. Wer kennt sie nicht, die Sponsorenläufe in der Schule oder die Drittmitteleinwerbung, damit noch Bundeszuschüsse an Mehrgenerationenhäuser gewährt werden können? ({4}) Ihre Bürgergesellschaft ist das Gegenmodell zum Sozialstaat. ({5}) Sie ist der privatisierte Staat. Vorsorgeeinrichtungen wie private Krankenhäuser sollen Profit bringen. Bildung soll Geld kosten. Krankheit soll Geld kosten. Es ist demokratischer, wenn die großen Unternehmen höher besteuert werden und die Steuerhinterziehung beendet wird. Dann können soziale Leistungen dauerhaft bezahlt werden. Nur so stellen Sie den Sozialstaat wieder her. Was aber ist in diesem Land Realität? Freiwillige des neuen Bundesfreiwilligendienstes werden als Pflegedienstleistende mit Taschengeld oder gleich als Ehrenamtliche eingesetzt. Deutschland ist weltweit der Lohndrücker Nummer eins geworden, wie die Internationale Arbeitsorganisation in Genf feststellt. Das stempelt Deutschland zum Hauptschuldigen der Krise in Europa. ({6}) Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie die Menschen ernst in ihrem Engagement, statt das Ehrenamt zu benutzen, um in der Pflege Lücken zu schließen! Frau Bär hat sich schon dafür bedankt, aber sie meint es bestimmt anders als ich. Nehmen Sie die Menschen ernst, die gegen Stuttgart 21 sind! ({7}) Nehmen Sie die Menschen ernst, die in Gorleben und Lubmin gegen den Castortransport demonstrieren! ({8}) In Stuttgart haben sich Tausende für ihre Interessen eingesetzt. Das wurde mit einem Wasserwerfer beantwortet. Gehen Sie morgen um 9 Uhr zum Bundesrat! Dort wollen die Menschen gegen die ungerechte Hartz-IV-Gesetzgebung demonstrieren. Denn die Bürgerinnen und Bürger wollen nicht Niedriglohnland Nummer eins sein. Beenden Sie endlich die soziale Kälte in unserem Land! ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Florian Bernschneider hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Dittrich, ich bin immer wieder erschrocken, wie man so etwas überhaupt sagen kann. Sie müssen sich doch einmal vorstellen, was Sie den Menschen, die sich in diesem Land ehrenamtlich engagieren, mit solchen Äußerungen zumuten. Wie kann es denn sein, dass wir über bürgerschaftliches Engagement sprechen und Ihr zweiter Satz sich mit dem Mindestlohn beschäftigt? ({0}) Von dieser ewigen Platte, die wir auch aus dem Ausschuss kennen, sollten Sie sich irgendwann trennen; es wird nicht dadurch besser, dass Sie es ständig wiederholen. ({1}) Aber, liebe Frau Kumpf, ich verstehe auch, ehrlich gesagt, gar nicht, warum wir heute über diese Große Anfrage diskutieren, wenn zu ihr noch keine Antworten vorliegen. Sie haben vorhin angemahnt, dass Ihnen an einem Dialog mit der Bundesregierung liegt. Dann muss man eben auch abwarten, bis die Antworten auf die Fragen vorliegen, die man stellt, weil der Dialog ansonsten schwierig ist. ({2}) - Wenn man die Antworten aber nicht abwartet, dann ist es schwierig, darüber zu diskutieren. Es mag auch an meiner geringen Erfahrung als junger Abgeordneter liegen; aber ich glaube, es ist nicht gewöhnlich, dass man über eine Große Anfrage diskutiert, bevor die Antwort vorliegt. ({3}) - Das scheint jetzt in Ihrer Oppositionsarbeit gewöhnlich zu werden. Frau Kumpf, ich werde das Gefühl nicht los, dass diese Anfrage auch deswegen debattiert wird, damit die SPD in diesem Jahr noch einmal unter dem Stichwort „bürgerschaftliches Engagement und Engagementpolitik“ stattfindet; ({4}) denn es scheint Sie zu ärgern, dass wir hier mit großen Schritten vorankommen. Deswegen zählen Sie ja auch die engagementpolitischen Erfolge der SPD in den letzten Jahrzehnten in dieser Großen Anfrage noch einmal auf. Einerseits halte ich das für albern, andererseits kann ich Ihnen aber auch ehrlich sagen, dass ich es durchaus akzeptiere und die Erfolge sozialdemokratischer Engagementpolitik anerkenne. Ich glaube nur, dass es an dieser Stelle wenig bringt, sich in der Vergangenheit zu suhlen. Vielmehr sollten wir gemeinsam schauen, wo die Herausforderungen der Zukunft liegen. ({5}) Wir legen ja Modelle für die Zukunft vor. Das, was die Bundesregierung hier plant, nämlich den Ausstieg aus Zwangsdiensten hin zu Freiwilligkeit, ist ein historischer Wandel in der Engagementpolitik. Dann muss man sich aber auch entsprechend einbringen. Es werden 70 000 Freiwilligendienstplätze geschaffen - das ist der größte Zuwachs, der in diesem Bereich jemals geschehen ist -, und mit einer pauschalen Förderung in Höhe von 200 Euro in allen Diensten machen wir endlich mit den Unübersichtlichkeiten in den Förderstrukturen Schluss. Ein weiterer Punkt, den Sie ansprechen, ist das Freiwilligendienststatusgesetz. Natürlich müssen wir darüber sprechen; aber Sie müssen auch anerkennen, dass das Konzept, das wir hier vorlegen, ein guter Schritt zur Übersichtlichkeit bei den Freiwilligendiensten ist. ({6}) Wir schaffen es mit dem Bundesfreiwilligendienst, endlich eine langfristige Perspektive auch für den Einsatz Älterer in den Freiwilligendiensten aufzuzeigen, und wir fördern gerade diejenigen, die in den Freiwilligendiensten bisher zu kurz kommen, nämlich junge Menschen mit besonderem pädagogischen Förderbedarf. ({7}) Anstatt sich jetzt konstruktiv zum Beispiel in diese Diskussion einzubringen, Frau Kumpf, kritisieren Sie hier Doppelstrukturen, die wir mit diesem Bundesfreiwilligendienst und der Stärkung der Freiwilligendienste angeblich schaffen. ({8}) - Hören Sie doch einfach einmal zu! - Ja, meine Damen und Herren, es sind zwei Dienste, wie es früher übrigens auch war: der Zivildienst und die Freiwilligendienste. Aber im Unterschied dazu sorgen wir dafür, dass die Freiwilligen, die im Einsatz sind, auch tatsächlich die gleichen Rahmenbedingungen bekommen, ob es nun beim Gehalt, beim Taschengeld, bei den Urlaubstagen oder beim pädagogischen Begleitprogramm ist. Sie fordern hier von uns schlüssige Konzepte, die wir angeblich nicht haben. Konkret beim Punkt Freiwilligendienste appelliere ich noch einmal an die SPD, sich selber einmal Gedanken über Konzepte zu machen. ({9}) - Jetzt hören Sie doch einmal zu, Frau Kumpf! - Ihre stellvertretende Vorsitzende, die Sozial- und Gesundheitsministerin in Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, forderte in einer Pressemitteilung vom 19. November: Wir wollen stattdessen - also statt unseres Modells einen Bundesfreiwilligendienst auf Bundesebene. Hört her, so schlecht kann das also gar nicht sein, was wir da vorlegen. Am letzten Wochenende beschließt dann das SPD-Präsidium einen schwammigen Beschluss, in dem die Rede davon ist, dass Sie das Freiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr ausbauen wollen; denn Sie stellen in diesem Beschluss zu Recht fest, dass „die Jugendfreiwilligendienste, das freiwillige soziale, ökologische und demokratische Jahr, die in den vergangenen Jahren großen Zuspruch erfuhren, erfolgreich und langjährig erprobt sind“. Das sind die Dienste, die Sie ja eigentlich, wie es Ihre Sozialministerin sagt, abschaffen wollen. Sie wollen alles auf Bundesebene verlagern. Ihr Parteivorsitzender Sigmar Gabriel sagt danach in einem Interview, dass die Organisation für das FSJ aber zukünftig beim BAZ liegen solle - das verstehe ich auch nicht richtig -, und der Kollege von Frau Schwesig, Herr Nieszery aus MecklenburgVorpommern, hat mir bei der NDR-Info-Redezeit empfohlen, wir sollten einmal darüber nachdenken, ob wir nicht einen sozialen Pflichtdienst für alle wollen. In puncto Freiwilligendienste ist bei der SPD also für jeden etwas dabei, außer einem einheitlichen Konzept. Da Sie uns immer Doppelstrukturen vorwerfen, kann ich Ihnen nur empfehlen, Ihre eigenen Doppelstrukturen in der Beschlusslage zu untersuchen und sich bis dahin konstruktiv an der Debatte zu beteiligen. Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Britta Haßelmann hat jetzt das Wort für Bündnis 90/ Die Grünen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär Kues, ich habe das Gefühl, dass wir in dieser Debatte - das haben einige der Redebeiträge gezeigt - schon einmal sehr viel weiter waren; das finde ich bedauerlich. Das Thema bürgerschaftliches Engagement wurde einst - ich bin seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages; das sage ich in Ihre Richtung, Herr Bernschneider und Frau Bär von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag getragen. Es gab hier sehr viele Überschneidungspunkte. Man hat versucht, konstruktiv zusammenzuarbeiten und die positiven Elemente hervorzuheben, und hat ernsthaft über die Frage diskutiert, welchen Beitrag der Deutsche Bundestag neben den Ländern, den Kommunen sowie den vielen Initiativen, Verbänden und Institutionen zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements leisten kann. ({0}) Wir alle haben sehr ernsthaft darum gerungen. Bevor ich Mitglied des Deutschen Bundestages wurde, gab es eine Enquete-Kommission - das war der Ausgangspunkt -, in der alle Fraktionen festgestellt haben, dass es notwendig ist, dass sich der Deutsche Bundestag in der Verantwortung sieht, das bürgerschaftliche Engagement von Menschen in diesem Land zu fördern. Engagement trägt zu einer lebendigen Zivilgesellschaft bei. Vor diesem Hintergrund erscheinen mir manche Redebeiträge heute wirklich profan. Es tut mir leid, aber es geht hier nicht darum, kleinteilig aufzulisten, wer was gemacht hat. Von diesem Debattenniveau sollten wir uns verabschieden. Sonst macht ein gemeinsamer Unterausschuss zum bürgerschaftlichen Engagement, in dem bislang interfraktionell intensiv gearbeitet wurde, überhaupt keinen Sinn. Ich muss an dieser Stelle deutlich sagen: Ich bin genervt von solchen Redebeiträgen wie denen von der FDP und der CDU/CSU. Damit tun wir uns allen und dem Thema keinen Gefallen. ({1}) Wir können in der Sache darüber streiten, ob die eine oder andere Idee richtig oder falsch ist. ({2}) - In der Sache kann ich Ihnen gerne ein paar Beispiele nennen. Sie haben im Koalitionsvertrag vereinbart, sich drei Themen auf diesem Feld zu widmen. Das Erste ist ein Gesetz zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements. - Nichts! Ein solches Gesetz gibt es bisher nicht. Das Zweite ist: Sie wollten geeignete Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Infrastruktur und Stabilisierung von Engagement und Partizipation schaffen. - Nichts! Fehlanzeige! Der gesamte Prozess zur Infrastrukturförderung ist regelrecht eingestampft. Darüber wird mit den Ländern und Kommunen nicht mehr diskutiert. Das Dritte ist: Sie wollten einen Entwurf des Freiwilligendienstestatusgesetzes vorlegen. - Auch hier Fehlanzeige! Niemand weiß, ob dieses Gesetz noch kommt. Das sind die Fakten; die wollten Sie doch hören. Ein weiterer Punkt. Im Haushaltsjahr 2011 wird der Haushaltstitel 68472 zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements von 2 Millionen Euro um 400 000 Euro bzw. 20 Prozent gekürzt. Sie wollten doch ein paar Fakten hören. Das sind die Fakten. Sagen Sie angesichts dessen also nicht, wie toll Sie von Schwarz-Gelb das bürgerschaftliche Engagement fördern! ({3}) Ich nenne Ihnen gerne weitere Fakten. Sie haben in der letzten Legislaturperiode in der Großen Koalition, unterstützt durch uns Grüne, vereinbart, auch Menschen, die im Arbeitslosengeld-II-Bezug sind, eine Aufwandspauschale als Anerkennung zukommen zu lassen, die nicht auf den ALG-II-Satz, also auf das Geld, das man nach dem SGB II bekommt, angerechnet wird. Alle diese Vereinbarungen, die Sie, CDU/CSU und SPD, damals gemeinsam vorgeschlagen haben, wurden jetzt in den Haushaltsplanberatungen sang- und klanglos unter dem Stichwort SGB II einkassiert und nicht weiter berücksichtigt. Als ich die Kollegen von der CDU/CSU darauf ansprach, wussten sie das nicht einmal. So sieht Förderung des bürgerschaftlichen Engagements bei Ihnen anscheinend aus. ({4}) Ich finde, wir tun dem Thema keinen Gefallen - deshalb bin ich auch so ruhig gestartet -, wenn wir uns streiten; denn eigentlich stellt sich in Zeiten einer öffentlichen Debatte über Stuttgart 21, eines Volksentscheids in Hamburg oder von Diskussionen in vielen Städten und Kommunen über Teilhabe, Partizipation und Bürgerhaushalte doch für uns alle im Deutschen Bundestag eine ganz zentrale Frage: Wie können wir diejenigen einbeziehen, die sich beteiligen wollen, die teilhaben wollen, die vielleicht nicht Mitglied einer Partei, eines Gemeinderates oder einer Fraktion sein wollen, die sich aber um ihr Gemeinwesen Gedanken machen und Verantwortung übernehmen wollen? ({5}) Wie können wir deren Arbeit anerkennen? Wie können wir diese Arbeit fördern und absichern, indem wir zum Beispiel Freiwilligenagenturen oder andere Anlaufstellen in der Infrastruktur absichern? Über solche Fragen haben wir zu diskutieren. ({6}) Wir reden hier nicht über Klein-Klein, wie Sie es getan haben, Frau Bär, indem Sie gesagt haben, wie toll die Ministerin ist. ({7}) Verdammt noch mal, diese Luftblasen, die in der nationalen Engagementstrategie aufgeschrieben sind, sind es doch nicht wert, dass wir uns in der Tiefe lange damit beschäftigen. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Markus Grübel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz der schrillen Töne: Deutschland ist ein wunderbares Land, ({0}) nicht wegen seiner wunderschönen Weihnachtsmärkte und der Schneelandschaft, sondern weil es einen wertvollen Schatz hat, nämlich das hohe bürgerschaftliche Engagement der Menschen. Über 23 Millionen Menschen engagieren sich ehrenamtlich. Sie sagen: Das ist mein Land, darum engagiere ich mich. Das ist meine Stadt, darum engagiere ich mich. Das ist mein Verein, das ist meine Schule, das ist mein Anliegen, das ist mein Ideal, das sind meine Werte, darum engagiere ich mich. Die Menschen fördern freiwillig das Gemeinwohl. Sie spenden Zeit, sie spenden Geld, und sie stiften ihr Vermögen über die Pflichtabgaben, die der Staat verlangt, hinaus. Das ist das Besondere an Deutschland, und dafür darf ich hoffentlich für uns alle ganz herzlich Danke sagen. ({1}) Auf zwei Punkte aus der Großen Anfrage und aus den Beiträgen der Oppositionsredner möchte ich besonders eingehen. Der erste Punkt ist die nationale Engagementstrategie. Eine solche Strategie gab es bisher noch nicht; jetzt gibt es sie. In der Strategie werden Grundsätze genannt, Prinzipien und Ziele formuliert und konkrete Maßnahmen aufgeführt. Die nationale Engagementstrategie hat fünf inhaltliche Schwerpunkte von hoher gesellschaftlicher Relevanz: Integration, Bildung, Bewahrung der Schöpfung, demografischer Wandel und internationale Zusammenarbeit. Diese fünf Punkte - wir hören es in fast jeder Rede hier im Bundestag - bilden die großen Herausforderungen der nächsten Jahre. Die Ziele sind eine Verbesserung der Zusammenarbeit von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft bei der Engagementförderung, um die Schwerpunkte, die ich genannt habe, besser zu befördern, ein besseres Miteinander der Bundesministerien, um Synergien zu fördern - kein Nebeneinander bei der Engagementpolitik, sondern ein Miteinander -, eine bessere Koordinierung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, die Einbeziehung von Stiftungen und die Anerkennung und Wertschätzung der Freiwilligen. All dies steht in der nationalen Engagementstrategie, und all dies ist gut. Die Strategie ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. ({2}) Ihre Kritik, Frau Kumpf, ist für mich Oppositionsritual an der Arbeit der Regierung. Ich glaube, wir sollten uns daran nicht so lange aufhalten. ({3}) Die nationale Engagementstrategie ist aber nicht, einmal vom Kabinett am 6. Oktober beschlossen, zur allgemeinen und ständigen Verehrung freigegeben, sondern es ist eine Strategie, die lebt und weiterentwickelt werden wird. Wir haben gerade den Internetbeteiligungsprozess. Jede und jeder in Deutschland kann sich an dieser Strategie beteiligen. Unter engagementzweinull.de kann noch bis morgen Abend, 17. Dezember, jeder Anmerkungen, Ergänzungen und Vorschläge machen sowie Kritik an dieser Strategie äußern. Nach Vorliegen der Ergebnisse werden wir uns im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ wieder mit der nationalen Engagementstrategie befassen und diese weiterentwickeln. Lassen Sie mich auf eine zweite Kritik eingehen, die hier genannt wurde. Sie betrifft den neuen Bundesfreiwilligendienst. Schauen wir uns einmal die Zahlen an: Der Bund wird künftig die Freiwilligendienste mit 350 Millionen Euro fördern. ({4}) Die Länder geben etwas mehr als 12 Millionen Euro, und 8 Millionen Euro kommen aus dem Europäischen Sozialfonds. Schon ein oberflächlicher Blick auf die Zahlen macht deutlich, dass das Geld schwerpunktmäßig vom Bund kommt, weshalb die Forderung der SPD, dieser Dienst solle in Verantwortung der Länder durchgeführt werden, an unserer Verfassung vorbeigeht. Sie alle haben in Ihren Schubladen das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Darin ist eindeutig geregelt: Die Finanzierungskompetenz folgt der Verwaltungskompetenz.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Grübel, möchten Sie eine Frage des Kollegen Gehring zulassen?

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie starten gerade mit dem Selbstlob, dass Sie aus dem Zivildiensthaushalt 300 bis 350 Millionen Euro für den Bundesfreiwilligendienst aufwenden. Jetzt ist es aber so, dass im Zivildienstetat knapp 600 Millionen Euro sind. Was tun Sie überhaupt im Sinne von Zivildienstkonversion? Was wird getan, um den Pflegenotstand zu beheben? Wo sind die Konzepte, die Angebote, die konkreten Strukturen und die Vorgaben, die man den Sozial- und Pflegeeinrichtungen machen kann? ({0}) Das fehlt definitiv. Dabei ist allen klar - selbst die Ministerin formuliert das so -, dass die jetzigen Zivis nicht allein durch Bundesfreiwilligendienstleistende ersetzt werden können. Die spannende Frage ist: Was ist eigentlich mit den 200 bis 250 Millionen Euro, die bisher nicht verplant sind? ({1}) Sollen die zum Stopfen von Haushaltslöchern benutzt werden, oder was machen Sie damit?

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Gehring, es sind rund 2 Millionen Menschen in Deutschland im Bereich der Pflege beschäftigt. ({0}) Wir hatten im letzten Jahr 92 000 Zivildienstleistende. Sie haben einen wertvollen und wichtigen Beitrag geleistet. Nicht umsonst ist der Begriff „Zivi“ für unsere Zivildienstleistenden zu einem Markenbegriff geworden. Die Pflege wird auch ohne die Zivildienstleistenden funktionieren müssen. Wir haben den Zivildienst ja so organisiert, dass es nicht zwingend notwendige Arbeiten sind, die die Zivildienstleistenden ausführen, sondern ergänzende Tätigkeiten. ({1}) Wir nutzen jetzt einen Teil des Geldes für den Pflichtdienst, und zwar einen großen Teil, um die Freiwilligendienste in Deutschland zu stärken. ({2}) Wenn es früher über 700 Millionen Euro waren, ist natürlich die Frage berechtigt: Was ist mit dem Geld? Wir haben schon einen Teil wegen der Verkürzung des Zivildienstes eingespart. Es ist für eine Regierung sicherlich ehrenwert, wenn ein Teil des Geldes in die Haushaltskonsolidierung fließt, um die Schuldenaufnahme zu verringern oder Schulden abzubauen. ({3}) Die Finanzierungskompetenz, so hatte ich gesagt, folgt der Verwaltungskompetenz. Der Bund finanziert die Freiwilligendienste überwiegend. Dazu möchte ich Ihnen noch etwas sagen: Bayern und Baden-Württemberg bringen den größten Teil der 12 Millionen Euro auf Länderseite auf. Abgeordnete aus Ländern, in denen die SPD regiert, sollten sich davon einmal eine Scheibe abschneiden und ihre Landesregierungen auffordern, die Jugendfreiwilligendienste deutlich stärker zu stützen und zu finanzieren. Dann gäbe es auf dem Wege noch etwas mehr. Die Kritik, die Sie geäußert haben, halte ich für völlig unangebracht. Wir können feststellen: Es sind 70 000 Freiwilligendienststellen. Es gab noch nie so viele geförderte Freiwilligendienststellen in Deutschland. Es wurde noch nie so viel Geld eingesetzt, um Freiwilligendienste in Deutschland zu fördern. ({4}) Das ist ein gutes Ergebnis der Arbeit der christlich-liberalen Koalition. Damit können wir uns durchaus sehen lassen. „Tu was für Dein Land! - Tu was für Dich!“, unter diesem oder einem ähnlichen Motto gibt es künftig ein breites Angebot an Freiwilligendiensten, ein Angebot, so breit und vielfältig wie unsere Gesellschaft: in den Bereichen Soziales, Ökologie, Kultur, Sport, Integration, Zivil- und Katastrophenschutz. Auch in Verantwortung des Verteidigungsministers gibt es einen freiwilligen Wehrdienst. ({5}) Ob Pflegekittel oder Flecktarn, ob Feuerwehrhelm oder Sportdress - künftig ist vieles freiwillig möglich. Die Felder für die Freiwilligendienste werden deutlich breiter. Ich glaube, das ist eine gute Bilanz. Wir haben ein gutes Ergebnis erzielt. Das ist ein deutlicher Fortschritt für das Engagement in Deutschland. Wir werden die Debatte im Frühjahr noch einmal führen, wenn die Antwort der Bundesregierung vorliegt. Ich freue mich auf dieses Gespräch, das wir hier im Plenum, im zuständigen Fachausschuss, dem Familienausschuss, und im Unterausschuss „Bürgerschaftliches Engagement“ führen werden. Ich denke, es wird gute Antworten auf die Fragen geben, die die SPD-Fraktion in der Großen Anfrage gestellt hat. Herzlichen Dank. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Gerold Reichenbach hat jetzt das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist allgemein anerkannt: Im Bereich des freiwilligen Engagements unserer Bürger spielt Anerkennungskultur eine große Rolle. Aber damit, liebe Vertreter der Regierungsfraktionen, ist nicht gouvernementales Selbstlob gemeint, wie wir es hier erlebt haben. Damit ist Anerkennung für die Bürger gemeint, die sich draußen im Lande freiwillig engagieren. Ich möchte das für meine Fraktion auch einmal zum Ausdruck bringen: Danke an all diejenigen, die sich tagaus, tagein in Sportvereinen, karitativen Vereinen, sozialen Organisationen, Kulturvereinen, Hilfsorganisationen, Feuerwehren, KirGerold Reichenbach chengemeinden und Moscheevereinen freiwillig engagieren. Wir haben diese Anfrage gestellt, weil wir den Verdacht haben - und vieles von dem, was Sie vorgetragen haben, begründet ihn -, dass hinter diesem Begriff der Engagementstrategie weniger eine wirkliche Strategie - die Kollegin der Grünen-Fraktion hat das angesprochen - zur Weiterentwicklung des guten Bestehenden steckt, das wir gemeinsam entwickelt haben, sondern eher eine - ich sage es einmal vorsichtig - PR-Strategie dieser Regierung, ({0}) auch um zu verdecken, was inzwischen schon wieder kaputtgemacht wird. Das Programm „Soziale Stadt“ wurde angesprochen. Ich sehe das in meinem eigenen Wahlkreis. Dort ist im Rahmen dieses Programms ein großes, breit angelegtes freiwilliges Engagement der Bürger zur Wohnumfeldverbesserung und zur Integration entwickelt worden. ({1}) Die dürfen demnächst nur noch Backsteine bezahlen. Wir beide haben gemeinsam dafür gekämpft, dass das Vorstandsmitglied der karitativen Hilfsorganisation in meiner Heimat, das gerade keine Arbeit hat, bei der Aufwandspauschale nicht schlechtergestellt wird als das Vorstandsmitglied, das ein Bankdirektorengehalt erhält. ({2}) Das wird wieder kaputtgemacht. Das verstehe ich nicht unter Anerkennungskultur, sondern das ist eher eine Zerstörung des Bestehenden. Wir haben auch den Verdacht, dass Sie andere Strukturen teilweise weniger aus sachlichen Gründen, sondern sozusagen aus innerer Koalitionsnot - zum Teil sogar aus innerer Parteinot - aufbauen, deren Weiterentwicklung nicht sinnvoll ist. Ich nenne das Beispiel Freiwilligendienst. Es geht doch darum, dass die Parallelstrukturen, die Sie jetzt in Bundeshand aufbauen, kein echter Freiwilligendienst sind, sondern - das liegt ja in der Logik; wahrscheinlich machen Sie das auch, um die Akzeptanz innerhalb der Union zu fördern - ein Pendant zum „freiwilligen Pflichtdienst“, zu der nach wie vor aufgehobenen, aber weiter existierenden Wehrpflicht. ({3}) Dabei nehmen Sie in Kauf, dass Doppelstrukturen entstehen. Gegen die Ausweitung haben wir nichts; darüber kann man sprechen. Aber wenn man das freiwillige Engagement der Bürger breit fördern will, warum erweitert man dann nicht einfach die bestehenden Strukturen im Freiwilligen Sozialen Jahr und im Freiwilligen Ökologischen Jahr und baut sie aus? Das hätten wir für eine sinnvolle Strategie gehalten. ({4}) Der einzige Grund, den ich erkennen kann, ist, dass man das Instrument des Pflichtdienstes in der Zukunft nicht ganz weglassen will. Dann hat man einen freiwilligen Pflichtdienst, den man Bundesfreiwilligendienst nennt. ({5}) Ich nenne ein zweites Beispiel: den Bereich der Mehrgenerationenhäuser. In diesem Bereich sind Strukturen aufgebaut worden. Bundesweit - in den Ländern werden sie zum Teil mit unterschiedlichen Modellen gefördert; wir alle haben im Unterausschuss darüber diskutiert - gibt es eine ganze Reihe von bewährten Instrumenten. Ich nenne die Freiwilligenagenturen, die gerade im Bereich der Betreuung älterer Bürger, im Bereich der Pflege, im Bereich der sozialen Zuwendung eine ganze Menge aufgebaut haben. Jetzt wird ein großes Programm für Mehrgenerationenhäuser aufgepfropft. Was passiert eigentlich mit dem Programm, das schon besteht? Statt es auszubauen bzw. auszuweiten, werden neue Etiketten unters Volk gebracht. Unser Verdacht ist: Das dient nicht dazu, die Strukturen voranzubringen, sondern dazu, um sagen zu können: Wir haben etwas gemacht. - Das ist nicht im Interesse der Freiwilligendienste. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kommen Sie bitte zum Ende.

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das fragen wir konkret ab. Wir wollen auch wissen, wie es um die anderen angekündigten Vorhaben steht. Sollen die auch im Rahmen einer PR-Aktion abgearbeitet werden, oder sollen sie doch real abgearbeitet werden?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege?

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir freuen uns auf Ihre Antworten. Dann werden wir mit Ihnen auch gerne in einen konstruktiven Dialog eintreten. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Heinz Golombeck hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Heinz Golombeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004042, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bürgerschaftliches Engagement ist eine tragende Säule unserer freiheitlichen Demokratie. In Deutschland engagiert sich gut ein Drittel der Bevölkerung in Vereinen, Verbänden und Initiativen. Die Engagierten fördern den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens. Dieses Gemeinwesen ist ein wesentliches Element der aktiven Bürgergesellschaft. Engagierte Menschen gestalten nicht nur ihr individuelles Leben, sondern auch das staatliche Gemeinwesen aktiv mit. Gerade jetzt, in der Vorweihnachtszeit, ist die Arbeit ehrenamtlicher Helfer besonders wichtig. Ich denke hier beispielsweise an Bürgerinnen und Bürger, die mit sogenannten Kältebussen unterwegs sind oder die in Suppenküchen aushelfen. Es haben nicht alle das Glück, die Feiertage in der Geborgenheit ihrer Familie an einem geschmückten Weihnachtstisch und bei einem Festessen zu verbringen. Insbesondere für jene Menschen, die einsam und verlassen sind, frieren und Hunger haben, leisten ehrenamtliche Helfer in diesen Tagen Unermessliches. ({0}) Wir hatten bereits im Koalitionsvertrag angekündigt, eine nationale Engagementstrategie auf den Weg zu bringen. Vor kurzem wurde diese nun verabschiedet. Meine Damen und Herren, Sie sehen, die christlich-liberale Koalition hält Wort und setzt den Koalitionsvertrag um. ({1}) Die nationale Engagementstrategie hebt das bürgerschaftliche Engagement als wesentliche Form der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hervor. Die Strategie zielt nicht nur auf ein generationenübergreifendes Engagement zwischen jungen und alten Menschen ab; sie fördert ebenso die Einbindung von Migrantinnen und Migranten. Unser Ziel ist es, die geeigneten Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Infrastruktur und zur Stabilisierung von Engagement zu schaffen. Hieran werden wir in dieser Legislaturperiode weiter arbeiten. Die nationale Engagementstrategie ist der erste Schritt zur Umsetzung dieser Ziele. Bürgerschaftliches Engagement ist nicht nur eine gewachsene Säule; es schlägt auch Brücken. Es trägt dazu bei, dass Europa näher zusammenrückt. In der Europäischen Union leisten Millionen von Bürgerinnen und Bürgern aller Altersschichten einen positiven Beitrag hierzu. Die Europäische Kommission sieht die Freiwilligentätigkeit als gelebte Bürgerbeteiligung, die gemeinsame europäische Werte wie Solidarität und sozialen Zusammenhalt stärkt. Daher wurde beschlossen, das Jahr 2011 zum Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit auszurufen. Die Bundesregierung wird dies aktiv unterstützen. Ich möchte hier von dieser Stelle aus allen Bürgerinnen und Bürgern, die sich engagieren und ehrenamtlich tätig sind, noch einmal meinen Dank aussprechen. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Peter Tauber hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem 6. Oktober dieses Jahres hat Deutschland erstmals eine nationale Engagementstrategie. Das ist erst einmal eine positive Botschaft. Ich finde es durchaus schade, dass die Oppositionsfraktionen auch hier schon wieder den Eindruck erwecken, sie seien einfach nur dagegen. ({0}) Sicher ist das nur ein erster Schritt, dem weitere folgen müssen. Ich glaube aber, die Tatsache, dass wir diese nationale Engagementstrategie haben, ist erst einmal eine gute Sache, weil dadurch eines deutlich wird: Bürgerschaftliches Engagement und Ehrenamt sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Ich möchte an die vier Ziele der Engagementstrategie erinnern. Das erste Ziel ist eine bessere Abstimmung zwischen den Kommunen, den Ländern und dem Bund. Das ist auch dringend nötig. Das zweite Ziel ist, Stiftungen und Unternehmen weiterhin eng in diesen Prozess einzubinden. Ich kann die Kritik der Linkspartei am Stiftungswesen und dessen Zunahme in Deutschland überhaupt nicht teilen. Es ist gelebte soziale Marktwirtschaft, wenn Unternehmen die Rahmenbedingungen schaffen, damit sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ehrenamtlich engagieren können. Das ist aller Ehren wert und darf an dieser Stelle einmal positiv erwähnt werden. ({1}) Der dritte Punkt - das ist schon genannt worden - ist die Anerkennung und Wertschätzung derer, die sich engagieren. Dabei geht es eben nicht, wie Sie es zum Teil suggerieren, um eine materielle Besserstellung. Viele Menschen, die sich engagieren, wünschen sich einfach, dass man das anerkennt und wertschätzt und dass man das auch einmal sagt. Ich glaube, das sollten wir in der Tat ein bisschen öfter tun. Dazu kam vonseiten der Opposition etwas wenig; das hätten Sie stärker betonen können. Der vierte Punkt - auch das ist wichtig - sind die Rahmenbedingungen vor Ort. Da wundere ich mich schon über Ihre Ausführungen; denn genau das machen wir. Mit dem Feuerwehrführerschein, den das Kabinett am 15. Dezember beschlossen hat, wurde die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich Bürgerinnen und Bürger unbürokratischer engagieren können und der Grund, warum sie sich engagieren, im Mittelpunkt steht. Deshalb muss man dem Bundesverkehrsminister wegen der Änderung des Straßenverkehrsgesetzes an der Stelle herzlich Danke sagen. ({2}) Warum ist eine solche Strategie notwendig? Wir könnten doch sagen: Alles ist ganz wunderbar. Das Ehrenamt ist in der freiwilligen Feuerwehr, im Sport, in der Musik, in der Kultur, im sozialen Engagement, in den Tafeln und in der Hospizbewegung fest verwurzelt. - Wir wissen aber auch, dass unsere Gesellschaft vor dramatischen Veränderungsprozessen steht, und zwar wegen des demografischen Wandels und der steigenden Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund, die in ihrem Kulturkreis diese Form des Engagements sehr oft gar nicht kennen und denen wir es vermitteln müssen. Deswegen ist es richtig, dass wir eine solche Strategie auf den Weg gebracht haben und dass wir diejenigen, die sich engagieren, ermutigen, sich selbst zu vernetzen. Dafür gibt es gute Beispiele. Ein Beispiel ist das Onlinenetzwerk www.weltbeweger.de der Stiftung Bürgermut. Warum ist das so wertvoll? Weil wir wollen, dass Menschen erleben, dass sie, wenn sie ein Problem in die Hand nehmen, eine Perspektive für sich selbst und für die Menschen schaffen können, für die sie sich engagieren. Dann werden sie nämlich merken, dass sie selbst oft etwas bewegen können, was die Politik - so hat es der Geschäftsführer der Stiftung Bürgermut formuliert - nie leisten könnte. Dabei ist wichtig: Es geht nicht, wie Sie unterstellen, um den Rückzug des Staates aus gewissen Bereichen. Es geht nicht um die Botschaft, dass Bürgerinnen und Bürger etwas leisten, was der Staat nicht finanzieren kann; denn niemand engagiert sich, um die Haushalte seiner Kommune, des Landes oder des Bundes zu entlasten, sondern Menschen engagieren sich aus Begeisterung für eine Sache. Das steht im Mittelpunkt. Das muss man einmal deutlich sagen. ({3}) Die Menschen erfahren Gemeinschaft. Sie erleben Verantwortung als positive Herausforderung, die Spaß machen kann, und sie erleben Anerkennung. Das ist der zentrale Punkt. Man muss lernen, Verantwortung zu übernehmen. Deshalb sind uns junge Menschen, Jugendfreiwilligendienste und der neue Bundesfreiwilligendienst so wichtig. Darüber, was wir hier auf den Weg bringen, haben Sie jahrelang nur geredet. Das muss man an dieser Stelle einmal ganz deutlich sagen. Wir sagen den jungen Menschen, dass sie gebraucht werden. ({4}) - Frau Kumpf, dafür, dass Sie das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen haben, was eine wirklich würdige Auszeichnung ist, rufen Sie erstaunlich oft dazwischen. Hören Sie doch einfach einmal zu. ({5}) Schreien Sie nicht immer dazwischen. ({6}) Wir wollen junge Menschen motivieren, Verantwortung zu übernehmen. Die Botschaft „Tu was für Dein Land! - Tu was für Dich!“ ist genau richtig. Dasselbe gilt für die ältere Generation; auch sie wollen wir mitnehmen. Grundsätzlich gilt: Die nationale Engagementstrategie ist ein Schritt zur Stärkung einer aktiven Bürgergesellschaft, in der Menschen füreinander Verantwortung übernehmen und Solidarität leben, statt nach dem Staat zu rufen und sich umzudrehen, wenn sie Probleme sehen. ({7}) - Frau Dittrich, Sie sollten jetzt einmal genau zuhören; vielleicht trägt das dazu bei, dass Sie einmal eine neue Platte auflegen. Die größte Gefahr für diese Art von Bürgerkultur, die eine feste Säule der Kultur in Deutschland ist, besteht in einem paternalistischen Staatsverständnis, wie Sie es propagieren, nach dem der Staat für alles sorgt und die Menschen nicht füreinander Verantwortung übernehmen müssen. Ich persönlich fühle mich in einer Gesellschaft nicht wohl, in der der Staat fürsorglich über alle wacht. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der Menschen Verantwortung übernehmen und füreinander einstehen, weil nur das - dies muss das Ziel sein - den Zusammenhalt und das Miteinander stärkt. Die nationale Engagementstrategie ist ein Beitrag dazu. Ich freue mich auf die weitere Debatte, die in der Tat heute erst beginnt. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung ({0}) - Drucksache 17/4182 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Es ist verabredet, hierüber eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Koschyk das Wort.

Hartmut Koschyk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001186

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung wollen wir dazu beitragen, den Wirtschaftsstandort Deutschland noch wirksamer vor Geldwäsche, aber auch - das ist ein sehr aktuelles Thema - vor Terrorismusfinanzierung zu schützen. Dazu soll der Katalog der Vortaten des Straftatbestandes der Geldwäsche um die Delikte der Marktmanipulation, des Insiderhandels sowie der Produktpiraterie erweitert werden. Damit ist das unabdingbare international abgestimmte Vorgehen im Rahmen des dafür zuständigen internationalen Gremiums für Maßnahmen zur Bekämpfung von Geldwäsche verbunden, das auf den schönen englischen Namen Financial Action Task Force on Money Laundering, FATF, hört. Die 36 Mitgliedstaaten dieses Gremiums haben jetzt Standards vereinbart, um Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung staatenübergreifend besser bekämpfen zu können. Die Erweiterung des Geldwäschestraftatbestandes im vorliegenden Gesetzentwurf wird ein wichtiger Beitrag, Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung in Deutschland noch wirksamer zu verhindern. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen terroristischen Bedrohung ist es wichtig, dass wir das Thema über das von Schwarz-Gelb eingebrachte Schwarzgeldbekämpfungsgesetz hinaus mit anderen Gesetzgebungsvorhaben energisch und entschlossen angehen. Die von der FATF im Finanzsektor identifizierten Defizite wollen wir mit dem Gesetz zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie beseitigen. Dabei soll insbesondere der Maßstab der Sorgfaltspflichten, den die Institute bei Risikogeschäften einzuhalten haben, vollständig an den internationalen Standard angepasst werden. Die institutsinternen Sicherungsmaßnahmen gegen Geldwäsche und das Risikomanagement der Institute werden ebenfalls auf FATF-Standard angehoben. Dieses Gesetz soll bereits im März 2011 in Kraft treten. Darüber hinaus werden Änderungen im Aktiengesetz erforderlich sein, insbesondere in Bezug auf Namensbzw. Inhaberaktien, um damit dem Petitum der FATF nach mehr Transparenz im Wertpapiergeschäft Rechnung zu tragen. Quellen von Schwarzgeld müssen nicht nur illegale Geschäfte sein; auch legale Formen der Anlage im Ausland haben in den vergangenen Jahren eine Sogwirkung auf Kapital von deutschen Anlegern ausgeübt. Die Erträge aus diesen Anlagen sind häufig nicht bei der Steuererklärung in Deutschland angegeben worden, auch aufgrund der Einschätzung, dass ein deutscher Finanzbeamter niemals einen Hinweis auf Konten im Ausland erhalten wird. Dieser Umstand führte dazu, dass mittlerweile erhebliche Milliardenbeträge von nicht in Deutschland versteuerten Geldern im Ausland lagern und so der Besteuerung in Deutschland entzogen sind. Selbst die von der rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2004 durchgeführte Steueramnestie hat zu keiner flächendeckenden Bewegung hin zu mehr Steuerehrlichkeit in Deutschland geführt. Letztendlich hat der Ankauf von Steuerdaten, die wir nach der klaren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in den Verfahren verwerten dürfen, den alles entscheidenden Impuls gebracht. Aus Angst vor Entdeckung haben Zehntausende die Reißleine gezogen, eine Selbstanzeige gemacht und sich den Finanzämtern offenbart. Allein aufgrund der Selbstanzeigen aus dem Jahr 2010 können wir mit Steuermehreinnahmen in Höhe von rund 2 Milliarden Euro rechnen. Die christlich-liberale Koalition ist entschlossen, diese Praxis der Steuerhinterziehung zu beenden. Wir wollen mehr Steuerehrlichkeit in Deutschland. Deshalb erhöhen wir mit diesem Gesetzentwurf den Druck auf die Steuerhinterzieher. Wir zwingen sie in Zukunft, sich vollständig zu offenbaren. Wer der Bestrafung entgehen will, der muss künftig eine steuerliche Lebensbeichte ablegen; so will ich es einmal formulieren. Mit der Salamitaktik machen wir Schluss. ({0}) Damit das auch wirklich jeder versteht: Die strafbefreiende Selbstanzeige ist künftig die letzte Chance für Steuersünder. Als Spielzeug für Taktierer hat die strafbefreiende Selbstanzeige ausgedient. ({1}) Die in dem Gesetzentwurf vorgesehenen Verschärfungen stärken die Steuergerechtigkeit, und sie machen unmissverständlich klar, dass die christlich-liberale Koalition Ernst macht im Kampf gegen Steuerhinterziehung in Deutschland. ({2}) Die sogenannte Teilselbstanzeige wird es künftig nicht mehr geben. Steuerhinterzieher werden sich nicht mehr scheibchenweise, je nach aktuellem Entdeckungsrisiko strafbefreiend erklären können. Straffrei wird in Zukunft nur der bleiben, der alle hinterzogenen Steuern offenbart. Der Zeitraum für die Inanspruchnahme der strafbefreienden Selbstanzeige wird deutlich verkürzt. Künftig wird schon dann, wenn die Prüfungsanordnung des Finanzamtes bekanntgegeben worden ist, die strafbefreiende Wirkung einer Selbstanzeige ausgeschlossen sein. Auch ein fortwährendes Nachschieben von Begründungen und Erklärungen, so lange, bis der Prüfer tatsächlich vor Ort erscheint, wird künftig nicht mehr mit einer strafbefreienden Wirkung möglich sein. Ich will sehr offen darauf hinweisen, dass wir schon in der Diskussion über den Gesetzentwurf über die Frage von weiteren Zuschlägen diskutiert haben. Im parlamentarischen Verfahren werden wir über die Frage entscheiden, ob wir bei der Inanspruchnahme der strafbefreienden Selbstanzeige zusätzlich noch einen Extrazuschlag erheben, um Steuerhinterzieher auch wirtschaftlich stärker zu belasten als Bürgerinnen und Bürger, die ihre Steuern lediglich verspätet bezahlen. Hierzu - darüber sind wir uns einig - brauchen wir aber eine absolut verfassungsfeste Regelung. Deshalb wollen wir die Sachverständigenanhörung, aber auch die Beratungen des Bundesrates abwarten. Hier gilt eindeutig: Rechtssicherheit geht vor Schnelligkeit. ({3}) Was wir am Schluss brauchen, ist eine verfassungsrechtlich absolut saubere Lösung. ({4}) Die christlich-liberale Koalition macht Ernst im Kampf gegen Geldwäsche und Steuerbetrug. Wir wollen den Wirtschaftsstandort Deutschland, aber auch das Funktionieren unseres Gemeinwesens durch ausgeglichene öffentliche Haushalte und steuerehrliche Steuererhebung sichern. Wirksame und zielgenaue Schritte dazu enthält der vorliegende Gesetzentwurf. Ich bitte Sie um Unterstützung bei der parlamentarischen Beratung, Behandlung und Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs. Herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Martin Gerster spricht für die SPD-Fraktion. ({0})

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob auch Sie die Frage kennen, die in der Adventszeit vor allem Kindern gestellt wird: Seid ihr brav gewesen? Es wird abgefragt: Habt ihr alles erledigt, was euch aufgetragen wurde? Habt ihr all das gemacht, was notwendig ist? ({0}) Wenn man der Bundesregierung diese Frage gerade im Hinblick auf die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Geldwäsche stellen würde, dann müsste sie, wenn sie ehrlich wäre, sagen: Nein, und wir verzichten daher auf die Geschenke. ({1}) Herr Staatssekretär Koschyk, das wird gerade bei diesem Gesetzentwurf deutlich. Man merkt, dass SchwarzGelb bei diesem Thema ein bisschen bockig ist, ({2}) dass Sie dieses Thema nicht so recht angehen wollen. Jedenfalls muss man deutlich sagen, dass Sie bei der Bekämpfung der Geldwäsche noch lange nicht das getan haben, was wirklich notwendig ist. Allein der Kurztitel, der für diesen Gesetzentwurf gewählt wurde, macht nachdenklich. Es stellt sich die Frage, warum Sie es Schwarzgeldbekämpfungsgesetz und nicht Geldwäschebekämpfungsgesetz nennen. ({3}) Ich habe den Eindruck, dass Sie ein bisschen Etikettenschwindel betreiben und davon ablenken wollen, dass Sie die Bekämpfung der Geldwäsche nicht so recht angehen wollen, dass Sie sich zieren, all das umzusetzen, was die Financial Action Task Force on Money Laundering Deutschland ins Stammbuch geschrieben hat. ({4}) Geldwäschebekämpfung bedeutet, dass wir vermeiden wollen, dass illegal erworbenes Geld in den legalen Geldkreislauf kommt. Bei Schwarzgeld hingegen handelt es sich um steuerpflichtige, aber unversteuerte Einnahmen. Deswegen stellt sich die Frage, warum Sie diesen Begriff und nicht einen anderen gewählt haben. Sie wollen aus meiner Sicht verschleiern, dass 2010 für Deutschland wahrlich kein Ruhmesblatt war. Ihnen wurde durch dieses OECD-Gremium, dem 36 Staaten angehören, ein verheerendes Zeugnis ausgestellt. ({5}) Sie sagen, Herr Staatssekretär, dass jetzt vereinbart wurde, dass wir etwas tun müssen. Entschuldigung, der Bericht lag schon im Februar 2010 vor. ({6}) Sie haben jetzt fast ein Jahr gebraucht, um einen einzigen Punkt aufzugreifen und in einen Gesetzentwurf zu gießen. ({7}) 49 Empfehlungen wurden ausgesprochen. Deutschland ist in 20 Punkten massiv kritisiert worden. ({8}) 15 Kriterien sind teilweise umgesetzt worden, 5 überhaupt nicht. Deutschland wurden gravierende Defizite bescheinigt. Deutschland ist kurz davor, auf die schwarze Liste nicht kooperativer Jurisdiktionen gesetzt zu werden. ({9}) Das wäre eine Blamage. Sie schreiben im Gesetzentwurf unter B: Die rasche Beseitigung der … festgestellten Defizite ist notwendig, … Dazu muss ich sagen: Es ist höchste Eisenbahn, dass Sie in die Puschen kommen und dass Sie diese Themen abarbeiten. Wir begrüßen es - das sage ich ganz deutlich -, dass Sie jetzt einen Punkt angehen. ({10}) Natürlich sind wir dankbar, dass Sie Insiderhandel, Marktmanipulationen und Produktpiraterie in den Katalog der Vortaten des Geldwäschestraftatbestandes aufnehmen wollen. Im Ziel sind wir d’accord, aber über den Weg müssen wir noch reden. Wir müssen schauen, was die Anhörung dazu ergibt. Ich kann Ihnen nur dringend raten, die anderen Punkte unbedingt anzugehen. Insgesamt stellt sich die Frage: Warum machen Sie nicht ein Gesamtpaket? Sie gehen hier mit Salamitaktik vor. Einen Punkt hat man an die Umsetzung der zweiten E-Geld-Richtlinie angehängt. Jetzt kümmert man sich um einen kleinen Punkt. Warum behandeln Sie das nicht als Paket? Ich verstehe das nicht. Es gibt dringenden Handlungsbedarf, beispielsweise im Gesellschafts- und Registerrecht, speziell dort, wo es um die Treuhand als Rechtsform geht. Immobilienmaklerbranche, Goldhändler, Juweliere, Steuerberater, Rechtsanwälte - all diese Themen sind angesprochen worden. Nichts ist passiert. Sie kündigen jetzt für März 2011 etwas Weiteres an. Wir sind gespannt, wie es weitergeht. Ich meine, die Bundesregierung ist in der Pflicht, insbesondere die heißen Eisen Spielbanken und Kasinos anzugehen. Diese sind heutzutage schon ein Vergnügungspark für professionelle Geldwäscher. Diese Probleme muss man angehen; man darf da nicht schlafen. ({11}) Deswegen muss man deutlich sagen: Los geht es! Das ist dringend. Bereits im Sommer dieses Jahres - auch darauf will ich hinweisen - haben die Koalitionsfraktionen angekündigt, diese Probleme zu lösen. Große Sprünge sind uns bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung versprochen worden. Man hat allerdings den Eindruck, Sie laufen in Trippelschritten schleichend um das Ziel herum. Vielleicht steckt auch eine gewisse Denke dahinter. Womöglich meinen Sie, illegales Kapital ist wie ein scheues Reh und macht sich von alleine davon. Ich glaube, das ist weit gefehlt. Hier muss gehandelt werden. Das zeigt auch der jüngste Bericht des Bundeskriminalamtes und der BaFin zum Thema Geldwäsche. Die Zahl der Verdachtsanzeigen ist gestiegen. Im letzten Berichtszeitraum, im Jahr 2009, gab es 9 000; das entspricht einem Anstieg um 23 Prozent. Dies zeigt uns, dass es gelungen ist, die Leute für diese Gefahr ein bisschen zu sensibilisieren. Es zeigt aus meiner Sicht aber auch, dass Themen wie Datendiebstahl und Erschleichung von Passwörtern, aber auch die Aktivitäten der sogenannten Financial Agents, also von Personen, die ihr Konto gegen Gebühr für illegale Transaktionen zur Verfügung stellen, dringend angegangen werden müssen. ({12}) Herr Staatssekretär, das erste Problem ist, dass Sie nicht wirklich etwas tun. Das zweite Problem ist, dass Sie kleine, eigentlich sinnvolle Schritte bei der Geldwäschebekämpfung mit halbgaren Ansätzen bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung verknüpfen. ({13}) Sie bringen zum Beispiel die Teilselbstanzeige ins Spiel. Sie sagen, Schwarz-Gelb schafft die Teilselbstanzeige ab. Entschuldigung, aber das tut nicht SchwarzGelb, sondern das hat der Bundesgerichtshof gefordert. ({14}) In seinem Beschluss vom 20. Mai 2010 hat er entschieden: So geht es nicht mehr weiter. - Sie muss man bei diesem Thema regelrecht zum Jagen tragen; sonst passiert überhaupt nichts. ({15}) Was Sie machen, ist letztendlich nur ein Herumdoktern und Herumlavieren. Die SPD-Fraktion hingegen hat den Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige eingebracht. Wir glauben, dass dies der einzig richtige Schritt ist. ({16}) Sie beheben lediglich die Unsicherheit, die bei den beratenden Berufen und der Finanzverwaltung im Moment herrscht. Der Bundesrat hat im Zuge des Jahressteuergesetzes 2010 einige Vorschläge unterbreitet. In der Anhörung hat sich gezeigt, dass das so nicht wirklich praktikabel ist. Wenn man, wie Sie, das System beibehalten und die Strafbefreiung nicht abschaffen möchte, dann kann ich natürlich verstehen, dass man zum Beispiel sagt: Wir wollen den Zeitfaktor ändern. Wir wollen, dass die Bekanntgabe der Prüfungsanordnung als Ausschlusskriterium für die Straffreiheit bei Selbstanzeige gewählt wird. - Das ist nachvollziehbar. ({17}) In der Tat wurde in der Anhörung deutlich, dass genau dieser Zeitraum oft als Opportunitätsfenster zur Selbstanzeige genutzt wird. Insofern sage ich: Hier haben Sie recht. Das muss man auf jeden Fall abstellen. Aber das wäre wieder eine Minimallösung, zu der Sie getrieben werden mussten. ({18}) Weitaus konsequenter wäre das, was wir vorschlagen; das ist nämlich nicht so ein Herumgeeiere wie bei Ihnen. Herr Dautzenberg hat selbst gesagt: ({19}) Über die Frage, ob wir den Zinszuschlag erheben oder nicht, müssen wir noch diskutieren. Darüber gibt es in der Koalition vielleicht sogar Streit. ({20}) Nein, bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist klare Kante notwendig. In unserem Gesetzentwurf haben wir eine eindeutige Regelung vorgeschlagen: Erstens muss die Straffreiheit abgeschafft werden, und zweitens muss die Selbstanzeige im Zuge der Bemessung des Strafmaßes berücksichtigt werden. Das wäre gut. ({21}) Diese Variante wird von der Deutschen Steuergewerkschaft, vom Deutschen Gewerkschaftsbund und vielen anderen unterstützt. Deswegen bitte ich Schwarz-Gelb: Zeigen Sie endlich etwas mehr Mut im Kampf gegen Steuerkriminalität und mehr Mut zur beherzten Tat. Das wäre auch ein guter Vorsatz für das neue Jahr. Das würde im Übrigen dazu führen, dass wir uns auf einen Weg begeben, der uns von der OECD gewiesen wurde. Die OECD hat nämlich in einer internationalen Vergleichsstudie festgestellt, dass die zeitliche Befristung und das Auslaufenlassen der Selbstanzeigemöglichkeiten zentrale Kriterien für den Erfolg im Sinne von mehr Steuerehrlichkeit und mehr Steuereinnahmen sind. Das alles wird in Ihrem Gesetzentwurf nicht berücksichtigt. Das finden wir sehr schade, und die negativen Effekte dessen werden wir bei der Anhörung entsprechend herausarbeiten. Ich werbe noch einmal für unseren Gesetzentwurf, der sich im Verfahren befindet. Bei der Anhörung werden wir alles Weitere besprechen. Bis dahin wünsche ich Ihnen besinnliche Tage. Denken Sie noch einmal in Ruhe darüber nach. Schöne Weihnachtsfeiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr! Danke schön. ({22})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich gebe das Wort dem Kollegen Daniel Volk für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Gerster, die Grundlage Ihrer Analyse des Berichts der Financial Action Task Force ({0}) vom Februar 2010 ({1}) ist die Gesetzgebung, die Ihre sozialdemokratischen Finanzminister nach elf Jahren Verantwortung für die Finanzpolitik hinterlassen haben. Damit haben Sie selbst Ihren sozialdemokratischen Finanzministern ein Armutszeugnis bei der Schwarzgeldbekämpfung und der Bekämpfung der Steuerhinterziehung ausgestellt. So viel Ehrlichkeit zu Weihnachten hätte ich von Ihnen gar nicht erwartet. Vielen Dank dafür! ({2}) Die Regierung legt dem Parlament heute den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche und der Steuerhinterziehung vor, welches auf die volle Unterstützung der FDP-Fraktion trifft. Denn wir werden damit die Empfehlungen der Financial Action Task Force im Bereich der Geldwäsche umsetzen. Diese Task Force ist das wichtigste internationale Gremium zur Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung. Deutschland beteiligt sich als Gründungsmitglied aktiv an der weiteren Entwicklung der Empfehlungen, die wir mit unserem Gesetz umsetzen werden. ({3}) Auch im Bereich der Steuerhinterziehung ist das Gesetz ein wichtiger und richtiger Schritt für mehr Steuergerechtigkeit in Deutschland. Wir sorgen damit dafür, dass Missbrauch in Form von Steuerbetrug in Zukunft besser bekämpft werden kann. Die SPD hat es in den elf Jahren ihrer Regierungsverantwortung leider nicht geschafft, die strafbefreiende Selbstanzeige so zu gestalten, dass sie nicht zu einer Besserstellung von Steuerhinterziehern führt. Das Einzige, was der SPD in elf Jahren eingefallen ist, war ein Steueramnestiegesetz, das als Rohrkrepierer geendet ist. ({4}) Wir als schwarz-gelbe Koalition handeln jetzt und arbeiten all das auf, was in den letzten elf Jahren versäumt wurde. ({5}) Wir werden die strafbefreiende Selbstanzeige im Kern beibehalten, werden aber dafür sorgen, dass sie nicht für eine Steuerhinterziehungsstrategie missbraucht werden kann. ({6}) Wenn man über dieses Thema spricht, sollte man als Erstes die hohe praktische Bedeutung der strafbefreienden Selbstanzeige betonen. ({7}) Das ist bei Ihnen, Herr Gerster, völlig in den Hintergrund gerückt. Dazu habe ich kein Wort von Ihnen gehört. Fragen Sie einmal bei den steuerberatenden Berufen und bei den Steuerpflichtigen nach, ({8}) wie wichtig die strafbefreiende Selbstanzeige im täglichen Steuerveranlagungsgeschäft ist. Sie ist eine einfache Möglichkeit der Behebung von Fehlern, die in der Vergangenheit fahrlässig - nicht mutwillig - begangen wurden. Insofern ist es vollkommen richtig, dass wir die strafbefreiende Selbstanzeige im Kern beibehalten. Ich möchte bei dieser Gelegenheit zu dem Vorschlag eines Strafzuschlags, der auch vom Bundesrat kam, ganz kurz erwähnen, dass wir als FDP-Fraktion erhebliche Bedenken haben, einen solchen Strafzuschlag einzuführen, ({9}) denn Strafzuschlag bedeutet Strafe. ({10}) Das eine Wort enthält das andere. ({11}) Nach unserer Auffassung ist eine Strafe aber durch ein Strafgericht und nicht durch die Finanzverwaltung zu verhängen. ({12}) Dementsprechend haben wir dort allein schon im Hinblick auf die Gewaltenteilung erhebliche Bedenken. Im Übrigen darf ich darauf hinweisen: Wenn ein solcher Strafzuschlag eingeführt werden sollte, würde die einfache Möglichkeit der Behebung von fahrlässigen Fehlern bei der Steuerveranlagung faktisch abgeschafft; denn jeder Steuerpflichtige wäre gehalten, darauf zu dringen, dass es keine strafbefreiende Selbstanzeige, sondern eine Ergänzung, eine Berichtigung oder Ähnliches ist. Dadurch würde die Steuerbürokratie ausgeweitet und das ganze Verfahren nicht vereinfacht werden. Deswegen sehen wir einen solchen Strafzuschlag als keine gute und angemessene Ergänzung zu der strafbefreienden Selbstanzeige an. Ich möchte ganz kurz auch noch darauf hinweisen, dass wir gerade in den letzten Monaten einen Erfolg mit der strafbefreienden Selbstanzeige erleben konnten, ({13}) nämlich dadurch, dass Steuerpflichtige tatsächlich eine strafbefreiende Selbstanzeige erstattet haben, weil sie die Befürchtung hatten, dass bislang nicht versteuerte Gelder auf ausländischen Konten entdeckt werden. Das ist nicht nur eine Entwicklung aufgrund der Steuer-CDs, also dadurch, dass rechtswidrig erlangte Bankkundendaten verkauft wurden, sondern das ist eine Entwicklung aufgrund des immer stärkeren Zusammenwachsens der Welt und der Finanzmärkte, sodass dem einzelnen Steuerpflichtigen immer klarer wird, dass es nicht mehr möglich ist, Gelder zu hinterziehen, indem sie auf ausländische Konten verbracht werden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gerster zulassen?

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Volk, ich möchte Sie gerne fragen, ob Sie aus heutiger Sicht im Angesicht der Tatsache, dass jetzt eine entsprechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorliegt, die Entscheidung der Landesregierung Baden-Württemberg noch immer für richtig halten, seinerzeit auf den Erwerb der Steuerdaten-CD zu verzichten. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Gerster, das ist ein Thema, das ich auch noch ansprechen wollte, aber ich kann das gerne vorziehen. ({0}) Ich finde es gerade in rechtsstaatlicher Hinsicht und vor dem Hintergrund der Gewaltenteilung zunächst einmal sehr gut, dass es jetzt eine Entscheidung des höchsten deutschen Gerichtes zu dieser Frage gibt. Ich glaube, dass das Bundesverfassungsgericht weitaus besser als die Finanzverwaltung dazu berufen ist, diese Frage zu beurteilen. ({1}) Gerade aus Ihren Reihen wird aber immer suggeriert, man könne das alles sozusagen immer einheitlich beDr. Daniel Volk trachten, Steuer-CD sei Steuer-CD. Wie gesagt: Es geht um Bankkundendaten. ({2}) - Ich gehe doch auf die Frage ein, Frau Kressl. Wenn Sie meiner Antwort lauschen würden, dann würden Sie hören, dass das genau die Antwort auf die Frage Ihres Kollegen ist. ({3}) - Nein? Sie hören also nicht zu, okay. ({4}) Sie suggerieren, dass jeder Fall sozusagen gleich zu behandeln ist. Die SPD setzt sich dafür ein, dass jede rechtswidrig erlangte Sammlung von Bankkundendaten anzukaufen ist. Ich bin der Auffassung, dass jeder Einzelfall gesondert geprüft werden muss, weil eben nicht alle Fälle immer vergleichbar sind. Insofern ist auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eine Entscheidung in einem Einzelfall. ({5}) Die Verwaltung wird dadurch zu keinem Zeitpunkt davon entbunden, immer den jeweiligen Einzelfall zu prüfen. Im Übrigen: Die rechtsstaatliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liegt zwar vor, es bleibt aber weiterhin die Frage offen, ob es politisch opportun ist, über einen Ankauf rechtswidrig erlangter Daten sozusagen geradewegs in die Gefahr zu kommen, dadurch einen schwunghaften Datenhandel zu befeuern. ({6}) Ich glaube, dieser Verantwortung sollten wir uns in der Politik auch stellen. ({7}) - Ich habe Ihre Frage klar mit einem Nein beantwortet, indem ich gesagt habe, dass nicht alle Fälle über einen Kamm zu scheren sind. Ich denke, diese Frage habe ich damit durchaus klar beantwortet. ({8}) Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass wir als schwarz-gelbe Koalition endlich die richtigen Schritte einleiten, die in diesem Bereich notwendig sind, nachdem die jetzt in der Opposition befindliche SPD dies zuvor vernachlässigt hat. ({9}) Wir werden dafür sorgen, dass die strafbefreiende Selbstanzeige eben kein Hilfsmittel für eine Steuerhinterziehungsstrategie ist. Deswegen haben wir den Zeitpunkt, ab dem die Straffreiheit nicht mehr in Anspruch genommen werden kann, vorverlagert. Herr Kollege Gerster, Sie haben dies dankenswerterweise hier bereits als positiv eingeschätzt. Zu der Teilselbstanzeige erwähne ich nur ganz kurz: Ja, es gibt die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, aber Rechtsprechung kann auch wieder geändert werden. Gesetze sind Maßnahmen, die einen politischen Willen umsetzen; wir sorgen dafür, dass dies nun endgültig in das Gesetz einfließen wird. Dementsprechend ist auch dies ein wichtiger Schritt hin zur Regelung dieses Bereichs. Wir stehen klar für den Kampf gegen Steuerhinterziehung. ({10}) Gleichzeitig wollen wir den Steuerpflichtigen weiterhin eine goldene Brücke hin zur Steuerehrlichkeit bauen. ({11}) Da sind wir auf einem sehr guten Weg. Wir wünschen uns dabei auch die Unterstützung von der Opposition. Vielen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Barbara Höll hat das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie alle kennen doch den Spruch: Steuern zahlen nur die Dummen. ({0}) - Hören Sie doch zu, Herr Schick. Sie kennen aber den Spruch. Wenn man sich die zahlreichen Selbstanzeigen der letzten Zeit anschaut, fragt man sich angesichts dieser großen Zahl, ob an diesem Spruch nicht doch etwas daran sein könnte. ({1}) Fakt ist, Steuern zahlen die Ehrlichen, Herr Schick: Sie und ich. Die anderen begehen ohne Wenn und Aber eine Straftat - das ist das Entscheidende - und betrügen die Gesellschaft. Oh Wunder, dieses Jahr ist die Zahl der Selbstanzeigen auf etwa 28 000 angestiegen. Das ist 14-mal so viel wie in den Jahren zuvor. In Baden-Württemberg gab es 7 342 Selbstanzeigen, in Nordrhein-Westfalen 5 158 und in Bayern 3 870. ({2}) Nicht etwa das schlechte Gewissen plagte die Leute, die sich auf einmal selbst anzeigen. Sie gehen nicht etwa deshalb jetzt reuevoll zum Finanzamt, weil sie auf einmal Steuern zahlen wollen. Nein, sie machen es, weil sie wissen, dass sie bald geschnappt werden könnten, aber, wenn sie sich jetzt selbst anzeigen, noch straffrei ausgehen könnten. Das ist die Wahrheit. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein. Das ist einfach grob ungerecht. ({3}) Steuergerechtigkeit ist so nicht zu schaffen. Die Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige forderten laut Politbarometer vom Oktober dieses Jahres etwa 60 Prozent der Befragten. Wahrscheinlich sind es inzwischen noch mehr. Wir wissen, dass mit dieser Bundesregierung eine Abschaffung wohl leider nicht möglich ist. Ich gebe zu, dass auch ich die Hoffnung hatte, dass Sie zumindest solche verschärfenden Regelungen planen, die auch tatsächlich verschärfend wirken. Aber Pustekuchen! Es gibt nur halbherzige Änderungen statt Konsequenz. Bevor ich auf Ihre Änderungen eingehe, stelle ich fest, dass die Regelung der strafbefreienden Selbstanzeige, geregelt in § 371 der Abgabenordnung, eben nicht zu mehr Steuerehrlichkeit geführt hat, auch wenn Sie das laufend behaupten. Sie sollten dann wirklich einmal erklären, warum ausgerechnet in diesem Jahr nach dem Ankauf von Daten-CDs die Zahl der Anzeigen auf einmal gestiegen ist, ({4}) nachdem die Bankdaten in Umlauf waren, nicht aber vorher. Wenn Sie ehrlich wären, müssten Sie das den Bürgerinnen und Bürgern sagen. Das tun Sie aber nicht. Sie tun etwas anderes, und das zeigt, für wen Ihr Herz schlägt. Herr Volk hat das eben noch einmal sehr deutlich gemacht. Es schlägt eben nicht für den kleinen Handwerker, der brav seine Steuern zahlt, sondern für diejenigen, die ihr Vermögen fleißig ins Ausland bringen. ({5}) Nun kommen wir zu Ihrem großen Wurf. Erstens. Künftig sollen bei einer Selbstanzeige alle Hinterziehungssachverhalte für alle nicht verjährten Veranlagungszeiträume offengelegt werden. Andernfalls erlischt die Straffreiheit. Das ist aber nicht neu - darauf wurde schon hingewiesen -; das hat der Bundesgerichtshof bereits im Mai dieses Jahres gefordert. Schätzungen der Deutschen Steuergewerkschaft gehen davon aus, dass derzeit noch etwa 100 Milliarden Euro versteckt liegen, die noch nicht der Verjährung zum Opfer gefallen sind. Wenn Sie konsequent wären, könnten Sie zugreifen. Aber Sie tun es nicht. ({6}) Zweitens. Die Selbstanzeige soll künftig nicht mehr möglich sein, sobald der Brief mit der Bekanntgabe der Prüfungsanordnung im Unternehmen eingeht. Auch das ist halbherzig. Warum folgen Sie nicht wenigstens hier der Empfehlung des Bundesrates, der bereits die Absendung des Briefes als Zeitpunkt der Bekanntgabe der Prüfungsanordnung vorsieht? Drittens. Der vorliegende Gesetzentwurf sieht keinerlei Strafgebühr - auch das wäre möglich, Herr Volk - auf den zu entrichtenden Steuerbetrag vor. In der öffentlichen Debatte sind 5 Prozent im Gespräch. Es bleibt dabei: 6 Prozent Zinsen ab Fälligkeit. Damit zahlen - das ist grob ungerecht - die Unehrlichen genauso viel wie die Ehrlichen. Das kann doch nicht sein. Hier muss unbedingt etwas geändert werden. Der Staatssekretär nährt vor Weihnachten ein bisschen die Hoffnung, dass sich die CDU/CSU bewegt. Von der FDP haben wir leider eben das Gegenteil vernehmen müssen. Trotzdem hoffe ich - an dieser Stelle werden Sie unsere Unterstützung haben -, dass wir zu einer jeweils angemessenen Gebühr kommen. ({7}) Wir sagen Ihnen ganz deutlich: Mit Ihrer halbherzigen Herangehensweise wird sich an dem Problem nichts ändern. Ohne den Druck auf die Steuersünder durch vermehrte Prüfungen können Sie sich das Ganze sparen. Dann haben wir nur einen zahmen Papiertiger. Sie verfolgen einen völlig falschen Denkansatz, wenn Sie sagen - ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage vom 8. April dieses Jahres zur strafbefreienden Selbstanzeige -: Eine Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige nimmt den Finanzbehörden daher im Ergebnis Ermittlungsmöglichkeiten und verringert das Steueraufkommen …. Genau hier liegt aber der Hase im Pfeffer. Denn die Finanzbehörden haben nicht genug Betriebsprüfer und Steuerfahnder. Es gibt auch keinen automatischen Informationsaustausch zwischen den Steuerbehörden der verschiedenen Länder.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn Sie etwas ändern wollen, dann müssen Sie dafür Sorge tragen, dass die Finanzbehörden viel besser ausgestattet werden und Betriebsprüfungen stattfinden. Sie müssen sich auch endlich auf internationaler Ebene für den automatischen Informationsaustausch einsetzen. Ich danke Ihnen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zuerst etwas zum Thema Geldwäsche sagen. Ich glaube, man kann es insoweit aus dem Parteienstreit herausnehmen, als man sagen muss: Viele Länder in Europa waren überrascht von dem, was die Financial Action Task Force ihnen zur Geldwäsche ins Stammbuch geschrieben hat. Dass man seit Februar die Wirklichkeit noch nicht perfekt geändert hat, liegt nahe. Ich finde, da müssen wir ehrlich sein. Aber in einem Punkt ist die Kritik von Herrn Gerster richtig, und ich möchte sie noch einmal unterstreichen: Statt einer klaren und vollständigen Bestandsaufnahme und eines Gesetzentwurfs, mit dem wir die Defizite systematisch aufarbeiten, finden wir jetzt in dem einen oder anderen Gesetzentwurf jeweils ein bisschen, sodass die Befürchtung bestehen muss, dass wir am Ende die eklatanten Schwächen, die in Deutschland vorhanden sind, eben nicht systematisch aufarbeiten und Geldwäsche damit einmal mehr nicht deutlich genug als zentrales Problem unserer Wirtschaft erkennen und entsprechend korrigieren. Das halte ich für die falsche Strategie. Statt hier und da ein bisschen zu ändern, wäre ein systematischer Ansatz notwendig. ({0}) Ich komme zum Hauptpunkt: die strafbefreiende Selbstanzeige. Im Wesentlichen wird in den Gesetzentwurf aufgenommen, was der Bundesgerichtshof festgelegt hat. Dass es schon vorher in der Diskussion war, ändert nichts daran. Es ist trotzdem richtig, das in den Gesetzentwurf aufzunehmen. Aber es fehlen entscheidende Punkte. Erstens haben Sie in Ihrem eigenen Antrag im Frühjahr festgestellt: Taktieren darf sich nicht lohnen. Mit dem, was Sie jetzt vorlegen, bleiben Sie hinter diesem Anspruch zurück, weil es sich nach wie vor lohnt. Der Ehrliche, der zu spät zahlt, hat einen höheren Zuschlag als der Unehrliche, der eine Selbstanzeige macht. ({1}) Herr Dautzenberg hat das dargelegt. Hier ist Korrekturbedarf. ({2}) Der zweite Punkt: Sie greifen bei der Frage der Selbstanzeige viel zu kurz. Es kann doch nicht sein, dass man es als tätige Reue bezeichnet, wenn Menschen in dem Moment, in dem die Untersuchung schon läuft, in dem die Durchsuchung ihrer Wohnungen und ihrer Geschäftsräume stattfindet, schnell einmal reuig werden. Die Zunahme - das hat Frau Höll richtig dargestellt - der Zahl der Selbstanzeigen in diesem Jahr ist darauf zurückzuführen, dass die Leute Angst hatten, dass konkret in ihrer Bank etwas aufgeflogen ist. Da muss man sich einmal ehrlich machen. Nach meiner Schätzung haben etwa 80 Prozent der Selbstanzeigen nichts mit tätiger Reue, sondern nur mit Taktik zu tun. ({3}) Das muss eingeschränkt werden; sonst ist der Ehrliche tatsächlich an dieser Stelle der Dumme. ({4}) - Machen Sie eine andere Schätzung. Es ist auf jeden Fall die überwältigende Mehrheit. Nehmen Sie den Fall, der vor dem Bundesgerichtshof behandelt worden ist. Da ging es darum, dass die Untersuchung schon lief und dann jemand meinte, einklagen zu müssen, dass er noch eine Selbstanzeige machen könne. ({5}) - Ja, das hat der Bundesgerichtshof festgelegt. Dann ist aber die Frage, ob man nicht auch Wiederholungstäter bei diesem Fall klar einschränken müsste. Sie greifen hier deutlich zu kurz. Jetzt will ich auf das zentrale Problem Ihres Gesetzentwurfes eingehen, den Art. 3. Es ist richtig, wie es der BGH gesagt hat: Wer sich nur teilweise ehrlich macht, also sozusagen nur das Konto bei der Credit Suisse aufdeckt, aber das Konto bei der UBS oder in Liechtenstein nicht aufdeckt, soll in Zukunft nicht mehr von der Selbstanzeige profitieren können. Das ist korrekt. Sie aber schreiben in Art. 3 eine Übergangsregelung hinein, in der Sie demjenigen, der bisher nur einen Teil aufgedeckt hat, also so getan hat, als sei er jetzt ehrlich, in Wirklichkeit aber nur für ein Konto etwas aufgedeckt hat, weil er Angst hatte, dass ihm die Ermittler auf die Spur kommen, für die Zukunft garantieren, dass er straffrei ausgeht. ({6}) Sie leisten an dieser Stelle einen Bestandsschutz für Steuerhinterzieher. Das lehnen wir ab; das werden wir nicht durchgehen lassen. ({7}) - Ich könnte mir vorstellen, dass Herr Kolbe nachher für die Koalition auf diesen Punkt noch eingehen will. Sie schreiben in Ihrer Begründung: Für bereits erstattete Selbstanzeigen, die tatsächlich ({8}) Teilselbstanzeigen waren, bleibt daher der bei Abgabe der Selbstanzeige bestehende Status der Straffreiheit insoweit erhalten. ({9}) - Genau. Für unehrliche Leute schaffen Sie Vertrauensschutz. Aber die vielen ehrlichen Steuerzahler, die in der Zwischenzeit ehrlich gezahlt haben, gucken in die Röhre. ({10}) Deswegen wäre es richtig, an dieser Stelle eine klare Frist einzuführen und zu sagen: Die Leute, die sich in der Vergangenheit nur teilweise ehrlich gemacht haben, haben jetzt noch ein Jahr Zeit, um sich insgesamt ehrlich zu machen. Dann können sie davon profitieren. Aber nach unserer Ansicht darf es keinen Vertrauensschutz für unehrliche Leute geben, die so tun, als würden sie sich ehrlich machen, und in Wirklichkeit mit ganz kaltem Kalkül weiterhin die ehrlichen Menschen in diesem Lande betrügen. So geht es nicht. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Manfred Kolbe hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war allen drei Oppositionsrednern physisch förmlich anzumerken, dass sie sich ärgern, dass der Koalition wieder einmal ein guter Gesetzentwurf, diesmal zur Reform der strafbefreienden Selbstanzeige gemäß § 371 AO, geglückt ist. ({0}) Keine eigenen Vorschläge außer der Totalabschaffung, mehr als ein „weg damit“ wird nicht geboten. Es wird noch gesagt, es sei ein bisschen zu wenig, zwar richtig, aber eine Minimallösung usw. Dies zeigt, dass wir auf dem richtigen Wege sind und einen guten Gesetzentwurf vorgelegt haben. ({1}) Damit setzt die unionsgeführte Bundesregierung ihre konsequente Politik der Bekämpfung der Steuerhinterziehung seit 2005 fort. Was haben wir seit 2005 - in den ersten Jahren teilweise im Zusammenwirken mit der SPD - erreicht? Wir haben endlich eine vernünftige Strafvorschrift - § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO - für die bandenmäßige Hinterziehung von Umsatz- und Verbrauchsteuern geschaffen. Wir haben erstmals eine Telekommunikationsüberwachung für schwere Steuerhinterziehungstatbestände eingeführt; das gab es vorher nicht. Wir haben die Verjährungsfrist für besonders schwere Steuerhinterziehung auf zehn Jahre verlängert. All dies hat eine unionsgeführte Bundesregierung eingeführt. ({2}) - Das haben wir teilweise im Zusammenwirken mit Ihnen erreicht, Frau Kressl. Auch wir haben das gewollt. Gleichzeitig hat der Bundesgerichtshof vernünftige Strafzumessungsregeln aufgestellt. Ab 1 Million Euro hinterzogene Steuern gibt es grundsätzlich keine Strafaussetzung zur Bewährung mehr. Das ist eine richtige Entscheidung. Wir haben dann bei den Steuer-CDs entschlossen zugegriffen. Ich zitiere die Bundeskanzlerin vom Februar 2002: Vom Ziel her sollten wir, wenn diese Daten relevant sind, auch in den Besitz dieser Daten kommen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundeskanzlerin eindrucksvoll bestätigt. Zudem schließen wir im internationalen Bereich fast wöchentlich Abkommen ab, mit denen wir den Informationsaustausch nach OECD-Standard vereinbaren und somit die internationale Steuerhinterziehung bekämpfen. Diese Bundesregierung ist erfolgreich bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung. ({3}) Herr Schick, wenn ich versuche, herauszubekommen, was Rot-Grün - Sie haben schließlich von 1998 bis 2005 regiert - in sieben Jahren geschafft hat, dann stelle ich fest, dass das fast nichts ist. Das mag daran liegen, dass Sie damals dem Hohen Hause noch nicht angehört haben. Aber in Erinnerung sind mir nur ein völlig verkorkster § 370 a AO - den mussten wir aufheben - und eine Steueramnestie geblieben, die alles andere als ein Ruhmesblatt war. Das ist die rot-grüne Bilanz bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung. ({4}) Das Gesetz, über dessen Entwurf wir heute in erster Lesung beraten, sieht eine Neuregelung der strafbefreienden Selbstanzeige nach § 371 AO vor und geht auf eine Initiative meiner Fraktion zurück. Diese Initiative haben wir im März gestartet, also vor dem Urteil des Bundesgerichtshofs, um das hier einzuflechten. Wir, die Union, haben damals drei Maßnahmen gefordert. Erstens. Wir wollen den Ausschluss der Selbstanzeige bereits bei Bekanntgabe der Prüfungsanordnung und nicht erst bei Erscheinen des Prüfers. Wir wollen keine Klausurfälle mehr, in denen davon, ob der Prüfer vor oder hinter dem Gartenzaun steht, abhängt, ob die Selbstanzeige wirksam ist oder nicht. Die Bekanntgabe ist nun entscheidend. Zweitens. Wir wollen eine umfassende Selbstanzeige. Teilselbstanzeigen werden nicht mehr anerkannt. Drittens. Wir wollen einen Zuschlag auf die Hinterziehungszinsen, um den Steuerhinterzieher wirtschaftlich stärker zu belasten. Wie sah Ihre Reaktion aus, meine Damen und Herren von der SPD? Sie war simpel. Zuerst haben Sie sich wochenlang geärgert, dass die Union bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung wieder vorne war. Dann kam der Antrag auf Totalabschaffung. Diesen haben Sie heute kaum noch vertreten, weil dieser im Bundesrat sang- und klanglos untergegangen ist. Der Freistaat Bayern hat die Unionsinitiative aufgegriffen. 15 von 16 Bundesländern haben sich im Bundesrat unserer Initiative angeschlossen. ({5}) Ich zitiere wörtlich den Finanzminister von RheinlandPfalz, Herrn Kühl, vom April dieses Jahres: Ich bin dafür, dass wir die Möglichkeit der Strafbefreiung durch Selbstanzeige beibehalten. Letztlich profitiert der Staat davon, denn wer sich selbst anzeigt, muss alles offenlegen. Das ist viel effektiver als der Einsatz von Ermittlern. ({6}) Den Worten Ihres Finanzministers kann man nur wenig hinzufügen. Die Selbstanzeige ist auch kein isolierter Fremdkörper im Strafrecht. Es gibt vergleichbare Strafbefreiungsvorschriften auf vielen anderen Gebieten. Es gibt § 149 Abs. 2 Strafgesetzbuch: Wegen Fälschung von Geldund Wertzeichen wird nicht bestraft, „wer freiwillig die Fälschungsmittel, soweit sie noch vorhanden und zur Fälschung brauchbar sind, vernichtet“. Es gibt § 261 Abs. 9 Strafgesetzbuch: Wegen Geldwäsche wird nicht bestraft, „wer die Tat freiwillig bei der zuständigen Behörde anzeigt“. Es gibt § 264 Abs. 5 Strafgesetzbuch: Wegen Subventionsbetrug wird nicht bestraft, „wer freiwillig verhindert, dass aufgrund der Tat die Subvention gewährt wird“. Das sind alles vergleichbare Vorschriften, nach denen auch ein gesetzlicher Anspruch auf Strafbefreiung besteht, nicht nur auf Milderung im Gerichtsverfahren. § 371 AO ist kein Fremdkörper, sondern er entspricht einem allgemeinen Rechtsgedanken. ({7}) Deshalb werden wir ihn auch nicht abschaffen. Sowohl der Herr Staatssekretär als auch der Vorredner haben ja schon ausgeführt, was eine Abschaffung in der Praxis bedeuten würde. Jeder Berichtigungsfall ginge möglicherweise zur Staatsanwaltschaft. ({8}) Das kann nicht gewünscht sein, auch von der Effektivität her nicht. Immerhin haben wir dieses Jahr bisher über 28 000 Selbstanzeigen. Selbst wenn Sie das Personal verdoppeln oder verdreifachen, würden Sie diese Fälle nicht aufklären. Ich kann wieder nur Herrn Kühl zitieren: Mir ist bewusst, dass Strafgerechtigkeit und Steuergerechtigkeit hier im Konflikt miteinander stehen. Das ist richtig. Aber wir gehen jetzt einen vernünftigen Mittelweg, um beiden gerecht zu werden, während die Totalabschaffung der Steuergerechtigkeit nicht dienen würde. ({9}) Lassen Sie mich abschließend noch einen Satz zum Zuschlag sagen. Derzeit gibt es einen Wertungswiderspruch. Einerseits werden gemäß § 235 AO pro Jahr 6 Prozent Hinterziehungszinsen erhoben, andererseits beträgt der Säumniszuschlag gemäß § 240 AO, wenn ich beispielsweise einmal aus Schusseligkeit die Umsatzsteuererklärung ein paar Tage oder nur einen Tag zu spät abgebe, 1 Prozent pro Monat. Das ist ein Wertungswiderspruch, auf der einen Seite 6 Prozent per annum für den Hinterzieher, auf der anderen Seite 12 Prozent per annum für den bloß schusseligen Säumigen. Deshalb meinen wir als Union, hier wäre ein Zuschlag sachgerecht, damit der Steuerhinterzieher wirtschaftlich spürbarer belastet würde als der ehrliche Steuerzahler. Dieser Zuschlag, Herr Volk, wäre keine Strafe, hätte keinen Strafcharakter, sondern wäre eine steuerliche Nebenleistung, wie sie schon jetzt in der Abgabenordnung vorgesehen ist, beispielsweise gemäß § 162 Abs. 4 Satz 2 Abgabenordnung bei der Verletzung von Dokumentationspflichten bei Sachverhalten mit Auslandsbezug. Der Zuschlag ist ein typisierendes Äquivalent für den Mehraufwand, der der Finanzverwaltung durch die fehlende Mitwirkung des Steuerhinterziehers entsteht. Wir werden in der Anhörung prüfen, ob wir dafür eine verfassungsfeste Formulierung finden können. Im Ausschuss werden wir dann noch darüber zu reden haben, ob wir diese Regelung treffen oder nicht. ({10}) Vorerst bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und bitte Sie alle, diesen guten Gesetzentwurf zu unterstützen. Danke. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/4182 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt von Notz, Wolfgang Wieland, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa - Drucksachen 17/1168, 17/3589 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg Christine Lambrecht Halina Wawzyniak Verabredet ist es, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort der Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion. ({1})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum wiederholten Mal über ein Thema, mit dem wir uns beschäftigen müssen, weil das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein Gesetz der Vorgängerregierung quasi pulverisiert hat. Karlsruhe hat ganz deutlich die Rote Karte für die bisherige Regelung der Vorratsdatenspeicherung gezeigt. Nach Auffassung der Liberalen kann es daher bei diesem Thema ein schlichtes „Weiter so“ mit einigen kleinen Stellschrauben nicht geben. ({0}) Vielmehr müssen wir gründlich nachdenken, was wirklich notwendig ist und was verfassungsrechtlich vereinbar ist mit dem, was wir das Grundgesetz nennen. Sie alle wissen, dass derzeit in Europa eine Evaluierung der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung läuft. Im September sollten eigentlich Vorschläge dafür vorliegen, was passieren soll. Doch offensichtlich hat die Kommission in Brüssel dasselbe Problem, das hie und da die Bundesregierung in Karlsruhe gehabt hat, nämlich klar und deutlich nachzuweisen, dass die Vorratsdatenspeicherung, wie sie von Brüssel vorgesehen ist und wie sie hier auch umgesetzt worden ist, wirklich Vorteile bringt und das ist, was die Sicherheitsbehörden brauchen. Dazu muss man sich nur einmal ein paar Zahlen ansehen. Die Aufklärungsquote bei Straftaten im Internet vor der Einführung der Vorratsdatenspeicherung betrug 82,9 Prozent im Jahr 2007 und nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung 75,7 Prozent im Jahr 2009. Da wurde das Gesetz schon angewandt. ({1}) Das heißt doch, dass die Vorratsdatenspeicherung an sich offensichtlich nicht das beste Mittel ist. In anderen EU-Mitgliedstaaten - das ist das besonders Interessante -, wo niemand geklagt hat, wo es keine politische Diskussion gegeben hat, sind die Zahlen auch nicht besser. Es gibt also keine belastbaren Zahlen dafür, dass die anlasslose millionenfache Speicherung von Verbindungsdaten zur Kriminalitätsbekämpfung unbedingt notwendig ist. ({2}) Was mich persönlich wirklich umtreibt - das habe ich auch an anderer Stelle schon gesagt -, ist die Tatsache, dass dann, wenn es ums Geld geht, nämlich bei Urheberrechtsverletzungen, allein im letzten Jahr von der Telekom 2,7 Millionen IP-Adressen gespeichert bzw. verfolgt und mitgeteilt werden konnten. Ich frage mich ernsthaft: Wie kann es sein, dass das dann, wenn es ums Geld geht, um die Verfolgung von Urheberrechtsansprüchen, leichter möglich sein soll als bei - in Anführungszeichen - normaler Kriminalität? ({3}) Ich glaube, wir haben hier ein Vollzugsdefizit und nicht so sehr ein Umsetzungsdefizit. Wir setzen daher ganz klar auf die Evaluierung der Richtlinie in der EU. Die Bundesjustizministerin hat das mehrfach sehr deutlich gemacht. Deshalb brauchen die Grünen das auch gar nicht per Antrag einzufordern. ({4}) Wir tun das. Wir setzen uns für das sogenannte QuickFreeze-Verfahren, für die anlassbezogene Pufferung von Daten ein, damit Strafverfolgung da möglich ist, wo sie notwendig ist. Wir sind gern bereit, unseren Vorschlag mit allen Fraktionen im Deutschen Bundestag zu diskutieren. Wir freuen uns auf eine gute Debatte. Herzlichen Dank. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Eva Högl das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Piltz, das Angebot nehmen wir an. Aber dann legen Sie doch einmal etwas vor! Darauf warten wir ganz gespannt. Wir haben vernommen, dass die Spitzen der Koalition das Thema auf 2011 vertagt haben und dass das Bundesjustizministerium aufgefordert ist, bis Ende 2010 noch einen Bericht über die Vorratsdatenspeicherung vorzulegen. Nun schauen wir auf den Kalender und stellen fest, dass das Jahr noch 16 Tage hat, eher 15; wir sind ja jetzt schon am Abend. Wir warten gespannt, was wir unter dem Tannenbaum zur Vorratsdatenspeicherung lesen dürfen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wir lesen immer nur, dass Sie sich nicht einigen können. Wir sehen, dass Sie nicht handlungsfähig und nicht in der Lage sind, dieses wichtige Thema zu entscheiden. ({1}) Frau Piltz hat gesagt: Es darf kein „Weiter so“ geben. Dem kann man zustimmen. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden. Wir warten darauf, dass Sie etwas vorlegen. Sie sind am Zug. Wir wollen hier über etwas diskutieren. ({2}) - Ich komme dazu; ich habe ja noch ein paar Minuten. ({3}) Inakzeptabel ist meiner Meinung nach das Argument: Wir warten auf Europa. - Darüber müssen wir uns wirklich einmal auseinandersetzen. Die Grünen haben den Antrag mit dem Titel „Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“ vorgelegt. Ich finde übrigens: Europa ist nie ein Umweg. Aber wir müssen uns darüber unterhalten, ob wir auf Europa warten können oder nicht. Wir sind der Auffassung, dass wir in Deutschland entscheiden müssen, wie es mit der Vorratsdatenspeicherung weitergeht. Das Bundesverfassungsgericht hat am 2. März dieses Jahres entschieden, dass die Vorratsdatenspeicherung mit Art. 10 Grundgesetz unvereinbar ist. Es hat klare Kriterien und klare Voraussetzungen formuliert, unter denen eine Vorratsdatenspeicherung möglich wäre, wenn man sie denn möchte. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt - ich will das zitieren, weil das sehr eindringlich war und für uns auch ein Handlungsauftrag ist -: Anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten ist geeignet, „ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen“, das „eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen“ kann. Wir alle haben das gut gelesen. Diese Frage, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wir nicht kommentarlos nach Europa delegieren. Diese Frage müssen wir hier im Deutschen Bundestag beantworten. Wir müssen anhand der Maßstäbe des Grundgesetzes entscheiden, wie wir bei der Vorratsdatenspeicherung weiter vorgehen. Wir im Deutschen Bundestag sind als Gesetzgeber gefragt. Ich will noch einen zweiten Grund nennen, warum es falsch ist, auf Europa zu warten. Wir sind nicht irgendein Mitgliedstaat in der Europäischen Union; das wissen wir. Wir müssen das europäische Recht gestalten. Wir sind ein großer Staat mit viel Gewicht. Ich möchte an dieser Stelle, anders als es sich in der Europapolitik der Bundesregierung zeigt, nicht sagen, was ich nicht will, sondern ich möchte Europa gestalten, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir haben dazu die Chance.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Höferlin zulassen?

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte sehr.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen herzlichen Dank. - Frau Kollegin Högl, ich lese im Bericht des Rechtsausschusses, dass die SPDFraktion Folgendes von sich gegeben hat: Die Richtlinie 2006/24/EG werde derzeit auf europäischer Ebene evaluiert. Das Ergebnis solle zunächst abgewartet werden. Können Sie mir den Zusammenhang zwischen dieser Aussage und dem, was Sie eben gesagt haben, erklären? Den verstehe ich nicht ganz.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das bezog sich auf den Antrag der Grünen. ({0}) - Genau. Der Titel des Antrags der Grünen ist: „Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“. Ich sage aber: Wir dürfen nicht auf Europa warten, sondern wir müssen unsere Position in Europa einbringen. Das ist ein Unterschied. Deswegen haben wir uns damals so positioniert und bei der Abstimmung über den Antrag der Grünen enthalten. Ich will kurz ausführen - ich glaube, wir sind gar nicht so weit voneinander entfernt -, warum ich es falsch finde, auf Europa zu warten. Ich habe es schon gesagt: Wir müssen unsere Position in Europa einbringen. Wir haben dazu eine Chance. Es gibt jetzt einen neuen Vertrag, den Vertrag von Lissabon, und die Grundrechtecharta. Das gibt die Gelegenheit, die Balance von Bürgerrechten und Sicherheit - ich habe das im Deutschen Bundestag schon öfter gesagt - neu zu justieren. Das ist eine Riesenchance. Die Bürgerinnen und Bürger warten darauf, dass wir uns positionieren. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass die Richtlinie evaluiert wird. Denn es gibt mit dem Vertrag von Lissabon und der Grundrechtecharta neue Maßstäbe. Außerdem ist die Richtlinie in einigen Mitgliedstaaten nicht umgesetzt - das wissen wir auch -, und in einigen Mitgliedstaaten haben die Verfassungsgerichte wie in Deutschland die nationale Umsetzung der Richtlinie kritisiert. Es gibt also Bewegung in der Debatte um Vorratsdatenspeicherungen. Auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs steht noch aus. Wir müssen die neuen Maßstäbe, die sich aufgrund der neuen Vertragsgrundlagen ergeben, nutzen. Aber ich sage - darin unterscheiden wir uns von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung -: Wir dürfen nicht tatenlos dabei zusehen, was in Europa passiert, sondern wir müssen unsere Vorstellungen in die europäische Debatte einbringen. ({1}) Wir erwarten von der Kommission einerseits, dass bei der Evaluierung das Ergebnis nicht schon vorgegeben wird, sondern dass sie ergebnisoffen durchgeführt wird. Im Übrigen schreiben auch vier Mitglieder der FDPBundestagsfraktion an die Kommissarin Malmström, dass sie das erwarten. Da haben wir sogar die gleiche Auffassung. ({2}) Wir erwarten andererseits von der Bundesregierung, dass sie etwas vorlegt und sagt, was sie in die Evaluierung einbringt. Darin besteht der Unterschied; denn dazu haben wir von Ihnen bisher überhaupt noch nichts gesehen. ({3}) - Sie sind am Zug, Sie müssen etwas vorlegen. Wir wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass die Kommission auf die deutsche Positionierung wartet. Deutschland ist am Zug. Wir haben uns im Rechtsausschuss mit der Kommissarin Reding und in Brüssel mit der Kommissarin Malmström unterhalten. Beide haben uns gesagt, dass wir unsere Position in die Evaluierung einbringen müssen und dass die Kommission darauf wartet, dass Deutschland als großer Mitgliedstaat seine Auffassung deutlich macht. Deswegen sage ich es noch einmal: Sie sind am Zug. Wir bieten an, konstruktiv mitzudiskutieren. Aber uns muss hier im Deutschen Bundestag etwas vorgelegt werden. ({4}) Ein Brief von FDP-MdBs an die Kommissarin reicht nicht aus, sondern wir wollen von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen etwas vorgelegt bekommen. ({5}) Ich will noch einmal kurz daran erinnern, was uns das Bundesverfassungsgericht -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Höferlin?

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, der Kollege noch einmal. Aber sicher!

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Högl, ich habe noch nicht ganz verstanden, wofür Sie stehen und wie Sie zu dem Antrag stehen. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich aus der letzten Sitzungswoche vorlese, was der Kollege Olaf Scholz aus Ihrer Fraktion gesagt hat.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Er sagte zum Thema Vorratsdatenspeicherung: Ich jedenfalls versichere Ihnen gerne, dass die Sozialdemokratische Partei, wenn Sie das aufrechterhalten wollen, was schon einmal da war, oder in einer gesetzlich neuen Fassung wiederherstellen wollen, Ihnen Unterstützung leistet. Ich verstehe das so, dass die sozialdemokratische Fraktion gerne möchte, dass die Vorratsdatenspeicherung so, wie sie schon einmal war, oder in einer neuen Form wiederaufersteht. Ist das so?

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege, wenn Sie meine Sätze zuvor gehört hätten und sich nicht darauf konzentriert hätten, nachzulesen, was Olaf Scholz gesagt hat, dann hätten Sie gehört, dass ich für die Fraktion der SPD angeboten habe, konstruktiv mitzuarbeiten. Wir haben allerdings nichts auf dem Tisch liegen. ({0}) Am 2. März ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergangen. Wir haben jetzt den 16. Dezember. Wir haben klare Kriterien aufgestellt und erwarten jetzt, dass Sie als Koalition etwas vorlegen, das die folgenden Kriterien berücksichtigt: Datensicherheit, Begrenzung der Verwendung - das ist ja schon gesagt worden und in der Diskussion -, ({1}) Transparenz, das heißt, die Bürgerinnen und Bürger müssen informiert werden über das, was gespeichert wird, und Rechtsschutz. Nun sind Sie am Zug, etwas vorzulegen. ({2}) Wir wissen auch, dass Sie sich nicht einigen können. Das lesen wir ja jeden Tag in der Presse. Deswegen sage ich noch einmal: Der Ball ist in Ihrem Feld. Wir bieten an, konstruktiv mitzuarbeiten. ({3}) Insofern besteht kein Unterschied zu den Aussagen meines stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Olaf Scholz. ({4}) - Das ist eine klare Position, aber selbstverständlich. ({5}) Meine Damen und Herren, wir warten ab, was Sie vorlegen. Die SPD wird sich dann eine Meinung bilden. Wir werden uns konstruktiv einbringen. Ich will noch einmal daran erinnern, was das Bundesverfassungsgericht gesagt hat. Weil ich das wichtig genug finde und das ja wirklich ein ganz entscheidender Punkt in der Debatte ist, möchte ich gerne, dass die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen in der weiteren Debatte das auch berücksichtigen und in die europäische Debatte einspeisen, nämlich dass Möglichkeiten zur Wahrnehmung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger bei der Registrierung von Daten zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland gehören. Von Ihrer Seite, liebe Kolleginnen und Kollegen, habe ich nicht gehört, dass das erfolgen soll. Es gibt keinen Beitrag zur Evaluierung. Sie haben keine klare Position dazu, was Sie in Europa vortragen wollen. Deswegen komme ich zu dem Ergebnis: Nichtstun ist keine Antwort. Wir haben aber eine klare Position. Diese werden wir einbringen. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Sensburg das Wort. ({0})

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen - ich sage das direkt von vorne her frei heraus - ist politisch durchschaubar, europarechtlich fragwürdig, wenn nicht gar grenzwertig, und sicherheitspolitisch verantwortungslos. ({0}) Herr Kollege von Notz, damit erübrigt sich auch die Frage nach unserer Position, die Sie ja eben noch an die SPD gestellt haben. ({1}) Sie beantragen, die Bundesregierung möge weiteren Vorhaben zur Vorratsdatenspeicherung auf europäischer Ebene entgegentreten, und, man solle die vollständige Aufhebung der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie fordern. ({2}) Bei der Vorratsdatenspeicherung handelt es sich um bindendes Europarecht. Eine Richtlinie bedarf der Umsetzung. Das müssen inhaltlich die Mitgliedstaaten machen. Die Umsetzung hätte letztendlich bis zum 15. März 2009 erfolgen müssen. Sprich: Wir haben derzeit einen europarechtswidrigen Zustand. Wir verletzen die europäischen Verträge. Sie fordern, dass wir genau das weitermachen. Dazu kann ich nur sagen: Auf welchen europarechtlichen Grundsätzen stehen Sie eigentlich, wenn Sie sehenden Auges in die Rechtswidrigkeit hereinrennen wollen? Das ist schon etwas abstrus. ({3}) Die Vorratsdatenspeicherung ist aus sicherheitspolitischen Aspekten ein dringend benötigtes Instrument. Deswegen haben fast alle Länder diese Richtlinie umgesetzt: 20 Länder haben die Richtlinie umgesetzt, in drei Ländern befindet sie sich in der Umsetzung, und in zwei Ländern haben Verfassungsgerichte die Umsetzung aufgehoben, nämlich bei uns in Deutschland und in Rumänien. Die ganz überwiegende Mehrheit der Länder hat die Richtlinie umgesetzt und arbeitet erfolgreich mit der Richtlinie; das müssen wir auch sagen. Wir haben ein Problem durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010. Es ist ja nicht so, wie es gerade dargestellt worden ist, dass das Bundesverfassungsgericht gesagt hätte, die Vorratsdatenspeicherung wäre verfassungswidrig. Ich zitiere Ihnen auch einmal einen Satz aus dem Urteil: Eine sechsmonatige, vorsorglich anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten … ist mit Art. 10 GG nicht schlechthin unvereinbar … Das Verfassungsgericht sagt also ganz deutlich: Das, was uns die europäische Richtlinie vorgibt, ist mit unserer Verfassung vereinbar, aber nur dann - auch das hat das Bundesverfassungsgericht ganz deutlich gesagt -, wenn Datensicherheit, Datenverwendung, Transparenz und Rechtsschutz gegeben sind. ({4}) Wir müssen jetzt daran arbeiten, dass wir eine Richtlinie hinbekommen, die das erfüllt. Die Koalition wird so etwas vorlegen. ({5}) Karlsruhe hat klipp und klar gesagt: Die Vorratsdatenspeicherung ist nicht verfassungswidrig, sondern sie ist verfassungsgemäß. - Wir als Gesetzgeber müssen jetzt handeln. Dazu muss die Bundesregierung einen entsprechenden Vorschlag vorlegen. ({6}) Eigentlich, meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, dürften Sie nicht die vollständige Aufhebung der Richtlinie fordern. Im Grunde genommen müssten Sie die zügige Umsetzung fordern, wenn Sie rechtmäßig handeln würden. ({7}) Sie sagen immer: Setzen Sie europäisches Recht endlich in nationales Recht um, wie es Ihre Aufgabe ist. - Dazu kann man nur sagen: Man kann Frau Malmström nur dafür danken, dass die Richtlinie evaluiert wird. Sie wird aber evaluiert, um zu schauen, wie gut es läuft und wo Verbesserungen notwendig sind. ({8}) Wir werden nicht vor dem Frühjahr nächsten Jahres mit Ergebnissen rechnen können. Wenn diese auch noch implementiert werden müssen, dann wird es noch anderthalb bis zwei Jahre dauern. Das soll aber nicht heißen, dass wir einen europarechtswidrigen Zustand so lange aufrechterhalten. Vielmehr haben wir die Pflicht, die Richtlinie verfassungskonform und europarechtskonform umzusetzen. Das müssen wir machen. Auch Frau Malmström hat das am 3. Dezember ganz deutlich gesagt. Dass evaluiert wird, entbindet nicht von der Verpflichtung, die Richtlinie umzusetzen. Das meinen Sie aber; allerdings ist das falsch. Wir müssen die Richtlinie umsetzen. Ich glaube, da stellen Sie Ihre politischen Wünsche über die Rechtsstaatlichkeit. So geht es leider nicht. ({9}) Die Generalstaatsanwälte haben auf ihrer Arbeitstagung vom 9. bis 11. November Folgendes beschlossen - ich trage Ihnen das einmal vor; vielleicht trägt das zu Ihrer Erhellung bei -: Die Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälte sowie die Generalbundesanwältin stellen fest, dass der Wegfall der Vorratsdatenspeicherung dazu geführt hat, dass auch schwere und schwerste Straftaten nicht mehr aufgeklärt werden können. Sie halten eine schnelle gesetzliche Regelung nach Maßgabe des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010 für dringend erforderlich. - Auch da sagen unsere Strafverfolgungsbehörden, dass wir die Vorratsdatenspeicherung brauchen. ({10}) - Wir machen das. Warum stellen Sie solche Anträge? ({11}) Wir debattieren über Ihren Antrag. Das scheint Ihnen entgangen zu sein. Sie bringen einen Antrag ein „Vorratsdatenspeicherung entgegenwirken - Richtlinie aufheben“ und fragen uns, warum wir jetzt tätig werden. Das ist wirklich skurril. Dann ziehen Sie doch Ihren Antrag zurück. ({12}) Hinzu kommt noch die Überlegung, dass Sie meinen, Quick Freeze wäre die Alternative zur Vorratsdatenspeicherung. Auch ich bin inzwischen ein Befürworter von Quick Freeze geworden, weil Quick Freeze nämlich ganz eindeutig die Vorratsdatenspeicherung voraussetzt; denn man kann nichts einfrieren, was man vorher nicht gespeichert hat. ({13}) Gucken wir uns einmal die Fälle an, die aufgetreten sind: Aus Luxemburg sind uns 1 200 IP-Adressen von Delikten gemeldet worden. Dann muss geschaut werden, wem sich diese IP-Adresse zuordnen lässt und wie man sie matchen kann. Dazu kann man nur sagen: Das sind keine Alternativen, sondern wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung. Das ist genauso, als wenn Sie bei einem Banküberfall zwar ein Autonummernschild registrieren, dann aber den Halter nicht ermitteln können, weil es keine Hinterlegung gibt, wem dieses Autokennzeichen zuzuordnen ist. Wir brauchen also die Vorratsdatenspeicherung für die Ermittlung von schweren und schwersten Straftraten. Wir können nicht einfach wegsehen, wie Sie es machen wollen, und sagen: Das legen wir jetzt ad acta. Verweigern Sie sich nicht aus ideologischen Gründen, die Vorratsdatenspeicherung zu überarbeiten und zuzulassen. Wir werden das machen. Wir werden die Vorratsdatenspeicherung verfassungskonform ausgestalten. Ihr Antrag hat weder Hand noch Fuß. Deswegen kann man ihn nur ablehnen. Danke schön. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war gerade immerhin ein Standpunkt; das muss man sagen. Hingegen hat Kollegin Högl nur gesagt, es sei „sehr richtig und wichtig, dass die Richtlinie evaluiert wird“ und sie von der Bundesregierung erwarte, „dass sie etwas vorlegt und sagt, was sie in die Evaluierung einbringt“. ({0}) Allerdings müssten die Sozen einmal klären, was ihre Meinung dazu ist. Dann könnte man darüber diskutieren. Andere Oppositionsparteien haben sich eine Meinung gebildet; auch die CDU/CSU und die FDP haben eine Meinung. Nur die Sozen haben keine Meinung dazu. Das ist die Situation. Damit ist man raus aus der Debatte. ({1}) Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat sich nichts geändert - ich darf überraschenderweise sagen, dass die Kollegin Piltz da schlicht recht hat -: Wir hatten vor der Einführung der Vorratsdatenspeicherung offensichtlich kein größeres Problem; nach der Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung durch das Bundesverfassungsgericht gibt es offensichtlich auch kein größeres Problem. Es ist nicht so, dass jetzt auf einmal überall die Kriminalität explodiert. Kollegin Piltz, in diesem Falle haben Sie sehr recht. Ich hoffe, dass Sie das auch Ihrem Koalitionspartner verklickern können. Richtig ist - das ist zu Recht gesagt worden -: Das Bundesverfassungsgericht hat zu der Regelung, die es gab, gesagt, dass das gar nicht funktioniert. Es hat auch gesagt, unter bestimmten, hohen Voraussetzungen sei eine Vorratsdatenspeicherung möglich. Das ist zunächst einmal richtig: Das Gericht hat nicht gesagt, dass es auf keinen Fall möglich ist. Das Gericht hat aber auch nicht gesagt, dass wir Vorratsdatenspeicherung betreiben sollen. In der jetzigen politischen Auseinandersetzung geht es darum, ob wir sie betreiben wollen oder nicht. ({2}) Wir haben uns eine klare Meinung dazu gebildet. Im Übrigen werden wir im Gegensatz zur SPD auf keinen Fall die Einführung der Vorratsdatenspeicherung konstruktiv begleiten. Wir werden extrem konstruktiv dagegen arbeiten. Zumindest das können wir zusagen. ({3}) All Ihre Vorhaben - Ihre Datensammelwut, der Abbau von Grund- und Freiheitsrechten in den letzten Jahren - haben zwei Gemeinsamkeiten: Zum einen werden dort leichtfertig lang erkämpfte demokratische Rechte geopfert; zum Zweiten - das ist hier heute zu Recht anerkannt worden - haben Sie weder bei der Onlinedurchsuchung noch bei anderen Maßnahmen dem Bundestag plausibel darlegen können, warum die Maßnahmen wichtig sind und worin der konkrete Nutzen besteht. Das haben Sie nicht gemacht; das wäre einmal schön.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Korte, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Sensburg?

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. Schöne Bescherung!

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Korte, ist Ihnen bekannt, dass man europäische Richtlinien innerhalb der Frist, die in der Richtlinie genannt ist, umzusetzen hat? Macht das ein Mitgliedstaat nicht, verstößt er gegen Europarecht, gegen die europäischen Verträge, die wir alle unterzeichnet haben. ({0}) Dann besteht sogar die Möglichkeit, dass es zu einem Vertragsverletzungsverfahren kommt. Ist Ihnen das bekannt? Denn gerade haben Sie gesagt, es bleibe uns überlassen, ob wir das machen oder nicht.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir beschließen das hier im Bundestag. Wer im Glashaus sitzt, sollte bekanntlich nicht mit Steinen werfen. Fakt ist: Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass das, was Sie eingebracht und dem Sie zugestimmt haben, gar nicht geht und dass alle Daten, die gespeichert worden sind, zu löschen sind. Sie haben dem entsprechenden Gesetz zugestimmt; die Linke hat dem nicht zugestimmt. Wir haben uns in diesem Fall offenbar völlig verfassungskonform verhalten; das ist erst einmal festzuhalten. ({0}) Zweitens: Stichwort Europa. Folgendes Verhalten ist interessant - das waren, um vor Weihnachten etwas Versöhnliches zu sagen, nicht nur Sie -: Bei bestimmten Maßnahmen im Bereich der inneren Sicherheit - etwa Biometrie in Ausweisen -, die man hier in der Bundesrepublik nicht durchbekommen würde, weil es zu viel Widerstand in der Gesellschaft gibt, haben Sie und Ihre Vorgänger immer wieder versucht, über die Bande, über Europa zu spielen und dort massiv das einzufordern, was Sie hier nicht durchsetzen können, um dann zu sagen, es handele sich um eine EU-Richtlinie, die wir umsetzen müssten. Das geht natürlich nicht. Man müsste es umgekehrt machen: Man müsste die Europäische Union nutzen, um die Grundrechte besser zu schützen. So viel dazu. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Korte, der Kollege Kauder möchte Sie auch noch etwas fragen.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, bitte.

Siegfried Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003563, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, könnten wir uns darauf einigen, dass Sie die Frage des Kollegen Sensburg bewusst nicht beantwortet haben? Sie haben hypothetisch gesagt, was Siegfried Kauder ({0}) wäre, wenn es diese europäische Richtlinie nicht gäbe. Es gibt sie aber. Jetzt sind Sie dran. ({1})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Kauder, in der Tat gibt es die europäische Richtlinie. Aber gab es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, oder habe ich da irgendetwas übersehen? Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: So, wie die Richtlinie hier umgesetzt werden soll, ist es nicht zulässig; das geht nicht. Das ist doch die Situation. Sehe ich das falsch, oder wie? ({0}) Ich finde, ich sehe das vollkommen richtig: Wir haben kein verfassungsfeindliches Gesetz eingebracht, Sie schon. Das ist die Situation. ({1}) In diesem Falle ist es spannend, wie sich die FDP verhält. Ich würde mir natürlich wünschen, dass Sie die ganze Energie, die Sie aufwenden, um Ihren Parteivorsitzenden zu demontieren, in den Widerstand gegen die Vorratsdatenspeicherung umleiten könnten. Das wäre sehr gut. ({2}) Eines will ich ganz ernsthaft sagen: In der Tat ist es besser - Kollege Stadler, damit haben Sie von der FDP recht, auch wenn Sie das nicht so explizit gesagt haben -, wenn Sie gar nichts einreichen, als das zu übernehmen, was die Union möchte. Deswegen hoffe ich, dass Sie in diesem Punkt weiterhin nichts einreichen werden. Die Linke steht in dieser Frage an der Seite der FDP. Halten Sie stand, Kollege Stadler und Kollegin Piltz. Das ist richtig. ({3}) - Schließlich wollen wir sachlich Politik machen. Lange Rede, kurzer Sinn: Der Antrag der Grünen ist selbstverständlich sinnvoll. Er ist angebracht und auf der Höhe der Zeit. Er findet unsere volle Unterstützung. Wir bleiben ganz klar dabei: Nein zur Vorratsdatenspeicherung ({4}) und Ja zu einer freien und aufmüpfigen Kommunikation. Das braucht diese Demokratie. Schönen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe SPD, es ist wirklich lustig, wenn man der Regierung vorwirft, vor lauter Zerstrittenheit nicht liefern zu können, wenn man selbst vor lauter Zerstrittenheit nicht sprechfähig ist. ({0}) Zu dieser zentralen bürgerrechtlichen Frage haben Sie sieben Minuten lang nichts gesagt. Das ist bedauerlich. Liebe Union, lieber Herr Kollege Sensburg, lieber Herr Kauder, diese Europahörigkeit, zumal die einer liberalen Frau Malmström, würde man sich in anderen Fragen auch wünschen, gerade in diesen Zeiten. Die Aufmüpfigkeit gegenüber Europa sitzt sozusagen in diesem Tortenstück. Hier tun Sie so, als würde quasi alles, was in Brüssel gemacht wird, vom Himmel fallen und als müsse man das schnell ausführen, weil man ein braver Europäer ist. So ist das nun auch nicht. Man kann es schon kritisch gegen das eigene Grundgesetz halten, und das wollen wir tun. ({1}) Seit dem Karlsruher Urteil vergeht keine Woche, in der Sie die Vorratsdatenspeicherung nicht als Allheilmittel gegen alle möglichen Gefahren preisen. Das reicht bis zu Mobbing und Beleidigungen. Dabei drängt sich die Frage auf: Ist die Vorratsdatenspeicherung wirklich ein Allheilmittel, ist sie in Sachen Kriminalpolitik wirklich eine eierlegende Wollmilchsau, was Sie hier heute wieder suggerieren? Das ist sie eben nicht; denn die Vorratsdatenspeicherung kommt - das hat das Gericht glasklar gesagt -, wenn überhaupt, nur bei schwersten Straftaten in Betracht. Bezüglich der Auswirkungen der Vorratsdatenspeicherung auf die polizeiliche Kriminalitätsstatistik hat Frau Kollegin Piltz schon darauf hingewiesen, dass der zweijährige Test, der in den Jahren 2008 bis 2010 durchgeführt wurde, gezeigt hat, dass dadurch keine messbaren Änderungen zu verzeichnen sind. Etwas geht überhaupt nicht. Herr Sensburg, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie auf die Äußerungen von Frau Malmström eingegangen sind. Man kann nicht wie Frau Malmström behaupten, dass sich an der Tatsache, dass es pro Jahr und Land im Durchschnitt 148 000 Zugriffe gibt - das ist offensichtlich die Zahl -, die Effektivität der Vorratsdatenspeicherung manifestieren würde. Das ist total unseriös. Das ist ungefähr so, als würde man sagen, dass sich aus der Tatsache, dass Millionen Menschen morgens Horoskope lesen, Rückschlüsse auf den Wahrheitsgehalt der Horoskope ziehen lassen. ({2}) Das ist unwissenschaftlich und unseriös. So kann man mit Fragen, die den Kern unserer Verfassung berühren, nicht in Brüssel und auch nicht hier im Hohen Haus umgehen. ({3}) Weil Ihnen hartes Zahlenmaterial fehlt, kommen Sie oft mit dem Einzelfall. Auch das BKA liefert häufig Einzelfälle. Ich sage Ihnen: Die Einzelfälle sind zweifellos schlimm - daran gibt es nichts zu rütteln -, aber der Einzelfall - Herr Kauder, das ist mein guter juristischer Gedanke, der Sie freuen wird - ist der denkbar schlechteste Ratgeber für den Gesetzgeber. Ob die Vorratsdatenspeicherung in diesen Fällen, die aufgeführt werden, hilft oder nicht, ist eine rein hypothetische Frage. Belegbar ist das nicht. Das Einzelfallargument kann nicht als seriöse Grundlage für einen so tiefen Grundrechtseingriff dienen. Zum letzten, einem wundersamen Punkt, Herr Kollege Sensburg, der mir auch in Ihrer Argumentation aufgefallen ist: Bis heute legen Sie keinen Entwurf vor, der zeigt, wie die Vorratsdatenspeicherung aussehen könnte. Meine These ist: Sie können es aufgrund der Voraussetzungen, die das Bundesverfassungsgericht genannt hat, nicht so einfach in einem Gesetz umsetzen; das ist nämlich nicht so ohne. ({4}) Zuletzt. Die aktuelle Debatte über WikiLeaks wirft ein ganz neues Licht auf die Pläne einer Massenspeicherung. Jede Vorratsdatenspeicherung ist die Schaffung einer beispiellosen Tatgelegenheitsinfrastruktur. Sie ist eine Einladung zum Datenmissbrauch und führt das Gebot der Datensparsamkeit durch staatliche Speicherverpflichtung ad absurdum. Ich komme zum Schluss. Ihr Vorhaben ist bürgerrechtlich gesehen Gift für diese Demokratie. ({5}) Sie wollen unsere Kommunikationsinfrastruktur zu einem Strafverfolgungsnetz umbauen. Sie beschädigen damit das Vertrauen der Menschen, in einem freiheitlichen Rechtsstaat ohne Überwachung kommunizieren zu können. Deswegen ist die Vorratsdatenspeicherung der falsche Weg. Ich bitte Sie in dieser weihnachtlichen Zeit: Kehren Sie um! Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Christian Ahrendt für die FDP-Fraktion. ({0})

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Präsidentin! Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen! Liebe Frau Högl, die Regierung ist für viel verantwortlich, aber dass wir jetzt von der Opposition aufgefordert werden, die Weihnachtsgeschenke unter Ihren Tannenbaum zu legen, ist ein ganz besonderer Wunsch. Tatsache ist: Dass Sie diesen Wunsch überhaupt äußern konnten, ist Abgeordneten wie Gisela Piltz zu verdanken, die, vertreten von der Justizministerin, gegen die Umsetzung der Richtlinie in Karlsruhe geklagt haben. ({0}) Dass wir heute überhaupt darüber nachdenken können, wie wir unsere Vorstellungen zu diesem Thema auf europäischer Ebene formulieren, ist Abgeordneten wie Gisela Piltz zu verdanken. ({1}) Das muss man an dieser Stelle ganz klar sagen. ({2}) Es stellt sich die Frage - das ist eben in der Debatte deutlich geworden -: Wie gehen wir mit der Situation um? Wir haben eine Richtlinie, die umgesetzt werden muss, und ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, in dem das, was hier von der Großen Koalition umgesetzt worden ist, für verfassungswidrig erklärt wurde. In einer solchen Situation ist zunächst einmal Sorgfalt angezeigt. Auf europäischer Ebene wird evaluiert. Wir wissen noch nicht, wie sich die Evaluation entwickeln wird und wie sie im März 2011 abgeschlossen wird. Sie war für September angekündigt. Man muss abwarten, was kommt. Spannend ist auch: Wir haben das erste Mal die Situation, dass ein Land, nämlich Irland, über sein höchstes Gericht dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorlegt, wie mit der Vorratsdatenspeicherung im Hinblick auf europäische Grundrechte umzugehen ist. Man muss sich fragen, ob man nicht erst abwartet, wie sich das Schicksal der Richtlinie auf europäischer Ebene und vor dem EuGH entwickelt, oder ob man mit vorauseilendem Gehorsam unterwegs ist. ({3}) Man muss sich auch über einen weiteren Punkt klar werden. Eine Umsetzung der Richtlinie ist gar nicht mehr möglich, weil das Bundesverfassungsgerichtsurteil besagt, dass die Richtlinie so, wie sie formuliert ist, in Deutschland nicht mehr umsetzbar ist; denn das wäre gegen dieses Urteil. Auch das muss man sich klarmachen. Man muss sich in dieser Situation fragen: Wie geht man mit dem Gesamtthema Vorratsdatenspeicherung um? Man muss zu einem klaren Ergebnis kommen. Dazu muss man die Entwicklung der Rechtsprechung hin zu diesem Urteil betrachten. Zunächst kam es zur Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung. Während dieser Zeit durfte nur im Rahmen des § 100 g der Strafprozessordnung, also bei besonders schweren Straftaten, auf Vorratsdaten zugegriffen werden. Selbst diese Regelung hat das Bundesverfassungsgericht nicht aufrechterhalten. Es hat sozusagen seinen eigenen einstweiligen Rechtsschutz einkassiert und ist in dem Urteil darüber hinausgegangen. Das ist ein klares Signal, wohin es gehen muss. Es kann, weil es darum geht, Straftaten aufzuklären, nur in eine Richtung gehen: Man puffert kurzfristig Daten, wenn es dazu einen konkreten Anlass, nämlich einen Verdacht für eine Straftat, gibt und wenn es einen entsprechenden richterlichen Beschluss gibt, diese Daten für strafrechtliche Ermittlungen zu nutzen. ({4}) Das ist das, was wir in unserer Rechtsordnung an jeder Stelle kennen. Das ist auch das, was nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts maximal umgesetzt werden kann. Diese Diskussion müssen wir führen. Strafrecht muss sein. Aufklärung muss sein. Aber massenhafte, vorbehaltslose Vorratsdatenspeicherung kann es nicht mehr geben. Danke schön. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer für die Unionsfraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Liebe Kollegen! Zunächst einmal ist und bleibt festzuhalten: Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 2. März dieses Jahres deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung möglich und verfassungsgemäß ist. ({0}) Sie können sich sicher sein, meine liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition: Es wird uns gelingen, eine verfassungskonforme und europarechtskonforme Umsetzung dieser EU-Richtlinie ins Werk zu setzen. ({1}) Wir werden den Grundsätzen der Transparenz, der Rechtsstaatlichkeit, des Datenschutzes und vor allem der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen ({2}) und diese Richtlinie umsetzen. ({3}) Lieber Kollege von Notz, ich habe natürlich Verständnis dafür, dass Sie versuchen, sich über das Thema Verbindungsdatenspeicherung zu profilieren; das ist in Ordnung. Aber ich bitte Sie, auf Ihre Wortwahl zu achten. Sie sagten, die Umsetzung der Richtlinie oder die Vorratsdatenspeicherung seien Gift für die Demokratie bzw. Gift für den Rechtsstaat. Ich bitte Sie, auf solche Formulierungen wirklich zu verzichten und entsprechend abzurüsten. Es geht hier um ein hochseriöses und wichtiges Thema. Da hat solche Polemik nichts verloren. ({4}) Des Weiteren ist festzuhalten, dass wir nicht umhinkommen, diese Richtlinie umzusetzen. Mir kommt es ein bisschen so vor, dass es denjenigen, die jetzt die Hoffnung haben, Europa wird die EU-Richtlinie und die Verbindungsdatenspeicherung zu Fall bringen, genauso ergehen wird wie denjenigen, die auf Godot gewartet haben. ({5}) Sie haben nämlich vergebens gewartet. ({6}) Die EU-Kommissarin Malmström hat vor zwei Wochen deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie an dieser Richtlinie festhalten und es eine Evaluierung geben wird, dass aber keinesfalls daran gedacht ist, diese EU-Richtlinie abzuschaffen - ganz im Gegenteil. Die EU-Kommissarin Malmström ist bekanntermaßen keine konservative Politikerin, sondern eine liberale Politikerin. ({7}) Wir kommen gar nicht umhin, diese EU-Richtlinie umzusetzen, genauso wie es 20 andere EU-Länder bereits getan haben. Es ist doch kein Geheimnis: Der blaue Brief aus Brüssel ist in Berlin schon eingegangen. Es droht auch gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren, wie es gegen Schweden und Österreich bereits läuft. Diese EURichtlinie muss und wird also umgesetzt werden. Davon bin ich fest überzeugt. ({8}) Eine ganz wichtige Frage lautet: Welche Auswirkungen hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die Arbeit unserer Ermittlungsbehörden? Ich Stephan Mayer ({9}) gebe Ihnen sogar recht, Herr Kollege von Notz, wenn Sie sagen: Die Verbindungsdatenspeicherung ist kein Allheilmittel. - Das ist richtig. Aber die Verbindungsdatenspeicherung ist aus meiner Sicht eine essenzielle, eine nicht verzichtbare Methode, die dazu beiträgt, schwerstkriminelle Straftäter zur Strecke zu bringen oder terroristische Angriffe in Deutschland zu verhindern. ({10}) Die Zahlen liegen auf dem Tisch. Mittlerweile können die Ermittlungsbehörden in Deutschland 78 Prozent aller Auskunftsersuchen, die sie an Internetprovider richten, nicht mehr mit einem positiven Ergebnis abschließen. 78 Prozent aller Auskunftsersuchen gehen ins Leere. Es ist nun einmal so, dass die IP-Adresse insbesondere bei Straftaten im Internet und im Umfeld des Internets der einzige Ermittlungsansatz ist. ({11}) In diesem Jahr gab es ein größeres Ermittlungsverfahren mit 120 Tatverdächtigen. In diesem Verfahren konnten nicht einmal 2 Prozent der Tatverdächtigen ermittelt werden, weil die Telekommunikationsunternehmen keine Daten mehr speichern. Nur die Deutsche Telekom speichert noch Daten, aus abrechnungstechnischen Gründen für eine Woche. Andere Telekommunikationsunternehmen wie Arcor oder HanseNet speichern die Daten überhaupt nicht mehr. Bei Flatrates, die immer mehr im Kommen sind, wird die IP-Adresse nun einmal nicht gespeichert. Deswegen kommen wir gar nicht umhin, eine Speicherung der IP-Adressen vorzunehmen. Das ist für unsere Ermittlungsbehörden ein essenzielles Mittel. Da Sie, lieber Kollege von Notz, ein bisschen lapidar von Einzelfällen gesprochen haben, ({12}) bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass es auch Fälle gab - das ist nicht gelogen; das hat sich in diesem Jahr leider Gottes so zugetragen -, in denen Selbstmörder nicht mehr rechtzeitig ausfindig gemacht werden konnten, sondern erst drei Stunden nachdem sie Selbstmord begangen haben. Wenn in diesen Fällen die IP-Adresse feststellbar gewesen wäre, dann wären diese Menschen möglicherweise - nicht mit Sicherheit, aber möglicherweise - noch rechtzeitig gefunden und gerettet worden. ({13}) Ich bitte Sie deshalb eindringlich, nicht lapidar von Einzelfällen zu sprechen. ({14}) Es geht um zahlreiche Einzelfälle in Deutschland, um Tausende oder Hunderttausende. Ihnen gilt es Rechnung zu tragen. Deswegen brauchen wir schnellstmöglich eine vernünftige Regelung zur Mindestspeicherfrist. ({15}) Ein letzter Punkt noch. Es ist ja immer vom Quickfreeze-Verfahren die Rede. Abgesehen davon - das ist mittlerweile hinlänglich bekannt -, dass man nur Sachen speichern kann, die man auch wirklich hat - man kann einem Nackten nicht in die Tasche greifen; Dinge, die nicht gespeichert sind, kann man auch nicht einfrieren -, ({16}) hat die EU-Kommissarin Malmström deutlich zum Ausdruck gebracht, dass das Quick-freeze-Verfahren nicht den Voraussetzungen der EU-Richtlinie entspricht. ({17}) Beim Quick-freeze-Verfahren handelt es sich um eine anlassbezogene Speicherung, und es genügt diesen Voraussetzungen deshalb nicht. Zuallerletzt ist deutlich zu machen, dass das Bundesverfassungsgericht selbst in seinem Urteil vom 2. März zum Ausdruck gebracht hat, dass das Quick-freeze-Verfahren keine Umsetzung der EU-Richtlinie wäre. Deswegen, glaube ich, sollten wir uns mit dem Thema zwar beschäftigen, aber wir brauchen eine schnellstmögliche Umsetzung dieser EU-Richtlinie. Da selbst Wochenzeitschriften und -zeitungen wie Die Zeit oder der Stern, die nicht in dem Ruf stehen, rechtskonservative Publikationen zu sein, sich deutlich für eine Verbindungsdatenspeicherung aussprechen, ({18}) bitte ich Sie, einzulenken und sich einer vernünftigen Lösung nicht zu verschließen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts- ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Keine Vorratsdatenspeicherung über den Umweg Europa“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3589, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1168 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion ge- gen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD- Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än9018 Vizepräsidentin Petra Pau derung des Strafgesetzbuchs - Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte - Drucksache 17/4143 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches ({1}) - Drucksache 17/2165 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Innenausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ahrendt für die FDP-Fraktion. ({3})

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Retten, löschen, helfen und schützen das ist das, was Feuerwehrleute, Rettungssanitäter und Polizisten in Deutschland tagtäglich für unsere Bürgerinnen und Bürger leisten. Trotzdem sehen sie sich in zunehmendem Maße Angriffen ausgesetzt. Deswegen ist es wichtig, dass wir den Schutz unserer Polizisten, unserer Feuerwehrleute und auch den der Rettungssanitäter verbessern. Dazu legen wir Ihnen einen Gesetzentwurf vor, der eine Verschärfung der Gesetzeslage bei Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vorsieht. Ich will einmal an einem kleinen Beispiel deutlich machen, worum es geht: Da werden einige Feuerwehrleute Silvester 2008/2009 zu einem Brandeinsatz gerufen. Sie fahren hin, finden brennende Container vor und werden bei ihrem Einsatz mit Raketen beschossen und mit Böllern beworfen. Es ist festzustellen, dass Polizeibeamte, wenn sie ganz normal ihren Dienst verrichten, sich zunehmend Angriffen ausgesetzt sehen. Die Bundespolizei verzeichnete im Jahre 2009 1 555 Straftaten gegen Polizeibeamte bei ganz profanen Dingen wie Identitätsfeststellung, Ingewahrsamnahmen und Festnahmen, die zum normalen Dienst eines Beamten gehören. 462 körperliche Verletzungen mit Krankenhausbehandlungen waren die Folge. In den Ländern sieht es nicht besser aus. In Nordrhein-Westfalen gab es im Jahre 2008 6 400 Widerstandshandlungen; in Bayern waren es 3 500. Die Zahlen sind also auch da hoch. Deswegen ist es von großer Bedeutung, nicht nur den Schutz zu verbessern, sondern auch den Straftatbestand des § 113 Strafgesetzbuch zu ändern, und zwar einmal dadurch, dass man die generalpräventive Wirkung verschärft, indem das Strafmaß angehoben wird, zum Zweiten dadurch, dass auch das gefährliche Werkzeug in den Straftatbestand einbezogen wird, und zu guter Letzt dadurch, dass der Kreis der geschützten Personen auf Rettungskräfte und Feuerwehrleute erweitert wird. Das ist es, was wir mit dem Gesetzentwurf bezwecken. Wie wichtig das ist, wird an Tagen deutlich, an denen wir erleben, dass diejenigen, die uns schützen, zur Kenntnis nehmen müssen, dass andere, die eigentlich mit für ihren Schutz verantwortlich sind, gemeinsam mit denjenigen demonstrieren, die sie angreifen. Wir erleben das jetzt gerade in Mecklenburg-Vorpommern, wo der Ministerpräsident mit solchen Leuten unterwegs ist, die das berühmte Schottern ausüben, während der Innenminister im Einsatzstab bei seinen Polizisten ist. Wir senden hier das klare Signal aus, dass diese geistige Beihilfe zum Widerstand gegen Polizeibeamte nicht weiter geleistet werden darf. Deswegen ist die Verschärfung des § 113 Strafgesetzbuch wichtig. ({0}) - Auch durch Ihren Zwischenruf helfen Sie hier nicht, Herr Kollege. ({1}) Wir müssen nicht nur die Strafen verschärfen, sondern auch die Länder sind ein Stück weit gefordert, weil immer mehr Polizisten in immer mehr Einsätzen sind und die Polizeien in den Ländern in den letzten Jahren personell ausgedünnt worden sind. Wir brauchen auch ein Stück weit Verbesserungen bei der Ausbildung unserer Polizisten. Das, was wir als Koalition hier auf Bundesebene zur Verbesserung des Schutzes tun können, ist das eine, aber auch die Länder sind gefordert, die Situation der Polizeibeamten zu verbessern. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungskräfte müssen immer und jederzeit bereit sein, ihre Gesundheit und teilweise auch ihr Leben einzusetzen, um Menschen in Not und in besonderen Situationen zu helfen. Deswegen ist es wichtig, dass die Koalition handelt. Sie handelt konsequent. ({2}) Deswegen verschärfen wir den § 113 Strafgesetzbuch. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion. ({0})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Ahrendt, ich fand es schon ein bisschen befremdlich, dass sich ausgerechnet ein Vertreter der FDP, der Liberalen, hier hinstellt und das Demonstrationsrecht, ({0}) also die Möglichkeit, zu demonstrieren und seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, die im Grundgesetz verankert ist, infrage stellt und die Teilnahme an Demonstrationen - ich will es kaum wiederholen - als geistige Beihilfe darstellt. ({1}) Ich glaube, als überzeugter Liberaler sollten Sie sich für eine solche Äußerung schämen. Schämen, schämen, schämen! ({2}) - Mich wundert es nicht, dass Sie aufgeregt sind. Wenn eine solche Äußerung aus unseren Reihen käme, dann würde auch ich mich aufregen - aber ganz gewaltig. Das kann ich mir bei den Liberalen noch viel besser vorstellen. ({3}) Jetzt möchte ich aber zum Gesetzentwurf kommen. Herr Ahrendt, wir alle hier in diesem Hause sind uns einig, dass Gewalt kein Mittel zur Auseinandersetzung sein darf. ({4}) Ich bin der Meinung: Demonstration ja, aber Gewalt nein. ({5}) - Nein, ich glaube, Sie stellen hier etwas in einen völlig falschen Zusammenhang. Eine Demonstration hat nichts mit Gewalt zu tun, ({6}) eine Demonstration ist das durch die Verfassung gewährte Recht, seine Meinung kundzutun. Wenn das für Sie Gewalt ist, dann sollten Sie Ihr Verfassungsverständnis überprüfen, lieber Kollege. Mir geht wirklich die Hutschnur hoch, wenn so etwas in diesem Haus ausgerechnet von den Liberalen zum Besten gegeben wird. ({7}) Ich glaube, ich muss für die SPD nicht besonders erklären, dass für uns Gewalt gegen Polizeibeamte, gegen Rettungsdienste, gegen den Katastrophenschutz und gegen die Feuerwehr nicht zu akzeptieren ist. Man muss sich die Frage stellen, was dagegen zu tun ist. In diesem Punkt bin ich mit Ihnen der Meinung: Da müssen wir genau hinschauen. Ich sage Ihnen aber auch, dass wir die Diskussion über diese Frage kritisch-konstruktiv begleiten werden, wie wir es auch in anderen Bereichen schon durchexerziert haben. Jetzt will ich Ihnen einige Punkte dazu sagen. Es passt nicht, dass Sie hier alle geplanten Maßnahmen gleichsetzen. In diesem Gesetzentwurf werden drei verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen. Lassen Sie uns eine nach der anderen prüfen. Sie schlagen auf der einen Seite eine Verschärfung des § 113 StGB vor, indem Sie die Strafandrohung von zwei Jahren auf drei Jahre hochsetzen wollen. Dazu sage ich: Das ist nichts anderes als ein Symbolstrafrecht und sonst nichts. ({8}) Damit helfen Sie keinem einzigen Polizeibeamten; denn das, was Sie ansprechen, die massive Ausübung von Gewalt, ist bisher nicht straffrei. Wenn ein Polizist beispielsweise bei einer Demonstration von jemandem angegriffen wird und unter Umständen einen Zahn verliert, dann ist es nicht so, dass der Täter nicht belangt werden kann. Dazu benötigt man aber den § 113 nicht; dafür sind schon die Gesetze zur gefährlichen Körperverletzung einschlägig. Den § 113 benötigt man hierfür nicht, weil er nichts anderes als ein Auffangtatbestand für den Fall ist, dass andere Regelungen nicht greifen. Das ist selten der Fall. Deswegen sage ich: In diesem Fall haben wir unsere Probleme mit einer Heraufsetzung des Strafmaßes. ({9}) Kein Problem haben wir beispielsweise damit, dass Sie in die strafverschärfenden Regelbeispiele des § 113 Abs. 2 nicht nur die Waffe, sondern auch die gefährlichen Werkzeuge aufnehmen wollen. Darüber können wir reden; ob wir dem zustimmen, werden die Ausschussberatungen ergeben. Das ist durchaus ein akzeptabler Vorschlag. Noch etwas halte ich für akzeptabel, weil der zugrunde liegende Sachverhalt mich sehr belastet. Das liegt vielleicht an einer anderen Funktion, die ich ausübe; ich bin, wie Sie wahrscheinlich wissen, Vizepräsidentin der THW-Bundeshelfervereinigung. Es nimmt immer mehr zu, dass gegen Helfer während der Ausübung ihrer Aufgaben in irgendeiner Form Gewalt ausgeübt wird. Das muss man sich einmal vorstellen: Die Leute engagieren sich, die Leute helfen, die Leute ber9020 gen, und dann sind sie Übergriffen ausgesetzt. Deswegen bin ich ebenso wie meine Fraktion vollkommen einverstanden, diese Rettungsdienste mit aufzunehmen. Die Regelung, die Sie dazu in Ihrem Gesetzentwurf vorgeschlagen haben, indem Sie die Rettungsdienste und die Feuerwehren aufgenommen haben, nicht aber beispielsweise den Katastrophenschutz - darauf hat Sie der Bundesrat zu Recht hingewiesen -, müssen wir wohl noch einmal genau betrachten. Sie wollen diesen Punkt zwar weiter prüfen, aber dies wird meines Erachtens in den Ausschussberatungen genau zu hinterfragen sein; denn es ergibt keinen Sinn, dass der Katastrophenschutz in der Regelung nicht enthalten ist. ({10}) Ich halte den Vorschlag, den Sie auf den Tisch gelegt haben, in einigen Punkten für durchaus diskutabel. Bei der Strafverschärfung haben wir, wie gesagt, das Problem, dass wir sie für eine Symbolik halten. Das wird auch von den Betroffenen so gesehen. Es ist keineswegs so, dass Sie ihnen damit helfen. Glauben Sie allen Ernstes, ein gewaltbereiter Täter überlegt sich, eine Straftat zu begehen, weil die Strafe von zwei auf drei Jahre hochgesetzt wurde? Diese Täter gehören zu einer Klientel, die nicht wohlberechnend und abwägend agiert; vielmehr reagieren diese Täter aus dem Bauch heraus, aus Wut heraus. Deswegen bringt die Verschärfung des § 113 gar nichts. Dort, wo es tatsächlich zu gewalttätigen Übergriffen kommt, haben wir schon längst die Möglichkeit, Strafen wegen Körperverletzung zu verhängen. Das habe ich schon gesagt, aber vielleicht ist dies noch einmal eine kleine Nachhilfe. Einige sagen, der Täter gehe straffrei aus; aber das ist Quatsch. Wir brauchen diese weiße Salbe nicht, aber wir brauchen durchaus die Möglichkeit, die Regelbeispiele und den Kreis derjenigen zu erweitern, die geschützt werden sollen. Deswegen werden wir uns in die Ausschussberatungen einbringen. Allerdings werden wir hinsichtlich des letzten Punktes prüfen, ob wir das eine oder andere in den Ausschussberatungen noch verbessern können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Heveling für die Unionsfraktion. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei strafrechtspolitischen Debatten hier im Deutschen Bundestag steht oft der Opferschutz im Mittelpunkt - zu Recht. In den vergangenen Jahren ist der Schutz der körperlichen Unversehrtheit und der Integrität mehr und mehr in den Vordergrund der politischen Überlegungen gerückt. Bestehende Ungleichgewichte zwischen Strafrechtsnormen zum Schutz von Eigentum und Vermögen und der körperlichen Unversehrtheit wurden bereits an vielen Stellen beseitigt. Auch das ist gut und richtig. Opfer haben einen Anspruch darauf, dass der Staat effektiv gegen die sie verletzenden Täter vorgeht. Es ist eine seiner Kernaufgaben, die Sicherheit und Freiheit der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen. Wenn es zu Verletzungen dieser Rechtsgüter gekommen ist, ist es seine Pflicht, diese Taten angemessen zu ahnden; denn in unserer Gesellschaft kommt alleine dem Staat das Recht zu, im Interesse seiner Bürgerinnen und Bürger notfalls Gewalt anzuwenden. Bei uns gilt nicht das Faustrecht. Wir haben das archaische „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ lange überwunden. Der Staat hat das Gewaltmonopol. Das ist eine Errungenschaft des modernen Rechtsstaats. ({0}) Diese Errungenschaft müssen wir gegen Erosionen, egal von welcher Seite, verteidigen. Gesetze allein setzen das Gewaltmonopol nicht durch. Auch wir Politiker, die die Gesetze beschließen, setzen es nicht durch. Der Staat muss sich seiner Organe bedienen. So sind es konkrete Personen, die im Dienste der Gesellschaft für das Gewaltmonopol stehen: Polizistinnen und Polizisten, Rettungs- und Hilfskräfte, Vollziehungsbeamte. Sie alle halten ihren Kopf hin. Dabei werden sie oftmals selbst Opfer von Gewalt. Wenn es heute um die Anpassung der Vorschriften bezüglich des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte geht, dann geht es auch um Fragen des Opferschutzes; denn es ist auch Aufgabe des Staates, diejenigen zu schützen, die ihren Dienst für den Staat leisten. Dafür gibt es neben den allgemeinen Strafvorschriften wie Nötigung oder Beleidigung auch die Sondervorschriften für Vollstreckungsbeamte. ({1}) Wir als christlich-liberale Koalition sehen hierbei die Notwendigkeit zu Anpassungen; denn leider müssen wir feststellen, dass der Respekt gegenüber den Staatsorganen und damit der Respekt gegenüber dem Staat insgesamt an vielen Stellen abnimmt. Das halten wir für eine bedenkliche Entwicklung. Ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik ist die Zahl der Fälle von Widerstandshandlungen gegen die Staatsgewalt von 1993 bis 2009 um 44 Prozent auf 26 344 Fälle angestiegen. 2009 befanden sich darunter 2 194 Fälle politisch motivierter Kriminalität. Das entspricht einer Steigerung um 100 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Das alles sind Entwicklungen, die uns alarmieren müssen. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang einige zentrale Befunde, die das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen, für das der Name Professor Christian Pfeiffer steht, in einem jüngst veröffentlichten Forschungsbericht im Hinblick auf Gewalt gegen Polizeibeamte festgestellt hat: Erstens. Die Täter handeln meist allein, sind in der großen Mehrheit männlich und durchschnittlich jüngeren Alters. Zweitens. Zwei von fünf Tätern haben eine nichtdeutsche Herkunft. Insbesondere Personen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion sowie türkische Täterinnen bzw. Täter oder Täter aus anderen islamischen Ländern treten überproportional in Erscheinung. Drittens. Das zweithäufigste Motiv für Angriffe auf Polizeibeamte ist Feindschaft gegenüber der Polizei bzw. dem Staat. Viertens. Es zeigt sich, dass der Anteil unter Alkoholeinfluss verübter Angriffe seit 2005 gestiegen ist. Fünftens. Zwei Drittel der Angriffe werden von Personen begangen, die bereits polizeilich in Erscheinung getreten sind. Sechstens. Personen, die im Rahmen von Demonstrationen Übergriffe ausführen, stellen eine besondere Tätergruppe dar. Hier ist der Anteil von Gruppentaten naturgemäß am höchsten. Zudem werden bei solchen Übergriffen am häufigsten Waffen eingesetzt. Feindschaft gegenüber der Polizei und dem Staat allgemein ist dabei ein zentrales Übergriffsmotiv. Bei etwa einem Viertel der Übergriffe lässt sich zudem Tötungsabsicht unterstellen. Die Ergebnisse dieser Studie müssen uns aufrütteln. Wir können und dürfen es nicht zulassen, dass das Gewaltmonopol des Staates infrage gestellt wird. Wir können und dürfen diejenigen, die das Gewaltmonopol des Staates repräsentieren, nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. ({2}) Wir sollten uns aber auch vor bloßen politischen Reflexen in jeglicher Hinsicht hüten. Die Befunde des Forschungsberichts sind zu ernst, und sie zeigen, dass das Problem vielschichtig ist und eines Ansetzens an vielen Stellen bedarf. So erzeuge ich Respekt vor dem Staat und seinen Organen sicherlich nicht oder nicht vorrangig allein durch repressive Maßnahmen und die Mittel des Strafrechts. Strategien hierfür müssen an anderer Stelle ansetzen. Aber angesichts der Entwicklung dürfen wir die Instrumente des Strafrechts auch nicht aus dem Blick lassen. Wenn sich - die Zahlen belegen dies - eine zunehmende Bereitschaft zur Gewalt in der gesamten Bandbreite, beim - in Anführungsstrichen - einfachen Streifengang wie bei der Großdemonstration, konstatieren lässt, müssen wir darauf mit dem Strafrecht reagieren. Im Hinblick darauf sind im Übrigen drei weitere Befunde des Forschungsberichts von Bedeutung: zum einen, dass es in der deutlichen Mehrheit der Fälle gelingt, die Täter unmittelbar oder später dingfest zu machen. Konkret ist dies bei über 90 Prozent der Fall. Zum anderen findet gegen rund 90 Prozent der festgenommenen oder ermittelten Täter schließlich auch ein Strafverfahren statt. Die Chancen zur Verwirklichung des staatlichen Strafanspruchs sind damit in den Fällen von Gewalt gegen Polizeibeamte recht groß. Allerdings wird - dies ist der dritte Befund - fast ein Drittel der Strafverfahren eingestellt. Kommt es zur Aburteilung, werden in den meisten Fällen Geldstrafen verhängt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die christlich-liberale Koalition sieht die Notwendigkeit, die Vorschriften über den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte anzupassen. Die vorgenannten Befunde des Forschungsberichts des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen untermauern dies. Uns geht es dabei um zweierlei: zum einen um den Schutz des staatlichen Gewaltmonopols. Es hat eine wichtige Befriedungsfunktion für die Gesellschaft. Wir dürfen es nicht aushöhlen und unterminieren lassen. Zum anderen geht es aber auch um den Schutz der Polizistinnen und Polizisten sowie anderer Vollstreckungsbeamter. Angesichts der zunehmenden Gewalt sprechen wir uns deshalb dafür aus, den Strafrahmen beim Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte von zwei Jahren auf drei Jahre anzuheben. Dies findet sich so im Gesetzentwurf wieder, und ich möchte dazu noch eine Beurteilung zitieren, die der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Olaf Scholz zur Erhöhung des Strafrahmens am 14. Oktober 2010 dem Hamburger Abendblatt gegeben hat: Die Beschlüsse der Bundesregierung sind zu begrüßen. Sie entsprechen dem, was die sozialdemokratischen Innenminister und der Bundesrat schon lange gefordert haben. ({3}) Offensichtlich liegen wir bei der Erhöhung des Strafrahmens nicht ganz so falsch. ({4}) Es ist richtig, den Strafrahmen anzuheben; denn es ist nicht nachzuvollziehen, dass etwa die Beschädigung eines Polizeiautos mit bis zu fünf Jahren Haft wesentlich härter bestraft werden kann als der Übergriff auf einen Polizisten, der mit zwei Jahren bestraft werden kann. Auch hier gilt es, Unwuchten beim Rechtsgüterschutz auszugleichen. ({5}) Bislang können im Übrigen Fischwilderer genauso bestraft werden wie Täter, die Gewalt gegen Vollstreckungsbeamte ausüben. Hier besteht also Handlungsbedarf. ({6}) Vor allem die besondere gewalttätige Tätergruppe bei Demonstrationen geht oftmals mit Waffengewalt gegen die Vollstreckungsbeamten vor. Mit der Anpassung des § 113 Abs. 2 StGB wird hierzu eine Differenzierung durch die Rechtsprechung gesetzlich nachvollzogen. Bedenkenswert ist - dies sollten wir in der weiteren Beratung des Gesetzentwurfs sehr genau diskutieren -, wie wir mit der zunehmenden Gewalt bei den - in Anführungsstrichen - einfachen Diensthandlungen umgehen. Hier sollten wir uns schon die Frage stellen, ob es die Möglichkeit gibt, auch sie in den Schutz des § 113 einzubeziehen; denn auch das ist eine der wesentlichen Erkenntnisse der Studie des Instituts von Professor Pfeiffer: Gerade hierbei hat die Gewaltanwendung zugenommen. Außerdem sollten wir überlegen, ob die Opfergruppe in ausreichendem Maße definiert ist. Ins Auge fallen naturgemäß die Fälle von Gewaltanwendung gegenüber Polizisten. Darüber hinaus repräsentieren aber eben viele andere Personengruppen von Rettungskräften über die Feuerwehr bis hin zum THW und dem Katastrophenschutz den Staat. Auch hier sollten wir sorgsam überlegen und intensiv miteinander diskutieren. Wir haben also noch einige Punkte zu besprechen. Wir als christlich-liberale Koalition haben dabei aber auch ein klares Ziel im Blick: deutlich zu machen, dass wir am staatlichen Gewaltmonopol nicht rütteln lassen und dass für uns der Schutz von Polizistinnen und Polizisten sowie anderen Vollstreckungsbeamten wichtig ist. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Fraktion Die Linke. ({0})

Frank Tempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003899, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Deutscher Richterbund, Deutscher Anwaltverein und auch die Strafverteidigervereinigungen haben in Stellungnahmen Ihre Änderungswünsche zum Strafrecht deutlich kritisiert und als sachlich falsch definiert. ({0}) Aber lassen Sie uns dieses Thema ganz nüchtern betrachten. Ausgangspunkt der Diskussion sind Studien zum Anstieg von Gewalt gegen Polizeibeamte. Um eines ganz klar zu sagen: Gewalt gegen Menschen ist grundsätzlich abzulehnen. ({1}) Wenn es zu einem Anstieg kommt, muss versucht werden, gegen diesen Anstieg Maßnahmen zu ergreifen. Das heißt in diesem Fall: Werden Polizeibeamte immer häufiger Opfer von Gewalt, sind wir in der Verpflichtung, dagegen zu wirken. Insofern besteht keine Zwietracht. Das Wie ist jedoch die Frage. Damit kommen wir zu einem grundlegenden Aspekt Ihres Gesetzentwurfs. Sie schlagen höhere Höchststrafen vor. Was würden wir damit erreichen? Was wäre die Wirkung Ihrer vorgeschlagenen Änderungen? In der Begründung Ihres Gesetzentwurfs findet sich übrigens darüber nicht ein Wort. Mit Sicherheit wird dieser Vorschlag von den Beschäftigten, die es zu schützen gilt, als gerecht empfunden. Wer sich an ihnen vergreift, soll härter bestraft werden. Emotional habe ich dafür volles Verständnis. Ist es aber vordergründig unsere Aufgabe, das Gerechtigkeitsempfinden zu bedienen, oder sollten wir in erster Linie den Anstieg von Gewalt gegen Polizeibeamte bekämpfen? ({2}) Letzteres wäre doch sicherlich das oberste Ziel. Schauen wir uns also Ihren Vorschlag aus dieser Richtung an. Hält ein härteres Strafmaß irgendeinen Täter von Angriffen ab? Ich erinnere Sie daran, dass solche Handlungen sehr häufig unter Alkoholeinfluss oder hoher Emotionalität stattfinden. Welcher Täter denkt da an das Strafmaß? Ich kann Ihnen aus eigenem Erleben sagen: Einen kühlen, abwägenden Eindruck haben solche Täter auf mich nicht gemacht, und ich habe mehrere solcher Täter erlebt. Wo setzt Ihr Vorschlag dann an? Gibt es Übergriffe, die bisher nicht ausreichend unter Strafe gestellt werden können? Es gibt Tatbestände von Beleidigung bis Mord, die, wenn sie dem Sachverhalt entsprechen, angewendet werden können. Nennen Sie mir einen strafwürdigen Sachverhalt, bei dem die Justiz nicht anlasswürdig handeln kann! Ich denke, das können Sie nicht. Das Thema „Gewalt gegen Polizeibeamte“ schlägt hier im Haus oft in eine Extremismusdiskussion um; das haben wir gerade erlebt. Es dürfte aber auch Ihnen nicht entgangen sein, dass der Großteil der Vorfälle im normalen polizeilichen Alltag im Streifeneinzeldienst stattfindet. Das ist nun genau der Bereich, den ich selber viele Jahre erlebt habe. Da hat sich einiges in den vergangen Jahren geändert. Wussten Sie, dass es einen Unterschied ausmacht, ob ich eine Streifenwagenbesatzung oder drei Besatzungen in den Einsatz schicken kann? Können Sie sich vorstellen, dass die Kombination aus weniger für den Einsatz zur Verfügung stehenden Beamten und ein deutlich höher werdender Altersdurchschnitt sich nicht gerade fördernd auf die Sicherheit von Einsatzbeamten auswirkt? Nehmen wir das Phänomen häusliche Gewalt. Hier gibt es den deutlichsten Anstieg an Übergriffen gegen Polizeibeamte. Zu Recht wurden die Handlungsmöglichkeiten gerade bei diesem Phänomen für die Polizei erweitert. Aber bei geringeren Einsatzstärken und höherem Altersdurchschnitt entstehen vermehrt Situationen, in denen Beamte ihre Gesundheit aufs Spiel setzen müssen. Hier sind also Handlungskonzepte gefragt. Die Linke will nicht Rache an den Tätern durch härtere Strafen, sondern weniger Opfer durch Prävention und ausreichend personelle und technische Ausstattung. ({3}) Noch ein Gedanke zum Schluss. Es trifft mich persönlich, wenn Polizeibeamte immer wieder mit der Wut von Menschen konfrontiert werden, mit einer Wut, die eigentlich nicht den Beamten meint, sondern den Staat, in dessen Auftrag der Beamte handelt, oder - noch genauer gesagt - die Wut über das, was Regierungen hierzulande machen oder manchmal auch nicht machen. Ob es das Unvermögen ist, die NPD endlich zu verbieten, oder Ihre Atompolitik - die Polizei muss es draußen ausbaden. Es ist falsch, die Polizei zu einem Ersatzgegner zu machen. Aber das fängt eben schon dann an, wenn eine Regierung an ihrem Volk vorbeiregiert. Ändern Sie das! Hier können Sie tatsächlich zu einer Entspannung beitragen, und das ganz ohne Gesetzesverschärfung. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Wolfgang Wieland von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Ahrendt, bisher hielt ich den Vergleich der FDP mit der implodierenden DDR durch Ihren nordischen Kollegen Wolfgang Kubicki für richtig schräg. ({0}) Aber nun ist mir aufgefallen, dass die Machthaber in der DDR auch keine Demonstrationen mochten. ({1}) Auch Sie haben friedliche Demonstranten in die Nähe von Straftätern gerückt. Darüber sollten Sie einmal nachdenken. ({2}) Wir reden hier über Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, und Sie stellen den Ministerpräsidenten, mit dem Sie am liebsten selbst eine Koalition gebildet hätten, in diese Ecke. Ich schließe mich Frau Lambrecht an: Das war eine Schande! ({3}) Ich will aber nicht nur Schlechtes über die FDP sagen, sondern ich will jemanden von meiner Kritik ganz deutlich ausnehmen, jemanden, den ich niemals auch nur in die Nähe von Erich Honecker rücken würde, nämlich den Kollegen Max Stadler. Er hat in dieser Frage wie immer einen liberalen Standpunkt. Hervorragend! ({4}) - Er wird gleich strahlen. - Ich zitiere aus einem Interview mit ihm in der taz vom 29. April dieses Jahres. Die Frage lautete: Der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach sagte jüngst: „Wer einen Polizeibeamten verletzt, dem drohen zwei Jahre. Das ist absolut nicht nachvollziehbar.“ Kennt er unser Strafrecht nicht? Antwort von Max Stadler: Herr Bosbach ist ein exzellenter Jurist. ({5}) Das will ich einmal so im Raum stehen lassen; wir sprechen zurzeit über ein wichtigeres Thema. Stadler weiter: Er hat hier aber nur den Strafrahmen für den „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ erwähnt. Daneben gelten selbstverständlich die deutlich höheren Strafdrohungen für Körperverletzungen. Frage: Schärfere Strafen für Gewalt gegen Polizeibeamte lehnen Sie aber ab? Antwort: Wir verurteilen jede Gewalt gegen Polizeibeamte. Es ist unerträglich, wenn sie bei ihrer schweren Arbeit angegriffen werden. Aber die Strafrahmen sind ausreichend, die Gerichte können sie ausschöpfen … Das Interview schließt mit dem denkwürdigen Satz: Wir brauchen weder zum Schutz von Polizisten noch für andere Berufsgruppen ein Sonderstrafrecht. Wahr gesprochen; so ist es. ({6}) Nur setzen Sie diese Einsicht leider nicht um. Was Sie uns hier präsentieren, ist ein reines Placebo. Ich komme aus Berlin und weiß nun wirklich, was Gewalt gegen Polizeibeamte bedeutet, gerade im täglichen Dienst. Dass auch nur eine einzige Straftat in Zukunft nicht mehr geschieht, weil Sie im Strafrahmen von zwei auf drei Jahre gehen, glauben Sie doch selber nicht. ({7}) Es war eine gute Idee, das Forschungsinstitut von Pfeiffer in Niedersachsen zu beauftragen, eine umfängliche Untersuchung über Gewalt gegen Polizeibeamte durchzuführen. Sie warten dann aber noch nicht einmal das Endergebnis und die Vorschläge zur Prävention ab, sondern kommen jetzt mit diesem Vorschlag nach dem Motto „Immer mehr der gleichen Dosis; das wird dann auch helfen“. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Wer ein reales Problem einer Scheinlösung zuführt, der handelt schlimmer als derjenige, der gar keine Lösung vorlegt. Das ist die Kritik an Ihrem Entwurf. ({8}) Natürlich gibt es vielschichtige Gründe für diese Art des Vorgehens gegen Polizeibeamte. Da müssen wir herangehen. ({9}) Die Lösung liegt aber in der Prävention. Es gibt soziale Gründe, die Lebenschancen müssen verbessert werden, und es ist Antiaggressionsarbeit zu leisten. ({10}) Es bedarf eines breiten gesellschaftlichen Ansatzes. So müsste das sein. Das, was Sie hier vorlegen, ist wirklich in keiner Weise geeignet, um zu Verbesserungen zu gelangen. Da können und wollen wir auch nicht konstruktiv sein. ({11}) Das ist der falsche Weg. Wir brauchen eine Debatte. Wir brauchen Pfeiffers Ergebnis, um es umfangreich erörtern zu können, und nicht wieder nur sieben Thesen, die Schünemann ihm abgenötigt hat - so war es doch -, nach dem Motto: Legen Sie schnell etwas vor! Wir brauchen eine grundsätzliche Auseinandersetzung und Abhilfe bei der Justiz. Die hohe Zahl an Verfahrenseinstellungen ist doch auch im Personalmangel begründet, darin, dass die Justiz an dieser Stelle schlecht arbeitet. Da muss man ansetzen. Es geht nicht an, die Höchststrafe einfach mal so hopplahopp von zwei auf drei Jahre zu erhöhen. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 17/4143 und 17/2165 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Josip Juratovic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für Fairness beim Berufseinstieg - Rechte der Praktikanten und Praktikantinnen stärken - Drucksache 17/3482 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Federführung strittig b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Beate Müller-Gemmeke, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Faire Bedingungen in allen Praktika garantieren - Drucksache 17/4044 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Federführung strittig c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes Alpers, Dr. Petra Sitte, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Missbrauch von Praktika gesetzlich stoppen - Drucksache 17/4186 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller von der SPD-Fraktion. ({6})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss so anfangen: Ja, wo sind sie denn? Sie werden das kennen. Eigentlich führt das zu einer Geschichte, bei der man schmunzeln muss. Wenn wir fragen: „Ja, wo sind sie denn, die Fachkräfte, die wir schon heute so dringend brauchen und morgen und übermorgen noch mehr?“ - von überall tönt dieser Ruf -, dann ist zu sagen: Sie verstecken sich gar nicht. Sie sind mitten unter uns, nicht nur im Bundestag oder in den Ministerien, nicht nur in den Redaktionen und Industriebetrieben, nein, überall in der Arbeitswelt treffen wir auf junge Menschen, die eine abgeschlossene Ausbildung, aber keine reguläre Beschäftigung haben. Zu viele Fachkräfte von morgen und übermorgen verkümmern in Deutschland im Wartesaal Praktikum. Genau um diese jungen Menschen geht es uns in unserem Antrag. Um Ihnen zu schildern, wie umfangreich das Problem ist, sage ich: Jede vierte Hochschulabsolventin, jeder Dritte mit schulischer Ausbildung und jede Fünfte mit betrieblicher Ausbildung steigt per Praktikum in den Beruf ein, obwohl die Ausbildung abgeschlossen ist, das Studium mit Erfolg absolviert wurde und im Rahmen der Ausbildung selbstredend auch viele Praktika abgeleistet wurden. Seit mehr als fünf Jahren weiß der Deutsche Bundestag, wissen wir alle um diese Situation. Zwei große Petitionen, eine davon von der DGB-Jugend, hätten eigentlich auch dem Letzten von uns damals die Augen öffnen müssen. Doch Sie, Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP - das muss ich Ihnen wirklich sagen -, haben die Augen erst einmal ganz fest zugekniffen, ({0}) frei nach dem Motto: Wenn ich nichts sehe, dann ist da auch kein Problem. ({1}) Das ist die Devise, nach der Sie fünf Jahre lang nichts getan haben. Fünf Jahre Blockade! ({2}) Dabei ist 2008 auch noch wissenschaftlich unterlegt worden, dass wir ein dickes Problem haben. ({3}) INIFES, das Internationale Institut für Empirische Sozialökonomie, hat festgestellt: Je jünger die Altersgruppe, desto größer der Anteil derjenigen, die nach Ausbildungsabschluss nur über ein Praktikum einsteigen konnten. Nur jeder Vierte wurde anschließend in ein Arbeitsverhältnis übernommen. Dieser negative Trend ist bis heute ungebrochen. Das heißt, wir haben eine eindeutige Datenlage: Berufseinstieg in Deutschland wird immer prekärer. Dann musste ich lesen - Herr Kollege Schummer, ich sage es jetzt einmal Ihnen -, dass Albert Rupprecht von einigen wenigen schwarzen Schafen spricht. Dazu kann ich nur sagen: Es geht nicht um wenige schwarze Schafe, es geht um einen immer größer werdenden Teil der Herde. Da sind inzwischen ganz viele schwarz geworden; denn Scheinpraktika sind im Laufe der Jahre salonfähig geworden, ({4}) auch in der Politik. Dieser Missbrauch - Sie alle wissen das - macht nicht einmal vor den Türen unserer Ministerien halt. Das finde ich skandalös. ({5}) Wahrscheinlich werden Sie sagen: Da gab es doch auch einmal etwas in einem Ministerium für Arbeit und Soziales. Ja, stimmt. Auch da waren wir nicht damit zufrieden, wie Praktikantinnen und Praktikanten vergütet wurden. Aber ich will Ihnen sagen: Daraus haben wir gelernt. Das ist bei Ihnen bis heute noch nicht passiert. ({6}) Wir reden über Ausbeutung im Zusammenhang mit jungen Menschen, die eine Ausbildung komplett abgeschlossen haben und zu Recht einen ordentlichen Berufseinstieg erwarten; aber wir ermöglichen ihn in Deutschland nicht. Deshalb, finde ich, ist es relativ verlogen, wenn wir uns auf der einen Seite alle Möglichkeiten vor Augen halten, wie wir den Fachkräftemangel beheben, aber den jungen Leuten, die wir gut ausgebildet haben, auf der anderen Seite keinen seriösen Einstieg in den Beruf ermöglichen. Ich weiß, dass viele von uns solche Beispiele kennen: in der Familie, bei Kindern, Nichten und Neffen, aus der Nachbarschaft. Das spielt sich nicht im Geheimen ab. Wir haben mit unserem Antrag voll qualifizierte Berufseinsteiger im Fokus, die ausgebeutet werden. Es ist nämlich nichts anderes als Ausbeutung, wenn Berufseinsteiger monatelang als flexible und billige Arbeitskräfte missbraucht werden. ({7}) Dann haben sie vielleicht die Hoffnung, doch irgendwann einmal fest eingestellt zu werden. Sie sind Berufseinsteiger und Opfer unternehmerischer Interessen - immer wieder. Wir wissen: Es gibt Ausnahmen. Ja, es gibt lobenswerte Unternehmen; aber sie stehen leider nicht für das große Ganze. ({8}) Wenn Sie sich einmal die Mühe machen, die Internetseite der DGB-Jugend oder die von fairwork e. V. anzuschauen, dann werden Sie feststellen - es wurde eine große Umfrage durchgeführt -, dass viele junge Leute gute Erfahrungen im Praktikum gemacht haben und dass andere hingegen sagen: Nie wieder so; keine Bezahlung, keine freien Tage und vor allem keine Chance, etwas zu lernen. - Genau darum soll es in einem guten Praktikum aber gehen. ({9}) Wir sagen deshalb: Wir möchten, dass der Begriff „Praktikum“ im BGB definiert ist. Wir wollen eine Mindestvergütung festschreiben. Wir wollen, dass jedes Praktikum mit einem schriftlichen Vertrag begründet wird. Wir meinen auch, dass die Zeit der Betriebszugehörigkeit im Rahmen eines Praktikums angerechnet wer9026 den muss, wenn später eine Einstellung erfolgt. Das sind unsere Mindestforderungen. Außerdem wollen wir die Rechte von Missbrauchsopfern stärken.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Lösekrug-Möller, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth?

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Kurth.

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, Sie sprachen von Ausbeutung beim Berufseinstieg, von Opfern unternehmerischer Ausbeutung.

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In Thüringen wurde jüngst bei den Haushaltsberatungen bekannt, dass das von der SPD geleitete Wirtschaftsministerium keinerlei Mittel für Praktika eingestellt hat. Es wurde angefragt, wie viele Mittel das Wirtschaftsministerium einzustellen gedenkt. Die Frage wurde von Herrn Machnig von der SPD wie folgt beantwortet: Er gedenke nicht, Mittel einzustellen; er bekomme Praktikanten auch so. Ist das unter Ausbeutung zu verstehen? Sind die dortigen Praktikanten vielleicht Opfer ministerieller Ausbeutung?

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich über Ihre Frage, und ich will sie Ihnen gerne beantworten: Das ist nicht in Ordnung. Das Schlimme ist: Nichts anderes tun viele CDU- und FDPgeführte Ministerien. Da können alle noch dazulernen. ({0}) Vielleicht haben Sie die entsprechende Passage in meiner Rede, Herr Kollege, überhört. ({1}) Ich halte viel davon, wenn man klar sagt, wo die Probleme liegen, und dann anfängt, die Probleme zu lösen. Das ist das Ziel unseres Antrags. Sie können sicher sein: Ich werde den Kollegen Machnig anschreiben. Ich bin mir sicher, dass er seine Haltung revidieren wird. ({2}) Übrigens bin ich dankbar, dass sich der Ältestenrat des Bundestages aufgrund unseres hartnäckigen Einsatzes entschieden hat, in Sachen Praktika besser zu werden. Ohne unseren Druck, Herr Kollege, wäre das heute noch nicht so weit. ({3}) Ich fahre fort. Es geht auch um diejenigen, deren Rechte missbraucht wurden. Wir wollen, dass sie besser geschützt werden. Auch dazu finden Sie Vorschläge in unserem Antrag. Ich fasse zusammen, worum es der SPD geht: Sie führen eine Debatte über den Fachkräftemangel und tun zugleich nichts, aber auch gar nichts dafür, dass unsere jungen ausgebildeten Fachkräfte zuversichtlich und ordentlich in ihr Berufsleben einsteigen können. Das ist ein Problem. Wenn wir es jetzt nicht lösen, machen wir uns doppelt schuldig. Sie alle wissen, dass wir einem doppelten Abiturjahrgang und damit einer großen Menge von jungen Leuten entgegensehen, die studieren wollen. Ich habe die große Sorge, dass sie, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben, nur das Angebot bekommen, erst einmal ein Praktikum zu machen. Dann machen sie vielleicht noch eines und noch eines und noch eines. Das ist die Erfahrung, die junge Leute machen, wenn sie in den Beruf einsteigen. ({4}) Ich finde, das ist ein unhaltbarer Zustand. Ich freue mich, dass nicht nur von uns, sondern auch von den Grünen und von den Linken ein Antrag vorliegt. Diese drei Anträge haben ja eines gemeinsam: Sie schauen der Realität ins Auge und schlagen konkrete Lösungen vor. Diese hätte ich gerne - das sage ich als ehemaliges Mitglied des Petitionsausschusses - vor vielen Jahren schon gehabt. Da haben sich Zigtausende von jungen Leuten an den Bundestag gewandt und um Hilfe gebeten. Diese ist nicht möglich gewesen, weil das Bildungsministerium in der Großen Koalition - Herr Fuchtel, ich nehme Sie da jetzt aus; Sie vertreten heute ein anderes Haus - strikt abgelehnt hat, festzustellen, dass es überhaupt einen Handlungsbedarf gibt. ({5}) Wir sollten unsere jungen Leute nicht so im Stich lassen. Handeln Sie! Das Beste wäre, Sie würden unserem Antrag zustimmen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Uwe Schummer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kollegin Lösekrug-Möller, wenn Sie sagen, dass es fünf Jahre Stillstand gab, sollten Sie auch bedenken, dass der Arbeitsminister in der alten Bundesregierung, also zu Zeiten der Großen Koalition, eine ganz wichtige Funktion innehatte. ({0}) Sie müssten also auch sagen: Das von uns geführte Arbeitsministerium hat diesen Stillstand mit verursacht. ({1}) Ich denke, miteinander zu regieren und sich dann wie heute aus dem Staub zu machen, das ist zu billig. Hier sollten Sie entsprechend Mitverantwortung übernehmen. ({2}) - Die Zwischenrufe zeigen, wie wichtig es ist, dass morgen im Bundesrat das Bildungspaket verabschiedet wird. Ich wünsche mir allerdings auch ein Bildungspaket für die SPD-Fraktion. ({3}) Meine lieben Freunde, ich habe seit 2002 selbst hundert Praktikanten über das Bundestagsbüro erlebt. ({4}) - Alle bezahlt. 400 Euro für eine projektbezogene Aufgabe. Sie laufen mit und erleben in der Parlamentswoche die verschiedensten Gremien. Es gibt ein Zeugnis. Das ist eine tolle Talentschmiede. Es sind auch wunderbare Botschafter im Heimatkreis dafür, dass parlamentarische Demokratie eben nicht nur aus Schimpferei besteht, sondern dass man auch versucht, miteinander vernünftige Lösungen zu finden und Argumente auszutauschen, ohne sich aus der Verantwortung zu stehlen. ({5}) So gibt es verschiedenste Praktika, die absolut positiv und wichtig sind: Praktika zur Berufsorientierung, an denen in diesem Jahr 300 000 Schüler teilgenommen haben und sich weiterentwickeln konnten; Praktika zum Einstieg in die Berufswelt, die von der Bundesagentur für Arbeit finanziert werden; studienbegleitende Praktika als integraler Bestandteil des Studiums oder Auslandspraktika. In allen Befragungen, die mir vorliegen, hat der überwiegende Teil derer, die ein Praktikum absolviert haben, gesagt: Es war sinnvoll; es war hilfreich; es war gut. ({6}) Es gibt auch eine Studie des Internationalen Zentrums für Hochschulforschung, bei der 70 000 Absolventen befragt wurden. Als Ergebnis wurde festgehalten, dass jeder Hochschulabsolvent im Schnitt nach drei Monaten eine solide und vernünftige Arbeit gefunden hat. Nach 18 Monaten lag die Quote der Arbeitslosigkeit bei dieser Gruppe bei 2 Prozent; hier herrschte folglich Vollbeschäftigung. Das heißt, das Horrorszenario, das Sie eben gemalt haben, dass es eine Generation Praktikum gibt, dass flächendeckend Ausbeutung stattfindet, ist völlig überzogen, falsch und diskriminierend, ({7}) weil all die Unternehmen, die Praktika anbieten, damit in die falsche Ecke gestellt werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schummer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lösekrug-Möller?

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Immer, wenn sie kurz ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Länge der Frage, Herr Kollege Schummer, bestimme immer noch ich. Ich möchte wissen, ob Sie mit mir übereinstimmen, dass, wenn es um die Regelung von Praktika geht, wie wir sie in unserem Antrag vorschlagen, es mitnichten um Praktika geht, die im Rahmen einer Ausbildung, eines Studienganges, einer schulischen Ausbildung im Grunde genommen Regelungen der Bundesländer unterliegen. Uns geht es vielmehr ausdrücklich um jene jungen Menschen - der Fachbegriff lautet: Berufseinsteiger -, die über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Ist Ihnen dieser Zusammenhang klar?

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Frage ist, in welcher Form diese Definition in einem Gesetz möglich ist und ob Abgrenzungsnotwendigkeiten vorhanden sind. Das ist ein Thema, über das wir im Ausschuss und in der weiteren Debatte reden werden. ({0}) - Wir als Parlament können selber definieren; denn wir sind gesetzgebende Instanz. Das gehört zur Gewaltenteilung, die wir miteinander respektieren sollten. Das Entscheidende für gute Praktika ist der Paradigmenwechsel. Dieser liegt derzeit darin, dass im Jahr 2005 jeden Tag netto 2 000 Arbeitsplätze vernichtet wurden und dass in diesem Jahr, also 2010, trotz der Weltwirtschaftskrise jeden Tag netto 1 100 Arbeitsplätze neu geschaffen werden. Erstmals seit über 30 Jahren reden wir über einen Fachkräftemangel. Heute ist es nicht mehr so - das ist der Paradigmenwechsel -, dass sich viele Qualifizierte auf wenige Arbeitsplätze bewerben. Vielmehr müssen viele Unternehmen heute um die fähigsten Köpfe kämpfen. Hier hat sich das Gewicht im Sinne der Beschäftigten massiv verändert. Ich halte Ihre Anträge für schmalspurig. Wir müssen in der Tat miteinander überlegen und darüber reden, was wir tun können, um den Fachkräftemangel und auch die Abwanderung hier im Land zu stoppen. In einem solchen Diskurs sollten wir verschiedene Themen besprechen. Mit Ihrer Konzentration auf Praktika führen Sie eine Scheindebatte, die bei der Behandlung des Themas „Gute Arbeit und gute Konditionen für die Arbeit“ überhaupt nicht weiterführt. ({1}) Ich kann Ihnen nur empfehlen, dafür einzutreten, dass das Bildungspaket morgen im Bundesrat verabschiedet wird. Das Niveau Ihrer Zwischenrufe zeigt, dass auch Sie dieses Bildungspaket benötigen. ({2}) Von folgenden Fragen waren wir als Exportnation in den letzten Jahren der Krise in besonderer Weise betroffen: Wie ist die Lohnentwicklung, die sich auch dadurch verbessert, dass wir entsprechende Arbeitsmarktdaten - es gibt unter 3 Millionen Arbeitslose in unserem Land - haben? Warum ist die Bürokratie bei Existenzgründungen so überbordend? Wie sind die Sicherheit und die Standards für Arbeitsplätze? Wie sind die beruflichen Perspektiven? Gibt es ausreichend Akzeptanz für Technik? Auch das führt dazu, dass Menschen in andere Länder abwandern. Das wäre ein Breitbandthema, über das wir im Ausschuss und darüber hinaus reden sollten. Notwendig ist ein Bündel an Maßnahmen. Die entsprechenden Konsequenzen sind zu ziehen. ({3}) Wenn wir jetzt einmal konkret über Missbrauch reden - jeder hat dafür sein Beispiel -, dann denke ich an die SPD in Hamburg; denn sie bietet derzeit ein Wahlkampfpraktikum an. Lernziel: Plakate kleben, Stände aufbauen und Zettel verteilen. Lernzeit: 37,5 Stunden in der Woche. Die SPD zahlt hierfür 300 Euro monatlich, also 2 Euro die Stunde. Erwartet werden aber: fortgeschrittenes Studium, Führerschein, EDV-Kenntnisse und ein Höchstmaß an Flexibilität. Das ist das sozialdemokratische Problem: Sie sind Weltmeister in der Theorie und Anfänger in der Praxis. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schummer!

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aus der Opposition heraus können Sie immer nur tolle Anträge stellen. Ich finde, für dieses Jahr reicht es. Alles andere sollten wir im nächsten Jahr weiterdiskutieren. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Agnes Alpers von der Fraktion Die Linke. ({0})

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es bleibt dabei: Jeder Dritte nach einer schulischen Ausbildung, jeder Vierte nach einem Hochschulstudium und jeder Fünfte nach einer betrieblichen Ausbildung steigt über ein Praktikum in den Beruf ein. Diese Praktikantinnen und Praktikanten werden oft gar nicht oder schlecht bezahlt. Nur jeder Fünfte wird nach dem Praktikum eingestellt. Das ist in Deutschland für viele der einzige Weg, sich eine berufliche Perspektive aufzubauen. ({0}) Die Bundesregierung tut so, als ob das alles ganz normal sei. Dabei weist eine Studie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales aus dem Jahr 2008 darauf hin, dass viele Betriebe Praktikantinnen und Praktikanten als reguläre Arbeitskräfte ausnutzen. Das darf so nicht bleiben. ({1}) Für Schwarz-Gelb sind solche Praktika noch immer kein typischer Weg für den Berufseinstieg. Die Bundesregierung behauptet auch noch, „dass sich der Arbeits- und der Ausbildungsmarkt seit 2008“ - als die Studie veröffentlicht wurde - „bereits sehr positiv zugunsten der Berufsanfänger entwickelt“ habe. ({2}) Sehen Sie den Tatsachen endlich einmal ins Auge: Für die Absolventinnen und Absolventen im Praktikum hat sich in Deutschland nichts verändert. Die Generation Praktikum ist aktueller denn je. Seit den Massenpetitionen im Jahre 2006 liegen die Probleme glasklar auf dem Tisch. Unsere Fraktion, Die Linke, wollte schon im Jahre 2007 das Berufsbildungsgesetz so ändern, dass vertragliche Mindestschutzbestimmungen für alle Praktikantinnen und Praktikanten gelten. ({3}) Seit Jahren fordern Betroffene und Gewerkschaften, endlich etwas zu verändern. Meine Damen und Herren von der Koalition, all das ignorieren Sie einfach; Sie verbauen Zukunftschancen, statt sie zu schaffen. ({4}) Das Einzige, was Ihnen immer wieder einfällt, ist, die Wirtschaft um Selbstverpflichtung zu bitten. Doch die Unternehmen husten Ihnen da etwas: Nur 1 500 von insgesamt 3,5 Millionen Betrieben haben sich an die Mindeststandards für Praktika gehalten. Gratuliere, meine Damen und Herren von der Regierung! Sie sagen: 0,5 Prozent sind schon viel mehr als nichts. Ich sage Ihnen heute: Der Weg der Selbstverpflichtung ist einfach gescheitert. ({5}) Die Folgen für den Staat und für die Betroffenen sind immens: Durch Ihre Praxis wird ein solider Berufseinstieg bei vielen Absolventen immer weiter hinausgezögert. Dadurch verschiebt sich auch die Familienplanung immer weiter nach hinten. In Deutschland wandern gut ausgebildete Fachkräfte aus. Dem Staat entgehen so Sozialversicherungsbeiträge und Steuereinnahmen. Wann beenden Sie endlich diesen Spuk? Ich muss die Bildungsministerin auffordern: Bezahlen Sie die Praktikantinnen und Praktikanten in Ihrem Ministerium! Wo leben wir eigentlich, wenn die deutsche Bildungsministerin die Praktikantinnen und Praktikanten in ihrem eigenen Hause ausnutzen lässt? ({6}) Wir Linke bleiben dabei: Wir wollen das Berufsbildungsgesetz so gestalten, dass es auch für Praktika nach der Ausbildung und nach dem Studium gilt. Wir setzen uns weiterhin dafür ein, dass Praktika nicht länger als drei Monate dauern, dass Praktikantinnen und Praktikanten die vollen Mitbestimmungsrechte erhalten und dass Praktika nach der Ausbildung und nach dem Studium gut bezahlt werden. Meine Damen und Herren von der Regierung, Größe zeigt der, der Fehler zugibt und bereit ist, neue Wege zu gehen. Wir laden Sie deshalb heute ein, unseren Antrag zu unterstützen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Martin Neumann von der FDP-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute einmal mehr mit Anträgen der Opposition, die zum Ziel haben, ein Problem zu lösen, das so, wie es in den Anträgen steht, nicht zu lösen ist. ({0}) Bereits die HIS-Studie aus dem Jahr 2007 mit dem Titel „Generation Praktikum - Mythos oder Massenphänomen?“ hat mit Blick auf den Vorwurf, dass Praktikanten als billige Hilfskräfte eingesetzt werden, empirisch nachgewiesen, … dass … der Begriff „Generation Praktikum“ mit Blick auf den beruflichen Verbleib von Hochschulabsolventen nicht gerechtfertigt ist. ({1}) Die Mehrheit der Praktikanten war mit dem Praktikum auch inhaltlich zufrieden, sowohl hinsichtlich des Niveaus als auch des Lerngehalts. Gleichwohl - das ist der Unterschied - gab es spürbare Unterschiede bei der Bezahlung der Praktika. Ein Fazit der HIS-Studie war, dass „der berufliche Einstieg über Praktika mitnichten der Regelfall“ ist. Wir müssen den folgenden Punkt ansprechen: Die im Zuge der Umstellung auf Bachelor- und Masterstudiengänge erfolgte verstärkte Einbettung von Praktika in den Studienordnungen war eine notwendige Maßnahme.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Neumann, darf ich Sie kurz unterbrechen? Die Kollegin Mast von der SPD-Fraktion würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Mast.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. Neumann, angenommen, Sie hätten recht und das Problem würde nicht existieren, ({0}) dann dürfte es für Sie doch kein Problem sein, unseren Anträgen zuzustimmen, weil sie dann ja auch nicht schaden würden. Stimmen Sie mit mir überein? ({1}) Ich bin zwar nicht Ihrer Meinung. Wenn es aber so ist, wie Sie sagen, wäre es doch kein Problem, die Debatte jetzt zu schließen. Dann könnten Sie unserem Antrag zustimmen, und die Welt wäre für die Jugendlichen in Ordnung. ({2})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin, ich habe ganz klar gesagt, dass die Anträge der Oppositionsfraktionen mitnichten das Problem lösen. ({0}) - Hören Sie mir weiter zu. Ich werde Ihnen das erklären. Sie lösen das Problem nicht. ({1}) Dr. Martin Neumann ({2}) Lassen Sie mich ganz kurz etwas zu den Anträgen der Oppositionsfraktionen sagen: Erstens. Der allgemeinen Aussage, dass Absolventenpraktika nach einer Ausbildung oder einem Studium grundsätzlich fragwürdig sind - das merken Sie ja an -, muss entschieden widersprochen werden. Das zeigen auch die Ergebnisse der Studie. Eine Vielzahl von Studiengängen, gerade an Universitäten - das muss man sich einmal genau anschauen -, zielt nicht auf ein klar umrissenes Berufsfeld. Selbst nach Abschluss eines Studiums kann daher ein Praktikum zur Orientierung oder zum Ausfüllen von Übergangszeiten sinnvoll sein. Ich denke, dass es viele Praxisbeispiele gibt, die belegen, dass es für den Lebenslauf, für die Vita eines Absolventen und damit für seinen weiteren Berufsweg wichtig ist, vor dem tatsächlichen Berufseinstieg unterschiedliche Erfahrungen gemacht zu haben. ({3}) Zweitens. Der angebliche Regelungsbedarf hinsichtlich Dauer und Vergütung - darum geht es in Ihren Anträgen - wird nicht gesehen. Das zeigen auch die Ergebnisse der HIS-Studie. ({4}) Herr Gehring, die meisten Praktika dauern nur kurze Zeit. 50 Prozent dauern maximal drei Monate. ({5}) Ihr Vorschlag, eine Mindestvergütung von monatlich 350 Euro brutto einzuführen - damit komme ich auf das Kernproblem zurück -, kann doch wohl nicht ernst gemeint sein. Wollen Sie tatsächlich einen weiteren Niedriglohnsektor schaffen? Das wäre ein Missbrauch von Praktika. An dieser Stelle muss nicht mit gesetzlichen Regelungen entgegengewirkt werden. Das zeigt die HIS-Studie. Seltene Ausnahmen, die Sie hier beschrieben haben, sind nicht der Regelfall. Ich komme jetzt ganz kurz auf die Aussage der Bundesregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drucksache 17/3047 hinsichtlich des Bedarfs an gesetzlichen Regelungen zu sprechen. Dem ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen. Herr Präsident, ich zitiere ganz kurz aus dieser Antwort: Entscheidend ist aber, dass sich der Arbeits- und der Ausbildungsmarkt seit 2008 bereits sehr positiv zugunsten der Berufsanfänger entwickelt hat und auch die Prognose auf eine weiter steigende Nachfrage nach qualifizierten jungen Fachkräften schließen lässt. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich will noch einen dritten Punkt vortragen. Bereits heute sind junge Menschen, die sich in einer Berufsausbildung befinden oder ein Praktikum absolvieren, hinsichtlich ihrer Vergütungsansprüche, hinsichtlich der Arbeitszeit sowie hinsichtlich Fragen der Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz durch rechtliche Regelungen geschützt. Sie unterliegen den Bestimmungen des Berufsbildungsgesetzes - das haben Sie gesagt - und des Arbeitsschutzgesetzes, und sie genießen auch den vollen Sozialversicherungsschutz. Interessant ist - das ist der vierte Punkt -, dass sich bis heute mehr als 1 500 Unternehmen freiwillig der Initiative „Fair Company“ angeschlossen haben. ({6}) Darunter sind 23 von 30 DAX-Unternehmen - das sind fast 80 Prozent -, die ihre Praktikanten grundsätzlich bezahlen. Selbst wenn Sie das hier bestreiten, sage ich: Die FDP setzt daher auf die Selbstverpflichtung der Wirtschaft. ({7}) - Hören Sie bitte genau zu. - Die genannten Zahlen geben uns wieder einmal recht. Wir haben gute Möglichkeiten, Absolventen frühzeitig an das Unternehmen zu binden. Denken Sie bitte daran, dass derjenige Arbeitgeber schlecht beraten ist, der in diesen Zeiten gute Absolventen, die er als Praktikanten in seinem Unternehmen beschäftigt, gehen lässt, insbesondere mit Blick auf die Zukunft. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Neumann, es besteht der Wunsch nach einer Zwischenfrage der Kollegin Alpers.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Neumann, Sie haben gerade hervorgehoben - das hatte ich vorhin schon einmal gesagt -, dass sich 1 500 Betriebe an der Selbstverpflichtung bezüglich Mindeststandards beteiligt haben. Herr Neumann, wir haben in Deutschland insgesamt 3,5 Millionen Betriebe. 1 500 Betriebe entsprechen ungefähr 0,05 Prozent aller Betriebe. In all den letzten Jahren haben sich also nur 0,05 Prozent an der Selbstverpflichtung beteiligt. Ich frage Sie angesichts dieser Erfahrung, dass sich über viele Jahre eine so geringe Selbstverpflichtungsquote ergibt: Ist das eine Grundlage, auf der wir aufbauen können? Herr Neumann, Sie sagen, dass diese Orientierung für den Berufseinstieg positiv ist. Ich frage mich: Wenn wir in allen Bereichen einen so großen Fachkräftemangel haben, warum müssen sich dann gut ausgebildete Fachkräfte und gut ausgebildete Akademiker orientieren? Die Akademiker sagen nach dem zweiten oder dritten Praktikum, dass sie das vierte, fünfte oder sechste Praktikum nicht mehr im Lebenslauf angeben, weil es einen schlechten Eindruck macht. Bitte erklären Sie uns das einmal. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das war mehr als eine Frage. Ich möchte ganz kurz darauf antworten. Das, was ich gesagt habe, bezog sich auf die Unternehmen, die sich dieser Selbstverpflichtung angeschlossen haben. Gehen Sie bitte nicht davon aus, dass eine Regelung für den Umgang mit Praktikanten unbedingt notwendig ist. Warum soll es nicht möglich sein - ich habe ja gerade über die Selbstverpflichtung gesprochen -, dass es auch ohne Regelung faire Bedingungen gibt? Schützen wir doch die Praktikanten vor übermäßigen Regelungen, ({0}) lassen wir ihnen doch die Perspektive, sich vielschichtig zu orientieren, um in der beruflichen Weiterbildung Erfahrungen für den zukünftigen Beruf zu sammeln. ({1}) Ich komme zum fünften und letzten Punkt. Da hören Sie bitte ganz genau zu. Wenn wir eine weitere Regelung zum Zugang und zur Ausgestaltung von Praktika zulassen würden - das machen wir ja nicht -, dann würden das Angebot, die Flexibilität und auch die Inanspruchnahme von Praktikumsplätzen gefährdet werden. ({2}) Denken Sie bitte an gemeinnützige Organisationen, an soziale Organisationen und dergleichen. Bei diesen Organisationen ist es oftmals schwierig, Praktika genau zu regeln. Wir brauchen eine Perspektive für die jungen Menschen. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Auch das, was auf EU-Ebene beraten wurde, sehen wir sehr kritisch, weil wir damit rechnen, dass es in den meisten Fällen Nachteile für die Praktikumssuchenden mit sich bringt. Lassen wir den Unternehmen bei der Schaffung von Regelungen Freiheit und Möglichkeiten und den Praktikanten und Berufseinsteigern die Chancen, weiter Erfahrungen zu sammeln, um einen erfolgreichen Weg in den Beruf zu finden. Ich bedanke mich. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Kai Gehring von Bündnis 90/Die Grünen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte und die Anträge von SPD, Linksfraktion und von uns Grünen sind offensichtlich bitter notwendig. Sie sind leider notwendig, weil der Bundesregierung offensichtlich das Problembewusstsein und der Realitätssinn für die Situation der jungen Generation in diesem Land völlig fehlen. ({0}) Dass die FDP hier heute durch Herrn Neumann erstmals einräumt, dass es ein Problem bei Praktika gibt, ist zwar durchaus bemerkenswert und interessant, aber ich hätte mir gewünscht, dass Sie einen praktikablen Lösungsvorschlag machen. Selbstverpflichtungen - das ist sehr deutlich geworden - sind keine Lösung; sie funktionieren nicht. Mit Ihrer Position schützen Sie nicht die Praktikanten, sondern Unternehmen, die Praktikanten nicht schützen. ({1}) Der Berufseinstieg der jungen Generation hat sich in den letzten Jahren auch infolge der Wirtschaftskrise erschwert. Das ist ganz offensichtlich. Mittlerweile ist es alltägliche Erfahrung, dass selbst sehr gut ausgebildete junge Menschen mit Praktika, mit Honorar- und Minijobs sowie mit befristeten Arbeitsverträgen konfrontiert sind. Damit können wir uns nicht einfach abfinden, sondern wir müssen die Chancen aller jungen Menschen ganz klar verbessern. Uns sind faire Praktika während der Ausbildung und während des Studiums und danach ein guter Berufseinstieg statt Warteschleifen wichtig. Das muss das gemeinsame Ziel aller Fraktionen in diesem Haus sein. ({2}) Natürlich sind Praktika in der Regel eine wertvolle Lernphase; das bestreitet niemand, auch niemand aus der Opposition. Sie können zur Berufsorientierung dienen; das ist doch ganz klar. Aber wir können nicht einfach vom Tisch wischen, dass es Probleme in Form des Missbrauchs von Praktika gibt. Den Problemen, die es hier gibt, muss sich auch die konservative, neoliberale Seite dieses Hauses stellen, statt sie weiterhin zu leugnen und schönzureden. ({3}) Es ist einfach nicht hinnehmbar, dass Unternehmen unter dem Deckmantel von Praktika billige Arbeitskräfte einstellen, reguläre Jobs ersetzen oder sogar Lohndumping betreiben. Praktika sind Lernverhältnisse, und sie müssen endlich auch als solche definiert werden. Sie dürfen weder als Arbeitsverhältnisse noch als Ausbeutungsverhältnisse missbraucht werden. Auch das müsste in diesem Hause eigentlich Konsens sein. ({4}) Es ist seit Jahren überfällig, dass die Bundesregierung klare rechtliche Regelungen zum Schutz von Praktikantinnen und Praktikanten trifft. Bestehende Schutzlücken müssen endlich geschlossen werden, um für alle Praktika faire Bedingungen zu garantieren. Ich möchte Ihnen die Daten einer Untersuchung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, also einer Studie Ihres eigenen Hauses, ans Herz legen. Die zentralen Ergebnisse sind, dass die Praktikumsphase für jede zweite Person länger als sechs Monate dauert und das Praktikum für die Hälfte der Praktikanten unbezahlt ist. ({5}) Bei den Absolventen solcher Praktika geht es nicht um eine Minigruppe. Denn 20 Prozent der jungen Erwachsenen machen nach dem Abschluss der Berufsausbildung oder des Studiums ein Praktikum oder mehrere Praktika; ({6}) das sind 1,9 Millionen junger Menschen in diesem Land; dieser Problematik müssen Sie sich endlich stellen. Nur bei wenigen von ihnen, nämlich bei genau 11 Prozent, mündet das Praktikum in ein sicheres Jobverhältnis. Somit ist offenkundig, dass Praktika auch missbraucht werden. Wer das ignoriert, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb, der versündigt sich an den Berufseinstiegschancen der jungen Generation. ({7}) Wir Grüne weisen seit Jahren auf die zunehmende Ausnutzung von Praktikanten als unter- und unbezahlte Arbeitskräfte hin. Wir haben 2006, übrigens als erste Fraktion im Deutschen Bundestag, einen Antrag eingebracht, der Vorschläge zur Beseitigung unfairer Praktikumsbedingungen beinhaltete. Wir waren auch diejenigen, die maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sich der Bundestag fraktionsübergreifend eine Selbstverpflichtung im Hinblick auf den fairen Umgang mit Praktikantinnen und Praktikanten im Parlament auferlegt hat. Nicht zuletzt deshalb sind wir vom Wegsehen und Nichtstun der jetzigen und im Übrigen auch der vorherigen Bundesregierung so genervt. ({8}) - Ja. Wenn jetzt - unsere Kleine Anfrage ist schon erwähnt worden - selbst in den Bundesministerien pro Jahr Hunderte von Hochschulabsolventen im Rahmen mehrmonatiger, unbezahlter Praktika beschäftigt sind, dann ist das Ausnutzung und keine Bagatelle. Vor diesem Hintergrund geht es nicht an, dass Frau von der Leyen - vorher war es Herr Scholz - die Schirmherrschaft für die Initiative „Fair Company“ übernommen hat. Hier muss man endlich geeignete Regelungen treffen. Gerade der Arbeitsminister bzw. die Arbeitsministerin muss ein Vorbild sein und darf kein schlechtes Beispiel geben. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir Grüne fordern, gesetzlich ganz klar zu regeln, dass Praktika Lernverhältnisse sind, dass jeder Praktikant einen Vertrag und ein Zeugnis bekommt und dass die Dauer von Praktika auf maximal drei bis sechs Monate begrenzt wird, damit gar nicht erst das Risiko besteht, dass reguläre Jobs ersetzt werden oder der Grundsatz der Arbeitsmarktneutralität verletzt wird. Der letzte Punkt: Natürlich müssen Studierende und Azubis, die ein Praktikum machen, eine Aufwandsentschädigung von mindestens 300 Euro pro Monat erhalten. Wenn Sie diese und weitere Regelungsvorschläge aus den Anträgen der Oppositionsfraktionen aufgreifen und sie sich zu eigen machen würden, dann würden Praktika gestärkt und Ausnutzung und Prekarität gestoppt. Das müssen Sie jetzt endlich tun. Ich hätte mir bei Ihnen einen etwas größeren vorweihnachtlichen Ruck gewünscht, damit Sie jetzt endlich handeln. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Philipp Murmann von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({0})

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt kommt der vorweihnachtliche Ruck. ({0}) Dieses Haus befasst sich ja nun schon zum wiederholten Male mit dem Thema Praktika. Die Oppositionsparteien haben uns eine bunte Mischung von Anträgen vorgelegt. Sie konnten sich offensichtlich auch nicht darüber einigen; denn die Anträge sind sehr unterschiedlich. Die SPD nennt das „Für Fairness beim Berufseinstieg“. Die Grünen fordern: „Faire Bedingungen in allen Praktika garantieren“. Garantien sind natürlich immer gut. „Missbrauch von Praktika gesetzlich stoppen“, so nennen das die Linken. Auf den ersten Blick mag das eine oder andere ja auch ganz gut aussehen. ({1}) Aber aus meiner Sicht gehen diese Anträge an der aktuellen Lage vorbei. Warum das so ist, möchte ich Ihnen begründen. Werfen wir zunächst einmal einen Blick auf die Praxis und nicht nur auf die vielen Papiere, die Sie hier immer wieder zitieren. Wie sieht denn so etwas in der Praxis aus? Bei einem Handwerksbetrieb oder auch bei einem Mittelständler geht eine Bewerbung ein. Mal geschieht das schriftlich, mal mündlich, mal über einen beDr. Philipp Murmann kannten Mitarbeiter. In den meisten Fällen möchten die Mädchen und Jungen oder Jugendlichen einfach einmal hineinschnuppern. Manchmal kommen sie von einer Schule, häufig von einer Partnerschule. ({2}) - Das ist auch kein Problem. Aber dann lesen Sie einmal Ihre Anträge. Sie haben darin die Praktika in Gänze beschrieben. ({3}) - Doch, schauen Sie einmal hinein! Da ist null Differenzierung enthalten. Ich möchte auch noch einmal darauf hinweisen, dass gerade die Praktika, die von den Betrieben angeboten werden, für eine Berufsorientierung sehr wichtig sind. ({4}) Das sind mal zwei Wochen; mal sind es vier Wochen. Selten sind es mehr als zwei Monate. ({5}) - Ja, genau. Aber das sind eben ganz wenige Fälle. ({6}) In Ihren Anträgen fassen Sie einfach alle Praktika zusammen. Das ist undifferenziert und deswegen sinnlos. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie doch einmal den Redner zu Wort kommen. Ihre Redner hatten ja auch die Möglichkeit. - Bitte, Herr Kollege. ({0})

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, Herr Präsident. - Ehe es bei diesen Praktika wirklich einmal zu wertschöpfenden Tätigkeiten kommt, vergehen in der Regel mehrere Wochen, sei es im Maschinenbaubetrieb, beim Heizungsbauer, beim KfzMeister oder in der Apotheke. Dem steht ein erheblicher Aufwand für die Betreuung dieser Praktikanten gegenüber. Das ist auch richtig so; denn die jungen Leute sollen ja auch etwas lernen. Sie sollen durch verschiedene Bereiche in den Firmen gehen. Das kann natürlich auch einmal nach einer Berufsausbildung sein. Dies ist aber nach allem, was mir vorliegt, heute eher die Ausnahme. Sie zitieren ja immer irgendwelche Zahlen von 2006 und 2007. Das ist längst Vergangenheit. ({0}) Entscheidend sind diese Erfahrungen für die spätere Berufswahl. Wir stellen auch fest, dass die Nachfrage an Praktika ständig steigt. Das merke ich zum Beispiel auch in meinem Unternehmen. Deswegen ist die Frage, ob es sinnvoll ist, hier eine staatliche Regulierung einzuführen und die Hürden für die Betriebe, die Praktika anbieten, weiter nach oben zu schrauben. ({1}) Schon heute scheuen viele kleine Unternehmen, Praktikanten anzunehmen. Wir müssen, wenn wir Regelungen treffen - gesetzliche Regelungen sind für solche Dinge meiner Meinung nach unangemessen -, sehr darauf achten, dass wir die Hindernisse für Praktika nicht immer weiter aufbauen; denn damit vermindern wir die Anreize für Unternehmen, Praktikanten auszubilden. ({2}) Eine Sache ist natürlich auch klar: Wenn ein Praktikant Arbeitsleistungen erbringt, dann sollte man es ihm auch vergüten. Das tun auch die meisten Unternehmen. Dort, wo es tatsächlich Missbrauch gibt - da sind wir uns sicherlich einig -, ist das auf das Schärfste zu verurteilen. Aber jetzt noch einmal zu dem von Ihnen immer zitierten Mythos von der Generation Praktikum. Der Mythos stammt aus einem Zeit-Artikel vom März 2005. Darin wurde eine prekäre Situation von Akademikern beschrieben, die keinen Job finden und daher Praktikum an Praktikum reihen. März 2005, vielleicht erinnern Sie sich noch, in welcher Zeit wir uns damals befanden: rot-grüne Regierung, hohe Arbeitslosigkeit, Frustration in Deutschland; Bundeskanzler Schröder schmeißt hin. In dieser Zeit entsteht der Begriff „Generation Praktikum“ in der Öffentlichkeit. Es gehen Petitionen ein, die von 60 000 Leuten unterschrieben werden. ({3}) Das bauen Sie jetzt als aktuelles Problem auf. Das ist alter Wein in alten Schläuchen und bringt uns überhaupt nicht weiter. ({4}) Insgesamt ist festzustellen: Diese Generation Praktikum gibt es in dieser Form heute nicht. Die Bewertung der Praktika ist überwiegend positiv. Wir sollten den Unternehmen und vielen Betrieben, die Praktikantenplätze zur Verfügung stellen, auch danken und nicht immer nur auf ihnen herumhacken. ({5}) Über einige Punkte lässt sich aber sicherlich nachdenken. Ein schriftlicher Praktikantenvertrag, ein Praktikumszeugnis und auch eine Begrenzung von Praktika sollten sicherlich selbstverständlich sein. Ich bin aber der Meinung, dass das keine Aufgabe des Gesetzgebers, ({6}) sondern zum Beispiel der Tarifparteien ist. Das können die Betriebe und die Gewerkschaften miteinander aushandeln. Dafür muss doch nicht der Gesetzgeber tätig werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Murmann, sind Sie bereit, noch Zwischenfragen von Frau Alpers und Herrn Gehring zu beantworten?

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte, Frau Alpers.

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Murmann, Sie sagten gerade, das Problem bestehe nicht, das sei ein altes Problem. Ich möchte Sie noch einmal darauf hinweisen: Dieses Problem besteht für 1,9 Millionen junge Menschen. Das haben wir jetzt schon dreimal gehört.

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das sind Zahlen von 2008 aus dem Ministerium von Olaf Scholz.

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. Herr Murmann, aber die Situation hat sich nicht verändert.

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das behaupten Sie.

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Warum ist das kein Problem? Sie selber wollten keine neuen Untersuchungen. Warum wollten Sie denn keine neue Evaluation, wenn das für Sie doch angeblich kein Problem ist? Das ist der erste Teil meiner Frage. ({0}) Zum zweiten Teil meiner Frage. Ist es für Sie kein Problem, dass jeder Dritte nach einer abgeschlossenen Schulausbildung, jeder vierte Hochschulabsolvent und jeder Fünfte nach einer beruflichen Ausbildung keine Arbeit als vollwertige Fachkraft erhält? Ist das ein Problem oder ist das kein Problem für die Regierungskoalition?

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben jetzt völlig verschiedene Themen angesprochen. Man sollte sie jetzt nicht alle mit dem Thema Praktikum vermischen. Es ist natürlich so, dass wir alle uns bemühen - ich denke, darin sind wir uns auch einig -, dass der Übergang in das Berufsleben nach dem Studium möglichst reibungslos funktioniert. Ich denke, das ist in der Mehrzahl - leider nicht immer; das ist halt so - auch der Fall. Ich persönlich kenne kein Unternehmen, das solche Vorgehensweisen, die von Ihnen kritisiert werden, anwendet. Ich hielte das sicherlich auch für fragwürdig. Wir müssen uns aber die Frage stellen, ob wir jetzt als Gesetzgeber mit staatlichen Gerüsten gegen dieses Thema vorgehen oder ob wir nicht lieber dafür plädieren sollten, dass dies im Rahmen einer Selbstverpflichtung, die ja schon angesprochen wurde, geregelt wird. Das alles sind tolle Initiativen. Übrigens: Sie sagen, 1 500 Unternehmen hätten sich der Initiative „Fair Company“ angeschlossen. Das heißt aber nicht, dass all diejenigen, die sich ihr nicht angeschlossen haben, jetzt Missbrauch betreiben. Das unterstellen Sie ja immer. ({0}) Insofern bin ich der Meinung, dass man über einzelne Dinge sicherlich reden kann. Aber man muss aufpassen, dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet, damit der Anreiz für Unternehmen, gerade auch für kleinere, groß bleibt, auch Praktikanten einzustellen. Darauf kommt es mir an. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Murmann, jetzt möchte der Kollege Gehring noch eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön. So haben wir noch einen fröhlichen Abend, bevor wir anfangen, Adventslieder zu singen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Kollege Gehring.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bei den Debattenbeiträgen der Regierungsfraktionen vergeht mir leider die Heiterkeit. ({0}) Da Sie die letzten verfügbaren regierungsamtlichen Zahlen aus dem BMAS hier mehrfach angezweifelt haben, möchte ich Sie einfach einmal fragen: Wann werden Sie als Koalition die nächste Umfrage, die nächste Studie, die nächste empirische Erhebung auf den Weg bringen? Dafür sollten Sie sich doch eigentlich einsetzen. Wenn doch eh alles in Ordnung ist, dann können Sie ja eine solche Studie durchführen und ihre Annahmen beweisen. Zum anderen möchte ich einmal eine ganz konkrete Frage stellen. Im Bundesjugendministerium, im Ministerium mit Frau Schröder - geborene Köhler - an der Spitze, das für die Jugendlichen zuständig ist, sind 80 Praktika gemacht worden, die bis zu sechs Monate dauerten und für die es keine Vergütung gab. Diese 80 Praktikanten waren Hochschulabsolventinnen und -absolventen. Finden Sie das eigentlich in Ordnung? Ist Frau Schröder, die Bundesjugendministerin, damit ein Vorbild, oder ist sie eher ein schlechtes Beispiel?

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe es ja schon gesagt: Es kommt sehr darauf an, was für eine Art Praktikum das ist. ({0}) Bei manchen Praktika schnuppert man einmal in einen Betrieb hinein. Man will einfach ein Gefühl für die entsprechende Tätigkeit bekommen. ({1}) - Ja, sechs Monate sind ungewöhnlich; das ist richtig. Deswegen bin ich auch dafür, dass man eine Bezahlung grundsätzlich in Erwägung zieht. Aber ich bin eben nicht dafür, dass man mit gesetzlich befohlenen Mindestlöhnen arbeitet. Sie schlagen 10 Euro pro Stunde für einen Schüler vor, der vielleicht eine Woche in meinem Unternehmen ist. ({2}) - Lesen Sie es einmal nach. Das steht so in Ihrem Antrag. Sie haben das alles in einen Topf geworfen - das ist es ja, was ich kritisiere -, und deswegen bin ich dagegen, solche gesetzlichen Regelungen hier überhaupt zu diskutieren. Vielmehr müssen wir uns die Situation sehr genau anschauen, weil das Praktikum für junge Leute eine wichtige Funktion im Hinblick auf ihren späteren Beruf hat. Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Thema ansprechen, und zwar das Thema Beweislastumkehr, das Sie in die Debatte einbringen. Das bedeutet auch für kleine Unternehmen - Sie sprechen in Ihren Anträgen immer von allen Praktikumsstellen; das ist ebenfalls ein Problem -, beispielsweise für eine Apotheke, dass sie nachweisen müssen, was gemacht wurde. Ich halte dies für einen weiteren Sargnagel dafür, dass Unternehmen weitere Praktikumsplätze zur Verfügung stellen. Wenn Sie sich Praktika in Ministerien der Linken in Brandenburg oder in Ministerien der SPD oder bei der Thüringer SPD-Landtagsfraktion ansehen, so finden sich auch dort diese von mir genannten Punkte. Deswegen ist es aus meiner Sicht wichtig, dass man zwischen Praktika und solchen Dingen unterscheidet, die tatsächlich mit wertschöpfender Arbeit verbunden sind. Die Tarifparteien sollten sich darüber unterhalten, was sinnvoll ist. Im Übrigen ist dies auch im Europaparlament im Moment ein Thema. Ich bin der Meinung, wir sollten abwarten, wie die Diskussion dort läuft, bevor wir hier vorschnell handeln.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Philipp Murmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss und möchte Ihnen empfehlen: Machen Sie ab und zu wieder einmal ein Praktikum, damit Sie sehen, dass die Welt gar nicht so schlecht ist. ({0}) - Ich mache häufiger Praktika; das können Sie mir glauben. - Wir werden im Ausschuss sicherlich noch eine interessante Diskussion führen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 17/3482, 17/4044 und 17/4186 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Federführung zu den drei Vorlagen ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen jeweils Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Die antragstellenden Fraktionen wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der antragstellenden Fraktionen abstimmen, Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Überweisungsvorschläge sind damit abgelehnt. ({0}) - Die Linke hat doch diese Federführung mit beantragt. ({1}) - Genau. So haben wir auch abgestimmt. ({2}) - Nein, ich hatte gesagt: Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der antragstellenden Fraktionen ab9036 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms stimmen, Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. ({3}) Das ist das, was die SPD beantragt hat. ({4}) - Wir können auch über alle Anträge einzeln abstimmen, wenn Sie das wünschen. Das Ergebnis wird dadurch nicht verändert werden. Jedenfalls ist der Antrag, die Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales zu ressortieren, abgelehnt worden. Dann lasse ich jetzt über die Überweisungsvorschläge der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, Federführung beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Wer diesem Überweisungsvorschlag zustimmt, den bitte ich um sein Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Überweisungsvorschläge sind angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion. Damit liegt die Federführung jeweils beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5}) zu der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Tätigkeitsbericht 2007 und 2008 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit - 22. Tätigkeitsbericht - Drucksachen 16/12600, 17/790 Nr. 5, 17/4179 Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Mayer ({6}) Gisela Piltz Dr. Konstantin von Notz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Stephan Mayer von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({7})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute den 22. Tätigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten für die Jahre 2007 und 2008 sowie die dazugehörige Entschließung. Man könnte sich zunächst zu der Annahme verleiten lassen, dass das ein alter Hut ist, weil es um einen Tätigkeitsbericht für die Jahre 2007 und 2008 geht. Wer sich aber den Bericht näher zu Gemüte führt, wird sehr schnell feststellen, dass er nichts an Aktualität verloren hat. Er nimmt sogar in einer gewissen Weise weissagend manche Dinge voraus, die heute brandaktuell sind. Ich denke dabei an die Debatte über Geodatendienste oder an die sehr intensive Debatte über soziale Netzwerke im Internet. Ich möchte vorausschicken, dass ich allen Kolleginnen und Kollegen Berichterstatter herzlich dafür danke - das meine ich sehr ernst -, dass es gelungen ist, wieder eine fraktionsübergreifende Entschließung zu dem Tätigkeitsbericht zustande zu bringen. ({0}) Das war bisher immer guter Brauch und ist auch dieses Mal gelungen. Ich möchte nicht verhehlen, dass es sich für mich dabei nicht um eine Selbstverständlichkeit oder eine Petitesse handelt. Denn - auch das ist kein Geheimnis - die Positionen und Meinungen zum Thema Datenschutz sind in diesem Hause durchaus kontrovers und teilweise auch sehr konträr. Dass es uns wieder gelungen ist, über alle fünf Fraktionen hinweg eine fraktionsübergreifende Entschließung zustande zu bringen, ist, glaube ich, bemerkenswert. Ich möchte in diesen Dank an die Kollegin Berichterstatter Piltz und an die Herren Berichterstatter auch den Dank an die Mitarbeiter sowohl der Abgeordneten als auch aus dem Bundesinnenministerium und beim Bundesdatenschutzbeauftragten mit einbeziehen. Es waren sehr konstruktive Gespräche, die vor allem in dem Geist geführt wurden, dass wir zu einem positiven Ergebnis kommen wollten. Ich glaube, es ist ein schönes Zeichen, dass der Deutsche Bundestag eine einheitliche Position zum Thema Datenschutz hat. Ich möchte nicht verhehlen, dass jede Fraktion auch gewisse Abstriche machen musste, was Maximalforderungen anbelangt. Bei einem Kompromiss ist es nun einmal so, dass sich nicht jeder zu 100 Prozent durchsetzen kann. Aber ich glaube, es ist ein schönes Zeichen, dass wir, wenn es um Datenschutz und den Tätigkeitsbericht des Bundesdatenschutzbeauftragten geht, mit einer Stimme sprechen. Datenschutz und Datensicherheit haben deutlich an Bedeutung gewonnen. Ich halte es für bemerkenswert, dass es uns gelungen ist, insgesamt zu 16 einzelnen Punkten sehr dezidierte und meines Erachtens auch substantiierte Aussagen zu treffen. Aus meiner Sicht muss es, wenn es um das Thema Datenschutz geht, insgesamt einen Dreiklang geben, und zwar zwischen der Selbstverantwortung der Bürgerinnen und Bürger, der selbstverpflichtenden Bindung der Wirtschaft und den notwendigen gesetzlichen Regelungen. Zunächst zum Thema Selbstverantwortung der Bürger. Ich erachte es als außerordentlich interessant und positiv, dass die jüngste sogenannte JIM-Studie für das Jahr 2010 festgestellt hat, dass insbesondere die Jugendlichen - es sind über 1 000 Jugendliche zwischen 12 und 19 Stephan Mayer ({1}) befragt worden - deutlich sensibler mit ihren personenbezogenen Daten im Internet umgehen. Die Ergebnisse zeigen: Noch im Jahr 2009 haben 51 Prozent der Jugendlichen Fotos und Filme von Freunden und Verwandten ins Internet gestellt. Ein Jahr später, 2010, sind es nur noch 41 Prozent. Es geben auch nur noch 46 Prozent der befragten Jugendlichen persönliche Informationen im Internet an. Ein Jahr zuvor, 2009, waren es noch 83 Prozent. Im Jahr 2009 haben immerhin noch 69 Prozent der befragten Jugendlichen persönliches Material, insbesondere Fotos, ins Internet hochgeladen. Ein Jahr später, 2010, sind es nur noch 64 Prozent. Das zeigt: Die öffentliche Debatte zum Thema Datensicherheit und Datenschutz und der Auftrag an den Einzelnen, verantwortungsvoll und selbstbestimmt mit personenbezogenen Daten umzugehen, trägt erste Früchte. Aber natürlich darf dies nicht das Ende sein. Die Aufklärungsarbeit muss weitergehen und noch intensiviert werden, und zwar schon allein deshalb, weil - das hat diese Studie auch zutage gefördert - die Aufenthaltszeit im Internet zunimmt. Jugendliche bewegen sich im Durchschnitt täglich knapp zweieinhalb Stunden im Internet. Auch die Mitgliedschaft in sozialen Netzwerken im Internet hat im Vergleich zum Vorjahr noch einmal deutlich zugenommen. Was das Thema Aufklärung und Bildungsarbeit anbelangt, verspreche ich mir sehr viel von der kommenden Stiftung Datenschutz. ({2}) Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, im kommenden Haushalt 2011 schon einmal 10 Millionen Euro einzustellen, um diese Stiftung Datenschutz auf den Weg zu bringen. Ich verspreche mir von dieser kommenden Stiftung Datenschutz vor allem deshalb sehr viel, weil sie in prädestinierter Weise dazu beitragen kann, der Vertrauensbildung zwischen den Bürgern und den Unternehmen Vorschub zu leisten. Dabei stellen Themen wie das Datenschutzgütesiegel oder das Datenschutzaudit Chancen dar. Auch wenn die Wirtschaft diesen Themen vielleicht etwas reserviert gegenübersteht, glaube ich, dass man mit den beiden genannten Themen zu einer stärkeren Vertrauensbildung bei den Verbrauchern beitragen kann. Ein großes Thema in der aktuellen Debatte ist die Profilbildung im Internet, insbesondere was personenbezogene Daten anbelangt. Dies ist zunächst einmal kritisch zu sehen, wobei ich hinzufüge, dass nicht jede Profilbildung per se negativ zu sehen ist, insbesondere dann nicht, wenn sie auf die persönliche Einwilligung des Betroffenen zurückzuführen ist. Sie muss aus meiner Sicht immer die Grundvoraussetzung dafür sein, dass es überhaupt zu einer Profilbildung von personenbezogenen Daten im Internet kommt. In diesem Zusammenhang bin ich dem Bundesinnenminister sehr dankbar dafür, dass er ein Eckpunktepapier vorgelegt hat, das Grundlage sein wird, um das kommende Gesetz zum Schutz von Persönlichkeitsrechten im Internet zu erarbeiten. Die rote Linie, von der der Bundesinnenminister spricht, ist meines Erachtens der richtige, der zukunftsweisende Weg. Das Internet darf auf der einen Seite kein rechtsfreier Raum sein; auf der anderen Seite müssen wir uns aber auch davor hüten, das Internet und den Umgang mit dem Internet überzuregulieren. Ich glaube, dass es richtig ist, zu sagen, dass Meinungsfreiheit im Internet, in der virtuellen Welt, genauso wie in der realen Welt gilt. Aber es muss natürlich auch bestimmte Grenzen, bestimmte Barrieren geben. Wenn es schwerwiegende Eingriffe in Persönlichkeitsrechte und in die Intimsphäre gibt oder es zu ehrverletzenden Beschreibungen im Internet kommt, muss es auch einen Rechtsanspruch für den Einzelnen geben, diese Inhalte aus dem Internet zu tilgen. Ich sage ganz offen: Dieses Recht des Betroffenen muss natürlich auch sanktionsbewehrt sein, sprich: mit eventuellen Schmerzensgeldansprüchen ausgestaltet sein. Das Eckpunktepapier zeigt also einen hervorragenden Weg auf. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Selbstverpflichtung der Wirtschaft anzusprechen. Die BITKOM hat vor kurzem einen Entwurf für einen Datenschutzkodex für Geodatendienste vorgelegt. Ich begrüße diesen Entwurf - das sage ich in aller Deutlichkeit -; er ist meines Erachtens eine gute Diskussionsgrundlage. Aber es muss uns auch erlaubt sein, dabei noch mit Hand anzulegen und entsprechende Hinweise zu geben. Es ist ein wichtiger Ansatzpunkt, dass man eine zentrale Informations- und Widerspruchsstelle für den Einzelnen schafft, dass er im Internet also an einer zentralen Stelle seinen Widerspruch deponieren kann, wenn es um das Pixeln, die Unkenntlichmachung von Immobilien im Internet, geht. Ich sage aber auch ganz offen, dass ich ein Problem mit diesem Vorhaben der BITKOM habe, weil sie die Kontrolle dieser Selbstverpflichtung nur auf eigene Rechnung machen will. So kann es nicht gehen. Die Kontrolle dieser Selbstverpflichtung muss meines Erachtens in staatliche Hand gegeben werden. Man kann der Wirtschaft nicht einerseits zugestehen, sich Selbstverpflichtungen aufzuerlegen - das ist meines Erachtens grundsätzlich der richtige Weg -, und ihr andererseits erlauben, die Einhaltung dieser Selbstverpflichtungen selbst zu kontrollieren. Das geht meines Erachtens zu weit. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die dritte Komponente in dem Dreiklang, den ich vorhin beschrieben habe, ist der Gesetzgeber. Es bedarf gesetzgeberischer Änderungen als Leitplanken, die als Schutz im Hinblick auf die freiwilligen Selbstverpflichtungen der Wirtschaft dienen. In diesem Zusammenhang ist natürlich festzustellen, dass im Laufe der letzten 20 Jahre das Bundesdatenschutzgesetz an Übersichtlichkeit und Praxistauglichkeit verloren hat. Deshalb ist es neben dem Erfordernis, den Beschäftigtendatenschutz neu zu regeln, unser Ansinnen und unser ernsthaftes Bestreben in der christlich-liberalen Koalition, das Bundesdatenschutzgesetz modern und technikneutral umzugestalten. Stephan Mayer ({4}) Ich bin sehr froh, dass es uns in der Entschließung gelungen ist, nicht an der Oberfläche zu bleiben, sondern uns zu konkreten Themen dezidiert zu äußern. Wir haben uns zum Beispiel zum Thema intelligente Stromzähler - der englische Begriff lautet „Smart Metering“ - geäußert. Hier besteht die akute Gefahr des Missbrauchs durch Unbefugte. Es bedarf entsprechender technischer und organisatorischer Maßnahmen, um zu verhindern, dass die Lastenprofile, die durch solche Stromzähler ermittelt werden, missbräuchlich genutzt werden. Wir haben uns zum Melderecht dahin gehend geäußert, dass wir derzeit kein Erfordernis für ein bundesweites, zentrales Melderegister sehen. Wir haben uns zudem zum Zensus 2011 geäußert, genauso wie ganz dezidiert zur Speicherung von Passagierdaten. Ich betone: Es ist aus meiner Sicht dringend erforderlich, dass die Europäische Union ein Musterabkommen nicht nur mit den USA, sondern auch mit anderen Ländern erarbeitet, das ganz klar festlegt, unter welchen Voraussetzungen Passagierdaten übermittelt werden, und das konkrete Hinweise gibt und Verpflichtungen aufoktroyiert, wenn es um die Festlegung der Speicherfrist und den Rechtsschutz geht. Abgesehen von dem Tätigkeitsbericht für die Jahre 2007 und 2008 stehen wir vor ganz neuen Herausforderungen. Wenn Persönlichkeitsprofile von Gesichtserkennungsdiensten erstellt werden, wenn es zum Beispiel mit einem internetfähigen Fotohandy möglich ist, in Echtzeit eine Person auf der Straße oder im Café zu identifizieren, dann ist Vorsicht geboten. Wenn es bei Suchmaschinen immer mehr gang und gäbe ist, Profilbildung vorzunehmen, ist dies höchst gefährlich, wenn aus diesen Erkenntnissen konkrete Rückschlüsse auf Verhaltensweisen, Vorlieben oder Hobbys gezogen werden. Genauso besteht eine konkrete Gefahr in der zunehmenden Ermittlung von Standortdaten. Das ist zwar nach § 98 des Telekommunikationsgesetzes verboten. Aber nachdem immer mehr Diensteanbieter auf dem Markt sind, die nicht dem Telekommunikationsgesetz unterfallen, besteht auch hier eine konkrete Gefahr des Missbrauchs. Dem müssen wir uns sehr intensiv annehmen. Ich hoffe auf die gleiche konsensuale und sachliche Zusammenarbeit, wenn es um diese von mir angesprochenen Themen geht. Ich darf mich abschließend bei allen herzlich bedanken. Es ist ein mutiges und schönes Zeichen, dass es uns gelungen ist, eine fraktionsübergreifende Entschließung zustande zu bringen. Lassen Sie uns in diesem Sinne weiterarbeiten, wenn es um Datenschutz und Datensicherheit in Deutschland geht. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Gerold Reichenbach von der SPD-Fraktion. ({0})

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Lassen Sie mich vorab Herrn Peter Schaar, der oben auf der Tribüne sitzt, und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die hervorragende Arbeit im Bereich des Datenschutzes und der Informationsfreiheit danken. ({0}) Oft kämpfen Sie gegen Windmühlen, manchmal mit großem Rückhalt, oft aber auch ziemlich allein gelassen. Herr Schaar, vielen Dank für Ihre hervorragende Arbeit! Obwohl Sie meistens als Mahner und eher als personifiziertes schlechtes Gewissen uns Politikern im Nacken sitzen, wissen wir alle, dass Sie Ihre Arbeit mit absoluter Leidenschaft und höchster Gewissenhaftigkeit ausführen. Nichts anderes erwarten wir von Ihnen als unserem obersten Hüter von Daten und Informationen. Ein Zeichen dafür ist unter anderem der vorliegende Tätigkeitsbericht, über den wir heute debattieren. Sie zeigen uns darin die Möglichkeiten und Gefahren für die Zukunft auf. Sie mahnen die Politik, zu handeln, und zwar insbesondere mit Blick auf ein Zeitalter, in dem sich die Technik derart schnell weiterentwickelt, dass der Gesetzgeber oft hinterherhinkt und dem technologischen Fortschritt nur hinterherschaut. Das wird auch dadurch deutlich - das ist schon angesprochen worden -, dass das Gefährdungspotenzial mehr als aktuell ist, das in dem Bericht für die Jahre 2007 und 2008, den wir heute debattieren, aufgezeigt wird. Darum haben die Bundestagsfraktionen diesen Bericht zum Anlass genommen, erneut eine gemeinsame Entschließung zu formulieren. Auch ich möchte mich bei den Kolleginnen und Kollegen, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie bei den Ministerien bedanken. Natürlich ist diese Entschließung ein Kompromiss. Inhaltlich gibt es aber trotzdem viele Dinge, in denen sich die Fraktionen einig waren. Ich möchte hier nicht alle Punkte aufzählen, aber ein paar Beispiele nennen, etwa das Erfordernis der Stärkung der Rechte der Betroffenen - das ist angesprochen worden -, eine Regelung zur Profilbildung sowie eine engere Zweckbindung beim Umgang mit persönlichen Daten. Das ist ein Problem, das bei der Zunahme von Diensten, Verknüpfungsmöglichkeiten und neuen Netzwerken nach unserer Ansicht immer dringlicher wird. Ebenso einig war man sich grundsätzlich darin, dass im Bereich der Bildung und Medienkompetenz gehandelt werden muss und die von der Bundesregierung geplante Stiftung Datenschutz keine Parallelstrukturen zu den Aufgaben der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder herausbilden darf und gleichzeitig ihre Unabhängigkeit garantiert sein muss. So weit bestand Einigkeit - um nur die wichtigsten Punkte zu nennen. Die Nagelprobe jedoch wird die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen sein. Die Bundesregierung ist gefordert, konkret tätig zu werden; denn der Tätigkeitsbericht ist nicht nur dazu da, ihn zur Kenntnis zu nehmen und eine gemeinsame Entschließung mit guten Absichten zu formulieren. Er ist vielmehr dazu da, Missstände und Problemfelder aufzudecken, sie anzugehen und politisches und gesetzgeberisches Handeln folgen zu lassen. Davon, Kollege Mayer, kann ich bei den aktuellen Vorschlägen der Bundesregierung allerdings noch nicht so viel erkennen. Im Bereich des Datenschutzes ist diese Bundesregierung nach wie vor, wie in anderen Bereichen, gespalten. Der Bundesinnenminister und die CDU fordern eine schnelle Regelung zur Vorratsdatenspeicherung. Die Bundesjustizministerin und die FDP - wir haben es vorhin in der Debatte erlebt - sagen: Wir warten lieber ab, wir wollen Europa nicht vorgreifen. ({1}) Abwarten und möglichst wenig entscheiden scheint ohnehin ein Prinzip zu sein. Die Verbraucherschutzministerin moniert beispielsweise den mangelnden Schutz der Persönlichkeitsrechte im Internet, und da sie mit ihren Forderungen bei den Diensteanbietern nicht durchdringt, schaltet sie öffentlichkeitswirksam, aber ziemlich hilflos ihr Facebook-Profil ab. Andererseits setzt der Bundesinnenminister mit seinem Vorschlag der sogenannten Rote-Linie-Gesetzgebung und dem gleichzeitig vorgelegten Kodex der Internetbranche - Sie haben das eben angesprochen weitestgehend auf die Selbstkontrolle durch die wirtschaftlichen Interessen der beteiligten Unternehmen. Wir sagen dagegen ganz klar: Ein lockerer gesetzlicher Rahmen, der durch jede Menge Selbstverpflichtungen der Branche ergänzt werden würde, ist nicht ausreichend, um einen adäquaten Persönlichkeits- und Datenschutz zu gewährleisten. Nach dem sogenannten Rote-Linie-Entwurf - so wie er uns bekannt geworden ist - werden die Unternehmen auch weiterhin fleißig Daten erheben, verarbeiten und weitergeben, Profile erstellen und diese wirtschaftlich nutzen dürfen, da nur die gezielte Veröffentlichung personenbezogener Daten für unzulässig erklärt werden soll. Bis zu der roten Linie soll der Wirtschaft dann wohl ohne einklagbare gesetzliche Regelungen ein freier Gestaltungsspielraum gegeben werden, in dem sie sich lediglich nach eigenem Ermessen einschränkt. Sie selbst haben gesagt, dass es nicht sein kann, dass sich diejenigen, die davon profitieren, selbst kontrollieren. Was die Effektivität und Reichweite von Selbstregulierungskräften betrifft, haben wir auch aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit unsere Zweifel. Denn es ist gerade anhand der Banken- und Finanzkrise deutlich geworden, dass es eine Mär ist, dass der Markt sich selbst reguliert und sanktioniert. Wir halten es für wichtig - die Datenskandale in der Vergangenheit haben das gezeigt -, dass die bestehenden Datenschutzgesetze und Regeln zunächst einmal konsequent vollzogen werden. In der Vergangenheit - ich denke da etwa an die jüngsten Debatten über den bargeldlosen Zahlungsverkehr - ging es noch nicht einmal um Selbstkontrolle, sondern darum, dass Grenzsituationen ausgenutzt werden. Da geht es darum, dass zum Beispiel internationale Anbieter sich um Monierungen durch Landesdatenschutzbeauftragte - ich formuliere es einmal etwas umgangssprachlich - einen Dreck scheren. Deshalb meinen wir: Wir brauchen klare Regelungen und nicht nur eine rote Linie, sodass alles vor der roten Linie sozusagen freigegeben ist und es der Wirtschaft überlassen bleibt, Regeln zu entwickeln, an die sie sich freiwillig hält. Wenn ich mir den Kodex anschaue, stelle ich übrigens fest: Es gibt nur minimale Sanktionen, die geradezu einen Anreiz bieten, dann, wenn es wirtschaftlich opportun ist, dagegen zu verstoßen. Die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder haben mit ihrer Entschließung zu einem modernen Datenschutzrecht für das 21. Jahrhundert vom Juni 2010 eine ganze Reihe von Vorschlägen vorgelegt. Die von uns zur Annahme empfohlene Entschließung nimmt darauf Bezug. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Vorschläge ernsthaft in die Überlegungen einzubeziehen und den gesetzlichen Rahmen wirkungsvoll zu verbessern, gerade im Hinblick auf Widerspruchsrechte und andere Betroffenenrechte, sowie ein Verbot der Verknüpfung von Daten zu erlassen, welches an einen klaren Erlaubnisvorbehalt geknüpft werden sollte. Hier sehen wir alle gemeinsam Handlungsbedarf, wie in der Entschließung auch zum Ausdruck kommt. Es geht darum, rechtsfeste Kategorien umzusetzen. Wir brauchen klar definierte Regeln und Rechte, die die Betroffenen wirksam einfordern können und die mit wirksamen Kontrollen und Sanktionen bewehrt sind. Dazu bieten wir Ihnen unsere Kooperation an. Wir fordern die Bundesregierung nach wie vor auf: Nehmen Sie das ernst, was der Bundesdatenschutzbeauftragte, aber auch die Gesamtheit der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder an Vorschlägen unterbreitet haben, und setzen Sie es in gesetzgeberisches Handeln um! Dabei wird die SPD-Fraktion Sie in diesem Hause unterstützen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDPFraktion. ({0})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Schaar, Sie sitzen zwar da oben alleine auf der Tribüne, aber Sie sind nicht allein auf weiter Flur im Datenschutz. Ich denke, das wird durch diese Debatte sehr deutlich. Ich möchte mich meinen Vorrednern insofern anschließen, als auch ich Ihnen und Ihren Mitarbeitern, unseren Mitarbeitern, dem BMI und seinen Mitarbeitern ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit danke. Ich sitze jetzt schon seit über drei Stunden hier im Plenum. ({0}) - Ja, das ist schon einen Beifall wert. Dafür bin ich dankbar. Das ist auch sehr nett, aber darum ging es gar nicht. - Ich wollte sagen: Es ist schon ein besonderes Highlight des heutigen Tages, dass es uns gelungen ist, zu diesem Thema eine fraktionsübergreifende Entschließung zustande zu bringen. Das hebt sich wohltuend von manch anderer Debatte ab. Dafür mein ganz persönlicher Dank. ({1}) - Gemeinsame Beschlüsse auf Vorrat, gar kein Problem, lieber Kollege Grindel; darüber können wir einmal reden. Der Tagesspiegel titelte vor nicht allzu langer Zeit, die „Idee Datenschutz“ habe sich überlebt. Auch Mark Zuckerberg von Facebook meint zu wissen: The age of privacy is over. - Der Deutsche Bundestag ist da augenscheinlich anderer Meinung. Ich persönlich finde: Das ist auch gut so. Datenschutz hat sich keineswegs überlebt. Ob in Düsseldorf oder Köln, in Berlin oder Schwerin - Datenschutz ist aktuell. Eine freie und offene Informationsgesellschaft würde genau diese Freiheit verlieren, wenn sie dem Einzelnen das Bedürfnis nach Privatheit versagen würde. Richtig ist natürlich, dass sich die datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen in den zurückliegenden Jahren deutlich verändert haben. Vorbei ist die Zeit von Hängeordnern und Leitz-Ordnern. ({2}) - Alles relativ, mein Lieber. - Vorbei ist die Zeit von Stechkarten und Spiralkabeln. Heute mieten wir Serverkapazitäten in Neu-Delhi oder speichern direkt in einer Cloud. Die globale Dimension des Themas Datenschutz und die dadurch bedingte, sich stetig verändernde Nachfrage nach datenschutzrechtlichen Vorgaben müssen bei der Anpassung des Datenschutzrechts an das digitale Zeitalter umfassend berücksichtigt werden. Dabei sind wir auf einem guten Weg. Dass sich diese Koalition des Themas Datenschutz angenommen hat, lieber Kollege Reichenbach, belegen die folgenden einfachen Zahlen - ich habe in der vorherigen Debatte ja gelernt: Zahlen sind das A und O -: Im Koalitionsvertrag von Union und FDP findet sich der Begriff Datenschutz an 27 unterschiedlichen Stellen. ({3}) Zum Vergleich: Im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen war es genau fünfmal, im Koalitionsvertrag der Großen Koalition sogar nur dreimal der Fall. Ich finde, das ist schon ein deutlicher Fortschritt. ({4}) Und wir setzen unsere Vorgaben auch um. Da ist zum Beispiel die Forderung nach einem Arbeitnehmerdatenschutzgesetz. ({5}) Wir als christlich-liberale Koalition arbeiten an einem Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, das wir im nächsten Jahr hier vorlegen und umsetzen werden. ({6}) Das ist ein deutlicher Fortschritt gegenüber den elf Jahren, in denen die verschiedenen sozialdemokratischen Arbeitsminister das nicht hinbekommen haben. ({7}) Es ist schon darauf hingewiesen worden: Wir haben es geschafft, eine Stiftung Datenschutz ins Leben zu rufen. Selbstverständlich wird sie unabhängig sein. Und selbstverständlich ist doppelte Arbeit nicht sinnvoll. Aber wir haben das auf den Weg gebracht; Sie haben das nicht geschafft - genauso wenig wie Sie es geschafft haben, dem Bundesdatenschutzbeauftragten mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Sie haben nur Sprüche gemacht, wir haben gehandelt und mehr Geld draufgelegt. Von daher haben wir mehr bewegt als Sie in den elf Jahren, in denen Sie vergeblich versucht haben, etwas beim Datenschutz zu bewegen. ({8}) Wir als christlich-liberale Koalition setzen auf ein Nebeneinander gleich mehrerer Regelungsmechanismen. So richtig es ist, dass wir an neuen gesetzlichen Regelungen für manche Phänomene nicht vorbeikommen, so falsch ist der Glaube, allein über neue Gesetze Probleme lösen zu können. Selbstverpflichtungen, vor allem der Internetwirtschaft, tragen insofern schlicht der Tatsache Rechnung, dass deutsches Recht eben nur in Deutschland gilt und nicht auf den Cayman Islands. Das muss man einfach zur Kenntnis nehmen. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass ein solcher Kodex der Branche nur dann akzeptabel ist, wenn darin effektive und transparente Verfahren garantiert werden. Das gilt vor allem auch für Verfahren bei etwaigen Verstößen einzelner Unternehmen gegen die selbst gesetzten Vorgaben. Funktionieren diese Sanktionsmechanismen allerdings, würde das zu einer dringend notwendigen Entlastung der Aufsichtsbehörden beitragen. Auch das kann ein positiver Effekt sein. Denn zur Wahrheit beim Datenschutz gehört leider auch, dass es erhebliche Vollzugsdefizite gibt. Laut Statistik musste ein deutsches Unternehmen im Jahr 2009 alle 39 000 Jahre - in Worten: neununddreißigtausend Jahre - damit rechnen, durch einen Vertreter einer Aufsichtsbehörde kontrolliert zu werden. Ich glaube, dass wir hier ansetzen müssen, dass auch die Landesregierungen nachbessern und ihre Landesdatenschutzbeauftragten besser ausstatten müssen. ({9}) Trotz der begrenzten Reichweite müssen gesetzliche Regelungen - wo nötig - über die Formulierung eines Rahmens weit hinausgehen und konkret werden. Das gilt selbstverständlich für die Rechte der Betroffenen wie Widerspruchsrechte oder Ansprüche auf Sperrung oder Löschung. Solche Instrumente, die die informationelle Selbstbestimmung des Betroffenen absichern sollen, dürfen nicht vom Gutdünken einer datenverarbeitenden Stelle abhängig gemacht werden. Diese Aussage gilt umso mehr, wenn die persönlichen Daten des Einzelnen zu kommerziellen Zwecken ge- oder - und das passiert nicht selten - missbraucht werden. ({10}) - Ich bin begeistert, Wolfgang. - Ich komme zu einem tendenziell weihnachtsfreundlichen Abschluss: Noch einmal mein Dank für die gemeinsame Beratung. Ich würde mich freuen, wenn wir beim Thema Datenschutz auch in Zukunft gemeinsam etwas bewegen könnten. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Jan Korte von der Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Peter Schaar! In der Tat ist es eine gute Sache, dass wir eine gemeinsame Beschlussempfehlung auf den Weg gebracht haben. Ich denke, das trägt auch der Tatsache Rechnung, dass der Datenschutz innerhalb der Gesellschaft, der Bevölkerung einen hohen Stellenwert bekommen hat. Noch eine kleine Anmerkung. Dieser gemeinsame Antrag ist auch insofern ein gutes Zeichen, als die Kollegen von der CDU/CSU in dieser Beziehung vielleicht einmal in sich gehen könnten. Bei diesem Sachthema konnten wir gut zusammenarbeiten. Vielleicht ist das bei anderen Themen in Zukunft auch möglich. Das wäre doch ein gutes Zeichen. ({0}) Wichtig ist ({1}) - der Kollege Grindel ist wach geworden; das ist gut, jetzt kommt ein bisschen Stimmung in den Laden -, dass wir innerhalb dieser Legislaturperiode versuchen - das war in den letzten Jahren genauso -, die gemeinsame Beschlussempfehlung Stück für Stück umzusetzen. Wenn alle Fraktionen dafür sind und diese Beschlussempfehlung ernst nehmen, wird man das ja wohl irgendwie hinbekommen. Wir als Linke sind auf jeden Fall dabei. Da Herr Schaar im Haus ist, möchte ich vorab noch einen Punkt ansprechen. Wir beraten heute den Tätigkeitsbericht von 2007 und 2008. Wir sollten dafür sorgen, dass Herrn Schaar in Zukunft genügend Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung stehen, sodass wir in späteren Jahren den Bericht des Vorjahres diskutieren und nicht den von vor drei Jahren. Hier müssen wir unbedingt nachbessern. ({2}) Selbstverständlich fehlen viele wichtige Punkte in dieser gemeinsamen Beschlussempfehlung. Das ist klar. Es handelt sich um einen Minimalkonsens. Auf Seite 45 des Berichtes - ich habe ihn gelesen findet sich zum Beispiel das Thema Onlinedurchsuchungen. Dort wird zu Recht gesagt, das sei ein schwerwiegender Grundrechtseingriff. Das ist wohl wahr; wir haben heute schon über die Vorratsdatenspeicherung gesprochen. Bis heute haben Sie, die die Möglichkeit einer Onlinedurchsuchung eingeführt haben, auch in diesem Fall nicht gesagt, wofür wir dieses Instrument überhaupt brauchen. Das BKA hat laut der jüngsten Anfrage der Fraktion Die Linke noch gar keine Onlinedurchsuchung durchgeführt. Wir sollten also die Aussagen im Bericht hierzu ernst nehmen und diese Möglichkeit streichen. ({3}) Ein anderer Punkt ist, dass bei allen elektronischen Großprojekten einige Aspekte nicht beachtet wurden von uns zwar schon, aber darüber gab es keinen Konsens. So gibt es zum Beispiel beim Millionengrab E-Perso und bei der gesamten Biometriestrategie weniger Datenschutz. Deshalb muss hier - darauf wurde schon hingewiesen - dringend ein Kurswechsel eingeleitet werden. Ich erinnere auch an ELENA, an die Gesundheitskarte und die Vorratsdatenspeicherung, über die wir heute schon diskutiert haben und die einen der schwerwiegendsten Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung überhaupt darstellt. Lange Rede, kurzer Sinn: Wenn man die Aussagen des Berichts ernst nimmt, müsste man ein Moratorium für all diese Großprojekte fordern und eine wirkliche bürgerrechtliche Evaluierung vornehmen. Das wäre angemessen. ({4}) Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen, über den noch gar nicht diskutiert worden ist, nämlich den Umgang mit Sozialdaten. Hartz IV ist nicht nur Armut per Gesetz, sondern damit einher geht per Gesetz auch ein Fehlen von Datenschutz. Auch beim Umgang mit den Daten von Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfängern ist es an der Zeit, endlich einen wirksamen Datenschutz einzuführen. Hier hätten Sie uns an Ihrer Seite. Hier ist aber, wie ich glaube, noch extrem viel Druck vonnöten. Der Bericht sollte für uns also Mahnung und Handlungsanweisung zugleich sein. Wir würden uns in diesem Bereich intensiv engagieren. Wir sollten jetzt aber erst einmal die Punkte der gemeinsamen Beschlussempfehlung, bei denen wir alle einer Meinung sind - Herr Grindel schaut begeistert -, umsetzen. Dann sollten wir einen grundlegenden Kurswechsel einleiten. Dafür muss allerdings diese Regierung abgewählt werden. Auch daran arbeiten wir. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz von Bündnis 90/ Die Grünen das Wort.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Peter Schaar, auch wir Grünen begrüßen die mit und in dem Bericht zum Ausdruck kommende Bedeutung der Arbeit des Bundesdatenschutzbeauftragten. Wir bedanken uns bei ihm und all seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die insgesamt geleistete Arbeit, aber insbesondere für die in den Jahren 2007 und 2008. An diesem Punkt gilt es festzuhalten: Ein unabhängiges Aufsichtssystem ist ein verfassungsfester Baustein unseres Datenschutzkonzeptes. Auch ich freue mich über die fraktionsübergreifende Beschlussempfehlung und die konstruktive Zusammenarbeit. Das ist ein positives Signal in diesen manchmal garstigen politischen Zeiten. Das zeigt auch - da stimme ich dem Kollegen Mayer völlig zu - die Bedeutung und die Wichtigkeit dieses Themas in der aktuellen Zeit. ({0}) Für uns besonders wichtig war, dass in den Bericht die Bedeutung bundesweiter Gütesiegel und ein Prüfantrag zur Schaffung gesetzlicher Regelungen für Smart Grid Eingang gefunden haben sowie Bezug auf die wichtigen Anregungen im Eckpunktepapier zur Modernisierung des Datenschutzes genommen wurde. Das alles sind wichtige politische Punkte für einen modernen Datenschutz. Wir wollen an dieser Stelle offen über Datenschutz sprechen. Nicht nur innerhalb der Regierung gibt es erhebliche Meinungsunterschiede - nehmen wir nur das Stichwort „Vorratsdatenspeicherung“ -, sondern auch uns Grüne trennt manches von der Bundesregierung - das sei hier erwähnt -, zum Beispiel bei ELENA. Hier findet im Augenblick eine verfahrenstechnisch ausgesprochen unwürdige Beerdigung - häppchenweise und auf Raten - statt, ohne dass die Datensammelei gestoppt wird. Noch immer werden die Daten jeden Monat zentral gespeichert und gemeldet, was klar rechtswidrig ist. Frau Piltz, auch wenn Sie sich hier für die tolle Datenschutzpolitik abfeiern lassen, da versagen Sie leider komplett. ({1}) Beim neuen Pannen-Personalausweis ist es genauso. Man kann ihn den Bürgerinnen und Bürgern nicht empfehlen, und dies tut kaum jemand mehr; ({2}) denn über die zugesagte Sicherheit verfügt er gerade nicht. ({3}) Das Beharren auf der Vorratsdatenspeicherung von Union und - nach dem halbgaren Vortrag vorhin; wir haben darüber vor zwei Stunden diskutiert - vermutlich auch dem Kern der SPD steht meiner Ansicht nach im klaren Widerspruch zu dem vorliegenden Bericht, der die Sorge zum Ausdruck bringt, dass die Vielzahl der Datenverarbeitungen und das unaufhörliche Anwachsen von Datenbeständen es den Bürgerinnen und Bürgern immer schwerer mache, ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung auszuüben. Die verpflichtende Vorratsdatenspeicherung trägt genau zu einem solch unaufhörlichen Anwachsen von Datenbeständen bei. Beim Thema Internet, der zentralen Bewährungsprobe für den Datenschutz unserer Zeit, liefert die Bundesregierung bisher nichts außer einer angedeuteten roten Linie. Frau Piltz, das ist wichtig; jetzt müssen Sie aufpassen, weil Sie sich eben so gelobt haben. ({4}) Die rote Linie des Innenministers erfasst eben nur die Veröffentlichung von Daten. Nicht erfasst, sondern der Selbstregulierung überlassen bleiben die Erhebung, die Speicherung, die Verwaltung, die Weitergabe und die Kommerzialisierung von Daten; das ist alles ungeregelt. Da bohren Sie ein wirklich dünnes Brett. Das geht so nicht. ({5}) Auch die letzten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Onlinedurchsuchung und zur Vorratsdatenspeicherung mit komplexen umfänglichen Maßgaben zu den verfassungsrechtlich gebotenen SchutzmaßDr. Konstantin von Notz nahmen machen diesen Bedarf überdeutlich. Da haben Sie nichts getan. Kollege Mayer hat das Bundesdatenschutzgesetz angesprochen und es sehr milde gesagt. Es ist in der Tat völlig überholt und in den 70er- und 80er-Jahren stehen geblieben. Es stellt auf Großrechnertechnologien ab und geht an den Realitäten im Jahr 2010 völlig vorbei. Wir brauchen eine Generalrevision dieses Gesetzes, das für uns die nächsten Jahre ein ganz zentrales Gesetz werden muss. ({6}) Ich bin gespannt, was in diesem Bereich erfolgt, wenn es schon mit der roten Linie so schwierig ist. Noch wichtiger und grundlegender sind Anstrengungen beim Datenschutz durch Technik. Auch hier muss der Gesetzgeber tätig werden; denn alle Hoffnungen auf einen sich selbst entfaltenden Markt der sogenannten Privacy Enhancing Technologies haben sich nicht hinreichend erfüllt. Bereits ab Werk muss für freiheitswahrende Einstellungen und Optionen in Soft- und Hardware gesorgt werden. Im Datenschutz liegt der entscheidende Weg noch vor uns. Der Bericht des Bundesdatenschutzbeauftragten ist ein erster Schritt; viele weitere große - und nicht kleine Schritte müssen folgen. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes erwarten von uns einen effektiven Schutz ihrer Daten. Ganz herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Tätigkeitsbericht 2007 und 2008 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4179, in Kenntnis des genannten Berichts auf Drucksache 16/12600 eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Heinz-Joachim Barchmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichern - Drucksache 17/4030 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Gustav Herzog von der SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der SPD-Fraktion mit dem Titel „Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichern“ ist die Reaktion auf eine Entscheidung des Haushaltsausschusses, die die Koalitionsfraktionen mit Unterstützung von Grünen und Linken herbeigeführt haben. Das Bundesministerium wurde vorgeführt, als Sie deutlich gemacht haben, was Sie vorhaben, nämlich dass aus der bisher sehr gut funktionierenden Ausführungsverwaltung lediglich eine Gewährleistungsverwaltung wird. Ich will in meiner Rede drei Schwerpunkte setzen - über die Details der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung können wir sicherlich im Verkehrsausschuss reden, sobald der angeforderte Bericht des Ministeriums vorliegt -: Ich will mich als Abgeordneter mit der gesellschaftspolitischen Frage beschäftigen, ob es uns um öffentliche Daseinsvorsorge oder um eine reine Privatisierungsideologie gehen sollte. Ich will mich als Verkehrspolitiker der Frage stellen, ob Sie sich die richtigen Ziele gesetzt haben, ob Sie ausreichend Mittel zur Verfügung stellen und ob Sie über die passende Organisation verfügen, um den Ausbau und die Unterhaltung der Wasserwege zu gewährleisten. Ich stelle mir als Sozialdemokrat die Frage, wie Sie mit 13 000 Menschen umgehen, die gute Arbeit geleistet haben. Ich sage Ihnen: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wasserund Schifffahrtsverwaltung haben aufgrund Ihrer Entscheidung keine schöne Weihnacht. ({0}) Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ist vielen Prüfungen unterzogen worden: durch Kienbaum in den Jahren 1996/1997 ({1}) und im Rahmen des Gutachtens zu den Kernaufgaben von 2001. Es gab einen ständigen Personalabbau und eine ständige Anpassung: Über 27 Prozent der Stellen sind in den letzten 17 Jahren abgebaut worden. Heute sind in dieser Verwaltung weniger Menschen beschäftigt, als es die Vorgabe von 2001 vorsah. Ich füge hinzu: Auch sozialdemokratische Verkehrsminister waren an diesem Abbau beteiligt. Wie ist die aktuelle Situation? Ich muss der FDP und den Grünen ein Kompliment machen: Sie haben geschickte Medienvorarbeit geleistet. Ich lese in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 21. November dieses Jahres, dass 13 000 Bürokraten 8 000 Binnenschiffern gegenüberstehen. Ich hätte mir von den Kollegen Wilms und Staffeldt, die dort zitiert wurden, schon gewünscht, dass sie auf Folgendes hinweisen: In dieser Verwaltung sind nicht 13 000 Bürokraten tätig. Natürlich zählen auch der Staatssekretär und Vertreter des Ministeriums dazu; aber 70 Prozent der Beschäftigten in der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung - es ist wichtig, darauf hinzuweisen - sind Menschen, die in den Außenbereichen arbeiten, die sich bei jedem Wetter, auch bei diesem, darum kümmern, dass die Schleusen und die Sicherheitseinrichtungen funktionieren und die Bojen Licht geben, dass die Sicherheit auf See und auf unseren Binnenwasserstraßen gewährleistet ist. Zudem sind dort über 1 000 Auszubildende tätig. Es ist eine spannende Frage an die Bundesregierung, wie die Bundesverwaltung in Zukunft ihre Ausbildungsquote halten will, wenn die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung so abgespeckt worden ist. Ich sage Ihnen: Die Lehrlinge, die Sie in der politischen Führung haben, werden bei der Ausbildungsquote nicht mitgezählt. ({2}) All Ihre Argumente und Sparappelle wären tatsächlich glaubwürdig, wenn Sie von der FDP sich darangemacht hätten, die in Ihrem Sparbuch vorgeschlagenen Maßnahmen umzusetzen. Sie wollten ein Ministerium abschaffen; jetzt fühlt sich Ihr früherer Generalsekretär da sehr wohl. Sie wollten die Anzahl der Staatssekretäre reduzieren; nichts ist passiert. Aber bei den Leuten, die draußen an den Schleusen arbeiten, wollen Sie einsparen. ({3}) - Bei bitteren Wahrheiten fehlt einem vielleicht der Enthusiasmus. Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis will ich zitieren: Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes verfügt über hohe Kompetenz und stellt sich mit neuen Methoden und Lösungen den veränderten Herausforderungen. Jetzt hätte ich natürlich donnernden Applaus von der Koalition erwartet. Warum? Ich habe Ihren Bundesminister, Herrn Dr. Peter Ramsauer, zitiert. Das steht auf Seite 1 einer schönen druckfrischen Broschüre, Ausgabe 11/2010, mit dem sehr interessanten Titel „Gut zu wissen, was dahintersteckt“. Das ist tatsächlich die Frage: Was steckt dahinter? Sie haben eine andere verkehrspolitische Konzeption. Sie haben sich vom integrierten Verkehr verabschiedet. Sie haben in Ihrem Aktionsplan das Ziel „Verlagerung auf Schiene und Wasserstraße“ relativiert. Vor allen Dingen haben Sie mit geschlossenen Finanzierungskreisläufen die Straße privilegiert. ({4}) Die gesamten Mauteinnahmen fließen in den Verkehrsträger Straße. ({5}) Das Haushaltsrisiko und die Auswirkungen der Schuldenbremse tragen in Zukunft allein die Verkehrsträger Schiene und Wasserstraße. Das werden wir in den nächsten Jahren erst richtig merken, wenn die Verteilungskämpfe noch härter werden. ({6}) Ich habe nicht den Eindruck, dass es Ihnen um eine effizientere Organisation geht, was der Bundesrechnungshof anmahnt. ({7}) Ihnen geht es darum, vergaberechtlich darauf zu achten, dass möglichst viele ihr Geld damit verdienen. ({8}) Sie missbrauchen die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung für Ihre Privatisierungsideologie. Das Ganze passiert auf dem Rücken der Beschäftigten, geht zulasten der Infrastruktur und geschieht auf Kosten des Steuerzahlers. ({9}) Die öffentliche Verwaltung kann sich diesem Wettbewerb stellen, wenn es um Qualität, Sicherheit und Kosten geht. Wenn Sie das einem Sozialdemokraten nicht glauben wollen, ({10}) dann machen Sie einmal eine Dienstreise nach Hessen. Herr Westerwelle darf zwar nicht mehr nach RheinlandPfalz; aber ich denke, dass Sie Ihren hessischen Verkehrsminister besuchen dürfen. Dessen Vorgänger hat vor drei Jahren einen Versuch gestartet. Er hat eine Straßenmeisterei zur Privatisierung ausgeschrieben. ({11}) Es gab einen Wettbewerb mit den anderen Straßenmeistereien. Im Sommer dieses Jahres hat er den Versuch vorzeitig für beendet erklärt. Er hat gesagt: Die Privaten waren teurer, die Qualität war nicht so gut, und vor allen Dingen waren Mängel bei der Sicherheit zu finden. Gehen Sie einmal nach Hessen. Ich sage Ihnen: Wir Sozialdemokraten treten für mehr Transport auf der Wasserstraße ein. Dafür brauchen wir eine leistungsfähige und regional verankerte Wasserund Schifffahrtsverwaltung. Zum Abschluss noch an die Adresse unserer maritimen Freunde: Es nützt nichts, mit voller Kraft vorauszufahren, wenn das Ruder falsch eingestellt ist. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Matthias Lietz von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Matthias Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004094, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Kollege Herzog, auch ich möchte zu Beginn zurückblicken: Bereits 1999 richtete das Verkehrsministerium die Projektgruppe „Entwicklungskonzepte für eine zukunftsorientierte WSV - Konzentration der WSV auf Kernaufgaben“ ein. Vor dem Hintergrund bisheriger und künftiger Personaleinsparungen sowie knapper werdender Haushaltsmittel sollten die künftige Aufgabenstruktur und konkrete Umsetzungsvorschläge ermittelt werden. Ziel des Gutachtens war die zukunftsfähige Gestaltung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Mit Blick auf eine künftige Aufgabenstruktur und ihre Kernaufgaben wurde unter anderem Folgendes geprüft: Welche Aufgaben müssen oder sollen von der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung mit welcher Intensität selbst wahrgenommen werden und welche nicht? Welche Aufgaben können oder sollen durch Dritte wahrgenommen werden, und welche Aufgaben können sogar ganz entfallen? Der Abschlussbericht wurde 2001 vorgelegt. Heute stellt sich natürlich die Frage: Was wurde aus dem Gutachten der Projektgruppe, und was wurde von den damaligen Ergebnissen bis heute umgesetzt? Seit einem Jahr wird das Verkehrsministerium von einem Minister der christlich-liberalen Koalition geführt. ({0}) Bis dahin - das haben Sie hier selbst erwähnt -, also bis zum Herbst des Jahres 2009, lag das Verkehrsministerium in der Verantwortung der SPD. Es ist daher interessant, dass der Antrag „Zukunftsfähigkeit der Wasserund Schifffahrtsverwaltung sichern“ ausgerechnet von Ihnen vorgelegt wurde. Im Abschlussbericht von 2001 nennt die Projektgruppe beispielsweise für Aufgaben, die der Gewährleistungsverantwortung zugeordnet und auch durch Dritte erbracht werden können, ein theoretisches Einsparpotenzial von 6 200 Dienstposten bei damals rund 15 000 Mitarbeitern. ({1}) Bei Umsetzung der Vorschläge wäre ein künftiger Personalumfang von 8 800 Dienstposten bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung denkbar. Bis zum Ende ihrer Verantwortung im Ministerium hat die SPD darauf verzichtet, auch nur annähernd einen Weg zur Erreichung dieses Zieles zu beschreiten. Stattdessen hat man sich immer für die Zementierung bestehender Strukturen entschieden. ({2}) Sie haben sich von Ihrem Leitbild eines aktivierenden Staates verabschiedet, in dem der Staat nicht einfach weniger, sondern anders werden muss. ({3}) Wenn man über Ihr Leitbild liest, kommt man zu dem Schluss, dass statt einer Zementierung der Durchführungsverwaltung ein Schritt zu mehr Gewährleistungsverantwortung der richtige Ansatz zur Reform der WSV ist. ({4}) In Ihrem heute vorliegenden Antrag erwähnen Sie die gemeinsame Vereinbarung von 2005 und beklagen sich, dass diese Vereinbarung ausgelaufen ist und nicht verlängert wurde. Eines kann ich Ihnen in diesem Zusammenhang versichern: Wir werden uns als Koalition genau überlegen, wie wir künftig eine Vereinbarung gestalten. Wir unterstützen eine echte Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Wir wollen die Wasserund Schifffahrtsverwaltung zukunftsfest machen und uns nicht nur auf die Optimierung bestehender Geschäftsabläufe beschränken. ({5}) Wir unterstützen eine echte Aufgabenkritik und eine Überprüfung der bisherigen Reformschritte bei der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Ich bin mir sicher: Eine echte Reform ist nur in einem engen Dialog mit den Beschäftigten, ihren Interessenvertretungen sowie mit den Gewerkschaften auf den Weg zu bringen. Dabei müssen beide Seiten vorurteilsund ideologiefrei in den Dialog eintreten. Ich sage nicht, dass die Gespräche ohne intensive Debatte verlaufen werden; aber keine Seite sollte sich bereits jetzt auf unverrückbare Positionen versteifen. ({6}) Noch bevor der Bericht aus dem Ministerium überhaupt vorliegt und somit noch gar nicht klar ist, welche Schritte die Regierung konkret ergreifen wird, ist es unnütz, hier und heute über eine mögliche Zerschlagung der Strukturen der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zu reden. ({7}) Die vom Bundesrechnungshof angemahnte Organisationsreform ist notwendig. Wie diese konkret aussieht, werden wir erst - so ist es angekündigt - nach dem 26. Januar 2011 entscheiden können, wissend, dass auch die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung den kommenden Reformprozess konstruktiv begleiten will. Mit Ihrem Antrag wollen Sie erreichen, dass krampfhaft an der bisherigen Struktur festgehalten wird. Darüber hinaus fordern Sie eine Aufstockung des bestehenden Personals. Das sichert nicht die Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, sondern verhindert eine effiziente, langfristige und kritische Betrachtung der Aufgabenerledigung. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Roland Claus von der Fraktion Die Linke. ({0})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für den Fall, dass uns noch jemand außerhalb dieses Plenarsaals wahrnimmt: Wir reden hier über eine Beschäftigtengruppe, die selten im Rampenlicht steht, aber wichtige Aufgaben erfüllt. Wir reden über die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, die WSV. Es geht hier im besten Sinne des Wortes um einen öffentlichen Dienst mit etwa 13 000 Mitarbeitern, um eine Verwaltung, die wir als Abgeordnete oder auch Bürgerinnen und Bürger keinesfalls alltäglich wahrnehmen, aber der wir viel häufiger begegnen, als wir es wahrnehmen, sei es, wenn wir mit dem Schiff in Berlin auf der Spree fahren, sei es, wenn wir als Käufer von Produkten aus Übersee in Erscheinung treten. Die Sache ist uns also lieb und teuer. Deshalb ist es gut, dass die SPD diesen Antrag einbringt, in dem es heißt: Der WSV als leistungsfähiger Institution muss eine Zukunft gegeben werden. Wir wollen den öffentlichen Dienst erhalten und modernisieren und nicht zerschlagen. - Dem wird die Linke zustimmen. ({0}) Der Grundkonflikt, der hier besteht, ist mit zwei sehr sperrigen bürokratischen Begriffen besetzt, die ich übersetzen muss. Der erste Begriff lautet „Ausführungsverwaltung“. Dabei geht es um eine Verwaltung, die selbst tun kann, was notwendig ist. Ein Beispiel: Eine Schleuse muss repariert werden. Die Verwaltung ist in der Lage, die Schleuse zu reparieren. - Der zweite sperrige Begriff lautet „Gewährleistungsverwaltung“. Er bedeutet: Was zu tun ist, soll anderen übertragen werden. Im genannten Beispiel muss man also jemanden suchen, der die Schleuse reparieren kann. Wir sagen, um das klarzustellen, ganz deutlich: Die Linke will, dass die WSV selbst handeln kann. ({1}) Allerdings wollen wir wissen, was die Bundesregierung vorhat, über Jahre aber nicht öffentlich vorgetragen hat. Deshalb - nur deshalb - haben wir im Haushaltsausschuss dafür gestimmt, dass bis zum 26. Januar nächsten Jahres ein Bericht vorzulegen ist. Wir wollen, dass die Karten auf dem Tisch liegen. Erst dann können wir entscheiden. ({2}) Wir sagen ganz deutlich: Wir wollen keine als Gewährleistung getarnte Privatisierung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Das Bundesverkehrsministerium müsste eigentlich noch wissen, wohin das führt; denn es ist auch Bundesbauministerium. Bei der Sanierung Ihres eigenen Hauses in der Invalidenstraße hier in Berlin ist Ihnen selbiges fast auf den Kopf gestürzt, nachdem Sie die Bauaufsicht privatisiert haben. Liebe Bundesregierung, aus Fehlern kann man klug oder stur werden. Sie müssen selbst entscheiden, welchen Weg Sie gehen. ({3}) Allerdings muss auch die sozialdemokratische Fraktion an die Zeit erinnert werden, als sie noch den Traum von Tony Blair und Gerhard Schröder träumte. Er ging so: Wir von der SPD können Privatisierung besser als CDU, CSU und FDP. ({4}) Immerhin stammt das Konzept, das Sie jetzt kritisieren, aus dem Jahre 2001. Damals gab es eine rot-grüne Bundesregierung und einen sozialdemokratischen Verkehrsminister, wenn ich das einigermaßen richtig erinnere. Sei es drum: Eine SPD-Fraktion minus Agenda 2010 ist mir allemal lieber als eine Agenda-SPD. Deshalb stimmen wir Ihrem Antrag zu. Wenn auch der Bericht vorliegt, können wir für Klarheit sorgen. Wir sagen: Klarheit ja, Privatisierung nein. ({5}) In diesem Sinne habe ich eine kleine lokalpatriotische Bitte an die WSV. Es gibt in Magdeburg-Rothensee ein sehr traditionsreiches Schiffshebewerk, das seit 2006 außer Betrieb ist. Es handelt sich um ein technisches Denkmal. Wir setzen uns dafür ein, dass dieses technische Denkmal erhalten bleibt. Wir sind für die Zukunft der WSV. Also sollte sich die WSV auch ein Stück weit für die Zukunft dieses technischen Denkmals einsetzen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Torsten Staffeldt von der FDP-Fraktion. ({0})

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wieder einmal bezeichnend, dass sich die Linke für Denkmäler einsetzt. ({0}) Ich beginne mit einem Zitat: Gerade wer das Bewahrenswerte bewahren will, muss verändern, was der Erneuerung bedarf. ({1}) Meine Damen und Herren, es mag für die Kolleginnen und Kollegen von der SPD vielleicht überraschend sein, aber dieses Zitat stammt von Willy Brandt. Es steht in völligem Widerspruch zu dem, was wir gerade vom Kollegen Herzog gehört haben. ({2}) - Sie sollten lieber das beherzigen, was Willy Brandt gesagt hat; denn er war zukunftsgerichteter als Sie heute. ({3}) Meine Damen und Herren, was ist geschehen? Wir haben im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir ein Gesetz zur Reform der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung vorlegen werden. Ursache dafür ist, dass die bisherigen SPD-Verkehrsminister dies nie geschafft haben oder schaffen wollten. Seit 1998 haben Sie fünfmal - mit den Ministern Müntefering, Klimmt, Bodewig, Stolpe und Tiefensee - die Chance gehabt, die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung zu reformieren. Sie haben es nicht geschafft. ({4}) Auch jetzt will die SPD das nicht und spielt sich hier als Retter der Bedrohten auf. Da werden Horrorszenarien und Untergangsvisionen an die Wand gemalt. Ich möchte gerne ein paar Beispiele aus der Presse der letzten Monate zitieren. So sagte etwa der Kollege Gustav Herzog am 4. November: Die Koalition hat sich vorgenommen, diese Behörde auf Biegen und Brechen zu demontieren. Der Kollege Johannes Kahrs aus Hamburg, der jetzt nicht da ist, sagte: Hier soll nach dem Willen der Koalition eine Behörde … kaputtmodernisiert werden. Immerhin redet der Kollege Kahrs von Modernisierung und nicht von Demontage wie der Kollege Herzog. Mein Bremerhavener Kollege Uwe Beckmeyer, der leider auch nicht da ist, wusste bereits am 26. Juni, was kommen wird; denn er behauptete: Das kommt einer Zerschlagung der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung gleich. Es gab Beschimpfungen und Unterstellungen der Kollegen aus der SPD in der Öffentlichkeit. Das alles war völlig sach- und fachfremd und ohne jegliche inhaltliche Auseinandersetzung mit dem, was wir mit dieser Reform eigentlich vorhaben. ({5}) Meine Damen und Herren, Sie behaupten, dass unsere Reform zu Problemen bei der Schifffahrt führen wird. Sie lehnen jede Veränderung ab. ({6}) Herr Herzog, Sie haben eben das Beispiel mit dem schönen Weihnachten für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebracht. Sie verunsichern doch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verwaltung, wenn Sie von einem Stellenabbau sprechen, der angeblich 6 000 Menschen betrifft. Das ist völlig absurd. Diese Zahl haben Sie sich aus den Fingern gesogen. ({7}) - Nein, das ist nicht unser Ziel. Unser Ziel ist es, die Verwaltung zukunftsfähig zu gestalten. Aber darauf komme ich noch. Ich will sagen: Sie sind die Brandstifter, die erst Feuer legen und sich hinterher als Feuerwehr aufspielen wollen. ({8}) Sie sind das eigentliche Problem. Eigentlich hätte ich das eher - das muss ich in diesem Falle sagen - von der Dagegen-Partei, nämlich von den Grünen erwartet. ({9}) Zu den Fakten. Viele Berichte des Bundesrechnungshofs weisen nach, dass eine wirkliche Reform längst überfällig ist. Wenn man die Berichte aufmerksam liest, stellt man fest, dass die Ursache vieler Probleme in der Struktur der Verwaltung liegt. Viele Köche verderben den Brei, könnte man auch ganz platt sagen. Der Bundesrechnungshof mahnt einen ernsthaften ganzheitlichen und nachhaltigen Sanierungsprozess bei der WSV an, und das hat seinen Grund. Der behauptete Stellenabbau in der Verwaltung hat nicht stattgefunden; darauf hat der Kollege Lietz eben schon hingewiesen. Die Verwaltung beschäftigt nämlich nahezu genauso viele Menschen wie 2001, nämlich in etwa 14 400 und nicht 13 000, wie hier immer gesagt wird. Gemäß der Antwort auf eine Anfrage der Grünen vom Sommer dieses Jahres sind es 14 400. ({10}) Das entsprechende Beispiel haben wir schon gehabt. Das ist, bezogen auf die Gesamtlänge der Schifffahrtsstraßen, so, dass etwa alle 500 Meter ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin stehen müsste. Die seit langem geforderte und in § 7 der Bundeshaushaltsordnung geforderte Prüfung der Vergabe von Arbeiten an Externe, wenn es denn wirtschaftlich sinnvoll ist, wird seit Jahren durch unklare Ausschreibungsbedingungen und nicht vollkostenorientierte Vergleiche unterlaufen. Anstatt umzusteuern wird sogar noch einer draufgesetzt, indem heutzutage darüber nachgedacht wird, wieder einen Bagger auf Kosten der Schifffahrtsverwaltung einzusetzen, um angeblich einen Markt herzustellen, der so nicht vorhanden wäre. ({11}) Wenn wir Märkte schaffen wollen, dann müssen wir den Anbietern am Markt die Möglichkeit geben, Geld zu verdienen. ({12}) Das heißt, wir müssen die Ausschreibungszeiträume und die Vergabezeiträume so gestalten, dass es auch Sinn macht. Die Verwaltung macht das Gegenteil. ({13}) - Genau so ist es. Die Vergabe wird auch günstiger sein, wenn man eine Vollkostenrechnung betrachtet, lieber Kollege. ({14}) Das Motto der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung lautet nicht: „Wir machen Schifffahrt“, sondern das Motto lautet: „Wir machen Schifffahrt möglich.“ - Warum also müssen Seezeichen, umgangssprachlich Bojen oder seemännisch auch Tonnen genannt, von einer Behörde verlegt werden? Das muss keineswegs zwangsläufig so sein. Die Handelskammer Bremen beispielsweise hat über Jahrhunderte die Tonnen gelegt, um Bremen für die Schifffahrt erreichbar zu machen. Erst später wurden diese Aufgaben vom Staat übernommen. Das Gleiche gilt für die Schleusen, die nicht unbedingt staatlich betrieben werden müssen, und auch für Schiffskonstruktionen. Es wurden eierlegende Wollmilchsäue konzipiert und zu astronomischen Kosten gebaut, die hinterher aber trotzdem nicht nutzbar waren. Das alles sind Beispiele dafür, dass es zwingend notwendig ist, diese Behörde zu reformieren, zu erneuern und für die Zukunft fit zu machen. Das ist unsere Aufgabe. Die Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung liegt uns am Herzen. Die Schifffahrt auf See und auf Binnenrevieren muss effektiv und möglich sein. Wir werden daher den Umbau mit dem Ziel betreiben, die Effizienz zu steigern. Die Verwaltung wird langfristig und sozialverträglich zunehmend zum TÜV und weniger zur Autowerkstatt für Wasserstraßen, um das Ganze einmal ein bisschen anschaulicher zu machen. ({15}) Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden weiter benötigt, weil sie als Einzige über das detaillierte Knowhow verfügen, um Vergaben auch durchführen, kontrollieren und bewerten zu können. Deswegen sind Ihre Ansätze völlig abstrus. Das, was Sie hier in die Öffentlichkeit hinein propagieren, ist völlig abstrus und absurd. ({16}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Ende. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Schnell, bitte.

Torsten Staffeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004161, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. - Wir haben Verantwortung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schifffahrtsverwaltung übernommen. Vor allem haben wir aber auch eine Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, dafür übernommen, ({0}) sinnvoll und effektiv mit den Mitteln umzugehen, die uns zur Verfügung gestellt werden. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Valerie Wilms für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt ja schon eine ganze Menge gehört. In die Historie sind wir vom Kollegen Lietz eingeführt worden, und Kollege Claus hat es irgendwie geschafft, auch noch die Agenda 2010 einfließen zu lassen. Es hat mich doch ganz schön gewundert, dass das mit der Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung in Verbindung zu bringen sein soll. Ich möchte jetzt wieder auf das zurückkommen, was auch Kollege Staffeldt angesprochen hat, nämlich auf die Erfahrungen mit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, und das ansprechen, was hinter dieser Verwaltung steckt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben ein anstrengendes Jahr hinter uns und freuen uns jetzt wirklich endlich auf Weihnachten, auch wenn durch dieses Fest bei manchem zwiespältige Gefühle ausgelöst werden. Manche Weihnachtsgeschenke sind schön verpackt, aber Enttäuschung macht sich breit, wenn man hineinschaut. Dieses Gefühl habe ich leider auch bei dem Antrag der SPD. Sie reden von der Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Ihre Hauptforderung besteht jedoch darin, alles so zu lassen, wie es ist. ({0}) Für zukunftsfähige Lösungen ist es aber erforderlich, erstens die Probleme zu erkennen, zweitens sie zu untersuchen und drittens wirkliche Verbesserungsvorschläge zu machen. ({1}) Sie tun aber nichts davon. Sie ignorieren, dass die Bedingungen an den Wasserstraßen und in den Direktionen unterschiedlich sind. Ich gebe Ihnen recht, dass wir zum Beispiel eine leistungsfähige Struktur für den Seeverkehr brauchen. Herr Staffeldt, Sie kennen das ja auch. Sie müssen aber bitte auch eines zur Kenntnis nehmen: Trotz Investitionen in Milliardenhöhe stagniert die Binnenschifffahrt seit 20 Jahren. Sie scheren aber alles über einen Kamm. Damit werden Sie vor allem den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht gerecht. Die Menschen verlangen Ehrlichkeit. Das ist oft nicht populär. Es ist aber nun einmal unsere Aufgabe, das Gemeinwohl und nicht die Interessen einer Verwaltung im Blick zu haben. ({2}) Wir müssen uns deswegen genau ansehen, was vor Ort los ist. Ich habe mir im jetzt zu Ende gehenden Jahr viel Zeit genommen und alle sieben Direktionen im Bundesgebiet und das BSH besucht und vor allem auch intensive Fachgespräche mit den Mitarbeitern über die dort stattfindenden Arbeiten geführt. Ich habe dort viel Beeindruckendes gesehen. Vielfach habe ich gute Ansätze dafür kennengelernt, wie man die Verwaltung effizienter machen und auf neue Ziele ausrichten kann. Aber auch die Defizite sind sehr offensichtlich: Es existieren zu viele Ideen, Strukturen und Vorschläge nebeneinander. Die linke Hand weiß einfach viel zu oft nicht, was die rechte macht. Trotz Gutachten, Arbeitsgruppen und deutlicher Kritik vom Bundesrechnungshof ist hier sowohl unter Unions- wie zum Schluss auch unter SPD-Führung im Verkehrsministerium nichts, aber auch gar nichts Substanzielles passiert. Mit dieser permanenten Problemignoranz geschieht genau das, was die SPD mit ihrem Antrag eigentlich verhindern will: Die Haushälter machen uns nämlich den Hahn dicht; sie sperren uns das Geld, weil nichts passiert. Damit werden einfach nur Stellen abgebaut, aber die Struktur wird nicht verändert. Das Ergebnis wird dann tatsächlich eine schlechtere Bewirtschaftung der Bundeswasserstraßen sein. Werte Kolleginnen und Kollegen, was wir jetzt wirklich brauchen, ist eine fundierte Analyse unserer Bundeswasserstraßen. Wir müssen fragen: Wo findet der Verkehr statt? Welche Wasserstraßen müssen erweitert und saniert werden? Wie können wir die natürlichen Bedingungen unserer Flusslandschaften erhalten? Erst müssen wir darauf ehrliche Antworten finden, und dann können wir sagen, welche Verwaltung wir dafür an welcher Stelle und mit welchen Kompetenzen brauchen. Ich begrüße deswegen ausdrücklich die Signale aus dem Verkehrsministerium, Herr Ferlemann: ({3}) Jetzt wird eine Überprüfung der Wasserstraßen für das nächste Jahr angekündigt. Diese ist verdammt lange überfällig. Den Damen und Herren von der Koalition kann ich hier nur eine im Auftrag meiner Fraktion erarbeitete Studie empfehlen. Wir sind eine konstruktive Opposition, ({4}) und wir haben gar nichts dagegen, wenn Sie, Herr Ferlemann, einmal bei uns abschreiben. ({5}) Das Ministerium muss jetzt endlich sagen, wohin die Reise gehen soll. Wir werden uns daran aktiv und konstruktiv beteiligen. An die Kollegen von der SPD appelliere ich: Lassen Sie hier die Fundamentalopposition beiseite und beteiligen Sie sich konstruktiv. ({6}) Wer eine Reform blockiert, schädigt nachhaltig die Zukunft unserer Wasserstraßen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hans-Werner Kammer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Werner Kammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nach dem letzten Beitrag hätte ich meine Rede fast umschreiben müssen, aber der Antrag, über den wir heute sprechen, setzt sich mit der Wasserund Schifffahrtsverwaltung des Bundes auseinander. Das ist ein Thema, dessen Bedeutung in der Tat nicht unterschätzt werden darf. ({0}) Als ich den Titel des Antrags las, war ich überrascht: „Zukunftsfähigkeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sichern“ - das ist ein Herzensanliegen der Union. Sollten die Sozialdemokraten vernünftig geworden sein, Herr Kollege Herzog? ({1}) Nein, das Undenkbare ist nicht geschehen. Die SPD tut das, was sie am besten kann: Sie geht auf Distanz zu sich selbst, verleugnet die Reformen der Regierung Schröder, ignoriert die Zukunft und lebt mit Begeisterung in der Vergangenheit. ({2}) Im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages haben fast alle hier vertretenen Parteien das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung aufgefordert, bis zum 26. Januar des nächsten Jahres einen Bericht über den Umbau der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung von einer Ausführungs- zu einer Gewährleistungsverwaltung vorzulegen. Grundlage dafür sollten die Ergebnisse einer Projektgruppe aus der SchröderZeit sein. Es ist klar, dass es die Sozialdemokraten waren, die sich ihren eigenen Erkenntnissen verweigerten. Sie stimmten wieder gegen sich selbst. ({3}) Wir als Union wollen den Wandel, wir wollen die Zukunft: ({4}) Die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung wird zusätzliche Aufgaben erhalten, ohne alte Kernkompetenzen zu verlieren. Wir denken dabei an Natur- und Umweltschutz, Wasserwirtschaft und Wassertourismus. Auch die Gewährleistung der ökologischen Durchgängigkeit an Stauanlagen soll in den Aufgabenkatalog der Wasserund Schifffahrtsverwaltung aufgenommen werden. Die Welt dreht sich, die Welt bewegt sich und verändert sich. Auch wir müssen uns verändern, um zu bleiben. Das gilt auch für Sie. Die Dinosaurier konnten sich nicht schnell genug anpassen. ({5}) Deren Schicksal wollen wir der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung ersparen. ({6}) Das, was andere besser können, soll die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung an andere vergeben. Die Kernkompetenzen dieser Verwaltung werden wir nicht antasten. Privatisierung darf nicht zu einem Kompetenzverlust des Staates führen. Die Privatisierung staatlicher Aufgaben findet ihre Grenze in der Verantwortung für das Gemeinwohl. ({7}) Für uns bedeutet dies, dass hoheitliche und sicherheitsrelevante Aufgaben auch weiterhin von der Wasserund Schifffahrtsverwaltung erledigt werden müssen. ({8}) Wir wollen keinen trägen und verfetteten Staat. Wir wollen einen starken und schlanken Staat, der entschieden durchgreift, wo es nötig ist, aber auch nur da. Dieser Staat kann dann Aufgaben der Baudurchführung, Schleusendecks- und Fährdienste, Fahrwasserausbaggerung und planbare Unterhaltungsmaßnahmen an Dritte vergeben, wenn er die Fähigkeit behält, deren Leistung zu beurteilen und zu überwachen. Das ist der entscheidende Punkt. ({9}) Ich glaube nicht, dass wir durch diese moderaten Maßnahmen Leistungs- und Sicherheitseinbußen hinnehmen müssen. Im Gegenteil: Nach einer Entschlackung geht es im Normalfall immer wieder besser. Aber lassen Sie mich bitte noch auf diejenigen zu sprechen kommen, die am meisten von dem Wandel betroffen sind: die Menschen in der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Neben dem Titel gibt es einen wahren Satz in Ihrem Antrag: Die wichtigste Ressource der WSV ist ihr Personal. ({10}) Das kann ich nur unterschreiben. Die Mitarbeiter brauchen klare Ansagen und verlässliche Rahmenbedingungen. Meine Besuche vor allem im Wasser- und Schifffahrtsamt in meiner Heimatstadt Wilhelmshaven haben mir gezeigt, dass hier hochmotivierte Menschen hart arbeiten. Sie sind der Zukunft zugewandt und offen für neue Aufgaben. Wenn ich allerdings in der Zeitung lese - das kam auch in Ihrem Beitrag zur Sprache, Herr Kollege Herzog -, dass SPD-Politiker auch bei mir vor Ort das Amt heimsuchen, um dort Angst zu schüren, Panik zu verbreiten und den nahenden Weltuntergang in den grellsten Farben schildern, ({11}) dann verstehe ich, dass die Motivation leidet. Dies würde auch mir aufs Gemüt schlagen. ({12}) Motivation statt Resignation und Aufbruch statt Lähmung: Das sind die Devisen der Union. Deshalb werden die neuen Aufgaben der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung auch im Bereich des Personals Konsequenzen haben: Im Bereich der hoheitlichen und sicherheitsrelevanten Aufgaben wird es grundsätzlich keinen Stellenabbau geben. Unser aller Sicherheit kann nur von Profis garantiert werden. Das wissen wir. Das schätzen wir. Das garantieren wir. ({13}) - Wir schicken niemanden in die Wüste. Das können Sie vielleicht besser. Es gibt derzeit bedauerlicherweise eine betrübliche Entwicklung: Wir haben zurzeit ein Moratorium bei der Wiederbesetzung vakanter Stellen in der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Wir haben einen Beförderungsstopp beim gehobenen und höheren Dienst. ({14}) Leidtragende sind die engagierten Mitarbeiter des Wasser- und Schifffahrtsamtes in Wilhelmshaven und ihre vielen Kollegen in der ganzen Bundesrepublik. Deshalb hat der Haushaltsausschuss beschlossen, diese Maßnahmen aufzuheben, wenn das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung einen aussagefähigen Bericht vorlegt. Nur eine Partei hat gegen die Aufhebung des Beförderungsstopps gestimmt: die SPD. ({15}) Gleichzeitig will die SPD die WSV wie eine basisdemokratische Kolchose im öffentlichen Dienst führen. Solche Experimente sind noch öfter gescheitert als sozialdemokratische Regierungen. ({16}) Deshalb lehnen wir so rückwärtsgewandte Anträge ab. Für uns ist klar: Schifffahrt tut not. Machen wir sie möglich. Eine starke maritime Wirtschaft braucht eine starke Wasser- und Schifffahrtsverwaltung. Nehmen wir Kurs auf die Zukunft. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4030 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig, Stephan Mayer ({0}), Wolfgang Börnsen ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick Kurth ({2}), Lars Lindemann, Reiner Deutschmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP 60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen - Aussöhnung vollenden - Drucksache 17/4193 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Thomas Strobl für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({4})

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 5. August 1950 gaben sich in Stuttgart Vertreter der Vertriebenen die Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Sie gilt seither als Grundgesetz der deutschen Heimatvertriebenen. Sie gehört zu den Gründungsdokumenten unseres Landes, und sie ist untrennbar mit der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland verbunden. ({0}) Dieses Grundgesetz der Vertriebenen, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf als schriftlicher Ausdruck der Entschlossenheit der damaligen Heimatvertriebenen gelten, ihren Beitrag zum Wiederaufbau in Deutschland und zum Frieden in Europa zu leisten. Dieser dann tatsächlich und in beispielhafter Weise geleistete Beitrag wurde vom Deutschen Bundestag in einem Entschließungsantrag vor dem Hintergrund des 50. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs gewürdigt. Ziel des nunmehr eingebrachten Antrags ist es, die Leistung der Heimatvertriebenen erneut zu unterstreichen und dafür Sorge zu tragen, dass der Heimatverlust von 14 Millionen Deutschen zum Mahnmal für alle Vertreibungen der Gegenwart gemacht wird. Revisionismusabsichten sind damit freilich ebenso wenig verbunden wie Versuche, die Einzigartigkeit des Holocaust und anderer Verbrechen rund um den Zweiten Weltkrieg zu leugnen. Thomas Strobl ({1}) Sieben Forderungen werden nun von uns erhoben, die allesamt dem Ziel der Vollendung der Versöhnung dienen. Einige Forderungen sind wissenschaftlicher Natur wie die systematische Erfassung von Zeitzeugenberichten oder die Nachwuchsförderung im akademischen Bereich angesichts auslaufender Stiftungsprofessuren im Bereich „Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“. Andere unserer Vorschläge haben einen wertvollen kollektivpädagogischen Charakter wie etwa der interessante Vorschlag der Deklarierung des 5. August zum bundesweiten Gedenktag für die Opfer der Vertreibung oder der Appell zur Unterstützung der Arbeit der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Am Wichtigsten erscheint mir indes die ganz am Anfang gestellte Forderung nach pragmatischer Zukunftsorientierung und nationaler Selbstversöhnung. Tatsächlich sind es ja weniger die Vertreiber von damals, die einer Aussöhnung im Wege stehen; teilweise sind wir es eher selbst. Ich denke hierbei beispielsweise an die Kolleginnen und Kollegen, die ganz links in diesem Hohen Hause sitzen und aus ideologischen Gründen den deutschen Vertriebenen die berechtigte Aufmerksamkeit bis heute vorenthalten. ({2}) Sie setzen damit das böse Werk der DDR fort, die Gleiches tat. In Zeiten der deutschen Teilung galten die Vertriebenen im Osten als unliebsam. Ihr Schicksal wurde vom SED-Staat verharmlost und ihrem Schmerz des Heimatverlustes noch die Demütigung des Leid Ignorierens hinzugefügt. ({3}) Diese beschämende Vernachlässigung hat zwar 1990 mit dem Ende der DDR-Diktatur nachgelassen. Was aber immer noch fehlt, ist die endgültige Aussöhnung der Deutschen mit sich selbst. Diese wollen wir mit dem vorliegenden Antrag voranbringen. ({4}) Wie schon Abraham Lincoln unter Berufung auf ein Jesus-Wort sagte: Ein Haus, das mit sich selbst uneins ist, mag nicht bestehen. Wir wollen die Vertriebenen in ihrem Bemühen unterstützen, unser Volk durch Erinnerung zu dieser Selbstversöhnung zu führen und damit jene Einigkeit in dem von Lincoln beschworenen Haus der Nation herzustellen, die zu dessen dauerhafter Stabilität notwendig ist. Wir wollen die Vertriebenen aber auch als wertvolle Mittler und Brückenbauer zwischen den Völkern anerkennen, als welche sie schon der frühere Bundesinnenminister Otto Schily zu Recht betrachtet hat. Tatsächlich prädestiniert die Vertriebenen ihr Schicksal des Heimatverlustes mehr als andere Gruppen zur grenzübergreifenden humanitären Mahnung und Warnung vor künftigen Vertreibungen. Die deutschen Heimatvertriebenen können aufgrund ihrer leidvollen eigenen Erfahrungen glaubwürdiger als andere Vertreibung als jene Menschheitsgeißel bezeugen, die sie tatsächlich ist, und damit einen unschätzbaren Beitrag dazu leisten, dass Vertreibung generell geächtet wird. ({5}) Für diese Rolle, meine Damen und Herren, schulden wir den Vertriebenen nicht nur Anerkennung, sondern auch unseren ausdrücklichen Dank, den ich in aller Form zum Ausdruck bringe. ({6}) Um es noch einmal ganz klar zu sagen: Seiner Heimat beraubt zu sein, wie es 14 Millionen deutschen Landsleuten nach 1945 widerfuhr, und dennoch nicht auf Rache zu sinnen, sondern aus Überzeugung am friedlichen Bau des gemeinsamen Hauses Europa mitzuwirken, ({7}) ist ein Akt christlicher Demut und staatsbürgerlicher Verantwortung, der aller Ehren wert ist. ({8}) Dass die Vertriebenen sich 1950 bereits eine Charta mit europäischer Dimension gaben, zeugt von ihrem Weitblick. Diesen Akt sollten wir Nichtvertriebenen nach Kräften unterstützen und jene Solidarität mit ihnen beweisen, die ein Werk der Versöhnung verdient hat. In diesem Sinne kann die Antwort des Hauses nur eine klare und deutliche Mehrheit für den vorgelegten Antrag sein. Danke fürs Zuhören. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Leider kann ich dem nächsten Redner nicht das Wort erteilen, da ich noch immer nicht in der Lage bin, so- wohl hier oben zu sitzen als auch unten zu reden. Ich gebe also meine Rede zu Protokoll1). Sie müssen darauf verzichten, meine wohl abgewogenen Worte zu hören. Ich erteile das Wort dem Kollegen Patrick Kurth für die FDP-Fraktion. ({0})

Patrick Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003900, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Wir reden heute erneut über ein Thema, das mehr ist als eine Geschichtsstunde, ein Erinnerungsfestakt oder ein Folkloreseminar, obwohl das manche gerne so sehen möchten. Wir reden mehr als über den Austausch von gleichen oder unterschiedlichen Anschauungen. Nein, wir reden heute über Vertreibung und ihre Ausmaße bis heute und in Zukunft. Das ist ein sehr komplexes Thema, zu dem jede Partei und jede Generation den eigenen Standpunkt beständig überprüfen muss. Bis heute, bis in die Gegenwart ist dieses traurige Thema aktuell. Auch in der Gegenwart gibt es in der Welt Vertreibung und Ent- 1) Anlage 2 Patrick Kurth ({0}) rechtung. Für die Zukunft ist das Gleiche zu erwarten. Das ist traurige Realität. Vertreibung ist durch internationales Recht geächtet. Sie findet dennoch selbst in jüngster Zeit statt. Die Beispiele in Ruanda, Jugoslawien oder Darfur kennen Sie. Schätzungsweise 70 Millionen Menschen wurden in den letzten 100 Jahren im Sinne der Vertreibung, über die wir heute sprechen, vertrieben. Die bis heute aktuellen Vertreibungen betrachten wir Deutsche mit ganz besonderer Sensibilität, nicht nur weil wir eine große Verantwortung haben, sondern auch weil wir selbst als Deutsche betroffen sind. In diesem Zusammenhang sind der Antrag und die BdV-Charta zu sehen. Nach dem von Deutschland ausgehenden Krieg entstand im Nachgang der zweifelsohne größten Vertreibung diese Charta. Sie entstand von und durch die Betroffenen, und sie entstand auch mit Blick auf die künftige Zeit. Versuchen Sie sich nur einen Moment in die Nachkriegszeit und die Menschen hineinzuversetzen, die den von Deutschland verursachten Krieg überlebt haben und ihre Heimat verlassen mussten. Sie mussten Strapazen der Flucht, die Trauer um den Verlust von Verwandten, Nachbarn und Eigentum sowie die Schwierigkeit der Integration in die neuen Gebiete auf sich nehmen. Vor kurzem hat eine Tageszeitung kommentiert: Man stelle sich die Menschen vor, die quasi noch mit der Kleidung, die sie auf der Flucht trugen, einen Beschluss fassten und auf ihre Heimat verzichteten. Wenn Sie an diese Umstände, an die Verhältnisse der Zeit, die Ungewissheit der Zukunft, den aufziehenden Kalten Krieg denken, dann stellen Sie fest, dass diese Charta wirklich erstaunlich und zukunftsweisend ist. ({1}) Dazu gehören mehrere Punkte, zum Beispiel der Impuls der Aussöhnung. Das 20. Jahrhundert war bestimmt durch Krieg, Gewaltherrschaft, Flucht und Vertreibung, aber auch durch den Willen, sich auszusöhnen. Die Charta der Heimatvertriebenen zeigte dies schon kurz nach dem Krieg. Leider fehlt gerade das Element der Aussöhnung bei so vielen Vertreibungen bis in die jüngste Zeit. Dazu gehört auch: Die Worte „Rache“ und „Vergeltung“ spielten damals eine große Rolle. Sie spielen auch in der Gegenwart oft eine große Rolle. In der Charta werden sie explizit nicht erwähnt. Natürlich kann man nicht auf etwas verzichten, das einem ohnehin nicht zusteht. Aber das Vermächtnis bleibt deswegen stark, weil gerade Rache und Vergeltung bis in die heutige Zeit eine große Rolle spielen. Mehr noch: Die Vertriebenen verpflichteten sich schon damals vor allen Parteien zur Schaffung eines geeinten Europas. Die Heimatvertriebenen wussten, dass nur ein versöhntes und geeintes Europa dauerhaft den Frieden sichern kann. ({2}) Die Charta ist aber auch deshalb bis in die heutige Zeit von großer Bedeutung, weil sie innenpolitisch radikalen Versuchungen den Boden entzog. Auch das ist - gerade wenn wir an Jugoslawien denken - ein ganz starkes Element. ({3}) Sie hat eine große Bedeutung, weil sie wirtschafts- und gesellschaftspolitisch die Integration von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen ermöglichte. Denken Sie nur an das Wirtschaftswunder. Gerade die gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Integration von Vertriebenen in ihren jeweiligen neuen Ländern fehlt aber bis heute an vielen Stellen. Übrigens ist die Vertriebenenfrage bis in die Gegenwart auch bei einer ganz anderen Diskussion von Bedeutung, nämlich bei der deutschen Integrationsdebatte. Viele Deutsche haben Zuwanderungs- und Integrationserfahrungen, und zwar im eigenen Land. Erinnern Sie sich, wie Deutsche ihre eigenen Landsleute nach dem Krieg aufgenommen haben? Oftmals alles andere als herzlich. Auch diesbezüglich mussten viele dazulernen. Viele von denen, die heute über Integration reden, haben in ihrer eigenen Familie Integration erlebt. ({4}) Am Ende aber gilt: Wir wissen um die deutsche Schuld. Wir wissen, dass das deutsche Reich einen fürchterlichen Krieg begonnen hat, dass Verbrechen in bis dahin unbekanntem Ausmaß stattfanden und furchtbares Leid über Europa gebracht wurde. Wir wissen aber auch von den schrecklichen Folgen, die eine Flucht mit sich bringt. Das ist vielleicht eines der stärksten Leitbilder im internationalen Vergleich: Verbrechen dürfen nicht gegeneinander aufgewogen werden. Sonst legitimieren sie ein Stück weit zahlreiche weitere Vertreibungen, in diesem Fall diejenigen seit 1945. Schuld und Leid sind immer individuell, wobei der Holocaust und die Taten der Naziherrschaft einen herausragenden Stellenwert besitzen. Es ist gut, dass die Koalition noch einmal klarstellt, wie sie zu Flucht und Vertreibung steht. Ich möchte mich ganz herzlich bei Klaus Brähmig und bei der Koalition für die gute Zusammenarbeit bedanken. Es war ein hartes Ringen, zum Teil um jedes einzelne Wort. Am Ende ist ein sehr guter Antrag herausgekommen, der nicht nur an die Vorgänge erinnern soll, die geschehen sind, sondern der auch in die Zukunft weist, damit wir in Sachen Vertreibung und Unrecht urteilsfähig bleiben. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Lukrezia Jochimsen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Eins vorweg: Ich spreche heute hier als Kriegskind. In Ihrem Antrag wird die Generation der Kriegskinder besonders erwähnt als eine Bevölkerungsgruppe, der man bisher zu wenig Zuwendung und wissenschaftliche Aufmerksamkeit gewidmet hat. Außerdem spreche ich hier als jemand, der zu keiner Zeit in der DDR ideologisiert worden ist. Es ist schon sonderbar, welch unterschiedliche Auffassung von Geschichte man als Zeitzeuge haben kann. Denn so viel Geschichtsklitterung, so viel Ausblendung von historischen Tatsachen und so viel Verdrehung wie in diesem Antrag zur Charta der Heimatvertriebenen kommt aus meiner Sicht selten zusammen. ({0}) Jetzt gehen wir das einmal Schritt für Schritt durch. In dem Antrag heißt es: Die Deutschen nehmen Vertreibungen auch deshalb mit besonderer Sensibilität wahr, weil sie selbst in ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen waren. Es findet sich kein Wort darüber, dass die Deutschen die brutalsten Vertreiber waren, und zwar lange bevor sie von Vertreibungen betroffen waren. ({1}) Ausgeblendet werden die Massenvertreibungen ganzer Völkerschaften unter deutscher Herrschaft. ({2}) Verschwiegen wird die Vertreibung und Ermordung der Juden, Roma und Sinti. ({3}) Es wird die Charta von 1950 gefeiert, die, genau wie der Antrag von 2010, die Vorgeschichte der Vertreibung vollständig ausklammert. Da wird folgender Satz dieser Charta gefeiert: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung.“ ({4}) Verzichten? Verzichten kann man doch nur auf etwas, von dem man glaubt, dass es einem zusteht. ({5}) Der Satz war 1950 ein Unding. ({6}) Ihn 2010 zu feiern, ist eine politische Zumutung. ({7}) Und rächen? An wem sollten sich Heimatvertriebene 1950 eigentlich rächen können? An den Alliierten vielleicht? Was hier zum Ausdruck kommt und laut Antrag 65 Jahre später immer noch Gültigkeit haben soll, ist aus meiner Sicht moralische Hybris. ({8}) Ralph Giordano hat vor einem Jahr geschrieben: Mit dem stets im Brustton großmütigen Verzeihens vorgetragenen Kernsatz macht die „Charta“ Deutschland zum Gläubiger der Geschichte, die einst okkupierten Länder Mittel- und Osteuropas aber zu deren Schuldnern. Darin liegt der eigentliche Skandal der „Charta“. Skandal! Nein, diese Charta ist kein Meilenstein zu Integration und Aussöhnung, wie es im Antrag heißt. Im Gegenteil: Sie verkehrt die Dimensionen von Opfererfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf nicht hinnehmbare Weise. ({9}) - Jawohl, das sage ich. ({10}) Auf nicht hinnehmbare Weise wird in dem Antrag verschwiegen, wer eigentlich diese Charta geschrieben und unterschrieben hat, zum Beispiel, dass zahlreiche Unterzeichner Funktionsträger des NS-Regimes waren, zum Beispiel, dass die frühe Verbandsgeschichte des Bundes der Vertriebenen eng mit den Nazis verbunden war, und zum Beispiel, dass der Bund der Vertriebenen diese Geschichte bis heute nicht aufgearbeitet hat. ({11}) Pure Geschichtsverfälschung betreiben die Autoren des Antrags auch damit, dass sie behaupten, die Vertriebenen und ihre Verbände hätten eine positive Funktion bei der Normalisierung des Verhältnisses zu den östlichen Nachbarländern gehabt. ({12}) Auch da ist das Gegenteil der Fall. Die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze war ihr Dogma, und die Entspannungspolitik gegenüber dem Osten konnte nur gegen sie durchgesetzt werden. ({13}) Sie nannten das „Verrat“, und Willy Brandt nannten sie „Verräter“. Vertreibungen in der Gegenwart, ja, das ist ein Thema, in der Tat. ({14}) Aber kein Satz zur Lage der Roma und Sinti in Europa! Hat man irgendwann vom Bund der Vertriebenen etwas zu den Abschiebungen der Roma in den Kosovo gehört? Die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, ein angesehenes CDU-Mitglied, hat diese Abschiebungen heute in Berlin angeprangert. Gerade an diesem Beispiel könnten Sie deutlich machen, wie wichtig Ihnen die Lehren aus der Geschichte wirklich sind. Stattdessen wollen Sie eine Gedenkmöglichkeit bei der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ einrichten, wahrscheinlich ein Denkmal. ({15}) Zu allem Überfluss wollen Sie einen nationalen Gedenktag für die Opfer von Vertreibungen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. ({0})

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das ist alles falsches, die Geschichte verdrehendes Pathos. Wir sagen dazu Nein. ({0}) Ich meine, die Antragsteller spielen ein gefährliches Spiel mit der Geschichte. ({1}) Ich kann nur hoffen, dass die Mehrheit dieses Hohen Hauses das erkennt und dabei nicht mitmacht. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort erteile ich nun Kollegen Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn all die salbungsvollen Worte, die zum Thema „Vertreibung und Flucht“ von der Koalition kamen, ernst gemeint sind, dann müssen Sie beim Thema „Roma aus dem Kosovo“ flüchtlingspolitisch tatsächlich die Konsequenzen ziehen; ansonsten ist das alles weiße Salbe und bestenfalls Heuchelei. ({0}) Dass die Charta der Heimatvertriebenen 60 Jahre alt wird, ist für mich als Kind von Vertriebenen kein Grund zum Feiern. Der 5. August 1950 ist gewiss kein geeigneter Gedenktag, um an das Vertreibungsschicksal zu erinnern. ({1}) - Lassen Sie mich ausreden, dann erzähle ich es Ihnen. Oder stellen Sie eine Zwischenfrage. Ich möchte keinen Zweifel aufkommen lassen: Mein Vater ist selbst vertriebener Sudetendeutscher. Meine Großeltern wurden in beiden Weltkriegen vertrieben. Mit den Vertreibungen aus den Ostgebieten und aus Tschechien in den letzten Wochen und Monaten des Zweiten Weltkrieges - mit schweigendem Einverständnis der westlichen Alliierten; das gehört auch zur Wahrheit -, ist den Vertriebenen großes Unrecht widerfahren. Trotz alledem: Weder diese Charta noch die dahinterstehenden Organisationen tragen zur Versöhnung mit unseren osteuropäischen Nachbarn bei. Sie schreiben in dem vorliegenden Antrag zwar von einem Geist der Charta für ein geeintes Europa, doch auch nach mehrfacher Lektüre dieser Charta habe ich diesen Geist nicht finden können; ganz im Gegenteil. Der von uns allen hier geschätzte Professor Micha Brumlik ({2}) schrieb dazu im August in der taz treffend: Sogar wenn man von der völkischen Schöpfungstheologie absieht, die den Text durchweht, und den Umstand übergeht, dass viele der Erstunterzeichner in der NSDAP oder der SS waren ({3}) bzw. Männer, die sich lange vor 1933 in Ostmitteleuropa als Volkstumskämpfer betätigten, zeigt sich in der Sache, wie falsch die Grundaussage der Charta ist: Weder entspricht es der historischen Wahrheit, dass das Schicksal der Vertriebenen an Leid vom Schicksal keiner anderen Gruppe in den Jahren 1939 bis 1945 übertroffen wurde, ({4}) - wie es in der Charta heißt noch ist einsichtig, wie man auf Rache und Vergeltung verzichten kann. … Verzichten - feierlich dazu - kann man nämlich nur auf etwas, was einem legitimerweise zusteht … Volker Beck ({5}) Das hat die Kollegin richtigerweise ausgeführt. ({6}) Meine Damen und Herren, die Charta ist ein einseitiges Dokument. Sie klammert die historische Kriegsschuld Nazideutschlands aus, ({7}) und sie erwähnt mit keinem Wort die Verbrechen der Deutschen, die im Holocaust und in der Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden gipfelten. ({8}) Diese Verbrechen gingen der Vertreibung voraus. Sie rechtfertigen sie nicht, aber sie stehen im Kontext miteinander. ({9}) Meine Damen und Herren, eine angemessene Erinnerungskultur im Land der Täterinnen und Täter muss anders aussehen. Ihr Antrag stellt an einem Punkt etwas zu Recht fest. Da heißt es: So gilt es ebenfalls, an die Vertreibung von über einer Million Polen aus den damaligen polnischen Ostgebieten und hunderttausender Ukrainer im Zuge der von der Sowjetunion erzwungenen „Westverschiebung“ Polens zu erinnern. Richtig, aber auch dazu findet sich in der Charta der Vertriebenen kein Sterbenswörtchen. Der Deutsche Bundestag kann sich doch nicht positiv auf ein Dokument beziehen, in dem behauptet wird, dass das Schicksal der Vertriebenen an Leid in dieser Zeit dem Schicksal keiner anderen Gruppe vergleichbar ist, sondern das Vertreibungsschicksal diese übertroffen hat. Meine Damen und Herren von der Union und von der FDP, Sie alle waren doch schon einmal in einem Konzentrationslager. Sie alle haben sich in Ihrer Heimatstadt doch schon einmal gefragt: Wo sind eigentlich die Jüdinnen und Juden hin, die früher in unserer Stadt gelebt haben? - Die gibt es nicht mehr; die Familien sind nicht mehr da, die Straßenzüge sind nicht mehr da. Die Synagogen sind weg. Sie können doch nicht so tun, als ob das Vertreibungsschicksal in dieser Art und Weise singulär war. ({10}) Meine Damen und Herren, die Rache- und Verzichtshaltung des Vertriebenenverbandes, die Haltung von Frau Steinbach zur Oder-Neiße-Grenze, diese Art von Politik hat mir als Enkel und Kind von Vertriebenen zum zweiten Mal die Heimat genommen. Ich war in Tschechien, ich war in der Slowakei, aber als Kind von Sudetendeutschen war ich niemals im Sudetenland, weil ich mich mit Ihren Verbandsfunktionären und Ihrer Ideologie nicht gemein machen wollte. Das war für mich persönlich vielleicht ein Fehler, aber das zeigt, wie schwierig es ist, zu einer Heimat ein Verhältnis zu finden, wenn das Heimatgefühl und Rückbesinnungsgefühl mit dieser Art von revanchistischer Ideologie und der Politik Ihres Verbandes konnotiert ist. ({11}) - Wenn Sie das unglaublich finden, dann nenne ich Ihnen gerne einige Erstunterzeichner der Erklärung von Stuttgart 1950: ({12}) - Lassen Sie mich noch drei Sätze sagen. - Rudolf Wagner, Sprecher der Landsmannschaft der Deutschen Umsiedler aus der Bukowina - SS-Obersturmbandführer -, Erik von Witzleben, Sprecher der Landsmannschaft Westpreußen - SS-Offizier -, Walter von Keudell, Sprecher der Landsmannschaft Berlin-Mark Brandenburg ({13}) erst in der DNVP, dann in der NSDAP -, Josef Walter, Vorsitzender des Landesverbands der Heimatvertriebenen in Hessen - ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen trotzdem zum Ende kommen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Er war stellvertretender Hauptgeschäftsführer der sudetendeutschen Wirtschaftskammer und zuständig für die Verteilung des jüdischen Vermögens im Reichsprotektorat Böhmen/Mähren. Meine Damen und Herren, das ist nur ein Auszug aus der langen Liste von Komplizen und Tätern des NS-Regimes, die diese Charta unterzeichnet haben. Im Geiste Europas brauchen wir eine andere Grundlage für die Versöhnung. Nur dann werden wir einig sein, Herr Strobl, in diesem Haus Deutschland. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Frau Kollegin Jochimsen, Herr Kollege Beck, ich halte es für unwürdig und beschämend, ({0}) wie Sie mit Ihren Reden auf dem Schicksal von 15 Millionen Vertriebenen und deren Nachkommen herumtrampeln und einen Gründungsakt der Bundesrepublik Deutschlands diskreditieren, ({1}) der an Größe aus meiner Sicht kaum zu übertreffen ist. Davor sollte man Respekt haben. ({2}) Um mit den Worten unseres Bundestagspräsidenten, Professor Lammert, zu sprechen: Es handelt sich bei der Charta der Heimatvertriebenen um das Gründungsdokument der Bundesrepublik Deutschland und ({3}) - um ihn weiter zu zitieren - um ein bleibendes Vermächtnis für die Zukunft des wiedervereinigten Deutschlands. Ich möchte hinzufügen: auf das wir Deutsche alle stolz sein können, egal, ob wir einen Vertriebenenhintergrund haben oder nicht. ({4}) Meine sehr verehrten Kollegen Jochimsen und Beck, ich wundere mich schon, mit welchem Hochmut, mit welcher Arroganz ({5}) Sie hier ein Dokument diffamieren, das vor 60 Jahren proklamiert wurde. Das halte ich für abscheulich und für in jeder Hinsicht traurig und beschämend. ({6}) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, man muss sich wirklich in die Zeit zurückversetzen. ({7}) Es ist leicht, jetzt, 60 Jahre später, über ein Dokument zu urteilen und zu sagen: Da hätte noch der eine Satz hineingehört, und der andere Satz hätte noch etwas ausführlicher dargelegt werden müssen. Sie müssen sich der Ehrlichkeit halber einmal in die Zeit um 1950 zurückversetzen: 15 Millionen Deutsche sind am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben worden. ({8}) 3 Millionen davon kamen auf schreckliche und barbarische Art und Weise ums Leben. Viele sind gedemütigt und vergewaltigt worden. ({9}) Fast alle waren traumatisiert. Man hat im Jahr 1950 durchaus andere Dinge angesichts von 8 Millionen Heimatvertriebenen in Westdeutschland erwartet. Die 4 Millionen Heimatvertriebenen in Ostdeutschland durften sich ja gar nicht äußern. Deren Schicksal ist in jeglicher Weise verniedlicht und in keiner Weise gewürdigt worden. ({10}) Man hatte durchaus befürchtet, dass sich diese 8 Millionen Deutsche radikalisieren würden. Aber das ist nicht eingetreten. ({11}) Sie haben auf jegliche Rache, auf jeglichen Revanchismus, auf jeglichen Hass verzichtet. ({12}) Ich halte das im Nachhinein für höchst bemerkenswert. Alle Deutsche können auf diese heroische Leistung stolz sein. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Jochimsen?

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne.

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, ich kann mich sehr gut in die Jahre 1950 und folgende versetzen. Ich war damals ein junges Mädchen und nachher eine junge Frau. Ich frage Sie: Ist Ihnen eigentlich bekannt, wie viele Millionen Ausgebombte, wie viele Menschen, die alles Hab und Gut verloren haben, wie viele Schwerverletzte 1950 in Deutsch9058 land gelebt haben und dass nicht nur die Vertriebenen das Schuldschicksal dieses schrecklichen Krieges zu tragen hatten, sondern auch Millionen von Menschen im Lande selbst? Es ging mir persönlich nie um eine Aufrechnung. Aber ich verwahre mich dagegen, dass man sagt, ({0}) eine Gruppe sei die vom Schicksal am schlimmsten betroffene gewesen, und so tut, als hätte es 1950 eine Normalgesellschaft von solchen gegeben, die im Gegensatz zu den Heimatvertriebenen kein Leid erfahren hätten. Ich kann Ihnen sagen: Ich kann mich sehr gut in die Zeit von 1950 versetzen. Ich möchte einmal wissen, ob Sie eine Vorstellung davon haben, wie viele Millionen Erwachsene und Kinder in beiden Teilen Deutschlands 1950 unter diesem Kriegsleid gelitten haben.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Jochimsen, mir ist nicht nur bekannt, welch großes Unheil der Zweite Weltkrieg über Deutschland gebracht hat, ({0}) sondern auch - dies möchte ich ganz deutlich betonen -, welch schreckliches Unheil der Zweite Weltkrieg, der unbestreitbar von deutscher Hand ausgegangen ist, über die gesamte Welt gebracht hat. ({1}) Das wird von niemandem, insbesondere auch nicht vom Bund der Vertriebenen bestritten, ganz im Gegenteil. Sie werden doch nicht negieren können, dass am Ende des Zweiten Weltkriegs Menschen nur aufgrund der Tatsache, dass sie an einem bestimmten Ort wohnten, vertrieben wurden, unabhängig davon, ob ihnen persönliche Schuld zuteilwurde oder nicht. ({2}) Ich möchte schon betonen: Das Schlimmste und, wie ich glaube, auch das Schwerwiegendste, was man einem Menschen antun kann, ist, dass man ihm seine Heimat nimmt. Ich persönlich habe noch sehr gut die Schilderung meiner Großeltern, die aus dem Sudetenland stammen, in den Ohren, wie schlimm es ist, wenn man aufgefordert wird, innerhalb von zwölf Stunden das eigene Haus, das man sich mühsam aufgebaut hat, zu verlassen, ({3}) maximal 30 Kilogramm Gepäck mitnehmen darf und die Heimat nie mehr wiedersieht. Frau Kollegin Jochimsen, ich möchte auch noch einmal betonen, dass Sie aus meiner Sicht den großen Fehler begehen, Unrecht gegen Unrecht aufzuwiegen. Unrecht ist etwas Singuläres. ({4}) Es bestreitet doch keiner, dass von deutscher Hand katastrophales Unrecht über den ganzen Globus verbreitet worden ist. Aber das rechtfertigt in keiner Weise das Unrecht, das 12 Millionen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs und danach zuteilwurde. ({5}) Das ist der historische Fehler, den Sie begehen: Sie wiegen das eine gegen das andere auf. Diesen Fehler machen wir nicht, und diesen Fehler dürfen wir nicht machen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie haben jetzt nicht das Wort, sondern Herr Mayer hat das Wort.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Jochimsen, es war ein herausragender Akt der Versöhnung und Verständigung, dass die Heimatvertriebenen am 5. August in Stuttgart-Bad Cannstatt diese Erklärung proklamiert haben. ({0}) Diese Erklärung sollte heute nicht nur der Erinnerung dienen, sondern sie sollte in progressiver Hinsicht auch dafür dienen, dass sich das Leid, das 15 Millionen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg wiederfahren ist, nie mehr wiederholt. Deswegen ist es umso wichtiger, dass der 5. August den Status eines nationalen Gedenktags bekommt. Ich sage ganz offen: Wir werden hier leisten müssen, was der Bundesrat im Jahr 2003 beschlossen hat, nämlich dass der 5. August nationaler Gedenktag wird. Hier sind wir - auch das sage ich ganz offen - als gesamter Deutscher Bundestag in der Bringschuld. Ich hoffe, dass uns dies alsbald gelingt. Gerade für die jungen Leute müssen wir uns dafür einsetzen, dass sich das nicht wiederholt, was sich im letzten Jahrhundert viel zu oft ereignet hat, nämlich massenhafte Vertreibungen. Vertreibung hat an Aktualität leider Gottes nicht verloren. ({1}) Just an diesem Tag sind 44 Millionen Menschen auf diesem Globus auf der Flucht oder vertrieben worden. Das zeigt ganz deutlich, dass es leider Gottes noch immer ein Stephan Mayer ({2}) viel zu aktuelles Thema ist. Gerade deshalb ist es wichtig, dass der 5. August ein nationaler Gedenktag wird. Ich bin insbesondere sehr dankbar, dass es uns in dem gemeinsamen Entschließungsantrag der christlich-liberalen Koalition gelungen ist, aufzunehmen, dass wir die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ noch weiter vorantreiben wollen. Wir sind hier auf einem guten Weg. Es waren schwierige Monate. Das Jahr 2010 war kein einfaches Jahr. Insbesondere der Hintanstellung jeglicher persönlicher Interessen der Präsidentin des BdV - dies sage ich hier in aller Deutlichkeit - ist es zu verdanken, dass sich die Stiftung so erfolgreich weiterentwickeln konnte. Der Kollegin Erika Steinbach gilt in diesem Zusammenhang großer Dank und hohe Anerkennung. ({3}) Es ist die historische Wahrheit, dass es die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht gäbe, wenn Erika Steinbach als BdV-Präsidentin im Jahr 2000 nicht die Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ gegründet hätte, damals mit Peter Glotz an ihrer Seite, der leider Gottes viel zu früh verstorben ist. Erika Steinbach hat die Charta der Heimatvertriebenen als Akt der Selbstüberwindung bezeichnet. Ich glaube, genau das ist es auch. Es ist bemerkenswert, dass in der Präambel der Charta der Gottesbezug mit aufgenommen wurde. Ich darf deutlich machen, dass der progressive Charakter der Charta sehr entscheidend ist, um mit den Worten von George Santayana, einem amerikanischen Philosophen und Schriftsteller, zu sprechen: Wer sich der Geschichte nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. ({4}) Ich glaube, das sollten wir uns ins Stammbuch schreiben. Ich darf mit dem Schlusssatz der Charta enden, meines Erachtens ein herausragendes Dokument: Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird. Den Sinn dieses Satzes sollten wir uns immer vor Augen halten. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4193 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ausweitung der Assistenzpflege auf Einrichtungen der stationären Vorsorge und Rehabilitation - Drucksache 17/3746 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen Ilja Seifert für die Fraktion Die Linke das Wort. ({1})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einem Beispiel: Zwei Personen werden ungefähr zeitgleich mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert. Beide erhalten ungefähr dieselbe Diagnose. Beide bekommen im Krankenhaus die erforderliche Behandlung. Der eine ist Rollstuhlfahrer und wird nicht nur von den Krankenschwestern und -pflegern versorgt, sondern hat auch noch seine Assistentin oder seinen Assistenten dabei, die oder der ihm hilft, seinen Alltag zu bewältigen. Der andere geht anschließend in die Reha. Der Mensch mit Rollstuhl geht nicht in die Reha, weil er seine Assistentin oder seinen Assistenten dorthin nicht mitnehmen kann. Wie soll er wieder gesund werden? So ist zurzeit die Situation in Deutschland. Wir haben hier kurz vor der Bundestagswahl 2009 gemeinsam beschlossen, dass Menschen mit Behinderung ihre Assistentin oder ihren Assistenten, wenn sie oder er nach dem Arbeitgebermodell beschäftigt ist, mit ins Krankenhaus nehmen können, weil inzwischen eingesehen wurde, dass dort besondere Bedingungen herrschen, die man nur mit der Assistentin oder dem Assistenten bewältigen kann. Das ist aber weder in der Vorsorge, also bei prophylaktischen Maßnahmen, noch in der Nachsorge möglich. Deshalb legt die Linke jetzt einen Gesetzentwurf vor, der diese Lücke schließt. Lassen Sie Menschen mit Behinderung sowohl prophylaktische Maßnahmen als auch kurative Maßnahmen als auch Reha-Maßnahmen mit ihrer Assistentin oder ihrem Assistenten bewältigen, damit sie voll am Leben teilhaben können, so wie es die UN-Behindertenrechtskonvention vorschreibt. ({0}) Wir schlagen hier eine kleine gesetzgeberische Maßnahme vor. Es entsteht kein großer Aufwand; es ist un9060 problematisch zu regeln. Es bedarf keiner großen Aktionspläne, keiner Umsetzungskonzeptionen und auch keiner großen Datenerhebungen; die Kosten sind überschaubar. Ich weiß wie die meisten von Ihnen, die sich mit der Problematik beschäftigen, dass das nur ein kleiner Schritt auf dem Weg ist, den wir gehen müssten: Eigentlich müssten wir auch den Menschen, die ihre Assistenz nicht nach dem Arbeitgebermodell beschäftigen, die Möglichkeit geben, ihre Assistentin oder ihren Assistenten sowohl bei Vorsorge- als auch bei Behandlungs- und Nachsorgemaßnahmen mitzunehmen. Aber lassen Sie uns wenigstens diesen kleinen Schritt gehen. Das Ziel muss sein - dazu haben wir alle uns verpflichtet, als wir das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert und es damit ohne Vorbehalte in nationales Recht umgesetzt haben -, die volle Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen zu sichern. Volle Teilhabe heißt im Krankheitsfall, dass wir wieder richtig gesund werden können, jedenfalls, was eine akute Krankheit wie den Herzinfarkt angeht. Die Menschen haben gelernt, mit ihrer Behinderung zu leben; aber wir dürfen ihnen nicht zumuten, zusätzlich krankgemacht zu werden. ({1}) Bitte ergreifen Sie die Initiative, springen Sie über Ihren Schatten und stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch zur fortgeschrittenen Abendstunde wird wohl niemand in unserem Land ernsthaft bestreiten, dass die Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland und vor allen Dingen seit der Wiedervereinigung vor 20 Jahren Schritt für Schritt verbessert wurden. ({0}) Es ist aber auch unbestritten, dass es in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit hier und da noch Teilbereiche gibt, in denen Optimierungsbedarf besteht. Das ist ein immerwährender Prozess; ich glaube, bei dieser Feststellung sind wir uns einig. Eher uneinig sind wir uns mit den Initiatoren des in Rede stehenden Gesetzentwurfs hinsichtlich der Schrittfolgen und der Geschwindigkeit bestimmter Initiativen. Warum? Kurz vor Ende der letzten Wahlperiode, am 5. August 2009, haben wir das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus in Kraft gesetzt. ({1}) Dieses ermöglicht es Behinderten mit besonderem pflegerischen Bedarf, ihre eigenen, bei ihnen beschäftigten Pflegekräfte mit einem Kostenanspruch für Übernachtung und Verpflegung gegenüber dem jeweiligen Krankenhausträger in das Krankenhaus mitzunehmen. Wir haben mit diesem Gesetz vor einem Jahr die Hoffnung verbunden, dass die persönlichen Assistenzkräfte mit dem Krankenhauspersonal sehr gut zusammenarbeiten und die pflegerische Versorgung für Menschen mit Behinderung deutlich verbessert wird, weil sie die vertrauten Pflegekräfte Tag und Nacht um sich haben. Es wurde geschätzt, dass für diese Leistungen der Pflegeversicherung, für die Weiterzahlung des Pflegegeldes jährlich Aufwendungen in Höhe von 50 000 Euro entstehen. Das war damals die Einschätzung. Die Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung waren wegen der nicht bekannten Verweildauer - die spielt in diesem Zusammenhang auch eine Rolle - kaum zu schätzen. Schon damals hat die Fraktion Die Linke einen Änderungsantrag auf Ausweitung der Leistungen auf Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen nach § 107 SGB V gestellt. Auch wurden Stimmen laut, die die Anbindung der Leistungen an das Arbeitgebermodell kritisierten, weil geistig Behinderte oder Menschen mit Demenzerkrankungen, die von ihren Angehörigen gepflegt werden, nicht in den Genuss dieser Leistungen kommen. Das kann ich nachempfinden. Andererseits bauen wir auch in Zukunft nicht nur auf die Solidarität in unserer Gesellschaft als Ganzes, sondern auch auf die Solidarität in den Familien. Wir werden es nicht schaffen, alles finanziell auszugleichen, was an Liebe, Fürsorge, Unterstützung und Solidarität in der Familie geleistet wird. Das verdient mehr als bisher unsere größte Hochachtung. Dies ist die richtige Stelle, um das noch einmal zu erwähnen. ({2}) Nun ist gerade einmal ein Jahr seit Inkrafttreten dieses Gesetzes vergangen. Wir müssen hier und da feststellen - das gebe ich zu -, dass es mit der Umsetzung der persönlichen Assistenz im Krankenhaus noch nicht hundertprozentig klappt. Manche Krankenhäuser sind über das Gesetz und seine Inhalte wohl unzureichend informiert. Immer wieder hören wir von Beispielen, dass es bei der Aufnahme der Assistenzperson zu Problemen kommt. Ich finde, wir haben zunächst einmal nicht ein Regelungsdefizit, sondern ein Umsetzungs- und Anwendungsproblem. Gleichwohl nehme ich das Anliegen einer Gleichberechtigung bei der persönlichen Assistenz in anderen Verweilorten ernst. Wir sind auch nach der UN-Behindertenkonvention gehalten - da sind wir uns einig -, uns mit den unterschiedlichsten Lebensumständen und den sehr individuellen Lebensstandards auseinanderzusetzen. Das gilt zum Beispiel auch für stationäre Einrichtungen zur Behandlung nach einem Suchtentzug; so etwas ist auch gemeint. Man kann auch vermuten, dass Menschen mit Behinderung gerade in Rehabilitationseinrichtungen die erforderlichen Hilfen erhalten, vielleicht sogar eher als in einem Krankenhaus. Darüber kann man sehr gut reden. Unser Leben ist sehr individuell. Deshalb haben wir als Gesetzgeber Schwierigkeiten, nicht nur in diesem Punkt, die Wechselfälle des Lebens in ein und demselben Gesetz einzufangen. Mancher Fortschritt ist nur deshalb gelungen - gerade in der sozialen Gesetzgebung -, weil es auch den Mut zur Lücke gab, wenn keine verlässlichen Daten vorlagen. Schritt für Schritt ist dann nachgebessert worden. Klarheit in der Gesetzgebung bedeutet, neben sachlichen Argumenten immer auch die finanziellen Auswirkungen zu betrachten. Ich hoffe, die Offenheit für das Anliegen als solches ist klargeworden. Dazu stehen wir. ({3}) Wir wollen die Daten aber erst einmal dahin gehend prüfen, wie es um die praktische Umsetzung steht. Dafür ist es ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes aber viel zu zeitig. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass dies den Regelungsbedarf des SGB IX als auch den des SGB XII betrifft. Deshalb müssen auch die Kommunen in die Diskussion einbezogen werden. Ich sage: Im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention und zugunsten der betroffenen behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger plädieren wir für eine Gesetzesberatung, aber nach dem Prinzip „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Hilde Mattheis für die SPD-Fraktion. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in diesem Haus wichtig, sich die Lebenssituationen von Menschen mit Behinderungen immer vor Augen zu halten und darauf zu achten, dass es in der Tat um Antidiskriminierung und Teilhabe geht. ({0}) Ihre Initiative, das, was Sie vorlegen, ist richtig und wichtig. Ich bedanke mich ganz ausdrücklich bei Ihnen. Denn uns alle eint, glaube ich, das Bestreben, für Menschen mit Behinderungen - vor allem in besonderen Lebenslagen - Erleichterungen und Hilfen zu gewährleisten, und zwar für alle. Deswegen haben wir vor anderthalb Jahren hier im Deutschen Bundestag das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus verabschiedet. Dieses gemeinsame Anliegen, Menschen mit Behinderungen, die einen besonderen Assistenzbedarf haben, im Falle eines Krankenhausaufenthaltes eine Pflegekraft an die Seite zu stellen, die ihr Vertrauen genießt und die vor allen Dingen um diesen besonderen Pflegebedarf weiß und ergänzend zu dem, was das Krankenhauspersonal leistet, Hilfestellungen bieten kann, ist richtig und wichtig. Bis dahin gab es keinen Anspruch gegenüber den Kostenträgern auf Mitaufnahme dieser Pflegekraft ins Krankenhaus und auch keinen Anspruch auf Weiterzahlung der Leistungen während der Dauer des Krankenhausaufenthaltes. Das hatte zur Folge - dies ist mit unseren Sozialgesetzbüchern das eine oder andere Mal der Fall -, dass sich die Kostenträger für nicht zuständig erklärt haben oder - das ist noch schlimmer - dass Menschen mit hohem Hilfebedarf notwendige Untersuchungen und Krankenhausaufenthalte vermieden haben, was natürlich mitunter gravierende Folgen für ihren Gesundheitszustand hatte. Wir haben in der letzten Legislaturperiode diese Sicherheit gewährleistet. Wir haben mit diesem Gesetz nicht nur die Mitaufnahme garantiert, sondern auch die Zahlung des Pflegegelds für die Dauer von stationären Aufenthalten zur Akutbehandlung sowie bei krankenhausersetzender häuslicher Krankenpflege und für die Dauer einer stationären Leistung zur medizinischen Rehabilitation gewährleistet. Wir haben mit dem Gesetz auch Hilfe zur Pflege für die Dauer des stationären Krankenhausaufenthaltes gewährt, sodass die Möglichkeit der Weiterbeschäftigung einer besonderen Pflegekraft gesichert ist. Mit diesen Maßnahmen haben wir den Forderungen vieler Verbände entsprochen, die die Interessen von Menschen mit Behinderungen vertreten. Das war, meine ich, zu Recht ein großes Anliegen. Mit damals hochgerechnetem geringem finanziellen Einsatz wurde mit dem Assistenzpflegebedarfsgesetz für eine Personengruppe in unserer Gesellschaft Gutes bewirkt. ({1}) Wir haben die Gesetzesänderungen in den entsprechenden Sozialgesetzbüchern V, XI und XII verankert. Allerdings steht eine Evaluierung noch aus. Es ist zum Beispiel unklar, ob es weiterhin Probleme mit Kostenträgern gibt. Der vorliegende Gesetzentwurf ist sicherlich ein guter Anlass, das Thema erneut aufzugreifen. In dem jetzt in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurf der Partei Die Linke wird gefordert, die Assistenzpflege auf Einrichtungen der stationären Vorsorge und der Rehabilitation auszuweiten. Wir als SPD ({2}) können diese Forderung generell unterstützen. ({3}) - Ja, wir als SPD können diese Forderung generell sehr unterstützen. Wir sind uns absolut einig, dass wir diese Forderung unterstützen, Herr Zöller. ({4}) Denn sie betrifft, wie ich bereits dargestellt habe, insbesondere Menschen mit einem ganz starken individuellen Hilfebedarf. Unser Appell lautet: Lassen Sie uns in dem jetzt beginnenden Verfahren auch die Bilanz aus dem ziehen, was wir vor anderthalb Jahren gemeinsam auf den Weg gebracht haben. ({5}) Wie war die Wirkung des Assistenzpflegebedarfsgesetzes seit seinem Inkrafttreten? Wie viele Menschen konnten davon profitieren? War der 2009 aufgestellte Finanzrahmen einigermaßen gut kalkuliert? Wird die Leistung, wie es unsere Absicht war, auch in der medizinischen Reha gewährt? Wird dadurch auch die Vorsorge abgedeckt? Denn in § 111 SGB V werden Vorsorgeeinrichtungen und Rehaeinrichtungen gleichgesetzt. Dies alles sollten wir gemeinsam im Sinne der Menschen mit Behinderungen klären. Ich bin mir sicher, dass wir dann in diesem Hause, genauso wie 2009, eine ganz breite Mehrheit für dieses gemeinsame Anliegen hinbekommen und weiter Gutes bewirken können. In diesem Sinne bedanke ich mich. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Erwin Lotter für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Erwin Lotter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003895, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Die Motivation mag nachvollziehbar sein; aber der Gesetzentwurf geht an der Realität vorbei. Zunächst einmal kommt diese Diskussion hier und jetzt zur falschen Zeit. ({0}) Denn das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus wurde erst im Juli 2009 vom Bundestag beschlossen. Über die Erfahrungen bei der Umsetzung des Gesetzes gibt es seither noch keine Erkenntnisse. ({1}) Niemand weiß das besser als die Linke selbst. ({2}) Sie, Herr Kollege Seifert, haben die Bundesregierung im Juni und im Oktober 2010 nach einem Erfahrungsbericht gefragt. ({3}) Beide Male lautete die Antwort gleich: Es gibt aufgrund der kurzen Geltungsdauer des Gesetzes noch keine Erfahrungen. ({4}) Insbesondere gibt es keine Erfahrungen, die auf die dringende Notwendigkeit der Ausweitung der betroffenen Einrichtungen hindeuten würden. Außerdem hat das Bundesgesundheitsministerium Ihnen, Herr Seifert, deutlich gemacht: Eine Erweiterung des Leistungsanspruchs auf Einrichtungen über den Krankenhausbereich hinaus wird nicht in Aussicht gestellt. Das war vor zwei Monaten. Wozu also jetzt diese Debatte? ({5}) Die Linke nimmt in ihrem Gesetzentwurf Bezug auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die Ausdehnung des Assistenzbedarfs für Menschen mit Behinderungen leitet sie aus Art. 25 dieser Konvention ab. Nichts könnte verfehlter sein. Denn bereits in der Debatte im Juli 2009 wurde deutlich, dass sich schon das Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus nicht aus dieser UN-Konvention ableiten ließ. Aus diesem Grund hat sich die FDP seinerzeit der Stimme enthalten. Zu Recht haben wir die Auffassung vertreten, dass die Aufnahme einer Begleitperson im Krankenhaus bereits in § 2 der Bundespflegesatzverordnung geregelt ist. Dieser beschreibt die aus medizinischen Gründen notwendige Mitaufnahme einer Begleitperson des Patienten. Eine Neuregelung war daher unnötig, und unnötigen Gesetzen stimmen wir nicht zu. Wenn die Linke jetzt auch noch die Ausweitung des Gesetzes auf die Bereiche Vorsorge und Rehabilitation aus der UN-Konvention ableiten möchte, ist dies noch weniger begründet. Bereits in der Debatte im Jahr 2009 wollte die Linke die Zahlungen für Assistenzpfleger ausweiten. Sie wollte neben den Krankenhäusern die Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen gemäß § 107 SGB V in den Leistungskatalog aufnehmen. An der Situation des letzten Jahres hat sich aber nichts geändert. Der Gesetzentwurf der Linken kann nicht aus der UN-Konvention abgeleitet werden. ({6}) Sehen wir uns einmal die Realität an. Es ist sicher aus behindertenpolitischer Sicht erfreulich, dass die Assistenzpfleger im Krankenhaus an der Seite der Betreuten sind. Wir haben aber noch keine Erkenntnisse über den tatsächlichen Bedarf. Die medizinisch hochwertige Betreuung ist ja allein schon durch den Krankenhausaufenthalt rund um die Uhr gewährleistet. Wir haben ferner keine Erkenntnisse, ob auch im Vorsorge- und Rehabilitationsbereich Assistenzpfleger zwingend benötigt werden. In der Regel dauern Vorsorge- und Rehamaßnahmen sehr viel länger und sind sehr viel zeitaufwendiger als Krankenhausaufenthalte. Das bedeutet: Die Pfleger werden bei voller Bezahlung für einen erheblichen Zeitraum auf ihre reine Begleitfunktion reduziert. Die Linke behauptet, das vorhandene Rehapersonal könne die Assistenzleistung nicht in der nötigen Qualität und im nötigen Umfang erbringen. Dies entspricht schlichtweg nicht den Tatsachen. Es entwertet die Arbeit, die von den Menschen im Krankenhaus und in den Rehazentren erbracht wird. Die Argumentation der Linken ist an den Haaren herbeigezogen. Sie behaupten, es seien Mehrkosten von circa 150 000 Euro zu erwarten. Das ist reines Wunschdenken. Ihr Gesetzentwurf hätte eine fatale Konsequenz. Die Leistungsverpflichtungen der Kommunen würden erheblich ausgeweitet. Gleiches gilt für die Verpflichtungen der Pflegeversicherung, und dies ohne jede zwingende Begründung. Die Linke führt in ihrem Antrag aus: Zu erwartende Mehrausgaben „sollen im Ergebnis nicht die Kommunen mit zusätzlichen Kosten belasten.“ Schön wäre es, meine Damen und Herren. Natürlich würden die kommunalen Haushalte belastet; denn die Assistenten werden aus dem SGB XII finanziert. Schon in der Anhörung zum Assistenzpflegebedarfsgesetz im Jahr 2009 wurde übrigens von der Sozialhilfe klargestellt: Die Kosten wären für die Sozialhilfeträger erheblich. Verstehen Sie mich nicht falsch. Im Jahr 2009 war ich behindertenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Ich habe die Diskussion um die Assistenzpfleger aufmerksam verfolgt. Damals wie heute sage ich klar: Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen muss in Deutschland ohne Wenn und Aber in nationales Recht umgesetzt werden. Aber für ein Gesetz im Sinne der UN-Konvention gibt es doch eine ganz klare Voraussetzung: Die vorgeschlagenen Maßnahmen müssen die Situation der betreuungsbedürftigen Behinderten nachweisbar und dauerhaft verbessern. Dann kann man sich auch über eine Novellierung unterhalten. Dann kann man auch darüber sprechen, ob nicht entsprechend Geld in die Hand genommen werden sollte. Wenn künftige Erfahrungsberichte erweisen, dass die derzeitige Lage nicht zufriedenstellend ist, können wir diese Debatte ansetzen. Voraussetzung wäre die Erkenntnis: Eine Ausweitung eines Gesetzes auf Vorsorge- und Rehaeinrichtungen ist medizinisch zwingend geboten. Aber zunächst werden wir die Auswirkungen der gerade erst vor 17 Monaten in Kraft getretenen Regelungen abwarten und sorgfältig auswerten. Vielleicht lässt sich dann ja Anpassungsbedarf feststellen. Sie wollen die Parteien der Regierungskoalition als behindertenfeindlich darstellen. Nicht mit uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, und schon gar nicht mit mir. Wir werden uns für alle Maßnahmen einsetzen, die sinnvoll sind im Interesse der Behinderten. Schaumschlägerei aber ist ineffektiv und würde Kosten verursachen, die wir nicht mittragen. Dies ist nicht im Interesse der Betroffenen, und dies ist auch nicht im Sinne derjenigen, die ihr Engagement und ihre Arbeitskraft für unsere behinderten Mitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Elisabeth Scharfenberg von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor anderthalb Jahren haben wir an gleicher Stelle schon einmal über den Assistenzpflegebedarf von Menschen mit Behinderung beraten. Wir haben damals unsere Bedenken und auch unsere Anmerkungen zu dem verabschiedeten Assistenzpflegebedarfsgesetz kundgetan. Uns ging es damals ums Ganze. Es ging uns darum, Menschen mit Behinderung ganzheitlich zu betrachten. Es ging uns um die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung, und es ging uns auch darum, Menschen mit Pflegebedarf in den Blick zu nehmen. Das Assistenzpflegebedarfsgesetz hat aber genau diesen ganzheitlichen Blick nicht. Es weist nämlich einen Mangel auf, den leider auch der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke nicht beseitigt. Der Mangel liegt in dem kleinen Anspruchskreis von Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfängern. Es profitieren nämlich nur diejenigen, die ihre Alltagsunterstützung und Pflege durch von ihnen persönlich angestellte besondere Assistenzkräfte sicherstellen. Dabei stellt sich natürlich die begründete Frage: Was passiert mit den anderen pflegebedürftigen Menschen mit Behinderung, mit denen nämlich, die ihre Assistenz von ambulanten Diensten oder anderen Anbietern erhalten? Diese haben zu Recht den gleichen Wunsch und auch Bedarf, aber dummerweise beschäftigen sie ihre Assistenzen nicht nach dem Arbeitgebermodell. Eine derartige Ungleichbehandlung bei gleichen Bedarfen lässt sich wirklich nur sehr schwer vermitteln. ({0}) Für uns ist das unverständlich und auch inkonsistent. Je weniger es einem Menschen mit Behinderung möglich ist, selbstbestimmt ein Arbeitgebermodell zu managen - dafür gibt es wirklich gewisse Voraussetzungen -, umso geringer ist die Chance auf Assistenzpflege im Krankenhaus oder in Vorsorge- oder Rehaeinrichtungen. Das erklären Sie einmal einem Menschen mit Behinderung, der von diesen Regelungen nicht profitiert! Es ist also eine privilegierte Gruppe von Menschen mit Behinderung, die vom Assistenzpflegebedarfsgesetz profitiert. Das gilt ebenso bei der geplanten Erweiterung durch den nun vorgelegten Gesetzentwurf. ({1}) Die Bundesregierung hat in der Beantwortung einer Kleinen Anfrage vom 15. September 2010 als eine Maß9064 gabe des Assistenzpflegebedarfsgesetzes angeführt, dass Versorgungsbrüche vermieden werden sollen. Die vertrauten Betreuungspersonen sollen den auf Hilfe angewiesenen Personen auch in kritischen Versorgungssituationen zur Verfügung stehen. Eine Regelungslücke sei durch das Assistenzpflegebedarfsgesetz geschlossen worden, so die Bundesregierung. In ihrer Antwort verkennt die Bundesregierung, dass diese Lücke eigentlich sehr viel größer ist. Durch das Assistenzpflegebedarfsgesetz in seiner jetzigen Form wird nur für einen kleinen Kreis von Menschen mit Behinderung ein Schutzschirm aufgespannt. Ein Großteil der Betroffenen wird unbeachtet im Regen stehen gelassen. Daran wird auch durch den Gesetzentwurf der Fraktion der Linken nur bedingt etwas geändert. Hinzu kommt noch, dass wir bisher nur wenig bis gar nichts über die Annahme der Regelung zur Assistenzpflege in Krankenhäusern wissen. Aus diesem Grund möchte ich die Bundesregierung auffordern, uns in absehbarer Zeit über den Sachstand und die Erfahrungen mit dem Assistenzpflegebedarfsgesetz im Krankenhaus für Menschen mit Behinderung zu unterrichten. ({2}) - Guten Abend. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Reden Sie ruhig weiter, Frau Kollegin.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, ich möchte aber auch gehört werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das ist ein ganz unerheblicher Vorgang. ({0})

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, nein, auch wenn Sie es nicht unerheblich finden, wenn die FDP ihre Reihen auffüllt. Ich möchte gerne, dass auch diese Herren in den Genuss meiner Rede kommen. Uns ist an einer guten und nachhaltigen Gesundheitsversorgung gelegen. Verbesserungen können wir nur erzielen, wenn wir ausreichend und transparent informiert werden. ({0}) - Es freut mich, dass Sie jetzt hierhergekommen sind, es würde mich aber noch mehr freuen, wenn Sie zuhören würden. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen aber allmählich zum Ende kommen. ({0})

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir werden uns dem Gesetzentwurf nicht versperren, weil es uns um die Betroffenen geht, anders offensichtlich als Ihnen gerade. Wir müssen aber grundlegend überdenken, wie die zukünftige Weiterentwicklung des Assistenzpflegebedarfsgesetzes, über die wir hier gerade reden, aussehen soll. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich Kollegen Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Rudolf Henke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte das kurz zusammenfassen: Wir sprechen gerade - und haben gesprochen; ich möchte das kurz zusammenfassen - über einen Gesetzentwurf, ({0}) mit dem gefordert wird, dass Menschen mit Behinderung ihre persönliche Assistenz nicht nur ins Krankenhaus, sondern auch in die oft folgende medizinische Rehabilitationsmaßnahme und in stationäre Vorsorgemaßnahmen mitnehmen können. Man wird sich jetzt natürlich fragen, warum über all das zu dieser späten Stunde - viele externe Zuhörer gab es ja nicht - hier noch einmal so ausführlich diskutiert wird. Ich glaube, das hat auch ein bisschen damit zu tun, dass die Linken in ihrem Gesetzentwurf neue Leistungen fordern, was sie deutlich machen und auch in bestimmten Situationen vor Wahlkämpfen deutlich machen wollen, weil sie dort, wo sie selbst in der Regierungsverantwortung sind - ich kann es Ihnen ja nicht ersparen, das zu sagen -, Leistungen für Menschen mit Behinderung gekürzt und eingespart haben. ({1}) Das gilt etwa in Berlin für die Kürzung des Blindengeldes zu Zeiten der rot-roten Koalition, das gilt für Einsparungen im Bereich der Behindertenfahrdienste, für Einsparungen bei Mobilitätshilfen und bei Wohlfahrtsverbänden. ({2}) - Ja, ich will nur, dass man versteht, was die Motivation dafür ist, dass das alles jetzt in dieser Weise als eine einzelne Initiative vorgetragen wird. ({3}) In der Sache leuchtet es mir völlig ein, dass Menschen mit Behinderung ihre Assistenzkräfte, die sie im Arbeitgebermodell beschäftigen, selbstverständlich sowohl zu stationären Klinikaufenthalten als auch zu Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen mitnehmen wollen. Nach wie vor halte ich die Schaffung des gesetzlichen Anspruchs auf die Mitnahme der Assistenz bei stationären Krankenhausaufenthalten für richtig. Dies ist unter Mitwirkung der Union und aufgrund wesentlicher Impulse beispielsweise unseres damaligen Behindertenbeauftragten Hubert Hüppe gelaufen, des Vorgängers von Maria Michalk. ({4}) Ich meine nach wie vor - darin unterscheide ich mich vielleicht ein bisschen von anderen Rednern -, es war eine richtige Entscheidung der vorigen Bundesregierung und der vorigen Koalition, diese Leistung einzuführen. ({5}) - Ich habe ja gesagt, ich habe volles Verständnis für jeden, der sich das als Betroffener wünscht, auch wenn es eben - Frau Scharfenberg hat das hervorgehoben - auf das Arbeitgebermodell begrenzt ist. Ich habe volles Verständnis dafür, dass jemand, der dies als Betroffener im Krankenhaus nutzt, es auch in Rehabilitations- und Vorsorgeeinrichtungen nutzen will. Aber wenn wir eine solche Erweiterung des Leistungsanspruchs wollen, dann muss das sorgfältig vorbereitet werden. Darin hat Kollege Lotter doch komplett recht. ({6}) Dazu gehört, dass die Auswirkungen der bestehenden Regelung, die immerhin erst am 31. Juli 2009 in Kraft getreten ist, beobachtet und ausgewertet werden. Ich habe das Gefühl, auch darüber, dass das zu geschehen hat, besteht Einvernehmen im Haus. Auf dieser Grundlage kann dann geprüft werden, ob und in welcher Form gesetzgeberischer Anpassungsbedarf besteht. Ich bin Herrn Lotter und der FDP-Fraktion ausgesprochen dankbar dafür, dass er betont hat: Wenn sich zeigt, dass dort Handlungsbedarf besteht, dann ist selbstverständlich auch Bereitschaft zum Handeln vorhanden. ({7}) Selbstverständlich bedeutet eine Leistungsausweitung auch höhere Kosten für die Träger der Sozialhilfe. Das ist ein Problem, das es immer wieder erschwert, zusätzliche Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen zu treffen. Dennoch haben wir in den vergangenen Jahren in der Politik für diese Menschen vieles erreicht. Mit der Ratifizierung der UN-Konvention, dem Sozialgesetzbuch IX und dem Rechtsanspruch auf Leistungen in Form des Persönlichen Budgets haben wir wichtige Regelungen auf einem Weg zu gleichberechtigter Teilhabe von Menschen mit Behinderung verabschiedet. Als CDU/CSU-Fraktion haben wir daran einen wichtigen Anteil. Aber in der Praxis zeigt sich, dass diese Ansprüche mitunter zu spät, nur zum Teil oder auch gar nicht umgesetzt werden; auch das gehört zur Realität. Das kann uns alle hier im Haus nicht ruhen lassen. Für uns ist es deshalb ein wichtiges Anliegen, die Eingliederungshilfe weiterzuentwickeln. Hier besteht Reformbedarf, um eine moderne und teilhabeorientierte Behindertenpolitik weiterhin zu ermöglichen. Ich glaube, dass wir uns auch in diesem Punkt fraktionsübergreifend einig sind oder zumindest einig sein müssten. Bei all unseren Forderungen und Verbesserungsvorschlägen brauchen wir dann aber auch die Unterstützung der Länder und der Kommunen, denn sie tragen in erster Linie die Kosten für Eingliederungshilfeleistungen. Der Grundsatz muss sein: Leistungen müssen dem Menschen mit Behinderung entsprechen, nicht der Mensch den Leistungen. Ich habe vorhin vom Sozialgesetzbuch IX gesprochen. Darin gibt es etwas, was mich regelrecht aufregt, nämlich dass Menschen mit Behinderung bei der Suche nach den zuständigen Kostenträgern entgegen der geltenden Rechtslage immer noch viel zu häufig von einer Stelle zur anderen weitergereicht werden, ohne die für sie erforderlichen Leistungen zu bekommen. ({8}) Das ist eine besonders ärgerliche Form von Schwarzer Peter. Fristen für die Bearbeitung von Anträgen werden nicht eingehalten, unterschiedliche Leistungen nicht koordiniert. Ich glaube, wir müssen uns über die Zukunft Gedanken machen und gegebenenfalls eine andere Ausgestaltung der gemeinsamen Servicestellen in Betracht ziehen, die wir im Sozialgesetzbuch IX geschaffen haben. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, über ein neues Miteinander von Servicestellen, Pflegestützpunkten, Pflegeberatungsstellen und ähnlichen Stellen zu reden. Ich komme zum Schluss. Politische Entscheidungen, die Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt betreffen, müssen sich an den Inhalten der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen messen lassen. Ich appelliere an uns alle: Schaffen wir nicht noch mehr Bürokratie! Vereinfachen wir den Behördendschungel, damit die Betroffenen nicht ständig von Pontius zu Pilatus laufen müssen, um das zu bekommen, was ihnen zusteht. Das gilt nicht nur für diejenigen, die ihre Assistenz nach dem Arbeitgebermodell organisieren, sondern für alle Menschen mit Behinderungen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 17/3746 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Es folgen jetzt zehn Tagesordnungspunkte hinter- einander. Ich bitte um angemessene Aufmerksamkeit, wenn Sie schon hier eingetroffen sind. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika Steinbach, Arnold Vaatz, Ute Granold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU so- wie der Abgeordneten Marina Schuster, Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Freie und gleiche Wahlen in Belarus einfor- dern - Menschenrechtslage verbessern - Drucksache 17/4194 - Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Erika Steinbach, Uta Zapf, Marina Schuster, Wolfgang Gehrcke, Marieluise Beck.1) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/4194. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der Grü- nen gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der SPD angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Tressel, Nicole Maisch, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Durchsetzung und Evaluation des Reiserechts verbessern - Drucksache 17/4041 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Tressel, Nicole Maisch, Ingrid Hönlinger, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN 1) Anlage 3 Reisende besser schützen - Drucksachen 17/2428, 17/4019 - Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Mortler Gabriele Hiller-Ohm Horst Meierhofer Abg. Markus Tressel Auch hier ist vorgeschlagen, die Reden zu Protokoll zu geben. - Sie sind einverstanden. Folgende Kollegen wollten sprechen und haben ihre Reden zu Protokoll ge- geben: Peter Wichtel, Marlene Mortler, Gabriele Hiller- Ohm, Jens Ackermann, Kornelia Möller, Markus Tressel.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4041 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 18 b. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4019, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2428 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und den Linken bei Stimmenthaltung der SPD angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Einsetzung eines Nationalen Normenkontrollrates - Drucksache 17/1954 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) - Drucksache 17/4241 - Berichterstattung: Abgeordneter Kai Wegner Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben, und zwar von den Kollegen Kai Wegner, Andrea Wicklein, Frank Schäffler, Michael Schlecht und Kerstin Andreae.3) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 17/4241, den Ge- setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1954 in der Ausschussfassung anzuneh- 2) Anlage 4 3) Anlage 5 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. ({3}) Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes - Drucksachen 17/3055, 17/3307 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4}) - Drucksache 17/4234 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Schindler Ingrid Arndt-Brauer Dr. Birgit Reinemund - Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/4235 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider ({6}) Otto Fricke Dr. Gesine Lötzsch Alexander Bonde Hierzu liegen ein gemeinsamer Änderungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie ein weiterer Änderungsantrag und ein Entschließungsan- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Auch hier sind die Reden zu Protokoll gegeben worden, und zwar von den Kollegen Norbert Schindler, Peter Aumer, Ingrid Arndt-Brauer, Birgit Reinemund, Barbara Höll und Lisa Paus.1) Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4234, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/3055 und 17/3307 in der Ausschussfassung anzunehmen. ({7}) 1) Anlage 6 - Es finden hier also noch künstlerische Betätigungen statt? ({8}) Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen, vollbringe ich doch gerade die rhetorische Meisterleistung, die Abstimmungen in hohem Tempo zu absolvieren. ({9}) Wir stimmen zunächst über die Änderungsanträge ab, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4251. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt. Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4252: Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD und der Linken abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit denselben Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4253. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/ CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Ulla Burchardt, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern verlässlich weiterentwickeln - Drucksache 17/4187 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({10}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Monika Grütters, Tankred Schipanski, Ernst Dieter Rossmann, Swen Schulz, Patrick Meinhardt, Rosemarie Hein und Priska Hinz.

Prof. Monika Grütters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003761, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vor fast genau sechs Monaten, am 10. Juni 2010, haben wir im Plenum bereits einmal einen Antrag der SPD diskutiert. Der Titel des Antrags lautet „Nationalen Bildungspakt für starke Bildungsinfrastrukturen schaffen“. Die Ähnlichkeiten zum nun vorliegenden Antrag „Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern verlässlich weiterentwickeln“ entgehen dem aufmerksamen Leser nicht. Der Grund dafür, dass die SPD ihren alten Wein noch einmal in neue Schläuche packt, ist schnell gefunden. Denn die Verabschiedung des Bundeshaushalts 2011 vor wenigen Wochen hat noch einmal deutlich gemacht, wie ernst die christlich-liberale Bundesregierung ihr Bekenntnis zur Schaffung der Bildungsrepublik Deutschland nimmt: Wie schon im Jahr 2010 werden auch im Jahr 2011 die Mittel für Bildung und Forschung um mehr als 7 Prozent erhöht. Die Steigerung des Gesamthaushaltes um 782 Millionen auf nun insgesamt mehr als 11,6 Milliarden Euro ist in Zeiten der Schuldenbremse ein starkes Zeichen, das Bildung und Forschung für diese Regierung absolute Priorität genießen. Der gerade erschienene Bildungsfinanzbericht bestätigt diese Einschätzung ausdrücklich. Im Jahr 2010 werden die öffentlichen Bildungsaufgaben in Deutschland zum ersten Mal die Grenze von 100 Milliarden Euro überschreiten. Auch einen Hinweis auf die Gründe für diese Steigerung gibt der Bildungsfinanzbericht: „Als Ergebnis politischer Entscheidungen stiegen die öffentlichen Bildungsausgaben im Vergleich zu den gesamten öffentlichen Ausgaben überproportional.“ Ich empfehle den Kollegen hier noch einmal einen Blick in unseren Koalitionsvertrag „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt“. Die christlich-liberale Koalition hält ihre Versprechen nicht nur mit einem aktuellen Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent, sondern auch mit einem nie dagewesenen Engagement für Bildung und Forschung. Das reizt die Opposition natürlich - und statt eine verantwortungsbewusste und nachhaltige Politik zu würdigen, legt die SPD ihre wenig originellen Ideen schon wieder vor. Viel Neues ist Ihnen nicht eingefallen. Noch immer beschränkt sich Ihre Kreativität auf die plumpe Forderung nach noch mehr Geld und einem noch größeren Engagement des Bundes. Fast ein wenig dreist ist Ihre Haltung, dem Bund die alleinige Verantwortung für die Erreichung des 7-Prozent-Ziels für die Bildung zuzuschieben, und das auch noch „unbeschadet der föderalen Zuständigkeiten“, wie Sie es ja ausdrücklich formulieren. Dazu gehört schon ein gerüttelt Maß an Ignoranz. Sie fordern, dass der Bund bis 2015 die notwendigen jährlichen Mehrausgaben von 20 Milliarden Euro alleine tragen soll: 10 Milliarden Euro über einen „direkten Beitrag“ und die anderen 10 Milliarden Euro durch Transfers des Bundes an die Länder und Kommunen. Dieses Verständnis von „Bildungszusammenarbeit“, in dem der eine zahlt, während der andere das Geld nach bildungsideologischem Gutdünken ausgeben darf, ist eine gedankenlose Übernahme der Versorgungsmentalität, die so mancher SPD-Bildungsminister in den letzten Wochen zur Schau gestellt hat. Dabei investiert diese Bundesregierung bereits mehr Geld in die Bildung, als jede andere Regierung das je zuvor getan hat. Das gilt im Übrigen auch für alle Regierungen, die von SPD und Grünen gebildet wurden. Ich darf Ihnen zwei Beispiele nennen: Wir unterstützen die Studierenden in Deutschland bei der Finanzierung ihres Studiums im kommenden Jahr mit mehr als 1,7 Milliarden Euro. Damit haben wir die Förderung in diesem Bereich im Vergleich zu Rot-Grün - 2005: 1,1 Milliarden Euro - um mehr als 53 Prozent ausgebaut. In die konkrete Verbesserung der Lehre an den Hochschulen investieren wir in diesem Jahr 780 Millionen Euro, zum Beispiel durch den Wettbewerb „offene Hochschule“ und den Bologna-Mobilitätspakt. Damit übertreffen wir die Förderung der letzten rot-grünen Regierung in diesem Bereich bei weitem. 2005 hatten SPD und Grüne hierfür nämlich nur 9 Millionen Euro übrig, obwohl die Umsetzung des Bologna-Prozesses bereits seit 1999 auf der Tagesordnung stand. Die ersten Ergebnisse unserer Investitionen in die Bildungsrepublik Deutschland können wir bereits jetzt sehen: Im Jahr 2010 konnte das Statistische Bundesamt wieder einen Rekord bei den Studienanfängerzahlen vermelden. 442 000 junge Menschen haben im Jahr 2010 ein Studium aufgenommen, 4 Prozent mehr als noch 2009. Das ist auch ein Verdienst unseres Engagements bei der Studienfinanzierung. Mit BaföG-Erhöhung, der Stärkung der Begabtenförderungswerke und der Einführung des Deutschlandstipendiums schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass möglichst viele junge Menschen ein Studium finanziert bekommen. Auch sorgen wir dafür, dass sich wieder vermehrt junge Menschen aus bildungsfernen Schichten für ein Studium entscheiden. Die letzte Studie des HIS hat gezeigt, dass die Studierquote in dieser Gruppe um 6 Prozent angestiegen ist, während die Studierquote bei Kindern aus bildungsnahen Schichten „nur“ um 3 Prozent stieg. Anders als die Opposition gern polemisiert, sorgen wir dafür, dass die Kluft zwischen bildungsfernen und bildungsnahen Schichten kleiner wird und eben nicht wächst. Das schaffen wir, weil wir unsere Bildungspolitik verantwortungsvoll und nachhaltig gestalten und uns nicht in ideologischen Debatten erschöpfen. Auch die aktuelle PISA-Studie, die Deutschland signifikante Fortschritte in allen Teilbereichen attestiert, zeigt, dass die Bundesregierung unter Angela Merkel und mit Annette Schavan im Bildungsbereich ihre Versprechen hält. Das beste Beispiel dafür, wie man es nicht macht, ist leider nicht nur hinsichtlich der PISA-Studie wieder einmal Berlin. Nicht nur, dass wir einen rot-roten Senat haben, dem nicht mehr einfällt, als Gymnasiumsplätze verlosen zu lassen; nun haben wir auch noch eine grüne Spitzenkandidatin, die sich vorstellen kann, diese erfolgreichste aller Schulformen „mittelfristig“ ganz zur Disposition zu stellen. Damit bin ich auch schon beim Kooperationsverbot, das die Bildungsdebatte zwischen Bund und Ländern wesentlich prägt. Sie sprechen sich in Ihrem Antrag für eine verstärkte Kooperation zwischen Bund und Ländern aus. Sie haben recht: Schaut man sich die Bildungsergebnisse der SPD-geführten Bundesländer an und vergleicht diese mit den CDU-geführten Bundesländern, dann kann man wirklich nur zu dem Schluss kommen, dass ein stärkeres Engagement dieser christlich-liberalen Regierung in den SPD-geführten Länder wirklich notwendig wäre. Die Bundesbildungsministerin und auch meine Fraktion haben immer wieder deutlich gemacht, dass wir einer Fortentwicklung der Verfassungswirklichkeit offen gegenüberstehen. Bund und Länder sollten in der Tat gemeinsam dafür Sorge tragen, die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems nicht nur gemeinsam „festzustellen“ sondern „sicherzustellen“. Es sind allerdings die Länder, in denen die Bereitschaft, dem Bund eine angemessene Mitsprache zu ermöglichen, noch nicht in ausreichendem Maße gegeben ist. So lange bleibt nur der Appell an eben diese Länder, ihrer Verantwortung für die Bildung dann auch finanziell angemessen gerecht zu werden. Bisher hat es Annette Schavan jedenfalls mit großer Kunstfertigkeit verstanden, dem Bund mit intelligenten Instrumenten ein Engagement in der Bildungspolitik zu ermöglichen. Mit Exzellenzinitiative und Hochschulpakt hat die Ministerin Wege jenseits des Kooperationsverbotes gefunden, die wirksam genutzt werden. So ist die Fortentwicklung des Hochschulpakts eine Möglichkeit, um auf den absehbaren Anstieg der Studierendenzahlen aufgrund der Aussetzung der Wehrpflicht zu reagieren. Fest muss aber stehen, dass ein Engagement des Bundes nicht mit einem finanziellen Rückzug der Länder einhergehen darf, wie das anscheinend dem Berliner Bildungssenator Zöllner und einigen anderen Bildungsministern vorschwebt. Der Bund wird seine Verantwortung für die Bildungspolitik wahrnehmen, das zeigt nicht zuletzt der Haushalt des BMBF. Er wird aber die Länder nicht aus ihrer - auch finanziellen - Verantwortung für das Bildungssystem entlassen. Dies zu glauben wäre ein Missverständnis unseres föderalistischen Systems, und das wird in meiner Fraktion keine Zustimmung finden.

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Antrag der SPD-Fraktion „Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern verlässlich weiterentwickeln“ findet zumindest in seinem Titel Zustimmung über Fraktionsgrenzen hinweg. Es ist lobenswert, dass sich die SPD aktueller bildungspolitischer Fragen annimmt und durchaus konstruktive Vorschläge unterbreitet. Ideen und Vorstellungen müssen aber immer in der Wirklichkeit, allen voran in der Verfassungswirklichkeit eingebettet sein, ansonsten wird man schnell wie die Partei Die Linke zu einer Partei der Utopien. Die Bildungspolitik liegt in unserem Bundesstaat primär im Verantwortungsbereich der Länder. Dieser verfassungsrechtliche Fakt stößt auf große Ablehnung in der Bevölkerung. Dies belegen uns beinahe jede Woche neue Umfragen in den Zeitungen. Unser Volk wünscht sich ein stärkeres Engagement des Bundes in der Bildung, es wünscht sich mehr Vergleichbarkeit, Transparenz und Konstanz. Auch wenn wir als Bundespolitiker dies ähnlich bewerten, können wir dies nicht „von oben“ verordnen, und wir dürfen auch in der Bevölkerung nicht den Eindruck erwecken, dass wir dies könnten. Politik muss ehrlich sein. Zur Ehrlichkeit gehört, dass ohne ein „Mitmachen“ der Länder im Bereich der Bildung nichts geht. So kann die SPD-Bundestagsfraktion noch so gute Modelle, Ideen und Vorschläge erarbeiten - ohne ein Miteinander mit den Bundesländern wird die Umsetzung nicht gelingen. Der Bund hat durch die christlich-liberale Koalition seinen Part vorbildlich gestaltet. Wir gestalten die Bildungsrepublik Deutschland. Massive Aufwüchse im Haushalt des BMBF und ein intensives Arbeiten mit den Bundesländern bei der Exzellenzinitiative, dem Hochschulpakt 2020, dem Pakt für Forschung und Innovation, dem Qualitätspakt Lehre. Diese Pakte sind finanziell hervorragend ausgestattet. Einen im Antrag geforderten zusätzlichen „Nationalen Bildungspakt“ bedarf es nicht. Allen voran ist nicht einzusehen, warum der Bund für Maßnahmen zahlen soll, die im alleinigen Zuständigkeitsbereich der Bundesländer liegen. Es sind einige Bundesländer, die nicht „mitziehen“, insbesondere die, in denen die SPD Verantwortung trägt. Das haben uns die jüngsten Diskussionen um das Deutschlandstipendium und die BAföG-Novelle gezeigt. Es ist ein Versagen der Länder in der Bildungspolitik, insbesondere bei der finanziellen Schwerpunkt- bzw. Prioritätensetzung. Auch der Bund hat eine angespannte Haushaltslage, aber für uns haben Bildung und Wissenschaft höchste Priorität. Für uns ist eine gute Bildungspolitik die beste Sozialpolitik. Bundesbildungsministerin Annette Schavan ist stetig bemüht, mit den Ländern Grundlinien der Bildungspolitik festzulegen, und sucht eine konstruktive Zusammenarbeit. Doch die Bundesländer verwehren uns oftmals diese konstruktive Zusammenarbeit, primär aus ideologischen und parteitaktischen Gründen. Die Länder kommen ihrer verfassungsmäßigen Aufgabe im Bereich der Bildung nicht mehr nach. Richtig erkennt der vorliegende Antrag daher, dass es einer Koordinierung der Bildungszusammenarbeit bedarf. Der im Antrag vorgeschlagene Ausbau des Nationalen Bildungsberichtes ist eine Idee. Ob sie zielführend ist, vermag ich aus der heutigen Perspektive nicht zu beurteilen. Entscheidend ist, dass die Bundesländer die Notwendigkeit einer Koordinierung durch den Bund anerkennen. Die Kultusministerkonferenz ist das gelebte Zu Protokoll gegebene Reden Gegenteil eines modernen Föderalismus. Doch zeigt uns die Ausgestaltung des Art. 91 b Abs. 2 GG, dass der Bund eine begrenzte Rolle im Bildungsbereich hat. Hier wünscht sich unsere Bildungsministerin die Möglichkeit eines stärkeren Engagements. Art. 104 b GG enthält und enthielt auch vor den Föderalismusreformen keine generelle Befugnis zur Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Bildungs- und Forschungsbereich. Der Bund scheint danach nicht befugt zu sein, über Investitionshilfen hinaus inhaltlich Einfluss auf die Bildungspolitik der Länder zu nehmen. Wir dürfen aber eines nicht vergessen: Die klare Aufgabenzuweisung im Bundesstaat ist eingebettet in unsere Verfassung. Unsere Verfassung ist gekennzeichnet von verschiedenen Verfassungsprinzipien. So ist im Bund-Länder-Verhältnis der „Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens“, die sogenannte Bundestreue, elementar. Dieses Prinzip ist - als ungeschriebene Generalklausel - als staatsrechtliche Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben zu verstehen. Es verpflichtet - so das Bundesverfassungsgericht - den Bund und die Länder, „bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder zu nehmen“. Diesen Fakt müssen die Bundesländer begreifen. Sie müssen die koordinierende Funktion des Bundes wollen. Nur dann kann Bildungszusammenarbeit in einem modernen Föderalismus gelingen.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gestern haben sich einmal mehr die Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin zu einem Bund-LänderGipfel getroffen, deren Vorgängertreffen in den letzten zwei Jahren bekanntlich zu „Bildungsgipfeln“ stilisiert worden sind. Davon könnte nun in diesem Jahr keine Rede sein, obwohl der Bedarf für eine bessere Koordinierung und für gemeinsame Aktionen von Bund und Ländern doch aktueller denn je ist. Die jüngsten PISAStudien haben gezeigt, dass das konzertierte Vorgehen von Bildungspolitikern in Kommunen, Ländern und Bund für eine gute Bildungspolitik auch gute Ergebnisse hervorbringen kann. Dies macht Mut, dieses Zusammenwirken auch in der Zukunft fortzusetzen. Nicht zuletzt deshalb mehren sich auch die Stimmen, die die absolut überflüssige und unverständliche Selbstfesselung des Bundes und Selbstkasteiung der Länder durch das sogenannte „Kooperationsverbot“ aus den leidigen Zeiten der Föderalismusreform I zurecht infrage stellen. Die Einsicht wächst: Wenn in Zeiten von Finanzenge in den öffentlichen Haushalten Bildung weiterhin Priorität haben soll, brauchen wir gerade mehr und nicht weniger Kooperation. Schließlich stellen wir auch fest: In der bildungspolitischen Debatte fordern immer mehr Stimmen eine Bundeseinheitlichkeit im schulischen Bildungsbereich ein. Viele sind es leid, zwischen den Bundesländern auf unterschiedliche Schulsysteme und nicht aufeinander abgestimmte Lehr- und Lerninhalte zu treffen. Das müssen auch die jährlich über 100 000 Kinder, die von einem Bundesland in ein anderes ziehen, am eigenen Leib erfahren, wenn sie so nicht die Chancen, sondern die Grenzen des deutschen Föderalismus und seine Zersplitterung im Bildungsbereich leidvoll selbst erfahren müssen. Konsens und Kooperation müssen also Leitprinzipien für eine Politik sein, die sich an den tatsächlichen Bildungsbedürfnissen und Bildungserfordernissen orientiert. Dann stellt sich aber die Frage, welche praktisch zugänglichen Wege wir in der gegenwärtigen Verfassung der Bundesrepublik und bei der Vielfalt der politischen Akteure konstruktiv gehen können, um diesen Prinzipien gerecht zu werden. Um es glasklar zu sagen: Die SPD ist nicht dafür, die landespolitische Zuständigkeit für die Bildung durch eine Bundeszuständigkeit abzulösen. Dies würde nicht nur den Grundprinzipien der Verfassung widersprechen, es wäre auch bildungspolitisch falsch. Denn natürlich liegen in der landesbezogenen, sehr konkreten und direkten Ausgestaltung von schulischen Bildungsangeboten auch große Chancen. Die SPD sieht aber auch mit großer Sorge, wie das Zusammenwirken von Bund und Ländern in der Bildungspolitik in der Vergangenheit hin und her geschwankt ist. Oft gab es da euphorische Ankündigungen von Bildungsgipfeln, die aber von Kohl bis Merkel dann doch vor allem Attrappe und schöner Marketing-Schein gewesen sind. Dem gegenüber steht dann wieder der Minimalismus vieler kleiner Punkt-zu-Punkt-Entscheidungen und Verabredungen, die trotz aller Widerstände unter dem Druck der Verhältnisse dennoch zustande gekommen sind. Für eine zukunftsgerichtete Bildungspolitik brauchen wir eine neue und nachhaltige sowie konkret gefasste Bereitschaft, die Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern verlässlich weiterzuentwickeln. Als machbares Projekt möchten wir Ihnen mit diesem Antrag die Aufwertung der seit fünf Jahren erfolgreich eingeführten Bildungsberichterstattung hin zu einem Instrument von offener Bildungskoordinierung und -beratung vorschlagen. Wir sehen hierin eine große Chance für eine bessere, offene Koordinierung der Bund-Länder-Bildungszusammenarbeit. Dazu soll die Bundesregierung ein Konzept für die Weiterentwicklung des Nationalen Bildungsberichtes vorlegen. Der Bericht soll sich künftig nicht nur wie bisher auf die wissenschaftliche Feststellung und Beschreibung von Wirklichkeiten beschränken. Er soll stattdessen ambitionierter, politischer, zielbestimmter und damit auch praxiswirksamer werden. Dafür sollen die bildungspolitischen Ziele, die von den Ländern und vom Bund gemeinsam verfolgt werden, in diesem alle zwei Jahre vorzulegenden Bildungsbericht klar bestimmt, terminiert und quantifiziert werden. Die gesamte Bildungskette von der frühkindlichen Bildung bis zur Weiterbildung ist einzubeziehen. Bei der Auswahl der Zielvereinbarungen sind dabei sowohl die auf europäischer Ebene vereinbarten Kernziele des strategischen Rahmens für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung 2020 als auch die in der Qualifizierungsinitiative für DeutschZu Protokoll gegebene Reden land von Bund und Ländern vereinbarten Ziele angemessen zu berücksichtigen. Um hier einen politischen Einschub zu machen: Es ist doch absurd, dass wir im Bildungsausschuss des Bundestages und auch hier im Plenum immer wieder mit Zielvorstellungen konfrontiert werden, die auf europäischer oder nationaler Ebene von den Exekutivgremien der Länder und des Bundes festgelegt worden sind, diese Zielvorstellungen aber der parlamentarischen Begleitung und Beratung entzogen sind, weil sie im entscheidenden Instrument zur Bildungsentwicklung in Deutschland, nämlich dem Nationalen Bildungsbericht, keine Rolle spielen. Ein Bildungsbericht, der aus seiner Analyse keine Handlungsempfehlungen und Folgerungen ableitet, kastriert sich selbst und ist damit letztlich ein verschenktes Instrument. Deshalb sind wir auch dafür, dass zu diesen Zielen auch der Grad ihrer Verwirklichung, wenn möglich landesspezifisch, ausgewiesen werden sollte. Ein solcher Ansatz, Sachstände und Zielvereinbarungen zu den bestehenden Bund-Länder-Initiativen sehr konkret zu fassen, wie es unter anderem beim Hochschulpakt 2020 bis in Details hinein vorgesehen ist, ist so auch für andere bildungspolitische Aufgabenstellungen als Methode anwendbar und hilfreich. Die Autorengruppe, die von Bund und Ländern gemeinschaftlich mit diesem Bildungsbericht beauftragt ist, soll deshalb zusätzlich zu den Zielvereinbarungen, die auf politischer Ebene zwischen Bund und Ländern respektive nur zwischen den Ländern geschlossen werden, weitere von der Wissenschaft aus als relevant erachtete Kennzahlen des Bildungsberichtes sowie bildungspolitische Maßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen Bewertungen und Handlungsempfehlungen entwickeln und im Rahmen der Bildungsberichterstattung mit vorlegen. Die Auseinandersetzung mit solchen bildungspolitischen Gutachten kann die bildungspolitische Diskussion in Bund und Ländern nur fördern und so am Ende dazu beitragen, dass dem Interesse von Bund wie Ländern, von allen bildungspolitischen Akteuren und vor allem auch von denjenigen, die von guter Bildung in Deutschland am meisten profitieren sollen, an einem möglichst hochwertigen Bildungssystem in Deutschland gedient wird. Um es noch einmal klar herauszustellen: Eine erfolgreiche, konstruktive Bildungszusammenarbeit von Bund und Ländern setzt Vertrauen, Erwartungs- und Planungssicherheit voraus. Dies gilt umso mehr, als dass das Grundgesetz im Bereich der Bildungszuständigkeiten klar zwischen Bund und Ländern ordnet, aber auch bildungsrelevante Gemeinschaftsaufgaben definiert und die in der Praxis zunehmend entscheidende Frage, wie die Schnittstellen zwischen den Bildungsphasen trotz unterschiedlicher Zuständigkeiten reibungsfrei zu gestalten sind, offen lässt. Wir erleben an allen relevanten Bildungsfragen, dass sich diese Fragen immer dringlicher stellen: Wie steht es um die Zusammenarbeit zwischen Kindertagesstätten und Schulen? Wie steht es um die Zusammenarbeit von Schulen und berufsbildenden Einrichtungen? Wie steht es um das Zusammengehen von beruflicher Erstausbildung und Weiterbildung, sei es im akademischen oder im klassisch berufsbildenden Bereich? Wir haben zugleich auch noch die Schnittstellen zwischen den verschiedenen politischen Ebenen: Wie steht es um die Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Ländern? Wie steht es um die Zusammenarbeit zwischen den Ländern und dem Bund? Auch wenn eine durchsetzungsstarke Plattform für eine gemeinsame bildungspolitische Steuerung oder Koordinierung bisher verfassungsrechtlich nicht vorgesehen ist - das praktische Bedürfnis danach besteht offensichtlich umso dringlicher. Allein schon die Übersicht über bildungsrelevante Entscheidungen in den Ländern und Kommunen zu behalten, wird immer schwieriger. Nicht anders ist es bei den Berichten über Sachstände und Fortschritte bei bestehenden Bund-Länder-Initiativen oder bildungspolitischen Zielvereinbarungen. Die entsprechenden Bildungsberichte von kommunaler Seite, von Ländern und vom Bund sind selbst Legion. Allerdings verhält sich ihre bildungspolitische Bedeutung proportional umgekehrt zu ihrer Rezeption. Diese erfolgt in der Regel nur in engen Experten- und Fachpolitikerkreisen und reicht wenig in die parlamentarische und öffentliche Meinungsbildung hinein. PISA ist hier eine Ausnahme. Umso wichtiger ist deshalb ein Koordinierungsinstrument, das es ermöglicht, dass die Erreichung europäischer wie nationaler Bildungsziele besser überprüfbar ist. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Gerade weil wir keine Allzuständigkeit des Bundes in Bildungsfragen wollen, müssen wir jetzt die vorhandenen Instrumente im konstruktiven Sinne weiter entwickeln. Das Ziel ist nicht die direkte Steuerung von Bildungsmaßnahmen durch den Bund, sondern die Etablierung und Unterstützung einer gemeinschaftlichen Zielorientierung von Bund, Ländern und Kommunen. In diesem Sinne werben wir bei der Bundesregierung und auch bei den anderen Fraktionen um Unterstützung für unsere Initiative.

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Eine zentrale Herausforderung ist die Verbesserung unseres Bildungswesens. Damit dies gelingen kann, müssen alle Kräfte zusammengenommen werden, auch und gerade die von Bund und Ländern. Das gegenseitige Beharren auf Zuständigkeiten oder Nichtzuständigkeiten behindert gute und schnelle Problemlösungen. Den Bürgerinnen und Bürgern ist es vollkommen egal, welche staatliche Stelle denn nun wofür zuständig ist. Am Ende nehmen sie uns - vollkommen zurecht - alle in die Pflicht. Wir sind also, ob wir wollen oder nicht, alle, egal ob auf kommunaler, Landes- oder Bundesebene, in der Verantwortung. Es gibt wahrlich viel zu leisten. Die aktuellen Ergebnisse der PISA-Studie haben deutlich gezeigt, dass sich Anstrengungen lohnen, dass unser Bildungswesen aber weiterhin unter unseren Erwartungen und Möglichkeiten bleibt. Die SPD-Fraktion hat mit diesem Antrag den Rahmen für einen nationalen Bildungspakt definiert. Zu Protokoll gegebene Reden Swen Schulz ({0}) Wir wollen, dass der Bund 10 Milliarden Euro jährlich zusätzlich für Bildung einsetzt. Dieses Ziel ist erreichbar, wenn wir auf Steuergeschenke und auf das falsche Betreuungsgeld verzichten und gleichzeitig Vermögende und Hochverdienende stärker zur Finanzierung heranziehen. Einige der zentralen Ziele, die mit diesen Mitteln im nationalen Bildungspakt umgesetzt werden sollen, möchte ich hier kurz skizzieren. Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Kinder und Jugendlichen in den Kindertagesstätten und in den Schulen optimal gefördert werden. Dazu braucht es zum Ersten flächendeckend kostenlose Ganztagsangebote mit kostenlosem Mittagessen. Zum Zweiten braucht es deutlich mehr pädagogisches Personal, also Lehrer, aber auch Sozialpädagogen, Erzieher, Pädagogen für Musik, Sport, Theater und anderes mehr. Das muss bezahlt werden; aber das können die Kommunen und die Länder allein unmöglich auf die Beine stellen, nicht zuletzt, weil diese Regierungskoalition ihnen mit ihrer unseriösen Finanzpolitik finanzielle Spielräume genommen hat. Der Bund muss also bei der Finanzierung helfen. Doch selbst wenn das Geld zur Verfügung steht, fallen diese Leute ja nicht vom Himmel. Um sie überhaupt zu bekommen, braucht es eine entsprechende Ausbildungs-, eine Fachkräfteoffensive. Auch hier müssen Bund und Länder zusammenarbeiten, sonst wird das wahrscheinlich in hundert Jahren nichts. Aber wie soll denn nun die Zusammenarbeit von Bund und Ländern erreicht werden? Es gibt dazu viele Überlegungen. Die Länder stellen sich unter Kooperation vor, dass der Bund ihnen möglichst viel Geld mit möglichst wenig Vorbedingungen zur Verfügung stellt, und dann machen die Länder schon alles gut. Das ist verständlicherweise nicht die erste Wahl aus Bundessicht. Der Bund wiederum hätte sicher am liebsten, wenn er Geld nur für Dinge gibt, die klar in seiner Verantwortung liegen und unter seiner Kontrolle stehen. Dann gibt es die Mischvariante der Kooperation, so wie sie im Hochschulbereich etwa beim Hochschulpakt erfolgreich angewandt wird - nachdem die SPD-Bundestagsfraktion dies bei der Föderalismusreform durchgesetzt hat. Dort nehmen Bund und Länder gemeinsam Verantwortung wahr, indem sie eine gemeinsame Ziel-, Verwaltungs- und Finanzierungsvereinbarung treffen. Die Lösung des Problems liegt möglicherweise in einer Mischung aus allen drei Bereichen. Was spricht dagegen, wenn der Bund in den von ihm verantworteten Bereichen ordentlich nach vorne prescht. Etwa bei der Versorgung von Schulen mit Sozialarbeitern? Das dürfte kaum auf den Widerstand der Länder treffen und der Bund könnte das einfach machen. Die Länder brauchen auch mehr Mittel, um ihre ureigenen Aufgaben wahrzunehmen, beispielsweise zur Einstellung von Personal. Der Bund muss ihnen also Spielraum geben, etwa durch die Überlassung von höheren Mehrwertsteueranteilen oder indem in bisherigen Mischfinanzierungen der Anteil des Bundes erhöht und die Länder dadurch entlastet werden. Das könnte etwa beim BAföG so funktionieren. Schließlich braucht es auch eine Änderung des Grundgesetzes zur Aufhebung des Kooperationsverbotes, damit so erfolgreiche Initiativen wie das Ganztagsschulprogramm der Regierung Gerhard Schröder neu ermöglicht werden. Wir haben schon lange kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Eigentlich braucht es nur den guten Willen der Akteure. Dann könnten wir mit der Bildungsrepublik Deutschland starten. Fangen wir an!

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir haben hier in dieser Woche in einer aktuellen Stunde bereits über die Ergebnisse der neuesten PISAStudie für Deutschland gesprochen. PISA hat Deutschland bildungspolitisch wachgerüttelt. Wie auch schon bei den vorangegangenen Untersuchungen wurde deutlich, dass gute Ergebnisse bei den PISA-Studien immer dort erzielt werden, wo FDP und Union verantwortlich sind. Die größten Schwierigkeiten haben dagegen die Schülerinnen und Schüler, auf deren Rücken die ideologischen Bildungsexperimente der rot-rot-grünen Landesregierungen ausgetragen werden. Und weil diese genau solche Fehlentwicklungen offensichtlich zur Kenntnis nehmen, fällt Ihnen nichts anderes ein, als Geld aus dem Bundeshaushalt zu fordern - um eigene Fehler auszugleichen. Das ist Bildungsflucht vor der Verantwortung! Machen Sie doch bitte zuerst Ihre Hausaufgaben in den Ländern, anstatt auf das Geld des Bundes zu setzen. Das wäre ehrlich, und das wäre vor allem redlich gegenüber den Kindern und Jugendlichen in den Ländern, in denen Rot-Rot-Grün regiert. Wir jedenfalls sind nicht bereit, Geld in Ihre überschuldeten Landeshaushalte zu pumpen, um Ihre verfehlten Bildungsexperimente zu finanzieren. Und was sind denn die Konsequenzen Ihrer Politik? Betrachten Sie einmal die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss! Diese ist nirgends so hoch wie in den Bundesländern, in denen Sie regieren: 7,2 Prozent in Rheinland-Pfalz, 10,6 Prozent in Berlin, und in MecklenburgVorpommern verlassen 17,9 Prozent aller Schülerinnen und Schüler die Schule, ohne über einen Abschluss zu verfügen. In Baden-Württemberg sind es gerade noch 5,6 Prozent. Dies sind junge Menschen, die es Ihrer verfehlten Bildungspolitik verdanken, dass sie sich ohne jede Chance und ohne Perspektive auf einem zunehmend hochqualifizierten Arbeitsmarkt zurechtfinden sollen. Eines zeigt sich damit doch ganz deutlich: Die rot-rot-grünen Bildungsexperimente sind die beste Garantie für weniger Bildungsgerechtigkeit und für mehr Bildungsarmut in unserem Land. Gerade beim Thema Bildungspartnerschaft kann man doch deutlich sehen, wie Anspruch und Wirklichkeit sozialdemokratischer Politik auseinanderklaffen. Dieses Land braucht endlich eine echte Bildungspartnerschaft zwischen Bund, Ländern und vor allem den Kommunen. Dafür steht diese Regierung der Mitte! Zu Protokoll gegebene Reden Als Oppositionspartei legen Sie uns heute einen umfangreichen Antrag mit mehr oder weniger sinnvollen Forderungen vor - und wenn Sie gefordert sind, dann kneifen Sie. Das konnte man bei Ihrer Blockade der BAföG-Modernisierung erleben, als Sie eine notwendige Erhöhung der Leistungen verzögert haben, und das konnte man beim nationalen Stipendienprogramm sehen. Dieses wird nun aufgrund Ihrer Blockadepolitik ausschließlich vom Bund finanziert und eben nicht in einer Partnerschaft von Bund und Ländern. So ernst ist es Ihnen mit Bildungspartnerschaften in unserem Land. Hören Sie also auf, immer nur Sonntagsreden über Bildungspartnerschaften zu halten, und gestalten Sie diese endlich. Natürlich ist es notwendig, über die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern zu diskutieren. Spannend ist, was in Ihrem Antrag nicht steht. Kein Wort zum Kooperationsverbot. Hier haben wir quer durch die Parteien sehr unterschiedliche Positionen. Hier haben Sie sich bisher als die moralischen Entrüster aufgespielt. Und jetzt schweigen Sie. Was ist da los? Hat Sie Ihr rheinland-pfälzischer Ministerpräsident zum Schweigen verdonnert? Hier haben Sie die Möglichkeit: Sagen Sie es doch offen! Wenn es um Finanzbeziehungen geht, darf es doch nicht darum gehen, dass wir über Bundesbeglückungsprogramme Milliarden in Ihre Bildungsirrwege pumpen, ohne dass Ihre Landesregierungen endlich die Fehlentwicklungen in der Bildungspolitik korrigieren. Wir werden nicht über Bundesmittel die Kürzungen ausgleichen, die Sie bei den Bildungsausgaben vornehmen. Wir werden nicht aus dem Bundeshaushalt Ihre Bildungsbürokratie finanzieren, ohne dass Sie den Schulen endlich mehr Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten geben. Und wir werden keinen Cent dafür geben, dass Sie in den Ländern den Menschen kostenfreie Kindergärten und Universitäten versprechen, während andere dafür zahlen müssen. In Ihrem Antrag kritisieren Sie die Bildungsgipfel, die angeblich ohne greifbare Ergebnisse geblieben seien. Also, meine Damen und Herren von der SPD, das ist doch nun wirklich heuchlerisch. Sie waren doch in der Regierung, als die Bildungsgipfel eingeführt wurden, und Sie haben diese doch mitgetragen. Aber wie in vielen Punkten gilt bei den Sozialdemokraten wohl auch hier, dass man sich aus Opportunismus und Wahltaktik von dem verabschiedet, was man in der Regierung beschlossen hat. Dies ist unredlich, und dies werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. Und eines sage ich Ihnen auch: Für mich sind die Bildungsgipfel auch nicht das Allheilmittel, und ich bin auch nicht überzeugt, dass die Bildungsgipfel immer genug konkrete Ergebnisse bringen. - Dies habe ich bereits in der Vergangenheit gesagt, und zu dieser Meinung stehe ich auch weiterhin. Aber dass dabei eben doch auch Ergebnisse herauskommen können, die unserer Bildungs- und Wissenschaftslandschaft positive Impulse geben, zeigt nicht zuletzt der Qualitätspakt Lehre. Und es wäre gut, wenn Sie dies auch anerkennen würden, anstatt alles immer nur schlechtzureden. Sie reden bei Bildungspartnerschaften immer nur vom rechtlichen Verhältnis zwischen Bund und Ländern. Sie reden von mehr Geld vom Bund an die Länder. Ja, der Bund hat seine Verantwortung wahrzunehmen. Und mit 12 Milliarden Euro mehr für Bildung und Forschung - dem bisher höchsten Aufwuchs - nimmt diese Regierung der Mitte ihre Verantwortung so wahr wie keine Vorgängerregierung. Ja, diese Regierung will eine ehrliche Partnerschaft zwischen allen Beteiligten. Und wir wollen klare Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern. Wir wollen mehr Freiheiten für Schulen, sich an solchen Partnerschaften zu beteiligen. Aber ich sage Ihnen gerade als bekennender Bildungsföderalist: Die Länder haben ihre Verantwortung genauso wahrzunehmen und der Bildung die höchste Priorität einzuräumen und dürfen sich nicht in die Büsche zu schlagen.

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Niemand ist unfehlbar. Aber wenn einer einen Fehler gemacht hat und das erkennt, sollte er ihn korrigieren. Die Einführung des Kooperationsverbotes zwischen Bund und Ländern in der Bildung war ein Fehler. Projekte, wie das Ganztagsschulprogramm, das bei aller berechtigter Kritik für manche sanierte Schule gesorgt hat, können nun nicht mehr vereinbart werden. Nun macht der Bund erstaunliche Verrenkungen, um doch noch irgendwie in die Bildung hineinzuregieren. Bildungsketten, Berufseinstiegsbegleiter etc. werden erfunden, um die schlimmsten Auswüchse einer verfehlten Bildungspolitik von Bund und Ländern zu kaschieren, sogar Umwege über die Bundesanstalt für Arbeit werden nicht gescheut, um Geld für die Bildungsbeteiligung Benachteiligter locker zu machen. Da wird manches zum bürokratischen Monstrum und läuft an den für Bildung Zuständigen vorbei. Dabei wäre es so einfach: mehr Geld in Schulen und Kindereinrichtungen, für Volkshochschulen und andere Träger der Erwachsenenbildung und natürlich in die berufliche Weiterbildung. Letzteres kann durchaus zumindest teilweise durch die Bundesagentur für Arbeit verantwortet werden. Aber das alles passiert nicht, jedenfalls nicht durch den Bund - er darf ja nicht -, und zu wenig durch Länder und Kommunen - die können nicht mehr. Darum hat Die Linke schon im März beantragt, das Kooperationsverbot aufzuheben. Nun wagt sich eigentlich fast niemand mehr, die Aufkündigung der Zusammenarbeit in Bildungsfragen gutzuheißen, aber es hat auch niemand den Mut, die notwendige Grundgesetzänderung in Angriff zu nehmen. Solange reicht es aber auch nicht, immer aufs Neue einzuklagen, dass man 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die Bildung stecken und - gleich wie viele Milliarden jährlich - mehr ausgeben will. Uns sind die Instrumente fürs Ausgeben abhandengekommen, und eine neue Verteilung der Geldströme zwischen Bund, Ländern und Kommunen, die eine bessere Finanzierung der Bildungsinfrastruktur möglich machen würde, ist nicht in Sicht. Außerdem sind 20 Milliarden Euro wohl zu gering bemessen; selbst die Hans-Böckler-Stiftung geht von 37 Milliarden Euro aus. Zu Protokoll gegebene Reden Aber das Problem liegt tiefer. Die jüngste PISA-Studie war noch nicht richtig veröffentlicht, da tönte es aus dem Süden des Landes, die Nordländer versauten den Durchschnitt. Aber es geht hier um den Durchschnitt, und man sollte sich damit auch nicht zufrieden geben. Bildungspolitisch verliert die Bundesrepublik als Ganzes und jede einzelne Schülerin und jeder einzelne Schüler, der oder die sich nicht ausreichend Bildung aneignen kann. Dem stehen aber noch andere Dinge im Wege als die mangelhafte Ausfinanzierung des bundesdeutschen Bildungssystems. Neulich erklärte mir eine junge Frau aus einer Besuchergruppe - sie steht kurz vor dem Abitur -, dass sie aus Bayern in ein anderes, nördlicher und östlicher gelegenes Bundesland gezogen sei und dort einen Vorteil und einen Nachteil für sich verspürte. Der Vorteil: Die Fremdsprachenausbildung war in Bayern intensiver. Der Nachteil: In Chemie fehlten ihr zwei vollständige Schuljahre an Unterrichtsstoff. Denn in Bayern wird Chemie erst von der 9. Klasse an unterrichtet, in Sachsen-Anhalt bereits ab Klasse 7. Wer für sein Abitur die zweite Fremdsprache braucht, hat Pech, wenn er nach einem Umzug die begonnene Sprache nicht weiterführen kann, weil die neue Schule sich auf andere Fremdsprachen konzentriert. Beim Abitur kommt es nämlich nicht darauf an, ob man die Fremdsprache beherrscht, sondern ob man drei Jahre dem entsprechenden Unterricht beigewohnt hat. Die Liste solcher Unmöglichkeiten ließe sich fortsetzen. Ein Zentralabitur, bei dem alle bundesweit die gleichen Aufgaben lösen, wird das nur noch verschlimmern. Dabei gibt es inzwischen für jedes Fach einheitliche Bildungsstandards, in denen akribisch genau aufgelistet wird, welche Fähigkeiten und welche Wissenskomplexe am Ende eines Bildungsganges erreicht werden müssen. Das eigentlich müsste reichen, um Vergleichbarkeit herzustellen. Im bundesdeutschen Bildungssystem sind aber Vereinbarungen, die ein halbes Jahrhundert alt sind, wichtiger als ein vielfältiges und hohes Bildungsniveau. Die Bildungspolitiker und die bildungsinteressierte Lobby der Betuchten achten peinlich genau darauf, dass ihnen keines der überkommenen Privilegien verloren geht. Dagegen scheint kein Kraut gewachsen. Fast verschämt werden darum alle möglichen Förderinstrumente entwickelt, weil man ja nicht als unsozial gelten will. Nun haben Bildungsforscher und Autoren der PISAStudie diesem System eine ziemliche Abfuhr erteilt. Aber ob Bewegung in die Sache kommt? Ich fürchte, mit einer noch ausgeprägteren Bildungsberichterstattung wird man da nicht viel ausrichten, weil der Wille zum Umsteuern nicht vorhanden ist. Das ginge nämlich auch mit den vorhandenen Instrumenten. Aber es geht nicht in diesem System. Ein Beispiel dafür ist der Ansatz der Inklusion. Das scheint zum neuen Modewort zu verkommen. Jeder benutzt es, kaum einer weiß, was das ist. Inklusion meint alle: Mädchen und Jungen, mit und ohne Behinderung, mit und ohne Migrationshintergrund, aus allen sozialen Milieus. Inklusion, die nicht auch im Gymnasium stattfindet, geht nicht; das ist Exklusion. Wenigstens die Gymnasiasten werden ausgeschlossen aus der neuen Form des Lernens. Wer es - wie die SPD - also schon für einen Fortschritt hält, Haupt- und Realschule zusammengeschlossen zu haben, der hat von Inklusion noch überhaupt nichts verstanden. In dem ausführlichen Forderungsteil hat die SPD übersehen, dass es auch bei den Lehrerinnen und Lehrern zu dramatischen Engpässen kommen wird, wenn nicht mehr Lehrkräfte ausgebildet werden. Darum hat Die Linke im Sommer ein Fachkräfteprogramm „Bildung und Erziehung“ beantragt, das könnte man zwischen Bund und Ländern sogar vereinbaren. Vielleicht wäre ja das ein Anfang für weitergehende Vereinbarungen, die endlich dem ganzen Bildungssystem und allen Lernenden in allen Ländern der Bundesrepublik zugutekommen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Advents- und Weihnachtszeit ist voll von Ritualen. Im Dezember 2010 fehlt nun ein Ritual, das Bundeskanzlerin Merkel im Jahr 2008 erfunden hat und seitdem vorantreiben wollte: „Die Bildungsgipfel auf dem Weg zur Bildungsrepublik“. - Heute ist der Tag, an dem eigentlich der Bildungsgipfel Nr. 4 hätte stattfinden müssen. Stattdessen? Fällt aus wegen „ist nicht“. Im Herbst 2008 haben Bundeskanzlerin und Bundesbildungsministerin die Länder aufgefordert, mit einer nationalen Qualifizierungsinitiative Deutschland zu einer Bildungsrepublik zu machen. Seitdem werden Bestandsaufnahmen gemacht, Übersichten erstellt und Listen ausgefüllt - mehr leider nicht. Im Dezember 2008 begannen dann die Trauerspiele, genannt „Bildungsgipfel“. Nr. 1 war im Dezember 2008 ein Warmlaufen, bei dem sich die Konflikte um Geld und Steuerung schon glasklar abzeichneten. Nr. 2 im Dezember 2009 brachte statt erster Ergebnisse einen bildungspolitischen Offenbarungseid. Statt wie angekündigt, „in die Bildungsrepublik aufzubrechen“, einigten sich Bund und Länder nur aufs Vertagen und darauf, den Finanzbedarf kleinzurechnen. Die OECD errechnet konstant einen jährlichen Mehrbedarf von gut 20 Milliarden Euro, Bund und Länder rechneten das gemeinsam schön auf nur noch 13 Milliarden Euro. Schlimmer noch: Wieder wurden die notwendigen Qualitätsziele nicht formuliert. Bildungsgipfel Nr. 3 im Sommer 2010 war dann das letzte Aufbäumen. Der unauflösbare Interessenwiderspruch wurde deutlich. Nebulöses Vertagen - Ende. Das ist kein gutes Signal gewesen. Auch wenn die PISA-Ergebnisse in der letzten Woche einen ermutigenden Zwischenstand aus den Schulen geben, so bleibt klar: Deutschland ist noch immer keine Bildungsrepublik. Schlimmer noch: Seit dem Herbst 2008 ist viel zu wenig passiert. Da stellt sich die Frage: Warum fällt der Bildungsgipfel Nr. 4 heute aus, obwohl Ergebnisse so dringend nötig wären? Die Antwort ist so kurz wie ernüchternd: weil die Kanzlerin die „Bildungsrepublik“ Zu Protokoll gegebene Reden Priska Hinz ({0}) nicht mehr für ein Gewinnerthema hält. Nach drei blutigen Nasen hat sie gelernt, dass sie ihre unionsphysikalischen Gesetze der Macht hier nicht anwenden kann. Mit der Föderalismusreform hat sie sich als Bundeskanzlerin im Bildungsbereich selbst entmachtet. Diese Erkenntnis ist in Teilen der Union nun immerhin angekommen: Bildungsministerin Schavan lässt öffentlich immer wieder verlauten, dass sie das Kooperationsverbot für einen Fehler hält. Bisher folgt aus dieser Erkenntnis leider nichts. Sobald CSU-Kultusminister Spaenle neben Frau Schavan sitzt, versteigt sie sich zu so aberwitzigen Argumenten wie -, der Föderalismus an sich stehe einer guten Bildungspolitik nicht im Wege, so bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der PISA-Ergebnisse letzte Woche. Den Föderalismus will ja auch niemand abschaffen, aber das Kooperationsverbot. Hier lässt allerdings leider auch die SPD zu wünschen übrig. Der heute vorliegende Antrag der Bundestagsfraktion ist da so wachsweich, dass ich mich frage, warum sie da der Mut verlassen hat. Statt sich klar gegen das Kooperationsverbot auszusprechen, verschwurbeln Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, die derzeitige bildungsfeindliche Verfassungslage. Zitat aus Ihrem Antrag: „Eine durchsetzungsstarke Plattform für eine gemeinsame bildungspolitische Steuerung oder Koordinierung ist verfassungsrechtlich nicht vorgesehen“. Und dann schlagen Sie allen Ernstes vor, dass der Nationale Bildungsbericht „das Koordinierungsinstrument“ sein soll, nennen ihn aber selbst ein „Hilfsinstrument“ und überfrachten ihn dann völlig? Liebe Kollegen, das ist, gelinde gesagt, undurchdacht. Wir brauchen den politischen Willen zur Zusammenarbeit, damit Bund und Länder ihre gemeinsame Verantwortung auch gemeinsam wahrnehmen können. Mit diesem politischen Willen kann dann auch die Verfassung entsprechend geändert werden. Gestern Abend hat sich die Kanzlerin routinemäßig mit den Ministerpräsidenten getroffen. Unter ferner liefen stand auch ein Bildungsthema an: die Finanzierung von zusätzlichen Studienplätzen angesichts der Aussetzung der Wehrpflicht. Was dabei rausgekommen ist, geht zulasten der Studierenden. Bund und Länder wahren ihr Gesicht, indem sie alles dem Hochschulpakt aufbürden. Die Hochschulen bleiben überfordert, weil der Hochschulpakt eh schon unterausgestattet ist. Den Studienberechtigten wird keine gute Perspektive geboten - trotz Fachkräftemangels. Ich frage mich, wann Bund und Länder endlich konkrete Maßnahmen und verbindliche inhaltliche Zielmargen im Bildungssystem vereinbaren oder wenigstens überhaupt formulieren werden. Das ist nämlich notwendig, um die Schwächen bei frühkindlicher und schulischer Bildung sowie an den Hochschulen zu beseitigen. Die Bundeskanzlerin und die Bundesbildungsministerin sollten eingestehen, dass die Überhöhung der Treffen zu „Bildungsgipfeln“ ein Fehler war. Stattdessen sollten sie sich mit den Ländern zusammensetzen und konkrete Fortschritte vereinbaren. Das ist die Aufgabe einer Bundesregierung.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4187 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen vom 29. April 2008 zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Serbien andererseits - Drucksache 17/3963 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Peter Beyer, Wolfgang Götzer, Günter Gloser, Rainer Stinner, Sevim Dağdelen und Marieluise Beck.

Peter Beyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004010, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Als Ende letzter Woche in Oslo der chinesische Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo geehrt wurde, konnte er selbst der Zeremonie nicht beiwohnen. Er ist im Nordosten Chinas inhaftiert. Seine Frau konnte ebenfalls nicht nach Oslo reisen. Sie steht in Peking unter Hausarrest. Der Stuhl des Preisträgers war nicht der einzige, der leer blieb. Gleich eine Reihe von Staaten hatten auf Druck Chinas keine Vertreter nach Oslo entsandt. Ein Signal der Stärke hingegen war die Teilnahme Serbiens. Nach heftigen Diskussionen im Lande zog Belgrad die ursprüngliche Absage zurück. Sicherlich, die Europäische Union hatte zuvor hinter den Kulissen an Serbien appelliert, beim Festakt in der norwegischen Hauptstadt Präsenz zu zeigen; denn wer die EU-Mitgliedschaft anstrebt, sollte die europäischen Werte, zu deren Kern die Menschenrechte gehören, bedingungslos teilen. Bemerkenswert am serbischen Sinneswandel waren jedenfalls die ermutigenden Erklärungen aus der Belgrader Politik, vom Präsidenten, von Regierungsmitgliedern und Abgeordneten. Überzeugend war die wahrnehmbare Kritik der Zivilgesellschaft an den Boykottplänen des serbischen Außenministers. Die Bürger halten nichts von einer Rückkehr zur längst überwunden geglaubten Ära Milosevic und allen damit verbundenen negativen Auswirkungen. Serbien war am vergangenen Freitag also in Oslo vertreten: Ein Gewinn für Europa und ein Zeichen für die Stärkung der Menschenrechte. Russlands Stimme ist ebenfalls in Serbien gut wahrnehmbar. Deshalb ist die anstehende Einleitung des Ratifikationsprozesses des Stabilisierungsabkommens mit Serbien durch den Bundestag ein richtiger und notwendiger Schritt nach vorn. Der Ratifizierungsprozess ist das Ergebnis der positiven Entwicklungen im Verhältnis Serbiens zur Europäischen Union. Die Bundesregierung hat diesen Annäherungsprozess mit Engagement und Nachdruck begleitet. Die Koalitionsfraktionen hatten Anfang Oktober dieses Jahres unter dem Titel „Beitrittsantrag der Republik Serbien zur Prüfung an die Europäische Kommission weiterleiten“ einen Antrag ins Plenum eingebracht und mit Mehrheit des Hauses verabschiedet. Denn wir befürworten, dass der Beitrittsprozess in Gang gesetzt wird. Serbien hatte zuvor im September zusammen mit allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Resolution in die VN-Generalversammlung eingebracht, die das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Kenntnis nimmt, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht gegen das Völkerrecht verstößt, und direkte Gespräche zwischen Serbien und Kosovo mit Unterstützung der Europäischen Union vorsieht. Das gemeinsame Vorgehen mit der EU zeigt, dass Serbien auf Kooperation statt Konfrontation setzt und sich klar auf einen proeuropäischen Weg begeben hat. Dieser Weg nach Europa lohnt sich für die Menschen. Serbien wird im Rahmen des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses indes hart daran arbeiten müssen, alle Kriterien der Europäischen Union vollständig und uneingeschränkt zu erfüllen. Dazu gehört die verlässliche und aktive Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof. Dazu gehören des Weiteren die regionale Zusammenarbeit und die gutnachbarschaftlichen Beziehungen auch und gerade mit dem Kosovo, einschließlich eines konstruktiven Lösens offener bilateraler Fragen. Gerade mit Blick auf die gutnachbarschaftlichen Beziehungen sind durchaus positive Entwicklungsansätze erkennbar. So stelle ich in diesem Zusammenhang erfreut fest, dass Serbien in Bosnien und Herzegowina - das war nach meinem Eindruck weitgehender Konsens in der Debatte zum Althea-Einsatz vor zwei Wochen an dieser Stelle - allmählich mehr und mehr stabilisierend wirkt. Ein weiteres Beispiel für die intensiver werdende Zusammenarbeit im ehemals jugoslawischen Raum ist die verstärkte Kooperation im internationalen Güterbahnverkehr. Und der serbische Präsident Boris Tadic hat jüngst nicht nur Zagreb besucht, sondern auch Vukovar. Zusammen mit seinem kroatischen Amtskollegen Ivo Josipovic setzte er ein starkes Signal der Versöhnung an dem Ort, der so sehr für die Schrecken des Krieges zwischen beiden Ländern steht. Es gibt sie also, die so wichtigen ermutigenden Signale, Symbole und Aktionen, die ernsthaftes Bemühen erkennen lassen. Am Ende des Tages gelten für Serbien wie übrigens für alle EU-Beitrittsaspiranten die gleichen Kriterien. Kein Beitrittsland darf zeitlich bevorzugt werden. Einen EU-Beitritt gibt es nur bei strikter, vollständiger Erfüllung aller Kriterien, ansonsten nicht. Das müssen alle am Prozess Beteiligten verinnerlichen.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vor zwei Monaten haben wir uns dafür ausgesprochen, das Beitrittsgesuch Serbiens zur Europäischen Union zur Prüfung an die Europäische Kommission weiterzuleiten, und heute geht es darum, mit der Zustimmung zur Ratifizierung des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens mit Serbien einen umfassenden rechtlichen Rahmen zu schaffen, in dem die Vorbereitungen Serbiens auf den von ihm gewünschten EU-Beitritt erfolgen. Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess, in den Serbien nach der Ratifizierung dieses Abkommens in allen EU-Mitgliedstaaten eintreten wird, ist für Serbien eine große Chance und eine große Herausforderung. Für die EU ist das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen ebenfalls eine sehr gute Möglichkeit, die Beziehungen zwischen der EU und Serbien zu gestalten. Wir bauen damit eine Arbeitsstruktur auf, und es wird regelmäßige Berichte und Konferenzen geben. Dadurch wird Serbien klar bestimmen können, wo es auf seinem Weg bei der Integration in die EU steht, und wir können klar sehen, welche Entwicklungen sich in Serbien vollziehen, und klar definieren, was wir von Serbien auf seinem Weg in die EU erwarten. Bayern hat mit Serbien im Rahmen der Zusammenarbeit in der seit 40 Jahren bestehenden Ständigen Kommission viele Erfahrungen sammeln können. Serbien gilt in der Region als verwaltungsstark und wirtschaftlich innovativ. Insofern bietet das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen durch die Heranführung an den europäischen Markt insbesondere große Vorteile für die Entwicklung der serbischen Wirtschaft und aufgrund der zentralen Lage Serbiens die Möglichkeit zur Prosperitätssteigerung in der gesamten Region. Serbien wird die einmalige Möglichkeit bekommen, von dem Expertenwissen der europäischen Beamten und von den Vorbeitrittshilfen des EU-Heranführungsinstruments IPA zu profitieren. Ich hoffe, dass Serbien diese große Chance nutzen wird und dadurch schnelle Fortschritte auf dem Weg in die EU macht. Gleichzeitig möchte ich dem Wunsch Ausdruck geben, dass Deutschland Serbien auf diesem Weg auch in der Zukunft weiterhin so eng diplomatisch begleitet, wie dies in den letzten Monaten geschehen ist. Deutschland hat unter der christlich-liberalen Regierung endlich wieder eine aktive Rolle in der Westbalkan-Politik eingenommen. Die Herausforderungen, vor denen Serbien steht, sind groß, wie der letzte Fortschrittsbericht der EUKommission zeigt: Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen, Reform des Justizwesens, Korruptionsbekämpfung und Regelung der Wahlkampffinanzierung, Klärung von Eigentumsrechten und des Status von Flüchtlingen, Reform des Arbeitsmarkts, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und des Schwarzmarktes, Fortführung der Privatisierung - all dies, um nur einige wenige Beispiele herauszugreifen, sind Aufgaben, die Serbien in den nächsten Jahren ernsthaft angehen muss. Hinzu kommen zwei weitere wichtige, für Serbien innenpolitisch höchst sensible Herausforderungen, bei denen wir das Land nicht aus der Verantwortung lassen können. Erstens muss Serbien unter Respektierung der bestehenden Grenzen einen Modus Vivendi mit Kosovo Zu Protokoll gegebene Reden finden, der dazu führt, dass die noch offenen bilateralen Fragen schrittweise mit dem Ziel gelöst werden, dass Kosovo zunehmend tatsächlich als souveräner Staat agieren kann. Die Förderung regionaler Kooperation im Zeichen eines von guter Nachbarschaft und friedlichem Herangehen geprägten europäischen Geistes gehört zu den Kernpunkten des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens. Auf der Erfüllung dieses Kernpunktes - und zwar sowohl im Verhältnis zu Kosovo als auch im Verhältnis zu seinen anderen Nachbarn, insbesondere Kroatien und Bosnien-Herzegowina - werden wir gegenüber Serbien bestehen. Zweitens muss sich Serbien seiner Verantwortung stellen, die es beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens gespielt hat. Hierbei ist die uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien von größter Bedeutung und aus meiner Sicht gehört hierzu auch ganz klar die Auslieferung von Ratko Mladić und Goran Hadžić, die wegen Kriegsverbrechen angeklagt sind. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass 2005 die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Kroatien so lange hinausgezögert wurde, bis die damalige Chefanklägerin Carla del Ponte am 4. Oktober 2005 die uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem Strafgerichtshof bestätigte. Zwei Monate später wurde der flüchtige General Gotovina auf Teneriffa festgenommen. Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, dass wir in dieser Frage eine klare und konsequente Linie verfolgen. Zu einer wahrhaftigen Aufarbeitung der Kriegsgeschehnisse gehört aber bei allen ehemaligen Beteiligten noch mehr, zum Beispiel sich zu den historischen Fakten zu bekennen, Schuld einzugestehen und sich dafür zu entschuldigen und echte Aussöhnung anzustreben. Ich finde, wir sollten hierbei Unterstützung leisten. Serbien bekommt mit dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen eine große Chance. Wir begrüßen dies und stimmen deshalb dem Gesetzentwurf zu.

Günter Gloser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002660, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Menschen in Südosteuropa vertrauen auf das Versprechen einer europäischen Perspektive. Mit diesem Ziel vor Augen unternehmen sie große Anstrengungen, um ihre Länder an europäische Standards anzupassen. Mit diesem Ziel vor Augen muten Politiker in dieser Region ihren Wählerinnen und Wählern harte Reformschritte zu. Deshalb sollten wir Serbien wie auch die anderen Länder der Region auf ihrem Weg in die Europäische Union wohlwollend begleiten und unterstützen. Denn wenn wir ihnen am Ende ihrer Bemühungen die Tür vor der Nase zuschlagen, werden wir nicht nur eine Entwicklungsmöglichkeit für die Europäische Union verpasst haben. Wir werden mitten in der EU - denn die Länder des Balkans sind schließlich vollständig von EULändern umringt - erneut massive Sicherheitsprobleme haben, etwa politische, soziale und ethnische Unruhen, Migration und möglicherweise auch wieder bewaffnete Konflikte. Für eine mögliche Erweiterung der EU müssen aber nicht nur die Länder Südosteuropas noch viele Voraussetzungen erfüllen. Auch die EU selbst muss erst noch erweiterungsfähig werden. Denn Europa scheint ja weiterhin in einer Dauerkrise zu sein. Trotz wirtschaftlichen Aufschwungs gibt es nur noch ein Thema: die Staatsfinanzen und den Euro. So wichtig das auch ist, durch diese Debatten werden wichtige Reformthemen hintangestellt. Eigentlich gilt es ja, Europa nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wieder flottzumachen und auf Kurs zu bringen. Stattdessen wird die EU weiter auf unbestimmte Zeit auf das Trockendock gelegt. Was wir damit riskieren, habe ich eingangs dargestellt. Auch deshalb ist die Verunsicherung in der deutschen Europapolitik, die Kanzlerin Merkel und ihr Außenminister Westerwelle zu verantworten haben, nicht nur bedauerlich, sondern höchst gefährlich. Europa braucht Orientierung und Klarheit über die eigene Entwicklung. Die derzeitige Bundesregierung liefert leider das Gegenteil: Sie erzeugt den Eindruck von nationalem Egoismus und verhindert damit nicht nur eine positive Entwicklung in Europa, sondern sie schwächt in der Folge auch die dringend notwendige Fähigkeit der EU zu einer Erweiterung in Südosteuropa. Im Fall von Serbien ist das besonders bedauerlich. Serbien als ehemaliger Kriegsgegner der NATO im Kosovo-Krieg 1999 hatte und hat wohl von allen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens den weitesten Weg nach Europa zu gehen. Umso mehr müssen wir anerkennen, welche Strecke Serbien erfolgreich zurückgelegt hat, und das Land weiter unterstützend und sehr aufmerksam begleiten. Heute hat Serbien bei allen Problemen, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, auf jeden Fall einen europäischen Weg eingeschlagen und manchen Nachbarn auf dem Weg nach Europa sogar überholt. Angesichts dieser Erfolge erwartet und verdient das Land unsere aktive Unterstützung und Begleitung. Für die Menschen in Serbien selbst stellt sich die Situation freilich etwas anders dar. Sie verspüren jetzt - nach den beschriebenen historischen Umbrüchen schmerzlich die Mühen der Ebene. Die europäische Orientierung der derzeitigen Regierung wird zwar mehrheitlich von der Bevölkerung mitgetragen - selbst in der Kosovo-Frage sind viele Menschen pragmatisch eingestellt -, Inflation, Arbeitslosigkeit, Bürokratie, Korruption und organisierte Kriminalität lassen sich aber nicht von heute auf morgen bekämpfen. Wie überall messen die Menschen eine Regierung letztlich an dem, was bei ihnen persönlich ankommt. Die Erfahrung anderer Reformländer in Mittel-, Ostund Südosteuropa zeigt, dass die Zeitspanne kurz ist, in der Reformen die volle Unterstützung der Menschen haben. Soziale Härten und wachsende soziale Ungleichheiten können schnell den Reformeifer untergraben. Deshalb ist es wichtig, dass besonders die wirtschaftliche Öffnung und die Modernisierung von Verwaltung und Justiz zügig vorangetrieben und die weit verbreitete Korruption effektiv bekämpft wird. Dies sind auch aus Sicht der Europäischen Union die wichtigsten Arbeitsfelder für weitere Reformen. Und Zu Protokoll gegebene Reden machen wir uns nichts vor: Ohne den freundschaftlichen Druck aus Brüssel, ohne den ständigen Wettbewerb unter den Ländern der Region würde es viele positive Entwicklungen nicht geben. Deshalb müssen wir kritisch sein. Deshalb dürfen wir keine politischen Rabatte für Beitrittskandidaten geben. Deshalb müssen wir aber auch die europäische Perspektive als positiven Anreiz glaubwürdig anbieten. Wenden wir uns aber noch einmal der internationalen Diplomatie zu: Die nach einigem Zögern doch sehr konstruktive Reaktion Belgrads auf das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zur Unabhängigkeit des Kosovo bedeutete für die serbische Führung ein hohes politisches Risiko. Sie hat es auf sich genommen und ist mit der formellen Empfehlung der EU-Außenminister zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zur EU zurecht belohnt worden. Dieser Punkt entspricht geradezu mustergültig den drei Grundprinzipien des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses: nämlich erstens, den Ländern der Region attraktive Anreize für eine europäische Orientierung zu geben und mittelfristig die volle Integration in die EU in Aussicht zu stellen, zweitens dafür auch mutig Reformschritte und umfassende Kooperation zu verlangen und drittens die regionale Zusammenarbeit zu intensivieren. Das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen stellte den Anreiz dar, den Serbien brauchte, um auf einen konstruktiven Weg der Auseinandersetzung mit der Existenz eines unabhängigen Kosovo einzuschwenken. Die Änderung der harten Haltung Serbiens war das Ergebnis. Das ist eine erhebliche Leistung angesichts der Stimmung in dem durch den Verlust des Kosovo noch immer traumatisierten Land. Die in Aussicht gestellten Verhandlungen zwischen Serbien und dem Kosovo werden die regionale Zusammenarbeit stärken und zur Einsicht beitragen, dass mittel- und langfristig beide Seiten ein großes Interesse an einer umfassenden Zusammenarbeit haben. Wenn sich diese Erkenntnis erst durchsetzt, werden sich auch Probleme wie die Situation der serbischen Minderheit im Kosovo oder die Anerkennung von Zolldokumenten des Kosovo durch Serbien lösen lassen.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Europäische Union hält Wort, und Deutschland hält Wort: Wir stehen zu der Zusage, dass die Zukunft der Länder des westlichen Balkans in der Europäischen Union liegt. Wir gehen dabei Schritt für Schritt vor, und nun steht ein weiterer konkreter Schritt an. Die Bundesregierung hat dem Deutschen Bundestag das Assoziierungs- und Stabilisierungsabkommen der Europäischen Union mit Serbien zur Ratifizierung vorgelegt, und die FDP unterstützt diesen Antrag. Diese Ratifizierung ist, gemeinsam mit der Weiterleitung des serbischen Beitrittsantrages an die Kommission, ein klares Signal an Serbien, dass wir Serbiens Weg in die Europäische Union voll und ganz unterstützen. Ich will hier aber auch noch einmal ganz klar sagen: Serbien muss die notwendigen Bedingungen dafür erfüllen. Wir haben hier im Deutschen Bundestag im Oktober einen Antrag beschlossen, in dem wir die Bundesregierung aufgefordert haben, sich für die Weiterleitung des Beitrittsantrages Serbiens an die Europäische Kommission einzusetzen. Das ist in der Zwischenzeit erfolgt. Wir haben in diesem Antrag aber auch ganz deutlich gemacht, dass Serbien sich nicht auf bisherigen Fortschritten ausruhen darf. Wir haben ganz deutlich die Voraussetzungen für die weitere Annäherung benannt. Das sind, neben den Kopenhagener Kriterien, eben auch die beiden folgenden ganz wichtigen Punkte: volle Kooperation mit dem internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag und eine einvernehmliche Grenzregelung mit dem Kosovo. Von diesen Kriterien werden und können wir nicht abgehen, wenn wir das Wertefundament und die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nicht gefährden wollen. Ich habe es immer für fair gehalten, das von Anfang an ganz klar zu sagen und Serbien hier keine falschen Hoffnungen zu machen. Ich halte es für besser, von Anfang an die Karten auf den Tisch zu legen, denn nur dann können wir Serbien auch zusagen, dass es keine weiteren Hürden geben wird. Wie sieht es nun mit beiden Punkten aus? Die Gespräche mit dem Kosovo sind in Vorbereitung. Hier gab es natürlich durch die Neuwahlen im Kosovo Verzögerungen. Ich hoffe aber, dass auf der technischen Ebene bald Gespräche beginnen können. Wir werden beide Seiten genau beobachten und auch jeden für sich bewerten. Niemand muss befürchten, zur Geisel eines anderen gemacht zu werden. Ich warne aktuell aber die serbische Seite ganz ausdrücklich, die vom Europarat veröffentlichten Vorwürfe gegen den amtierenden kosovarischen Ministerpräsidenten Hashim Thaći als Vorwand für weitere Verzögerungen zu missbrauchen. Diesen Vorwürfen muss eindeutig nachgegangen werden. Sie sind aber kein Grund, die dringend notwendigen Gespräche über praktische Kooperation zwischen Serbien und Kosovo zu verschieben. Die uneingeschränkte Kooperation mit dem internationalen Kriegsverbrechertribunal ist unabdingbare Voraussetzung für weitere Fortschritte. Hier müssen und werden wir genau hinschauen. Die letzten Äußerungen von Chefankläger Brammertz mahnen stärkere Bemühungen Serbiens an. In seinem Bericht vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vom 6. Dezember 2010 verlangt er von Serbien einen pro-aktiveren Ansatz zu Festnahme von Ratko Mladić und Goran Hadžić. Die serbische Regierung müsse deutlicher machen, dass sie Unterstützungsnetzwerke nicht toleriere, sondern im Gegenteil jede Unterstützung der Angeklagten bei ihrer Flucht strafbar sei. Der Schlüssel zur Festnahme von Mladić und Hadžić liegt nach Brammertz in Serbien. Hier muss es also dringend klarere Bemühungen geben. Das ist auch mein Appell an die serbische Regierung: Unterstützten Sie uns deutsche Politiker durch gute Nachrichten aus Ihrem Land. Wir haben in Deutschland und in der gesamten EU eine gewisse Erweiterungsmüdigkeit. Wir Politiker in Deutschland werden dauerhaft unsere Wählerinnen und Wähler nur dann von neuen Beitritten überzeugen können, wenn wir substanzielle Zu Protokoll gegebene Reden Fortschritte der Kandidatenländer vorweisen können. Politische Rabatte kann sich die Europäische Union nicht mehr leisten, und es wird sie auch nicht mehr geben. Die Tür zur Europäischen Union bleibt offen. Den Weg hindurch gehen müssen die Länder selber. Dazu erfolgt jetzt hier ein weiterer wichtiger Schritt. Ich hoffe und wünsche mir eine Entwicklung in Serbien, die uns ermöglicht, weitere Schritte schnell folgen zu lassen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der deutsche Außenminister Westerwelle ließ in seiner Pressemitteilung zur Wahl im Kosovo am vergangenen Wochenende verlauten: Ich bin zuversichtlich, dass der 12. Dezember ein erfolgreicher Tag für die Demokratie und die Menschen in diesem jungen Staat wird. Nach der Wahl hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der EU-Außenbeauftragten Ashton und des EU-Erweiterungskommissars Stefan Füle: Wir freuen uns darauf, mit der neuen kosovarischen Regierung zusammenzuarbeiten und baldmöglichst den Dialog zwischen Pristina und Belgrad zu beginnen. Einen Tag zuvor hatte der Europarat einen Bericht von Dick Marty veröffentlicht, nach dem der wiedergewählte kosovarische „Regierungschef“ Hashim Thaci während des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien schwere Kriegsverbrechen an Serben begangen habe ein Krieg, den die damalige rot-grüne Bundesregierung mit teilweise gefälschten Berichten über serbische Massaker und „Hufeisenpläne“ begründete. Aus dem Bericht geht auch hervor, dass Thaci bis heute ein führender Kopf des organisierten Verbrechens sei und sich wegen seiner politischen Ämter und seiner guten Kontakte zu westlichen Regierungen und Geheimdiensten „unberührbar“ fühle. Die NATO, die EULEX, der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und sämtliche westlichen Geheimdienste wüssten von den schmutzigen Geschäften der kosovarischen „Regierungen“, hätten aber ihre Ermittlungen auf politischen Druck hin eingestellt. Laut dem Bericht des Europarates hätten sie sogar Beweismittel vernichtet. Das verwundert kaum. Denn es war Hashim Thaci, der nach Verhandlungen mit der deutschen und den europäischen Regierungen im Februar 2008 die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo ankündigte, die bereits nach wenigen Tagen von der deutschen Regierung anerkannt wurde. Der deutsche Geheimdienst warnte damals schon, hier werde ein Mafiastaat errichtet. Ende August traf sich Westerwelle noch mit Thaci, schüttelte - wie zuvor schon seine grünen und rosaroten Vorgänger Fischer und Steinmeier - diesem Kriegsverbrecher die Hand und brüstete sich damit, dass Deutschland „einer der ersten Staaten“ war, „die die Republik Kosovo als unabhängigen Staat anerkannt haben“. Bundesaußenminister Westerwelle wurde bei seiner damaligen Reise auf den Balkan nicht müde, auch den folgenden Satz zu sagen: „Das, was uns betrifft, gehört nach Brüssel und nicht nach New York.“ Was er damit gemeint hat, war unverblümt: Hier in Europa gilt unser eigenes Gesetz und nicht das Völkerrecht. Dieses Gesetz schreiben wir in Brüssel, und wir schreiben es in jedem Fall neu, je nach unseren Interessen. Deshalb erklären wir die Abspaltung des Kosovo für legitim, während wir drohen, die Unabhängigkeit der Republik Srpska von Bosnien und Herzegowina notfalls auch mit Waffengewalt zu verhindern. Es ging damals um einen Resolutionsentwurf, den Serbien in die UN-Vollversammlung eingebracht hatte, der erneut - im Einklang mit dem Völkerrecht und den vorangegangenen UN-Resolutionen - die Prinzipien der Souveränität und territorialen Unversehrtheit betonte und neue Statusverhandlungen im Rahmen der UN einforderte. Deutschland drohte damals, die Weiterleitung des serbischen Beitrittsersuchens zur EU nicht an die Kommission weiterzuleiten, sollte Serbien von diesem Entwurf nicht Abstand nehmen. Serbien knickte ein und brachte stattdessen einen neuen Entwurf ein, in dem die EU aufgefordert wurde, einen Dialog zwischen Belgrad und Pristina zu moderieren. Deutschland hat somit verhindert, dass die UN-Vollversammlung im Namen des Völkerrechts zur Sezession des Kosovo Stellung nehmen konnte und somit tatsächlich das Völkerrecht durch ein Brüsseler Recht ersetzt. In diesem Zusammenhang ist auch zu verstehen, warum wir erst heute über den vorliegenden Gesetzentwurf debattieren, mit dem ein Abkommen vom Frühjahr 2008 ratifiziert werden soll. Das Stabilisierungsabkommen, über das wir heute diskutieren, ist datiert auf den 29. April 2008. Abgeschlossen wurde es zu diesem Zeitpunkt, um die Pro-EU-Kräfte bei den damals stattfindenden Parlamentswahlen in Serbien zu stärken. Dass das Abkommen so bald nicht ratifiziert würde, wurde schon damals offen ausgesprochen. Die Linke warnt davor, den EU-Beitrittsprozess zur Aushebelung des Völkerrechts zu missbrauchen. Das Völkerrecht gilt auch für Europa, und die Kriegsverbrecher aller Seiten müssen im gleichen Maße verfolgt werden. Sie können nicht die einen vor Gericht stellen und die anderen zum „Regierungschef“ eines illegitimen Mafiastaates machen. Die Linke fordert die Bundesregierung auf: Kündigen Sie den Pakt mit dem Teufel, und geben Sie Ihre Unterstützung für die Sezession des Kosovo auf! Zuletzt noch zum Inhalt dieses Abkommens, der hier leider sehr kurz kommt, da das Abkommen instrumentalisiert wurde. Das Abkommen zwingt Serbien - ich zitiere aus dem Gesetzentwurf -, „seinen Außenhandel gegenüber der Union vollständig zu liberalisieren“. Dadurch sollen - ich zitiere weiter - „deutschen Unternehmen verbesserte Exportchancen“ geboten und „die Niederlassung von Unternehmen aus der Europäischen Union in Serbien“ erleichtert werden. Schon heute drängen deutsche Telekommunikations- und Energieunternehmen massiv auf den serbischen Markt, was zu steigenden Preisen für die Bevölkerung führen wird. Zugleich wird Serbien gezwungen, Löhne und Sozialleistungen drastisch zu kürzen, um, wie es heißt, „dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der Europäischen Union standhalten zu können“. Zugleich lehnt die Zu Protokoll gegebene Reden Sevim Daðdelen Bundesregierung jeden „Beitrittsautomatismus“ ab. Das heißt: Selbst wenn Serbien all diese neoliberalen Reformen durchführt, wird es vermutlich niemals selbst in die EU aufgenommen werden und mitbestimmen können. Erkauft wird dieses Abkommen mit Heranführungshilfen und Darlehen in Milliardenhöhe. Wenn diese eines Tages versiegen, wird sich die EU mit dem nächsten völlig verarmten und verschuldeten Staat an ihrer Peripherie konfrontiert sehen. Mit ihrer neoliberalen Politik arbeitet die Bundesregierung mitten in der Krise schon an den Zusammenbrüchen und Aufständen von morgen. Die Linke lehnt diesen Irrweg ab und fordert eine Abkehr vom Neoliberalismus und eine Rückkehr zum Völkerrecht. Maxime deutscher Außenpolitik muss Demokratie, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit sein.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und Serbien ist ein wichtiger Schritt für beide Seiten. Er bringt das Land der EU näher, und er trägt dazu bei, im noch immer glimmenden Krisenherd mitten in Europa die Voraussetzungen für eine sich dynamisch entwickelnde Region zu schaffen. Das ist jedenfalls die Hoffnung, die wir sicher hier im Bundestag und in der EU alle gemeinsam teilen. Deshalb begrüßen wir dieses Abkommen als Chance und nicht zuletzt als Signal an Serbien. Wir tun dies, obwohl nach wie vor eine der lange Zeit geltenden Bedingungen für sein Zustandekommen nicht erfüllt ist: die Überstellung von Ratko Mladić und Goran Hadžić nach Den Haag. Mehr noch: Der jüngste Bericht des Chefanklägers zur Bewertung der Zusammenarbeit Serbiens mit dem Internationalen Gerichtshof ist deutlich kritisch. Er formuliert es natürlich diplomatisch, aber es ist zu verstehen: Nach wie vor fehlt der politische Wille in Serbien, diese Bedingung zu erfüllen. Brammertz fordert zugleich - wiederum verklausuliert anhaltenden Druck seitens der EU, ohne den eine Auslieferung der Beschuldigten wohl kaum zu erwarten sei. Es steht also noch viel Arbeit bevor, die eigentlich vor der Geltung des Stabilisierungsabkommens zu leisten gewesen wäre. Aber auch das Abkommen selbst ist zugleich ein Katalog zu erfüllender Aufgaben - und auch dies für beide Seiten. Denn es verpflichtet die EU zu dauerhaftem und verstärktem Engagement, und es verpflichtet Serbien zur Erfüllung der Bedingungen, derer es zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen bedarf. Dabei geht es nicht allein um innenpolitische Entwicklungen, sondern auch um intensivierte regionale Kooperation. Denn trotz aller Fortschritte ist die ganze Region im Südosten Europas nach wie vor eine ernsthafte Herausforderung für die europäische und nicht zuletzt deutsche Politik. Deutschland als größter Staat der EU und Verursacher eines Teils der historischen Lasten in Südosteuropa in den großen Kriegen des vergangen Jahrhunderts hat hier besondere Verantwortung. Es gibt ein miteinander verflochtenes Dreieck aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo. Sie alle wollen in die EU, und sie alle sollen in die EU. Ein schwarzes Loch in ihrer Mitte kann sich die EU auf Dauer nicht leisten. Dazu müssen jedoch die Beziehungen zwischen diesen drei Nachbarn verbessert werden. Was sie entwickeln müssen, ist konstruktive Zusammenarbeit. Vor einigen Wochen habe ich hier im Plenum eine falsche Information verbreitet. Dafür möchte ich mich entschuldigen und das heute richtigstellen. Die serbische Regierung war trotz vorheriger Ankündigung nicht geschlossen zur Amtseinführung des neuen serbischen Patriarchen in das kosovarische Pec gereist, und Serbien beansprucht auch nicht diese Stadt, wie es das im Fall von Nord-Mitrovica tut. In Pec steht das Patriarchatskloster, dessen Schutz Serbien beansprucht und auch erhält. Aber Serbien beharrt auf dem Kosovo als Teil seines Staates und erschwert so die Stabilisierung des Kosovo. Verschiedene internationale Institutionen agieren deshalb dort nebeneinander und stehen sich oft genug im Weg. Eine dynamische Wirtschaft kann so kaum entstehen. Problematisch bleibt auch die Entwicklung BosnienHerzegowinas. Noch immer ist das Land blockiert durch das Fehlen einer modernen Verfassung. Der Vertrag von Dayton bleibt Grundlage und Hürde zugleich. Und der serbische Präsident Tadic tritt im Wahlkampf mit dem härtesten Blockierer einer Verfassungsreform, dem Präsidenten der serbischen Teilrepublik Dodik, und der früheren Vertrauten des Serbenführers Karadzić Biljana Plavsić auf. Die beiden Staaten, die Hauptopfer der Kriege waren, bleiben auch heute zurück, und Serbien tut sich schwer mit seiner Vergangenheit und Gegenwart. Deutschland und die EU, involviert in die Geschichte der Kriege und mitverantwortlich für ihr Ende, sind angesichts des Reformstaus in den Ländern des Balkans müde geworden. Jetzt werden auch die Mittel zur Unterstützung der Region gekürzt. Aber wir brauchen Dynamik und Anstrengungen. Wir brauchen ständiges und anhaltendes, ernsthaftes Engagement. Das aber fehlt, teils in der Region selbst, teils in der EU. Außenminister Westerwelle hat mit seinem ersten und bisher einzigen Besuch zur Entspannung im serbisch-kosovarischen Verhältnis beigetragen. Vor Zeiten gab es Außenminister, die in anderen Regionen monatelange Pendeldiplomatie betrieben, um Einigungen zu erzielen, Verhandlungen voranzubringen. Ich wünschte mir einen deutschen Außenminister, der heute dasselbe auf dem westlichen Balkan tut und der für die Anerkennung der staatlichen Realitäten auch in der EU wirbt, um dort endlich Geschlossenheit zu erzielen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3963 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse anderweitige Vorschläge dazu? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten René Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Für eine Stärkung der breit aufgestellten europäischen Grundlagenforschung - Keine finanziellen Einschnitte beim Europäischen Forschungsrat zu Gunsten des Einzelprojekts ITER - Drucksache 17/3483 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Stefan Kaufmann, René Röspel, Martin Neumann, Petra Sitte und Sylvia Kotting-Uhl.

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Grundanliegen des vorliegenden Antrags der SPD - Stärkung des Europäischen Forschungsrates - ERC - und eine ausgewogene Finanzierung des ITERProjektes - ist richtig. Auch die Forderung nach Verringerung von administrativen Hürden für den ERC erhält unsere Unterstützung. Die Bundesregierung ist jedoch schon weiter als die Opposition: Bereits im Frühjahr 2010 hat die Bundesregierung in einem Leitlinienpapier die deutschen Vorstellungen für die Struktur des 8. Forschungsrahmenprogrammes der EU-Kommission übermittelt. Dieses Leitlinienpapier beinhaltet auch eine finanzielle und administrative Stärkung des ERC. Außerdem gehen die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Juli mit dem Ziel einer besseren Kostenkontrolle und einer Verbesserung des Managements bei ITER auf die Initiative der Bundesregierung zurück. Vor diesem Hintergrund fordern Sie nur, was die Bundesregierung schon lange getan hat. Ihre weiteren Forderungen, zum Beispiel jene, dafür Sorge zu tragen, dass ITER nicht auf Kosten gut funktionierender und auch international als innovativ bewerteter Institutionen und Projekte finanziert wird oder dass ITER nicht auf Kosten der Erforschung und Nutzung der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz finanziert wird, sind eher dazu bestimmt, das ITER-Projekt zum Scheitern zu bringen. Auch das Abstimmungsverhalten Ihrer Parteikollegen im Haushaltsausschuss des Europäischen Parlaments macht dies deutlich. Der am 6. Dezember im Trilog mit Rat, Kommission und Vertretern des EP mühsam ausgehandelte Kompromiss über die Bereitstellung zusätzlicher Mittel für das ITER-Projekt wurde nicht zuletzt von Ihrer Fraktion im Haushaltsausschuss zu Fall gebracht. Von einer konstruktiven Opposition keine Spur. Auch Ihre Einlassungen zur Energieproblematik sind realitätsfremd. So behaupten Sie in Ihrem Antrag, die Fusionsforschung käme als Energiequelle definitiv zu spät. Dabei ist bekannt, dass noch in diesem Jahrhundert der weltweite Strombedarf etwa auf das Sechsfache des heutigen Bedarfs ansteigen wird. Selbst Greenpeace rechnet mit einer Vervierfachung des Bedarfs. Dieser von Experten prognostizierte Bedarf an Energie ist mit keiner der heute bekannten Technologien zu decken, auch nicht etwa mit regenerativen Energien. Die Fusionsenergie verspricht vor diesem Hintergrund gegenüber den bekannten Energiequellen derart große Vorteile, dass sich alle Anstrengungen lohnen, ihr zum Durchbruch zu verhelfen. Das gilt im Übrigen auch dann, wenn man das Projekt noch der Grundlagenforschung zurechnet. Funktioniert die Kernfusion wie geplant, können wir unseren Energiebedarf ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts einfach und sauber decken. Lassen Sie mich Ihnen nur vier Punkte zu bedenken geben: Erstens: Die für den Fusionsprozess nötigen Grundstoffe - einerseits Deuterium, das in natürlichem Wasser enthalten ist, andererseits Tritium, das aus Lithium gewonnen wird - sind nahezu überall auf dieser Welt vorhanden; der Vorrat ist nach menschlichen Maßstäben unerschöpflich. Da die Fusionstechnik eine extrem hohe Energiekonzentration zur Folge hat, wird im Gegensatz zur Solar-, Wind- und Wasserkraft auch nur sehr wenig Fläche verbraucht. Klimatische Schwankungen haben - wie auch bei der Kernspaltung - keinerlei Einfluss auf die Fusion. Gerade deshalb ist die Kernfusion ideal für die Grundlastversorgung von Ballungsräumen sowie der Großindustrie. Zweitens: Bei der Kernfusion entstehen praktisch keinerlei CO2-Emissionen. Es ist eine saubere Energieform. Wir dürfen daher die Kernfusion - anders als Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in Abs. 2 Ihres Antrags - nicht gegen die Förderung erneuerbarer Energien und der Energieeffizienz ausspielen. Bei der harten internationalen Konkurrenz liegt die Zukunft Deutschlands als Innovationsstandort in der Forschung. Die Fortführung von ITER hat also nichts damit zu tun, die Förderung erneuerbarer Energien oder Forschungsausgaben in diesem Bereich zurückzufahren. Im Übrigen ist die Kernfusion aufgrund der faktisch unbegrenzten Verfügbarkeit ihres Brennstoffs den erneuerbaren Energien gleichzustellen. Drittens: Die Kernfusionstechnologie bietet auch jenseits der Energiegewinnung im Kraftwerk bahnbrechende Entwicklungsmöglichkeiten. So ist beispielsweise eine Weiterentwicklung für den wichtigen Bereich der Antriebstechnik vorstellbar. Viertens: Wir stehen in internationaler Verantwortung. Wie Sie in Ihrem Antrag hervorheben, sind am ITER-Projekt neben der EU auch Japan, Russland, die USA, China, Indien und Südkorea beteiligt. Das bietet Chancen, setzt uns aber auch einer erhöhten Beobachtung aus. Unsere Partner beobachten sehr genau, wie sich die Bundesrepublik bei diesem wichtigen, zukunftsweisenden Projekt verhält. Auch das verpflichtet uns zu einer sehr gewissenhaften Prüfung des weiteren Vorgehens. Bei einem Ausstieg müssen insbesondere die Auswirkungen auf die europäische Forschungszusammenarbeit, auf die deutschen Fusionsprojekte in Garching und Greifswald, aber auch auf andere deutsche Großforschungsprojekte mit internationaler Beteiligung wie XFEL in Hamburg und FAIR in Darmstadt geprüft werden. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass unsere deutschen Forschungseinrichtungen, zum Beispiel die Helmholtz-Zentren in Jülich und am KIT in Karlsruhe, vor allem aber das IPP in Garching, bisher überproportional von den Euratom-Mitteln für ITER profitiert haben. Ohne ITER ist Garching in seiner Existenz bedroht, ohne ITER fehlt Wendelstein 7-X in Greifswald bzw. dem Nachfolger DEMO ab circa 2025 die Perspektive. Die deutsch-französische Zusammenarbeit und Freundschaft könnte aufgrund des ITER-Sitzes in Cadarache und des damit zusammenhängenden starken französischen Interesses am Projekt in Mitleidenschaft gezogen werden. Auch diese Überlegungen gehören zu einem ehrlichen Umgang mit der Zukunft von ITER. Eine einseitige Kündigung des ITER-Abkommens ist - abgesehen von den außenpolitischen Verwerfungen - auch forschungs- und umweltpolitisch unverantwortlich. Das ITER-Abkommen enthält im Übrigen auch keine Rücktrittsmöglichkeit für Euratom als einem der Vertragspartner. Gemäß Art. 24 Abs. 6 ist die Beendigung des Vertrages nur durch eine Vereinbarung aller Partner möglich. Wir - die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bekennen uns zur Fusionsforschung, weil wir die darin liegenden immensen Chancen zur Sicherung unserer Energieversorgung über das Jahr 2050 hinaus sehen. Die Kernfusion ist eine der wichtigsten Zukunftstechnologien überhaupt. Bei Ihnen hingegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, lässt sich keine klare Position erkennen. Einerseits erklären Sie Ihre grundsätzliche Zustimmung zum ITER-Projekt und beschreiben in Ihrem Antrag die Fusionsforschung als einen „spannenden Forschungsbereich“, dessen „Vorteile die dafür langfristig verfügbaren Ressourcen und die relative Umweltverträglichkeit im Vergleich zur Kernspaltung sind“. Andererseits versuchen Sie alles, um das Projekt zu torpedieren. Dies ist ein erneutes Beispiel für die unklare Haltung der Sozialdemokraten zu beinahe allen politischen Themen. Es ist schade, dass Sie in der Opposition immer mehr die Regierungsfähigkeit verlieren, sich mehr und mehr den Grünen annähern und offensichtlich eine zweite Dagegenpartei werden wollen. Festzuhalten bleibt: Genau wie bei Stuttgart 21 ist unklar, ob die SPD das ITER-Projekt unterstützt oder nicht. Bekennen Sie Farbe und sagen Sie endlich, ob Sie für oder gegen das ITER-Projekt sind. Wir stimmen jedenfalls mit voller Überzeugung gegen Ihren Antrag.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Letzte Woche waren wir auf Ausschussdelegationsreise in Brüssel. Gemeinsam haben wir mit Experten der Ständigen Vertretung, des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission, des Europäischen Rates, der deutschen Forschungsorganisationen und der Wirtschaft über die europäische Forschungspolitik gesprochen. Das waren zwei sehr intensive und hoch spannende Tage, für deren Organisation ich mich hier noch einmal ganz ausdrücklich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Ständigen Vertretung und des Deutschen Bundestages bedanken möchte. Ich glaube, keiner der Delegationsteilnehmerinnen und -teilnehmer widerspricht, wenn ich zusammenfassend sage, dass alle Vertreter eine europäische Forschungsinstitution am meisten gelobt haben: den Europäischen Forschungsrat - ERC. Dieses seit 2007 auf der europäischen Ebene neue Instrument ist Bestandteil des 7. Forschungsrahmenprogramms - FRP. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft - DFG - hat dabei in Bezug auf Arbeitsweise und Strukturen Pate gestanden. Wie bei der DFG fördert der ERC einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Fachrichtungen der Grundlagenforschung. Die Umsetzung des Bottom-up-Prinzips, Projekte werden dabei von der Basis her von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entwickelt und allein nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten bewertet, ist hierbei ein Kernelement der Förderung. Eine Steuerung „von oben“ etwa seitens der EU-Kommission soll nicht stattfinden. Dies ist für die europäische Forschungsförderung ein neues Prinzip. Für den Zeitraum 2007 bis 2013 stehen für den ERC circa 7,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Diese werden als „starting grants“ für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie als „advanced grants“ an bereits etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben. Die Nationalität der Bewerberinnen und Bewerber spielt dabei keine Rolle; sie müssen aber innerhalb der EU oder in den assoziierten Staaten forschen. Dass die ausgewählten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur weltweiten wissenschaftlichen Spitzenklasse gehören, zeigt exemplarisch die Verleihung des diesjährigen Nobelpreis für Physik an Kostya Novoselov. Herr Novoselov erhielt bereits 2008 einen „starting grant“. Dr. Jack Metthey, Direktor der ERC Executive Agency, erklärte uns letzte Woche in Brüssel, dass im Vergleich zum Durchschnitt die Bewerbungen von Deutschen für einen ERC-Grant überproportional positiv beschieden wurden. Hier wirkt sich wohl die gute Vorbereitung der Anträge aus, unter anderem durch die DFG. Feststellen muss man aber auch, dass wir Deutschen „Exporteure von Talenten“ sind. Denn viele deutsche Staatsbürger, die einen Grant gewinnen, forschen mit diesem Geld im europäischen Ausland, insbesondere in Großbritannien. Auch ziehen wir immer noch zu wenig ausländische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Deutschland. Hier müssen wir auf Bundes-, aber auch Landesebene unbedingt nachbessern. Zu Protokoll gegebene Reden Bei aller Euphorie für das Instrument war bei der Delegationsreise aber auch nicht zu überhören, dass die Administration des ERC durchaus noch verbesserungsfähig ist. Das betrifft die administrativen Regularien für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber besonders auch die institutionelle Anbindung des ERC und damit die Sicherstellung des Bottom-up-Prinzips. So wie das Thema ERC bei unseren Gesprächspartnern die Augen leuchten ließ, so verdrehten sie diese bei einem anderen Thema: dem Internationalen Thermonuklearen Experimental-Reaktor, kurz ITER. Dabei handelt es sich um ein gemeinsames Projekt der EU, Japans, Russlands, der USA, Chinas, Indiens und Südkoreas zum Bau und Unterhalt eines Fusionsforschungsreaktors. In diesem Reaktor sollen Abläufe, die in der Sonne stattfinden, in einem Kraftwerk nachempfunden werden. Als Standort wurde das französische Cadarache gewählt. Die EU trägt 45,5 Prozent der Kosten. Im Unterschied zum ERC handelt es sich bei ITER um ein typisches Top-down-Projekt. Dies bedeutet, dass über die Förderung des Projektes maßgeblich auf politischer Ebene entschieden wurde und wird. Was unseren Gesprächspartnern in Brüssel - und ich denke, uns geht es dabei ähnlich - bei dem Thema besonders übel aufstieß, sind die bekannt gewordenen enormen Kostensteigerungen für das Projekt. Nach aktuellen Informationen werden die Baukosten für ITER auf über 15 Milliarden Euro steigen, was eine Verdreifachung der ursprünglichen Kosten bedeutet. Für die EU heißt dies einen Kostenanstieg auf circa 7,2 Milliarden Euro, im Vergleich zu den 2,7 Milliarden Euro, die bei Vertragsunterzeichnung vereinbart waren. Diese Gelder sollen nach der Entscheidung des Europäischen Rates aus dem EU-Haushalt fließen. Allein für die Jahre 2012 und 2013 klafft nach heutigen Informationen eine Finanzierungslücke von 1,3 Milliarden Euro. Ein großer Teil soll davon aus dem EU-Forschungsbudget gegenfinanziert werden, was nachhaltig negative Auswirkungen auf die gesamte europäische Forschungslandschaft haben könnte. Frau Professor Helga Nowotny, die Generalsekretärin des ERC, sieht deshalb die Gefahr, dass auch am ERC gespart werden könnte. Das ist sicher keine abwegige Einschätzung. Eigentlich hatten sich Rat, Kommission und Vertreter des Europäischen Parlaments letzte Woche auf einen Haushaltskompromiss geeinigt. Geplant waren Budgetumschichtungen im Bereich 1a ({0}) und 2 ({1}) für den Zeitraum 2010 bis 2013. Dieser Vorschlag ist aber vom Europäischen Parlament abgelehnt worden. Eine Entscheidung über die ITERFinanzierung ist nun mit ungewissem Ausgang auf 2011 verschoben worden. Wie mögliche Erhöhungen nach 2013, die bei diesem Mammutprojekt leider auch für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden können, abgefangen werden, ist noch vollkommen unklar. Die Kommission hat bereits vorgeschlagen, diese bzw. ähnliche Projekte in Zukunft nicht mehr aus dem allgemeinen EUHaushalt, sondern über einen extra Topf zu finanzieren. Woher das Geld dafür kommen soll, ist ebenfalls noch vollkommen unklar. Eine stärkere finanzielle Beteiligung der Mitgliedstaaten an ITER wird somit wahrscheinlicher. Wir als SPD-Bundestagsfraktion lehnen dies ab. Ob die Kernfusion in der Zukunft wirklich zu einer bezahlbaren und sicheren Energiequelle wird, ist vollkommen unklar. Herausfinden werden das unsere Nachnachfolger frühestens 2050. Fusionsforschung ist ein spannender Forschungsbereich. Für die bereits heute nötige Energiewende kommt sie als Energiequelle aber definitiv zu spät. Wir als SPD-Bundestagfraktion fänden es nicht hinnehmbar, wenn ITER auf Kosten regenerativer Energiequellen finanziert werden würde. Nicht akzeptierbar wäre es außerdem - und ich glaube, da sind wir uns in diesem Hohen Hause einig - wenn ITER auf Kosten des bereits heute überaus erfolgreichen ERC gebaut werden würde. Ein einziges Forschungsprojekt darf einfach nicht auf Kosten aller anderen Forschungsbereiche durchgedrückt werden. Dr. Metthey wies in seinem Vortrag darauf hin, dass die Einrichtung des ERC ohne die starke Unterstützung Deutschlands nicht möglich gewesen wäre. Der ERC benötigt auch weiterhin diesen Beistand. Eine einstimmige Unterstützung durch den Deutschen Bundestag wäre deshalb aus meiner Sicht wünschenswert.

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bei der Fusionsforschung geht es um die Auswirkungen von Strömungen auf die Stabilität der magnetisch eingeschlossenen Plasmen und auf den Transport von Energie und Teilchen aus dem Plasma heraus. Das große Ziel der weltweiten Fusionsforschung ist es, ein heißes Gas aus Wasserstoff möglichst lange und stabil in einem Magnetfeldkäfig zusammenzuhalten, um so die Energieerzeugung durch Verschmelzung der Teilchen nach dem Vorbild der Sonne in einem Kraftwerk auf der Erde zu verwirklichen. Diesem Ziel wollen die Forscher in Zukunft mit dem Fusionsexperiment ITER näherkommen. Auf dem Weg zur Nutzung der Fusionsenergie sind aber nicht nur einige technische, sondern auch noch grundlegende physikalische Fragen zu lösen. Das ist Ihnen alles bekannt, und dennoch habe ich immer wieder den Eindruck, dass die Kollegen der Opposition, insbesondere Bündnis 90/Die Grünen, die Fusionsforschung zu einseitig betrachten. Immer wieder höre ich die gleichen Sätze: Bis ITER Energie erzeugt, vergehen noch vierzig Jahre und mehr. Das lohnt sich nicht. - Es geht aber bei dem Fusionsreaktor ITER nicht ausschließlich um die Stromerzeugung. ITER ist ein Forschungsreaktor. Er dient dem Erkenntnisgewinn zur Plasmaforschung. Was kann Plasma, was tut es unter bestimmten Bedingungen usw.? Hier geht es um Grundlagenforschung, und die muss finanziert werden, aber nicht unter den gegenwärtigen Voraussetzungen und schon gar nicht zum Nachteil anderer Forschungsvorhaben. Die Ergebnisse des Rates für Wettbewerbsfähigkeit vom 26. November 2010 stellen die geplante Finanzierung des europäischen Großprojektes ITER vor neue Herausforderungen. Die Ergebnisse machen ganz deutlich, dass es nach wie vor einen erheblichen Handlungsbedarf bei der Finanzierung gibt und dass das Projekt Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Martin Neumann ({0}) innerhalb kurzer Zeit auf eine nachhaltige finanzielle Grundlage gestellt werden muss. Dem stimmen wir voll und ganz zu. Kostendeckelung, nachvollziehbare Kontrollmechanismen und gutes Management sind dafür die Basis. Das Großprojekt ITER aber einfach fallen zu lassen, halten wir nach wie vor für den falschen Ansatz. Denn ein Scheitern des Projektes kommt aus forschungspolitischer Betrachtung einem immensen Gesichtsverlust gleich. Internationale Partner jetzt im Regen stehen zu lassen, hätte auch für andere internationale Projekte fatale Auswirkungen. Es ist unstrittig, dass bei der Finanzierung des Projektes sowie bei der Arbeitsweise des Managements noch erheblicher Klärungsbedarf besteht. Der erste Lösungsvorschlag ist nicht, wie wir gehofft hatten, akzeptiert worden. Das zwingt uns zu neuen strategischen und finanzplanerischen Überlegungen. Aus den Berichten der Kommission werden zwei grundlegende Probleme in der Konzeption um das Forschungsprojekt sichtbar: die Finanzierung auf der einen Seite und die konzeptionelle Umsetzung und Controlling auf der anderen Seite. Von Anfang an hätten reale wirtschaftliche Kennzahlen und ökonomische Gesetzmäßigkeiten dem Vorhaben zugrunde gelegt werden müssen. Die Kalkulation rechnete damals mit einer Gesamtsumme der Kosten von 5,5 Milliarden Euro. Jetzt sind wir bei Gesamtkosten von 7,2 Milliarden Euro angekommen. Diese Kostensteigerung ist auf erhöhte Rohstoffpreise, neue wissenschaftliche Erkenntnisse, höhere Qualitätsanforderungen und Fehleinschätzungen über den notwendigen Umfang von Diagnostiken zurückzuführen. Erst jetzt wird erkennbar, dass ein wesentliches Einsparpotenzial vorhanden ist. Eine strategisch ausgerichtete Kostenkontrolle hätte bereits zu Beginn eingeführt und ein konkreter Finanzplan vorgelegt werden müssen. Das erwarten wir von jedem anderen Forschungsprojekt auch. Hier liegt vielleicht auch die Volksweisheit „Zu viele Köche verderben den Brei.“ zugrunde. Hohe Erwartungen, die Verpflichtungen gegenüber wichtigen wirtschaftlichen Partnern und der potenzielle Verlust der internationalen Anerkennung haben wohl den Instinkt für Wirtschaftlichkeit und sinnvolle Kosten-Nutzen-Analyse überlagert. Wir sind daher immer wieder gefordert, uns mit den enormen Kostensteigerungen zu befassen, die sich bereits im Jahre 2008 abgezeichnet hatten. Die Verteuerung des Projektes ist und bleibt ein ernst zu nehmendes Problem. Deshalb ist es wichtig, eine Kostendeckelung einzuführen und Geld zur Verfügung zu stellen, ohne dabei andere wichtige Forschungsprojekte zu gefährden. Es geht an dieser Stelle aber auch um eine strategische Entscheidung, in welche Bereiche die EU perspektivisch Geld investieren möchte. Deswegen halte ich es für wichtig und richtig, eine Umschichtung aus dem EUAgrarhaushalt zugunsten der Fusionsforschung vorzunehmen. Wir wollen nicht länger unrentable Bereiche mit enormen Mitteln fördern. Wir wollen in die Zukunft investieren. Die bisher geleisteten Forschungsarbeiten dürfen nicht vergeblich gewesen sein. Deswegen wird das Fusionsforschungsprojekt ITER, auch wenn wir zukünftige Entwicklungen aufmerksam und kritisch beobachten und analysieren müssen, von der Bundesregierung nach wie vor befürwortet und unterstützt. Denn der ITER wird bahnbrechende Forschungs- und Entwicklungsarbeit ermöglichen.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das Megaprojekt ITER, der Versuchsreaktor zur Erprobung der Kernfusion, beschäftigt uns hier seit längerem. Aktuell geht es um die Frage, wie kurzfristig 1,4 Milliarden Euro aufgebracht werden können, um überhaupt weiter planen zu können. Denn bereits vor dem eigentlichen Baubeginn sind die Kosten explodiert und lassen sich auch weiterhin kaum verlässlich planen. Das ist auch der Haken am vorliegenden SPD-Antrag: Die Geschichte der bisherigen ITER-Planung zeigt, dass die Kosten nicht beherrschbar sind, also auch nicht zuverlässig gedeckelt werden können, wie dies die Kolleginnen und Kollegen in ihrem Antrag fordern. Wir treten seit langem dafür ein, aus diesem Projekt auszusteigen, bevor unumkehrbare Tatsachen geschaffen werden - nicht weil wir technikfeindlich sind, sondern weil neue Technologien nicht ohne ihren sozialen und ökologischen Kontext zu denken sind. Vor diesem Hintergrund fällt ITER aus der Zeit. Es ist ein Produkt der 80er-Jahre, einer Zeit, als internationale Zusammenarbeit an Großtechnologien über die Grenzen der Blöcke hinweg etwas Neues war. Unsere Grundkritik ist, dass eine Technologie, die - wenn überhaupt - frühestens 2050 zur Verfügung steht, nichts zum Kampf gegen den Klimawandel beitragen kann, bleibt. Die Zukunft gehört dezentralen und erneuerbaren Energieformen, die jetzt schnell und flächendeckend durchgesetzt werden müssen. Auch dies wird Geld kosten, Geld, das nicht für den Bau von Megareaktoren verbrannt werden darf. Der SPD-Antrag lenkt jedoch den Blick auch auf den Europäischen Forschungsrat, dessen Budget, so der Antragstext, keinesfalls unter den Mehrausgaben für ITER leiden dürfe. Dieser Forderung kann sich die Linke natürlich anschließen. Die Einzelförderung einer wirklich innovativen Pionierforschung durch eine wissenschaftsgeleitete Auswahl der geförderten Personen ist eine richtige Idee. Wir sagen aber auch: das Konzept der Förderauswahl muss überarbeitet werden. Mich hat, wie andere Kolleginnen und Kollegen im Forschungsausschuss auch, die Präsentation des Gründungsgeneralsekretärs des ERC, Professor Winnacker, im vergangenen Jahr schockiert. Die aktuellen Förderstatistiken bestätigen seine Aussagen: Die Beitrittsländer in Mittel- und Osteuropa spielen bei der Vergabe der Fördermittel keine nennenswerte Rolle. Als Begründung gibt der ERC an, dass diese Länder eben noch nicht solch eine leistungsfähige WissenZu Protokoll gegebene Reden schaftslandschaft hätten und diese erst aufgebaut werden müsse. Diese Aussage konterkariert das eigentliche Förderkonzept: Wenn wirklich innovative Köpfe und nicht große Strukturen gefördert werden sollen, erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass diese Pionierforscher alle in Westeuropa sitzen. Und selbst wenn die Tatsache Berücksichtigung findet, dass knapp 30 Prozent der Geförderten außerhalb ihres Heimatlandes arbeiten, bleibt die Feststellung, dass die Verteilung wohl nicht nur die Leistungsfähigkeit der einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler widerspiegelt. Viel eher dürfte die Zusammensetzung der Gutachterkommitees Aufschluss über Präferenzen der ERC-Förderung geben. Die ERC-Präsidentin Helga Nowotny sieht einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Forschungsausgaben des jeweiligen Sitzlandes und Erfolg bei der Förderung durch den Forschungsrat. Wenn also bei der Förderung nur die ohnehin schon finanz- und drittmittelstarken Institutionen zum Zuge kommen, bleibt die Frage: Wie soll die Wissenschaftslandschaft in den neuen EU-Staaten ohne spezifische Förderung jemals auf Augenhöhe kommen, wenn der Vorsprung der etablierten Staaten noch zusätzlich durch ERC-Milliarden und andere Initiativen ausgebaut wird? Frauen sind schlicht unterrepräsentiert bei der Förderung. Der Anteil sank zuletzt sogar von 20,7 auf 19,4 Prozent. Auch hier ist es sehr unwahrscheinlich, dass mehr als 80 Prozent der begabtesten Nachwuchswissenschaftler Männer sein sollen. Die Frage, was Spitzenforschung ausmacht, kann nicht ohne die Berücksichtigung sozialer Kontexte beantwortet werden. Wer die innovativsten Köpfe sucht, sollte die spezifischen Forschungsansätze aus weiblicher Sicht stärker berücksichtigen. Wenn also die Reformen der europäischen Forschungsförderung, auch des Forschungsrates, derzeit vorbereitet werden, dann geht es nicht nur um Entbürokratisierung. Die Kommissionsdirektion Forschung und die neue ERC-Präsidentin Helga Nowotny sollten sich dringend mit der Frage beschäftigen, wie die Förderung von Spitzenforschung nicht nur denjenigen eine Chance gibt, die schon qua Publikationsliste und Titel als exzellent gelten, sondern auch denen, die es qua eigener Ideen werden könnten. Die Förderung von Frauen und die Unterstützung für die Wissenschaft in den Beitrittsländern muss eine stärkere Rolle im Begutachtungsprozess spielen. Nur dann hat die Bezeichnung Pionierforschung - oder neudeutsch: Frontier Research - für die Förderung des ERC seine Berechtigung.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Unbestreitbar ist die Fusionsforschung ein spannender Forschungsbereich, der bereits Generationen von Naturwissenschaftlern fasziniert und der durch die entsprechende Grundlagenfinanzierung politisch zur Blüte gebracht wurde. Ob die Kernfusion aber jemals in das Stadium einer verlässlichen Energieproduktion überführt werden kann, steht vollkommen in den Sternen. Für die bereits heute einzuleitende Zukunft nachhaltiger Energiegewinnung ist die Fusion kein Beitrag, denn sie kommt frühestens nach 2050 und damit viel zu spät und sie ist nicht umweltverträglich. Seit einem Jahr sind bei ITER erhebliche Kostensteigerungen, eklatante Managementfehler und strukturelle Probleme bekannt. Die Finanzierung der Mehrkosten von 1,3 bis 1,4 Milliarden Euro allein in den Jahren 2012/2013 konnte bisher nicht bewerkstelligt werden. Jetzt hat die Bundesregierung im Ausschuss der Ständigen Vertreter der EU einem Vorschlag der europäischen Präsidentschaft zugestimmt, der eine Finanzierung innerhalb des EU-Haushaltes vorsieht. Es sollen 460 Millionen Euro aus der Rubrik 1 a - unter anderem Forschung - und 814 Millionen Euro aus der Rubrik 2 - Landwirtschaft - entnommen werden. Aus der Rubrik 1 a werden neben dem Forschungsrahmenprogramm die Programme Lebenslanges Lernen und Erasmus, das Innovationsprogramm für Kleine und Mittlere Unternehmen sowie die Energieprojekte des Konjunkturbelebungsprogramms finanziert. Das EU-Parlament hat seine Zustimmung dazu bisher mit Recht verweigert: ITER ist ein Fass ohne Boden und verhindert ein nachhaltiges Energiekonzept, weil es die Mittel für erneuerbare, kurz- und mittelfristig zu entwickelnde Energien bindet. Die Zukunftsaufgabe der europäischen Energierevolution liegt in den erneuerbaren Energien, im Netzausbau und -management, in der Effizienz und in der Green Economy. Die Herausforderung der klimaverträglichen Wohlstandssicherung gilt es durch Innovationen zu bewältigen, statt an unhaltbaren Versprechen auf dem Weg zu „unendlich viel Energie“ zu kleben. Nach mehr als einem halben Jahrhundert Fusionsforschung haben sich andere, zukunftsweisendere Wege gezeigt als die fossilen, atomaren Visionen der Fusionsforschung des vergangenen Jahrtausends. Wir halten deshalb an unserer Forderung nach Ausstieg aus dem Milliardengrab ITER fest und bitten die Bundesregierung, über den Ministerrat und durch entsprechende europäische Initiativen darauf hinzuwirken, dass - solange die Finanzierung des Prestigeprojektes nicht gesichert ist - auch keine weiteren Aufträge für Komponenten und zum Bau von ITER vergeben werden. Es ist hochgradig unseriös, das Festhalten am ITERKonzept zu beteuern, ohne die finanzielle Beteiligung absichern zu können. Den europäischen Landwirtschaftsetat für ländliche Entwicklung zu plündern, ist jedenfalls genau so wenig seriös, wie die europäische Energieforschung einseitig auf ein Fusionsprojekt auszurichten. ITER ist in seiner einmaligen internationalen Konstruktion - so zeigt sich nun - der Versuch, staatlich geförderte Forschung unter internationaler Beteiligung zu bewerkstelligen und weltweit gefertigte Komponenten für einen Reaktor zusammenzutragen. Die entsprechenden nationalen Organisationen, wie für Europa F4E sind bereits am Design des Projektes gescheitert, der Zusammenbau wird die Energieforschung nicht beflügeln können. Der von der SPD vorgelegte Antrag benennt den aktuellen Konflikt der Finanzierung auf europäischer Ebene zutreffend und hat daher meine Sympathie. AllerZu Protokoll gegebene Reden dings ist meine Fraktion sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene davon überzeugt, dass die politische Verantwortung nicht bei der Benennung des Konflikts stehen bleiben darf. Der Haushaltsehrlichkeit muss eine Fokussierung auf die Zukunftsaufgaben folgen. Die öffentlich finanzierte Forschung hat gerade im Nachgang der internationalen Klimakonferenz in Cancún verstärkt Beiträge zur Begrenzung des Klimawandels und zum Umbau der Energiesysteme zu liefern. Hier darf nicht zugunsten eines unbrauchbaren Prestigeprojekts gekürzt werden. Die Europäische Kommission hat bereits im Mai 2010 prognostiziert, was ein geordneter Ausstieg der EU aus ITER jetzt kosten würde. Es ist an der Zeit, bei ITER die Notbremse zu ziehen und das Projekt zu verlassen. Entsprechende Anträge haben Bündnis 90/Die Grünen bereits im April und Juli in den Bundestag eingebracht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3483 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom 28. Januar 2003 zum Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art - Drucksache 17/3123 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/ 913/JI des Rates vom 28. November 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und zur Umsetzung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 2003 zum Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art - Drucksache 17/3124 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 17/4123 Berichterstattung: Abgeordnete Ansgar Heveling Christoph Strässer Halina Wawzyniak Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll genommen: Ansgar Heveling, Christoph Strässer, Jörg van Essen, Halina Wawzyniak und Jerzy Montag.

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute schließen wir mit der zweiten und dritten Lesung die Beratung von zwei Gesetzentwürfen im Zusammenhang mit Straftaten im Bereich der Cyberkriminalität ab. Worum geht es in der Sache? Mit Drucksache 17/3123 liegt ein Gesetzentwurf vor, der die Voraussetzungen - nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG - für die Ratifikation des Zusatzprotokolls zum Übereinkommen des Europarates über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art schaffen soll. Mit Drucksache 17/3124 liegt ein Gesetzentwurf zur Umsetzung der sich aus dem Zusatzprotokoll sowie aus dem Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ergebenden Verpflichtungen auf nationaler Ebene vor. Der Zweck des Rahmenbeschlusses ist die strafrechtliche Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Das Zusatzprotokoll erweitert diese Bekämpfung um die strafrechtliche Verfolgung im Bereich rassistischer und fremdenfeindlicher Handlungen im Internet. Sowohl das Zusatzprotokoll als auch der Rahmenbeschluss führen die Angleichung des materiellen Strafrechts und damit eine Mindestharmonisierung von Strafvorschriften auf europäischer Ebene fort. Nicht zuletzt sind dieser Entwicklung die großen Fortschritte der letzten Jahre im internationalen Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu verdanken. Die Frist zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses ist mit dem 28. November 2010 verstrichen. Wir treffen damit heute sehr zeitnah die notwendigen Umsetzungsentscheidungen. In weiten Teilen entspricht das geltende deutsche Recht bereits heute den Anforderungen des Rahmenbeschlusses und des Zusatzprotokolls. Umsetzungsbedarf ergibt sich aber unter anderem in Bezug auf den Kreis der Schutzbedürftigen. Dieser wird in Art. 1 Abs. 1 Buchstabe a des Rahmenbeschlusses definiert. Schutzbedürftig ist eine „nach den Kriterien der Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung oder nationalen oder ethnischen Herkunft definierte Gruppe von Personen oder […] ein Mitglied einer solchen Gruppe“. Gemäß Zusatzprotokoll - Art. 3 Abs. 1 - sollen unter bestimmten Voraussetzungen „das Verbreiten oder anderweitige Öffentlich-verfügbar-Machen rassistischen und fremdenfeindlichen Materials über ein Computersystem“ als Straftaten gelten. Rassistisches und fremdenfeindliches Material nach Art. 2 Abs. 1 des Zusatzprotokolls ist „jedes schriftliche Material, jedes Bild oder jede andere Darstellung von Ideen oder Theorien, das beziehungsweise die Hass, Diskriminierung oder Gewalt aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, der Abstammung, der nationalen oder ethnischen Herkunft oder der Religion, wenn Letztere für eines dieser Merkmale vorgeschoben wird, gegen eine Person oder eine Personengruppe befürwortet oder fördert oder dazu aufstachelt“. Um nun den Anforderungen des Rahmenbeschlusses und des Zusatzprotokolls zu genügen, ist eine Änderung von § 130 StGB notwendig. § 130 StGB Abs. 1 Nr. 1 in seiner heutigen Form bezeichnet denjenigen als strafbar, „wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert“. Explizit werden in § 130 StGB „Teile der Bevölkerung“ erfasst, nicht aber Einzelpersonen, wie es sowohl der Rahmenbeschluss als auch das Zusatzprotokoll ausdrücklich verlangen, da hier nicht nur „Gruppen von Personen“ sondern auch das einzelne „Mitglied einer solchen Gruppe“ in den Kontext der Schutzbedürftigen fallen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf Drucksache 17/3124 kommt die Bundesregierung dieser Pflicht nach und schlägt unter anderen folgende Änderung des § 130 Abs. 1 Nr. 1 vor: Strafbar ist, „wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert“. Mit diesen Änderungen sind die im Rahmenbeschluss genannten Gruppen ausdrücklich aufgeführt, darüber hinaus bleiben weiterhin Einzelpersonen und Gruppen aller anderen „Teile der Bevölkerung“ durch § 130 StGB Abs. 1 Nr. 1 geschützt, das heißt also auch Einzelne oder Gruppen, die aufgrund ihrer Homosexualität, Behinderung oder ihres Alters angegriffen werden. Womit wir beim Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angekommen sind, der eine Erweiterung der aufgezählten Gruppen um die Merkmale der Sexualität, des Alters und der Behinderung vorsieht. Dieser Antrag kurz vor Toresschluss und nach einer ausführlichen Debatte im Rechtsausschuss geht an den Notwendigkeiten vorbei, geht es doch in dem vorliegenden Gesetzentwurf mitnichten darum, andere als die explizit erwähnten Gruppen zu diskriminieren oder gar ihnen den Schutz durch den § 130 StGB zu entziehen. Was ist das für eine Idee! Die im Rahmenbeschluss genannten Gruppen finden im neuen Gesetzestext lediglich eine wörtliche Erwähnung, damit wir die EU-Vorgaben eindeutig umsetzen und einer Vereinheitlichung der strafrechtlichen Vorschriften nicht mit möglichen Irritationen im Wege stehen, aber doch nicht, um andere Bevölkerungsgruppen, die keine explizite Erwähnung finden, gegenüber den explizit erwähnten schlechterzustellen. Unser Ziel muss doch eine klare Umsetzung der Zielvorgaben und der damit verbundene bessere Schutz aller Bevölkerungsgruppen sein. Anstatt dieses Ziel zu verfolgen, stimmen Sie eine allgemeine Antidiskriminierungsdebatte an, die uns an dieser Stelle überhaupt nicht weiterbringt und die vor allen Dingen an den Zielsetzungen des Gesetzentwurfes rein gar nichts ändert. Zusätzlich sollten Sie sich ins Gedächtnis rufen, dass es hier im Speziellen um den internationalen Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit geht. Natürlich kann man über die Benutzung des Begriffes „Rasse“ trefflich streiten und der Auffassung sein, er sei generell problematisch und werfe grundsätzliche Fragen auf. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob die jetzige Debatte der richtige Ort ist, sich mit diesen Fragen zu befassen. Vielleicht würde aber schon ausreichend helfen, die Gesetzesbegründung zum allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz durchlesen, in der es heißt, dass nicht der Gesetzgeber die Existenz menschlicher Rassen annimmt, sondern dass derjenige, der sich rassistisch verhält, dies annimmt. Natürlich ist die Verwendung des Begriffes nicht unproblematisch und wurde ja auch bereits auf EU-Ebene vor allem vor dem Hintergrund der Antirassismusrichtlinie viel und intensiv diskutiert. Auf EU-Ebene hat man sich für die Beibehaltung der Begrifflichkeit entschieden, und auch auf nationaler Ebene verwenden wir den Begriff im Grundgesetz. Eine spannende Diskussion, die es sich an anderer Stelle sicher lohnt zu führen. An dieser Stelle aber und im Kontext des vorliegenden Gesetzentwurfes handelt es sich um eine Diskussion ohne Not. Wir sollten daher jetzt unsere Entscheidung über die Gesetzentwürfe treffen und sie so wie vorgelegt beschließen.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir stimmen heute über den Entwurf eines Gesetzes zum Zusatzprotokoll zu einem Übereinkommen des Europarates über mittels Computersysteme begangene Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art sowie über das entsprechende Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses ab. Das Zusatzprotokoll intendiert die internationale Angleichung des materiellen Strafrechts und die Verbesserung der Zusammenarbeit in dem Bereich der Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung werden Änderungen im Strafgesetzbuch vorgenommen, die der Umsetzung des Rahmenbeschlusses und des Zusatzprotokolls dienen. Im Wesentlichen entspricht das deutsche Strafrecht, insbesondere der Straftatbestand der Volksverhetzung, bereits den Vorgaben des Rahmenbeschlusses und des Zusatzprotokolls. Doch während bisher § 130 Abs. 1 StGB nur „Teile der Bevölkerung“ unter Schutz stellte, verlangt die Umsetzung, dass auch Einzelne bzw. Mitglieder von Gruppen gegen die Aufstachelung zu Hass und Gewalt vom Schutzbereich der Norm umfasst werden müssen. Dem wird nunmehr nachgekommen. Zu Protokoll gegebene Reden Im gleichen Zuge werden die im Rahmenbeschluss genannten und die in der Praxis die wesentlichen Anwendungsfälle bildenden Gruppen in Zukunft in Abs. 1 der Vorschrift gegen Volksverhetzung explizit aufgeführt. Danach macht sich in Zukunft strafbar, „wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert“. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt jeden Schritt zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Nicht nur als Rechtspolitiker, sondern auch als Menschenrechtspolitiker und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates begrüße auch ich grundsätzlich die Intension der Gesetzentwürfe und diesen Schritt. Deshalb werden wir den Gesetzentwürfen auch zustimmen. Wir wollen uns auch nicht grundsätzlich den Vorschlägen des Änderungsantrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verschließen, der noch einen Schritt weiter geht und die Aufzählung um weitere Antidiskriminierungsmerkmale erweitert und explizit weitere Merkmale von Gruppen, die Opfer der sogenannten hate crimes werden und als besonders gefährdet gelten, aufnimmt - nämlich durch ihr Geschlecht, ihre Behinderung, ihr Alter oder ihre sexuelle Identität bestimmte Gruppen. Der Antrag wurde aber so spät gestellt, dass er nicht mehr im Rechtsausschuss beraten werden konnte und bereits nach der 1. Lesung abgestimmt werden soll. Wir werden uns deshalb enthalten, ohne uns einer zukünftigen ausführlicheren Debatte zu dieser Frage verschließen zu wollen. Wenn ich sage, dass ich grundsätzlich inhaltlich mit den Gesetzentwürfen und dem Änderungsantrag übereinstimme oder nicht prinzipiell abgeneigt bin, so möchte ich aber die Gelegenheit nicht versäumen, mein Missfallen gegenüber der sprachlichen bzw. begrifflichen Umsetzungen der Diskriminierungstermini zum Ausdruck zu bringen. Es geht mir im Wesentlichen um den historisch extrem belasteten Begriff der „Rasse“. Der Begriff „Rasse“ suggeriert außerdem, dass es unterschiedliche menschliche Rassen gebe. Der Begriff ist heute wissenschaftlich entkräftet. Es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, den Begriff „Rasse“ weiterhin zu verwenden - und es gibt erst recht keinen politischen Grund. Zwar ist der Begriff nicht neu und wird auch in Rechtsordnungen anderer Länder angewendet. In Deutschland wird der Begriff zudem in Wissenschaft und Rechtsprechung sehr reflektiert benutzt. Trotzdem müssen Gerichte und Parlamente immer wieder herausstellen, dass sie das Konzept der „Rasse“ selbstverständlich ablehnen, auch wenn sie den Terminus verwenden. Die Verwendung der Begrifflichkeit in juristischen und politischen Dokumenten, aber auch zunehmend im gesellschaftlichen Bereich ist auf internationaler und europäischer Ebene umstritten. Schon mit dem Glauben an die Existenz von „Rassen“ können Differenzierungen und Hierarchiesierung von konstruierten Menschenbildern entstehen und Vorurteile aufrechterhalten werden. Die UNESCO hat sich schon 1995 in einer Erklärung gegen den Rasse-Begriff gewendet. Von Bedeutung ist auch eine Entschließung des Europäischen Parlaments von 1997 anlässlich des Europäischen Jahres gegen Rassismus. Das Europäische Parlament regt an, den Begriff in allen amtlichen Texten zu vermeiden, genauso wie auch das Deutsche Institut für Menschenrechte empfiehlt, den Begriff aus deutschen Rechtstexten zu entfernen. Die Politik hat diese Vorgaben und Empfehlungen noch nicht aufgenommen. Der Vorschlag des Menschenrechtsinstituts basiert auf einer Tagung, an der auch Vertreter des Bundesjustizministeriums und des Auswärtigen Amtes teilgenommen haben. Andere staatliche Institutionen wie die Antidiskriminierungsstelle des Bundes verwenden den Begriff bereits bewusst nicht mehr. Stattdessen ist von „rassistischer Diskriminierung“ oder von Benachteiligungen aus „rassistischen Gründen“ die Rede. Es ist bemerkenswert, dass bis heute in Gesetzestexten, die eigentlich der Bekämpfung von Rassismus dienen sollen, der Ausdruck „Rasse“ verwendet wird. Rassismus lässt sich aber nicht glaubwürdig bekämpfen, solange der Begriff „Rasse“ weiter verwendet wird. Die Formulierung im Strafgesetzbuch, aber auch in den anderen deutschen Gesetzen bis hin zur Verfassung führen zu einem eklatanten Widerspruch. Nach der augenblicklichen Lage müssen Opfer im Falle rassistischer Diskriminierung geltend machen, aufgrund ihrer „Rasse“ diskriminiert worden zu sein. Sie müssen sich gewissermaßen selbst einer vermeintlichen „Rasse“ zuordnen und werden so gezwungen, selbst rassistische Terminologie und Gedankengut verwenden zu müssen. Eine Änderung dieser Sachlage wäre ein wichtiges Signal, um jeden Anschein einer Anerkennung von Rassenkonzeptionen entgegenzutreten. Es ist unbestritten, dass nicht der bloße Begriff Politik und Gesellschaft schlecht macht. Es gibt Probleme, die Staaten nicht alleine durch Sprachpolitik lösen werden. Gesetzestexte tragen aber auch zur Bewusstseinsbildung bei und sollten eine Vorbildfunktion haben. Dass es auch anders geht, zeigen mehrere europäische Länder wie Schweden, Finnland und Österreich, die bereits alternative Begrifflichkeiten nutzen. Nun ist es so, dass der jetzige Gesetzentwurf bereits sprachliche Modernisierungen an anderer Stelle vorsieht. So wird das bisher in § 130 Abs. 2 Nr. 1 StGB verwendete Tatbestandsmerkmal „durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe“ durch die Formulierung „durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe“ ersetzt. Der sachliche Gehalt der Vorschrift wird dadurch nicht geändert. Durch das Merkmal der ethnischen Herkunft werden außerdem die im Rahmenbeschluss verwendeten Begriffe „Hautfarbe“ und „Abstammung“ erfasst. Im Zuge dessen hätte man nun auch den Begriff „Rasse“ ersetzen können. Eine bloße Streichung des Begriffs Zu Protokoll gegebene Reden „Rasse“ wäre allerdings nicht ausreichend und wirksam, weil damit der Schutzbereich verengt würde. Zudem ist es zur Bekämpfung von Rassismus gerade notwendig, dass die Verfassung sich klar und explizit davon distanziert. Die Fraktion Die Linke legt einen Antrag vor, in dem sie den Begriff aus dem Grundgesetz und anderen Gesetzestexten streichen will und die Formulierung „ethnische, soziale und territoriale Herkunft“ verwendet. Würde man den Begriff „Rasse“ aber durch Begrifflichkeiten mit Bezug zu Ethnizität ersetzen, stellt sich die Frage, ob der Schutzbereich der Norm dadurch nicht eingeschränkt würde. Zu überdenken ist - so wie es das Deutsche Institut für Menschenrechte vorschlägt -, grundsätzlich von „rassistischer Diskriminierung“ und nicht von „Diskriminierung aus Gründen der Rasse“ zu sprechen. Es gilt in jedem Fall eine Regelung zu finden, die den sachlichen Gehalt von Vorschriften nicht einengt. Doch diese Frage müssen wir heute weder juristisch, noch politisch beantworten. CDU/CSU und FDP haben unseren Wunsch abgelehnt, für eine Klarstellung im Gesetz zu sorgen, zumindest den Begriff der „Rasse“ in weiteren Beratungen kritisch zu hinterfragen und nach Alternativen zu suchen. Sie werden sich also in Zukunft die Frage gefallen lassen müssen, wie sie zu diesem Begriff stehen. Für uns ist dieses Thema damit noch nicht erledigt und wird auch in Zukunft auf der Tagesordnung stehen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Europarat hat im Jahre 2003 ein Zusatzprotokoll beschlossen, mit dem das Übereinkommen von 2001 gegen mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art ergänzt wurde. Dieses Zusatzprotokoll muss von Deutschland noch ratifiziert werden, wofür mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die nach dem Grundgesetz notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden. Der gleichzeitig vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des entsprechenden Rahmenbeschlusses des Rates aus 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit regelt die innerstaatliche Umsetzung des Zusatzprotokolls. Die europäischen Vorgaben sollen durch eine Änderung von § 130 des Strafgesetzbuchs umgesetzt werden. Im deutschen Recht entspricht diese Norm den europäischen Vorgaben bereits weitgehend. Es macht sich danach strafbar, wer - in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören - zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert. Jedoch erfasst die Norm gegen Volksverhetzung in seiner bisherigen Fassung lediglich „Teile der Bevölkerung“ und keine Einzelpersonen. Demgegenüber verlangen sowohl der Rahmenbeschluss als auch das Zusatzprotokoll, dass die entsprechenden Strafvorschriften nicht nur die Aufstachelung zu Hass und Gewalt gegen bestimmte Gruppen, sondern auch gegen einzelne Mitglieder der Gruppen erfassen. Zur Umsetzung der Vorgaben von Rahmenbeschluss und Zusatzprotokoll ist es daher erforderlich, dass in § 130 StGB zukünftig neben Bevölkerungsteilen auch Gruppen und Einzelpersonen gesondert aufgeführt werden. Damit wird auch dem Umstand Rechnung getragen, dass Hetze gegen Gruppen einen wesentlichen Anwendungsfall in der Praxis bildet. Den übrigen Vorgaben des Rahmenbeschlusses und des Zusatzprotokolls genügt das geltende Recht bereits heute. Die Grünen wollen dazu mit ihrem kurz vor Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens noch eingebrachten Änderungsantrag explizit zusätzlich die Merkmale „Geschlecht, soziale Herkunft, Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Identität“ in den Tatbestand der Norm aufnehmen. Diese weitere Aufzählung verlängert den Volksverhetzungsparagrafen jedoch unnötig, denn alle Träger solcher Merkmale sind bereits als Teile der Bevölkerung oder zumindest als Einzelne ohne weiteres vom Schutzbereich der Norm erfasst. Wenn der Grünen-Antrag auf die sogenannten Hate Crimes abzielt, also auf von Hass und abwertender Gesinnung motivierte Taten, so verkennt er, dass diese und fremdenfeindliche Beweggründe eines Täters bereits nach geltendem Recht als erschwerender Umstand gewertet und bei Festlegung des Strafmaßes durch die Gerichte berücksichtigt werden können. Von daher besteht kein Umsetzungsbedarf, da Beweggründe und Ziele des Täters sowie die Gesinnung, die aus seiner Tat spricht, bei der Strafzumessung nach § 46 StGB vom Gericht abzuwägen sind und auch regelmäßig zu einer Strafschärfung führen. Darüber hinaus erfüllt bei Hasstaten eine derartige Motivation auch regelmäßig das Mordmerkmal eines niederen Beweggrundes. Abgesehen von diesen inhaltlichen Ablehnungsgründen zu ihrem Antrag müssen sich die Grünen vorhalten lassen, dass sie mit einer Änderung in letzter Minute nicht zu einem geordneten parlamentarischen Verfahren beitragen. In diesem Zusammenhang darf ich auf die mittlerweile abgelaufene Umsetzungsfrist zu den europäischen Vorgaben von Ende November diesen Jahres hinweisen. Lassen Sie mich an dieser Stelle auch noch kurz auf einen Vorschlag eingehen, der in der Beratung der Entwürfe im Rechtsausschuss erhoben wurde. Die Sozialdemokraten regten dort an, den Begriff der Rasse bei der Umsetzung der europäischen Rechtsakte zu vermeiden, weil dieser Begriff selber schon diskriminierend sei. Die Frage, ob dies zutrifft, ist grundsätzlicher Natur und kann nicht im Rahmen der Umsetzung geklärt werden. Dass weder Zusatzprotokoll noch Rahmenbeschluss geeignete Anknüpfungspunkte für diese begriffliche Diskussion sind, zeigt zunächst der Rahmenbeschluss selbst, der ebenso die Begriffe Rasse und rassische VerZu Protokoll gegebene Reden folgung enthält. Der Begriff findet sich im Übrigen auch in Art. 3 Abs. 3 im Grundgesetz wieder. Darüberhinaus muss in Ruhe geklärt werden, ob mit der Vermeidung eines Begriffes tatsächlich das in Zusammenhang mit ihm begangene Unrecht vermieden werden kann. Wegen des bereits erwähnten zeitlichen Umsetzungsdruckes konnte diese Debatte in diesem Verfahren jedenfalls nicht mehr geführt werden. Den Regierungsentwürfen in der ursprünglichen Fassung wird meine Fraktion daher zustimmen.

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Beraten werden erstens der Entwurf eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll vom 28. Januar 2003 zum Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art und zweitens der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/913/JI des Rates vom 28. November 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und zur Umsetzung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 2003 zum Übereinkommen des Europarats vom 23. November 2001 über Computerkriminalität betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art ({0}). Bei ersterem handelt sich um ein Vertragsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG, mit dem die Ratifikation des im Titel benannten Zusatzprotokolls erfolgen soll. Das Zusatzprotokoll wurde bereits am 28. Januar 2003 von Deutschland gezeichnet. Die Ratifikation des Übereinkommens selbst ist bereits am 9. März 2009 erfolgt, daher kann nun das Zusatzprotokoll ratifiziert werden. Das Protokoll wurde ausweislich der Angaben beim Europarat von mehr als fünf Staaten ratifiziert, sodass es grundsätzlich, Art. 10 des Zusatzprotokolls, in Kraft getreten ist; für Deutschland, das bisher noch nicht ratifiziert hat, tritt es natürlich erst mit Ratifikation in Kraft. Im Zusatzprotokoll selbst geht es um besondere Regelungen im Kampf gegen fremdenfeindliche und rassistische Handlungen und Propaganda, die durch das Fortschreiten und die Möglichkeiten der Computertechnik begünstigt werden. Das Zusatzprotokoll hebt die besondere Bedeutung der Meinungsfreiheit und die positiven Effekte der Nutzung von Computersystemen dafür hervor. Als Kehrseite wird jedoch die Vereinfachung der rassistischen und fremdenfeindlichen Propaganda dadurch erkannt. Diese sei eine Verletzung der Menschenrechte vor dem Hintergrund, dass alle Menschen frei und an Würde und Rechten gleich geboren sind, und eine Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat. Ausgehend davon, dass derartige Handlungen in den Vertragsstaaten überwiegend kriminalisiert sind, strebt das Protokoll eine Harmonisierung an, die im Gleichgewicht zwischen Meinungsäußerung und wirksamer Bekämpfung derartiger Handlungen stehen muss, ohne die Grundsätze des innerstaatlichen Rechts auf Meinungsäußerung beeinträchtigen zu wollen. Dazu sieht das Protokoll in den konkreten Bestimmungen einige Öffnungsklauseln vor, die erheblichen Spielraum für die Umsetzung im nationalen Recht lassen. Grundsätzlich gefordert wird jedoch von den Mitgliedstaaten, entsprechende Handlungen unter Strafe zu stellen, wenn andere geeignete Mittel nicht zur Verfügung stehen. Die Öffnungsklauseln sind teilweise so weit gefasst, dass von der angestrebten Harmonisierung wenig übrig bleiben wird; allerdings ist dies aus nationaler Sicht vorteilhaft, da dem deutschen Gesetzgeber ein erheblicher Spielraum verbleibt, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Auch wenn das Protokoll eine Einschränkung des geschützten Personenkreises nach „Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch die Rasse, die Hautfarbe, die Abstammung, die nationale oder ethnische Herkunft oder die Religion“ - letzteres Merkmal nur, soweit es vorgeschoben ist, um Motive der ersten Kriterien zu verdecken vornimmt und Diskriminierungen nach Geschlecht, sexueller Identität und sozialer Herkunft nicht erfasst, stehen einer Zustimmung zur Ratifikation keine Bedenken entgegen. Diese Gruppen können im Transformationsgesetz, vergleiche Bundestagsdrucksache 17/3124, über den Wortlaut des Protokolls hinaus freiwillig erfasst werden. Beim zweiten Gesetzentwurf handelt es sich um das oben bereits erwähnte Transformationsgesetz. Die Vorgaben des Protokolls werden im Rahmen des § 130 Strafgesetzbuch aufgenommen. Der Strafrahmen selbst wird nicht geändert. Abs. 1, Störung, des öffentlichen Friedens, wird konkretisiert im Hinblick auf die Merkmale des Protokolls: nationale, rassische, religiöse, ethnische Herkunft, erfasst nun auch derartige Handlungen gegen Einzelne, aber nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer dieser Gruppen. Abs. 2 Nr. 1, Verbreitung von Schriften mit diesem Inhalt, wird nur leicht konkretisiert, da dieser Absatz bereits entsprechende Merkmale vorgesehen hat. Die Umsetzung des Zusatzprotokolls hat begrüßenswerterweise nicht zu gesetzgeberischem Aktionismus geführt; vielmehr wird nur geändert, was zwingenden Vorgaben des Protokolls entspricht. Im Übrigen wird deutlich ausgeführt, in welchen Bereichen im deutschen Recht bereits der Schutz gewährleistet ist. Im Kern einzige Änderung des materiellen Strafrechts ist die Aufnahme des Schutzes von Einzelpersonen in § 130 StGB, der vom Zusatzprotokoll zwingend vorgeben ist; jedoch nur im Hinblick auf dessen/deren Zugehörigkeit zu einer Gruppe, was letztlich bereits Rechtsprechung ist. Bedauerlicherweise übernimmt der Gesetzentwurf nicht die Einschränkungen des Protokolls im Hinblick auf die Religion. Laut Protokoll soll dies nur dann erforderlich sein, wenn die Religion lediglich vorgeschobenes Kriterium ist, um gegen Personen oder Gruppen aufgrund ihrer Herkunft zu hetzen. Die Neuformulierung erfasst Religion als eigenständiges Merkmal. Zu Protokoll gegebene Reden Darüber hinaus wäre es begrüßenswert gewesen, die Diskriminierungskriterien, die letztlich im deutschen Recht „nur“ klarstellende Funktion haben, um Merkmale wie Geschlecht, sexuelle Identität und soziale Herkunft zu ergänzen. Nach weiter geltender Rechtslage - „Teile der Bevölkerung“ - werden diese zwar erfasst; wenn man sich jedoch um Klarstellung bemüht, sollte diese umfassend sein. Es könnte sonst der Eindruck entstehen, dass die Hetze gegen Gruppen der Bevölkerung, die zum Beispiel durch die sexuelle Identität gekennzeichnet sind, weniger gravierend ist in den Augen des Gesetzgebers.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir setzen heute zwei europäische Vorgaben in unser nationales Strafrecht um. Es geht um die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ein wichtiges und richtiges Anliegen, für das sich die Grünen schon seit Jahren einsetzen. Allerdings liegen die Defizite in Deutschland nicht im materiellen Recht. Unser Strafrecht bietet jetzt schon alle Möglichkeiten, Straftaten aus rassistischer oder fremdenfeindlicher Motivation oder Gesinnung zu verfolgen und zu bestrafen. Die Änderungen, über die wir heute beschließen, haben im Wesentlichen klarstellenden Charakter. Die Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auf rechtlicher Ebene ist jedoch nur eine Seite. Die Defizite bestehen bei uns unverändert in der Umsetzung, im praktischen Bereich. Polizistinnen und Polizisten sind allzu oft nicht ausreichend geschult, um die rassistische, fremdenfeindliche oder Minderheiten bedrohende Zielrichtung oder dahin gehende Beweggründe einer Straftat schon zu Beginn einer Ermittlung zu erkennen. In der Folge werden dann entsprechende Beweise nicht gesichert, ohne die die Beweisführung einer rassistischen, fremdenfeindlichen oder minderheitenfeindlichen Volksverhetzung nicht mehr möglich ist. In Einzelfällen werden solche Elemente komplett übersehen, obwohl sie eigentlich ins Auge springen müssten. Insofern sind die nun aufgrund des Rahmenbeschlusses und des Zusatzprotokolls vorgenommenen Änderungen sinnvolle, gute und notwendige Klarstellungen und Ergänzungen. Das ist zuerst die Ergänzung, dass die Aufstachelung zu Hass und Gewalt nicht nur gegen Teile der Bevölkerung, sondern auch gegen einen Einzelnen als Teil einer Gruppe unter Strafe gestellt wird. Bisher war dies schon nach der Rechtsprechung des BGH anerkannt, aber nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt. Zum anderen wird das Merkmal „Teile der Bevölkerung“ beispielhaft konkretisiert. Die Koalition schlägt die ausdrückliche Aufnahme der Merkmale „nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe“ in den Gesetzestext vor. Diese Aufzählung, die laut Begründung der Koalition „einen wesentlichen Anwendungsfall des § 130 StGB in der Praxis bildet“, greift allerdings zu kurz und kann nur zu Missverständnissen führen. Warum werden religiöse Gruppen hervorgehoben, weltanschauliche Gruppen aber nicht? Warum fehlt die Benennung der Behinderten, warum fehlen das Geschlecht oder die sexuelle Identität als Gruppenmerkmal? Wir haben daher einen Änderungsantrag eingebracht, der einen horizontalen Ansatz verfolgt und alle in der Europäischen Union ({0}) aufgeführten Diskriminierungsmerkmale umfasst. Dazu gehören neben den im Gesetzentwurf genannten auch das Geschlecht, die Weltanschauung, die Behinderung, das Alter und die sexuelle Identität. Damit sind die besonders gefährdeten Gruppen explizit genannt, und keine Gruppe wird der anderen vorgezogen. Auch dies ist allerdings nicht als abschließende Aufzählung zu verstehen, sondern nur als Konkretisierung der am meisten gefährdeten Gruppen, auf die sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verständigt haben. Jede sonstige abgrenzbare Gruppe der Bevölkerung sowie der Einzelne, der dieser Gruppe gehört, wird durch § 130 StGB selbstverständlich weiterhin geschützt. Insgesamt begrüßen wir die Gesetzesentwürfe als weitere Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die zu einer erhöhten Sensibilisierung nicht nur der Bevölkerung, sondern auch der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte führen werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4123, den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll auf Drucksache 17/3123 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4123, den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses und des Zusatzprotokolls auf Drucksache 17/3124 anzunehmen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4226 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken und der Grünen bei Enthaltung der SPD abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der Grünen bei Enthaltung der SPD und der Linken angenommen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Ralph Lenkert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ungefährliche und klimaschonende Kältemittel in Kfz-Klimaanlagen verwenden - Drucksachen 17/3432, 17/4070 Berichterstattung: Abgeordnete Christian Hirte Dr. Lutz Knopek Ralph Lenkert Dorothea Steiner Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben: Christian Hirte, Frank Schwabe, Lutz Knopek, Karin Binder und Valerie Wilms.

Christian Hirte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003890, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe mit großem Interesse die Pressemitteilung des Kollegen Lenkert vom 27. November gelesen; allerdings konnte ich mir dabei ein Kopfschütteln nicht verkneifen. Der Vorwurf der Linken, dass die Koalitionsfraktionen Klientelpolitik betreiben, ist nicht neu und wird mit einer erschreckenden Regelmäßigkeit immer wieder aufgewärmt. Natürlich, Herr Lenkert, betreiben wir Klientelpolitik. Nur besteht der Unterschied darin, dass wir eine Politik betreiben, die die Bürgerinnen und Bürger in den Vordergrund stellt. Klientelpolitik betreiben die Linken übrigens auch sehr eifrig, aber im Mittelpunkt steht dort beispielsweise die Forderung, die Rentenansprüche ehemaliger Stasi-Angehöriger nach oben zu korrigieren. Insofern denke ich, dass die Linke mit dem Wort Klientelpolitik und anderen Plattitüden etwas vorsichtiger umgehen sollte. Es entspricht auch überhaupt nicht der Tatsache, dass meine Partei die Verletzung von Bürgern durch die Wahl eines von Ihnen verteufelten Kältemittels einfach in Kauf nimmt. Falls das Kältemittel Tetrafluorpropen - R1234yf - tatsächlich, das von Ihnen beschriebene Risikopotenzial darstellen sollte, so wären die Tage von R1234yf wohl gezählt. Ich habe allerdings viel mehr den Eindruck gewonnen, dass es der Fraktion Die Linke nur darum geht, sich irgendein Thema zu suchen, mit dem Sie der Regierungskoalition an die Karre fahren kann. Ich glaube, wir haben, angesichts der Weltklimakrise, wohl andere Sorgen, als uns um das Prahl- und Balzverhalten der Linken zu kümmern. Der Weltklimagipfel ist kürzlich zu Ende gegangen. Erstmals wird das Ziel, die Erderwärmung auf 2 Grad zu begrenzen, verbindlich bestätigt. Das ist nicht nur ein Verdienst der mexikanischen Gastgeber, sondern auch das Ergebnis des deutschen Verhandlungsgeschicks in den Arbeitsgruppen. Dabei ist allen Teilnehmern deutlich geworden, dass es vieler Einzelmaßnahmen bedarf um das 2-Grad-Ziel einzuhalten oder sogar zu unterbieten. Der Klimawandel ist die globale Herausforderung für die Staatengemeinschaft. National wie international müssen wir heute Entscheidungen treffen, damit künftige Generationen nicht nur ausreichend mit Energie und Ressourcen versorgt werden, sondern ihnen ihrerseits die Spielräume zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gestaltung erhalten bleiben. Dazu gehört auch, dass wir auf umweltschädliche Kühlmittel in unseren Autoklimaanlagen verzichten. Kohlenwasserstoffe, wie HFKW und FKW, das gegenwärtig noch in den Autoklimaanlagen verwendet wird, schädigen das Klima 1 300 bis 24 000 mal stärker als CO2. Daher werden in der Europäischen Union mit der EU-Richtlinie 2006/40/EG ab 2011 nur noch solche Kältemittel in Kfz-Klimaanlagen zugelassen, die maximal 150 mal so klimaschädlich sind wie Kohlendioxid. Das ist schon eine beachtliche Zahl. Zum Verständnis: Ein Kilogramm des bisherigen in Autoklimaanlagen verwendeten Kältemittels Tetrafluorethan - R134a - ist 1 300 mal so umweltbelastend. Die Linke fordert in ihrem Antrag, dass die deutsche Autoindustrie an Kohlendioxid als Kältemittel festhält, während sich die gesamte übrige Welt bereits anders entschieden hat. Warum haben sich die führenden Automobilhersteller in dieser Welt für Tetrafluorpropen entschieden? Es liegt sicher nicht im Interesse der Automobilbauer, ein möglichst gefährliches Kühlmittel zu verwenden. Es liegt vielmehr daran, dass R1234yf wie kein anderes Kältemittel allen Ansprüchen genügt. Als nahezu 1:1-Ersatz für das heutige Kältemittel R134a ist ein Umstieg auf R1234yf für Automobilhersteller schnell und problemlos möglich. Mit einem Global Warming Potential, GWP, von 4 liegt das Kältemittel weit unter dem EU-Richtwert von 150. Die Verweildauer von R1234yf in der Atmospähre beträgt nur 11 Tage, im Gegensatz zu 13 Jahren bei R134a und mehr als 500 Jahren bei Kohlendioxid. Unter Klimagesichtspunkten ist eine derartige Kurzlebigkeit in der Luft ein nicht unerheblicher Faktor. Zudem verbrauchen Fahrzeuge mit dem äußerst energieeffizienten Kältemittel R1234yf weniger Kraftstoff und erzeugen damit weniger verbrennungsbedingte Emissionen als Fahrzeuge, in denen weniger effiziente Alternativen zum Einsatz kommen. Der Energiebedarf der Klimaanlage ist bei tiefer Geschwindigkeit höher und steigt mit der Außentemperatur. Bei einer Außentemperatur von 37 Grad etwa entfallen im Stadtverkehr rund 28 Prozent des Treibstoffverbrauchs auf die Klimaanlage. Bei 23 Grad sind es circa 14 Prozent. Im Durchschnitt und über ein ganzes Jahr hinweg verbraucht eine Klimaanlage innerorts mehr als fünf Prozent des gesamten Treibstoffs. Auch bei Nachrüstung oder Reparatur von Altanlagen kann Tetrafluorpropen angewandt werden. Ebenso unbestritten ist, dass gerade in den heißeren Regionen dieser Welt Kohlendioxid eine wesentlich schlechtere Kühlfähigkeit hat als Tetrafluorpropen. Das sind für mich stimmige Argumente, die für den Einsatz von R1234yf sprechen: großer Einsatzbereich, einfache Handhabung und geringes Treibhauspotenzial. Der Antrag der Linken geht aber auch aus wirtschaftlichen Gründen an der Sache vorbei. Würde man, wie Die Linke es fordert, die deutsche Autoindustrie zu einem nationalen Alleingang verpflichten, hätte dies erhebliche Nachteile für die deutschen Autobauer zur Folge. Kohlendioxid mag als Kältemittel zwar sehr umweltfreundlich sein, es benötigt aber einen zehnfach höheren Druck. Damit müssten die deutschen Fabrikate mit der aufwändigeren und kostenintensiveren CO2Technik ausgerüstet werden. Dies würde nicht nur zu erheblichen Entwicklungs- und Fertigungskosten bei den Zuliefereren führen, sondern auch zu höheren Verkaufspreisen bei den Modellen der nächsten Generation. Sinkende Absatzzahlen und damit der Abbau von Arbeitsplätzen wären die unvermeidliche Folge. Auch wären die Kfz-Werkstätten nicht in der Lage, sich ohne erhebliche Kosten auf ein duales System mit CO2 für deutsche Fabrikate und Tetrafluorpropen für ausländische Marken einzustellen. Die Kosten dafür hätte dann der Endkunde zu tragen. Auch aus diesem Grund halte ich einen nationalen Alleingang mit CO2 für sehr problematisch. Noch etwas zur Frage der Sicherheit von Tetrafluorpropen. Ich finde es in hohem Maße unseriös, wenn die Linke den Bürgern suggerieren will, dass mit Tetrafluopropen der Tod Einzug in die Klimaanlage hält. Es ist korrekt, dass Honeywell in seinem Produktdatenblatt auf die stofflichen Eigenschaften seines Kühlmittels und auf Sicherheitsmaßnahmen hinweist. Das ist nicht nur geboten, sondern auch gesetzlich vorgeschrieben. Es ist richtig, dass beim Brand von Tetrafluorpropen Flusssäure entsteht, aber das ist auch bei R134a so, und auch andere Fahrzeugbauteile entwickeln bei Bränden giftige Stoffe. Wenn ein Auto in Brand gerät, ist davon meist nicht nur die Klimaanlage betroffen. Der Anteil an Kunststoffen im Auto steigt. Denn dies bedeutet nicht nur Gewichtsreduzierung und damit Kraftstoffeinsparung, sondern häufig auch geringere Produktionskosten im Vergleich zu Metallen. Seit den Zeiten Henry Fords ist der Anteil an Kunststoffen im Fahrzeug beständig gewachsen und macht heute etwa 17 Prozent des Gesamtfahrzeuges aus. Da ist es sehr wahrscheinlich, dass bei einem Brand auch Plastikteile in Brand geraten. Auch diese setzen giftige Gase und Säuren frei, ohne dass die Linke jemals auf die Idee gekommen wäre, das Auto gleich ganz zu verbieten. Nur ein Beispiel: Hart-PVC und Polyvinylidenchlorid, PVDC, brennen in der Zündflamme, verlöschen aber außerhalb sofort. Weich-PVC dagegen kann, je nach Art und Menge der zugesetzten Additive ({0}) auch ohne Zündflamme weiterbrennen. Dabei entsteht neben Kohlenmonoxid auch Chlorwasserstoff oder anders ausgedrückt Salzsäure. Daneben entstehen beim Brand auch Chlorkohlenwasserstoffe ({1}), andere aliphatische und aromatische Kohlenwasserstoffe ({2}), Aldehyde und Ketone ({3}), Phosgen sowie chlorierte Dibenzodioxine und Dibenzofurane. Phosgen wurde übrigens im 1. Weltkrieg als chemischer Kampfstoff eingesetzt. Sofern man der Linken unterstellt, sie verteufele Tetrafluorpropen nur aus Gründen des Verbraucherschutzes, so hätte sie folgerichtig auch ein Verbot des Einsatzes von Kunststoffen im Fahrzeugbau fordern müssen. Dies wäre zumindest konsequent gewesen. Die Wahrheit ist doch, dass Tetrafluorpropen vergleichbar sicher im Einsatz ist wie das bisherige R134a; aber immer wieder werden die Erkenntnisse der vom Umweltbundesamt beauftragten Bundesanstalt für Materialprüfung zitiert und gegen die Automobilindustrie eingesetzt. Die Versuche der BAM zeigen aus Sicht der Automobilindustrie jedenfalls keine unerwarteten Ergebnisse, sind mit dem Kenntnisstand der SAE-Untersuchung vereinbar und erklärbar. Die BAM hat eindeutig klargestellt, dass diese Untersuchungen unter „Laborbedingungen“ erfolgt sind und keinen realen Fahrzeugtests entsprechen; das heißt, die Tests sind nicht praxisrelevant. Es ist auch festzuhalten, dass bei Zündquellen, wie zum Beispiel bei einer Streichholzflamme oder einem elektrischen Lichtbogen, die messbare HF-Bildung bei den BAM-Tests unter den Grenzwerten blieb. Die BAM fasst im Fazit zusammen: „Im Falle einer R1234yf-Anwendung im Fahrzeug ist eine sorgfältige, vorausschauende Gefahrenanalyse notwendig. Es sind Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass verbleibende Gefährdungen gemäß Stand der Technik ethisch und rechtmäßig vertretbar sind.“ Die Automobilindustrie hatte diese Hinweise bereits im Vorfeld aufgegriffen und umgesetzt. Die Vorgehensweise und die Richtigkeit der erzielten Ergebnisse der ausgeführten Risikoanalyse der deutschen Fahrzeughersteller - die diese zusätzlich zu den Tests anderer Fahrzeughersteller durchführten - wurden durch ein Gutachten des TÜV-Süd bestätigt. Daher sieht meine Fraktion keinerlei Argumente, die für ein Verbot von Tetrafluorpropen sprechen. Die Linke sollte zum wichtigen Thema Verbraucherschutz sachdienlichere Beiträge leisten, als es bei diesem Antrag der Fall war.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nachdem wir in der Aktuellen Stunde die Ergebnisse der Klimakonferenz in Cancún debattiert haben, geht es auch bei diesem Antrag um den Klimaschutz. Allerdings um ein Thema, das nicht prominent im Licht der Öffentlichkeit steht, jedoch nicht minder wichtig ist. Es geht um die Chemikalien, mit denen die Klimaanlagen in den Autos für eine angenehme Temperatur sorgen. Klimaanlagen gehören heute zur Standardausrüstung von fabrikneuen Pkws. Kaum jemand möchte mehr auf gut gekühlte Auto-, Bus- oder Bahnfahrten verzichten. Jedoch entweicht aus den Fahrzeugen permanent etwas Kältemittel in die Umwelt und schädigt die Atmosphäre. Der Rat der Klimawissenschaftler, IPCC, der die Vereinten Nationen berät, schätzt, dass weltweit nicht nur die Anzahl der Fahrzeuge signifikant steigen Zu Protokoll gegebene Reden wird, sondern vor allem die Anzahl der Fahrzeuge, die mit einer Klimaanlage ausgestattet sind. Nach Berechnungen des IPCC werden allein im Jahr 2015 schädliche Kältemittel im Umfang von mindestens 270 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten aus Klimaanlagen in die Atmosphäre gelangen und den Klimawandel verstärken. Es besteht somit dringender Handlungsbedarf, diese Thematik anzugehen. Das bisher durchgängig verwendete Tetrafluorethan - R134a - ist 1400-mal schädlicher als CO2 und daher ab Anfang 2011 nicht mehr zulässig. Doch durch welches Kältemittel soll R134a ersetzt werden? Die Fraktion Die Linke fordert die Bundesregierung in ihrem Antrag auf, über die Vorgaben der EU-Richtlinie 2006/40/EG, die Emissionen aus Klimaanlagen in Kraftfahrzeugen regelt, hinauszugehen. So soll die Bundesregierung sicherstellen, dass Kältemittel in Kfz-Klimaanlagen bei Neuwagen ab dem 1. August 2011 keine Stoffe enthalten, die in ihrer ursprünglichen Zusammensetzung oder infolge von Reaktionen die menschliche Gesundheit gefährden, das heißt brennbar, toxisch oder ätzend sind. Die eingesetzten Chemikalien sollen laut Antrag chemisch reaktionsträge sein und ein GlobalWarming-Potenzial von unter 150 aufweisen. Darüber hinaus fordern die Linken, dass die eingesetzten Chemikalien keine nachteiligen Auswirkungen auf die Umweltmedien Wasser, Boden und Luft haben. Wir begrüßen, dass mit diesem Antrag die Debatte über klimaschädliche Kältemittel hier im Parlament angestoßen wurde. Es ist in der Tat nicht einzusehen, warum es das Kältemittel R1234yf in Deutschland geben soll, wenn auch Kohlendioxid als Kältemittel eingesetzt werden könnte. Die Risiken sind deutlich geringer. „Chemie statt sauberer Kältetechnik“ - mit dieser Überschrift brachte es die „Auto Bild“ am 10. Juni 2010 gut auf den Punkt, als bekannt wurde, dass 1234yf verwendet werden soll. Als Alternative für R134a war eigentlich die Kühlung durch CO2 angedacht. Auch der VDA verkündete 2007, dass die deutsche Autoindustrie in Zukunft auf CO2 setzen würde. CO2 ist billig, ungiftig und nicht brennbar. Der Nachteil der serienreifen CO2Technik ist, dass für die Übergangszeit die Werkstätten verschiedene Anlagensysteme warten müssten. Doch auch 1234yf hat Nachteile. Das Umweltbundesamt, UBA, hat die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, BAM, im Oktober 2009 beauftragt, Messungen zum Brandverhalten des Kältemittels 1234yf im Vergleich mit dem bisher eingesetzten Kältemittel R134a durchzuführen. Dabei wurden die Versuche so ausgewählt, dass sie der Anwendung dieses Stoffes in PkwKlimaanlagen möglichst nahe kommen. In ihrem Abschlussbericht verweist die BAM darauf, dass im Falle eines Einsatzes von 1234yf eine umfassende Gefahrenanalyse erforderlich ist und viele Maßnahmen zur Vorsorge getroffen werden müssen, zum Beispiel konsequente Abschirmung heißer Oberfläche im Motorraum, Einbau eines automatischen Löschsystems im Motorraum, Maßnahmen, die eine Einleitung von Fluorwasserstoff in den Passagierraum im Gefahrenfall unmöglich machen, Maßnahmen zur Vermeidung der Funkenbildung auch im Falle eines Unfalls, unter anderem die Abschaltung der Stromzufuhr sowie die Information von Rettungskräften. Dieser Bericht wirft einige Fragen auf. Liegen der Bundesregierung aktuelle Daten vor, ob und wie die Fahrzeughersteller ab 1. Januar 2011 Vorsorgemaßnahmen getroffen haben? Welche Vorkehrungen wird die Bundesregierung treffen, damit die Empfehlungen der BAM berücksichtigt werden? Interessant wäre aber auch, zu wissen, ob der Bundesregierung aktuelle Daten zum Stand der Technik für den Ersatz des Kältemittels R134a durch CO2 oder 1234yf in FahrzeugKlimaanlagen vorliegen, oder ob der Bundesregierung Daten der deutschen Fahrzeughersteller vorliegen, welche Fahrzeugtypen als Erste mit einem neuen Kältemittel ausgestattet werden. Zwar kann man argumentieren, dass die EU-Richtlinie nur einen Rahmen vorgibt und die Industrie sich für eine Lösung innerhalb dieses Rahmens entscheiden kann. Ich möchte die Autoindustrie jedoch auffordern, die Untersuchungen der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen. Genauso sollte die bisher geleistete Forschungs- und Entwicklungsarbeit deutscher Kältemittelhersteller berücksichtigt werden. Um alle Aspekte des Themas anzusprechen: Neben der Frage der Wahl des Kältemittels ist es wichtig, die bisherigen Klimaanlagensysteme zu optimieren, damit der Energieverbrauch und die daraus resultierenden Emissionen deutlich sinken. Auch sollte durch verbesserte Komponenten und Werkstoffe die Anlagendichtheit erhöht werden, damit wir auch im Bereich der Kältemittel eine Lösung finden, die dem Klimaschutz dient und die Umwelttechnologien voranbringt.

Dr. Lutz Knopek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004074, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Heute beschäftigen wir uns nunmehr zum dritten Mal mit dem vorliegenden Antrag der Linkspartei zu Kühlmitteln in Kfz-Klimaanlagen, und man muss leider feststellen, dass es gegenüber der ersten Behandlung hier im Plenum keinen substanziellen Erkenntnisgewinn gegeben hat. Die Fakten sind hinlänglich bekannt, deshalb will ich mich auf das Wesentliche beschränken. Ab dem 1. Januar 2011 sind bei der Genehmigung aller neuen Fahrzeugtypen und ab dem 1. Januar 2017 generell bei allen Neuwagen nur noch Kältemittel mit einem Treibhauspotenzial kleiner als 150 zugelassen. Das derzeit verwendete Mittel R134a mit einem Treibhauspotenzial von 1 430 muss daher ersetzt werden. Als Alternativen wurden zum einen die in Deutschland entwickelte CO2-Technologie sowie zum anderen das synthetische Kältemittel R1234yf der Firmen Honeywell und DuPont diskutiert. Die deutsche Automobilindustrie hat sich frühzeitig für die CO2-Technologie stark gemacht, konnte sich damit aber international nicht durchsetzen. Da es betriebswirtschaftlich aufgrund der enormen Skaleneffekte der Automobilproduktion keinen Sinn macht, nationale Insellösungen zu entwickeln, haben sich auch die deutZu Protokoll gegebene Reden schen Hersteller letztlich für den Einsatz von R1234yf entschieden. Der Antrag der Linkspartei zielt darauf ab, diese Entscheidung rückgängig zu machen und nationale wie europaweite Regelungen zu erlassen, sodass R1234yf als Kältemittel nicht zugelassen wird. Dieses Ansinnen lehnen wir sowohl aus formalen als auch aus inhaltlichen Gründen ab. Wir lehnen den Antrag aus formalen Gründen ab, da er schlicht europarechtswidrig ist. Die einschlägige EURichtlinie 2006/40/EG setzt europaweit technologieoffene Standards für Emissionen aus Kfz-Klimaanlagen. Einseitige nationale Abweichungen von dieser Richtlinie verstoßen gegen die Bestimmungen zum freien Warenverkehr und die Bestimmungen zum EU-Binnenmarkt. Die Forderung, sich bis zum 1. August 2011 für eine Änderung der EU-Richtlinie einzusetzen, ist angesichts der üblichen Vorlaufzeiten auf europäischer Ebene - die Kommission, bei der das alleinige Initiativrecht liegt, die Mitgliedstaaten und das EU-Parlament müssten zustimmen - völlig unrealistisch. Insofern muss man erneut von einem reinen Schaufensterantrag der Linken sprechen. Aber auch inhaltlich ist der Antrag nicht begründet. Es ist eben nicht so, dass, wie Kollege Lenkert ausgeführt hat, „Umweltverbände, Umweltbundesamt und Bundesanstalt für Materialforschung vor dem Einsatz warnen.“ Vielmehr hat die Bundesanstalt für Materialforschung in einer Pressemitteilung am 20. Oktober 2009 klargestellt, dass eine solche Interpretation ihres Tests durch die Deutsche Umwelthilfe nicht zulässig ist: „Eine mögliche Fehlinterpretation der Pressemitteilung der Deutschen Umwelthilfe führt zu der Annahme, die BAM hätte Stellung zur Gefährlichkeit des Kältemittels bezogen. Dies ist nicht der Fall“, so die eindeutige Aussage der BAM. Die einzigen aussagekräftigen Studien, die es bislang gibt, wurden seitens der Industrie und von der renommierten Society of Automotive Engineers erstellt. Diese bescheinigen R1234yf einen unbedenklichen Einsatz in Kraftfahrzeugen. Zudem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass jedes neu entwickelte Fahrzeug ohnehin ein Typenzulassungsverfahren mit entsprechenden Sicherheitsuntersuchungen zu durchlaufen hat. Letztlich trägt die Industrie daher selbst die Verantwortung für die von ihr eingesetzten Produkte. Zum Schluss meiner Rede möchte ich noch auf die vor kurzem angelaufene Kampagne PRO KLIMA der Deutschen Umwelthilfe eingehen. Die DUH erhält für diese Kampagne 800 000 Euro aus dem europäischen Umweltprogramm Life+, das eine Co-Finanzierung durch den deutschen Steuerzahler voraussetzt. Das Programm Life+ ist dazu gedacht, neue innovative Umwelttechniken bei der Markteinführung zu unterstützen. Es stellt meiner Meinung nach jedoch eine klare Zweckentfremdung von Fördermitteln dar, wenn mit diesen Geldern einseitig eine Kampagne gegen eine bestimmte Technologie finanziert wird. Das ist weder umwelt- noch ordnungspolitisch akzeptabel und schadet letztlich auch dem Ansehen der Deutschen Umwelthilfe selbst. Den Antrag der Linksfraktion lehnen wir ab.

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

„1234yf“ heißt eine Chemikalie, die ab dem kommenden Jahr in alle Fahrzeug-Klimaanlagen als Kältemittel gepumpt werden soll; und sie ist eine tickende Zeitbombe. Die Chemikalie ist schnell entflammbar und extrem gesundheitsschädlich. Tests des Umweltbundesamtes haben gezeigt, dass 1234yf bei Unfällen Fahrzeugbrände auslöst und giftige Stoffe freisetzt. Damit stellt das Kältemittel ein großes Risiko für KfzNutzer, Ersthelfer und Rettungskräfte dar. Bald rollen rund 24 000 Tonnen des gefährlichen Chemiecocktails in Autos über unsere Straßen. Das Schlimme ist: Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben keine andere Wahl. Nach dem Willen der Automobilhersteller soll das Kältemittel flächendeckend in allen Autos zum Einsatz kommen. Die Bundesregierung weigert sich, der Automobilindustrie zum Schutz der Kfz-Nutzer auf die Finger zu klopfen. Die Einführung sicherer Kältemittel sei Sache der Hersteller. Im Mai dieses Jahres erklärte der Vorsitzende des Lobbyverbandes der deutschen Automobilindustrie, der ehemalige CDU-Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann, man werde 1234yf flächendeckend einführen. Zu diesem Zeitpunkt war noch keine Sicherheitsprüfung für den Stoff durchgeführt worden - von einer Zulassung ganz zu schweigen. Gleichwohl hatte das Umweltbundesamt Praxistests mit dem Mittel durchgeführt. Das Ergebnis war katastrophal: Schon wenn sich ein Kühlmittelschlauch löst, entzündet sich die Chemikalie bei Betriebstemperatur des Motors. Das Auto geht in Flammen auf, und giftige Flusssäure wird durch die Belüftungsanlage in den Insassenraum geleitet. Der Fall 1234yf ist ein Skandal: In der Antwort auf unsere Kleine Anfrage von Ende Juni 2010 zitiert die Bundesregierung ausschließlich Aussagen des LobbyVerbandes der Automobilindustrie VDA. Zitat: Aufgrund industrieeigener Prüfungen „kommt der VDA zu der Einschätzung, dass […] ein Einsatz von R 1234yf in Klimaanlagen von Fahrzeugen unbedenklich ist“. Noch bei einer Fachveranstaltung Ende November 2010 - also gut einen Monat vor Einführung der gefährlichen Chemikalie - wiederholte das Umweltbundesamt seine Kritik und warnt vor der Verwendung von 1234yf. Warum hört die Bundesregierung auf den Lobbyisten und CDUMann Wissmann und nicht auf die eigene Fachbehörde? Die Bundesregierung ist nicht Erfüllungsgehilfe der Automobillobby. Sie hat eine gesetzliche Vorsorgepflicht, um die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Das ist ihre Aufgabe. Die Bundesregierung muss den Gift-Cocktail 1234yf vom Markt verbannen, denn es gibt klimaneutrale und unschädliche Alternativen für gut klimatisierte Autofahrten. Das Umweltbundesamt empfiehlt, künftig auf das gesundheitlich unbedenkliche und unbrennbare Kohlendioxid, also CO2, zum Betrieb von Klimaanlagen in Fahrzeugen zurückzugreifen. Es kann vorhandenen CO2-Quellen entnommen werden. Es kommt also nicht zu einer zusätzlichen Klimabelastung. Die Fachbehörde des Bundesumweltministeriums hat Praxistests mit dem natürlichen Kältemittel an gängigen Fahrzeugen durchZu Protokoll gegebene Reden geführt. Das Ergebnis ist eindeutig: In Serienfahrzeugen benötigen Klimaanlagen mit CO2 im Vergleich zu anderen gängigen Kältemitteln weniger Energie. Sie sparen also zusätzlich Sprit, schonen das Klima und sind gesundheitlich unbedenklich. Die Linke fordert, dass Kfz-Klimaanlagen grundsätzlich nicht mit gesundheitsgefährdenden Kältemitteln betrieben werden dürfen. Sie dürfen auch nicht brennbar, giftig oder ätzend sein sowie keine nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt haben. Ich fordere die Bundesregierung auf: Stellen Sie sich auf die Seite der Verbraucherinnen und Verbraucher und kommen Sie ihrer gesetzlichen Vorsorgepflicht nach!

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Was gilt eigentlich das Wort von Matthias Wissmann, dem Präsidenten des Verbandes der Automobilindustrie? Im Jahr 2007 hatte er vor Beginn der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt am Main bekundet, dass die deutsche Autoindustrie in Umsetzung einer EU-Richtlinie zeitnah auf natürliche und umweltfreundliche Kohlendioxid-Kältemittel umsteigen und die Arbeit an chemischen Alternativen einstellen werde. Mittlerweile wissen wir, dass der VDA eine Kehrtwende vollzogen hat und der Einsatz des neuen Kältemittels Tetrafluorpropen, des sogenannten 1234yf von Honeywell und Dupont, beschlossene Sache ist. Ich will heute nicht über die sicherheitsrelevanten Fragen dieser falschen Entscheidung sprechen, auf die ich in der ersten Lesung des Antrags eingegangen bin, sondern die klimarelevanten und industriepolitischen Implikationen in den Mittelpunkt rücken. Kohlendioxid als Kältemittel ist bewährt, wird in vielen Bereichen bereits eingesetzt. So haben die Berliner Verkehrsbetriebe ihre Busse in diesem Sommer mit Kohlendioxid-Klimaanlagen ausgestattet. Führende deutsche Hersteller für Fahrzeugklimaanlagen wie zum Beispiel Konvekta, Eberspächer und Webasto haben im Vertrauen auf Wissmanns Zusage Millionen in die Entwicklung der Kohlendioxid-Technik investiert und sie marktreif gemacht. Aber die deutsche Automobilindustrie, angeführt von ihrem Verband, begibt sich lieber in die Abhängigkeit der US-amerikanischen Chemieriesen Honeywell und Dupont, die sich auf ein Joint Venture für Konstruktion, Bau und Betrieb einer Produktionsstätte für Tetrafluorpropen geeinigt haben. Sie sind weltweit die Einzigen, die dieses Mittel herstellen. Auf gut Deutsch bilden diese Firmen das Monopol für die Substanz und bestimmen damit auf Jahre hinaus auch den Preis. Das ist industriepolitisch, vorsichtig formuliert, äußerst kurzsichtig. Noch schlimmer sind die klimapolitischen Implikationen; denn Klimaanlagen, die mit Tetrafluorpropen betrieben werden, sind viermal so schädlich wie die mit Kohlendioxid. Außerdem können diese Anlagen auch weiterhin mit dem verbotenen und 1 300-mal so schädlichen Mittel Tetrafluorethan betrieben werden. Wer garantiert denn, dass dieses Mittel bei einer Wartung nicht einfach wieder eingefüllt wird? Was hat die Bundesregierung getan, damit das alte chemische Mittel nicht weiter verwendet wird? Hier ist nicht erkennbar, wie das kontrolliert werden soll. Kohlendioxid als Kältemittel hat das geringste Treibhauspotenzial. Allerdings müssen die Klimaanlagen umgerüstet werden, um dem höheren Druck von 120 bar standzuhalten. Damit wären sie für das besonders schädliche bisherige Kältemittel untauglich. Und das ist auch der Grund für die Blockade der deutschen Automobilindustrie. Eine Klimaanlage, die für Kohlendioxid ausgerüstet wäre, würde für einen Mittelklassewagen zu Mehrkosten von rund 50 Euro führen, die eingespart werden sollen. Aus einem weiteren Grund ist die Entscheidung gegen Kohlendioxid als Kältemittel falsch. Denn seine Stoffeigenschaften eignen sich besonders gut für die Umkehr des Kühlprozesses. Die Klimaanlage kann also zur Wärmepumpe werden, mit der auch geheizt werden kann. Bei modernen Dieselfahrzeugen und Hybridautos reicht die Abwärme des Motors schon heute nicht aus, um das Fahrzeug im Winter ausreichend schnell zu heizen. Für reine Elektroautos gilt das erst recht. Die Zukunft der Fahrzeugklimaanlagen wird daher eine integrierte Wärmepumpenfunktion haben müssen, um insbesondere bei elektrischem Antrieb den Strombedarf für den Nebenverbraucher Heizung so gering wie möglich zu halten. Das alles scheint Matthias Wissmann als Chef der deutschen Automobilindustrie nicht zu stören. Er hat Klimaanlagen mit dem chemischen und klimaschädlichen Kältemittel Tetrafluorpropen sogar als „Ökoinnovation“ bei der EU-Kommission angepriesen und wollte dafür Kohlendioxid-Gutschriften für die Automobilindustrie erhalten. Das hat die EU-Kommission allerdings zu Recht abgelehnt. So viel zum Thema Anspruch und Wirklichkeit der deutschen Automobilindustrie als Klimaschützer!

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Umweltausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4070, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3432 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken und der Grünen bei Enthaltung der SPD angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 23. Juni 2010 zur Änderung des Protokolls über die Übergangsbestimmungen, das dem Vertrag über die Europäische Union, dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft beigefügt ist - Drucksache 17/3357 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0}) - Drucksache 17/4244 Berichterstattung: Abgeordnete Thomas Dörflinger Michael Roth ({1}) Michael Link ({2}) Manuel Sarrazin Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden folgender Kollegen zu Protokoll gegeben: Thomas Dörflinger, Karl Holmeier, Michael Roth, Michael Link, Diether Dehm und Manuel Sarrazin.

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir debattieren heute abschließend den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Protokolls über die Übergangsbestimmungen zur Zusammensetzung des Europäischen Parlaments nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon. Wir erinnern uns: Die Arbeits- und Rechtsgrundlage in der EU ist seit Dezember 2009 der Vertrag von Lissabon; das Europäische Parlament wurde aber im Juni 2009 noch auf der Vertragsgrundlage von Nizza gewählt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments nun angepasst werden. Das Protokoll legt insbesondere fest, die Zahl der Sitze im Europäischen Parlament bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode um 18 auf insgesamt 754 Sitze zu erhöhen. Die Höchstzahl der primärrechtlich vorgesehenen Zahl von EP-Sitzen wird damit vorübergehend überschritten. Ich komme gleich zum Kernpunkt des Gesetzentwurfs und einem legitimatorischen Problem: So sollen die Mitgliedstaaten, die zusätzliche Mandate erhalten, diese nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften vergeben. Konkret heißt das, dass die Plätze in Ad-hocWahlen oder auf der Grundlage der Ergebnisse der Europawahlen vom Juni 2009 vergeben werden. Möglich ist aber auch - so sieht es der Gesetzentwurf vor -, dass die nachrückenden EP-Abgeordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente ernannt werden. Ich war immer einer derjenigen, die die Stärkung des Parlaments und damit die Tendenz zur Beseitigung eines institutionellen Demokratiedefizits innerhalb der EU durch den Vertrag von Lissabon für einen der wichtigsten Punkte gehalten haben. Jetzt kann man die Auffassung vertreten, es handle sich hier um eine Übergangsvorschrift, die dadurch notwendig wurde, dass sich die Wahlen zum Europäischen Parlament und die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon überschnitten haben. Im Übrigen - darauf weist das Bundesverfassungsgericht hin - ist das Europäische Parlament auch nach der Neuformulierung in Art. 14 Abs. 2 EUV-Lissabon und entgegen dem Anspruch, den Art. 10 Abs. 1 EUV-Lissabon nach seinem Wortlaut zu erheben scheint, kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes. Folglich scheint eine Benennung nachrückender Abgeordneter für dieses Parlament - ohne vorherige Wahl - verkraftbar. Gleichwohl, das räume ich gerne ein, wäre mir eine konsequente Umsetzung des EU-Rechts an dieser Stelle lieber gewesen. Wir sind uns einig, dass mit der Möglichkeit der Nachbesetzung der zusätzlichen Mandate aus der Mitte der nationalen Parlamente die Wahlrechtsgrundsätze nicht ausreichend berücksichtigt werden, und ich habe dargelegt, dass es sich dabei auch um eine Problematik handelt, bei der man sehr genau hinschauen muss. Wir haben uns die Frage gestellt, wie damit umzugehen ist, und kommen als CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu dem Ergebnis, eine pragmatische Herangehensweise zu empfehlen und dem Gesetzentwurf zuzustimmen. Lassen Sie mich aber auch ein paar grundsätzliche Anmerkungen zum Stimmenverhältnis im Europäischen Parlament machen. Ich halte eine umfassende Überarbeitung des Systems für die Wahlen zum Europäischen Parlament für richtig und bin dem britischen EP-Kollegen Andrew Duff für seine Vorschläge dankbar, auch wenn ich sie nicht in allen Punkten teile. Richtig ist, dass bevölkerungsarme Mitgliedstaaten im Vergleich zu bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten nach wie vor überproportional viele Stimmen erhalten. Folglich ist bei der Wahl des Europäischen Parlaments das Prinzip der Gleichheit aller Bürger nur unzureichend verwirklicht. Nach den primärrechtlichen Regelungen beträgt die Höchstzahl der Abgeordneten 751. Kein Mitgliedstaat erhält mehr als 96 Sitze und keiner weniger als sechs Sitze. Das führt dazu, dass das Gewicht der Stimme des Staatsangehörigen eines bevölkerungsschwachen Mitgliedstaats etwa das Zwölffache des Gewichts der Stimme des Staatsangehörigen eines bevölkerungsstarken Mitgliedstaats betragen kann. Damit politische Projekte gelingen können, ist eine zentrale Idee der europäischen Integration, Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu verbieten oder zu beschränken. Die Konzeption des Binnenmarkts beruht auf der Überzeugung, es mache keinen Unterschied, aus welchem Mitgliedstaat eine Ware oder eine Dienstleistung stammt, woher ein Arbeitnehmer oder Unternehmer kommt und welcher Herkunft Investitionen sind. Dieses Kriterium der Staatsangehörigkeit soll nach dem Lissabon-Vertrag entscheidend sein, wenn die politischen Einflussmöglichkeiten der Bürger in der Europäischen Union zugemessen werden. Es gibt hier nach meinem Dafürhalten einen Wertungswiderspruch, der aber mindestens ansatzweise aufgelöst werden könnte. Deswegen der Vorschlag: Wenn wir unter Beibehaltung der Höchstzahl von 751 Abgeordneten und einem Sockel von sechs Sitzen pro Mitgliedstaat einen Verteilungsschlüsse nach D’Hondt für alle weiteren Sitze anwenden, der die Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten stärker berücksichtigt, könnte dies eine Lösung sein. Letztlich brauchen wir mit Blick auf Beitritte von neuen Ländern in der Zukunft einen Mechanismus, der sich selbst perpetuiert und die Notwendigkeit vermeidet, mit jedem Beitritt den Vertrag von Lissabon erneut in die Hand nehmen zu müssen. Lassen Sie uns darüber einmal diskutieren. Abschließend danke ich meinen Berichterstatterkollegen für den konstruktiven Austausch und werbe um Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir reden zwar im Zusammenhang mit den Übergangsmaßnahmen zur Zusammensetzung des Europäischen Parlaments viel über Demokratie, aber ich habe den Eindruck, einige haben nicht wirklich verstanden, was Demokratie letztlich bedeutet. In unserer letzten Debatte zu diesem Thema im Mai dieses Jahres hatte ich bereits auf die Worte von Winston Churchill hingewiesen, der gesagt hat: „Demokratie ist die Notwendigkeit, sich gelegentlich den Ansichten anderer Leute zu beugen.“ Das sollten wir uns auch in dieser Sache alle zu Herzen nehmen. In einer Demokratie muss man sich den Mehrheiten fügen, und ganz offensichtlich sind wir in Europa nicht in der Mehrheit mit unserer Vorstellung, die zusätzlichen Mandate dürften ausschließlich auf Grundlage einer Direktwahl vergeben werden. Das mag uns gefallen oder nicht. Die Mehrheit der Staats- und Regierungschefs hat sich aber nun einmal darauf verständigt, auch die umstrittene Option 3 im Verfahren zur Nachbesetzung der zusätzlichen Sitze im Europaparlament zuzulassen, also die Benennung der Abgeordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente. Als Mitgliedstaat mit den meisten Einwohnern sollten wir auch die Größe haben, uns der Mehrheit zu beugen, wenn wir selbst in der Minderheit sind und daher dem Gesetzentwurf der Bundesregierung heute zustimmen. Das ist der erste zentrale Punkt, auf den ich in dieser Debatte hinweisen will. Außerdem, denke ich, sollte man zwei weitere Gesichtspunkte im Hinterkopf behalten: Erstens. Natürlich ist die Direktwahl zum Europäischen Parlament ein Meilenstein in der europäischen Politik gewesen. Aber gerade weil das so ist, sollte man den direkt gewählten Mitgliedern dieses Parlaments auch zugestehen, dass zuallererst sie selbst über die sie betreffenden Angelegenheiten entscheiden. Und das Europaparlament hat entschieden, dass eine Benennung der Abgeordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente zwar nicht mit dem Geist des Akts von 1976 vereinbar ist. Danach sollen nämlich die europäischen Abgeordneten direkt und nicht indirekt über eine Wahl in einem nationalen Parlament gewählt werden. Es hat aber auch seine Auffassung klargemacht, dass dennoch im Fall unüberwindbarer technischer oder politischer Schwierigkeiten eine indirekte Wahl durch die nationalen Parlamente akzeptabel ist. Ich fände es eine ziemliche Respektlosigkeit gegenüber den direkt gewählten Europaparlamentariern, sich als Abgeordnete eines nationalen Parlaments hinzustellen und zu sagen: Es ist uns egal, wie das Europaparlament diese Angelegenheit sieht. Wir stimmen gegen die Änderung des Protokolls, wenn die zusätzlichen Abgeordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente bestimmt werden können. Ich finde, wir sollten die Position des Europaparlaments respektieren und uns als nationale Parlamentarier entsprechend fair verhalten. Zweitens. Der nächste Gesichtspunkt, auf den ich gern hinweisen möchte, ist folgender: Alle, die dem Gesetzentwurf der Bundesregierung heute nicht zustimmen, müssen sich im Klaren darüber sein, dass sie versuchen, darüber zu bestimmen, wie sich ein anderer Mitgliedstaat zu verhalten hat - hier konkret Frankreich, das aufgrund seiner innerstaatlichen Regelungen die umstrittene Variante ins Auge fasst. Sie würden sich, genauer gesagt, anmaßen, die Franzosen darüber zu belehren, wie Demokratie auszusehen hat. Ich möchte keinen falschen Eindruck erwecken. Ich sehe eine Benennung der zusätzlichen Europaabgeordneten aus der Mitte der nationalen Parlamente aus Demokratiegesichtspunkten ebenfalls sehr kritisch. Ich möchte aber betonen, dass wir uns auch als Abgeordnete des größten EU-Mitgliedstaates den Mehrheiten in Europa beugen müssen. Hier kann ich nur nochmals an den Satz von Churchill erinnern. Als deutsche Abgeordnete sollten wir anderen Parlamenten nichts vorschreiben. Dies würde dem freundschaftlichen und respektvollen Umgang mit den anderen Mitgliedstaaten widersprechen. Außerdem sollten wir akzeptieren, dass das Europaparlament als eigenständiges EU-Organ auch eigene Entscheidungen trifft, die uns nicht immer hundertprozentig gefallen. Zurückhaltung unsererseits ist vor allem auch vor dem Hintergrund geboten, dass Deutschland seine derzeitigen Sitze im Europaparlament bis zur nächsten Wahl behält und damit die im Lissabon-Vertrag vorgesehene Höchstzahl an Sitzen vorübergehend überschritten wird. Ich bitte Sie deshalb, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zuzustimmen.

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Fraktion und ich bedauern zutiefst, dass im spanischen Vorschlag zu den Übergangsregelungen zur Zusammensetzung des Europäischen Parlaments die dritte Option, also die Nachbenennung aus den nationalen Parlamenten, bestehen bleibt. Deshalb haben wir bereits in einem Antrag vom 15. Dezember vergangenen Jahres deutlich gemacht, dass wir diese Lösung für inakzeptabel halten. In diesem Punkt gab es immerhin eine breite fraktionsübergreifende Übereinstimmung im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Unter Hinweis auf die Direktwahlen zum Europäischen Parlament seit 1979 und das Demokratieprinzip haben die Fraktionen unisono diese Möglichkeit scharf kritisiert - zu Recht. Wahlrechtsgrundsätze sind nun einmal fundamentale Verfassungsgrundsätze. Die SPD-Fraktion ist im Lichte des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Begleitgesetzgebung zum Zu Protokoll gegebene Reden Michael Roth ({0}) Vertrag von Lissabon ihrer Integrationsverantwortung nachgekommen. Wir haben die Bundesregierung frühzeitig darauf aufmerksam gemacht und auch eindringlich aufgefordert, in den Verhandlungen darauf hinzuwirken, dass die im Vorschlag genannte dritte Option der Nachbenennung nicht übernommen wird. Ich kann nur feststellen: Die Bundesregierung hat sich trotz dieser frühzeitigen Kritik nicht ausreichend auf europäischer Ebene dafür eingesetzt, dass eine Nachbenennung aus den nationalen Parlamenten möglich ist, um die zusätzlichen Mandate zu besetzen. Ganz klar: Die SPD-Bundestagsfraktion stellt in keiner Weise und zu keinem Zeitpunkt die Vereinbarung der Anpassung der Sitzverteilung an sich infrage. Zum Abstimmungsverhalten meiner Fraktion habe ich bereits in der gestrigen Ausschusssitzung gesagt, dass wir uns dennoch aus integrationspolitischer Verantwortung dazu entschlossen haben, dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzustimmen. Das Problem der Nachbesetzung stellt sich - zum Glück - nur in Frankreich. Es handelt sich also um einen absoluten Sonderfall, der in dieser Form künftig nicht mehr eintreten wird und darf. Unsere Bedenken wiegen deshalb so schwer, weil das Europäische Parlament - erst Recht durch den Vertrag von Lissabon - die wichtigste Legitimationsquelle europäischer Rechtsakte ist. Das Mitentscheidungsverfahren als ordentliches Gesetzgebungsverfahren macht es nahezu zum gleichberechtigten Gesetzgeber neben dem Rat. Auch sonstige parlamentstypische Funktionen, wie Wahlfunktion, Budgetfunktion und Willensbildungsfunktion werden von den Kolleginnen und Kollegen in Brüssel wahrgenommen. Nicht zuletzt die öffentlichkeitswirksamen Debatten im Europäischen Parlament zum SWIFT-Abkommen oder den Haushaltsverhandlungen zeigen uns: Ein zahnloser Tiger ist das Europäische Parlament schon lange nicht mehr. Zudem offenbart uns die Debatte heute aber das reale Problem: das Fehlen eines einheitlichen Wahlrechts für Abgeordnete des Europäischen Parlaments. Deshalb werden wir unsere Kolleginnen und Kollegen bei Vorhaben zu einer Wahlrechtsreform nach besten Kräften unterstützen. Schon lange gilt nicht mehr, dass nationale Parlamente und das Europäische Parlament sich in Konkurrenz befinden - zumindest sehen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten das so. Das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente sind zwei Seiten ein und derselben Medaille - der Parlamentarisierung und damit auch der Demokratisierung der Europäischen Union. Es gibt also viel zu tun. Eine Entparlamentarisierung der Politik, wie sie von vielen beklagt wird, können und wollen wir unter keinen Umständen zulassen. Mehr Demokratie in Europa wagen geht nicht mit mehr Intergouvernementalismus, sondern nur mit mehr Parlamentarismus.

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Im Rahmen eines politischen Gesamtkompromisses unter den EU-Mitgliedstaaten wurde mit dem Vertrag von Lissabon auch eine Erhöhung der Zahl der Mandate des Europäischen Parlamentes um insgesamt 18 eingeführt. Dies war notwendig, um die Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten für den Vertrag zu erhalten. Der Vertrag konnte aus den bekannten Gründen nicht so bald wie ursprünglich geplant in Kraft treten. Daher musste zunächst noch einmal nach dem alten Vertrag gewählt werden. Der Europäische Rat beschloss daraufhin, als Übergangsmaßnahme die Zahl der Mandate bereits in der laufenden Legislaturperiode des Europäischen Parlaments an die mit dem Vertrag von Lissabon vorgesehene erhöhte Zahl anzupassen. Der Vorschlag der spanischen EU-Ratspräsidentschaft vom 4. Dezember 2009 nach Art. 48 Abs. II EUV sah vor, dass die betroffenen Mitgliedstaaten - Deutschland gehörte im Übrigen nicht dazu - ihre zusätzlichen Abgeordneten nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften bestimmen - vorausgesetzt, die neuen Abgeordneten wurden in allgemeinen unmittelbaren Wahlen gewählt. Der spanische Vorschlag sah drei Alternativen vor, von denen zwei auf den ersten Blick unbedenklich waren, nämlich die Durchführung von Ad-hoc-Nachwahlen oder die Bestimmung auf Grundlage des Ergebnisses der Europawahlen vom Juni 2004. Die dritte Alternative jedoch warf gewisse Fragen nach der demokratischen Legitimation der neuen Abgeordneten auf, nämlich dass ein nationales Parlament die zusätzlichen Abgeordneten auch aus seiner Mitte bestimmen könnte. Dieses Änderungsprotokoll wurde vom Bundestag auch deshalb besonders aufmerksam begleitet, weil es den ersten Anwendungsfall des neuen Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesregierung in EU-Angelegenheiten darstellte, und zwar konkret des § 10 des EUZBBG. Die Koalitionsfraktionen waren sich bewusst, dass der Umgang beider Verfassungsorgane mit diesem Fall stilbildend für alle künftigen Fälle sein würde. Aus diesem Grunde gab der Bundestag am 21. April 2010 eine Stellungnahme nach Art. 23. Abs. 3 GG in Verbindung mit § 10 EUZBBG ab, in der er seine Bedenken äußerte und die Bundesregierung um Aufklärung bat. Nachdem das Auswärtige Amt die entsprechenden Informationen übermittelt und den Bundestag um Erklärung seines Einvernehmens gebeten hatte, konnte dieser sein Einvernehmen am 16. Juni 2010 erteilen. Bundestag und Bundesregierung haben in diesem Dossier in ihrer Zusammenarbeit einen neuen Weg beschritten, der sehr durch Kooperation und gegenseitige Information geprägt war und durchaus als Modell für künftige Fälle dienen kann. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich Herrn Staatsminister Dr. Werner Hoyer danken, der großen Wert auf diese enge Kooperation legte, sodass dieses Dossier alsbald für alle Seiten befriedigend abgeschlossen werden konnte.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Da der Vertrag von Lissabon erst am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten war, musste das Europäische Parlament, EP, im Juni 2009 noch nach den vorher geltenden vertraglichen Bestimmungen gewählt werden. Dabei hätte man es bis zum Ende der Wahlperiode belassen können und belassen sollen. Denn dies entspricht dem Zu Protokoll gegebene Reden guten Grundsatz, dass Parlamente sich nach dem Recht bilden und zusammensetzen, das zur Zeit ihrer Wahl gilt. Allerdings ist richtig, dass die Mitgliedstaaten, die nach dem Vertrag von Lissabon mehr Abgeordnete im EP bekommen sollten, mit dieser Regelung nicht einverstanden waren. Das ist zwar verständlich, dennoch bestand kein Zwang, diesen Forderungen nachzugeben. Vor allem dann nicht, wenn eine vertragsgemäße und verfassungskonforme Lösung dafür nicht möglich war. Tatsächlich ist es so: Die konkreten Regelungen zur Parlamentserweiterung, vorgeschlagen von der damaligen spanischen Ratspräsidentschaft, verstoßen gegen demokratische Wahlrechtsgrundsätze. Sie brechen die Grundsätze, die seit der ersten Direktwahl des EP verbindlich festgelegt sind: Nach einer der drei Varianten - der sogenannten Option C -, die der spanische Vorschlag enthält und nach der in Frankreich zusätzliche Mitglieder des EP bestimmt werden sollen, findet keine direkte Wahl durch die Bevölkerung statt. Hier ist die Ernennung der zusätzlichen EP-Mitglieder durch die nationalen Parlamente vorgesehen, und zwar aus dem Kreis ihrer Abgeordneten. Dass diese Lösung demokratiewidrig ist, war bei den ersten Diskussionen im Bundestag bei allen Fraktionen unbestritten. Auf einen in seinen Formulierungen sehr zurückhaltenden Antrag der Koalitionsparteien - 17/1179 hatte der Bundestag dann auch festgestellt, dass „die im spanischen Vorschlag enthaltene Option zur Bestimmung der zusätzlichen Mitglieder des Europäischen Parlamentes durch Benennung aus der Mitte der nationalen Parlamente dem Geist des Direktwahlakts von 1976 widerspricht“. Dieser berechtigte Einwand ist leider folgenlos geblieben. In dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf der Bundesregierung werden weder diese Grundsatzproblematik noch der Beschluss des Bundestags auch nur eines Wortes gewürdigt. In der Aussprache im federführenden EU-Ausschuss haben sich die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP - wie auch aus dem offiziellen Bericht hervorgeht - schamhaft überhaupt nicht geäußert. Die SPD hat den Gesetzentwurf zwar für inakzeptabel erklärt, im selben Atemzug aber angekündigt, aus integrationspolitischer Verantwortung heraus dem Entwurf zustimmen zu wollen. Die Grünen erklärten aus derselben Verantwortung heraus, sich der Stimme enthalten zu wollen. Unserer Integrationsverantwortung für eine demokratische Europäische Union entspricht es, keiner demokratiewidrigen Ausgestaltung der EU oder eines ihrer Organe zuzustimmen - auch nicht in einer Übergangsvorschrift. Einer Wahl zu einer parlamentarischen Vertretungsköperschaft, bei der das passive Wahlrecht nicht allen Bürgerinnen und Bürgern zusteht, sondern auf einen privilegierten Personenkreis - hier: auf die Abgeordneten der jeweiligen nationalen Parlamente - beschränkt ist, verstößt auch gegen die fundamentalen Grundsätze der parlamentarischen Demokratie, wie sie unter anderem in Art. 38 des Grundgesetzes niederlegt sind - vor allem die Grundsätze der allgemeinen, der gleichen und der direkten Wahl. Sosehr wir die Europäische Integration bejahen, so sehr lehnen wir es ab unverzichtbare Verfassungsprinzipien einer angeblichen Integrationsverantwortung zu opfern. Das gilt für Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und natürlich für die Demokratie. Den Gesetzentwurf lehnen wir daher ab.

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir sprechen heute über eine höchst wichtige europäische Angelegenheit. Mit dem Vertrag von Lissabon ändert sich der Schlüssel, nachdem die Mandate auf die einzelnen Mitgliedstaaten verteilt werden. 12 Staaten erhalten zusätzliche Mandate, insgesamt 18. Deutschland muss in Zukunft auf 3 Sitze verzichten, da die Obergrenze für Abgeordnete aus einem Land von 99 auf 96 abgesenkt wird. Durch die verzögerte Annahme des Vertrages von Lissabon konnte das aktuelle Europäische Parlament aber noch nicht nach den neuen Bestimmungen gewählt und besetzt werden. Daher sind wir heute in einer Situation, in der Lissabon Realität, das Parlament aber nach den alten Regeln von Nizza zusammengesetzt ist. Der Europäische Rat hat sich darauf geeinigt, dass zusätzliche Sitze schon während der Wahlperiode nachbesetzt werden sollen. Kurz: Die zwölf Länder, denen nach Lissabon mehr Sitze im Parlament zustehen, sollen diese Sitze möglichst schnell nachbesetzen. Diese Entscheidung finden wir gut. Vor allem die Bürgerinnen und Bürger in Spanien haben mit dem erfolgreichen Referendum zum Vertrag von Lissabon viel Europamut bewiesen. Diesen Mut wollen wir belohnen und zeigen, dass wir die gestärkten Mitbestimmungsrechte der Bürgerinnen und Bürger so schnell wie möglich in die Praxis umsetzen wollen. Es ist das richtige Zeichen, die vier zusätzlichen Sitze, die Spanien mit dem Vertrag von Lissabon zustehen, neben den 14 anderen Mandaten frühzeitig zu besetzen. Nicht gut ist die Art und Weise, wie diese Sitze nachbesetzt werden sollen. Das Protokoll, das heute zur Abstimmung steht, sieht für die Nachbesetzung drei Optionen vor: Die Vergabe der zusätzlichen Mandate auf Grundlage der Ergebnisse der letzten Europawahlen oder über allgemeine Ad-hoc-Wahlen sind die zwei Möglichkeiten, die demokratisch sind und die wir gut finden. Wir sollen heute aber ein Protokoll absegnen, dass es unter anderem auch ermöglicht, die zusätzlichen Abgeordneten aus der Mitte des jeweiligen nationalen Parlaments benennen zu lassen. Das können wir nicht tolerieren! Warum? Bis 1974 sind die Abgeordneten des Europäischen Parlaments nicht direkt gewählt, sondern aus den nationalen Parlamenten entsandt worden. Erst mit dem Direktwahlakt von 1976 und den ersten Direktwahlen des Europäischen Parlaments 1979 ist es dann gelungen, die damalige Europäische Gemeinschaft näher an die Bürgerinnen und Bürger zu bringen, also demokratischer zu machen. Diese demokratische Errungenschaft ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem Europa der Bürgerinnen und Bürger. Der Vorschlag, über den wir heute abstimmen, ist ein Rückschritt. Und demokratiZu Protokoll gegebene Reden sche Rückschritte auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger - wenn auch zeitlich begrenzt - wird es mit uns nicht geben. Diese Problematik hat nicht nur meine Fraktion wiederholt zum Ausdruck gebracht. Alle Parteien dieses Hauses haben in ihren Anträgen und Stellungnahmen deutlich gemacht, dass die dritte Option nicht mit dem Geist des Direktwahlakts von 1976 vereinbar ist und im Widerspruch zu Art. 14 Abs. 3 des Vertrages der Europäischen Union steht. Der bestimmt, dass das Europäische Parlament aus direkten Wahlen hervorgeht. Aus dieser richtigen Erkenntnis haben die Kolleginnen und Kollegen der Koalition aber leider nicht die entsprechende Konsequenz gezogen. Sie haben der Option C frühzeitig ihre Absolution gegeben, indem sie gesagt haben: Ist in Ordnung, wenn es einen guten Grund gibt. Der gute Grund ist folgender: Manche der Mitgliedstaaten sehen sich nicht in der Lage, ihre zusätzlichen Sitze auf Grundlage der Ergebnisse der letzten Europawahlen oder über allgemeine Ad-hoc-Wahlen nachzubesetzen. Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen hat dieses Haus daraufhin der Bundesregierung ihr Einvernehmen gegeben, auch der Option C ihre Zustimmung zu geben. Das bringt uns heute in ein wirkliches Dilemma. Stimmt der Bundestag dem Protokoll zu, dann geben wir demokratische Grundprinzipien preis - wenn auch nicht dauerhaft. Stimmt der Bundestag mit Nein, dann ist das eine Stimme für die Legitimation des Europäischen Parlaments durch die Bürgerinnen und Bürger. Wir verhindern aber auch, dass die anderen elf Mitgliedstaaten ihre zusätzlichen Mandate nachbesetzen können. Ich hätte mir gewünscht, dass uns die Koalition nicht in diese Lage hineinmanövriert hätte. Jetzt gibt es gute Gründe, dem Protokoll zuzustimmen, aber auch mindestens genauso gute Gründe, nicht dafür zu stimmen. Wir von Bündnis 90/Die Grünen können diese Zustimmung heute nicht geben. Wenn der Bundestag heute dem Protokoll zustimmt und auch alle anderen 26 Mitgliedstaaten dieses ratifizieren, werden die zusätzlichen 18 Mandate im Laufe des kommenden Jahres nachbesetzt. Die primäre Aufgabe der Bundesregierung kann es dann nur sein, eine Wiederholung einer solchen Entscheidung für die Zukunft auszuschließen, indem sie sich mit den anderen Mitgliedstaaten und in Abstimmung mit dem Europäischen Parlament auf ein einheitliches Wahlrecht für die Wahlen zum EP verständigt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Zweite Beratung und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4244, den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache 17/3357 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 a auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Dörner, Maria Klein-Schmeink, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesundes Aufwachsen für alle Kinder möglich machen - Drucksache 17/3863 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben: Dorothee Bär, Peter Tauber, Marlene Rupprecht, Florian Bernschneider, Diana Golze und Katja Dörner.

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Prävention und Gesundheitsförderung sind eine entscheidende Antwort auf die neuen gesundheitlichen Herausforderungen im 21. Jahrhundert. In der Kindheit und Jugend werden gesundheitsgefährdende, aber auch gesundheitsfördernde Verhaltensweisen geprägt. Thema des 13. Kinder- und Jugendberichts ist deshalb die gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe. Dort können nachhaltige Angebote einen wichtigen Beitrag zur Verringerung der Leiden der Betroffenen sowie zur Entlastung der Sozialversicherungssysteme leisten. Der Antrag der Grünen gründet überwiegend auf den Ergebnissen des 13. Kinder- und Jugendberichts und nimmt dort erarbeitete Empfehlungen auf. Es werden allerdings die vielfältigen, bereits von der Bundesregierung getroffenen Initiativen und Maßnahmen zur Thematik kaum bis gar nicht berücksichtigt. Zunächst gehört die geforderte Umsetzung von Ergebnissen und Empfehlungen des 13. Kinder- und Jugendberichts in die Fachpraxis nicht zu den Aufgaben der Bundesregierung. Zuständig für die praktische Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe sind einerseits Länder und Kommunen, andererseits Träger von Einrichtungen, Diensten und Angeboten. Jugendbehörden und Fachverbände haben bereits eine Vielzahl von Tagungen zum 13. Kinder- und Jugendbericht durchgeführt, um die Ergebnisse in die Fachpraxis zu transportieren. Hinsichtlich der von den Grünen geforderten Verbesserung der Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe und dem Gesundheitssystem hat die Bundesregierung bereits wichtige Schritte eingeleitet: Im Referentenentwurf eines Kinderschutzgesetzes wird diese Intention aufgegriffen. Mit dem Aktionsprogramm „Frühe Hilfen“ wurden Erkenntnisse für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitssystem gewonnen. Mit dem „Nationalen Zentrum Frühe Hilfen“ werden durch gemeinsame Trägerschaft der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit dem Deutschen Jugendinstitut das Gesundheitssystem und die Jugendhilfe zusätzlich strukturell verbunden. Überdies ist die Bundesregierung bereits intensiv dabei, die Möglichkeiten der beantragten einheitlichen Zuständigkeit für alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderung - sogenannte große Lösung - zu prüfen. Hinsichtlich der Forderungen nach einer besseren Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule wird darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung bereits seit mehreren Jahren Modellprojekte zu dieser Thematik fördert. Im Übrigen sind für den Schulbereich die Länder zuständig. Damit ist der Antrag, dessen Zielsetzung grundsätzlich begrüßt wird, im Ergebnis abzulehnen.

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit der Vorlage des 13. Kinder- und Jugendberichts ist es der Bundesregierung erstmals gelungen, einen Bericht vorzulegen, der alle Kinder in Deutschland in den Blick nimmt - ganz gleich, ob es sich um Kinder mit oder ohne Behinderungen handelt. Die Ergebnisse des Berichts sind zunächst einmal sehr beruhigend. Der Bericht macht nämlich deutlich, dass 80 Prozent der Kinder- und Jugendlichen, begleitet von ihren Eltern und unterstützt durch gesellschaftliche Institutionen wie Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sowie den sozialstaatlichen Unterstützungsmechanismen, das erleben, was man eine „sorgenfreie Kindheit“ nennt. Sie haben die Möglichkeit einer selbstbestimmten Entwicklung und nutzen diese. Damit bleibt Deutschland ein für Kinderund Jugendliche lebenswertes Land, das gute Rahmenbedingungen bietet. Professor Dr. Heiner Keupp hat daher deutlich gemacht: „Es ist mir ({0}) wichtig, dass Katastrophenmeldungen ({1}), in denen von 70 Prozent psychisch kranken Kindern in Deutschland die Rede ist, absoluter Unsinn sind. Etwa 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen wachsen in Deutschland nach wie vor gesund und gut in diese Gesellschaft hinein. Das ist kein Naturphänomen, sondern ({2}) das Ergebnis eines guten Sozialstaates, eines Bildungssystems und von Familien, die so schlecht nicht sind, wie sie immer wieder gemacht werden.“ Dies ist eine sehr erfreuliche Botschaft, die wir angesichts vieler - gerade auch Eltern verunsichernder - Berichte mit einer gewissen Zufriedenheit in unser Land tragen sollten. Dieses positive Resümee darf allerdings nicht dazu führen, die Kinder und Jugendlichen aus den Augen zu verlieren, die derzeit noch nicht die notwendige Unterstützung und Förderung erfahren. Der 13. Kinder- und Jugendbericht macht deutlich, dass die Schaffung guter Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe von Kommunen, Ländern und Bund ist. Dies gilt gerade auch für die beiden im Bericht näher beschriebenen Schwerpunkte der gesundheitsbezogenen Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Inklusion behinderter Kinder und Jugendlicher. Der Bericht mahnt zu Recht eine weitergehende wissenschaftliche Begleitung der beiden noch zu beschreibenden Leitthemen des aktuellen Berichtsschwerpunktes an. Hilfreich war hier vor allem der Hinweis auf aktuelle amerikanische Forschungen von Richard Lerner, der „die fünf Cs der positiven Jugendentwicklung“ - nämlich competence, caring, connection, confidence, character - definiert hat. Deutlich wird hier, dass neben materiellen vor allem soziale Beziehungsgeflechte und Rahmenbedingungen eine wesentliche Voraussetzung dafür sind, dass Kinder und Jugendliche „gut in die Gesellschaft hineinwachsen“. Diese Aspekte kommen in vielen politischen Diskussionen kaum vor. Es ist unsere Aufgabe, sich diesen Aspekten stärker zu widmen und hier die im 13. Kinder- und Jugendbericht nahezu ausgesparte Verantwortung und Aufgaben der Eltern zu thematisieren. Richard Lerner hat noch ein sechstes „C“ definiert: contribution. Gemeint ist damit, positive Jugendentwicklung mit gesellschaftlicher Partizipation zu verknüpfen. Der Bereich der Jugendfreiwilligendienste beispielsweise schafft eine solche Möglichkeit der Partizipation. Doch auch dieser Punkt, der noch breiten gesellschaftspolitischen Spielraum bietet, ist eine gesamtstaatliche Aufgabe. Hier sind Kommunen und Länder ebenso gefordert wie der Bund. Entscheidend ist aber auch hier ein positiver Ansatz, den es durch eine wissenschaftliche Begleitung zu stärken gilt. Die gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung ist schon seit vielen Jahren auf der Tagesordnung. Hier sollte es aber eine erkennbare Schwerpunktbildung bzw. eine stärkere Fokussierung als bislang ergeben. Dies erscheint uns sehr wichtig. Als besonderes Problem haben alle Sachverständigen in der Anhörung eine „Große Lösung“ in der Frage der Zuständigkeit bzw. einer tragfähigen Verknüpfung der Kinder- und Jugendhilfe mit der Behindertenhilfe auf kommunaler Ebene angemahnt. Auch der 13. Kinderund Jugendbericht umschreibt die Problematik einer nur beschränkten Zuständigkeit und Kompetenz der Kinderund Jugendhilfe für behinderte Kinder und Jugendliche und eine laut der Experten „lebensfernen“ Konstruktion des § 35 a SGB VIII. In diesem Zusammenhang sind auch der § 20 SGB V und die Komplexleistungen des SGB VIII in den Blick zu nehmen. Die Bundesregierung hat ihre Position zu dem Bericht der unabhängigen Sachverständigenkommission und den darin gezogenen Schlussfolgerungen in ihrer Stellungnahme dargelegt, die dem Bericht vorangestellt ist. Diese Einschätzung ist nach wie vor gültig. Es ist sehr erfreulich, dass die Ergebnisse des Berichts die Bundesregierung in ihrem Handeln bestärkt. Viele der Anregungen und Empfehlungen der Kommission, die in den Verantwortungsbereich der Bundesregierung fallen, haben wir bereits in dieser Legislaturperiode angestoßen. Ein wesentlicher Teil der Forderungen des von den Grünen vorgelegten Antrags bezieht sich auf die Umsetzung von Ergebnissen und Empfehlungen des 13. Kinder und Jugendberichts in die Fachpraxis. Hier muss man den Kolleginnen und Kollegen von den Grünen noch einmal klar und deutlich sagen: Zu Protokoll gegebene Reden Dies gehört nicht zu den Aufgaben der Bundesregierung. Zuständig für die Ausgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe in der Praxis sind einerseits die Länder und Kommunen, andererseits die freien und öffentlichen Träger von Einrichtungen, Diensten und Angeboten. Jugendbehörden und Fachverbände haben bereits eine Vielzahl von Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen zum 13. Kinder und Jugendberichts durchgeführt, häufig unter Mitwirkung von Mitgliedern der Sachverständigenkommission, um die Ergebnisse in die Fachpraxis zu transportieren. Das dürfte auch der GrünenFraktion eigentlich nicht entgangen sein. Die in einem großen Teil der Forderungen formulierten Inhalte und Intentionen des Antrags sind zudem bereits in Vorhaben, Modellprojekten oder Strategien der Bundesregierung berücksichtigt. So werden im Referentenentwurf des Kinderschutzgesetzes die Absicht der Prävention und eine Verbesserung der Kooperation zwischen Kinderund Jugendhilfe und dem Gesundheitssystem aufgegriffen. Dies hätten die Damen und Herren der GrünenFraktion eigentlich wissen müssen. Mit dem Aktionsprogramm „Frühe Hilfen“ und den in diesem Programm vom Bund gemeinsam mit den Ländern initiierten Modellprojekten wurden bereits wertvolle Impulse gesetzt und Erkenntnisse für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Gesundheitssystem gewonnen. Das BMFSFJ hat mit dem „Nationalen Zentrum Frühe Hilfen“ eine erfolgreiche Institution geschaffen, die durch gemeinsame Trägerschaft der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit dem Deutschen Jugendinstitut das Gesundheitssystem und die Jugendhilfe strukturell verbindet. Ebenso ist die Bundesregierung bereits intensiv dabei, die Möglichkeiten einer einheitlichen Zuständigkeit für alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderung zu prüfen. Ich habe ja bereits ausgeführt, wo die Probleme liegen. Ihr Antrag allerdings gibt auf diese Problemstellung keine Antworten, sondern setzt eher noch falsche Schwerpunkte. Auch wurden in den vergangenen Jahren bereits mehrere gemeinsame „systemübergreifende“ Gremienbeschlüsse etwa der Jugend- und Familienministerkonferenz und der Gesundheitsministerkonferenz zur Gesundheitsförderung und zu einem besseren Kinderschutz getroffen. Auch dies berücksichtigen Sie in Ihrem Antrag leider nicht. Hinsichtlich Ihrer Forderungen nach einer besseren Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule weise ich Sie darauf hin, dass die Bundesregierung bereits seit mehreren Jahren Modellprojekte zu dieser Thematik fördert. Auch das Konzept der regionalen bzw. lokalen Bildungslandschaften entstand in diesem Kontext. Im Übrigen müssten Sie eigentlich wissen, dass für den Schulbereich die Länder zuständig sind. Ich halte fest: Der aktuelle Kinder und Jugendbericht bestätigt die Politik der christlich-liberalen Koalition in vielen Bereichen eindrucksvoll. Ihr Antrag, meine sehr geehrten Damen und Herren von den Grünen, enthält zum Großteil Forderungen, die längst angegangen wurden. Der Antrag bringt uns im Ringen für ein besseres Aufwachsen der Kinder keinen Schritt weiter. Meine Fraktion wird ihn daher ablehnen.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung „Mehr Chancen für gesundes Aufwachsen, gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe“ stellt die gesundheitliche Situation und Prävention für Kinder und Jugendliche in den Mittelpunkt. Der Antrag der Grünen hierzu deckt sich an vielen Stellen mit dem bereits vorliegenden Antrag der SPD-Fraktion „Gesundes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen fördern“. Ich möchte mich besonders auf einen Punkt konzentrieren, der sowohl in unserem Antrag als auch dem Antrag der Grünen eine zentrale Rolle spielt: Es handelt sich um das Prinzip der Inklusion. Inklusion heißt: Nicht mehr der Mensch mit besonderen Bedürfnissen, etwa mit einer Behinderung, ein sozial benachteiligter Mensch, ein Mensch mit Migrationshintergrund oder auch eine Person mit einer Hochbegabung, muss sich der Gesellschaft anpassen, wie dies bei der Integration der Fall ist. Vielmehr muss sich die Gesellschaft mit ihren Strukturen den individuellen Bedürfnissen aller Menschen anpassen. Eine inklusive Gesellschaft bezieht alle Menschen mit ihren Bedürfnissen von Anfang an ein und grenzt gar nicht erst aus. Individualität und Vielfalt der Menschen werden anerkannt und wertgeschätzt. Inklusion ist nicht nur eine Forderung des 13. Kinderund Jugendberichts, sie ist auch das zentrale Anliegen der UN-Behindertenrechtskonvention. Diese trat in Deutschland am 26. März 2009 in Kraft. Sie ist geltendes deutsches Recht und muss umgesetzt werden. Mit der Umsetzung von Inklusion ergeben sich konkrete Veränderungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Alle Kinder und Jugendlichen haben das Recht auf gemeinsames und gesundes Aufwachsen. Krippen, Kindertageseinrichtungen und Schulen dürfen nicht aussondern, alle Kinder haben das Recht, gemeinsam zu lernen. Jedem Kind muss individuelle Förderung zur Verfügung gestellt werden. Kindertageseinrichtungen, Schulen und Lehrkräfte müssen durch Fortbildung und Begleitung bei der Umsetzung des inklusiven Bildungsanspruchs unterstützt werden. Lehramtsstudiengänge müssen an die Anforderungen inklusiver Bildung angepasst werden. Barrierefreiheit bei allen Neu- und Umbauten versteht sich von selbst. Das Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen muss so gestaltet sein, dass sie ihr Bedürfnis nach Bewegung, Spiel und Sport ausleben können. Um ein bewegungsfreundliches und gesundes Wohnumfeld zu schaffen, müssen soziale Stadtentwicklung und Gesundheitsförderung stärker verknüpft werden. Die enormen Streichungen der schwarz-gelben Regierung beim Programm „Soziale Stadt“ sind unverantwortlich. Gerade auf dem Gebiet der gesundheitlichen Zu Protokoll gegebene Reden Marlene Rupprecht ({0}) Präventionsarbeit im Sozialraum leisten Quartiermanage-mentteams hervorragende Arbeit. Gesetzlicher Handlungsbedarf besteht bei der Schnittstellenproblematik zwischen Sozialhilfe - SGB XII - und Kinder- und Jugendhilfe - SGB VIII. Kinder und Jugendliche mit einem erzieherischen oder einem behinderungsspezifischen Bedarf, der aus einer seelischen Behinderung resultiert, sind dem SGB VIII zugeordnet, während für Kinder und Jugendliche mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung das SGB XII einschlägig ist. Aufgrund dieser Schnittstellenproblematik kommt es immer wieder zu Zuständigkeitsstreitigkeiten und Reibungsverlusten. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen haben aber - unabhängig von der Art und Schwere ihrer Behinderung - Bedürfnisse, wie sie jedes Kind entwickelt. Es ist daher vor allem aus Kindersicht sinnvoll, alle Leistungen für Kinder unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe zusammenzufassen - „Große Lösung“. Auch aus der Sicht der inklusiven Perspektive, für die jedes Kind ungeachtet seiner Behinderungen oder besonderen Bedürfnisse gleich wertvoll ist und individuell gefördert werden muss, macht nur diese „Große Lösung“ Sinn. Darüber hinaus bin ich für die Prüfung einer noch umfassenderen „Großen Lösung“, die nicht nur die Eingliederungshilfe aus dem SGB XII in das SGB VIII transferiert, sondern auch die anderen Systeme - das Schul-, das Gesundheits- und das Jugendhilfesystem - mit Blick darauf einbezieht, ob das jeweilige Leistungssystem dem inklusiven Ansatz gerecht wird. Eine weitere Schnittstellenproblematik ergibt sich bei der Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendhilfe mit dem Gesundheitswesen. Der 13. Kinder und Jugendbericht beschreibt als wichtiges Ziel, Kinder- und Jugendhilfe mit den verschiedenen Akteuren des öffentlichen und privaten Gesundheitswesens enger zu verzahnen, damit gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung im Kinder- und Jugendalter besser gelingen kann. Alle mit Kindern und jugendlichen arbeitenden Stellen müssen sich besser vernetzen. Alle politischen Ebenen sind gefordert, Lücken bei der Förderung eines gesunden Aufwachsens, bei der Vernetzung von Strukturen und bei der Etablierung von Maßnahmen für frühe Förderung und für frühe Hilfen aufzudecken und zu schließen. Kinder und Jugendliche sind nach Art. 12 der UNKinderrechtskonvention bei allen sie betreffenden Maßnahmen entsprechend ihrem Alter und ihrer Reife zu beteiligen. Politik für Kinder und Jugendliche und mit Kindern und Jugendlichen ist ein sich ständig verändernder Prozess hin zu einer kindergerechteren Gesellschaft. Wir haben auf diesem Weg schon viel erreicht, aber es gibt auch noch viel zu tun. Wir fordern deshalb die Fortschreibung des Nationalen Aktionsplans für ein kindergerechtes Deutschland 2005 bis 2010, den die Bundesregierung leider gerade mit einer fachlich guten Abschlussveranstaltung zu Grabe getragen hat. Ich kann nicht verstehen, warum man diesen Aktionsplan mit seinen vielen sehr guten Ansätzen und bereits gewachsenen Strukturen, auch bei den Kindern und Jugendlichen, nicht fortführt. Schließlich ist die deutlichste Wertschätzung aller Kinder von Anfang an die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz. Die Zustimmung für dieses von den großen Kinderorganisationen mitgetragene Vorhaben wächst. Ich werde weiter für die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz kämpfen und bitte Sie alle um Ihre Unterstützung.

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die heute vorliegende Initiative nimmt Bezug auf den 13. Kinder- und Jugendbericht, dem wir uns im Familienausschuss mit einer Anhörung und einem Expertengespräch sehr ausführlich gewidmet haben. Das war auch richtig und wichtig. Schließlich wird uns nicht alle Jahre ein so fundierter Bericht über die Situation von Kindern und Jugendlichen in unserem Land, diesmal mit dem Schwerpunkt der Gesundheitsentwicklung und Prävention, zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus handelt es sich um den ersten Kinder- und Jugendbericht, der alle Kinder und Jugendlichen in den Blick nimmt - auch diejenigen mit Behinderungen gleich welcher Art. Ferner stellt der Bericht die Schnittstellen zwischen den drei Systemen Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitswesen und Behindertenhilfe ins Zentrum seiner Untersuchung. Damit haben die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Neuland betreten. Dafür ist ihnen ausdrücklich zu danken. Der Bericht hat zum einen zu dem erfreulichen Ergebnis geführt, dass etwa 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland nach wie vor gesund und gut aufwachsen. Das sollte man zu Beginn festhalten, denn das gehört - bei allem Verständnis für Kritik - zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme dazu. Allerdings wurde auch deutlich, dass die soziale Herkunft eines Kindes auch über seine Gesundheit entscheidet. Kinder finden sich zunehmend in sozial und gesundheitlich schwierigen Lebenslagen. Dies zu ändern muss Ziel einer verantwortungsbewussten Politik sein. Auch in anderen Bereichen enthält der 13. Kinder- und Jugendbericht den einen oder anderen hilfreichen Fingerzeig. Diese Hinweise sollten alle staatlichen Ebenen beachten und in ihr Handeln einfließen lassen. Die Bundesregierung wird dies, wo sie zuständig ist, tun. Der zum Bericht vorliegende Antrag der Grünen enthält einige gute Ansätze. Über diese, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, kommt er jedoch nicht hinaus. Sie bemängeln einen angeblichen Flickenteppich von Projekten und Modellprogrammen und fordern zugleich in Ihrem Antrag ein neues Modellprogramm, dass die Vernetzung von Bildungseinrichtungen und Jugendhilfe verbessern soll. Dabei konterkarieren Sie damit nicht nur ihre eigenen Ausführungen, sondern verschweigen, dass diese Regierung zum Beispiel mit dem Programm „Bildungsketten“ und dem Programm „Jugend Stärken“ bereits zusätzliche Anstrengungen unternimmt, um jungen Menschen bei der Erlangung eines Schulabschlusses sowie dem Übergang von Schule in Ausbildung zu helfen. Zu Protokoll gegebene Reden Mit dem Programm „Bildungsketten“ beispielsweise wollen wir bundesweit lerngefährdeten Hauptschülerinnen und Hauptschülern zu einem Schulabschluss und einem Einstieg in eine Ausbildung verhelfen. Gedacht ist an 30 000 Schülerinnen und Schüler ab Klasse 7, die nach einem Kompetenztest individuell betreut und dann in Betriebe vermittelt werden sollen. Schon heute arbeiten 1 000 von der Bundesagentur für Arbeit finanzierte Fachleute als Bildungslotsen und betreuen etwa 20 000 Schülerinnen und Schüler. Hierzu sollen in den nächsten Jahren weitere 1 000 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Berater hinzutreten. Das lässt sich der Bund rund 755 Millionen Euro bis 2018 kosten. Schön einfach machen Sie es sich, wenn Sie eine bessere Vernetzung und ein besseres Schnittstellenmanagement zwischen den Akteuren der Kinder- und Jugendhilfe fordern. Die Erkenntnis, dass gerade bei Kindern und Jugendlichen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen ein erhöhter Abstimmungsbedarf zwischen dem SGB VIII - Kinder und Jugendhilfe - und dem SGB XII - Sozialhilfe - besteht und Schnittstellenprobleme zwischen den verschiedenen Regelungssystemen existieren, ist aber alles andere als neu. Über mögliche Lösungen dieser Schnittstellenprobleme - Stichwort „Große Lösung“ - diskutiert man politisch wie wissenschaftlich seit über einem Jahrzehnt. Während der Regierungszeit von Rot-Grün hat sich hier übrigens nichts bewegt. Daher sollten Sie ehrlich sein und dieser Regierung, gerade bei diesem komplexen Thema, zugestehen, gründlich und strukturiert zu arbeiten. Indem Sie das gesamte Thema Inklusion in einem Punkt Ihres Antrages kurz abfertigen, werden Sie der Sache nicht gerecht, denn es müssen hier viele Punkte bedacht werden. Prinzipiell sprechen wir über zwei Lösungsoptionen: Erstens, die Zuständigkeit für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung wird unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe über eine entsprechende Neufassung des § 35 a SGB VIII zusammengefasst oder, zweitens, die Sozialhilfe erhält wieder die Alleinzuständigkeit über alle behinderungsbedingten Hilfen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Beide Lösungsansätze haben ihre Vor- und Nachteile. Bei beiden sind etliche Fragen wie die Ausgestaltung der Kostenbeteiligung, die Bedarfsfeststellung und Leistungssteuerung oder die Angleichung der Rechtsanspruchsvoraussetzungen zweier bis dato unterschiedlicher Systeme zu klären. Das braucht Zeit. Gerade deshalb will ich uns allen, insbesondere der Opposition, die dieser Tage mit so mancher Forderung und manchem Versprechen schnell bei der Hand ist, noch einmal eine zentrale Aussage aus der Anhörung des 13. Kinder- und Jugendberichts in Erinnerung rufen: Die Experten haben unisono erklärt, dass eine Beseitigung dieser Schnittstelle wahrscheinlich nur in einem Prozess über mehrere Stufen und Jahre zu bewerkstelligen sein wird. Ein Hauruck-Verfahren würde mehr Schaden anrichten als nützen. Und vor allem waren sich alle Experten einig, dass man dieses Thema nicht zur politischen Profilierung nutzen sollte, um den schwierigen Abstimmungsprozess zwischen Kommunen, Ländern und Bund nicht unnötig durch parteipolitisches Fingerhakeln zu erschweren. Nicht zuletzt müsste auch die Reform der Kommunalfinanzen bei dieser schwierigen Reform mit bedacht werden. Wenn sich das alle zu Herzen nehmen würden, wäre, glaube ich, schon viel gewonnen.

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

„Die Bundesregierung will die Rahmenbedingungen für das Aufwachsen der nachfolgenden Generationen weiter verbessern. Dazu gehört auch das soziale, psychische und physische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen. Die bestmögliche Förderung der Gesundheit ist dabei ein zentrales Anliegen der Bundesregierung.“ Dies sind die einleitenden Worte aus der Stellungnahme der Bundesregierung zum XIII. Kinder- und Jugendbericht. In diesem Bericht ging es um Chancen für ein gesundes Aufwachsen und um die dafür notwendigen politischen Maßnahmen und Initiativen. Was aber macht die Bundesregierung, um das große Ziel einer bestmöglichen Förderung zu erreichen? Spiegelt es sich wirklich im politischen Handeln wider? Es ist in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Studien nachlesbar, es wurde in der Fachanhörung zu besagtem Bericht von mehreren Sachverständigen betont, und es wird durch einen Blick in unsere Schulen und Kitas eines sehr schnell deutlich: Gesundheit und Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen hängen in extrem hohem Maße mit ihren gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten zusammen. Die Lebensbedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, beeinflussen ihre körperliche, psychische und soziale Entwicklung. Nicht erst seit Vorliegen des Kinder- und Jugendberichtes ist bekannt, dass soziale Benachteiligung und Armut mit gesundheitlichen Belastungen verbunden sind. In Deutschland leben über 3 Millionen Kinder in Armut oder sind akut von Armut bedroht, 3 Millionen Kinder, deren Wohlbefinden offenkundig nicht zum zentralen Anliegen der Bundesregierung gehört. Die Politik von Familienministerin Schröder und Arbeitsministerin von der Leyen müsste sich also insbesondere auf diese Gruppe von Kindern und Jugendlichen konzentrieren oder sie zumindest im Fokus haben. Vor allem Frau von der Leyen hätte viele Möglichkeiten gehabt, auch für diese Kinder bessere Chancen auf ein gesundes Aufwachsen zu schaffen. Sie hätte in der letzten Legislaturperiode eine Kinderzuschlagsreform initiieren können, um aus dieser Leistung ein wirksames Instrument zur Kinderarmutsbekämpfung zu machen. Stattdessen hat sie Stückwerk betrieben und kaum spürbare Verbesserungen vorgenommen. Sie hätte weiterhin, statt nur das Kindergeld um 10 Euro zu erhöhen, auch die Familien und deren Kinder finanziell besser stellen können, bei denen diese Erhöhung nicht angekommen ist, also bei denen, die von ALG II leben müssen. In ihrem neuen Ressort, dem Ministerium für Arbeit und Soziales, aber hätte sie eigentlich den ganz großen Wurf im Kampf gegen die Kinderarmut machen können, indem sie den Rüffel des Bundesverfassungsgerichtes Zu Protokoll gegebene Reden ernsthaft umgesetzt hätte. Stattdessen aber legte sie eine Reform der Hartz-IV-Regelsätze vor, in der der Kinderregelsatz weder eigenständig berechnet noch kindgerecht und erst recht nicht gesundheitsfördernd ist. Die neue Familienministerin schloss geradezu nahtlos an diesen Politikansatz an. Kinderarmut ist im Hause Schröder inzwischen gar kein Thema mehr, Familien im ALG-II-Bezug wird das Elterngeld gestrichen, und die Erhöhung des Kinderfreibetrages wird gefeiert, als wäre es eine politische Errungenschaft und nicht die notwendige Schlussfolgerung aus einer weiteren Kindergelderhöhung. Wer angesichts einer solchen Politik dann behauptet, über frühe Hilfen und Familienhebammenprogramme einen wichtigen Beitrag zum gesunden Aufwachsen zu leisten, scheint entweder nichts zu verstehen oder eine offensichtliche Klientelpolitik für Besserverdienende etablieren zu wollen. Wer es mit einer bestmöglichen Förderung der Gesundheit aller Kinder ernst meint, schafft gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die alle Kinder einbeziehen. Die Gesundheitspolitik kann die sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheiten nicht im Alleingang wirksam bekämpfen. Diese Ungleichheiten aber werden nicht bekämpft. Stattdessen wachsen sie in allen Bevölkerungsgruppen. Besonders bei Kindern und Jugendlichen hat dies fatale Folgen, da diese Ungleichheit sich in der Zeit des Heranwachsens besonders negativ auf die Entwicklung und die Zukunft dieser Kinder auswirkt. Wenn man aber anerkennt, dass die Einflüsse des Arbeitsmarktes, der Einkommensverteilung, der Leistungsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme und der Bildungspolitik auf die Gesundheit so enorm sind, erkennt man, dass gesundheits- und präventionspolitische Ansätze allenfalls Akzente setzen können. Um die Chancen, Ressourcen und damit auch die gesundheitliche Situation der Bevölkerung und insbesondere der Kinder und Jugendlichen entscheidend positiv zu beeinflussen, ist eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik erforderlich, die über die klassische Aufgabenstellung der Gesundheitspolitik hinausgeht und alle Politikbereiche umfasst. Ein solch umfassender Politikansatz aber ist im Regierungshandeln nicht erkennbar. Die Linke teilt die gesundheitspolitischen Ansätze, die im Antrag der Grünen stehen. Was aus unserer Sicht fehlt, sind die Bezüge zu gesamtgesellschaftlichen Prozessen und zu daraus erwachsenden politischen Maßnahmen. Eine Stärkung der Jugendhilfe als wichtiges Instrument im Bereich der Prävention, eine Verbesserung der Bildungslandschaft, die allen Kindern gleichen Zugang gewährt, die Rolle einer qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung und nicht zuletzt die Bekämpfung der Kinderarmut durch die Schaffung einer existenzsichernden Grundsicherung für Kinder und die Bekämpfung der Familienarmut durch einen gesetzlichen Mindestlohn sind Forderungen, die auch in diese Debatte gehören.

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Was sind die zentralen gesundheitsbezogenen Faktoren und Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in der heutigen Zeit? Der 13. Kinder- und Jugendbericht gibt Antworten, zeigt Problembereiche auf und stellt gleichzeitig klar, dass die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen weitreichende Bezüge über den Kontext medizinischer Problemstellungen hinaus hat. Dieser 13. Kinder- und Jugendbericht ist einzigartig in mehrfacher Hinsicht: Erstmals werden alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland, mit und ohne Behinderungen, in den Blick genommen. Erstmals werden im Kinderund Jugendbericht die Schnittstellen zwischen Kinderund Jugendhilfe, Gesundheitshilfe und Behindertenhilfe berücksichtigt. Erstmals werden richtungsweisende Konzepte wie Salutogenese und Befähigungsgerechtigkeit als Basis für eine gelingende Gesundheitsförderung nutzbar gemacht. Es ist gut, die Situation der Kinder und Jugendlichen durch Kinder- und Jugendberichte regelmäßig in den Mittelpunkt der parlamentarischen Debatte zu stellen. Aber ich möchte kritisch festhalten: Dieser Bericht hätte schon in der letzten Wahlperiode diskutiert werden müssen, denn so lange liegt er bereits vor. Viel Zeit ist ins Land gegangen, ohne dass Ergebnisse reflektiert, kritisch diskutiert oder tragfähige Konzepte entwickelt wurden. Umso wichtiger ist es, jetzt genau dies und noch mehr zu tun. Es reicht längst nicht mehr, den Sachstand der Fachdiskussion wiederzugeben. Der Bericht sagt ganz klar: Es gibt großen Nachholbedarf bei der Gesundheitsprävention, es gibt Versorgungsbrüche zwischen den Systemen und zu viele Projekte und zu wenig integrierte Regelangebote. Die Bundesregierung ist in der Pflicht, diesen Prozess in Gang zu setzen. In unserem Antrag gibt es Vorschläge, wie zu verfahren ist und welche Konsequenzen gezogen werden müssen. Positiv ist: Den meisten Kindern in Deutschland geht es gut. Aber es muss uns alarmieren, dass Kinder und Jugendliche, die auch in anderen Bereichen abgehängt sind, auch im Gesundheitsbereich Nachteile haben. Beispielsweise Kinder mit Behinderungen, Jugendliche mit Migrationshintergrund oder Kinder mit Traumaerfahrung. Gerade da besteht Handlungsbedarf. So gibt es zum Beispiel schon seit einigen Jahren die kontrovers geführte Diskussion darüber, alle Leistungen für alle Kinder und Jugendlichen im SGB VIII zu konzentrieren und Synergieeffekte zu nutzen, die sogenannte Große Lösung. Angeregt hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme genau diese einheitliche Verantwortung für alle Kinder und Jugendlichen in der Zuständigkeit der Jugendhilfe. Die ist angesichts der vor einem Jahr ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention auch nur konsequent. Denn Kinder sind vor allem Kinder und nicht Behinderte oder Nicht-Behinderte. Was ist in den 19 Monaten seit Veröffentlichung der Stellungnahme passiert, wie viele Ressourcen haben die zuständigen Ministerien in die Erarbeitung von Lösungsvorschlägen investiert? Wenig bis nichts. Problematische Gesundheitsentwicklungen bei jungen Menschen sind gekennzeichnet durch eine deutliche Zunahme chronischer und psychosomatischer ErkranZu Protokoll gegebene Reden kungen und Entwicklungsstörungen. Die Frage nach Ursachen und vor allem auch nach möglichen wirksamen Strategien zur Vorsorge rückt viel zu oft in den Hintergrund. Genau darum muss es aber gehen, wenn wir Gesundheit und Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen verbessern wollen. Folgerichtig fordert der Kinder- und Jugendbericht insbesondere eine Verbesserung des Zusammenwirkens der drei Systeme Kinder- und Jugendhilfe, Gesundheitswesen und Behindertenhilfe ein. Er macht auch deutlich, dass es zwar gute Konzepte zur Prävention und Gesundheitsförderung gibt, die bestehenden Angebote jedoch in der Praxis nicht ausreichend und befriedigend miteinander koordiniert und abgestimmt sind. Deswegen bleiben sie hinter ihren Möglichkeiten zurück. Wie unterstützt die Bundesregierung beispielsweise die Etablierung des Setting-Ansatzes für den Kita-Bereich, um gesundheitsfördernde Ressourcen zu identifizieren und zu stärken? Über die Schaffung gesundheitsgerechter Verhältnisse könnte die gesundheitliche Situation der Kinder und Eltern nachhaltig verbessert werden. Möglich wäre, unter aktiver Einbeziehung aller Beteiligten die jeweiligen Gesundheitspotenziale im Kita-Bereich zu ermitteln und im Setting einen Prozess geplanter organisatorischer Veränderungen anzuregen. Doch die Ministerin ist Antworten schuldig geblieben. Bund, Länder und Kommunen tragen gemeinsam die Verantwortung für das gesunde Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Ein erster Schritt, dieser Verantwortung für das gesunde Aufwachsen gerecht zu werden, könnte die Einrichtung eines koordinierten Bund-Länder-Arbeitskreises sein, der eine gesundheitsförderliche Gesamtstrategie für Kinder und Jugendliche entwickelt und umsetzt. Die Kinder- und Jugendhilfe kann und soll nicht gesundheitliche Präventionsaufgaben des Gesundheitssystems übernehmen. Aber sie braucht kontinuierliche Angebote, fachliche Standards und Evaluation der Praxis. Eine gesundheitsfördernde Gesamtstrategie, die die Potenziale der Jugendhilfe nutzt und stärkt, ist längst überfällig. Dieser Aufgabe muss sich die Bundesregierung endlich ernsthaft widmen. Vielen Dank.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3863 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai 2005 zur Verhütung des Terrorismus - Drucksache 17/3801 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 17/4124 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg Jörg van Essen Raju Sharma Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Patrick Sensburg, Sebastian Edathy, Jörg van Essen, Ulla Jelpke, Jerzy Montag.

Prof. Dr. Patrick Sensburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute beschließen wir in zweiter und dritter Lesung das Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai 2005 zur Verhütung des Terrorismus. Damit schaffen wir die gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG notwenigen Voraussetzungen, damit die Bundesrepublik Deutschland dieses Übereinkommen ratifizieren kann. Dieses im Oktober 2006 unterzeichnete Abkommen ist bereits zum 1. Juni 2007 in Kraft getreten und bedarf nun noch unserer Zustimmung. Ich begrüße die Ankündigung der SPD-Fraktion, hier gemeinsam mit den Fraktionen der christlich-liberalen Koalition diesem Gesetz zuzustimmen. Und es spricht für sich, dass die Linke als einzige Fraktion dieses Hauses diesem Gesetz nicht zustimmen möchte. Damit beweist die Linkspartei erneut, dass ihr der Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger vor terroristischen Anschlägen offensichtlich nicht wichtig ist. Das Abkommen wurde bereits sowohl von einigen unserer Nachbarländer wie Frankreich, Österreich und Polen ratifiziert. Selbst Russland hat das Übereinkommen ratifiziert. Nur die Linken sind - mal wieder - dagegen. Das Übereinkommen zur Verhütung des Terrorismus ist ein weiterer Baustein im Bereich der Prävention von Terrorismus. Neben den vielen nationalen Anstrengungen zur Terrorismusbekämpfung und den Maßnahmen im Rahmen der Europäischen Union hat sich damit auch die älteste paneuropäische Organisation mit seinen 47 Mitgliedstaaten ein weiteres Mal diesem wichtigen Ziel für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger verschrieben. Das ist nachdrücklich zu unterstützen. Gerade letztes Wochenende mussten die Menschen in Stockholm erleben, wie real und wie nah die Bedrohung insbesondere durch den islamistischen Terrorismus ist. Auch deutsche Staatsbürger sind bereits Opfer von islamistischen Terrorakten geworden. Und auch wenn bei uns in Deutschland bislang noch kein Anschlag Opfer gefordert hat, haben wir Grund zur erhöhten Wachsamkeit. Aktuell mussten die Sicherheitsvorkehrungen erhöht werden. Alle Maßnahmen, die im Einklang mit unserer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung einen Beitrag zur Verhütung von Terrorismus leisten, sollten daher unsere Unterstützung erhalten. Dabei ist klar: Als Antwort auf den globalen Terrorismus reichen nationale Instrumente zur Prävention allein nicht aus. Wir brauchen hier eine starke internationale Zusammenarbeit im Rahmen der EU, der NATO, der Vereinten Nationen und eben auch des Europarates sowie weiterer internationaler Organisationen wie der OSZE. Das Übereinkommen zielt inhaltlich auf eine bessere Prävention von Terrorismus ab, wobei menschenrechtliche, demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze natürlich gewahrt bleiben müssen. Im Kern verlangt es dabei von den Vertragsparteien wirksame Maßnahmen, um die Durchführung terroristischer Aktivitäten und Attentate zu verhindern. Das betrifft zum einen innerstaatliche Maßnahmen wie die Aus- und Weiterbildung der Strafverfolgungsbehörden sowie die bessere Zusammenarbeit innerstaatlicher Behörden. Zum anderen betrifft dies die internationale Zusammenarbeit, zum Beispiel in Bezug auf den gegenseitigen Austausch von Informationen. Darüber hinaus werden die Vertragsparteien verpflichtet, konkrete Handlungen, die im Vorfeld eines Terroranschlages durchgeführt werden, unter Strafe zu stellen, wenn diese rechtswidrig und vorsätzlich begangen werden. Dazu gehört zunächst nach Art. 5 der Übereinkunft die öffentliche Aufforderung zur Begehung einer terroristischen Straftat. Dabei reicht der Vorsatz, andere Personen zu einem Terroranschlag anzustiften, aus und zwar unabhängig davon, ob dabei terroristische Straftaten unmittelbar befürwortet werden. In Art. 6 werden die Vertragsparteien verpflichtet, das Anwerben von Personen zur Durchführung von Terroranschlägen unter Strafe zu stellen. Schließlich wird in Art. 7 festgehalten, dass auch die Ausbildung für terroristische Zwecke unter Strafe gestellt werden muss. Das Übereinkommen verfolgt damit das Ziel, in allen 47 dem Europarat zugehörigen Staaten die öffentliche Provokation von Terrorakten sowie die Rekrutierung und die Ausbildung von Terroristen unter Strafe zu stellen. Neben dieser Verpflichtung zur Schaffung der genannten Straftatbestände verlangt das Übereinkommen zudem eine verstärkte Zusammenarbeit der Vertragsparteien in der nationalen wie internationalen Präventionspolitik. Bestehende Regelungen im Bereich des Auslieferungsrechts sowie der Rechtshilfe in Strafsachen sollen, wo dies notwendig ist, wirksam angepasst werden. Besonders erfreulich ist, dass im Übereinkommen auch die Opferperspektive berücksichtigt wurde. Art. 13 fordert die Vertragsparteien auf, den Schutz, die Entschädigung und die Unterstützung von Opfern des Terrorismus in ihrem innerstaatlichen Recht zu implementieren. Damit bekennt sich die Gemeinschaft der im Europarat vertretenen Staaten zu ihrer Verantwortung auch für die Leidtragenden von Terroranschlägen. Die Präventionspolitik zur Verhütung von Terrorismus lebt nicht nur davon, dass sie eine möglichst breite internationale Verankerung besitzt, sondern auch von der Bereitschaft, vorhandene Regelungen regelmäßig zu überprüfen und, wenn notwendig, den aktuellen Entwicklungen anzupassen. Es ist daher positiv zu bewerten, dass in Art. 30 des Übereinkommens auch ein Konsultationsprozess vorgesehen ist, der die effektive Umsetzung der getroffenen Vereinbarung sowie die Weiterentwicklung sicherstellen soll. Damit ist gewährleistet, dass die Vertragsparteien neue Entwicklungen im Rahmen dieses Übereinkommens berücksichtigen können. Die Aktivität des Europarates im Bereich der Vorbeugung von Terrorismus wird übrigens gerade in diesen Tagen wieder sichtbar. Im Rahmen des türkischen Vorsitzes treffen sich heute und morgen zahlreiche internationale Experten in Istanbul zu einer Konferenz, um über Präventionsmittel, Rechtsinstrumente und deren Umsetzung zu beraten. Ein solcher Austausch liegt in unserem ureigensten Interesse, da nur so Informationen, Erfahrungen, Ideen und innovative Ansätze allen Vertragsparteien zur Verfügung gestellt werden und dadurch unser aller Sicherheit gestärkt wird. Aufgrund der hohen Relevanz präventiver Maßnahmen zur Abwehr terroristischer Vorhaben rufe ich alle Mitglieder des Deutschen Bundestages auf, durch eine Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung den Weg für eine Ratifizierung dieses Übereinkommens durch die Bundesrepublik Deutschland frei zu machen.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Am 24. Oktober 2006 unterzeichnete die damalige Bundesregierung das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung des Terrorismus. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll nun durch Beschlussfassung des Bundestages die Grundlage für die Ratifizierung des Übereinkommens durch die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG geschaffen werden. Die Umsetzung der in diesem Übereinkommen festgelegten Maßnahmen zur Prävention terroristischer Akte sowie der strafrechtlichen Ahndung ihrer Vorbereitung erfolgte in Deutschland weitestgehend schon vor der nun anstehenden Ratifizierung. So wurden während der 16. Legislaturperiode bestehende Regelungslücken von der Großen Koalition geschlossen. Besonders zu erinnern ist hierbei an das Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten vom 28. Mai 2009, welches die Vorgaben des Übereinkommens maßgeblich abgedeckt hat, sofern diese nicht schon ohnehin geltendes deutsches Recht gewesen sind. Die Gefahren, mit denen offene Gesellschaften wie die unsere durch die Aktivitäten international agierender Terrornetzwerke verstärkt ausgesetzt sind, sorgen in der Öffentlichkeit immer wieder für Beunruhigung. Die Politik ist daher in der Pflicht, dieser permanent gegebenen abstrakten Bedrohung ein größtmögliches Maß an öffentlicher Sicherheit entgegenzusetzen. Die Kunst besteht hierbei darin, der Versuchung zu widerstehen, sich selbst wie auch der Bevölkerung suggerieren zu wollen, dass es durch immer mehr und schärfere Gesetze so etwas wie eine staatliche Sicherheitsgarantie für alle Bürgerinnen und Bürger geben könne. Mehr als einmal musste der sozialdemokratische Teil der damaligen Bundesregierung die Unionsparteien an die Notwendigkeit dieser Selbstbeschränkung erinnern. Ergebnis der Arbeit in der Großen Koalition waren am Ende eine Reihe von Gesetzesnovellen, die meines Erachtens den schwierigen Spagat zwischen der Gewährleistung öffentlicher Sicherheit einerseits und des Grundrechtsschutzes andererseits gemeistert haben. Sie entsprechen damit den Zielen des Übereinkommens des Zu Protokoll gegebene Reden Europarates. Dieses sieht nämlich neben den Bestimmungen zur Verhütung und Verfolgung terroristischer Straftaten auch vor, rechtsverbindliche Festlegungen bestimmter Mindeststandards zum Schutz terrorverdächtiger Personen zu schaffen. Diese im Übereinkommen genannten Mindeststandards, die in den Abs. 3 bis 5 des Art. 15 aufgeführt sind, betreffen im innerstaatlichen deutschen Recht vor allem die Strafprozessordnung. Hierbei gibt es vor der Ratifizierung des Übereinkommens meines Erachtens noch Ergänzungsbedarf hinsichtlich der Rechtsstellung staatenloser Personen, die sich einer strafrechtlichen Verfolgung wegen Terrorverdachts ausgesetzt sehen. In Art. 15 Abs. 3 Buchstabe a des Übereinkommens wird festgelegt, dass staatenlosen Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einen bestimmten Land haben, den gleichen Zugang zu Vertretern dieses Staates eingeräumt werden muss wie den Staatsangehörigen des jeweiligen Landes. Die Buchstaben b und c regeln das Besuchsrecht der Vertreter des Heimatstaates bei den Verdächtigen sowie die Pflicht der Vertragspartei, die Verdächtigen über ihre Rechte nach a und b zu informieren. Auch hier gilt beides analog für staatenlose Personen. Die entsprechende Rechtsnorm in der deutschen Strafprozessordnung, der § 114 b Abs. 2 Satz 3 StPO, sieht allerdings nur das Recht auf konsularische Vertretung für ausländische Staatsangehörige vor. Nun sind staatenlose Personen zweifelsfrei Ausländer, können aber aufgrund der fehlenden Staatsangehörigkeit nach § 114 b in Deutschland bisher keinerlei offizielle Vertretung in Anspruch nehmen. Der Bundesrat hat im Rahmen der ersten Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfs in seiner Stellungnahme vom 15. Oktober 2010 bereits eine diesbezügliche Prüfbitte im Zuge des weiteren Gesetzgebungsverfahrens formuliert. Den in dieser Stellungnahme diesbezüglich geäußerten Bedenken des Bundesrates schließe ich mich an, da ich aus oben genannten Gründen die Notwendigkeit zur Ergänzung des § 114 b StPO für unerlässlich halte. Um den Vorgaben des Europarats in vollem Umfang gerecht zu werden, sollte diese Lücke in der StPO entsprechend den Formulierungen in Art. 15 Abs. 3 des zu ratifizierenden Übereinkommens geschlossen werden.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Europäische Übereinkommen zur Verhütung des Terrorismus aus dem Jahr 2005 ist im Jahr 2007 in Kraft getreten. Es verlangt von den Vertragsparteien wirksame Maßnahmen, um die Begehung terroristischer Straftaten zu verhindern. Dazu sollen vorsätzliche öffentliche Aufforderungen zur Begehung einer terroristischen Straftat sowie die Anwerbung und Ausbildung für terroristische Zwecke unter Strafe gestellt werden. Das Übereinkommen ergänzt mit diesen Anforderungen an die nationalen Rechtsordnungen die bestehenden Terrorismuskonventionen der Vereinten Nationen. Der heute zu beschließende Gesetzentwurf wird die Voraussetzungen des Grundgesetzes für die Ratifizierung des Übereinkommens herstellen. Über die Zustimmung zu dem Übereinkommen hinaus sind keine weiteren Änderungen deutscher Vorschriften erforderlich. Die letzte Lücke auf diesem Feld wurde mit dem Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten und der Einfügung des § 89 a in das Strafgesetzbuch im letzten Jahr geschlossen. Was die seitens der Länder geäußerte Prüfbitte betrifft, so schließen wir uns demgegenüber der Bundesregierung an. Eine Gleichstellung von staatenlosen Personen mit ausländischen Staatsangehörigen folgt bereits aus dem Text des Übereinkommens. Eine Änderung der Strafprozessordnung halten wir daher nicht für angezeigt. Bei allen zukünftigen Gesetzesvorhaben wird die FDP-Bundestagsfraktion darauf achten, dass die Bekämpfung des Terrorismus mit Augenmerk und Vernunft erfolgt. Wenn Deutschland infolge der Zustimmung zu dem hiesigen Abkommen keine Änderungen an seinem Strafrecht und Strafprozessrecht vornehmen muss, dann zeigt dies, was wir in Deutschland für ein ausgewogenes Instrumentarium an Gesetzen haben. Die bestehenden Vorschriften auch effizient zu nutzen ist weiterhin vorderste Pflicht für den Erfolg einer wirksamen Terrorbekämpfung.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Bundesregierung möchte die Zustimmung des Bundestages zum Übereinkommen des Europarats zur „Verhütung des Terrorismus“ einholen. Eine solche Zustimmung käme einer Art Selbstverpflichtung nahe, alsbald noch mehr, noch schärfere „Antiterrorgesetze“ zu beschließen. Wie bei fast allen Antiterrorabkommen der letzten Jahre wird hier einmal mehr weit über das Ziel hinausgeschossen. Man kann sich schon sehr genau ausmalen, wo in naher Zukunft die sogenannten Sicherheitspolitiker noch „Nachbesserungsbedarf“ zum Schließen angeblicher „Sicherheitslücken“ sehen: Vorratsdatenspeicherung, Onlineüberwachung usw. lassen grüßen. Die Kritik der Fraktion Die Linke erstreckt sich vor allem hierauf: Das Übereinkommen beschränkt sich nicht darauf, konkrete terroristische Handlungen unter Strafe zu stellen. Im Vordergrund stehen nicht Taten, sondern es wird weit im Vorfeld des normalen Strafrechts vor allem auf Absichten und Gesinnungen abgestellt. Das klingt sehr vage und unpräzise - und das ist es auch. Im Einzelnen: In Art. 5 geht es um die öffentliche Aufforderung zur Begehung einer terroristischen Straftat. Das ist an sich nichts Neues. Doch hier ist schon das „Zugänglichmachen einer Botschaft“ gemeint, die vielleicht - je nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft mit dem Vorsatz erfolgt, andere zu Terrorakten anzustiften. Das soll ausdrücklich unabhängig davon gelten, „ob dabei terroristische Straftaten unmittelbar befürwortet werden“. Das Übereinkommen redet wörtlich von einer „indirekten Aufforderung“. Ausschlaggebend ist, ob die Gefahr „begründet“ erscheint, dass Terrorakte begangen werden „könnten“. Das ist eindeutig zu viel an Wenn, Aber und Vielleicht. Was da konkret übrig bleibt, wird häufig genug die Willkür staatlicher ErmittZu Protokoll gegebene Reden ler sein, die einen Freibrief erhalten, unliebsame Meinungsäußerungen für terrorverdächtig zu halten. Von gleichem Geist sind die Bestimmungen in Art. 6 und 7, die „Anwerbung für terroristische Zwecke“ sowie „Ausbildung für terroristische Zwecke“ bestrafen wollen. Unter anderem fehlt jegliche klare Definition. Damit nicht genug. Art. 9 fordert: Wer andere „anweist“, eines dieser vage beschriebenen Delikte zu begehen, soll ebenso bestraft werden. Das heißt: Wenn Sie jemanden „anweisen“, eine Botschaft zu veröffentlichen, die andere wiederum - vielleicht - zu Terrorakten anstachelt, dann machen Sie sich schon strafbar. Was „anweisen“ bedeutet, wird nicht verraten. All dies ist so haltlos, so unbestimmt, so derart um zwei Ecken gedacht, dass am Ende kaum noch einer weiß, ob er sich nun strafbar macht, wenn er etwa die Presseerklärung einer umstrittenen Organisation auf seiner Homepage zitiert. Ist das schon eine indirekte Aufforderung zu weiteren Anschlägen? Einiges von dem, was in diesem Übereinkommen gefordert wird, hat der Bundestag schon im Mai letzten Jahres beschlossen: etwa die Strafbarkeit des Aufenthaltes in sogenannten Terrorcamps; außerdem macht sich strafbar, wer sich in Fähigkeiten „unterweisen“ lässt, die zum Begehen einer terroristischen Straftat notwendig sind. Die Linke hat damals schon darauf hingewiesen: Es ist eine Sache, Straftaten zu sanktionieren; dazu gehören auch versuchte und in Ausnahmefällen auch geplante Straftaten. Es ist aber eine andere Sache, das Strafrecht auf einen Bereich auszudehnen, wo überhaupt keine konkreten Täter da sind, wo es keine Tatmittel gibt, noch nicht einmal einen Tatplan oder einen Tatort und kein definiertes Verhalten. Da muss es eine Grenze geben, sonst sind wir an einem Punkt angelangt, wo die Pressefreiheit, die Meinungsfreiheit, die Forschungsfreiheit usw. bedroht sind, wann immer ein Staatsanwalt zum Schluss kommt, irgendetwas geschehe mit bösem Vorsatz oder sei irgendwie gefährlich. Interessanterweise hat die FDP damals weitgehend die Sicht der Linken geteilt. Der Kollege Jörg van Essen hatte bei der ersten Lesung zum sogenannten GVVG, Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten, im Januar 2009 geäußert, er möchte seinen Kollegen - van Essen ist Staatsanwalt - „nicht zumuten, mit Strafvorschriften umgehen zu müssen, die nicht wirklich handhabbar sind, bei denen sie ein schlechtes Gefühl haben und die beinhalten, dass vorher eigentlich schon feststeht, dass ein ganz wichtiger Faktor, nämlich die Absicht, in aller Regel nicht wird nachzuweisen sein“. Was hat sich seither geändert? Inhaltlich gar nichts, nur dass die FDP jetzt nicht mehr die angebliche Bürgerrechtspartei spielt wie während ihrer Oppositionszeit, sondern als Regierungspartei genauso auf den Grundrechten herumtritt wie damals die Große Koalition. Denn das Übereinkommen fordert, das Strafrecht genau in diese grundverkehrte Richtung auszubauen, also noch mehr Willkür, Vorfeldund Verdachtskriminalisierung zu betreiben. Es wird dann nicht lange dauern, bis die Bundesregierung Nachbesserungsbedarf sieht. Denn wie soll man denn konkret herausfinden, ob ein Journalist, der den Vertreter einer bewaffneten Widerstandsgruppe interviewt, damit womöglich indirekt zu Anschlägen auffordern will? Der Ruf nach Onlinedurchsuchung, Abhöraktionen und Einschränkung der Pressefreiheit ist jetzt schon zu hören. Dieses Übereinkommen führt nicht zur besseren Bekämpfung des Terrorismus, sondern zu einer Gefahr für demokratische Freiheiten und eine rechtsstaatliche Justiz. Deswegen lehnt Die Linke dieses Übereinkommen ab.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die hierzulande verschärften Sicherheitsmaßnahmen und die aktuellen Ereignisse in Schweden führen deutlich vor Augen, dass es ein ernstzunehmendes Potenzial terroristischer Straftaten sowohl inländischer als auch externer Täterinnen und Täter gibt. Damit dieses Potenzial nicht in seine menschenverachtende, zerstörerische, abscheuliche Umsetzung mündet, ist es für einen Staat wie die Bundesrepublik Deutschland unerlässlich, sich nach besten Kräften schützend vor seine Bevölkerung, deren individuellen Rechte und Freiheiten sowie das rechtsstaatliche Gefüge zu stellen. In einer regional und international immer enger zusammenwachsenden Staatengemeinschaft ist es dabei völlig legitim, dass ein Staat mit einem oder mehreren anderen zusammenarbeitet, sich mit diesem oder diesen austauscht, um seiner Schutzpflicht nachzukommen. Insoweit sehen wir Grünen eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit unseren europäischen Nachbarn - und damit meine ich nicht nur die Ebene der Europäischen Union, sondern insbesondere auch die des Europarats - grundsätzlich als etwas Positives, etwas Notwendiges an - allerdings nur, wenn und solange sich die Zusammenarbeit an einem hohen Schutzniveau für die Rechte und Freiheiten der Menschen Europas orientiert. Das Abkommen, über dessen Ratifikation wir heute entscheiden sollen, ist vor über fünf Jahren im Rahmen des Europarats geschlossen worden. Es bezieht also im Vergleich zur EU eine weitaus größere Anzahl von Ländern mit ein. Der Inhalt des Abkommens wird zumindest rechtlich keinen direkten Einfluss auf das bestehende nationale Recht haben. Umsetzungsbedarf ist nicht zu erkennen. Es fällt anlässlich der heutigen Befassung mit diesem Abkommen allerdings auf, dass die deutsche Rechtsordnung in strafrechtlicher Hinsicht bereits weitergeht, als es das Abkommen fordert. Art. 7 des Abkommens verlangt, die Ausbildung für terroristische Zwecke unter Strafe zu stellen. Gemeint sind hier mit dem Begriff nur diejenigen, die ausbilden, nicht aber diejenigen, die sich ausbilden lassen. Ausbilder werden nach deutschem Strafrecht bereits erfasst. Nach deutschem Strafrecht macht sich aber auch strafbar, wer bei der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat sich ausbilden lässt. Über die am Ende der vergangenen Wahlperiode eingeführten Vorschriften § 89 a und 89 b StGB haben wir in diesem Hause seinerzeit zu Recht kontrovers diskutiert. Sie stellen bereits bestimmte Aufnahmen von Beziehungen zu eiZu Protokoll gegebene Reden ner Gruppe unter Strafe, wenn dies einer zukünftigen Unterweisung in irgendwelchen, nicht näher bezeichneten Fertigkeiten dienen soll, die wiederum der möglichen zukünftigen, nach Ort und Zeit nicht bestimmten Ausführung einer schweren Straftat dienen sollen. Was bei der Verabschiedung 2009 galt, gilt auch heute: Bei §§ 89 a und 89 b StGB handelt es sich um eine rechtsstaatlich unverträgliche Vorfeldstrafbarkeit. Derartige Vorschriften sind nicht, wie die damals verantwortliche Bundesjustizministerin so salopp bemerkte, auf Kante genäht, sondern tragen Elemente von Gesinnungsstrafrecht in sich. Ich habe schon damals gemahnt: Die Vorbereitung einer Vorbereitung einer Straftat unter Strafe zu stellen, ist Ausdruck einer Sicherheitsphobie, die keine Grenzen und keine Regeln kennt, sondern nur Erfolg haben will, und dies offensichtlich um jeden Preis. In Deutschland soll kein Mensch allein für seine Absichten bestraft werden. Das gilt zum Beispiel auch für Personen, die Vorbereitungen für einen Totschlag oder Mord treffen, solange sie das Versuchsstadium nicht erreichen. Strafrecht ist eben kein Gefahrenbekämpfungsrecht. Diesen Trend gilt es aufzuhalten und umzukehren. Das sehen CDU/CSU und Teile der SPD bekanntlich anders. Von der FDP erwarten wir nicht, dass sie ihren Lippenbekenntnissen Taten Folgen lässt. Wie ich eingangs bereits betont habe: Die Grünen sehen die Notwendigkeit und auch die Vorteile grenzüberschreitender Kriminalitätsbekämpfung. Wir stellen uns hier nicht grundsätzlich quer. Allerdings geben wir Werte wie Menschenrechte, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit nicht an der Tür ab, auch wenn Europa darauf steht. Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheitspolitik und Kriminalitätsbekämpfung kann nur gelingen, wenn ein einheitliches, hohes Rechtsschutzniveau gewährleistet ist. Mit der EMRK und der sie begleitenden Rechtsprechung des EGMR hat der Europarat sehr gute Ansätze. Die inzwischen rechtsverbindliche EU-Grundrechtecharta sowie die EMRK können gemeinsam entscheidende Impulse für die beiden europäischen Organisationen geben. Absolute Sicherheit für jeden einzelnen Menschen kann und wird es nicht geben. Dieser Satz ist schon unzählige Male strapaziert worden, bleibt aber stets richtig. Das staatliche Streben nach absoluter Sicherheit führt auf einen für Menschenwürde, Menschenrechte und freiheitlichen Rechtsstaat gefährlichen Irrweg. Verlässliche Rechtsschutzstandards, gesetzgeberisches Augenmaß und regelmäßige kritische Überprüfung von Gesetzen und staatlichen Maßnahmen verhindern, dass die Bundesrepublik und mit ihr die europäischen Partner auf diesen Weg abdriften.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4124, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3801 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD, FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Mast, Anette Kramme, Angelika Krüger-Leißner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Echte Perspektiven für Altbewerberinnen und Altbewerber schaffen - Ausbildungsbonus bis 2013 verlängern - Drucksache 17/4191 Die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen sind zu Protokoll genommen: Matthias Zimmer, Paul Lehrieder, Katja Mast, Willi Brase, Johannes Vogel, Agnes Alpers, Brigitte Pothmer.

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Jakob Maria Mierscheid beantwortete die Frage eines Diplomanden, ob die Namensgebung einer nach ihm benannten Brücke im Regierungsviertel seine Zustimmung erfahren habe, lakonisch bejahend. Mierscheid schloss seine Antwort dann aber mit der Bemerkung, dass er über diese Brücke nicht gehe. Sie sei ihm zu windig. Genauso täten auch die Sozialdemokraten gut daran, sich nicht allzu sehr auf den Ausbildungsbonus zu fixieren; denn es ist ein ziemlich windiger Steg, über den sie da gehen: Die uns vorliegenden Evaluationen zeigen eine lediglich schwache Wirkung des Ausbildungsbonus als arbeitsmarktpolitisches Instrument. Für die überwiegende Mehrheit der Betriebe ist der Ausbildungsbonus kein entscheidendes Einstellungskriterium. In der Befragung zum Instrument Ausbildungsbonus gaben 90 Prozent der nicht geförderten Betriebe an, dass Altbewerber zunächst die gleichen Chancen im Bewerbungsprozess erhalten wie Erstbewerber. Unter den geförderten Betrieben gaben 68 Prozent an, dass sie sich erst nach der Auswahl eines Bewerbers um eine geeignete Fördermöglichkeit bemühen. Etwa drei Viertel gaben an, dass ihnen die Altbewerber bereits vor der Einstellung durch vorherige Tätigkeiten im Betrieb bekannt waren und dass sie Praktika als sinnvoller und effektiver als finanzielle Zuschüsse ansehen. 82 Prozent der Betriebe gaben an, sie hätten den Altbewerber auch ohne Ausbildungsbonus eingestellt. Es zeigen sich also deutliche Hinweise auf Mitnahmeeffekte. Die Forderung der SPD, den Ausbildungsbonus noch stärker zu bewerben, scheint mir daher eher wie eine Einladung zum arbeitsmarktpolitischen Rabattmarkenschalter auf Kosten der Steuerzahler. Nur etwa 30 Prozent der Geförderten wissen überhaupt, dass sie durch den Ausbildungsbonus gefördert werden. Dies ist ein Beleg dafür, dass die Anregung zur Förderung durch den Ausbildungsbonus in der Regel nicht von den Bewerbern ausgeht. Interessant ist auch ein Vergleich zwischen geförderten und ungeförderten Altbewerbern. Bei beiden Vergleichsgruppen liegt der Ausbildungsstatus nach 12 Monaten bei 85 Prozent. Dies zeigt, der Ausbildungsbonus ist längst nicht so effektiv, wie sein Name vermuten lässt. Der eingangs bereits erwähnte SPD-Abgeordnete Mierscheid hat bezüglich des nach ihm benannten Bauwerkes aber auch schon relativierend festgestellt, sinnvoll sei eine Brücke nur dort, wo auch Wasser fließe. Der Ansatz der Union hingegen ist ein anderer. Wir gestalten die wesentlichen Rahmenbedingungen auf dem Ausbildungsmarkt so, dass wir die Altbewerber nachhaltig und nicht nur für die Dauer von Subventionierungen in den Arbeitsmarkt bringen. Wichtigster Eckpfeiler dabei war und ist die vernünftige Arbeits-, Finanz- und Wirtschaftspolitik unter Kanzlerin Angela Merkel. Diese Politik ist das Fundament für die erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung in unserem Land und führt eben auch zu einer hohen Nachfrage nach Auszubildenden und damit zu einer sinkenden Zahl Altbewerber. Ein weiterer wichtiger Eckpfeiler stellt der Nationale Ausbildungspakt dar, mit dem wir gezielte Maßnahmen ergreifen, um vor allem die Ausbildungsreife junger Menschen sicherstellen und somit ihre dauerhafte Integration in den Ausbildungsmarkt. Im Übrigen haben wir im Rahmen des Beschäftigungschancengesetzes den Ausbildungsbonus für Auszubildende insolventer Betriebe bis Ende 2013 verlängert. Damit sichern wir jungen Menschen ihren Start ins Arbeitsleben. Wir werden neben den Anstrengungen, die wir mit dem Ausbildungspakt leisten, auch im Rahmen der Evaluation der arbeitsmarktpolitischen Instrumente genau prüfen, welche Instrumente sich unter welchen Umständen als effektiv erweisen. Nur wenn Instrumente auch effektiv sind, wollen wir sie weiterhin einsetzen und finanzieren, ganz im Sinn des Kollegen Mierscheid, der jüngst zur Verwendung öffentlicher Mittel den bemerkenswerten Satz prägte: „Wie Wasser ohne Aufenthalt unter einer Brücke hindurchfließt, so rinnt das Geld durch die Hände derjenigen, die sich der Instrumente nicht versichern, wie das Geld zu halten ist.“ Ein wahrer Satz eines großen Kollegen, den sich seine Fraktion doch zu Herzen nehmen möge.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was den ersten Teil Ihres Antragstitels betrifft, stehe ich voll auf Ihrer Seite: Eines der wichtigsten Ziele dieser Bundesregierung ist und bleibt es, jungen Menschen zu einer Ausbildung zu verhelfen und ihnen so den Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen. Beim zweiten Teil des Titels - „Ausbildungsbonus bis 2013 verlängern“ können wir Ihnen leider nicht folgen. Ja, wir haben den Ausbildungsbonus 2008 gemeinsam in der Großen Koalition eingeführt, um jungen Menschen einen Weg ins Berufsleben zu ermöglichen. Seither ist einige Zeit vergangen. Wir haben Erfahrungen mit dem Ausbildungsbonus gemacht und uns die Frage gestellt: Hält er, was wir uns davon versprochen haben? Nicht umsonst hatten wir dieses Instrument der Arbeitsmarktpolitik zunächst bis Ende dieses Jahres befristet. Nun haben wir uns entschieden, den Ausbildungsbonus nicht zu verlängern - weil wir unsere Schlüsse gezogen haben und weil wir wissen, dass Arbeitsmarktpolitik immer ein lernendes System ist und sein muss. Zweck des Ausbildungsbonus war - und ist noch -, die individuellen Ausbildungschancen von förderungsbedürftigen Ausbildungssuchenden aus früheren Schulentlassungsjahren zu verbessern, indem Arbeitgebern ein finanzieller Anreiz für deren zusätzliche Einstellung gegeben wird. Nicht zum Ziel des Ausbildungsbonus gehört die Bekämpfung des Fachkräftemangels. Die Ausbildung des eigenen Fachkräftenachwuchses einschließlich der Zahlung einer angemessenen Ausbildungsvergütung ist und bleibt originäre Aufgabe der Wirtschaft. Die Zahl der bewilligten Anträge auf Ausbildungsbonus lag im September 2010 bei 40 430. Dies ist mehr als die Hälfte der ehemals anvisierten jeweils 30 000 Förderfälle pro Ausbildungsjahr. Das ursprüngliche Ziel war ehrgeizig, die Zielgröße konnte aber nicht erreicht werden. Der Zwischenbericht 2010 zum Ausbildungsbonus lieferte zudem deutliche Hinweise auf Mitnahmeeffekte: 71 Prozent der geförderten Betriebe gaben an, dass sie den Ausbildungsplatz auch ohne Förderung geschaffen hätten. 82 Prozent der Betriebe haben demnach auch ohne den Ausbildungsbonus eine Altbewerberin oder einen Altbewerber eingestellt. Der Ausbildungsbonus war ursprünglich so angelegt, dass das Zusätzlichkeitskriterium Mitnahmeeffekte verhindern sollte. Dies ist nur in 20 Prozent der Fälle gelungen. In Anbetracht der demografischen Entwicklung und des bestehenden arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums zur Unterstützung benachteiligter junger Menschen hält die Bundesregierung eine Ersatzlösung nach dem Auslaufen des Ausbildungsbonus für nicht erforderlich. Auch zeigen die Ergebnisse des Zwischenberichts 2010, dass Praktika von vielen Beteiligten sinnvoller als finanzielle Hilfen für Arbeitgeber angesehen werden, um förderungsbedürftigen jungen Menschen einen Zugang zum Ausbildungsmarkt zu verschaffen. Aufgrund der Prognosen zur allgemeinen Rückläufigkeit der Schulabgängerzahlen und der positiven wirtschaftlichen Entwicklung auch auf dem Ausbildungsmarkt ist von verbesserten Einmündungschancen der Altbewerber am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt auszugehen. Der Anteil der Bewerber aus früheren Schulentlassjahren an allen Bewerbern nahm vom Ausgangspunkt 2004/2005 bis zum Jahr 2006/2007 um 6,2 Prozentpunkte zu - das ist ein Anstieg von 46,2 Prozent auf 52,4 Prozent - und konnte im Berichtsjahr 2007/2008 um 0,7 Prozentpunkte auf 51,7 Prozent abgebaut werden. Dies ist insbesondere dem Ausbildungspakt und den intensiven Vermittlungsbemühungen der Agenturen für Arbeit und Grundsicherungsstellen für diesen Personenkreis zu verdanken. Zu Protokoll gegebene Reden In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals betonen, dass das Bundeskabinett am 7. Juni 2010 generell eine Instrumentenreform beschlossen hat: Sie wird Möglichkeiten prüfen, die Vielzahl der Programme und Förderinstrumente des Bundes für junge Menschen zur Eingliederung in Ausbildung oder Arbeit besser aufeinander abzustimmen und - wo es sinnvoll und möglich ist - zu bündeln. Der Wegfall des Ausbildungsbonus wird zudem durch die am 26. Oktober 2010 beschlossene Neuauflage des Ausbildungspakts kompensiert. Schon der „alte“ Ausbildungspakt konnte eine Erfolgsbilanz vorweisen: Im Ausbildungsjahr 2009/2010 wurden 483 500 Ausbildungsplätze gemeldet; das waren 1,7 Prozent mehr als im Vorjahr. Dem standen 552 200 gemeldete Bewerber gegenüber. Die Wirtschaft erreichte ihre selbstgesetzten Zielmarken und stellte 2009 circa 72 600 neue Ausbildungsplätze, 46 300 neue Ausbildungsbetriebe und 32 000 Einstiegsqualifizierungen zur Verfügung. Die Zahl der Altbewerber ging im Jahr 2009/2010 um 150 000 auf circa 250 000 zurück. Auch der neue Ausbildungspakt will diese Zahl weiter verringern, die Ausbildungsbeteiligung Jugendlicher mit Migrationshintergrund deutlich erhöhen und lernbeeinträchtigte, sozial benachteiligte Jugendliche individuell unterstützen. Im Rahmen des Paktes setzt sich die Wirtschaft das Ziel, im Durchschnitt pro Jahr 60 000 neue Ausbildungsplätze einzuwerben, jährlich 30 000 neue Ausbildungsbetriebe einzuwerben und jährlich 30 000 betrieblich durchgeführte Einstiegsqualifizierungen durchzuführen. Die Bundesregierung wird durch die neue Initiative „Abschluss und Anschluss - Bildungsketten bis zum Ausbildungsabschluss“ eine ganzheitliche Betreuung für 30 000 förderungsbedürftige Schülerinnen und Schüler schaffen mithilfe von zusätzlichen 1 000 Berufseinstiegsbegleitern, die durch die BA finanziert werden. Sie wird die Angebote der Berufsorientierung ausbauen und das JOBSTARTER-Programm fortentwickeln. Die Bundesagentur für Arbeit wird ihre Beratungs- und Vermittlungsangebote weiter gezielt verbessern, um Jugendliche und Betriebe durch den Arbeitgeberservice, die Berufsberatung und die neue Jobbörse im Internet besser und passgenauer zu vermitteln. Die erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre für junge Menschen muss konsequent fortgeführt werden. Insbesondere präventive Maßnahmen wie Maßnahmen der vertieften Berufsorientierung und die Berufseinstiegsbegleitung, die im Rahmen der Initiative Bildungsketten durch ein Sonderprogramm der Bundesregierung ausgeweitet wurde, sollen die jungen Menschen optimal auf die Berufswahl und den Ausbildungsund Arbeitsmarkt vorbereiten und direkte Übergänge in die Berufsausbildung befördern.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Menschen stärken, Wege öffnen - das will die SPD. Für uns gehört klar und deutlich dazu: Jeder Jugendliche braucht einen Ausbildungsplatz. Denn kein Jugendlicher darf verloren gehen. Das ist die Voraussetzung für gute und würdevolle Arbeit. Als Partei der Arbeit streiten wir für eine Politik, die Perspektiven schafft und damit Teilhabe ermöglicht. Kein Jugendlicher darf verloren gehen - das heißt für uns als SPD, dass jeder das Recht auf eine Ausbildung haben muss. Das ist unser Ziel, das wir durch Fördern und Fordern am Arbeitsmarkt unterstützen können. Und was macht Ursula von der Leyen? Sie schafft Ende dieses Jahres klammheimlich ein Förderinstrument für Jugendliche ab. Eiskalt lässt sie den Ausbildungsbonus für Altbewerber auslaufen. Und mit dieser Kälte geht es weiter: Zum 31. Dezember entfällt der Ausbildungsbonus, der Jugendliche unterstützt, die es schwerer haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Er unterstützt auch die Betriebe, die ihnen eine Chance geben und damit Verantwortung übernehmen. Meist sind es Handwerker und Mittelständler, die das Herz an der richtigen Stelle haben. Also anders als Sie, die offenbar nur warme Worte haben, aber kalte Taten folgen lassen. Uns geht es darum, Jugendlichen eine Chance auf betriebliche Ausbildung zu geben, die sonst keine hätten. Das ist uns auch viel wert. Denn jede Investition in Bildung zahlt sich in Zukunft aus. Und dass dieses Instrument gut und sinnvoll war, haben wir in Pforzheim und dem Enzkreis schon viele Jahre gewusst. Der Ausbildungsbonus ging auf unsere Erfahrungen von vor Ort zurück; darauf sind wir zu Recht stolz. Der heutige Oberbürgermeister von Pforzheim, Gert Hager, war sogar einer unserer Sachverständigen bei der Anhörung im Deutschen Bundestag. Doch Ursula von der Leyen lässt das kalt; es ist ihr egal - obwohl im Bericht zur Überprüfung des Ausbildungsbonus von neutralen Experten eindeutig steht: „Aufgrund des frühen Berichtszeitpunktes ergibt sich, dass die vorgestellten Ergebnisse vor allem beschreibenden Charakter haben und noch keine kausalen Wirkungsanalysen enthalten. Naturgemäß enthält der Bericht deshalb nur vorläufige Ergebnisse. Wichtige Untersuchungsschritte wie die Wirkungsanalyse, die langfristige Analyse sowie die Analyse der finanziellen Auswirkungen und eine abschließende Beurteilung sind für den Endbericht geplant.“ Die Kernbotschaft lautet also: Es braucht noch Zeit, um eine echte Wirkungsanalyse des Ausbildungsbonus vorzulegen. Doch was macht die Bundesregierung auf Grundlage ihres eigenen Berichts? Sie schafft den Ausbildungsbonus ab, ohne überhaupt belastbare Aussagen über das arbeitsmarktpolitische Instrument treffen zu können. Das ist Politik auf dem Rücken von jungen Menschen, die konkrete Antworten erwarten. Stattdessen erleben sie eine Ministerin, die warmen Worten über Chancen eiskalte Taten folgen lässt. Frau von der Leyen, Sie bleiben die Ministerin der kleinteiligen und wirkungslosen Projekte statt zukunftsweisender Perspektiven. Am Beispiel des Ausbildungsbonus zeigt sich deutlich: Diese Bundesregierung redet über bessere Bildung und kürzt gleichzeitig das Geld. Sie schafft Rechtsansprüche auf Qualifizierung und Bildung ab. Das steckt in Wahrheit hinter dieser Politik; das steht auch so in den Kürzungsbeschlüssen der Bundesregierung: Es sollen Rechts- in Ermessensleistungen umgewandelt werden. Das erste Opfer ist der Ausbildungsbonus, weitere Zu Protokoll gegebene Reden werden in Kürze folgen. Leittragende sind jene, die auf unsere Unterstützung angewiesen sind. In den Haushaltsberatungen haben wir erlebt, wie Schwarz-Gelb die Mittel für erfolgreiche arbeitsmarktpolitische Programme zusammengestrichen hat. Alleine hier werden 1,3 Milliarden Euro im kommenden Jahr zu viel gekürzt. Auch hierfür trägt Ursula von der Leyen die Verantwortung. Sie ist und bleibt Bildungskürzungsministerin. Diese Politik zeigt, in welche Richtung die von der Bundesregierung groß angekündigte Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente im kommenden Jahr gehen wird. Das wird kein großer Wurf, wie von Schwarz-Gelb angekündigt. Das wird ein schmerzhafter Bumerang für diejenigen, für die wir mehr Unterstützung und Fairness am Arbeitsmarkt brauchen: für Jugendliche, für Langzeitarbeitslose, für Menschen mit Behinderung, für Migrantinnen und Migranten und für Alleinerziehende. Kein Jugendlicher darf verloren gehen. Dieses Kernversprechen der SPD gilt. Deshalb legen wir heute einen Antrag vor, um den Ausbildungsbonus zu verlängern. Dabei haben wir auch die doppelten Abiturjahrgänge im Blick und die geplante Abschaffung der Wehrpflicht. Beides setzt den Ausbildungsmarkt und vor allem die Jugendlichen, die es jetzt schon schwerer haben, massiv unter Druck. Dieser Verdrängungswettbewerb führt zu mehr Altbewerbern. Es ist nicht zu spät. Sie von Schwarz-Gelb können jugendlichen Altbewerberinnen und Altbewerbern noch ein wertvolles Weihnachtsgeschenk unter den Baum legen - denn jeder junge Mensch hat das Recht auf einen Einstieg in den beruflichen Aufstieg. Stimmen Sie unserem Antrag zu und schaffen Sie endlich echte Perspektiven für junge Menschen, insbesondere für diejenigen, die unsere volle politische Unterstützung dringend brauchen. Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie Ihren eigenen Bericht zum Ausbildungsbonus ernst - kein Jugendlicher darf verloren gehen.

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2010 hat die Zahlen klar auf den Tisch gelegt: Gemessen an der entsprechenden Wohnbevölkerung gibt es in Deutschland eine Ungelerntenquote von 15,2 Prozent in der Gruppe der 20- bis 29-jährigen ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung. Dabei ist die Quote der Frauen mit 15,2 Prozent noch etwas höher als die der Männer, von denen 14,9 Prozent betroffen sind. Das sind rund 1,45 Millionen junge Erwachsene, denen kein qualifizierter Einstieg ins Berufs- und Arbeitsleben gelungen ist. Ich möchte eine weitere Untersuchung nennen. In der Studie der Bertelsmann-Stiftung „Keine Perspektive ohne Ausbildung“ wurde die Gruppe der 25- bis 34-jährigen 2007 in Westdeutschland untersucht. 20,8 Prozent von ihnen - das ist ein Fünftel - hatten keinen Ausbildungsabschluss. Unter ihnen finden sich auch Tausende von Altbewerberinnen und Altbewerbern, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, ihren Wunsch nach einer voll qualifizierende Ausbildung aber - und das teilweise schon seit Jahren - aufrechterhalten. Auch die Determinanten, die in eine solche Situation führen, sind untersucht worden. Das ist eine breite Palette: ein fehlender oder niedriger Schulabschluss, schlechte Noten im Abgangszeugnis, der Bildungstand der Eltern oder ein Migrationshintergrund. Auch bei jungen Frauen, die ein eigenes Kind betreuen, besteht ein hohes Risiko, ausbildungslos zu bleiben. Betroffen sind mittlerweile auch nicht mehr nur Schulabgänger mit einem Hauptschulabschluss. Die Bertelsmann-Studie hat nachgewiesen, dass mittlerweile auch eine hohe Zahl von Realschülern betroffen ist. Angesichts dieser Zahlen und Analysen erscheint es doch sehr erstaunlich, dass die Bundesregierung eine Verlängerung des Ausbildungsbonus ablehnt. Die Begründung ist mehr als fadenscheinig: Nach allen Prognosen werde es weniger Schulabgänger geben. Außerdem werde die positive wirtschaftliche Entwicklung auf dem Ausbildungsmarkt ankommen. Folglich würden sich auch die Einmündungschancen für Altbewerberinnen und Altbewerber verbessern. An dieser Stelle springt die Bundesregierung eindeutig zu kurz. Denn eine geringere Zahl von Schulabgängern bedeutet nicht gleichzeitig eine Verbesserung ihrer Qualifikationen. Vergessen bleibt dabei auch der Aspekt, dass voraussichtlich viele Schulabgängerinnen und -abgänger mit einer Hochschulzulassung durch die doppelten Abiturjahrgänge zusätzlich auf den Ausbildungsmarkt strömen. Und dann sind es wieder die bereits oben genannten jungen Erwachsenen mit Startnachteilen, die auf der Strecke bleiben. In seinem Qualifizierungsmonitor fragte das Institut der deutschen Wirtschaft Köln ausbildende Unternehmen, welche Gruppen von Auszubildenden beschäftigt werden. Im Ergebnis liegen Jugendliche mit Hauptschulabschluss mit 44,7 Prozent nur noch knapp vor Jugendlichen mit Fach- bzw. Hochschulreife, die bereits auch schon bei über 40 Prozent liegen. Altbewerberinnen und Altbewerber sind laut Untersuchung dagegen nur in jedem vierten ausbildenden Unternehmen vertreten. Im September 2009 machte der Bundesrechnungshof eine Mitteilung an die Bundesagentur für Arbeit über die Prüfung des Ausbildungsbonus. In seiner Würdigung hielt der Bundesrechnungshof den Ausbildungsbonus für „sinnvoll und hilfreich“. Bestehende Fördermöglichkeiten für Auszubildende würden auf diesem Weg harmonisiert und in ein einheitliches Leistungssystem zusammengeführt. Somit würden die „Transparenz, die Wirksamkeit und die Einheitlichkeit der Förderung von Ausbildungsverhältnissen für unversorgte und leistungsschwache Bewerber“ verbessert. Der Bundesrechnungshof unterstrich auch, dass der vom Gesetzgeber beabsichtigte Personenkreis, erreicht würde. In den meisten der geprüften Fälle hatten die Auszubildenden schlechte Schulleistungen oder hatten den Besuch einer weiterführenden Schule abgebrochen. Es traten sogar Einzelfälle zu Tage, in denen junge Menschen sich seit mehr als sieben Jahren um einen Ausbildungsplatz bemühten oder eine ungelernte Tätigkeit ausübten. Der Bundesrechnungshof nannte einen weiteren wichtigen Punkt, der für die Verlängerung des Ausbildungsbonus spricht. Es wurde festgestellt, dass besonZu Protokoll gegebene Reden ders kleinere Unternehmen mit unter 50 Beschäftigten den Ausbildungsbonus in Anspruch genommen haben. In der Regel wurden über dieses Instrument ein, zwei zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen. Das waren besonders Betriebe, die in den letzten Jahren nicht ausgebildet hatten. Das bedeutet: Eine Förderung schafft zusätzliche Ausbildungsplätze. Auch im Nationalen Bildungsbericht 2010 wird betont, dass Ausbildungsförderungen bei allen Betriebsgrößenklassen zu einer deutlichen Erhöhung der Ausbildungsquote führt - und das besonders bei den mittleren und kleinen Unternehmen, bei den die Ausbildungsquote fast drei- bzw. viermal so hoch ist wie bei Betrieben ohne Förderung. Der Ausbildungsbonus scheint eines der wichtigen Anreizinstrumente zu sein, und die Bundesregierung täte gut daran, Zahlen und Fakten nicht einfach zu ignorieren, sondern den Ausbildungsbonus als Chance für viele Jugendliche zu verlängern. Die Debatte um den Fachkräftebedarf darf nicht so geführt werden, wie Bundesministerin von der Leyen es sich mit dem einfachen Zuzug von ausländischen Fachkräften vorstellt. Die Arbeit, die in Deutschland anfällt, muss von den hier lebenden Menschen geleistet werden - das ist die beste Integration. Der Ausbildungsbonus ist einer von mehreren Möglichkeiten, schnell und unmittelbar in dieser Frage Abhilfe zu schaffen. Wir wollen keine Armee von Chancenlosen, die mitgeschleppt werden, sondern qualifiziert ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, denen sich gute Perspektiven in der Arbeitswelt und gerechte Teilhabechancen in der Gesellschaft eröffnen.

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich muss schon sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn ich mir einige Ihrer Anträge und Vorstöße in der letzten Zeit ansehe, dann muss ich immer wieder an den britischen Schriftsteller Stevenson denken, aber nicht etwa, weil er „Die Schatzinsel“ geschrieben hat, sondern wegen der berühmten Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Die stammt nämlich auch von Stevenson. Waren Sie als Regierungspartei noch Dr. Jekyll, sind Sie als Oppositionspartei nun Mr. Hyde. Eine Partei - zwei Meinungen. Bei Ihrem jetzigen Antrag zum Ausbildungsbonus ist es wieder genauso. Was Sie damals selbst ins Gesetz geschrieben haben, will Ihnen heute nicht mehr einleuchten. Dabei ist die Sache doch ganz klar: Sie haben den Ausbildungsbonus in der Großen Koalition eingeführt. Und Sie haben den Ausbildungsbonus befristet, und zwar bis Ende 2010. Das war nicht die FDP, das war nicht die aktuelle Bundesregierung, sondern das waren Sie selbst. Sie haben damals in der Begründung von einer „Einmalmaßnahme“ gesprochen, und Sie haben an gleicher Stelle deutlich gesagt: „Der Ausbildungsbonus tangiert den Grundsatz, dass Betriebe die Berufsausbildung selbst durchführen, verantworten und finanzieren.“ Deswegen sei die Evaluation durch den Bund notwendig. Will heißen: Wir wollen überprüfen, ob der Ausbildungsbonus diesen Grundsatz nicht nur berührt, sondern verletzt. Davon wollen Sie in Ihrem Antrag jetzt nichts mehr wissen, sondern bezweifeln die Aussagekraft der Evaluation. Deskriptive Analysen reichten nicht aus. Wirkungsanalysen seien abzuwarten. Das klingt ja erstmal nach einem Argument, ist es aber nicht. Zu welchem Zweck hätte die Evaluation im Jahr 2010 denn dienen sollen, wenn es nicht die Entscheidung über eine mögliche Verlängerung gewesen wäre? Hat Sie damals bei der Formulierung der Evaluationsklausel einfach wissenschaftliches Interesse getrieben? Ich glaube nicht. Dann sehen wir uns doch die Ergebnisse des Evaluationsberichts einmal an: Über zwei Drittel der geförderten Betriebe gaben an, dass sie sich erst nach der Auswahl eines Bewerbers um eine Fördermöglichkeit bemüht haben. Etwa drei Viertel der Betriebe gaben an, dass ihnen die Altbewerberinnen und Altbewerber bereits vor der Einstellung bekannt waren, vorwiegend durch Praktika. Über 70 Prozent der Betriebe gaben an, dass sie den Ausbildungsplatz auch ohne Förderung geschaffen hätten. Und schließlich betonten über 80 Prozent der Betriebe, sie hätten auch ohne Ausbildungsbonus einen Altbewerber oder eine Altbewerberin eingestellt. So, und jetzt frage ich Sie: Wann, wenn nicht bei diesen Ergebnissen, würden Sie denn von dramatischen Mitnahmeeffekten sprechen? Ich zitiere noch einmal den Evaluationsbericht, der von den „gefundenen hohen Mitnahmeeffekten“ spricht. Sie haben vor zwei Jahren in Ihrem Gesetz darauf gepocht - zu Recht, wie ich gerne betone -, dass die Betriebe die Ausbildung finanzieren müssen und niemand sonst. Offensichtlich ist das beim Ausbildungsbonus überwiegend nicht der Fall. Das müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen. Kein Wort davon steht in Ihrem Antrag. Meine Fraktion hat schon vor zwei Jahren eindringlich auf die große Gefahr der Mitnahmeeffekte hingewiesen - zu Recht, wie wir heute wissen. Das ist ein wichtiger, ja ein entscheidender Punkt, gerade angesichts der Finanzierung aus Beitragsmitteln. Sie haben das Auslaufen des Ausbildungsbonus für Ende 2010 geplant. Der erste Evaluationsbericht liefert eindeutige Argumente dafür, dass dies auch so bleiben sollte. Es ist ein bisschen so wie bei der Rente mit 67. Sie haben an der Regierung etwas beschlossen und mit einer Evaluationsklausel versehen. Dann bringt die Evaluation eindeutige Ergebnisse, die Sie dann aber nicht wahrhaben wollen. Das hat mit Seriosität wenig zu tun. Deswegen müssen Sie mir auch nachsehen, wenn ich Ihren Antrag vor allem als Dekor fürs oppositionelle Schaufenster einstufe. So richtig ernst scheint Ihnen die Sache ja nicht zu sein, sonst würden Sie sich nicht zu solch haltlosen Vorwürfen versteigen: Das Handeln der Bundesregierung ziele auf die Abschaffung erfolgreicher Rechtsansprüche auf Qualifizierung und Bildung. Das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, einfach Quatsch. Abgesehen davon handelt es sich um einen Rechtsanspruch für Arbeitgeber auf einen Zuschuss. Ihr eigenes Instrument sollten Sie besser kennen. Und Ihren Hinweis auf den Erfolg des Ausbildungsbonus muss man nach dem Evaluationsbericht als das ansehen, was er Zu Protokoll gegebene Reden Johannes Vogel ({0}) ist: Realitätsverweigerung. Schließlich widersprechen Sie sich an dieser Stelle auch selbst. Einerseits soll der vorliegende Evaluationsbericht kein Gradmesser sein, weil er nur deskriptiv angelegt sei. Andererseits reichen Ihnen rein deskriptive Befunde über die Inanspruchnahme des Ausbildungsbonus - die im Übrigen deutlich unter den von Ihnen anvisierten Zielen liegt - aus, um den Erfolg des Instruments festzustellen. Was denn nun? Wenn Sie überzeugen wollen, brauchen Sie Argumente. Ihr widersprüchlicher Antrag reicht dazu leider nicht. Sie wollen im Grunde gegen alle Indizien und völlig ohne Beweise ein Urteil fällen. Das wäre vor Gericht Unsinn, und in der Arbeitsmarktpolitik wäre es das auch. Die Regierungskoalition gründet ihre Politik hingegen auf klare Analysen und fällt klare Entscheidungen. Das ist das Gegenteil von Ihrer Zickzack-Politik.

Agnes Alpers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004002, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nach Angaben der Bundesregierung soll der Ausbildungsbonus Arbeitgeber veranlassen, zusätzliche Ausbildungsplätze zu schaffen, die ohne Bonus nicht zustande kommen würden. Was aber haben Ausbildungspakt und Ausbildungsbonus an der Situation derjenigen geändert, die jahrelang nach einem Ausbildungsplatz suchen? Seit Bestehen des Ausbildungspaktes sind nicht, wie versprochen, 90 000 zusätzliche Ausbildungsplätze eingerichtet worden, vielmehr wurden 45 000 Ausbildungsplätze abgebaut. Der Ausbildungsbonus hat kaum zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen. Es wurden Betriebe unterstützt, die auch ohne Bonus ausgebildet hätten. Das sind 71 Prozent aller Unternehmen. 400 000 Altbewerber und Altbewerberinnen und 1,5 Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren bleiben weiterhin ohne Ausbildung, sind oft arbeitslos und ausgegrenzt. Die Linke hat schon damals darauf aufmerksam gemacht, dass dieses Förderinstrument falsch angelegt ist. Es belohnt Unternehmen für eine Aufgabe, die sowieso eine ihrer Pflichten ist, schafft Mitnahmeeffekte und ist kein Instrument, um Ausbildung für alle abzusichern. Statt dieser wirkungslosen Hilfsmaßnahme für Betriebe nachzuhängen, sollten sich die Kollegen und Kolleginnen von der SPD endlich wieder auf unseren ehemals gemeinsamen Pfad einer Ausbildungsumlage begeben. Das ist die Maßnahme, die alle an Ausbildung beteiligt und vielfältige Lebensperspektiven eröffnet. Wir dürfen ausbildende Unternehmen nicht belohnen, wenn wir nicht gleichzeitig die Betriebe zahlen lassen, die nicht ausbilden wollen. Deshalb fordert die Linke hier die gesetzliche Ausbildungsumlage. Mit ihrer Hilfe entsteht Ausbildung für alle. Neben der Umlage wollen wir das Geld für den Bonus aber sinnvoll einsetzen. Wir wollen kleine Betriebe unterstützen, sich umfänglich an Ausbildung zu beteiligen. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, endlich Ausbildungsplätze für alle einzurichten, für all die, die bisher ausgegrenzt werden, für die Zukunft der Betriebe und der Gesellschaft. Und noch eine Notiz zu der im Ausbildungspakt verankerten Selbstverpflichtung der Unternehmen. Ich frage Sie als Abgeordnete, als Kleinunternehmer und Kleinunternehmerinnen: Wie halten Sie es mit der Selbstverpflichtung? Ich, für meinen Teil, bilde in meinem Büro eine Altbewerberin aus.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Im Oktober dieses Jahres waren immer noch 154 500 junge Menschen bei der Bundesagentur für Arbeit als sogenannte Altbewerberinnen oder Altbewerber gemeldet - und das, obwohl die Anzahl der Schulabsolventen sinkt, obwohl sich der Konjunkturverlauf überaus positiv entwickelt und obwohl vom deutschen Jobwunder die Rede ist. Die betroffenen Jugendlichen warten vergeblich auf einen Ausbildungsplatz und landen stattdessen im Übergangssystem. Dieses entpuppt sich für sie meist als sinnlose Warteschleife, die nicht in eine gute Berufsausbildung, sondern in Arbeitslosigkeit oder Billigjobs für Geringqualifizierte mündet. Das ist unverantwortlich - nicht nur mit Blick auf die jungen Menschen, die damit ihre Berufsperspektive verlieren, sondern auch mit Blick auf den zunehmenden Fachkräftemangel, der zur Bremse für die wirtschaftliche Entwicklung der Unternehmen wird. Sowohl die Wirtschaft als auch die Politik stehen daher in der Verantwortung, Jugendlichen die besten Berufschancen zu eröffnen. Vor diesem Hintergrund ist es geradezu fahrlässig, dass die Bundesregierung sich aufs Nichtstun verlegt. Sie, meine Damen und Herren von Union und FDP, glauben offensichtlich, dass sich schon alles fügen wird, wenn die Zahl der Schulabgänger weiter zurückgeht und der Druck des Fachkräftemangels größer wird. Sie hoffen auf einen Automatismus, aber Sie werden vergeblich hoffen. Nichts und niemand garantiert, dass die Schulen automatisch besser werden oder dass die Wirtschaft automatisch auch für nicht so gute Schülerinnen und Schüler oder Schulabbrecher Ausbildungsplätze bereitstellt. Statt die Hände in den Schoß zu legen, müsste die Bundesregierung endlich für bessere Rahmenbedingungen sorgen, damit alle jungen Menschen die Möglichkeit erhalten, gut qualifiziert ins Berufsleben zu starten. Aber wer glaubt mit einer Verlängerung des Ausbildungsbonus die Probleme auf dem Ausbildungsmarkt lösen zu können, ist auf dem Holzweg. Schon bei der Einführung des Bonus haben wir Grünen seine Zielgenauigkeit und Reichweite bezweifelt. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion, von Anfang an gab es darüber hinaus sowohl vonseiten der Arbeitgeber als auch vonseiten der Gewerkschaften erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit des Ausbildungsbonus; das hätte Ihrem damaligen Arbeitsminister zu denken geben müssen. Mit der Vorlage des Zwischenberichts zur Evaluation des Ausbildungsbonus sind alle Skeptiker bestätigt worden. 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze sollten durch die Gewährung des Bonus bis Ende 2010 geschaffen werden. Insgesamt wurde der Ausbildungsbonus seit seiner Einführung in 44 700 Fällen gewährt. Aber laut Zwischenbericht hätten 82 Prozent der Betriebe auch Zu Protokoll gegebene Reden ohne den Ausbildungsbonus eine Altbewerberin oder einen Altbewerber eingestellt. Unter dem Strich sind durch die Förderung weniger als 9 000 zusätzliche Ausbildungschancen entstanden. Berücksichtigt man noch, dass in mehreren Bundesländern mit der Einführung des Ausbildungsbonus ähnliche, aber günstigere Förderprogramme weggefallen sind, so wie beispielsweise in Niedersachsen oder Sachsen-Anhalt, dann fällt die Bilanz noch verheerender aus. Zudem wurden den Beitragszahlern für wenig Wirkung hohe Kosten aufgebürdet. Bis zum September 2010 wurden bereits über 66 Millionen Euro für den Ausbildungsbonus ausgegeben. Die Summe wird noch erheblich steigen, weil die zweite Hälfte der Bonuszahlung erst bei der Anmeldung zur Abschlussprüfung ausgezahlt wird. Wir Grünen waren dagegen, den Ausbildungsbonus einzuführen und wir sind dagegen, dieses Programm, bei dem Anspruch und Wirklichkeit meilenweit auseinanderliegen, fortzuführen. Mit unserem Konzept DualPlus haben wir Vorschläge unterbreitet, bei deren Umsetzung für alle Jugendlichen eine gute Berufsausbildung über neue überbetriebliche Ausbildungsstätten möglich wird, ohne dafür weitere Millionen zu verpulvern.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4191. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und der Grünen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 31 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette Kramme, Gabriele Lösekrug-Möller, Hubertus Heil ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Insolvenzgeld - Umlagekasse nicht im Bundeshaushalt vereinnahmen - Drucksache 17/4188 Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar folgender Kolleginnen und Kollegen: Axel E. Fischer, Bartholomäus Kalb, Gabriele Lösekrug-Möller, Claudia Winterstein, Sabine Zimmermann, Brigitte Pothmer.

Axel E. Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003118, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wünschte, wir würden in diesem Hause mehr Debatten zu so erfreulichen Anlässen führen wie zur Verbuchung der Insolvenzgeldumlage für das ablaufende Jahr 2010. Denn der Überschuss der Insolvenzgeldumlage von mehr als 1 Milliarde Euro ist ein deutliches Zeichen dafür, wie unerwartet positiv sich unsere Wirtschaft in den letzten Monaten entwickelt hat: Die Zahl der Arbeitslosen ist auf unter 3 Millionen gesunken. Die Wirtschaftsleistung ist so stark gestiegen wie seit Jahrzehnten nicht mehr, und die Unternehmen suchen neue Arbeitskräfte, entwickeln neue Produkte und Dienstleistungen und stellen wieder Menschen ein. Die Arbeitsverhältnisse sind sicherer geworden, die Arbeitnehmer können ruhiger schlafen, denn Insolvenz ist - anders als im vergangenen Jahr - kein beherrschendes Thema mehr. Und weil das niemand so voraussehen konnte, weil selbst die Bundesregierung bei ihrer Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung und damit auch der Insolvenzen diese überaus positive Entwicklung nicht vorhergesehen hat, deshalb sind rund 1,1 Milliarden Euro der Insolvenzgeldumlage von der Bundesagentur nicht für Insolvenzgelder an Arbeitnehmer ausgegeben worden. Auf der anderen Seite ist die Entwicklung bei der Zahl der Arbeitslosen zwar auch positiv, aber leider hat sie sich nicht so schnell und deutlich auf die Ausgaben der Bundesagentur für Arbeit ausgewirkt. Und so ist es gekommen, dass die Bundesagentur für Arbeit das laufende Jahr 2010 mit einem Zuschussbedarf des Bundes von rund 6 Milliarden Euro abschließt. Der ursprüngliche Haushalt ging noch von 16 Milliarden Euro aus. Diese Last müssen jedoch keineswegs Arbeitgeber und Arbeitnehmer alleine schultern; nein, zur Sicherung von Arbeitsplätzen, zur Entlastung der Unternehmen, zur Belebung unserer Wirtschaft hat die christlich-liberale Bundesregierung für das laufende Jahr 2010 beschlossen, das ansonsten übliche zinslose Darlehen an die Bundesagentur für Arbeit in einen Zuschuss umzuwandeln. Trotz der Neuverschuldung des Bundes in Höhe von rund 50 Milliarden Euro gewährt der Bund ganz bewusst statt des üblichen, zurückzuzahlenden Darlehens für dieses Jahr der Bundesagentur für Arbeit ausnahmsweise einen Zuschuss, um deren Defizit auszugleichen. Und 6 Milliarden Euro, das sind rund 5 Milliarden Euro mehr als der Überschuss der Bundesagentur für Arbeit aus der Insolvenzgeldumlage der Arbeitgeber. Die Gemeinschaft der Steuerzahler übernimmt damit in solidarischer Weise und in erheblichem Umfang Lasten, die ansonsten auch durch die Beitragszahler hätten getragen werden müssen. Denn die Belebung des Arbeitsmarktes, das Schicksal Tausender Arbeitnehmer und die Gesundung unserer Wirtschaft als Quelle unseres Wohlstandes und Lebensstandards sind wesentliche Ziele, die die gesamte Gesellschaft betreffen und die damit auch ausnahmsweise große Anstrengungen rechtfertigen. Wer diese herausragende und vorbildliche gesamtgesellschaftliche Solidaritätsleistung der Menschen im Lande kleinzureden versucht, wer im Angesicht dieses Kraftaktes mit für alle Beteiligten erfolgreichem Ausgang jetzt versucht, egoistische Eigenziele umzusetzen und mit Klein-Klein das Ganze zu zerstören, der ist nicht gut beraten. Dies umso weniger, als die Zahlungen zur Insolvenzgeldumlage für die Arbeitgeber nicht etwa verloren sind, sondern mit den Zahlungen der kommenden Jahre verrechnet werden. Damit werden durch den Bundeszuschuss von rund 6 Milliarden Euro in diesem Jahr Unternehmen und Arbeitnehmer entlastet - im kommenden Axel E. Fischer ({0}) Jahr werden darüber hinaus die Arbeitgeber entlastet, die aufgrund der Zahlungsüberschüsse in 2011 und auch später von Beitragszahlungen zur Insolvenzgeldumlage entlastet werden. So wurde der Umlagesatz für das Jahr 2011 auf 0,0 Prozent festgelegt, im Jahr 2010 betrug er noch 0,41 Prozent. Das wird unsere Wirtschaft im derzeitigen wirtschaftlichen Aufschwung weiter stärken und die Entstehung neuer Arbeitsplätze fördern. Es ist festzustellen, dass Deutschland aufgrund richtiger politischer Entscheidungen die Krise gut bewältigt und wieder der Wachstumsmotor in Europa ist. Das Krisenprogramm der Bundesregierung hat uns gut aus der Krise geführt, und auch der milliardenschwere Bundeszuschuss an die Bundesagentur war vor diesem Hintergrund eine richtige Maßnahme. Dass die Bundesagentur für Arbeit bei einem Zuschuss von rund 6 Milliarden Euro jedoch nach dem Willen der SPD auch eigene Rücklagen für das Jahr 2011 auf Kosten des Steuerzahlers bilden soll, würde die Solidarität der Steuerzahler vor dem Hintergrund einer erheblichen Neuverschuldung des Bundes überstrapazieren. Eine solche Rückverlagerung der Finanzlasten der Bundesagentur für Arbeit vom Jahr 2011 auf das Jahr 2010, in dem die Steuerzahler die Defizite der Bundesagentur für Arbeit durch einen Zuschuss in einem einmaligen Solidarakt übernommen haben, kann und darf es nicht geben. Denn Hilfe ist immer auch Hilfe zur Selbsthilfe, und es erschiene unfair, wenn die Nothelfer, das heißt die Steuerzahler, nachträglich auch noch für Speckpolster zur Kasse gebeten werden sollten. Dass es für eine solche Rücklagenbildung keine Rechtsgrundlage gibt, die Antragsteller somit ohne rechtliche Handhabe über Jahrzehnte bewährte Haushaltsgrundsätze infrage stellen, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Denn weder sind die Einnahmen der Bundesagentur für Arbeit aus der Insolvenzgeldumlage zweckgebunden, noch sehe ich einen vernünftigen Grund, sie zulasten des Bundeshaushaltes in das Jahr 2011 umzubuchen. Mit diesem Antrag reden Sie von der SPD nicht nur die große solidarische Leistung der Gemeinschaft der Steuerzahler klein, die mit ihren Steuergroschen Arbeitnehmern, Arbeitgebern und auch der Bundesagentur für Arbeit in diesem schweren Jahr 2010 mit dem Ziel der Belebung unserer Wirtschaft geholfen haben, die schwere Krise gut zu überwinden, um kraftvoll in die Zukunft zu starten. Nein - indem Sie darüber hinaus auch noch fälschlicherweise suggerieren, diese große solidarische Leistung der Steuerzahler würde zu einem Anstieg zukünftiger Beitragsleistungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern führen, offenbaren Sie ein geradezu ungehöriges Maß an Unehrlichkeit und Verantwortungslosigkeit. Denn die 6 Milliarden Euro aus der Bundeskasse für die Bundesagentur für Arbeit haben mit dazu beigetragen, die Beitragsbelastungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf einem erträglichen Niveau zu bewahren. Die gut 1 Milliarde Euro umfassende Insolvenzgeldumlage ist hiervon nur ein vergleichsweise kleiner Teil. Da es uns allen um eine erfolgreiche Krisenbewältigung geht, ist mir vor diesem Hintergrund unverständlich, warum sie von der SPD auf einmal diese Erfolge schlechtreden, ohne Not mit Gaukeleien in Taschenspielertrickmanier richtige Entscheidungen rückgängig machen und an vielfach und lange bewährte Regelungen und Strukturen Hand anlegen wollen. Deshalb ist der Antrag abzulehnen.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die SPD fordert mit ihrem Antrag zum Insolvenzgeld die Bundesregierung auf, die zum Jahresende 2010 nicht verausgabten Mittel aus der Insolvenzgeldumlage bei der Bestimmung der Höhe des Bundeszuschusses an die Bundesagentur für Arbeit nicht in Ansatz zu bringen, sondern stattdessen auf das Jahr 2011 zu übertragen. Eine Verrechnung des Bundeszuschusses mit der nicht verausgabten Insolvenzgeldumlage hätte zur Folge, dass in 2011 Arbeitgeber und Arbeitnehmer den infrage stehenden Betrag erneut aufbringen müssten, um die für Insolvenzfälle benötigten Gelder bereitstellen zu können. Die Beitragszahler würden damit doppelt belastet. Dies könne nach Ansicht der SPD nicht akzeptiert werden. Diese Auffassung der SPD ist falsch. Die christlich-liberale Koalition hat Deutschland erfolgreich aus der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise geführt. Dank der unerwartet guten konjunkturellen Entwicklung wird die für das Jahr 2010 aufgebrachte Insolvenzgeldumlage nicht vollständig benötigt werden. Die Insolvenzgeldumlage wird zur Finanzierung des Insolvenzgeldes erhoben. Arbeitnehmer haben Anspruch auf Insolvenzgeld, wenn sie bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Die von der SPD im Antrag angestrebte Separierung der Mittel für die Insolvenzgeldumlage entspricht jedoch nicht der geltenden Rechtslage. Ein möglicher Überschuss bei der Insolvenzgeldumlage ist vielmehr zur Verringerung des Bundeszuschusses an die Bundesagentur für Arbeit zu verwenden. Dies führt auch nicht zu unangemessenen Belastungen, weder der Arbeitgeber- noch der Arbeitnehmerseite. Die von der SPD befürchtete Doppelbelastung der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmerseite ist auf Basis der geltenden gesetzlichen Reglungen zur Insolvenzgeldumlage ausgeschlossen. Die Höhe des Umlagesatzes ist nämlich so zu bemessen, dass die voraussichtliche Entwicklung der Insolvenzereignisse unter Berücksichtigung der möglichen Fehlbestände und Überschüsse aus Vorjahren durch die Einnahmen abgedeckt ist. Dies wird jedes Jahr durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales exakt berechnet. Für die geschätzten Insolvenzgeldausgaben im kommenden Jahr wird dementsprechend aufgrund des aktuellen Überschusses keine Umlage erhoben. Darüber hinaus kann nach heutigen Erkenntnissen damit gerechnet werden, dass auch im Jahre 2012 nicht der volle Beitragssatz erhoben werden muss. Soweit im nächsten Jahr Insolvenzgeld von der Bundesagentur für Arbeit geleistet werden muss, erhöht sich zwar das Defizit der Bundesagentur und damit das vom Zu Protokoll gegebene Reden Bund zu leistende Darlehen. Eine unbillige Belastung der Arbeitnehmer oder Arbeitgeber ist darin jedoch nicht zu sehen. Trotz einer Neuverschuldung des Bundes in diesem Jahr in Höhe von circa 50 Milliarden Euro wird - abweichend von der üblichen Darlehnsgewährung - ein Bundeszuschuss in Höhe von circa 6 Milliarden Euro an die Bundesagentur bezahlt. Durch den Bundeszuschuss werden die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler entlastet. Dies ist ein Vielfaches der Summe, die von der SPD in ihrem Antrag als „Doppelbelastung“ angesehen wird. Zudem darf auch eines nicht vergessen werden: Hätte die Insolvenzgeldumlage 2010 nicht ausgereicht, um alle Ansprüche auf Insolvenzgeld abzudecken, hätten die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dies durch einen erhöhten Bundeszuschuss ausgleichen müssen.

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

„Plündern“ ist das richtige Wort für den Vorgang, über den ich hier spreche. Und geplündert wird die Insolvenzgeldumlagekasse bei der Bundesagentur für Arbeit. Nicht von denen, die eingezahlt haben, das sind die Arbeitgeber, auch nicht von jenen, denen sie im Notfall zugutekommen soll, das sind Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die durch die Insolvenz ihres Arbeitgebers keinen Lohn erhalten würden. Der Plünderer sitzt im Finanzministerium und heißt Wolfgang Schäuble, unser Bundesfinanzminister. Für das Jahr 2010 reden wir über eine Summe von circa 1,1 Milliarden Euro, so prall gefüllt ist die Umlagekasse. Indem sie in den allgemeinen - defizitären - Etat der Bundesagentur für Arbeit einbezogen wird, ist der Bestand von jetzt auf gleich weg, das Defizit der BA um 1,1 Milliarden Euro kleiner; da freut sich unser Finanzminister. Doch beim Plündern erwischt zu werden, das ist schon mehr als ein Kavaliersdelikt. Dieser Vorgang ereignete sich während der letzten Wochen, parallel zu den Haushaltsberatungen im Bundestag. Zeitgleich wurde den Arbeitgebern für das kommende Jahr auf dem Verordnungswege, quasi als Weihnachtsgeschenk, Beitragsfreiheit für die Insolvenzkasse in Aussicht gestellt. Also, erst die Kasse leeren und dann die Kasse leer lassen. Damit will sich die SPD nicht abfinden. Daher unser Antrag! Wir fordern darin, die bis zum Jahresende nicht verausgabten Mittel aus der Insolvenzgeldumlage auf das Jahr 2011 zu übertragen und damit diesen Betrag bei der Bestimmung der Höhe des Zuschusses an die BA nicht zu berücksichtigen. Dies ist sachgerecht und notwendig. Alleinige Einzahler in die Insolvenzgeldumlagekasse sind die Arbeitgeber, die für die Gehaltsfortzahlungen ihrer Mitarbeiter solidarisch vorsorgen. Jetzt sollen die Arbeitgeber mit ihrer Umlagekasse mit mehr als 1 Milliarde Euro herhalten, um den steuerfinanzierten Zuschuss zu mindern. Wurden sie gefragt? Wurde die Zweckgebundenheit aufgehoben? Ist der Kassenbestand mit Einwilligung der Einzahler zur Spende mutiert? Wohl kaum. Ist das Vertrauensschutz der beitragsleistenden Unternehmen? Wohl eher Raubrittertum und Wegelagerei des Finanzministeriums, und das Fachministerium ist zu schwach, sich zu wehren! Bleibt die Insolvenzgeldumlagekasse leer, muss Insolvenzgeld gemäß § 183 SGB III in den kommenden Jahren aus den allgemeinen Mitteln der Bundesagentur bestritten werden, also paritätisch beitragsfinanziert von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Wir Sozialdemokraten halten das für unverantwortlich. Maßlose Kürzungen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik belasten ohnehin diesen Einzelplan. Nun kommt ein weiteres Risiko hinzu. Sollten die Turbulenzen im europäischen Währungs- und Wirtschaftsraum deutsche Unternehmen und Arbeitsplätze gefährden und Insolvenzen in größerem Ausmaß eintreten, trifft das eine geplünderte Bundesagentur. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen. Ihr Coup ist aufgeflogen und der Streit über die Übertragbarkeit der Mittel in das kommende Haushaltsjahr Spiegelfechterei. Nun war in den letzten Tagen zu hören, dass es im Ministerium für Arbeit und Soziales auch keinen Stolz auf dieses Vorgehen mehr gibt. Wir Sozialdemokraten begrüßen es, wenn Einsicht einkehrt und Besserung angekündigt wird. Sie hätten es sich leicht machen können. Eine einfache Gesetzgebung im verkürzten Verfahren hätte noch in diesem Jahr Abhilfe schaffen können. Doch dazu fehlte dem Haus von der Leyen offenkundig die Kraft. Das ist sehr bedauerlich. Wir Sozialdemokraten helfen da gern! Nutzen sie unseren Vorschlag und stimmen Sie unserem Antrag zu!

Dr. Claudia Winterstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Thema dieser Debatte ist eine an sich erfreuliche Tatsache. Die Insolvenzgeldumlage, die die umlagepflichtigen Arbeitgeber 2010 gezahlt haben, wurde nicht in voller Höhe gebraucht. Die Befürchtung, es werde im Zuge der Wirtschaftskrise zu einer größeren Zahl von Insolvenzen kommen und entsprechend mehr Mittel aus der Insolvenzgeldumlage benötigt, hat sich nicht bestätigt. Das hat dazu geführt, dass am Jahresende 2010 eine Summe von rund 1,1 Milliarden Euro nicht ausgegeben wurde. Die logische Folgerung daraus ist: Wenn die Arbeitgeber dieses Jahr zu viel bezahlt haben, müssen sie im nächsten Jahr weniger zahlen. Genauso wird es auch gemacht. Der Umlagesatz wird für 2010 auf null gesetzt. Im nächsten Jahr müssen die umlagepflichtigen Arbeitgeber keine Insolvenzgeldumlage zahlen. Voraussichtlich wird auch 2012 der Umlagesatz geringer ausfallen als er ohne diesen Überschuss sein müsste. Daneben stellt sich die Frage, wie der vorhandene Überschuss von 1,1 Milliarden Euro buchhalterisch zu behandeln ist. Die SPD greift eine Anregung der Bundesagentur für Arbeit auf und schlägt vor, diese Summe ins Jahr 2011 zu übertragen. Leider hat dieser Vorschlag einen Schönheitsfehler. Er ist rechtlich nicht zulässig. Rechtlich ist es vielmehr so, dass der Haushalt der Bundesagentur für Arbeit als Ganzes betrachtet werden muss. Die Bundesagentur weist für 2010 ein Defizit von etwa 9,9 Milliarden Euro aus. Dem stehen angesamZu Protokoll gegebene Reden melte Mittel aus der Insolvenzgeldumlage in Höhe von 1,1 Milliarden Euro gegenüber. Im Saldo beträgt das Defizit der Bundesagentur 2010 also 8,8 Milliarden Euro. Davon werden 2,9 Milliarden Euro aus der noch vorhandenen Rücklage gedeckt, der Rest wird durch einen Bundeszuschuss ausgeglichen. Auch 2011 wird der Bund ein Defizit der Bundesagentur ausgleichen, allerdings nicht durch einen Zuschuss, sondern durch ein Darlehen. Die Bundesagentur hat in ihrem Haushaltplan für 2011 ein erwartetes Defizit von 4,3 Milliarden Euro ausgewiesen. Sie ist dabei allerdings davon ausgegangen, dass die in Rede stehenden 1,1 Milliarden Euro aus der Insolvenzgeldumlage auf 2011 übertragen werden. Da das - wie dargestellt nicht möglich ist, ändern sich die Zahlen, und das für 2011 anzusetzende Defizit beläuft sich auf vermutlich 5,4 Milliarden Euro. Diese Lücke wird der Bund dann in Form von Darlehen abzudecken haben. Deshalb haben wir das so im Bundeshaushalt auch bereits verankert. Woran sich die Interessen in diesem Fall so heftig entzünden, ist der Unterschied von Zuschuss heute und Darlehen morgen. Es ist ja nachzuvollziehen, dass die BA ein Interesse daran hat, eher Zuschuss als Darlehen zu bekommen. Ebenso sollte aber nachzuvollziehen sein, dass das Interesse des Bundes an einem solchen Geschäft deutlich geringer ausgeprägt ist. Die Position des Bundes ist dabei vom Haushaltsrecht gedeckt. Nun gibt es die Anregung, das Haushaltsrecht so zu ändern, dass die Mittel der Insolvenzgeldrücklage getrennt vom Haushalt der Bundesagentur geführt werden können. Das würde dann auch eine Übertragbarkeit ermöglichen. Das wäre insofern günstig, als dann innerhalb des Insolvenzgeldumlagetopfes Vorsorge für schlechte Zeiten getroffen werden könnte. Bisher ist das nicht möglich. Vielmehr wirkt die Insolvenzgeldumlage bisher prozyklisch. Das heißt, in Krisenzeiten sind die Umlagesätze besonders hoch. Das zu ändern, dafür sehe ich durchaus Bereitschaft. Eine Gesetzesänderung im Galopp noch für 2010, wie die SPD das vorschlägt, halte ich aber nicht für sinnvoll. Ich halte also fest: Die Bundesagentur bekommt, was sie braucht, in diesem Jahr per Zuschuss, im nächsten Jahr per Darlehen. Für die Handhabung der Überschüsse aus der Insolvenzgeldumlage in diesem Jahr sind die Rechtsregeln klar und werden angewendet. Für die künftige Handhabung der Insolvenzgeldumlage sind aber Änderungen der Rechtsregeln durchaus möglich und auch sinnvoll, damit wir das Thema nicht noch einmal so streitig behandeln müssen.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wer zahlt die Kosten für die Krise? Diese Frage treibt Millionen Menschen in Deutschland um. Die schwarzgelbe Bundesregierung hat die Frage bisher klar beantwortet: Sie will die Banken und Großunternehmen ungeschoren davonkommen lassen, die Krisenlasten auf die breite Mehrheit der Bevölkerung abwälzen. Nach dem Sparpaket wird das nun auch am Umgang mit der Insolvenzkasse deutlich. Schwarz-Gelb will die Unterstützungsgelder für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von pleitegegangen Unternehmen in den Bundeshaushalt umleiten, kurz: die Insolvenzkasse plündern. Worum geht es? Gehen Unternehmen pleite, können deren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für nichtgezahlte Löhne ein sogenanntes Insolvenzgeld beantragen, maximal für die letzten drei Monate vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Die Gelder der Insolvenzkasse werden durch eine Umlagezahlung der Arbeitgeber erbracht, die Kasse selbst von der Bundesagentur für Arbeit verwaltet. Das Insolvenzgeld ist damit eine wichtige Unterstützungsleistung für Beschäftigte, um ausstehende Löhne zumindest zum Teil zu begleichen. Allein 2009 wurden rund 350 000 Anträge auf Insolvenzgeld bewilligt, in diesem Jahr - trotz sich erholender Wirtschaft - monatlich immerhin noch 20 000 bis 25 000. Angesichts der unerwartet schnellen wirtschaftlichen Erholung wurden die Gelder der Insolvenzkasse nicht in vollem Ausmaß in Anspruch genommen. Es werden voraussichtlich 1,2 Milliarden Euro ungenutzt bleiben. Die Bundesregierung will nun diese Gelder, die eigentlich für die Beschäftigten vorgesehen sind, zweckentfremdet in den Bundeshaushalt umleiten. Sie will den Zuschuss für die Bundesagentur für Arbeit um diesen genannten Betrag auf 5,8 Milliarden Euro kürzen. Das ist ein Skandal und nicht hinzunehmen. Offensichtlich will die Bundesregierung hier Gelder der Arbeitnehmer benutzen, um die Löcher im Haushalt zu stopfen, die die Bankenrettung und Steuersenkungen für Unternehmen gerissen haben. Zu Recht spricht der DGB von einem „Taschenspielertrick“ und will zusammen mit den Arbeitgebervertretern im Verwaltungsrat der Bundesagentur dagegen sein Veto einlegen. Die Linke unterstützt dies und fordert die Bundesregierung auf, rechtliche Änderungen vorzunehmen, die sicherstellen, dass derzeitige und zukünftig ungenutzte Insolvenzgelder in der Insolvenzkasse verbleiben, um sie zu einem späteren Zeitpunkt für ihren eigentlichen Zweck zu nutzen. Das ist auch wichtig, weil die Regierung beschlossen hat, die Insolvenzumlage für das Jahr 2011 zu streichen. Insolvenzgeldzahlungen müssten dann aus dem regulären Haushalt der Bundesagentur geleistet werden, deren Etat bereits empfindlich gekürzt wurde. Die Linke unterstützt deshalb den vorliegenden Antrag der SPD, die wie die Linke entsprechende Maßnahmen von der Regierung einfordert. Abschließend sollte festgehalten werden: Es geht hier nicht allein um das Insolvenzgeld. Es geht um die nachhaltige Finanzierung der Arbeitslosenversicherung. Mit dem sogenannten Eingliederungsbeitrag, den die Bundesagentur für Arbeit als Strafsteuer an den Bund abführen muss, sollen dieses und nächstes Jahr dem Haushalt der Bundesagentur weitere 10 Milliarden Euro zweckentfremdet entwendet werden, Geld, das für eine solide und krisenfeste Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik fehlt, Geld, das für eine nachhaltige Qualifizierung und Weiterbildung der Beschäftigten fehlt, um den Abstieg in die Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern. Zu Protokoll gegebene Reden Wenn es nun Gerüchte gibt, der Finanzminister überlege, der Bundesagentur den sogenannten Mehrwertsteuerpunkt zu streichen, mit der die politisch gewollten niedrigen Beitragssätze zur Arbeitslosenversicherung ausgeglichen werden, dann ist klar: Die Bundesregierung ist mit ihrer Sparpolitik noch nicht am Ende. Die Befürworter einer guten Arbeitsmarktpolitik müssen sich gemeinsam gegen diese Politik wehren und dabei einen langen Atem haben.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Bundesfinanzminister nimmt die Bundesagentur für Arbeit aus wie eine Weihnachtsgans, und was macht die Arbeitsministerin? Sie jammert, will in Zukunft alles besser machen, aber kurzfristig nicht daran rütteln. Nachdem schon der Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales drastisch zusammengestrichen wurde, sind jetzt die Beitragszahler dran. Über 1 Milliarde Euro soll aus dem Haushalt der Agentur in den Bundeshaushalt umgeleitet werden. Dabei handelt es sich um den diesjährigen Überschuss aus der Insolvenzgeldumlage, die von den Arbeitgebern zweckgebunden gezahlt wird. Das Abkassieren dieses Überschusses ist ein Affront gegen den Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit, gegen die Arbeitnehmer, die dann auch indirekt für das Insolvenzgeld aufkommen müssen und gegen die Arbeitgeber, die mehrfach zur Kasse gebeten werden. Bereits im November hat der Verwaltungsrat einen geharnischten Brief an den Finanzminister geschrieben und darin ankündigt, sich mit rechtlichen Mitteln zu wehren, „… wenn zweckgebunden aufgebrachte Arbeitgebermittel tatsächlich im Bundeshaushalt verschwänden und die Beitragszahler zusätzlich belasten“. Und weiter hat der Verwaltungsrat geschrieben: „Würde im Genehmigungsverfahren für den Haushalt der BA durch die Bundesregierung eine Auflage erlassen, die im Ergebnis ein Verschwinden bereits gezahlter zweckgebundener Arbeitgeberumlagen im Bundeshaushalt zur Folge hätte, würde der BA-Verwaltungsrat einer solchen Auflage nicht folgen, weil er sich zu rechtswidrigem Verhalten nicht zwingen lässt.“ Trotz der Bedenken und des Protestes des Verwaltungsrates hat das Bundeskabinett gestern genau so eine Auflage im Rahmen der Genehmigung des Haushalts 2011 der Bundesagentur für Arbeit beschlossen. Völlig zu Recht weigert sich die Bundesagentur jetzt, diesen mit Auflagen versehenen Haushalt in Kraft zu setzen. Frau Ministerin von der Leyen, ich appelliere an Sie: Lassen Sie sich von Herrn Schäuble nicht länger über den Tisch ziehen. Lassen Sie es nicht auf einen Rechtsstreit mit der BA ankommen. Überdenken Sie entweder schleunigst Ihre Rechtsauffassung - denn der Verwaltungsrat hat offensichtlich eine andere - oder sorgen Sie unverzüglich dafür, dass eine Rechtsgrundlage geschaffen wird, die es ermöglicht, den diesjährigen Überschuss aus der Insolvenzgeldumlage bei der BA zu belassen und ins kommende Haushaltsjahr zu übertragen. Dazu hat die SPD-Fraktion einen Vorschlag unterbreitet, dem auch wir Grünen zustimmen. Erst abkassieren und für die kommenden Jahre, in denen die BA nach der Haushaltsplanung von Union und FDP sowieso keinen Zuschuss mehr erhält, eine neue Rechtslage schaffen zu wollen, ist ganz schön dreist. Aber damit nicht genug. Nach Pressemeldungen plant das Finanzministerium weitere Griffe in die Kasse der Bundesagentur für Arbeit. Mitte November war in einigen Zeitungen zu lesen, dass der Bundesfinanzminister überlegt, künftig keine Mehrwertsteuereinnahmen mehr an die BA zu überweisen, die der Bund für die Beteiligung an den Kosten der Arbeitsförderung zahlt. Angedacht ist, diese acht Milliarden Euro irgendwie zu nutzen, um im Rahmen der Gemeindefinanzreform die Kommunen zu entlasten. Auch hier gab es auf meine Anfrage nur ein ziemlich laues Dementi. Meine Damen und Herren von Union und FDP, lassen Sie endlich die Finger vom BA-Haushalt, sonst müssen Sie am Ende entweder den Beitragssatz für die Arbeitslosenversicherung anheben, oder die Arbeitsagentur muss die Unterstützung der Arbeitslosen zusammenstreichen. Beides ist schlecht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4188. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander Ulrich, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung ({0}) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Vorschlag der Europäischen Kommission zur Konzernentsenderichtlinie zurückweisen - Drucksache 17/4039 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll genommen: Stephan Mayer, Daniela Kolbe, Hartfrid Wolff, Alexander Ulrich, Memet Kilic.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die EU-Kommission hat am 13. Juli dieses Jahres einen seit langem erwarteten Vorschlag zur erleichterten Zuwanderung von Arbeitskräften in die Europäische Union vorgelegt. Der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung ist Bestandteil des „Strategischen Plans zur legalen Zuwanderung“ der Kommission aus dem Jahr 2005. Der strategische Plan war durch die Aufnahme in das Stockholmer Programm für die Jahre 2010 und 2014 nochmals durch den Rat bestätigt worden. Ziel der Richtlinie ist es, die befristete konzerninterne Entsendung von Führungs- und Fachkräften sowie Trainees aus Drittstaaten in die EU zu erleichtern und die Mobilität der entsandten Arbeitnehmer innerhalb der EU zu verbessern. Zu diesem Zweck soll auf der Grundlage harmonisierter Kriterien ein unionsweit einheitliches Zulassungsverfahren sowie ein spezieller Aufenthaltstitel für konzernintern entsandte Arbeitnehmer geschaffen werden, der seinen Inhabern bestimmte Mobilitäts- und Gleichbehandlungsrechte verleiht. Ferner sieht der Richtlinienvorschlag Erleichterungen bei den Bedingungen für den Familiennachzug zu konzernintern Entsandten vor. Wie bereits der Titel verrät, handelt es sich bei dem Dokument um einen „Entwurf“ und somit noch nicht um eine abschließende Richtlinie. Dementsprechend haben auf europäischer Ebene bisher auch nur erste Gespräche und noch keine abschließenden Verhandlungen über die einzelnen Vorgaben der Richtlinie stattgefunden. Die mit dem vorliegenden Antrag der Linken bezweckte vollständige Ablehnung des Entwurfs der Richtlinie ist daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur verfrüht, sondern sie ist auch inhaltlich unbegründet. Im Gegenteil, grundsätzlich sollte man dem Vorschlag der EUKommission durchaus wohlwollend gegenüberstehen, so wie dies im Übrigen auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 24. September dieses Jahres und die Bundesregierung in einer ersten Einschätzung getan haben. Ich teile die Einschätzung, dass es sich bei dem vorgelegten Entwurf um anerkennenswerte Bemühungen der EU-Kommission handelt, der Nachfrage multinationaler Unternehmen nach Führungs- und Fachkräften sowie Trainees aus Drittstaaten für ihre Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften Rechnung zu tragen, um den innerbetrieblichen Transfer dieses Personenkreises in die EU zu erleichtern und somit die Attraktivität der EU als Standort für multinationale Unternehmen zu erhöhen. Hiervon würde mit Sicherheit auch die Bundesrepublik Deutschland profitieren. Es steht auch außer Frage, dass das Ziel, den Personalaustausch innerhalb von verbundenen Unternehmen mit Drittstaaten zu erleichtern, nicht von den Mitgliedstaaten alleine verwirklicht werden kann. Insbesondere können die vorgesehenen Mobilitätsrechte für konzernintern Versandte nur durch eine unionsweite Regelung realisiert werden. Die Einführung eines einheitlichen Verfahrens und die Anwendung einheitlicher Kriterien für die Zulassung dieses Personenkreises stellen somit ein geeignetes Mittel einer kontrollierten und bedarfsorientierten Zuwanderung angesichts ökonomischer und demografischer Entwicklungen dar. Nichtsdestotrotz müssen an der derzeitigen Entwurfsfassung der Richtlinie noch erhebliche Veränderungen vorgenommen werden, damit Deutschland ihr zustimmen kann und damit auch das von der EU-Kommission selbst verfolgte Ziel einer Erleichterung der konzerninternen Entsendung von Mitarbeitern in der EU effizient erreicht wird. Nachfolgend möchte ich einige wesentliche Punkte aufzählen, bei denen auch ich noch einen Verbesserungsbedarf bei dem derzeit vorliegenden Entwurf der Richtlinie sehe: Die Gleichbehandlungsrechte im Bereich der sozialen Sicherheit, insbesondere im Hinblick auf Familienleistungen und Rentenansprüche, sind in der derzeitigen Entwurfsfassung der Richtlinie sehr weitgehend. Eine Gleichbehandlung von konzernintern Entsendeten und Unionsbürgern im Hinblick auf Familienleistungen, wie zum Beispiel Kindergeld, Elterngeld, Kinderzuschlag, kann jedoch aus meiner Sicht nicht mit den bisher im deutschen Recht geltenden Prinzipien für Drittstaatsangehörige in Einklang gebracht werden. Bisher erhalten nur solche Drittstaatsangehörige Familienleistungen, die voraussichtlich dauerhaft in Deutschland sind. Dies trifft auf konzernintern Entsendete jedoch gerade nicht zu. Die in dem Entwurf der Richtlinie verankerte Gleichstellung muss daher aus meiner Sicht kritisch hinterfragt werden. Dies sollte Gegenstand zukünftiger Verhandlungen auf europäischer Ebene sein. Der Entwurf der Richtlinie ermöglicht in Art. 10 Abs. 7 eine vereinfachte Antragstellung für einzelne Unternehmensgruppen. In der Begründung der Richtlinie wird hierzu ausgeführt, dass diese zumindest befristet über einen Zeitraum von bis zu drei Jahren gewährt werden kann. Die Notwendigkeit für eine solche Regelung ist aus meiner Sicht nicht offensichtlich. Wesentliche Zielsetzung des Richtlinienvorschlags ist es, ein schnelles und unbürokratisches Verfahren für alle konzernintern entsandten Drittstaatsangehörigen zu installieren. Die notwendigen staatlichen Kontrollmechanismen zur Vermeidung von Missbrauch und Umgehung der Vorschriften müssen aber trotzdem gewährleistet bleiben. Daher ist die von der EU-Kommission vorgesehene Verfahrenserleichterung durchaus kritisch zu sehen. Selbst wenn Deutschland diese Option bei der Umsetzung in nationales Recht nicht übernehmen würde, könnten dadurch, dass andere Mitgliedstaaten hiervon Gebrauch machen würden und eine Weiterentsendung nach Deutschland nach der Richtlinie ohne eine erneute Prüfung zulässig sein soll, bisherige und vor allem bewährte Kontrollmechanismen ausgehebelt werden. Daher sollte die Bundesregierung auch dieses Thema zum Zu Protokoll gegebene Reden Stephan Mayer ({0}) Gegenstand der Verhandlungen mit den anderen Mitgliedstaaten und der EU-Kommission machen. Ebenfalls Gegenstand von weiteren Verhandlungen sollte auch Art. 12 des Entwurfs der Richtlinie sein. Die mit „Verfahrensgarantien“ überschriebene Vorschrift vermittelt auf den ersten Blick durchaus einen missverständlichen Eindruck. Es sollte daher klargestellt werden, dass der in Art. 12 Abs. 3 Satz 2 versteckte Hinweis, dass bei Ablehnung eines Antrages das nationale Recht und die nationalen Rechtsbehelfe zur Anwendung kommen, noch einmal herausgestellt und gegebenenfalls auch durch eine Veränderung der Überschrift verdeutlicht werden. So könnte wirksam ausgeschlossen werden, dass etwaige Fristversäumnisse nach Art. 12 Abs. 1 unmittelbar zu schadensersatzrechtlichen Folgen führen können. Schwierigkeiten sehe ich auch bei dem bisherigen Regelungsansatz des Entwurfs in Art. 16, der Mobilität zwischen den Mitgliedstaaten. Es ist aus meiner Sicht nicht ausreichend, dass eine erneute Antragstellung bei einer Entsendung, die über zwölf Monate hinausgeht, nur verlangt werden kann, vergleiche Art. 16 Abs. 2. Vielmehr müsste hier der Regelfall eine Pflicht zur erneuten Antragstellung sein. Schließlich gilt nach dem bisherigen Aufenthaltsrecht in Deutschland, dass, sobald ein veränderter bzw. neuer Zweck für einen Aufenthalt vorliegt, eine erneute Überprüfung der Aufenthaltserlaubnis erforderlich ist. Auch die Frage, was nach Ablauf der konzerninternen Entsendung nach Europa mit dem Drittstaatsangehörigen passiert, ist aus meiner Sicht im Entwurf der Richtlinie nur unzureichend geregelt. Schließlich lassen die bisherigen Regelungen durchaus eine Kettenentsendung über den in Art. 16 Abs. 3 des Entwurfs angegebebenen Zeitraum von drei Jahren zu. Dieses kann jedoch gerade nicht das Ziel der Richtlinie sein. Schließlich legt die Richtlinie Wert auf eine vorübergehende Entsendung und nicht auf einen dauerhaften Transfer. Hierfür gibt es im Übrigen auch bereits ausreichende nationale Regelungen sowie die noch von den Mitgliedstaaten umzusetzende Richtlinie zur EU-Blue-Card, 2009/50/EG, vom 25. Mai 2009. Die christlich-liberale Koalition setzt sich äußerst kritisch mit den Vorschlägen der EU-Kommission zu möglichen Veränderungen für die nationalen Arbeitsmärkte auseinander. Der Entwurf der EU-Kommission ist zum jetzigen Zeitpunkt keineswegs zustimmungsreif, da noch erhebliche Veränderungen vorgenommen werden müssen. Diese Veränderungen können aber durch die Bundesregierung im Wege eines kooperativen und konstruktiven Austauschs mit den anderen Mitgliedstaaten und der EU-Kommission erreicht werden. Eine vollständige Ablehnung des Entwurfs halte ich daher derzeit für nicht angezeigt.

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Justiz- und Innenminister der EU-Mitgliedstaaten befassen sich seit geraumer Zeit mit den von der EU dargelegten Richtlinienvorschlägen über Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung. Auch wir im Innenausschuss als federführendem Ausschuss befassen uns seit Wochen intensiv mit diesem Richtlinienentwurf. Die vorliegende Richtlinie der EU geht - dies ist sicherlich unstrittig - auf das Haager Programm vom November 2004 zurück. Bereits 2004 wurde festgestellt, dass „legale Zuwanderung … eine wichtige Rolle beim Ausbau der wissensbestimmten Wirtschaft in Europa und bei der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung spielen“ wird. Dadurch wurde die Kommission aufgefordert, ein Konzept zur legalen Zuwanderung zu entwickeln. Ein Teilergebnis dieser Aufforderung ist die uns vorliegende Richtlinie für die konzerninterne Entsendung aus Drittstaaten. Von der EU werden weitreichende Änderungen für die Arbeitsmigration in den Ländern der Europäischen Union angestrebt. Die Richtlinie, die zusammen mit der Richtlinie über die Ausübung der saisonalen Beschäftigung genannt werden sollte, wurde im Juli 2010 von der Kommission verabschiedet und ist Teil des strategischen Plans zur legalen Zuwanderung in der EU. Der vorliegende Richtlinienentwurf der EU weist jedoch noch gravierende Mängel auf, die für Deutschland und andere EU-Staaten zu negativen Konsequenzen führen können. Lohndumping, Entrechtung von entsendeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und der Verlust der staatlichen Kontrolle über Zuwanderung sind die drei entscheidenden Punkte für uns Sozialdemokraten. Das sieht auch die Linke so; die Konsequenz, die Richtlinie komplett abzulehnen, teilen wir jedoch nicht. Richtig ist aber, dass es an der einen oder anderen wesentlichen Stelle dringend Nachbesserungen und Klärungen geben muss. Ziel des Kommissionsvorschlags ist es ja, legale Immigranten in verschiedenen Bereichen in der gesamten EU gleich zu behandeln und gleiche Regelungen zu schaffen. Das Problem liegt jedoch im Detail. Die Richtlinie sieht für die Arbeitsverhältnisse eine Entsendung vor und nicht, wie beispielsweise die Richtlinie zur Blue Card, eine Versetzung. Kritisch zu betrachten ist auch die Abweichung der EU vom strategischen Plan mit der in der Richtlinie enthaltenen Entsendung von Arbeitskräften aus Drittstaaten in die EU. Richtig kritisch wird es aber dann, wenn, wie man in der Richtlinie nachlesen kann, der Einsatz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ohne ausreichende Absicherung von Arbeitnehmerrechten und einer entsprechend für den Betrieb geltenden Tarifentlohnung stattfindet. Hier werden Arbeitnehmerrechte mit Füßen getreten. Wir erwarten hier ein energisches Eintreten der Bundesregierung, das zu ändern. Unklar sind auch einige Begriffe in der Richtlinie; was genau Führungskräfte, Fachkräfte und Trainees sind, ist nicht klar definiert. Hier muss auch im Sinne deutscher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nachgebessert werden. Interessant ist aber auch die Frage der Weiterentsendungsmöglichkeiten. Denn mit dem RichtlinienvorZu Protokoll gegebene Reden Daniela Kolbe ({0}) schlag wird den Mitgliedstaaten jegliche Steuerungsmöglichkeit in Bezug auf die Zuwanderung genommen. Die Quotenregelungen, die den Mitgliedstaaten zugestanden werden, gelten nämlich nur für Entsendungen aus Drittstaaten und nicht für Weiterversendungen innerhalb der EU. Auch hier muss dringend nachgebessert werden, sonst wird Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Der größte und gefährlichste Knackpunkt - und hier fordere ich die Bundesregierung im Sinne der deutschen Unternehmen und vor allem im Sinne unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf, bei der EU tätig zu werden - ist die Regelung über die Entlohnung. Denn die in der Richtlinie getroffene Regelung heißt für Deutschland nichts anderes als eine eklatante Ausweitung von Niedriglöhnen. Für die Bezahlung bindend sind lediglich allgemeinverbindliche Tarifverträge. Wir verlangen von der Bundesregierung deshalb zweierlei. Ich fordere Sie auf: Treffen Sie schon jetzt Vorkehrungen, und führen Sie endlich einen gesetzlichen Mindestlohn ein! Nehmen Sie alle Branchen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf! Ebenso ist es dringend notwendig, dass Leiharbeitskonzerne von der Geltung der Richtline zur konzerninternen Entsendung ausgenommen werden. Und sorgen Sie dafür, dass auch regionale Tarifverträge und Haustarifverträge für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bindend sind! Wie bereits angedeutet, werden wir als SPD-Fraktion einen Antrag in den Bundestag einbringen, der die von mir genannten Knackpunkte aufnimmt und genau dort mit dienlichen Nachbesserungen des Richtlinienvorschlages der EU ansetzt. Pure Ablehnung, wie sie die Linksfraktion hier wieder betreibt, allein genügt nicht. Wir wollen den Vorschlag konstruktiv begleiten und im Sinne und Interesse unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie unserer Unternehmen verbessern.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deutschland hat sich in der weltwirtschaftlichen Krise der vergangenen Jahre relativ gut behauptet. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch zahlreiche hausgemachte Probleme gibt, die gelöst werden müssen, um Deutschland im internationalen Wettbewerb besser aufzustellen. In vielen Branchen stockt der wirtschaftliche Aufschwung. Einer der Gründe ist darin zu sehen, dass bereits seit längerer Zeit ein akuter Fachkräftemangel in Deutschland herrscht. Gerade jetzt werden aber Fachkräfte benötigt, die innovative Ideen in Produkte einbringen. Ein wichtiger Baustein zur Lösung der bestehenden Probleme im Bereich der fehlenden internationalen Fachkräfte ist eine grundlegende Änderung und Vereinfachung der Zuwanderung von international tätigen Fachkräften aus dem Ausland im unternehmensinternen Bereich. Dazu kommt, dass wir immer mehr eine internationale Flexibilität brauchen. Zahlreiche Unternehmen sind inzwischen international tätig. Durch diese globale Vernetzung sichern die Unternehmen auch Arbeitsplätze am Standort Deutschland. Die internationale Vernetzung bedingt aber auch ein hohes Maß an Mobilität für die Beschäftigten der Unternehmen. Die Unternehmen entsenden ihre Mitarbeiter meistens für einen begrenzten Zeitraum, um die weltweite Zusammenarbeit innerhalb des Unternehmens zu optimieren. Die Entsendungen haben die unterschiedlichsten Gründe: So werden beispielsweise durch unternehmensinterne Entsendungen Schlüsselpositionen besetzt, wenn an einem Standort ein Fachkräftemangel herrscht, wie dies zum Beispiel in Deutschland der Fall ist. Andere Gründe können die gewollte Zusammensetzung internationaler Projektteams, die Ausbildung von Mitarbeitern oder der Austausch von Know-how sein. Teilweise werden für einen bestimmten Zeitraum eingearbeitete Spezialisten benötigt, die den Arbeitsprozess wesentlich beschleunigen und so dem in Deutschland ansässigen Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Mitbewerbern aus anderen Ländern verschaffen können. Gerade in dieser schwierigen Phase für unsere Unternehmen müssen diese die Möglichkeit haben, Mitarbeiter flexibel zu einsetzen. Diese Mobilität von Mitarbeitern trägt auch dazu bei, dem drohenden Arbeitsplatzabbau entgegenzuwirken. Die innerbetrieblich entsandten Mitarbeiter haben für die Unternehmen auch den entscheidenden Vorteil, dass diese eingearbeitet sind, sich in der Unternehmensstruktur auskennen und so ohne Reibungsverluste dem betreffenden Unternehmen und der deutschen Wirtschaft von Nutzen sein können. Die Sorge einer Zuwanderung „in die Sozialsysteme“ ist bei der unternehmensinternen Entsendung keinesfalls gerechtfertigt, da diese Zuwanderer alle bereits über einen Arbeitsplatz verfügen und in der Regel auch nur für einen begrenzten Zeitraum in Deutschland bleiben. Aus diesem Grund ist es gängige Praxis, dass für Entsandte die Sozialversicherung im Heimatland fortgeführt wird. Die unternehmensinterne Zuwanderung besonders qualifizierter Arbeitnehmer erhält nicht nur Arbeitsplätze, sondern schafft dabei auch neue Arbeitsplätze für weitere Arbeitnehmer unterschiedlicher Qualifikation in Deutschland. Es liegt also auch im wirtschaftlichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland, die Zuwanderung im unternehmensinternen Bereich grundlegend zu erleichtern. Viele andere europäische Länder sind hier wesentlich besser aufgestellt als Deutschland. Sie holen im Gegensatz zu Deutschland hochqualifizierte Fachkräfte und Führungskräfte beispielsweise mit steuerlichen Anreizen ins Land. Deutschland muss hier im internationalen Wettbewerb nachziehen und dringend Korrekturen vornehmen. Hierin liegt ein bislang nicht ausgeschöpftes Potenzial der Schaffung von Arbeitsplätzen am Standort Deutschland. Inwieweit der Vorschlag der EU dazu hilfreich ist, ist sicherlich diskussionswürdig. Es ist darauf zu achten, dass keine überbordende Bürokratie oder zu weitgehende Bindungen, zum Beispiel hinsichtlich einer VerZu Protokoll gegebene Reden Hartfrid Wolff ({0}) längerung oder einer anschließenden, möglicherweise dauerhaften Einreise, entstehen. Die sozialistische Stimmungsmache der Linken vom bösen internationalen Kapital in „multinationalen Konzernen“ und deren „ökonomischen Verwertungsinteressen“ an „billigen Arbeitskräften“ ist dagegen ein Schauerstück aus dem 19. Jahrhundert. Der antikapitalistische Kampfgeist ist über das intellektuell Zuträgliche hinausgeschossen. Der Linken geht es darum, Ideologie zu verkaufen, statt sich um die Zukunft zur Sicherung des Beschäftigungs- und Wirtschaftsstandorts Deutschland zu kümmern.

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bedauere es außerordentlich, dass die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll geht und damit die Chance einer offenen und öffentlichen Aussprache vergeben wird. Zugegeben: Das Thema klingt beim ersten Hören recht trocken. Die Europäische Kommission schlägt eine Richtlinie vor, welche die konzerninterne Entsendung von Drittstaatsangehörigen regelt. Betrachtet man den Vorschlag jedoch genauer, kommen Erinnerungen an die Diskussionen um die Dienstleistungsrichtlinie auf - Diskussionen, die keinesfalls lautlos und unbemerkt von der Öffentlichkeit stattgefunden haben. Die Hauptkritik von Gewerkschaften und Linken an der Dienstleistungsrichtlinie war, dass sich durch die Entsendung von Beschäftigten innerhalb der Europäischen Union die Arbeits- und Entlohnungsbedingungen für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verschlechtern. Das Herkunftslandprinzip - für die entsandten Beschäftigten gelten die Arbeitsbedingungen ihrer Heimatländer - war bei den damaligen Diskussionen in aller Munde. Auch die skandalösen, arbeitnehmerfeindlichen Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu Laval, Rüffert und Luxemburg haben noch einmal deutlich gemacht, dass die Mitgliedstaaten für entsandte Beschäftigte das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ nicht durchsetzen dürfen. Einfordern können sie nur Mindeststandards, die in der Entsenderichtlinie festgelegt sind. Was bedeutet das konkret? Wenn ein portugiesisches Bauunternehmen seine Beschäftigten nach Frankreich schickt, um dort eine Schule zu renovieren, dann darf Frankreich nicht verlangen, dass für die portugiesischen Bauarbeiter der gleiche Lohn, der gleiche Urlaubsanspruch, die gleichen Ruhezeiten etc. gelten wie für ihre französischen Kollegen. Das macht die portugiesischen Bauunternehmen besonders billig - und setzt die französischen Standards unter Druck. Die Folge sind Lohnund Sozialdumping, schlechtere Löhne und Arbeitsbedingungen in allen Ländern der EU. All dies passiert schon seit Jahren - politisch gewollt oder zumindest ohne effektive Gegenwehr durch die verantwortlichen Regierungen, auch die deutsche Bundesregierung! Die Konzernentsenderichtlinie ist nun eine weitere Stufe in diesem Prozess des organisierten Lohn- und Sozialdumpings. Es geht hierbei ebenfalls um die Entsendung von Beschäftigten, allerdings nicht von Bürgerinnen und Bürgern aus EU-Mitgliedstaaten, sondern von außerhalb der EU, aus sogenannten Drittstaaten. International tätige Konzerne sollen nach dem Willen der Europäischen Kommission in Zukunft ihre Beschäftigten für einige Jahre in ihre Niederlassungen innerhalb der EU entsenden können. Auf diese Weise soll die Wettbewerbsfähigkeit der Konzerne steigen - auf Kosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer! Genau wie bei der Entsendung von EU-Beschäftigten dürfen die Mitgliedstaaten, in welche die Drittstaatsangehörigen entsandt werden, in Bezug auf Entlohnung und Arbeitsbedingungen nur die eben genannten Mindeststandards einfordern. Und es kommt sogar noch schlimmer: Wenn die Drittstaatsangehörigen innerhalb der EU weitergesandt werden, gelten an den weiteren Beschäftigungsorten nur die Bedingungen des Erstaufnahmestaates. Was bedeutet das konkret? Ein europaweit tätiger Baukonzern mit einer Niederlassung - Hauptsitz ist nicht notwendig - in Bangladesch beschäftigt dort Menschen, die eine einjährige Ausbildung mit einem Zeugnis abgeschlossen haben, dann gelten sie der Richtlinie nach als Fachkräfte. Er entsendet sie in seine slowakische Niederlassung. Dort sind sie ihren slowakischen Kolleginnen und Kollegen nur in Bezug auf die Mindeststandards gleichgestellt, bei den Löhnen auch nur dann, wenn es einen gesetzlichen Mindestlohn oder einen für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag gibt. Damit nicht genug: Der Konzern kann diese Beschäftigten von der Slowakei aus in seine Niederlassungen in allen anderen Mitgliedstaaten entsenden, wo sie dann zu den in der Slowakei geltenden Mindestarbeitsbedingungen arbeiten dürfen. Das ist nichts anderes als das Herkunftslandprinzip. Die Auswirkungen auf Arbeitsplätze und Einkommenschancen werden verheerend sein. Es kann einfach nicht sein, dass von der europäischen Ebene ständig versucht wird, die nationale Sozialstaatlichkeit zu untergraben. Der vorliegende Richtlinienentwurf ist auch deshalb besonders perfide, weil er Beschäftigte aus Drittstaaten für dieses Ziel missbraucht. Es geht der Kommission mit ihrem Vorschlag keineswegs darum, diesen Menschen hier Beschäftigungschancen oder gar eine Lebensperspektive zu schaffen. Im Gegenteil: Sie dürfen nur einreisen, wenn sie für ein Unternehmen nützlich sind, und müssen immer wieder in ihre Heimatländer zurückkehren, euphemistisch spricht man hier von zirkulärer Migration. Sollten die Beschäftigten es wagen, sich gegen ihre miserablen Arbeitsbedingungen in der EU zu wehren, so können sie dies nur vor Gerichten ihres Heimatstaates tun. Die Kündigung und damit Abschiebung in ihr Heimatland, wo sie dann arbeitslos sind, wäre ihnen gewiss. Auf diese Weise entsteht - wie die IG BAU in ihrer Kritik am Richtlinienentwurf treffend schreibt - eine „neue Klasse von völlig unternehmensabhängigen Lohnsklaven“. Lassen Sie es mich zusammenfassen: Die Konzernentsenderichtlinie würde nach ihrer Verabschiedung eine neue Runde im europaweiten Lohn- und SozialdumZu Protokoll gegebene Reden ping einläuten, auf dem Rücken wehrloser Drittstaatsangehöriger. Dies würde dem Sozialen Europa - sofern man überhaupt noch davon sprechen kann - den Todesstoß versetzen. Die Linke fordert die Bundesregierung daher in ihrem Antrag auf, den Richtlinienentwurf im Ministerrat abzulehnen. Stattdessen soll sich die Bundesregierung endlich auf wirksame Schritte in Richtung eines sozialen Europa einsetzen. Dazu gehört an erster Stelle die Einführung einer Sozialen Fortschrittsklausel!

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Fraktion begrüßt die grundsätzliche Bestrebung der Europäischen Kommission, die Rechte von Migrantinnen und Migranten in Europa einheitlich zu gestalten und die Antragsverfahren transparent und leichter zugänglich zu machen. Dazu gehört die Blue Card, der Richtlinienentwurf zur saisonalen Beschäftigung und nun hier auch die geplante Richtlinie zur konzerninternen Entsendung. Leider geht es im vorliegenden Entwurf aber offensichtlich nicht primär darum, den Menschen aus Drittländern bessere Arbeits- und Aufenthaltsbedingungen in Europa einzuräumen. Stattdessen befriedigt der Richtlinienentwurf bislang in erster Linie einseitig die Bedürfnisse der Konzerne. Multinationale Konzerne würden durch sie ganz erheblich beim Transfer ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die und innerhalb der EU begünstigt. Hiesige Unternehmen könnten die scheunentorgroßen Lücken dieser Richtlinie nutzen, um unter schlechtester Bezahlung Migrantinnen und Migranten in Deutschland zu beschäftigen. Eine signifikante EU-weite Verbesserung der Rechte der betroffenen Menschen gibt es dagegen leider nicht. Es ist die Mischung aus Regelungslücken in Verbindung mit fehlenden deutschen Sozialstandards, die diese Richtlinie so brisant macht. Erstens: In Ausweitung der bisherigen Regelung der Beschäftigungsverordnung wird die konzerninterne Entsendung durch diese Richtlinie geöffnet für sogenannte „Fachkräfte“, für die aber keine einheitlichen Mindeststandards definiert sind. Daher fallen hierunter auch alle angelernten Arbeitskräfte. Zweitens gibt es leider in Deutschland im Gegensatz zu den meisten anderen EU-Ländern in einem Großteil der Branchen weder einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn noch allgemeinverbindliche Tarifverträge. Drittens können sich die nicht weiter präzisierten Bestimmungen hinsichtlich der Weiterentsendung in ein anderes Mitgliedsland und insbesondere die internationale Kundenbetreuung als Einfallstor für Dumpinglöhne entpuppen. Und zuletzt werden die Migrantinnen und Migranten hier ganz allgemein nur sehr unzureichend gegen Ausbeutung geschützt. Zeigen sie ihren Arbeitgeber an, weil ihnen beispielsweise nicht der zugesagte Lohn ausgezahlt wird, droht ihnen der sofortige Entzug der Aufenthaltserlaubnis. Das macht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im höchsten Maße erpressbar. Kommt eine geringe Qualifikation und generelle Erpressbarkeit zusammen mit Löhnen, die nur durch die Sittenwidrigkeit nach unten begrenzt sind, ist der Weg bereitet für menschenunwürdige Arbeitsbedingungen. Wir müssen sicherstellen, dass die konzerninterne Entsendung nicht zum Lohn- und Sozialdumping missbraucht wird. Für die Lohnhöhe muss das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am selben Ort“ gelten, in jedem Mitgliedsland, in dem die Beschäftigten eingesetzt werden. Die Beteiligung von Leiharbeitsfirmen und der Einsatz der Entsendeten als Streikbrecherinnen und Streikbrecher muss kategorisch ausgeschlossen sein. Sehr zu begrüßen sind dagegen die Verbesserungen beim Familiennachzug. Dass die Migrantinnen und Migranten die deutsche Sprache hier in Deutschland und nicht wie bisher vor der Einreise lernen dürften, wäre ein sehr großer Schritt nach vorne. Wir wollen, dass diese ausgesprochen sinnvolle Regelung grundsätzlich beim Familiennachzug angewandt wird. Leider wird nachziehenden Kindern auch ausdrücklich kein europaweiter Rechtsanspruch auf Schulbesuch zuerkannt; das ist für uns ein unhaltbarer Zustand. Zusammenfassend lehnen wir die Richtlinie in der vorliegenden Fassung entschieden ab. Ohne einen grundsätzlich überarbeiteten Ansatz und ganz erheblichen Nachbesserungen, insbesondere bezogen auf die Rechte der Migrantinnen und Migranten, darf die Bundesregierung ihr nicht zustimmen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4039 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 33 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger für Kurzaufenthalte ermöglichen - Drucksache 17/3686 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll gegeben: Reinhard Grindel, Rüdiger Veit, Serkan Tören, Sevim Dağdelen, Memet Kilic.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Antrag der Grünen für eine visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger zeigt erneut die fundamentalen Unterschiede in der Integrationspolitik zwischen CDU/CSU und den Grünen. Wir stellen die Integration der bei uns lebenden Ausländer in den Mittelpunkt. Wir wollen fördern und fordern. Das gilt gerade für die zum Teil seit vielen Jahren bei uns lebenden Ausländer, die bisher zu wenig von unseren Integrationsangeboten Gebrauch gemacht haben. Um die Integrationsprobleme nicht ständig zu verschärfen, sorgen wir gleichzeitig für die Steuerung der Neuzuwanderung unter Integrationsgesichtspunkten. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die Pflicht, dass Ausländer deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müssen, bevor sie zuwandern dürfen. Die Grünen verfolgen dagegen das Konzept der völlig ungesteuerten Zuwanderung. Sie sind für Multikulti, ein Nebeneinander ohne Miteinander, bei dem nicht darauf geachtet wird, ob Integrationsangebote auch tatsächlich angenommen werden. Visafreiheit für türkische Staatsangehörige heißt Verzicht auf jegliche Kontrolle, wer zu uns kommt, warum jemand nach Deutschland will und ob die betreffenden Personen auch wieder unser Land verlassen. Visafreiheit für türkische Staatsangehörige kann zu einer völlig unkontrollierten Zuwanderung nach Deutschland führen. Im Ergebnis bedeutet dies: Visafreiheit für türkische Staatsangehörige verschärft die Integrationsprobleme. Das lehnen wir ab. Dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Visafreiheit und unkontrollierter Zuwanderung gibt, lässt sich am Beispiel Serbiens und Mazedoniens nachweisen. Kaum hat die EU hier die Visafreiheit durchgedrückt, sind die Asylbewerberzahlen aus diesen Ländern hochgeschnellt: Im August kamen 255 Asylantragsteller aus Serbien, im Oktober waren es schon 1 083. Aus Mazedonien kamen im August 162, im Oktober waren es schon 746. Serbien und Mazedonien führen jetzt die Liste der Herkunftsländer der Asylbewerber an. Es zeigt sich, dass auf derartige Entscheidungen der EU seitens der Betroffenen sofort reagiert wird. Es wäre deshalb an der Zeit, die Visafreiheit für diese Länder zu überprüfen. Es wird niemand ernsthaft behaupten, dass der Migrationsdruck in der Türkei geringer wäre als in Serbien. Insofern ist absehbar, dass wir eine dramatische Zunahme von Asylbewerbern aus der Türkei hätten, wenn wir die Visafreiheit einführen würden. Das kann gerade auch unter integrationspolitischen Gesichtspunkten niemand wollen. Gelungene Integration setzt nämlich nicht nur die Integrationsbereitschaft der Ausländer voraus, sondern auch die der Aufnahmegesellschaft. Diese wird natürlich auf die Probe gestellt, wenn wir ansatzweise wieder Probleme bekommen, wie wir sie Anfang der 90er-Jahre mit der Unterbringung der großen Zahl von Asylbewerbern hatten. Der Deutsche Städtetag schlägt bereits heute Alarm, weil etwa in Baden-Württemberg und Bayern die Unterbringung der Asylbewerber aus Serbien und Montenegro ausgesprochen schwierig sei. Es seien Engpässe bei der Unterbringung zu befürchten. Teilweise werden jetzt schon leerstehende Kasernen für die Unterbringung genutzt. Wer glaubt, dass es der Integrationsbereitschaft der Aufnahmegesellschaft förderlich ist, wenn im Zuge der Bundeswehrreform Soldaten die Kasernen verlassen und diese dann mit Asylbewerbern belegt werden, der ist von der gesellschaftlichen Realität unseres Landes weit entfernt und - ich wiederhole das - schadet der Integration ganz gewaltig. Zu einer glaubwürdigen Integrationspolitik gehört auch, dass wir uns von denen, die sich in einem erheblichen Umfang integrationsfeindlich verhalten, trennen können. Es ist aber gerade die Türkei, die in gar keiner Weise mit unseren Behörden so zusammenarbeitet, wie es das Völkerrecht verlangt und wie es grundlegende Voraussetzung wäre, wenn man zu Visaerleichterungen kommen wollte, die dann auch zu Visamissbrauch führen können, wodurch sich eine umgehende Rückführung der betroffenen türkischen Staatsbürger ergeben würde. Es passiert regelmäßig, dass Rückführungen in die Türkei an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der dortigen Behörden scheitern. Bevor man also über Visaerleichterungen auch nur nachdenkt, ist der Abschluss eines Rückübernahmeabkommens, das auch penibel eingehalten wird, Grundvoraussetzung. Das Soysal-Urteil des EuGH zwingt uns auch überhaupt nicht zu einer Korrektur unserer Visapolitik. Nach diesem Urteil ist Deutschland verpflichtet, türkischen Lastkraftwagenfahrern im grenzüberschreitenden Güterverkehr eine visumfreie Einreise in die Bundesrepublik zu gewähren, nicht mehr und nicht weniger. Deutschland ist weder verpflichtet, auch anderen Branchen des Dienstleistungsgewerbes die visafreie Einreise zu gestatten, noch - eine völlig absurde Vorstellung -, türkischen Staatsangehörigen Visafreiheit zu gewähren, die in Deutschland eine Dienstleistung in Anspruch nehmen wollen. Bei der Vereinbarung des Assoziierungsabkommens Anfang der 70er-Jahre hat niemand an die Frage der sogenannten passiven Dienstleistungsfreiheit gedacht. Dann sorgen sich die Grünen um die Wirtschaftskontakte zwischen der Türkei und Deutschland. Dazu kann ich nur darauf verweisen, dass wir schon im jetzigen Schengen-Recht Instrumente haben, die hier zu einer leichteren Abwicklung von Geschäftsvisa beitragen können. Es gibt das Bona-fide-Verfahren, bei dem sich Unternehmen in der deutschen Visastelle registrieren lassen und dann ohne persönliche Vorsprache Personen für die Visavergabe anmelden können. Sollten wir endlich eine Visawarndatei haben, mit der wir möglichen Visamissbrauch schneller feststellen können, ist auch nichts dagegen einzuwenden, etwa bei solchen türkischen Bürgern auf eine persönliche Vorsprache in der Visastelle zu verzichten, die sich bereits zweimal rechtmäßig in Deutschland aufgehalten haben. Für einen regen Wirtschaftsaustausch und Besuchskontakte zwischen der Türkei und Deutschland kann also auch ohne die Visafreiheit gesorgt werden. Man muss Zu Protokoll gegebene Reden nur von den bestehenden rechtlichen Möglichkeiten Gebrauch machen und neue Sicherheitsnetze, wie die Visawarndatei, knüpfen und kann dann für eine Entbürokratisierung des Visumverfahrens sorgen. Ich halte es aber für nicht hinnehmbar, wenn unseren Visastellen in der Türkei eine restriktive und undurchsichtige Visavergabepraxis vorgeworfen wird, die den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch beeinträchtigt. Ich kenne die Praxis in den Visastellen in Istanbul und Ankara von zahlreichen Besuchen sehr gut. Die Mitarbeiter machen dort einen hervorragenden Job und verdienen unseren Dank und unsere Anerkennung für eine Arbeit, die nun nicht gerade zu den Traumposten im Auswärtigen Dienst gehört. Dass es nun gerade die Grünen sind, die der jetzigen Bundesregierung eine restriktive Visapolitik vorwerfen, ist ja wohl auch politisch pikant. Es war der grüne Außenminister Fischer, der die Verantwortung für die Visaaffäre, einen der größten politischen Skandale der Nachkriegszeit, trägt. Es sind die Grünen gewesen, die durch den ideologisch motivierten Visaerlass Rahmenbedingungen geschaffen haben, die dazu führten, dass Zigtausende von Schwarzarbeitern, Prostituierten und Kriminellen bis hin zu Terrorgefährdern nach Deutschland kommen konnten. Sie haben die innere Sicherheit unseres Landes durch ihre Visapolitik gefährdet, und sie tragen die Verantwortung für das Leid vieler Frauen, die Opfer von Menschenhändlern geworden sind. Sie haben ein für allemal das Recht verwirkt, anderen irgendwelche Vorschriften oder gar Vorwürfe in Sachen Visapolitik zu machen.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist uneingeschränkt zuzustimmen. An dieser Stelle möchte ich nur noch mein ausdrückliches Bedauern darüber äußern, dass die Bundesregierung ganz offensichtlich erst dazu aufgefordert werden muss, sich für die Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung innerhalb der Europäischen Union, aber vor allem auch bei uns in Deutschland, einzusetzen und diese vorzunehmen.

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Soysal-Entscheidung des EuGH hatte einen Fall der aktiven Dienstleistungsfreiheit zum Gegenstand. Nun ist es ist kein Geheimnis, dass in der deutschen Diskussion häufig Uneinigkeit darüber besteht, welche Folgerungen aus der Entscheidung für die passive Dienstleistungsfreiheit zu ziehen sind. Für die Grünen ist die Sache aber offensichtlich klar. Die Ausführungen im Antrag suggerieren, aus dem Soysal-Urteil erfolge ein Recht auf visumfreie Einreise aller türkischen Staatsangehörigen zum Zweck des Empfangs von Dienstleistungen im Sinne der sogenannten passiven Dienstleistungsfreiheit. Darunter falle dann auch die Gruppe der Touristen. Diese generelle und eindeutige Schlussfolgerung ist aus dem Urteil allerdings nicht zu ziehen. Und es sollte den Betroffenen auch nicht so verkauft werden. Die bisherige verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung greift die Soysal-Entscheidung in erster Linie dahin gehend auf, dass sie die für die visumfreie Einreise angegebenen jeweiligen Aufenthaltszwecke von der aktiven und passiven Dienstleistungsfreiheit abgrenzt. Auch die Bundesregierung hat hier ihre Haltung klargemacht. Ich persönlich maße mir allerdings nicht an, hier Recht zu sprechen. Klar ist, wir Liberale haben uns stets dafür eingesetzt, das Urteil zügig und sauber umzusetzen. Sorge bereitet mir daher, dass auch für denjenigen Personenkreis, der klar definiert wurde, in der Praxis häufig Schwierigkeiten bestehen. Darunter fallen Personen, die rechtmäßig durch Arbeitgeber mit Sitz in der Türkei mit Montage- und Instandhaltungsarbeiten sowie Reparaturen an gelieferten Anlagen und Maschinen beschäftigt werden, durch Arbeitgeber mit Sitz in der Türkei als fahrendes Personal im grenzüberschreitenden Personen- bzw. Güterverkehr eingesetzt werden oder in Vorträgen oder Darbietungen von besonderem wissenschaftlichen oder künstlerischen Wert oder bei Darbietungen sportlichen Charakters in kommerzieller Absicht tätig werden wollen. Diese Schwierigkeiten im Umgang mit der visumfreien Einreise müssen untersucht und behoben werden. Ich möchte auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen. Unser Außenminister Guido Westerwelle betont mit Blick auf die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stets: pacta sunt servanda. Wir Liberale stehen dafür ein, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ergebnisoffen und fokussiert weiterzuführen. Die Kollegen der Grünen fordern in ihrem Antrag, dem Stand der Beitrittsverhandlungen gemäß mit türkischen Staatsangehörigen umzugehen. Dieser Aussage kann ich mich nur anschließen. Aber es heißt zu Recht „dem Stand der Beitrittsverhandlungen“ angemessen. Und so sehr ich das persönlich bedaure, aber eine Visumfreiheit wäre derzeit eben nicht dem Stand der Verhandlungen angemessen. Denn richtigerweise drängt die Kommission zunächst auf Fortschritte beim Rückübernahmeabkommen mit der Türkei. Mit Blick auf diesen kritischen Punkt freue ich mich, dass es seit dem Frühjahr 2010 eine neue Dynamik in den Verhandlungen gibt. Es gilt, die Ergebnisse nun abzuwarten. Gleichwohl möchte ich auf bestehende Missstände in diesem Zusammenhang hinweisen. Denn eines steht doch fest: Die derzeitige Visavergabe muss praktikabler ausgestaltet werden. Mit dieser Herausforderung befassen sich die Kolleginnen und Kollegen der Grünen übrigens nicht. Die aktuelle Praxis der Visavergabe ist häufig intransparent und für den Antragsteller mit hohen Wartezeiten verbunden. Zudem kennzeichnet ein immenser bürokratischer Aufwand das gesamte Verfahren. Das gilt für Antragsteller und das Personal in den Auslandsvertretungen gleichermaßen. Das verunsichert die Menschen und hat zunehmend Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei. Dabei ist die Türkei ein stets an Bedeutung wachsender Handels- und Geschäftspartner für Deutschland und die EU. Zu Protokoll gegebene Reden Mit Blick auf die Verfahren wäre es durchaus denkbar, den rein technischen Teil der Visumverfahren an kommerzielle, externe Dienstleister auszulagern. Die frei werdenden Kapazitäten könnten für eine intensivierte Antragsprüfung verwendet werden. Auch von der persönlichen Vorsprache sollte für bestimmte Personen abgesehen werden. Eine Vorsprache bei bewährten Reisenden bringt keine zusätzlichen Erkenntnisse. Darüber hinaus halte ich es auch für sinnvoll, über eine Ausdehnung der Vielreisendenregelung nachzudenken. Ziel muss sein, die Visavergabe effizienter zu gestalten und gleichzeitig die Ressourcen für die maßgebliche Tätigkeit, nämlich der Antragsprüfung, frei zu machen. Das ist insbesondere mit Blick auf die Qualität der Prüfungsergebnisse und somit für die Sicherheit von grundlegender Bedeutung. Gemeinsam mit der Union werden wir Möglichkeiten einer praktikablen und effizienteren Umsetzung der Visavergabe eruieren.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Linke teilt die Grundintention des Antrags der Grünen. Allerdings halten wir die Erfolgschancen aus Erfahrung für sehr gering, besonders angesichts der sturen Antworten der letzten Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD auf die Anfragen der Linksfraktion zu den Konsequenzen aus dem Soysal-Urteil. Die Linke hat bereits in der vorangegangenen 16. Wahlperiode die Bundesregierung mehrfach aufgefordert, das so genannte Soysal-Urteil - Rechtssache C-228/06 - des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Februar 2009 umzusetzen. Nach diesem Urteil dürfen infolge eines Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei keine strengeren Visumregelungen im Bereich der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit für türkische Staatsangehörige gelten als zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls, das heißt zum 1. Januar 1973. Während eine weitestgehende Mehrheitsmeinung in der Fachliteratur und in der Rechtsprechung aus dem Urteil schlussfolgert, dass zum Beispiel auch türkische Touristinnen und Touristen im Rahmen der passiven Dienstleistungsfreiheit visumsfrei nach Deutschland einreisen können müssten, begrenzt die Bundesregierung die Auswirkungen des Urteils auf die aktive Dienstleistungserbringung. Die zentrale Argumentation der Bundesregierung, wonach der Dienstleistungsbegriff des EGVertrages nicht auf das Assoziierungsabkommen der Europäischen Union mit der Türkei übertragen werden könne, ist in keiner Weise nachvollziehbar. Denn die Bundesregierung musste in einer Antwort auf eine der zahlreichen Kleinen Anfragen der Linksfraktion zum Soysal-Urteil einräumen, dass sich aus einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 1984 „ein Indiz“ dafür ergibt, dass der Begriff der Dienstleistungsfreiheit im Kontext der Europäischen Union bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls 1973 die passive Dienstleistungsfreiheit mit umschloss ({0}). Dass das Assoziierungsabkommen und der Gerichtshof keine „vollkommen deckungsgleiche“ Auslegung des Dienstleistungsbegriffs forderten, wie die Bundesregierung zur Rechtfertigung weiter vorbringt, ändert nichts daran, dass nach der ganz überwiegenden Rechtsprechung und Kommentierung der Dienstleistungsbegriff im Assoziationsrecht aus dem Begriff des EG-Vertrags und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abzuleiten ist und damit auch die passive Dienstleistungsfreiheit mit umfasst. Ich will Ihnen diese nur schwer nachvollziehbaren juristischen Sachverhalte einmal in Klartext übersetzen: Der Eindruck ist doch, dass die Bundesregierung das Soysal-Urteil nicht umsetzen will, weil es ihr politisch nicht in den Kram passt. Denn das Ergebnis wäre eine weitgehende Visumfreiheit für türkische Staatsangehörige in Bezug auf Deutschland. So hat auch der CSU-Europaabgeordnete Markus Weber in der Zeitung „Die Welt“ am 24. April 2009 bereits offen ausgesprochen, was hinter dem juristischen Herumgeeiere der Bundesregierung steckt: Es geht um das Schüren von sogenannten Überfremdungsängsten. Die Rechten sind getrieben von der - absurden - Vorstellung, das Soysal-Urteil könne ein Beleg für den „EU-Beitritt der Türkei durch die Hintertür“ sein. Als vermeintlicher Retter des christlichen Abendlandes fühlte sich die letzte schwarz-rote Bundesregierung entsprechend auch nicht an Recht und Gesetz gebunden. Zum anhaltenden widerspenstigen Umgang der Bundesregierungen mit Urteilen des Europäischen Gerichtshofs passt, dass mir die Bundesregierung erst gestern eine Stellungnahme zum aktuellen Urteil des Gerichtshofs vom 9. Dezember 2010 ({1}) verweigerte. Die von der Koalition im Rahmen eines aktuellen Gesetzentwurfs geplante Verlängerung der Mindestbestandszeit einer Ehe für die Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts von nachgezogenen Ehegatten verstößt nach den Maßgaben dieses Urteils eindeutig gegen Europarecht. Das Assoziationsrecht sieht ein sogenanntes Verschlechterungsverbot für türkische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor; das heißt, dass unter anderem die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nicht erschwert werden darf. Auch zwischenzeitlich gewährte Erleichterungen dürfen nicht mehr zurückgenommen werden, hat der Gerichtshof nunmehr klar entschieden. Das träfe aber auf die von der Bundesregierung beabsichtigte Verlängerung der Mindestehebestandszeit zu. Die Bundesregierung muss deshalb ihr Gesetzesvorhaben stoppen, wenn schon nicht aus Interesse an den betroffenen Frauen, dann aus europarechtlichen Gründen. Doch auch hier prüft die Bundesregierung wahrscheinlich das Urteil bis zum SanktNimmerleins-Tag. Ich bin doch immer wieder überrascht, wie lange ein Bundesministerium braucht, um ein überschaubares, achtseitiges Urteil auszuwerten. Beim Soysal-Urteil war das ja ähnlich - aber ehrlich gesagt: Das jetzige Urteil vom 9. Dezember 2010 ist ungleich einfacher zu verstehen, zumal sich diese Entscheidung angesichts der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bereits angedeutet hat. Zu Protokoll gegebene Reden Sevim Daðdelen Die Bundeskanzlerin hat erst gestern hier im Plenum die Verantwortung Deutschlands „für eine gute Zukunft der Europäischen Union“ beschworen. Doch meint sie damit offenkundig nur die Verantwortung für die Interessen der Wirtschaft und des Finanzkapitals. Für die Linke stehen jedoch die Menschen und ihre Rechte im Mittelpunkt. Deshalb lehnen wir die Diskriminierung von Menschen generell und in diesem Fall türkischer Staatsangehöriger ab. Die Bundesregierung muss endlich das Soysal-Urteil umfassend umsetzen und ihre Diskriminierungspraxis gegenüber türkischen Staatsangehörigen einstellen.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deutschland und die Türkei verbinden seit den 1960er-Jahren außerordentlich vielfältige und intensive Beziehungen: Heute leben fast 3 Millionen türkischstämmige Menschen in Deutschland, was einen großen Einfluss auf Politik, Kultur und Wirtschaft hat. 700 000 Menschen mit Wurzeln in der Türkei besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft. Andererseits leben circa 100 000 Deutsche dauerhaft in der Türkei. Deutschland ist seit langem wichtigster Handelspartner der Türkei. Exporte aus Deutschland in die Türkei wuchsen von Januar bis September dieses Jahres auf 9,2 Milliarden Euro. Die Türkei exportierte im selben Zeitraum Waren im Wert von 6,2 Milliarden Euro nach Deutschland. Nichtsdestotrotz ist Deutschland nicht mehr Hauptexporteur. Die Zahl deutscher Unternehmen bzw. türkischer Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in der Türkei ist inzwischen auf 4 335 gestiegen. Hinzu kommt die starke Anziehungskraft der Türkei als Reise- und Urlaubsland. Im Jahr 2008 haben über 4 Millionen Menschen aus Deutschland die Türkei besucht. Auch im Bereich der Hochschulzusammenarbeit gehört die Türkei zu unseren wichtigsten Kooperationsländern. Mit der Gründung der ersten deutsch-türkischen Universität in Istanbul wird die Kooperation noch verstärkt. Seit dem Assoziationsabkommen zwischen der EWG und der Türkei 1963 ist die Türkei potenzieller Beitrittskandidat der EU, und seit führt Jahren führt die Europäische Union Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Vor dem Hintergrund der langen und intensiven Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei lässt sich die bestehende Visumpflicht für türkische Staatsangehörige während eines Kurzaufenthaltes nicht rechtfertigen. Nach geltender Praxis können nur bestimmte türkische Personengruppen und auch nur zur Erbringung bestimmter Dienstleistungen visumfrei nach Deutschland einreisen. Wie der EuGH in seiner SoysalEntscheidung im Februar 2009 festgestellt hat, verstößt diese Praxis gegen das Gemeinschaftsrecht. Danach haben türkische Staatsangehörige das Recht, zur Ausübung ihrer Dienstleistungsfreiheit während eines Kurzaufenthalts visumfrei nach Deutschland einzureisen. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, die Vorgaben des EuGH richtig umzusetzen und sich dafür einzusetzen, dass auf EU-Ebene die Visumpflicht für türkische Staatsangehörige bei einem Kurzaufenthalt aufgehoben wird. Die Bundesregierung und die anderen Mitgliedstaaten der EU sind gehalten, mit türkischen Staatsangehörigen und der Türkei dem Stand der Beitrittsverhandlungen gemäß umzugehen. Die Türkei verdient insbesondere angesichts der Aufhebung der Visumpflicht für Staatsangehörige aus den EU-Bewerberstaaten Serbien, Mazedonien und Montenegro gleiches Recht auch für ihre Staatsangehörige. Die vorgeschlagene Visumfreiheit ist umso dringlicher, als die restriktive und undurchsichtige Visavergabepraxis der Deutschen Botschaft den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit der Türkei erheblich beeinträchtigt. Betroffene monieren wochen- oder sogar monatelange Wartezeiten, zu viel Bürokratie, nicht nachvollziehbare Begründungen für Ablehnungen und zu hohe Kosten. Es kommt nicht selten vor, dass sich die Antragstellenden nach langwierigen erfolglosen Verfahren vor der Deutschen Botschaft ihr Einreiserecht schließlich einklagen müssen. Aber auch im privaten Leben verursacht die Vorgehensweise der deutschen Botschaft viel unnötiges Leid. Sie verhindert, dass Großeltern an der Hochzeitsfeier ihrer Enkel teilnehmen können, dass ein Mann mit eigenen Augen sehen kann, was für ein Leben sein Bruder in Deutschland führt oder dass eine Mutter ihr krankes Kind besucht. Menschen mit geringem Einkommen und solche ohne Familie in der Türkei haben so gut wie keine Chance, nach Deutschland zu reisen. Dieser sinnlosen und ausgrenzenden Praxis müssen wir ein Ende setzen. Selbst bei Personen, die sogar nach der geltenden Regelung offensichtlich visumfrei nach Deutschland einreisen dürfen, verlangt die Deutsche Botschaft eine Vielzahl von Dokumenten und lässt die Betroffenen zeit- und kostenintensive Verfahren durchlaufen. So wird etwa türkischen Musikern und Künstlern, die in den USA studiert oder in Japan Ausstellungen eröffnet haben, die Einreise nach Deutschland durch die Deutsche Botschaft erschwert oder sogar verhindert. Ebenso scheitern Begegnungen von Städtepartnerschaften zwischen deutschen und türkischen Städten an abgelehnten Visaanträgen. Auch türkische und deutsche Unternehmen fordern eine Lockerung der Regelungen für die Visavergabe, wie sie Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, am 30. März 2010 bei ihrem letzten Besuch in der Türkei angekündigt hat. Anderenfalls drohe nach Angaben des Präsidenten der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer ein Schaden für die Geschäfte mit der Türkei. Schon jetzt sei der deutsche Anteil an den Importen in die Türkei von 9,9 Prozent auf 9,1 Prozent gefallen. Von seinem ersten Platz als Lieferant ist Deutschland mittlerweile von Russland und China verdrängt worden. Einige türkische Unternehmer meiden mittlerweile die Deutsche Botschaft und beantragen ihre Visa bei Botschaften anderer Mitgliedstaaten der EU, da sie dort schneller und einfacher das begehrte Visum erhalten. Zu Protokoll gegebene Reden Nächstes Jahr feiern wir 50 Jahre Anwerbeabkommen. Das ist eine gute Gelegenheit, um mit der Visumfreiheit den Weg für noch offenere und intensivere deutsch-türkische Beziehungen frei zu machen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3686 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 34 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen Beschäftigung ({0}) hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 4 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Vorschlag der Europäischen Kommission zur Saisonarbeiterrichtlinie zurückweisen - Drucksache 17/4045 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben, und zwar folgender Kolleginnen und Kollegen: Stephan Mayer, Daniela Kolbe, Hartfrid Wolff, Sevim Dağdelen, Beate MüllerGemmeke.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die EU-Kommission hat am 13. Juli dieses Jahres einen seit langem erwarteten Vorschlag zur erleichterten Zuwanderung von Arbeitskräften in die Europäische Union vorgelegt. Der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen Beschäftigung ist Bestandteil des „Strategischen Plans zur legalen Zuwanderung“ der Kommission aus dem Jahr 2005. Der strategische Plan war durch die Aufnahme in das Stockholmer Programm für die Jahre 2010 und 2014 nochmals durch den Rat bestätigt worden. Die vorgeschlagene Richtlinie verfolgt das Ziel, den Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten der EU saisonal benötigte Arbeitskräfte aus Drittstaaten zuzuführen. Gleichzeitig will sie den rechtlichen Status von Saisonarbeitnehmern sichern, um sie vor Ausbeutung zu schützen. Zu diesem Zweck schlägt die EU-Kommission vor, ein EU-weit einheitliches Verfahren und einheitliche Kriterien für die Zulassung von Saisonarbeitnehmern aus Drittstaaten einzuführen. Darüber hinaus soll ein spezieller Aufenthaltstitel geschaffen werden, der den Saisonarbeitnehmern gegenüber Unionsbürgern bestimmte Gleichbehandlungsrechte verleiht. Wie bereits der Titel verrät, handelt es sich jedoch bei dem Dokument um einen „Entwurf“ und somit noch nicht um eine abschließende Richtlinie. Dementsprechend haben auf europäischer Ebene bisher auch nur erste Gespräche und noch keine abschließenden Verhandlungen über die einzelnen Vorgaben der Richtlinie stattgefunden. Die mit dem vorliegenden Antrag der Linken bezweckte vollständige Ablehnung des Entwurfs der Richtlinie ist daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht nur verfrüht, sondern sie ist auch inhaltlich unbegründet. Im Gegenteil, grundsätzlich sollte man dem Vorschlag der EUKommission durchaus wohlwollend gegenüberstehen, so wie dies im Übrigen auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme vom 24. September dieses Jahres und die Bundesregierung in einer ersten Einschätzung getan haben. Die Einführung eines einheitlichen Verfahrens und die Anwendung einheitlicher Kriterien für den Aufenthalt von saisonal in den Mitgliedstaaten beschäftigten Drittstaatsangehörigen stellen ein geeignetes Mittel einer kontrollierten und bedarfsorientierten Zuwanderung angesichts ökonomischer und demografischer Entwicklungen dar. Nichtsdestotrotz müssen an der derzeitigen Entwurfsfassung der Richtlinie noch Veränderungen vorgenommen werden, damit Deutschland ihr zustimmen kann und damit auch dem von der EU-Kommission selbst verfolgten Ziel einer europaweiten Vereinheitlichung in Bezug auf die Saisonarbeitnehmer Rechnung getragen wird. Nachfolgend möchte ich einige wesentliche Punkte aufzählen, bei denen auch ich noch einen Verbesserungsbedarf bei dem derzeit vorliegenden Entwurf der Richtlinie sehe: Von besonderer Bedeutung ist, dass die Kompatibilität des Verfahrens zur Zulassung von Saisonarbeitnehmern mit dem bisher von Deutschland praktizierten Verfahren sichergestellt ist. Die nationale Verfahrensautonomie zur Steuerung der Zuwanderung im Allgemeinen und im Hinblick auf einzelne Drittstaaten und Branchen muss daher auch nach Inkrafttreten einer Richtlinie gewahrt bleiben. An einzelnen Stellen sind daher Korrekturen und Veränderungen am Wortlaut der Richtlinie vorzunehmen, um auch eine Stringenz in der verwendeten Fachterminologie beizubehalten, zum Beispiel Verwendung des Begriffs der Saisonarbeitserlaub9132 Stephan Mayer ({0}) nis in den Art. 3 d und Art. 10, 11 und 15 des Entwurfs. Aber auch das bisher nicht ausdrücklich ausgesprochene Verbot eines Familiennachzugs für Saisonarbeitnehmer sollte noch im Text ergänzt werden. Auch die in Art. 9 Abs. 4 enthaltene Regelung, wonach der betreffende Mitgliedstaat den Drittstaatsangehörigen, deren Zulassungsantrag angenommen wurde, jede denkbare Erleichterung zur Erlangung der benötigten Visa gewährt, ist sehr unbestimmt und sollte sprachlich und inhaltlich noch einmal präzisiert werden. Überlegenswert ist aus meiner Sicht ebenfalls eine weitere Klarstellung in der Richtlinie, dass die Vorschriften über die Einholung von Visa vor der Erteilung eines Aufenthaltstitels für Saisonarbeitnehmer auch in Zukunft unberührt bleiben. Die Gleichbehandlungsrechte im Bereich der sozialen Sicherheit, insbesondere im Hinblick auf Familienleistungen und Rentenansprüche, sind in der derzeitigen Entwurfsfassung der Richtlinie sehr weitgehend. Eine Gleichbehandlung von Saisonarbeitnehmern und Unionsbürgern im Hinblick auf Familienleistungen, wie zum Beispiel Kindergeld, Elterngeld, Kinderzuschlag, kann jedoch aus meiner Sicht nicht mit den bisher im deutschen Recht geltenden Prinzipien für Drittstaatsangehörige in Einklang gebracht werden. Bisher erhalten nur solche Drittstaatsangehörige Familienleistungen, die voraussichtlich dauerhaft in Deutschland sind. Dies trifft auf Saisonarbeitnehmer jedoch gerade nicht zu. Gemäß Art. 11 Nr. 1 des Entwurfs müssen sie zwingend nach Ablauf der Saisonarbeitserlaubnis wieder in ihr Drittland zurückkehren. Die in dem Entwurf der Richtlinie verankerte Gleichstellung muss daher aus meiner Sicht kritisch hinterfragt werden. Dies sollte unbedingt Gegenstand zukünftiger Verhandlungen auf europäischer Ebene sein. Ebenfalls Gegenstand von weiteren Verhandlungen sollte auch Art. 13 des Entwurfs der Richtlinie sein. Die mit „Verfahrensgarantien“ überschriebene Vorschrift vermittelt auf den ersten Blick durchaus einen missverständlichen Eindruck. Es sollte daher klargestellt werden, dass der in Art. 13 Abs. 3 Satz 2 versteckte Hinweis, dass bei Ablehnung eines Antrages das nationale Recht und die nationalen Rechtsbehelfe zur Anwendung kommen, noch einmal herausgestellt und gegebenenfalls auch durch eine Veränderung der Überschrift verdeutlicht werden. So könnte wirksam ausgeschlossen werden, dass etwaige Fristversäumnisse nach Art. 13 Abs. 1 unmittelbar zu schadensersatzrechtlichen Folgen führen können. Auch erscheint mir die Diskussion um die Erteilung einer grenzüberschreitenden Erlaubnis für Saisonarbeitnehmer zumindest noch nicht endgültig abgeschlossen zu sein. Für die in der Richtlinie getroffene Regelung in Art. 15 spricht der allgemeine Konsens unter den Mitgliedstaaten, eine unkontrollierte Migration zu vermeiden. Der Aufenthaltstitel sollte demnach auch nur für einen Mitgliedstaat ausgestellt werden dürfen und nicht in mehreren Mitgliedstaaten gelten. Dies hat auch der Bundesrat in seinem Beschluss vom 24. September 2010 herausgestellt. Allerdings gibt es durchaus auch saisonale Berufe, die einen grenzüberschreitenden Bezug haben können. Insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe ist dies möglich. Aber auch viele Landwirte bewirtschaften ihre Flächen in mehreren Mitgliedstaaten, insbesondere dann, wenn sie ihren Betrieb im grenznahen Bereich führen. Enge Ausnahmen für solche grenznahen Betriebe erscheinen daher zumindest überlegenswert. Neue Bürokratiekosten, zum Beispiel durch die Einführung eines neuen Aufenthaltstitels oder die Übermittlung detaillierter Statistiken, dürfen nicht eine der Folgen der Richtlinie für die Mitgliedstaaten sein. Die in den Art. 18 ff. des Entwurfs festgelegten statistischen Pflichten und Anforderungen an die Berichterstattung durch die Mitgliedstaaten sollten daher noch einmal überprüft und gegebenenfalls reduziert werden. Der in Deutschland bereits geltende rechtliche Rahmen für die saisonale Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen darf zu Recht als gut austariert und angemessen flexibel angesehen werden. Wenn überhaupt, bedarf es im nationalen Recht lediglich geringfügiger Berichtigungen. Die christlich-liberale Koalition setzt sich daher auch kritisch mit den Vorschlägen der EU-Kommission zu möglichen Veränderungen für die nationalen Arbeitsmärkte auseinander. Der Entwurf der EU-Kommission ist zum jetzigen Zeitpunkt keineswegs zustimmungsreif, da noch wesentliche Veränderungen vorgenommen werden müssen. Diese Veränderungen können aber durch die christlich-liberale Bundesregierung im Wege eines kooperativen und konstruktiven Austauschs mit den anderen Mitgliedstaaten und der EU-Kommission erreicht werden. Eine vollständige Ablehnung des Entwurfs halte ich daher derzeit für nicht angezeigt.

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Europäische Kommission hat in Erfüllung des Stockholmer Programms einen Vorschlag zur effizienten Steuerung der Einreise und des Aufenthalts von drittstaatsangehörigen Saisonarbeitnehmern vorgelegt. Der Richtlinienvorschlag sieht die Einführung eines einheitlichen Verfahrens sowie die Anwendung einheitlicher Kriterien für die Zulassung von Saisonarbeitnehmern vor, um, so die Begründung, den ökonomischen und demografischen Entwicklungen kontrolliert Rechnung zu tragen. Ebenso wie bei dem Richtlinienvorschlag der EUKommission über die konzerninterne Entsendung liegt auch zu diesem Richtlinienvorschlag ein Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Vorschlag der Europäischen Kommission zur Saisonarbeiterrichtlinie zurückweisen“ vor, den wir heute hier an dieser Stelle debattieren. Wie der Titel des Antrages es erahnen lässt: Die Linksfraktion ist wieder gegen etwas und in diesem Falle gegen diesen EU-Richtlinienvorschlag. Aber eine pauschale Dagegenpolitik ist mit uns auch bei diesem Richtlinienvorschlag nicht zu machen. Zu Protokoll gegebene Reden Daniela Kolbe ({0}) Aus diesem Grund lehnen wir den von Ihnen hier vorgelegten Antrag ab und werden einen eigenen Antrag einbringen, der sowohl Gestaltungsvorschläge und Nachbesserungen für die Richtlinie zur konzerninternen Endsendung als auch zu der hier debattierten Saisonarbeit beinhalten wird. Denn aus unserer sozialdemokratischen Sicht weist der vorliegende EU-Richtlinienvorschlag noch erhebliche Mängel auf. Er gefährdet Rechte und Errungenschaften von Gewerkschaften und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und führt zu Lohn- und Sozialdumping, und zwar europaweit. Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir uns lange Zeit mit der Thematik auseinandergesetzt, haben uns mit Experten, Expertinnen und Gewerkschaften beraten und Kritikpunkte ernst genommen. Aber wir wissen auch, dass wir im Sinne Europas zu einer für alle Mitgliedstaaten einheitlichen und tragfähigen Lösung kommen müssen, die auch den in Deutschland geltenden Rechtsrahmen für die saisonale Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen berücksichtigen muss. Grundsätzlich richtig und wichtig ist es in unseren Augen, illegaler Beschäftigung und irregulärer Arbeitsmigration entgegenzutreten. Daher fordern wir in unserem Antrag die Bundesregierung auf, sich bei den weiteren Beratungen im Europäischen Rat dafür einzusetzen, dass bei der Richtlinie über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen unsere Kritikpunkte im Sinne der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen berücksichtigt werden. Die Öffnung von Saisonarbeit in der EU für Drittstaaten darf in unseren Augen nämlich nicht dazu führen, dass das innereuropäische und das deutsche Lohnniveau in der Saisonarbeit niedrig gehalten oder gesenkt wird. EU-weit müssen wir - das ist eine unserer Grundforderungen - die Regel „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort“ durchsetzen. Besieht man sich die jetzige Situation, so sind in Deutschland Saisonarbeitnehmer und -arbeitnehmerinnen in der Land- und Forstwirtschaft, im Hotel- und Gaststättengewerbe sowie als Schaustellergehilfen tätig. Laut der sehr allgemein gehaltenen Formulierung im Richtlinienvorschlag - danach ist Saisonarbeit „eine Tätigkeit, die aufgrund eines Ereignisses oder einer Struktur an eine Jahreszeit gebunden ist“ - ließen sich sicherlich in allen Branchen Tätigkeiten finden, die als saisonabhängig gelten könnten, vermutlich auch die Standbetreuung auf einem Weihnachtsmarkt. Aus unserer Sicht ist es deshalb mehr als wichtig, dass die Richtlinie eine klare Definition aufweisen muss, welche Branchen unter die Saisonarbeit fallen. Darunter fallen nicht Branchen, wie es die Richtlinie bislang vorsieht, die saisonal höhere Aufkommen haben und deswegen auf Saisonarbeitnehmer zugreifen sollen. Für uns ist es daher notwendig, dass möglichst schon in der EU-Richtlinie eine Begrenzung auf die bisherigen Branchen durchgesetzt wird und dies nicht erst auf nationaler Ebene geschieht. Damit korrespondiert auch unsere Forderung zur Nachbesserung, dass im Richtlinientext das Recht der Mitgliedstaaten verankert wird, auch Branchen zu benennen. Ein anderer Punkt, den wir für wichtig erachten, ist, dass es zusätzlich notwendig werden wird, in den Zielländern Beratungsstellen aufzubauen, die passgenau und gezielt Missbrauch entgegenwirken und bekämpfen, die aber auch für Saisonarbeitnehmer und Saisonarbeitnehmerinnen ansprechbar sind. Damit einhergehend wäre es aus unserer Sicht von Vorteil, ein System zur Qualitätskontrolle von privaten Vermittlern einzuführen, und zwar dann, wenn die Vermittlung nicht von staatlichen Stellen übernommen werden kann. Auch halten wir es für mehr als geboten, schärfere Sanktionen gegen Vermittler und Arbeitgeber einzuführen, die sich eben nicht an rechtliche Vorschriften halten. Positiv ist zwar zu verzeichnen, dass der Kommissionsvorschlag davon spricht, dass in Bezug auf Saisonarbeiter und Saisonarbeiterinnen „Ausbeutung und nicht den Normen entsprechende Arbeitsbedingungen“ überwunden werden müssen. Schaut man aber genauer hin, stellt man fest, dass die Gefahr auf der Hand liegt. Einer der Hauptmängel des Kommissionsvorschlags ist aus unserer Sicht nämlich - hier fordere ich die Bundesregierung eindringlich auf, für eine Änderung zu sorgen -, dass durch diesen Vorschlag die Gefahr besteht, dass ein Einfallstor für Lohndumping eröffnet wird. Denn in Deutschland gibt es leider keinen Mindestlohn und nicht in allen Branchen Tarifverträge, wodurch es für viele Saisonarbeiter eben auch keine Lohnuntergrenze gäbe. Nicht nur, dass diese dann zu Hungerlöhnen arbeiten müssten, nein, sie würden dadurch das Lohnniveau in Deutschland weiter absenken. Von daher wäre es nur richtig und wichtig, im Vorfeld, bevor die Regelung in Kraft tritt, dafür zu sorgen, dass in allen betroffenen Branchen Mindestlöhne ausgehandelt und für allgemein verbindlich erklärt werden oder dass ein gesetzlicher Mindestlohn verabschiedet wird. Nur so ließen sich Hungerlöhne für Saisonbeschäftigte verhindern. Es liegt noch viel Arbeit vor uns. Ich fordere die Bundesregierung auf, unsere Kritikpunkte ernst zu nehmen. Gleichzeitig appelliere ich an die Fraktion Die Linke, nicht immer alles gleich komplett abzulehnen, sondern an einer besseren Lösung mitzuarbeiten.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag der Linken lag bis zum Vortag dieser Debatte nicht vor. Da die Linke offenbar Anträge auf die Tagesordnung setzen lässt, die sie noch gar nicht fertiggeschrieben hat, macht deutlich, dass es hier nicht um substanzielle inhaltliche Arbeit geht. Deutschland hat sich in der weltwirtschaftlichen Krise der vergangenen Jahre relativ gut behauptet. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch zahlreiche hausgemachte Probleme gibt, die gelöst werden müssen, um Deutschland im internationalen Wettbewerb besser aufzustellen. Gerade für die klein- und mittelständischen Unternehmen ist Flexibilität bedeutsam. Durch den Aufschub des Inkraftsetzens der EU-Freizügigkeitsregelung haben in der jüngsten Vergangenheit Zu Protokoll gegebene Reden Hartfrid Wolff ({0}) die auf Saisonarbeitskräfte angewiesenen Arbeitgeber in Deutschland teilweise Nachteile gegenüber ihren europäischen Nachbarn in Kauf nehmen müssen. Diese Nachteile halten noch an, da inzwischen viele Arbeitskräfte schon längst in anderen Ländern sind. Gerade in der Landwirtschaft und in Hotellerie und Gastronomie sind die Betriebe auf ein schnelles und unbürokratisches Verfahren angewiesen, um ihre saisonale Arbeit bewältigen zu können. Es ist gut, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU im Agrarbereich wie auch in der Gastronomie und Hotellerie im kommenden Jahr endlich in Kraft tritt. Wir freuen uns, dass dieser Wettbewerbsnachteil im kommenden Jahr nun wegfällt. Hier wurden in den vergangenen Jahren durch populistisches Agieren vor allem der SPD noch Hürden beibehalten, die längst nicht mehr zeitgemäß waren. In der trotz aller positiver Trends immer noch, globalwirtschaftlich gesehen, schwierigen Phase für unsere Unternehmen müssen diese die Möglichkeit haben, Saisonkräfte flexibel einsetzen zu können. Das trägt auch dazu bei, dem drohenden Arbeitsplatzabbau entgegenzuwirken. Auch eine neue EU-Regelung darf nicht dazu beitragen, dass hier weitere Hürden entstehen. Deutschland muss im internationalen Wettbewerb nachziehen und dringend Korrekturen vornehmen. Hierin liegt ein bislang nicht ausgeschöpftes Potenzial der Schaffung von Arbeitsplätzen am Standort Deutschland. Inwieweit der Vorschlag der EU dazu hilfreich ist, ist sicherlich diskussionswürdig. Es ist darauf zu achten, dass keine überbordende Bürokratie oder zu weitgehende Bindungen entstehen. Zudem wäre es hilfreich, wenn Regelungen folgen, die sich auch auf das Verhältnis von saisonaler Arbeit zwischen Mitgliedstaaten beziehen. Die sozialistische Schauermär der Linken von den Inkarnationen des Bösen, „Wirtschaft und Kapital“ und deren „ökonomischen Verwertungsinteressen“ an „billigen Arbeitskräften“ ist dagegen ein Schauerstück aus dem 19. Jahrhundert. Der antikapitalistische Kampfgeist ist über das intellektuell Zuträgliche hinausgeschossen. Der Linken geht es darum, Ideologie zu verkaufen, statt sich um die Zukunft zur Sicherung des Beschäftigungs- und Wirtschaftsstandorts Deutschland zu kümmern.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Im Jahr 2009 waren in Deutschland 1 835 Saisonbeschäftigte in den Bereichen Landwirtschaft/Gartenbau und Gastgewerbe aus den Beitrittsländern Bulgarien, Rumänien, Polen, Slowenien, Ungarn, der Slowakischen und Tschechischen Republik tätig. Aus dem Nicht-EULand Kroatien waren es im selben Jahr 4 248 Saisonbeschäftigte, also mehr als doppelt so viele. Insgesamt waren es circa 6 000. Jedes Jahr arbeiten über 100 000 Saisonbeschäftigte aus Drittstaaten in der EU. Um sie geht es in dem Vorschlag für eine Richtlinie zur saisonalen Beschäftigung - der Saisonarbeiterrichtlinie, den die Kommission am 13. Juli 2010 vorgelegt hat. Sie ist Teil der 2005 initiierten „Strategie zur legalen Zuwanderung“, die auch im Stockholmer Programm aufgegriffen wird. Diese Strategie umfasst eine allgemeine Rahmenrichtlinie. Diese Rahmenrichtlinie besteht aus vier Richtlinien. Alle vier sollen die Einreise und den Aufenthalt bestimmter Kategorien von Drittstaatsangehörigen regeln. Eine der vier Richtlinien beschäftigt sich mit den Saisonbeschäftigten, eine andere mit konzernintern Entsandten. Beide Richtlinien wurden gleichzeitig vorgelegt. Eine dritte Richtlinie befasst sich im Rahmen der EU-Blue-Card mit Hochqualifizierten. Sie wurde 2009 angenommen. Die vierte Richtlinie ist mit bezahlten Auszubildenden befasst, wurde aber noch nicht als Vorschlag vorgelegt. Da Saisonbeschäftigte von der allgemeinen Rahmenrichtlinie und der Blue Card ausgenommen sind, soll die saisonale Beschäftigung in einer eigenen Richtlinie geregelt werden. Der Entwurf zur Saisonarbeiterrichtlinie sollte eigentlich schon Ende 2008 vorgelegt werden, wurde aber wegen berechtigter Proteste von Gewerkschaften verschoben. Doch anstelle substanzieller Verbesserungen für Saisonbeschäftigte bleibt der vorliegende Richtlinienentwurf bei seiner einseitigen Konzentration auf die Interessenlage der Wirtschaft. Allen vier Richtlinien gemein ist, dass sie ein und derselben Grundlogik folgen, „nützliche Migration“ in die EU zu befördern, und das in mehrfacher Hinsicht. Mit dem im Richtlinienentwurf diskutierten Arbeitskräftemangel und der damit verbundenen Forderung nach einer „zirkulären Migration“ werden einseitig Interessen und Bedürfnisse der Wirtschaft und des Kapitals bedient. Dabei ist die Bereitschaft von Unionsbürgerinnen und -bürgern zur Saisonarbeit bei gerechter Bezahlung groß, und der Bedarf könnte wegen der hohen Erwerbslosigkeit in der Europäischen Union so auch gedeckt werden. Doch darum geht es offensichtlich nicht. Es geht hier vielmehr um die Möglichkeit, die Forderungen nach gerechter Bezahlung zu unterlaufen. Der Arbeitsmarkt soll ein Nachfragemarkt sein. Denn je mehr potenzielle Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, desto weniger müssen sich die Unternehmen hinsichtlich ihrer Lohnpolitik und der Arbeitsrechte bewegen. Zudem können die Beschäftigten besser gegeneinander ausgespielt werden. Die Linke will mit der Unterstützung der Gewerkschaften eine Lohnspirale nach unten im Interesse der ausländischen wie der inländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verhindern. Die Linke ist für Mindeststandards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ob sie nun aus Deutschland kommen oder aus Europa oder aus Drittstaaten. Es muss endlich dafür gesorgt werden, dass unter gleichen Arbeitsbedingungen am gleichen Ort und für die gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn gezahlt wird. Deshalb wollen wir einen gesetzlichen Mindestlohn, damit Beschäftigte nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden können. Denn besonders gravierend wird sich die Richtlinie in der Bundesrepublik Deutschland und anderen Ländern auswirken, die keinen gesetzlichen Mindestlohn oder kein System der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Zu Protokoll gegebene Reden Sevim Daðdelen Tarifverträgen besitzen. So kann für Saisonbeschäftigte die Einhaltung von Tarifbestimmungen nur vorgeschrieben werden, wenn es sich um gesetzliche Mindestlöhne oder bundesweit allgemeinverbindliche Tarifverträge handelt. Für Branchen ohne bundesweit allgemeinverbindliche Tarifverträge oder gesetzliche Mindestlöhne - in Deutschland zum Beispiel die Landwirtschaft - können so keine Lohnuntergrenzen für Saisonbeschäftigte mehr festgesetzt werden. Damit drohen Hungerlöhne und massive Verwerfungen auf den EU-Arbeitsmärkten. Dass bei den Rechten für Saisonbeschäftigte weder das Streik- noch das Versammlungsrecht oder das Recht auf Meinungsfreiheit genannt wird, schließt diese zwar nicht aus, lässt aber tief blicken - schließlich haben in den letzten Jahren immer wieder Saisonbeschäftigte gegen besonders ausbeuterische Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gekämpft. Der Richtlinienentwurf beruht auf dem Konzept „zirkulärer Migration“, nach dem die Beschäftigten immer wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren müssen. Eine Aufenthaltsverfestigung ist ausgeschlossen. Für die maximal sechs Monate Aufenthaltsdauer bleibt den Beschäftigten das Recht auf Mitnahme oder Besuch von Familienangehörigen versagt. Eine Integration der Arbeitskräfte ist ausdrücklich nicht erwünscht. Wer der Verpflichtung zur Rückkehr nicht nachkommt, wird für eine gewisse Zeit von der Zulassung als Saisonarbeitskraft ausgeschlossen. Die Rechte von Saisonbeschäftigten aus Drittstaaten sind mangelhaft ausgestaltet, sodass nahezu kein Schutz gegenüber dem durchschlagenden Profitinteresse von Unternehmen entsteht, die Saisonarbeitskräfte beschäftigen. Doch das ist der Bundesregierung egal, wie ihre Antwort auf die Kleine Anfrage meines Kollegen Alexander Ulrich - Bundestagsdrucksache 17/3561 - deutlich gezeigt hat. Eine Verankerung des Rechts auf Streik, Meinungs- und Versammlungsfreiheit in der Richtlinie hält die Bundesregierung ebenso für entbehrlich wie das Recht auf Familiennachzug. Bezüglich der Einbeziehung in die Sozialversicherungen möchte die Bundesregierung - laut ihrer Antwort - eine „unangemessene Belastung der sozialen Sicherungssysteme“ vermeiden, wenngleich die „Belange der Saisonarbeitnehmer angemessen“ zu wahren seien. Die Linke lehnt das Konzept „zirkulärer Migration“ ab, die nun unter europäischer Flagge die falsche deutsche Gastarbeiterpolitik der 50er-Jahre europaweit etabliert. Denn in 20 Jahren wird man dann wieder Krokodilstränen vergießen, dass man Arbeitskräfte rief, aber Menschen kamen, wo doch alle Erfahrungen zeigen, dass das Gastarbeitermodell die Integration geradezu verhindert und den Nützlichkeitsrassismus befördert. Wir dagegen setzen auf den Schutz von Menschen in Not und auf die Etablierung einer sozialen Integrationspolitik sowohl in den Mitgliedstaaten als auch auf der europäischen Ebene. Die Unternehmen dagegen müssen laut Entwurf kaum etwas befürchten. Bei Verstößen des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin gegen die Rechte der Saisonbeschäftigten sind die Mitgliedstaaten nicht berechtigt, Sanktionen zu verhängen. Bei Verstößen gegen den ArSevim Dağdelen beitsvertrag ist lediglich ein befristeter Ausschluss von Genehmigungen vorgesehen. Im Falle einer Täuschung der Behörden durch die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sieht der Entwurf nicht einmal vor, dass diese die Reisekosten für die Saisonbeschäftigten tragen. Dieses Eldorado für Unternehmen lehnt die Linke entschieden ab. Die Saisonarbeiterrichtlinie wird getragen vom Nützlichkeitsrassismus, der nicht die Rechte von Migrantinnen und Migranten stärkt, sondern lediglich den Nützlichkeitswert von Migrantinnen und Migranten für Unternehmen in den Mittelpunkt rückt. Gleichzeitig wird die Situation aller Beschäftigten in den betroffenen Branchen deutlich verschlechtert, und die Migrantinnen und Migranten werden als Sündenböcke für Sozial- und Lohndumping instrumentalisiert. Dadurch, dass besonders restriktive Regelungen auch noch Gesetzeskraft in Deutschland erlangen sollen und die Bereiche der Saisonarbeit auch noch ausgeweitet werden können, besteht die Gefahr einer weiteren Absenkung von rechtlichen Standards für Migrantinnen und Migranten. Das ist im Lichte der Thesen des Hobbygenetikers und SPDMitglieds Thilo Sarrazin nichts weiter als die Fortführung einer neoliberalen Politik, deren Kern es ist, Menschen nach ihrem ökonomischen Wert zu bemessen. Wenn das nicht menschenverachtend ist, was dann? Die Linke fordert die Bundesregierung deshalb auf, den Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen Beschäftigung - KOM({0}) 379 - abzulehnen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, sich stattdessen aktiv für einen rechtlichen Rahmen einzusetzen, der den sozialen und arbeitsrechtlichen Schutz für Saisonbeschäftigte stärkt, indem er soziale Mindeststandards für die Saisonbeschäftigten in der EU festlegt. In diesem Zusammenhang ist die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns unerlässlich. Es muss endlich dafür gesorgt werden, dass unter gleichen Arbeitsbedingungen am gleichen Ort und für die gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn gezahlt wird. Dieser Mindestlohn muss die allgemeine Untergrenze der Entlohnung für alle Beschäftigten, auch im Rahmen von Entsendearbeit, sein. Anstelle von Sozial- und Lohndumping will die Linke, dass sich die Bundesregierung im Rat der EU dafür einsetzt, dass entsprechend der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 9. Oktober 2008 - 2008/ 2034({1}) - die Europäische Union eine Zielvorgabe zum Niveau von Mindestlöhnen in Höhe von mindestens 60 Prozent des nationalen Durchschnittslohns vereinbart, nebst einem verbindlichen Zeitplan zur Einhaltung dieser Vorgabe in allen Mitgliedstaaten. Um dies noch einmal ganz deutlich zu sagen: Die Linke befürwortet sehr wohl, dass Menschen in die Bundesrepublik kommen können, auch, um hier zu arbeiten. Wir lassen aber nicht zu, dass hochqualifizierte gegen geringqualifizierte Arbeitsmigrantinnen und -migranten, Arbeitsmigrantinnen und -migranten gegen Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlinge gegen „Deutsche“, Sozialhilfeempfängerinnen und -empZu Protokoll gegebene Reden Sevim Daðdelen fänger gegen Arbeitslose, Frauen gegen Männer, Ossis gegen Wessis, Kinderlose gegen Eltern bzw. Familien, Alt gegen Jung ausgespielt werden. Wir wollen jedoch verhindern, dass im Interesse der deutschen Wirtschaft billige, flexible und vor allem fügsame Arbeitsmigrantinnen und -migranten gesichert, die Niedriglohnjobs ausgeweitet und die Konkurrenz zwischen Migrantinnen und Migranten mit den ansässigen Einwohnerinnen und Einwohnern verschärft werden. Die Linke ist für die Solidarität unter den Beschäftigten unterschiedlicher Länder, die von denselben Konzernen und vom gleichen Kapital ausgebeutet und ausgeplündert werden. Deshalb fordert die Linke für die Menschen Arbeit, die ein Auskommen garantiert, und gleiche Rechte für alle.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Europäische Kommission hat zum 13. Juli dieses Jahres einen Richtlinienentwurf vorgelegt, mit dem sie die Regelungen für Einreise und Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zum Zweck der Saisonarbeit europaweit vereinheitlichen will. Der Regelungsentwurf steht im Zusammenhang mit weiteren Legislativvorschlägen, die die Migration von Arbeitskräften in die Europäische Union nach dem Willen der Union „gerecht, wirksam und kohärent“ gestalten sollen. Gerechtigkeit, Wirksamkeit und Kohärenz - in dieser Reihenfolge und Gewichtung - liegen auch der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen am Herzen. Gerade deshalb muss genau geprüft werden, ob der Richtlinienvorschlag die Ansprüche auch erfüllt. Aber dazu sind einige kritische Anmerkungen notwendig. Zunächst einmal ist zu diskutieren, ob das Vorgehen der Kommission, mit einer Vielzahl an einzelnen Richtlinien - heute wurde ja auch der Richtlinienentwurf zur konzerninternen Entsendung debattiert - im Grundsatz sinnvoll ist. Eine Segmentierung der Rechte und Regelungen für Beschäftigte innerhalb der Europäischen Union nach verschiedenen Kategorien mit jeweils unterschiedlichen Schutzniveaus und Sicherungsmodellen für Saisonarbeiter, Hochqualifizierte, für Flüchtlinge, für Selbstständige und so fort kann von uns nicht gewünscht sein. Hier wäre ein Regelungsansatz zielführender, der sich klarer und direkter am Grundsatz gleicher Behandlung und gleicher Bezahlung für EU-Angehörige und für Beschäftigte aus Drittstaaten orientiert, ein Ansatz, der von den Arbeitnehmerrechten her beginnt zu denken und nicht von der realen oder vermeintlichen Nachfrage nach Arbeitskräften. Unabhängig von diesen Einwänden im Grundsatz steht gleichwohl fest: Gerade Saisonarbeitnehmende haben ein besonderes Schutzbedürfnis. Sie haben nur zeitlich begrenzte Aufenthaltsrechte und arbeiten vornehmlich in körperlich höchst anstrengenden Tätigkeitsfeldern der Landwirtschaft oder im Gastgewerbe. Fragen der Unterkunft, der Ernährung, vor allem auch der gerechten Entlohnung spielen für sie eine zentrale Rolle. Die Missbrauchsgefahr ist weit höher als bei anderen Formen der Beschäftigung. Machen wir uns nichts vor: Bereits heute leben Angehörige aus Drittstaaten zu Hunderttausenden als Saisonarbeitende in Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Viele von ihnen, auch das muss uns klar sein, haben keinen legalen Aufenthalt. Und zu viele von ihnen sind in der aktuellen Situation Opfer von Missbrauch, Opfer von krassen Formen der Ausbeutung, Opfer einer unwürdigen und nicht hinnehmbaren Rechtlosigkeit. Falls ein Regelungsentwurf dazu geeignet und in der Lage ist, die Rechte der Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter aus Drittstaaten angemessen zu schützen, werden wir uns dem im Grundsatz daher nicht versperren. Falls ein solcher Entwurf allerdings zu einer Vielzahl neuer Schlupflöcher, neuer Möglichkeiten von Lohndumping und Ungleichbehandlung führt, dann werden wir ihm ohne weitreichende Korrekturen nicht zustimmen können. In wesentlichen Punkten sehen wir beim vorliegenden Entwurf noch deutlichen Korrekturbedarf. Die Unklarheiten fangen bei der Höhe der Bezahlung an. Die vorgeschlagenen Formulierungen zum zulässigen Mindestentgelt zeigen wieder einmal auf: Deutschland hat aufgrund fehlender Mindestlöhne einen blinden Fleck im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten. Wir haben zwar ein System der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen und der Festlegung von branchenspezifischen Mindestlöhnen, nur leider kommt es wegen der Blockadehaltung der schwarz-gelben Bundesregierung nicht zur Anwendung. Das ist kein europäisches Problem, das ist ein deutsches Problem. Ich kann nur ein weiteres Mal betonen, wie wichtig es ist, dass sich beim Thema Mindestlöhne endlich etwas bewegt in unserem Land. Der Richtlinienentwurf hat aber auch viele interne Mängel und Unklarheiten, die dringend korrigiert werden müssen. Die Frage ist ungeklärt, welche Branchen überhaupt für Saisonbeschäftigung infrage kommen. Der Schutz der Saisonbeschäftigten vor zu hohen Reiseund Visumkosten, überzogenen Forderungen für gestellte Verpflegung und horrenden Vermittlungsgebühren muss gestärkt werden. Viele Fragen der sozialen Sicherung der Beschäftigten sind nur unzureichend gelöst. Auch für Saisonarbeitnehmende muss das Verhältnis von Einzahlung und Auszahlung bei der Sozialversicherung fair und transparent sein. An vielen weiteren Stellen ist noch gänzlich unklar, wie die Richtlinie im Detail umgesetzt werden kann, um den Anspruch auf mehr Gerechtigkeit, Wirksamkeit und Kohärenz auch wirklich zu erfüllen. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, sich in den weiteren Verhandlungen im Europäischen Rat für eine Verbesserung des Richtlinienentwurfes im Sinne der Rechte der Beschäftigten einzusetzen. Die Bundesregierung trägt hier eine hohe Verantwortung sowohl den Menschen aus Ländern außerhalb der EU als auch den Beschäftigten aus den Mitgliedstaaten gegenüber. Bitte nehmen Sie diese Verantwortung entsprechend wahr und nehmen Sie die genannten Probleme und den Handlungsbedarf ernst! Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/4045 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 35 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überprüfung und Neuordnung der Forschungsfinanzierung - Transparente und verbindliche Verfahren sicherstellen - Wissenschaftsgerechte Strukturen weiterentwickeln - Drucksache 17/3864 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Folgende Reden sind zu Protokoll gegeben worden: Tankred Schipanski, René Röspel, Peter Röhlinger, Petra Sitte, Krista Sager.

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Dagegen-Strategie der Grünen hat nun auch den Bildungsausschuss erreicht. Die Grünen stemmen sich gegen die Forschungsfinanzierung der christlich-liberalen Koalition. Dies überrascht, stellt der Bund doch mannigfach Forschungsgelder in transparenten, bewährten Verfahren zur Verfügung. Die Grünen verkennen wieder einmal die Realität, was die Verantwortung von Bund und Ländern in der Hochschul- und Forschungsfinanzierung und die Wahrnehmung dieser Aufgaben betrifft. Die Länder haben ihren Einfluss an den Hochschulen bei der Föderalismusreform zwar vehement verteidigt, verweigern sich jetzt jedoch einer adäquaten Finanzierung. Der Bund erhöht seine Ausgaben im Forschungsbereich massiv. Wir haben den Haushalt drastisch zugunsten von Bildungs- und Innovationsausgaben umgewichtet, was natürlich eine Frage der Prioritätensetzung ist, der die meisten Länder in dieser Form aber nicht folgen. Dies leistet der Bund trotz Finanz- und Wirtschaftskrise sowie Schuldenbremse. Die Behauptung, die Länder könnten dies nicht auch tun, ist falsch. Wir sparen nicht an der Zukunft, sondern für die Zukunft. Unseres Erachtens ist es zwingend notwendig, die Ausgaben in Bildung und Forschung auf einem hohen Niveau zu halten bzw. zu steigern, um Deutschland als rohstoffarmes Land zukunftsfähig zu halten. Viele Länder ignorieren diese Notwendigkeit bisher aber fahrlässigerweise. Das übergeordnete Ziel der Bildungsrepublik Deutschland wird auf die Art und Weise gefährdet, obwohl der Bund sein Bestes tut. Die Behauptung, die Ursache für die falsche Prioritätensetzung der Länder liege in der Steuerpolitik des Bundes, entbehrt jeder Grundlage. Vielmehr greift der Bund den Ländern im Bildungs- und Forschungsbereich ständig unter die Arme. Um Ihnen nur einige Fakten in Erinnerung zu rufen, möchte ich auf den Hochschulpakt 2020, den Qualitätspakt für gute Lehre, den Pakt für Forschung und Innovation, die Exzellenzinitiative, das Deutschlandstipendium und nicht zuletzt die letzte BAföG-Erhöhung verweisen. Für die zweite Laufzeit des Hochschulpaktes, der auf den Ausbau von Studienplätzen und die Unterstützung der Forschung durch Programmpauschalen zielt, investiert der Bund über 5 Milliarden Euro. Für den Qualitätspakt Lehre, der die dritte Säule im Hochschulpakt 2020 bildet, gibt der Bund rund 2 Milliarden Euro aus, um die Studienbedingungen und die Lehrqualität an den Hochschulen zu verbessern. So unterstützt der Bund massiv die Grundfinanzierung der Hochschulen und übernimmt damit eine Aufgabe der Länder. Ebenso hanebüchen ist die Behauptung, die Verpflichtungen der Länder in der Hochschul- und Forschungsfinanzierung würden wachsen. Stattdessen ist der Trend genau gegenläufig, denn der Bund entlastet die Länder bei diesen Ausgaben immer stärker - und übernimmt damit auch ureigene Länderaufgaben. In einem Punkt muss ich Ihnen allerdings Recht geben: Die sogenannten Drittmittel können und sollen von ihrer Anlage her keinesfalls die Grundfinanzierung der Hochschulen ersetzen. Bei Drittmitteln handelt es sich zumeist um programmgebundene, zeitlich befristete und kompetitiv vergebene Mittel, für die die Universitäten sich bewerben können, sodass nicht eine flächendeckende, gleiche Förderung erfolgt. Damit sind sie also als leistungsorientierte Ergänzung gedacht, die aber zusätzlich zu einer stabilen, verlässlichen und vor allem ausreichenden Grundfinanzierung erfolgen muss. Damit sind wir wiederum im Verantwortungsbereich der Länder angekommen. Der Bildungs- und Forschungslandschaft in Deutschland ist es insgesamt ganz und gar nicht zuträglich, wenn die Länder dort, wo der Bund seine Finanzierungsanstrengungen im Wissenschaftssystem ausbaut, die gewonnenen Spielräume nicht für das Wissenschaftssystem, sondern - auch - zur Haushaltskonsolidierung nutzen. Doch dafür kann man wiederum den Bund nicht verantwortlich machen, der seiner finanziellen Verantwortung zuverlässig nachkommt. Forschungspolitisch ist dieses Handeln der Länder natürlich zu verurteilen, erst recht, wenn im gleichen Atemzug der Ruf nach einem Mehr an Bundesunterstützung laut wird. Verhindern kann der Bund diese Haushaltspolitik einzelner Länder allerdings natürlich nicht. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Ihrem Antrag letztlich gar nicht das allgemeine Ansinnen zugrunde liegt, die Forschungsfinanzierung in Deutschland neu zu ordnen, sondern dass Sie eigentlich von einem konkreten Anlass ausgehen. Sie leiten Ihre Aussagen ganz wesentlich von einem Einzelbeispiel ab, nämlich dem Wechsel des Forschungsinstituts für Meereswissenschaften, IFM-GEOMAR, von der Leibniz- zur Helmholtz-Ge9138 meinschaft. Die Behauptungen, die Sie in diesem Zusammenhang aufstellen, sind mehr als fraglich. Mit dem Wechsel des IFM-GEOMAR soll die Meeresforschung in Deutschland entscheidend neu strukturiert werden: Die damit einhergehende Zusammenlegung des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven mit dem IFM-GEOMAR wird zu guten Synergien und Strukturverbesserungen führen. Aktuell läuft der Prozess der Zusammenlegung. Bestimmte organisatorische und strukturelle Fragen müssen noch geklärt werden, aber nach Abschluss der Umsetzung wird ein gutes Ergebnis entstehen; davon bin ich überzeugt. Es ist festzuhalten, dass es sich hier um eine forschungspolitisch motivierte Zusammenlegung handelte, die sich für die deutsche Meeresforschung als vorteilhaft erweisen wird. Eine gewisse Beschleunigung im Verfahren lässt sich natürlich nicht verleugnen; aber das Ergebnis ist durchweg positiv. Dass sich das Land Schleswig-Holstein - möglicherweise auch infolge des Transfers - entschlossen hat, die Medizinerausbildung an der Universität Lübeck fortzuführen, ist ein gutes und erfreuliches Ergebnis. Doch dabei handelt es sich um eine reine Länderangelegenheit; der Bund hat damit nichts zu tun. Auch hier ist das Ergebnis also positiv - und ich frage mich, worüber Sie sich überhaupt beschweren! Dass Sie aus diesem Einzelbeispiel eine negative Dynamik ableiten, ist nicht nachvollziehbar. Der Bund kann nicht verhindern, dass Begehrlichkeiten an ihn herangetragen werden. Aber entscheidend ist, wie damit umgegangen wird. Prinzipiell stehen die Länder in der Finanzierungsverantwortung für ihre Hochschulen. Es führt kein Weg daran vorbei, dass sie endlich ihre Prioritäten im Haushalt verlagern und, wie der Bund, einen Schwerpunkt auf die Finanzierung der schulischen und universitären Bildung sowie in der Forschung setzen. Der Bund wird auch in Zukunft nicht den Rettungsanker für eine verfehlte Bildungs- und Forschungspolitik einzelner Länder spielen. Es gibt also überhaupt keinen Anlass, eine „Aushöhlung“ der Bund-Länder-Finanzierung der deutschen Forschung zu befürchten. Ich darf Sie somit beruhigen! Darüber hinaus bin ich erstaunt, wie ideenlos Ihr Lösungsvorschlag für ein Problem, das Sie in Ihrem Antrag relativ dramatisch beschreiben, ist. Eine Strategiegruppe möchten Sie gründen, die dann Vorgaben erarbeiten soll. Als hätten wir nicht genug Beratungsgremien! Bedenken Sie, dass die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz und damit auch die Länder an wichtigen Entscheidungen beteiligt sind. Dies ist eine transparente, offene und verbindliche Verfahrensweise. Da die finanzielle Ausstattung der Wissenschaft durch den Bund so gut wie nie zuvor ist, kann ich nur nochmals betonen: Die Länder sind endlich am Zug, ihren Teil der gemeinsamen Verpflichtungen einzuhalten. Da nützt auch keine Strategiegruppe etwas, die schöne Konzepte entwickelt, wenn es schon an der praktischen Umsetzung bei den für die Finanzierung Verantwortlichen scheitert. Wenn Sie also mehr Verlässlichkeit für die Hochschulen fordern, kann ich das vom Grundsatz her verstehen; doch im Adressaten irren Sie sich gewaltig. Diese Forderung sollte nicht an den Bund gerichtet werden, der sich durch Verlässlichkeit auszeichnet, sondern an die Länder, die ihrer Bildungsverantwortung immer weniger nachkommen.

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die deutsche Wissenschafts- und Forschungslandschaft befindet sich in einer schwierigen Situation. Der internationale Wettbewerb um die besten Köpfe ist hart und wird in den nächsten Jahren nach Ende der Finanzund Wirtschaftskrise eher noch intensiver werden. Neue Länder rücken in die Gruppe der Staaten mit einer international wettbewerbsfähigen Innovationslandschaft auf. Durch die Fortschritte insbesondere in der Informations- und Kommunikationstechnologie hat der wissenschaftliche Fortschritt eine neue Dynamik erreicht. Von der nationalen Politik ist in einer solchen Situation ein klares Handeln und das Schaffen von Planungssicherheit, von sicheren - mittel- und langfristigen - Finanzierungsperspektiven sowie von wissenschafts- und forschungsfreundlichen Rahmenbedingungen zu fordern. Mit dem Pakt für Forschung und Innovation, der Exzellenzinitiative sowie dem Hochschulpakt ist Deutschland in vielen Aspekten gut aufgestellt. Während die ersten beiden Pakte noch unter der Federführung von Edelgard Bulmahn auf den Weg gebracht wurden, wurde der Hochschulpakt im Rahmen der Großen Koalition von SPD und CDU/CSU vereinbart. Wir als SPD-Fraktion können somit mit gutem Recht einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung des Wissenschaftsstandortes Deutschland für uns reklamieren. Vergleicht man nun die wissenschaftsgeleitete Entstehung und Umsetzung der drei Pakte mit den forschungspolitischen Bemühungen der Regierung von FDP und CDU/CSU, so fällt das Resümee nüchtern aus. Der Antrag der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen beschreibt die Aneinanderreihung von Pleiten, Pech und Pannen der jetzigen Regierung zutreffend. So warten wir als Parlament bis heute auf die Vorlage eines umfassenden Konzepts zur Wissenschaftsstärkung - meist vollmundig als „Wissenschaftsfreiheitsinitiative“ bezeichnet. Auch die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung wurde auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Stattdessen hat sich Bundesforschungsministerin Schavan wiederholt als „Ministerin für Ad-hoc-Beschlüsse“ hervorgetan. Zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit machen dies deutlich: Nachdem das unionsgeführte Bundesland Schleswig-Holstein ankündigte, die renommierte Universität Lübeck de facto kaputt zu sparen, indem man die Mediziner-Ausbildung abwickeln wollte, begann ein hektisches Treiben aufseiten des BMBF. Die Bundesregierung verweigerte in zwei Fragestunden des Bundestages den Abgeordneten jedwede Auskunft über die Pläne der Bundesministerin, Zu Protokoll gegebene Reden welchen Beitrag der Bund zur Rettung der Uni Lübeck leisten könnte. Umso überraschender war der nur einen Tag nach der zweiten Fragestunde auf einer Pressekonferenz angekündigte Wechsel des IFM-GEOMAR von der Leibniz- zur Helmholtz-Gemeinschaft. Es gab für diesen Wechsel keine wissenschaftspolitischen Gründe. Es gab keine Befassung des Wissenschaftsrates mit diesem Vorstoß. Es gab keine Beteiligung der betroffenen Einrichtungen. Frau Schavan musste verhindern, dass das angedrohte Streichkonzert von Ministerpräsident Carstensen auch ihre Reputation als „Innovationsministerin“ beschädigt. Der Schaden dieses Winkelzuges für die Wissenschafts- und Forschungslandschaft ist bis heute nicht abzusehen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben daher eine ausführliche Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Dass die Bundesregierung bis Ende Februar 2011 benötigt, um diese Anfrage zu beantworten, zeigt, wie intensiv das Bundesministerium nach Formulierungen suchen muss, um den parteitaktischen Winkelzügen von Frau Schavan einen wissenschaftspolitischen Anstrich zu verpassen. Wir freuen uns auf die Debatte über die Große Anfrage. Das zweite Beispiel für die forschungspolitische Irrfahrt von Frau Schavan ist die Ankündigung der Einführung von Programmkostenpauschalen für BMBF-geförderte Projekte. Um eines klarzustellen: Wir unterstützen die Einführung von Programmkostenpauschalen. Aber wir als SPD-Bundestagsfraktion haben auch den Anspruch, dass die Ausgestaltung der Programmkostenpauschalen wissenschaftsorientiert erfolgt. Frau Schavan hingegen hat die Programmkostenpauschalen in den Verhandlungen zur BAföG-Erhöhung genutzt, um die Bundesländer mittelbar zu „entschädigen“. Wenn nun das Bundesforschungsministerium behauptet, dass es sich bei der Einführung der Programmkostenpauschale von zunächst 10 und später 20 Prozent nicht um ein „Tauschgeschäft“ in den BAföG-Verhandlungen handelte, so kann man hierüber - das aber nur wegen der Adventszeit - nur milde lächeln. Nicht lächeln werden hingegen die Bundesländer. Denn es ist - auch dies beschreibt der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen richtig - absehbar, dass die forschungsstarken Bundesländer durch die Programmkostenpauschalen überdurchschnittlich profitieren, wohingegen die weniger forschungsstarken, aber etwa in der Lehre hervorragenden Universitäten negative Auswirkungen zu befürchten haben. In beiden Beispielen waren wahl- und/oder parteitaktische Erwägungen Antrieb für wissenschaftspolitische Entscheidungen. Dies kann und darf nicht so weitergehen. Man mag Frau Schavan anrechnen, dass sie versucht, die unterirdische Wissenschafts- und Forschungspolitik des Landes Schleswig-Holstein zumindest teilweise kompensieren zu wollen. Sie tut dies jedoch auf eine Art und Weise, die mit einer wissenschaftsgetriebenen und transparenten Gestaltung der Forschungslandschaft bestenfalls nur noch wenig zu tun hat. Aus diesen Gründen begrüßen wir den Vorstoß der Grünen und den vorliegenden Antrag. Ob die Einrichtung einer „Strategiearbeitsgruppe“ der beste Weg ist, um die Wissenschafts- und Forschungspolitik des Bundes endlich wieder auf eine solide und transparente Basis zu stellen, werden wir in den Ausschussberatungen noch einmal intensiver zu diskutieren haben. In einem Punkt aber sind wir uns sofort einig: Der wissenschaftspolitische Irrflug des Bundes in den letzten Monaten muss ein Ende haben.

Dr. Peter Röhlinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004137, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Forschung, Innovationen und neue Technologien sind die Grundlagen für künftigen Wohlstand. Sie sind die Quellen von wirtschaftlichem Erfolg, von Wachstum und Beschäftigung. Hier werden Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit gesucht und manchmal auch gefunden - für Klima- und Umweltschutz, beim Kampf gegen Krankheiten, gegen Hunger und Armut zum Beispiel. Deshalb ist es wichtig, dass in Deutschland, dem „Land der Ideen“, neue Technologien entwickelt und zur Anwendung gebracht werden. Deshalb ist es wichtig, dass wir eine technik- und innovationsfreundliche Gesellschaft bleiben oder wieder werden. Der Deutsche Bundestag kann dazu beitragen, indem er die rechtlichen Rahmenbedingungen innovationsfreundlich ausgestaltet und zum Beispiel für finanzielle Verlässlichkeit und für Gestaltungsfreiheit sorgt. Ich bin davon überzeugt, dass Wissenschaft und Forschung mehr Flexibilität und Gestaltungsspielraum brauchen. Sie müssen die Möglichkeit haben, exzellentes Personal zu gewinnen. Sie müssen bei Bedarf national und international kooperieren können. Die Möglichkeiten für Unternehmensbeteiligungen und Ausgründungen sind durchaus verbesserungsfähig. Wissenschaft und Wirtschaft könnten noch enger vernetzt und verzahnt werden. Wie Sie wissen, komme ich aus Jena. In dieser Stadt haben nach der Wende alle Fraktionen gemeinsam versucht, die vorhandenen Kompetenzen für die aktuelle Situation zu nutzen. Das ist gelungen, auch mit Unterstützung der Landes- und der Bundesregierung. Die guten Ergebnisse sind auf verschiedenen Feldern zu besichtigen - bei den Arbeitsmarktdaten, aber auch bei der Anzahl von Patenten und von Auszeichnungen für Wissenschaftler an universitären oder außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Die Forschungsfinanzierung ist ein wichtiges Thema, und auf die Weiterentwicklung wissenschaftsgerechter Strukturen, wie es in der Überschrift Ihres Antrages heißt, kommt es genau an. Ihr Antrag zielt allerdings in eine ganz andere Richtung. Sie beklagen, dass wettbewerblich vergebene Drittmittel sich ungleichmäßig und diskontinuierlich auf die Disziplinen, die Regionen und die Einrichtungen verteilen. Die gleichmäßige Verteilung - man nennt das auch das Gießkannenprinzip - ist jedoch nach meiner Überzeugung eben nicht wissenschaftsgerecht. Die Entscheidung, das Kieler Institut für Meeresforschung, IFM-GEOMAR, in die Helmholtz-Gemeinschaft zu überführen, führt zur Stärkung der Meeresforschung in der Helmholtz-Gemeinschaft und verspricht Synergien zwischen dem Alfred-Wegener-Institut für PolarZu Protokoll gegebene Reden und Meeresforschung, AWI, in Bremerhaven, dem IFMGEOMAR und der Kieler Universität. Die vom Bund und von den Ländern gemeinsam getragene Forschungsfinanzierung wird von unserer Seite nicht nur nicht infrage gestellt, sondern auch vorbildlich ausgefüllt. Noch in keiner Legislaturperiode wurden so viele Mittel für Forschung und Entwicklung bereitgestellt wie in dieser Legislaturperiode. Die von Ihnen geforderte Strategiearbeitsgruppe werden wir sicher nicht einrichten. Wir brauchen keine zusätzlichen Gremien. Wir sind der Meinung, dass die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz sich bewährt hat und im Hinblick auf die gemeinsame Forschungsförderung von Bund und Ländern gute Arbeit leistet. Gespräche mit Führungskräften zum Beispiel der Max-PlanckGesellschaft und der Leibniz-Gemeinschaft bestätigen dies. Meine Damen und Herren von den Grünen, wir kümmern uns um die Weiterentwicklung wissenschaftsgerechter Strukturen. Das hat etwas mit Wettbewerb und Leistungsorientierung zu tun, aber sicher nicht mit weiteren Gremien und gleichmäßiger Verteilung. Deshalb können wir Ihrem Antrag nicht unsere Zustimmung geben.

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wir reden heute über sachfremde Koppelgeschäfte dieser schwarz-gelben Bundesregierung mit einem oder mehreren Bundesländern - Koppelgeschäfte, die notwendig werden, weil falsche politische Grundentscheidungen gesellschaftlich gewünschte Anliegen wie eine Erhöhung der Ausbildungsförderung oder den Betrieb einer traditionsreichen Universitätsklinik unmöglich machen. Die erste falsche Grundentscheidung der letzten Bundesregierungen war die Idee, mit Steuersenkungen ein selbstfinanzierendes Perpetuum mobile zu schaffen. Unbändiges Wirtschaftswachstum sollte die Einnahmeausfälle mehr als ausgleichen, sodass für alle Bereiche eine Win-win-Situation entstehen würde. Dieser quasireligiösen Glaubenslehre hängt inzwischen nur noch die FDP an, aber in den vergangenen zehn Regierungsjahren haben alle regierenden Parteien diese Idee mit verheerenden Folgen für die Bildungs- und Wissenschaftslandschaft verfolgt. Da bilden leider auch die Grünen keine Ausnahme, die das Problem jetzt hier lautstark beklagen. Nach Berechnungen des DGB haben die Steuerreformen der rot-grünen, der schwarz-roten und jetzt der schwarz-gelben Koalition die Bundesländer jedes Jahr zwischen 10 und 20 Milliarden Euro Einnahmen gekostet, der Bund ist mit Ausfällen in Höhe von 4 bis 21 Milliarden Euro betroffen. Es verwundert kaum, dass Deutschland sich in den Rankings bezüglich der Bildungs- und Forschungsausgaben kaum verbessert - es fehlt schlicht das Geld in den öffentlichen Kassen. Die zweite verheerende Weichenstellung war die Abgabe fast aller Kompetenzen in Bildung und Wissenschaft an die Bundesländer und die gleichzeitige Festschreibung einer Schuldenbremse für Bund und Länder im Grundgesetz. Auch diese Vorgaben haben mindestens FDP, Union und SPD mitgetragen. Die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der SPD unterstützen derzeit sogar die Verankerung einer Schuldenbremse in der hessischen Landesverfassung. Dieses Entscheidungsgefüge hat das deutsche Hochschul- und Wissenschaftssystem in eine Sackgasse manövriert. Als Symbol für diese Sackgasse stehen die gescheiterten Bildungsgipfel des vergangenen Jahres. Die Länderausgaben für Bildung und Forschung stagnieren, viele Bundesländer kündigen Sparprogramme in diesen Bereichen an. Unterfinanzierte Länderhaushalte sind der Mammutaufgabe einer notwendigen Bildungsexpansion nicht gewachsen. Man kann einem Gewichtheber, der einen Weltrekord reißen soll, vor diesem Kraftakt nicht die Luft abdrücken und die Nahrung verweigern! Nun beobachten wir die hilflosen Reparaturversuche des Bundes: Manche sind langfristiger Natur wie die Ausweitung der Projektförderung, der Zuweisungen über die DFG oder der zweiten Runde der Exzellenzinitiative. Manchmal muss die Ministerin ganz kurzfristig einspringen - etwa wenn die unionsgeführte Landesregierung in Schleswig-Holstein entscheidet, dass nur noch eine Universität im Land, nämlich die in Kiel, gut genug für den Exzellenzwettbewerb sein soll, weil man sich nur noch eine solche Uni leisten kann. Im Gegenzug soll eine traditionsreiche Universitätsklinik aufgegeben werden. Der Philosoph Walter Benjamin prägte den Begriff der Monade, eines Zeitpunkts, an dem verschiedene Entwicklungen sich zu einem klaren Bild kristallisieren. Eine solche Situation liegt hier vor: das offensichtliche Eingeständnis eines Bundeslandes, dass es im Rennen um Exzellenz und Elite kraft seiner Haushaltslage nicht mehr mithalten kann, ohne Schnitte in die wissenschaftliche Substanz vorzunehmen. Damit droht die ganze Ideologie des Wettbewerbsföderalismus und der Drittmittelexpansion zu kippen. Die Bundesministerin verhandelte daraufhin mit ihrem Parteikollegen Ministerpräsident Carstensen, was sie bis zum Tag der Ergebnisverkündung leugnete. Die Ministerin nutzte die unterschiedlichen Finanzierungsschlüssel der Forschungsorganisationen, um dem Land Schleswig-Holstein die benötigten 25 Millionen Euro jährlich aus der Bundeskasse zukommen zu lassen. Aber um welchen Preis? Der Prozess der Profilierung der vier Forschungsorganisationen, die jede für sich in ihrem eigenen Profil größten Wert auf Autonomie und Reputation legen, wurde per Handstreich delegitimiert. Bisher ging der Aufnahme eines Instituts in die überwiegend bundesfinanzierte Helmholtz-Gemeinschaft ein jahrelanger wissenschaftsgeleiteter Prozess der Evaluierung und Qualitätssicherung voraus. Nun ist klar: Alles Gerede von Wissenschaftsfreiheit und Autonomie ist Makulatur, wenn die Hütte brennt. Dann übernimmt der Bund schon einmal ein Institut - auch gegen den Willen der Institutsleitung, der betreffenden Forschungsorganisation und der benachbarten Universität und ohne Empfehlung des Wissenschaftsrates. Zu Protokoll gegebene Reden Natürlich ist es richtig, die Uniklinik in Lübeck zu erhalten. Aber was Ministerin Schavan da betrieben hat, löst keine Probleme, sondern zog weitere nach sich. Denn es wird zu ähnlich gelagerten strukturellen Einschnitten in anderen Ländern kommen; das deutet sich schon an. Was dann? Wird die Ministerin auch einem SPD-geführten Land helfen? Mit einer ähnlichen Feuerwehraktion wurde die dringend notwendige BAföG-Erhöhung durchgesetzt. Die Länder konnten diese nicht gegenfinanzieren und forderten die komplette Kostenübernahme vom Bund. Dieser bot hingegen ein Koppelgeschäft an: Der Bund versprach 136 Millionen Euro Forschungszuschüsse für eine Zustimmung der Länder, die 173 Millionen Euro Mehrkosten durch die BAföG-Erhöhung zu tragen. Das Problem: Das Geld kommt nicht in den Länderhaushalten, sondern an den Hochschulen an, und es wird nach dem Anteil der eingeworbenen BMBF-Drittmittel verteilt. Nur ein Land hat wirklich per Saldo ein nennenswertes Plus bei diesem Deal: Baden-Württemberg, das Heimatland der Ministerin selbst. Die Situation der Ministerin gleicht einem Menschen, der sich im Moor verirrt hat. Jedes hektische Rudern lässt einen noch tiefer in den Schlamassel sinken. Stattdessen müssen die Grundübel angepackt werden. Wir brauchen eine Stabilisierung der Grundfinanzierung der Hochschulen, damit diese eine nachhaltige Entwicklungsplanung betreiben können. Dies dient nicht nur der echten grundgesetzlich garantierten Wissenschaftsfreiheit, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, mittels Personalentwicklung dem wissenschaftlichen Nachwuchs verlässliche Karrierewege anbieten zu können. Zudem wird die Lehre gestärkt, denn Studierende haben von Drittmittelboom und Exzellenzhype vor allem Nachteile. Schaffen Sie das Kooperationsverbot ab und vereinbaren Sie eine dauerhafte und verlässliche Gemeinschaftsfinanzierung für wichtige Bildungsaufgaben! Und nicht zuletzt: Verzichten Sie auf das geplante Steuersenkungspaket! Vielmehr muss über eine effektive Vermögensbesteuerung und einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes nachgedacht werden, wie das DIW gerade in einer aktuellen Studie empfohlen hat. Bei der Steuerung der außeruniversitären Wissenschaftsorganisationen kommt es auf Verlässlichkeit und eine transparente Positionierung der Zuwendungsgeber aus Bund und Ländern an. Die Politik sollte klare Zielvereinbarungen mit den Einrichtungen treffen, deren Effektivität ohne Sanktionen wohl nicht gewährleistet werden kann. Der Pakt für Innovation und Forschung muss noch viel klarer herausstellen, was die Gesellschaft von der Forschung erwartet und welchen Grad an finanzieller Sicherheit und Autonomie sie der Wissenschaft gewährt. Der vorliegende Antrag der Grünen beschreibt die Problemlagen sehr treffend, bietet als Lösung aber lediglich die Einrichtung einer Strategiearbeitsgruppe an. Das finde ich unnötig: Wir haben den Wissenschaftsrat, in dem Wissenschaft, Wissenschaftsforschung und Politik vertreten sind. Die Probleme liegen auf dem Tisch. Lassen Sie uns lieber konsequent an deren Lösung arbeiten.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist höchste Zeit, einen kritischen Blick auf die Entwicklung der Forschungsfinanzierung in Deutschland zu werfen. Die Finanzierungsbedingungen für öffentlich geförderte Forschung klaffen immer stärker auseinander, mit negativen Folgen für das gesamte Wissenschaftssystem. Die außeruniversitären Forschungseinrichtungen und die Deutsche Forschungsgemeinschaft erhielten im Rahmen der von Bund und Ländern gemeinsam getragenen Forschungsfinanzierung durch den Pakt für Forschung und Innovation garantierte jährliche Aufwüchse und langfristige Planungssicherheit. Dies ist durchaus eine begrüßenswerte Entwicklung. Dagegen steht die von den Ländern zu leistende Grundfinanzierung der Hochschulen für Forschung und Lehre seit Jahren unter dem Druck klammer Länderhaushalte. Von garantierten Aufwüchsen kann da keine Rede sein. Im Gegenteil, aktuell kürzen viele Länder, wie zum Beispiel Bayern, Hessen oder Thüringen, gerade wieder bei der Grundfinanzierung für ihre Hochschulen. Nicht nur die Folgen der Wirtschaftskrise auf die öffentlichen Haushalte und die Schuldenbremse sorgen für einen erheblichen Spardruck; die Steuerpolitik der Bundesregierung hat den Druck auf die Länderfinanzen noch zusätzlich erhöht. Die Länder stehen also vor dem Problem, dass sie ihre eigenen Hochschulen nicht mehr aufgabengerecht ausstatten können, aber ihre Mitfinanzierungsverpflichtungen für den Pakt für Forschung und Innovation erheblich ansteigen und der Bund ihnen gleichzeitig das Geld aus der Tasche zieht, zum Beispiel für Hotelsubventionen. Allein 2011 bis 2015 müssen die Länder mindestens 1,6 Milliarden Euro für zusätzliche Komplementärmittel für die gemeinsame Forschungsfinanzierung aufbringen. Zwar fließen über die Deutsche Forschungsgemeinschaft erhebliche zusätzliche Drittmittel an die Universitäten; nur können diese Drittmittel die fehlenden Grundmittel der Hochschulen beileibe nicht kompensieren. Drittmittel werden wettbewerblich vergeben und verteilen sich naturgemäß ungleichmäßig auf die Fächer, Hochschulen und Regionen. Fachhochschulen profitieren zum Beispiel so gut wie gar nicht. Mit steigendem Anteil der Drittmittel an der Gesamtfinanzierung wachsen nicht nur der Verwaltungsaufwand und die Transaktionskosten, sondern vor allem der Anteil des wissenschaftlichen Personals, das nur noch befristet beschäftigt wird. Drittmittel sind eine sinnvolle Ergänzung zu Grundmitteln; aber sie taugen nicht dazu, die solide Finanzierung der Daueraufgaben in Forschung und Lehre zu ersetzen. Die von Bund und Ländern gemeinsam finanzierten Forschungseinrichtungen sind sehr ungleichmäßig über die Republik verteilt, und der Bundesanteil variiert je nach Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen ForZu Protokoll gegebene Reden schungsgemeinschaften von 50 bis 90 Prozent. Entsprechend profitieren die Länder sehr unterschiedlich von der gemeinsamen Forschungsfinanzierung. Dabei spielt nicht nur die Leistung, sondern oft auch der historische Zufall eine Rolle. So gibt es in Ostdeutschland sehr wenig mit 90 Prozent Bundesmitteln finanzierte Einrichtungen der Helmholtz-Gemeinschaft und der Fraunhofer-Gesellschaft, aber viele Leibniz-Institute, was eine höhere Belastung für das Sitzland und eine geringere Bundesfinanzierung bedeutet. Auch große Sammlungen und Museen werden in einigen Bundesländern nach dem Leibniz-Mechanismus finanziert. Schon jetzt haben einige Bundesländer erklärt, dass sie nicht in der Lage sind, die Aufwüchse für ihre Leibniz-Einrichtungen zu finanzieren. Es kann aber nicht sein, dass die Entwicklungsmöglichkeit hervorragend evaluierter Institute davon abhängig ist, ob sie sich in einem armen oder einem reichen Bundesland befinden. Es kann nicht verwundern, dass vor diesem Hintergrund in vielen Ländern inzwischen rein finanzpolitisch motivierte Überlegungen die Oberhand gewinnen, wie und mit welchen Kniffen das jeweilige Land mehr von den gemeinsam finanzierten Forschungsmitteln profitieren kann. Im Sog dieser Überlegungen werden Forschungseinrichtungen und Forschungspolitik zum Spielball rein fiskalischer Interessen, und wissenschaftsgeleitete Strukturen und Verfahren treten in den Hintergrund. Schlimmerweise forciert die Bundesregierung diese Entwicklung durch eigene manipulative Eingriffe, wie durch die Verschiebung des Leibniz-Instituts IFM-GEOMAR in Kiel zur Helmholtz-Gemeinschaft. Ziel der Operation war es, den Finanzanteil des Bundes von 50 auf 90 Prozent zu erhöhen, um offensichtlich die Zustimmung Schleswig-Holsteins zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz zu vergolden und die in diesem Bundesland selbst entstehenden Steuerausfälle ein wenig auszugleichen. Dabei wurden weder der Wissenschaftsrat noch das betroffene Institut vorher beteiligt. Dem GEOMAR drohen jetzt Einnahmeausfälle von 10 bis 11 Millionen Euro jährlich, die es bisher zum Beispiel für Sonderforschungsbereiche von der DFG eingeworben hat. Solche finanz- und machtpolitischen Manöver sind brandgefährlich für die Legitimation der Bund-Länder-Forschungsfinanzierung. Denn sie bringen die wissenschaftsgeleiteten Strukturen der Forschungsfinanzierung immer weiter ins Trudeln, zum Schaden des gesamten Wissenschafts- und Forschungssystems. Ebenfalls von unterschätzter Sprengkraft für die Zukunft der gemeinsamen Forschungsfinanzierung sind aber auch Projekte wie die Verschmelzung der Uni Karlsruhe mit dem außeruniversitären Forschungszentrum Karlsruhe zum KIT, das als Helmholtz-Einrichtung zu 90 Prozent vom Bund finanziert wird. Solche Modelle der Einverleibung von Forschungseinrichtungen sind eine gewaltige Inspirationsquelle für die Bundesländer, die anfangen könnten zu überlegen, wie sie ihre Probleme bei der Grundfinanzierung der Hochschulen kompensieren können. So formuliert der stellvertretende Generalsekretär des Stifterverbandes in der FAZ bereits: „Bundesuniversitäten? Gibt es längst!“ Welches Bundesland würde sich seine Unis oder Teile davon nicht auch gerne vom Bund finanzieren lassen? Rein finanz- und machtpolitisch motivierten Geschäften zwischen Bund und Ländern muss konsequent der Riegel vorgeschoben werden. Bund und Länder müssen wieder zu transparenten, verbindlichen und wissenschaftsgeleiteten Verfahren finden. Gleichzeitig muss dringend überprüft werden, inwieweit die bisherigen Modalitäten der Forschungsfinanzierung noch ziel- und aufgabengerecht sind und wo das System systematisch Fehlanreize produziert. Wir fordern in unserem Antrag daher die Einrichtung einer zeitlich befristeten Strategiearbeitsgruppe unter Beteiligung von Wissenschaft und Politik, Bund und Ländern. Diese Arbeitsgruppe soll Vorschläge entwickeln, wie Fehlanreize und Schieflagen verhindert werden können und wie die bisherigen Strukturen der Forschungsfinanzierung aufgabenadäquat und wissenschaftsgeleitet weiterentwickelt werden sollen. Ziel muss sein, zu einer aufgabenadäquaten, wissenschaftsgeleiteten und nachhaltigen Finanzierung der außeruniversitären und der universitären Forschung zu kommen. Ich hoffe, dass Sie unsere Initiative aufgreifen. Wir sollten uns im Ausschuss sehr ernsthaft mit diesen Problemen auseinandersetzen. Die Gefahren für das deutsche Wissenschaftssystem, die entstehen, wenn man den Dingen einfach ihren Lauf lässt, halte ich für sträflich unterschätzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3864 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Es ist geschafft. ({0}) Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. Dezember 2010, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. Kommen Sie gut durch die Winternacht!