Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zu
der Plenarsitzung des Deutschen Bundestages.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 16./17. Dezember
2010 in Brüssel
Zu dieser Regierungserklärung und dem damit verbundenen Thema liegt je ein Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke sowie der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im
Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Jahr 2010 war für die Europäische Union, für alle Bürgerinnen und Bürger Europas, ein Jahr großer Herausforderungen und auch ein Jahr grundlegender Entscheidungen.
All das, was vorgefallen ist, steht in engstem Zusammenhang mit der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise
und den Auswirkungen, die sie hatte. Ich darf sagen: Wir
haben in diesem Jahr erfahren, was den Kern der Wirtschafts- und Währungsunion und damit der Europäischen
Union insgesamt ausmacht; wir haben erfahren, dass Europa eine Verantwortungsgemeinschaft ist.
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben unsere politischen Vorgänger Verantwortung übernommen, für Europa und für seine Gemeinschaft. Dies hat zu der längsten Friedensperiode geführt, die es je in Europa gegeben
hat. Deutschland profitiert von dieser Gemeinschaft, von
der Währung und dem Binnenmarkt. Ich darf auch sagen: Deutschland profitiert in ganz besonderer Weise.
Umso ernster nehmen wir heute unsere Verantwortung
für eine gute Zukunft der Europäischen Union.
Der Deutsche Bundestag hat in diesem Jahr seinen
Beitrag dazu geleistet, dass wir feststellen können: Die
Europäische Union wurde durch die Krise der gemeinsamen Währung auf das Stärkste gefordert; sie musste sich
bewähren, und sie hat sich bewährt. Die Europäische
Union - ich nenne hier insbesondere die Europäische
Kommission, den Europäischen Rat mit seinem ständigen Präsidenten und die Mitgliedstaaten - hat mutig, abgestimmt und entschlossen gehandelt. Deshalb können
wir auf das bisher Erreichte stolz sein.
({0})
Es ist unbestreitbar, dass einzelne Euro-Staaten vor
schwierigen Herausforderungen stehen. Genauso unbestreitbar ist aber auch, dass sich der Euro selbst als krisenfest erwiesen hat. Ich darf die Frage stellen, was wohl
in den Turbulenzen der Wirtschaftskrise stattgefunden
hätte, wenn wir alle unsere eigene Währung gehabt hätten. Heute kann man sagen: Bei der Binnenstabilität liegen wir im Durchschnitt unter dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank von 2 Prozent. Der Wert des
Euro im Vergleich zu anderen Währungen wie etwa dem
amerikanischen Dollar liegt deutlich über dem langjährigen Mittel. Das heißt, der Euro ist bezüglich seines Innen- und seines Außenwertes stabil. Das sollten wir trotz
aller Sorgen nicht übersehen; darauf lässt sich aufbauen.
Morgen nun wird der Europäische Rat die Maßnahmen umsetzen, die wir bereits im Oktober mit den Weichenstellungen eingeleitet haben. Die Chancen dafür stehen gut, dank der ausgezeichneten Vorbereitung durch
die Finanzminister der Euro-Zone, die Europäische
Kommission und den Präsidenten des Europäischen Rates. Damit werden die beiden Aufträge erfüllt, die der
Europäische Rat im Oktober an den Präsidenten des Europäischen Rates und die Europäische Kommission vergeben hat.
Erstens wird der Auftrag erfüllt, die Grundzüge eines
auf Dauer angelegten, robusten Krisenbewältigungsrahmens der Mitgliedstaaten zu entwickeln, um die FinanzRedetext
stabilität der Euro-Zone als Ganzes zu wahren. Darin
sollen sowohl der Privatsektor als auch der Internationale Währungsfonds eine Rolle haben, und die Inanspruchnahme des Mechanismus soll an strikte Auflagen
geknüpft werden.
Zweitens wird der Auftrag erfüllt, einen Vorschlag für
die zur Einrichtung des Mechanismus erforderliche eng
begrenzte Vertragsänderung vorzulegen, wobei ausdrücklich das Beistandsverbot in Art. 125 des Vertrages
über die Arbeitsweise der Europäischen Union nicht angetastet werden darf.
({1})
Auf dieser Grundlage hat Präsident Van Rompuy gemeinsam mit der Europäischen Kommission in den letzten Wochen Konsultationen mit den Mitgliedstaaten des
Europäischen Rates geführt. Dazu wird er uns morgen
seinen Bericht vorlegen, und die Oktoberbeschlüsse werden umgesetzt. Außerdem wird die Erklärung der Finanzminister der Euro-Zone vom 28. November 2010, in der
die Grundzüge des neuen Mechanismus verabredet wurden, vom Europäischen Rat beschlossen werden. Auf dieser Grundlage werden wir mit der Kommission die Details - ich betone: die Details - für eine Vereinbarung
unter den Mitgliedern der Euro-Zone bis März 2011 ausarbeiten. Die bereits in der Euro-Gruppe vereinbarten
Grundzüge enthalten alle Elemente, für die wir uns in enger Abstimmung mit Frankreich stets starkgemacht haben und die ich auch für unverzichtbar halte.
Erstens. Es handelt sich um einen Krisenmechanismus der Mitgliedstaaten der Euro-Zone. Das heißt, es
werden keine Hoheitsrechte an die Europäische Union
übertragen.
Zweitens. Voraussetzung für die Auslösung des Mechanismus ist die Gefährdung der Finanzstabilität der
Euro-Zone insgesamt.
Drittens. Über die Inanspruchnahme entscheiden wir
in der Euro-Zone einstimmig.
Viertens. Der Internationale Währungsfonds wird eng
eingebunden.
Fünftens. Die Inanspruchnahme des Mechanismus
durch einen Euro-Mitgliedstaat erfolgt auf der Grundlage
einer umfassenden Analyse der Schuldentragfähigkeit,
die die Europäische Kommission und der Internationale
Währungsfonds in Verbindung mit der Europäischen
Zentralbank erstellen werden.
Sechstens. Finanzielle Unterstützung wird an strenge
Bedingungen geknüpft.
Siebtens. Private Gläubiger werden fallweise in die
Krisenbewältigung eingebunden. Ist die Schuldentragfähigkeit eines Landes nicht gewährleistet, müssen - ich
wiederhole: müssen - die privaten Gläubiger einen Beitrag leisten. Dies entspricht dem, was bei Programmen
des Internationalen Währungsfonds üblich ist.
({2})
- Ich hatte das gesagt. Herr Oppermann, ich wiederhole
es für Sie gerne. Das war unter Punkt fünf: Die Frage der
Schuldentragfähigkeit wird festgestellt von der Europäischen Kommission und
({3})
dem Internationalen Währungsfonds in Verbindung mit
der Europäischen Zentralbank. Das sind die drei Institutionen, die aus unserer Sicht, die aus Sicht der Mitgliedstaaten die Legitimität haben, über die Frage „Schuldentragfähigkeit - ja oder nein?“ zu entscheiden.
({4})
In den Grundzügen steht an dieser Stelle „unerwarteterweise“, weil man nicht den Eindruck erwecken möchte,
dass heute eine solche Situation herrscht. Wenn man unerwarteterweise zu der Meinung kommt, dass die Schuldentragfähigkeit nicht gewährleistet ist, dann müssen die
privaten Gläubiger beteiligt werden in der Form, dass
ein Weg vereinbart wird, wie die Schuldentragfähigkeit
wiederhergestellt werden kann, und dann fließen die Liquiditätsmittel wieder.
({5})
Das ist der Mechanismus. Den habe ich eben unter siebtens dargestellt. Das ist beim IWF im Übrigen ähnlich,
was ich schon sagte.
Achtens. Ab 2013 werden wir in der Euro-Zone einheitlich in allen neuen Staatsanleihen entsprechende
Klauseln einführen, die die Grundlage für eine geordnete
Beteiligung der Gläubiger darstellen. Auch das ist nichts
Neues auf der Welt. Diese Collective Action Clauses, wie
es so schön heißt, gibt es bereits heute. Sie wurden durch
den IWF eingeführt. Im Übrigen sind die Anleihen, die
nicht in Euro, sondern in Fremdwährungen getätigt werden, bereits heute mit solchen Klauseln ausgestattet.
Also, auch dies ist für die Märkte nichts unerwartet
Neues.
Neuntens. Nicht-Euro-Mitglieder können sich am
Mechanismus beteiligen, wie dies auch beim Ad-hocRettungsschirm heute bereits Praxis ist.
Meine Damen und Herren, mit diesen neun Punkten
zur Schaffung des neuen Krisenmechanismus etablieren
wir neue Strukturen. Wir werden Stabilität gewinnen.
Dies gibt uns für die Zukunft mehr Sicherheit. Darum
geht es.
Mehr noch: Mit der Einigung auf diese inhaltliche
Ausgestaltung ist bereits die Einigung auf die neue Vertragsbestimmung vorgezeichnet; denn alle Mitgliedstaaten sind sich einig, die neue Vertragsbestimmung in das
Kapitel im Lissabonner Vertrag einzufügen, das besondere Bestimmungen für die Staaten der Euro-Zone enthält.
Damit soll für die Euro-Zone ein dauerhafter Mechanismus zur Krisenbewältigung geschaffen werden, dessen
Inanspruchnahme aber an strenge Bedingungen geknüpft
ist. Es muss klar sein, dass die Nutzung des Mechanismus
nur in gegenseitigem Einvernehmen erfolgen kann, das
heißt, dass jeweils ein einstimmiger Beschluss erforderlich ist. So ist es auch in den Grundzügen des Krisenmechanismus vereinbart.
Für mich ist wichtig, dass die Gewährung finanzieller
Hilfen auch in Zukunft nur letztes Mittel sein kann. Ich
bin sicher, dass wir uns morgen auf eine präzise und eng
gefasste Vertragsbestimmung für den dauerhaften Mechanismus einigen werden und damit die notwendige
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit geschaffen werden.
Jetzt frage ich einfach einmal: Wer hätte es noch vor
wenigen Wochen für möglich gehalten, dass wir in Europa das schaffen können? Was wurde nicht alles vorhergesagt! Wir haben uns davon nicht entmutigen lassen,
sondern konsequent für den Weg gearbeitet, den Europa
jetzt eingeschlagen hat. Ich erwarte daher, dass der Europäische Rat morgen förmlich das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren einleiten wird. Das bedeutet, dass
der Europäische Rat nach Anhörung des Europäischen
Parlaments, der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank voraussichtlich schon bei dem
Treffen der Staats- und Regierungschefs im März 2011
den einstimmigen Beschluss der Vertragsänderung fassen kann.
Anschließend müssen natürlich alle 27 Mitgliedstaaten diese Vertragsänderung gemäß ihren nationalen Vorschriften ratifizieren. Wir werden uns dafür als Ziel Ende
2012 setzen, damit keine Verunsicherung aufkommt,
dass der im Augenblick geltende befristete Krisenmechanismus nicht eine klare Verlängerung erhält. Diese
Ratifikation wird natürlich eine äußerst wichtige Aufgabe für dieses Hohe Haus, für den Deutschen Bundestag sein. Ich hoffe, dass sich eine breite Mehrheit finden
wird, um das Fundament der Wirtschafts- und Währungsunion noch stabiler und noch unangreifbarer zu
machen.
Bei all den Details, die ich Ihnen hier geschildert habe
- ich denke, ich muss es Ihnen auch so schildern, weil
die Dinge sehr konkret sind; das ist für die gute Zukunft
des Euro unverzichtbar und hört sich immer sehr technisch an -, dürfen wir natürlich den eigentlichen Impuls
für unser Handeln nie aus den Augen verlieren. Dieser
Impuls sind nicht Mechanismen, Anleihen, Regeln,
Schuldengrenzen und vieles mehr - so wichtig das alles
im Einzelnen auch ist -, dieser Impuls, der Grund, warum wir das alles tun, ist etwas anderes: Es ist die grandiose Friedens- und Freiheitsidee der europäischen Einigung.
({6})
Sie stand vor 50 Jahren mit den Römischen Verträgen
am Anfang des europäischen Einigungswerks. Sie war
der Ausgangspunkt des Handelns der damaligen politischen Generation, der Ausgangspunkt nach fürchterlichen Kriegen, Vernichtung und unendlichem Leid für
unseren Kontinent. Diese grandiose Friedens- und Freiheitsidee der europäischen Einigung ist das Vermächtnis,
das unserer Generation und künftigen politischen Generationen hinterlassen wurde. Diesem Vermächtnis fühle
ich mich, die ich erst seit 1919 - 1990 - Bürgerin eines
freien und friedlichen Europas bin, ({7})
- ja, das können Sie natürlich nicht verstehen - ganz persönlich verpflichtet.
({8})
Wissen Sie, ich würde das gar nicht sagen, wenn Sie
nicht immer so reagieren würden.
({9})
Meine Damen und Herren, ich fühle mich dem persönlich verpflichtet, als Mensch, aber auch als Bundeskanzlerin der wirtschaftlich stärksten Nation. Diese Verpflichtung gilt für alle Mitglieder der Bundesregierung.
({10})
Es geht dabei natürlich um eine wirtschaftliche Aufgabe,
aber in erster Linie und vornweg geht es um einen politischen Auftrag, für den vor über 50 Jahren der eine, immerwährende Leitsatz gegolten hat, der auch heute und
in den nächsten 50 Jahren gilt: Niemand in Europa wird
alleingelassen, niemand in Europa wird fallen gelassen,
Europa gelingt gemeinsam. Ich füge hinzu: Europa gelingt nur gemeinsam.
({11})
Mit diesen Worten haben wir 2007 die deutsche EURatspräsidentschaft überschrieben. Genauso gehen wir
auch an die aktuellen Aufgaben heran. Europa gelingt
gemeinsam und nur gemeinsam; denn - ich sagte es zu
Beginn - die Wirtschafts- und Währungsunion ist eine
Verantwortungsgemeinschaft. Auch Verantwortung gelingt nur gemeinsam. Verantwortung ist anstrengend. Sie
verlangt jedem in Europa etwas ab. Für den dauerhaften
Erfolg Europas und der gemeinsamen Währung müssen
wir alle, die Organe der Europäischen Union und die
Mitgliedstaaten, unserer Verantwortung gerecht werden.
Die Aufgaben der nächsten Zeit liegen vollkommen
klar auf der Hand. Im Grundsatz gibt es darüber, so
denke ich, auch in diesem Hause weitgehende Einigkeit.
Es geht nämlich um eine tiefere politische und in Bezug
auf den Euro vor allen Dingen erst einmal wirtschaftspolitische Integration, die dann aber auch nach den Regeln des wirtschaftlichen Erfolges erfolgen muss. Deshalb ist es so wichtig, dass wir in den nächsten Monaten
über die weitere politische Integration sprechen, dass wir
aber nicht den Fehler machen, die Vergemeinschaftung
der Risiken, wie es zum Beispiel bei Euro-Bonds geschieht, als Lösung erscheinen zu lassen. Dies ist überhaupt keine Lösung, sondern die Lösung ist mehr Harmonie und mehr Wettbewerbsfähigkeit gleicher Art in
den europäischen Mitgliedstaaten und ganz besonders
im Euro-Raum. Darauf muss hingearbeitet werden.
({12})
Solidarität und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und vor allen Dingen auch der Haushaltssituation
sind immer zwei Seiten einer Medaille. Wir dürfen
niemals eine dieser Seiten vergessen, weil Europa ansonsten insgesamt keinen guten Weg nehmen würde.
„Verantwortung übernehmen“ heißt, dass auch wir Verantwortung übernehmen müssen - das haben wir in diesem Jahr im Übrigen gezeigt -, es heißt aber auch für jeden Einzelnen, Verantwortung übernehmen zu müssen.
Darüber werden wir in den nächsten Monaten des
kommenden Jahres weiter diskutieren. Wir werden vor
allen Dingen Europa auch auf anderen Feldern weiter als
Verantwortungsgemeinschaft darstellen; denn es geht bei
diesem Rat auch um das Thema strategischer Partnerschaften von Europa mit anderen Ländern - ich nenne
als Beispiele nur China und Russland -, und es geht darum, dass wir zeigen, dass wir als Europa auch gemeinsame Ziele und Werte vertreten, wenn es um internationale Verhandlungen geht.
Der Europäische Rat wird sich mit den Ergebnissen
der Konferenz von Cancún befassen. Ich darf unserem
Bundesumweltminister ganz herzlich zu den Erfolgen,
die dort erzielt worden sind, gratulieren. Das war
schwere Arbeit.
({13})
- Auch viele von Ihnen waren daran beteiligt. Insofern
können wir alle miteinander froh sein, dass der internationale Klimaprozess nach der schwierigen Situation, die
nach Kopenhagen entstanden ist, in Cancún weitergegangen ist. Ich glaube, die Freude darüber ist auch aufseiten der Opposition klar ausgeprägt, auch wenn man
das nicht bei jeder Wortmeldung sofort erkennen kann.
({14})
Es ist zum ersten Mal gelungen, das 2-Grad-Ziel als
Marke für den globalen Klimaschutz festzulegen; wir
sind dafür. Niemand bestreitet, dass jetzt viel Arbeit notwendig ist. Deutschland hat sich mit seinem 40-ProzentReduktionsziel verpflichtet, zusammen mit Europa eine
Vorreiterrolle zu spielen. Aber wir müssen Schritt für
Schritt vorgehen. Insofern darf man sich über den Erfolg
von Cancún freuen und der mexikanischen Präsidentschaft, insbesondere der Außenministerin, ein ganz herzliches Dankeschön sagen.
({15})
Wir werden auf diesem Europäischen Rat auch über
die Erweiterung bei Einhaltung der Kriterien für den
Beitritt zur Europäischen Union beraten. Von der Europäischen Kommission wurde am 9. November 2010 ein
Fortschrittsbericht zu den EU-Beitrittskandidaten und zu
solchen Ländern des Westbalkans, die dies werden wollen, vorgestellt. Ich finde es sehr bemerkenswert: In diesem Fortschrittsbericht wird klar differenziert, und das
ist auch richtig so. Jedes Land, das der EU beitreten
möchte, wird auf dem Weg dorthin an seinen eigenen
Leistungen gemessen. Es gilt, genau hinzusehen, Reformen zu fordern und dann die Umsetzung zu unterstützen. Wenn ein Land alle Kriterien erfüllt, dann ist es natürlich beitrittsreif.
Die Europäische Union hat politisch wie wirtschaftlich große Vorteile aus der Erweiterung gezogen. Wir in
der Bundesrepublik Deutschland haben das hautnah erlebt. Voraussetzung dafür, dass weitere Erweiterungsschritte ein Erfolg werden, ist die Beitrittsreife und die
Erfüllung der Beitrittskriterien.
Ich unterstütze deshalb die Entscheidung, auf Empfehlung der Europäischen Union Montenegro den Kandidatenstatus zu verleihen. Montenegro wurde unmissverständlich aufgefordert, weitgehende Reformen
einzuleiten. Erst danach will die Kommission die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen empfehlen. Dies wird
allerfrühestens im Herbst 2011 der Fall sein. Dann wird
natürlich auch der Deutsche Bundestag formell damit
befasst.
Meine Damen und Herren, wir als Europäische Union
haben in diesem Jahr gemeinsam gehandelt. Wir haben
uns dabei vom Grundsatz unserer gemeinsamen Verantwortung für die Währungsunion leiten lassen. Wir haben
das im Bewusstsein des Vermächtnisses getan, das uns
die Väter der europäischen Einigung hinterlassen haben,
und zwar ganz in dem Geiste der Worte, die wir 2007
zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge gefunden haben: „Wir Europäer sind zu unserem Glück vereint“.
Wenn wir das nie vergessen, dann werden wir jede Herausforderung meistern - heute und in Zukunft.
Gerade die Entscheidungen zur Zukunft des Euro in
diesem Jahr können uns dabei Mut machen und Kraft geben. Wir werden diese Entscheidungen jetzt nach und
nach umsetzen. Wir tun das, weil wir wissen: Der Euro
ist unser gemeinsames Schicksal, und Europa ist unsere
gemeinsame Zukunft.
Unsere Zukunft so zu gestalten, dass wir das Glück
der europäischen Einigung für künftige Generationen
schützen können, ist unsere Aufgabe von heute. Dieser
Aufgabe wird sich die Bundesregierung weiterhin mit
ganzer Kraft widmen, und ich hoffe auf die Unterstützung dieses Hohen Hauses.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Dr. Frank-Walter Steinmeier für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es gibt europäische Fragen - das habe auch ich
erlebt -, bei denen die Antworten nicht auf der Hand liegen, und niemand sollte so tun, als habe er sie komplett
parat. Die Frage ist nur, ob diese Regierung die Botschaften in den letzten Tagen, insbesondere die gestrigen
Botschaften aus Frankfurt, richtig verstanden hat.
Gestern war nicht irgendein Tag im europäischen Alltag. Wenn Sie sich die Agenturmeldungen den Tag über
angeschaut haben, dann wissen Sie, dass es dort hieß:
Die EZB steht an der Kante. - Die FTD hat geschrieben:
„EZB muss Euro-Staaten anpumpen.“ Das Handelsblatt
schrieb: „Hilfe für Schuldensünder wird für EZB zum
Bumerang.“
({0})
Unterschätzen Sie das nicht: Das, was wir hier von
der EZB gehört haben, war ein letztes Alarmsignal. Frau
Merkel, es war heute zu spüren: Dieses Alarmsignal
wollen Sie nicht wirklich hören.
({1})
Wie hat man das zu interpretieren? Ich interpretiere
das so: Es gab eine ziemliche Scheinruhe in den letzten
Tagen, eine relative Ruhe auf den Anleihemärkten, und
diese Scheinruhe hatte einen hohen Preis. Warum? Weil
die Regierungen in Europa nicht gehandelt haben - auch
die deutsche Regierung nicht -, musste die EZB handeln
- es blieb ihr gar nichts anderes übrig -, und das hat sie
getan. Was hat sie getan? Sie hat massenhaft notleidende
Staatsanleihen aufgekauft. Die Folgen sehen wir jetzt.
Das, was droht, ist ein schwerwiegender Vertrauensverlust der Europäischen Zentralbank. Was wird damit klar?
Nicht nur Handeln hat seinen Preis - das ist das, womit
Sie in den letzten Tagen immer in den Medien präsent
waren -, auch Nichthandeln hat einen Preis. Hü und hott
haben wir in den letzten Tagen gesehen.
({2})
Aber das ist eben nicht nur hü und hott in den Medien, sondern das hat Konsequenzen: Glaubwürdigkeitsverlust für die Regierung, Glaubwürdigkeitsverlust auch
für die Europäische Zentralbank, wie wir sehen, die jetzt
mit in den Sog gezogen wird. Das ist nicht zu verantworten.
({3})
Wenn die Regierungen in Europa in diesen Tagen
nichts Entscheidendes bewegen oder wenn sie einfach
nur weiter darauf setzen, dass die Europäische Zentralbank das tut, was sie in den letzten Tagen getan hat, dann
wird diese Zentralbank, ob sie will oder nicht - das kann
sie dann gar nicht verhindern -, zur Bad Bank in Europa.
Sie wissen das genau. Herr Trichet hat es Ihnen gesagt,
Herr Weber hat es Ihnen gesagt.
({4})
Alle in Europa fordern doch jetzt ein kräftiges Signal, einen mutigen Entwurf, um die zweifelnden Märkte
- nichts anderes ist es doch, was sich da täglich zeigt zu überzeugen.
Deshalb ist mein Schluss aus der Nachrichtenlage des
gestrigen Tages, Frau Merkel, verehrte Mitglieder der
Regierung: Das, was die EZB macht, taugt nicht dauerhaft als Rettungsschirm, nicht für bankrotte Staaten,
nicht für Banken, die unverantwortliche Kreditpolitik
gemacht haben, nicht für einfallslose Politik. Deshalb ist
das Signal für Europa: Die Zeit des Sichdurchmogelns
ist vorbei.
({5})
Das Durchwursteln wird in der Lage, in der wir sind,
einfach nicht mehr funktionieren. Ich glaube, Sie, Frau
Merkel, wissen das. Bei Ihrer Rede heute Morgen hatte
ich allerdings den Eindruck, Sie wollen es uns nicht sagen. Wenn man genau hingehört hat bei der Rede, dann
hörte man viel Hoffnung. Da ist viel lautes Pfeifen im
Walde. Aber knapp unter der Oberfläche haben Sie doch
dieselben Befürchtungen, die auch bei den anderen Fraktionen hier im Hause bestehen. Die Hoffnung, von der
diese Regierungserklärung heute Morgen getragen war,
ist doch, dass man mit einer kleinen Vertragsänderung
- so haben Sie es eben vorgetragen -, die niemandem so
richtig wehtut, durchkommt. Dann kommt Weihnachten,
und die Finanzmärkte sind weit weg. Dann ist für viele
Skiurlaub, und im Januar schauen wir einmal. Ich sage
Ihnen: So mag man denken, aber das ist keine Politik.
Das zeugt nicht von Verantwortung in der tiefsten Krise
Europas, die jedenfalls ich erlebt habe und an die ich
mich erinnern kann.
({6})
Aber ich ahne: Sie haben dieselben Befürchtungen
wie wir. Das, was sich da an Ratlosigkeit und Angst
breitmacht, kann doch nicht der Gradmesser für richtige
Politik sein. Auch Sie haben doch die Befürchtung, dass
die europäischen Partner irgendwann sagen: „Jetzt reicht
es“, oder dass die EZB in den nächsten Tagen sagt: „Bad
Bank in Europa wollen wir nicht länger sein. Wir halten
das nicht aus“, oder dass die Märkte sagen: „Wir lassen
uns über die nächsten zwei, drei Wochen oder gar zwei,
drei Monate nicht einlullen“, und das Elend dann sofort
im Januar beginnt.
Von dem, was in den letzten Tagen und Wochen offensichtlich die Leitmarken Ihrer Politik waren, nämlich
Hoffnung und Angst, können und dürfen Sie sich nicht
leiten lassen. Sie dürfen sich nicht von der leeren Hoffnung leiten lassen, dass es schon nicht ganz so schlimm
kommen wird, vor allen Dingen aber nicht davon - das
spüren wir auf der linken Seite des Hauses noch viel
stärker -, dass Ihnen am Ende Ihre eigenen Leute von
der Fahne gehen. Das kann nicht Maßstab für Politik
sein. Sich wegducken, das ist ein kläglicher Abgesang
auf die gestaltende europäische Politik, wie wir sie in
den letzten Jahrzehnten geleistet haben.
({7})
- Ja, das war Helmut Schmidt. Das habe ich auch gelesen. Aber ich bin mir sicher: Helmut Kohl sieht das auf
Ihrer Seite des Spektrums auch nicht ganz anders.
({8})
Leere Hoffnung, Angst oder Befürchtungen, die nicht
mit einer entsprechenden Politik einhergehen: Das
macht den Zickzackkurs aus, von dem ich schon gesprochen habe, und führt letzten Endes dazu, dass diese Regierung vor der europäischen Aufgabe so versagt wie
keine andere vor ihr. Ich glaube, Frau Merkel, Sie spüren, dass Sie sich durch die Entscheidungen und Nichtentscheidungen der letzten Wochen in ein Geflecht von
Ankündigungen, Halbwahrheiten und auch Lebenslügen hineinbegeben haben. Aber Sie wissen im Augenblick nicht, wie Sie da herauskommen sollen.
Im April haben Sie verkündet: kein Geld für Griechenland. Das Ergebnis ist bekannt. Sie haben gesagt:
Griechenland bleibt ein Einzelfall. Dann kam der Rettungsschirm. Sie haben gesagt: Der Schirm ist Ultima
Ratio; er wird wahrscheinlich gar nicht in Anspruch genommen. Dann kam Irland.
({9})
Sie haben gesagt: Wir wollen keine Transferunion. Ihr
eigener Berater aber sagt: In gewisser Weise haben wir
das schon. Sie haben gesagt: Wir brauchen automatische
Sanktionen. Zusammen mit Herrn Sarkozy haben Sie sie
in Deauville gekippt. Sie haben gesagt: Defizitsünder
werden mit dem Entzug der Stimmrechte bestraft. Heute
war kein Wort davon zu hören. Sie haben gesagt: keine
Euro-Bonds. Ihre Experten sagen: Mit der European Financial Stability Facility haben wir sie eigentlich schon.
({10})
Sie haben die Gläubigerbeteiligung gefordert. In Ihrer
heutigen Regierungserklärung sind Sie merkwürdig vage
geblieben.
Nicht zu vergessen ist auch das Gezerre um die Finanztransaktionsteuer. Hier im Parlament ist Frau
Merkel manchmal ein bisschen dafür; auf europäischer
Ebene ist Herr Schäuble manchmal ein bisschen dagegen. Geschehen ist jedenfalls nichts. Das ist die dramatische Bilanz nach diesem halben Jahr europäischer Politik in der Krise. Ich sage Ihnen: Das sehen die Leute in
Ihren eigenen Reihen nicht wesentlich anders als wir.
Das muss Ihnen Sorgen machen, Frau Merkel.
({11})
Aber wir stehen in der Tat in diesen Tagen in Europa
vor einer historischen Aufgabe. Es geht um die Zukunft
der gemeinsamen Währung. Mehr noch: Es geht um die
Zukunft des gemeinsamen europäischen Projekts. Es
wird vom Handeln der europäischen Regierungen abhängen, ob wir wieder ins 19. und 20. Jahrhundert, in nationalstaatliches Denken zurückfallen oder - darauf
kommt es an - ob wir jetzt den Mut zu dem nächsten
großen europäischen Sprung aufbringen, das Europa der
Nationalstaaten schrittweise zu überwinden und diese
Europäische Union zu einer politischen Union fortzuentwickeln. Diese Frage steht auf der Tagesordnung. Vor
dieser Frage dürfen wir uns nicht verstecken.
({12})
Das ist meine feste Überzeugung.
Die Unruhe an den Finanzmärkten hat nicht nur mit
der Finanzsituation Griechenlands, Irlands oder Portugals
zu tun. Die Fragen, die die Finanzmärkte stellen, sind fundamentaler Natur. Es sind Fragen, die auch die Menschen
stellen. Darin drücken sich Zweifel an der Funktionsfähigkeit der europäischen Institutionen aus. Es gibt Zweifel an der Reichweite europäischer Solidarität und an der
europapolitischen Zuverlässigkeit der Deutschen. Darüber reden wir in diesen Tagen. Diese Zweifel beseitigen
wir nicht im täglichen Klein-Klein. Da muss ein großer
Sprung her.
({13})
Deshalb - da bin ich mir sicher - werden wir diese
Zweifel, die ich eben beschrieben habe, nur beseitigen,
wenn wir auf die sich stellenden Fragen klar und unmissverständlich antworten.
Keine Einzelmaßnahme - nicht die Aufstockung des
Rettungsschirms, kein Euro-Bond, nicht ein weiteres
EZB-Aufkaufprogramm - wird in der Lage sein, die
Zweifel zu überwinden, von denen ich spreche. Wir
brauchen aus meiner Sicht einen wirklich umfassenden
Ansatz, der aus drei Elementen besteht:
Erstens. Wir brauchen die Gläubigerbeteiligung durch
einen intelligenten Haircut. Die Krisenstaaten Griechenland, Irland und Portugal werden auf absehbare Zeit - das
wissen Sie in der Regierung auch - nicht in der Lage sein,
auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückzukommen. Wenn die Anpassungslast am Ende nicht allein bei
den europäischen Steuerzahlern ankommen soll - darum
geht es mir -, dann muss der Weg der Gläubigerbeteiligung durch einen intelligenten Haircut beschritten werden, bevor die EZB die schlechten Anleihen wieder ins
Portfolio aufnimmt.
({14})
Zweitens - das wird unumgänglich sein, wenn wir im
Januar 2011 nicht wieder über dieselben Themen mit der
derselben Tagesordnung miteinander reden wollen -:
Damit die Krise nicht noch auf andere stabile Volkswirtschaften in Europa übergreift, brauchen wir ein klares
Signal europäischer Solidarität. Ich sage Ihnen voraus,
dass dieses Zeichen der europäischen Solidarität - auch
wenn wir das heute verdrängen; wir werden dazu gleich
noch mehrere Redner von Ihnen hören - höchstwahrscheinlich eine Unterfütterung durch einen erweiterten
europäischen Rettungsschirm braucht.
Drittens. Wir müssen endlich den Geburtsfehler der
Wirtschafts- und Währungsunion beseitigen und zu einer
politischen Union kommen. Eben wurde dazwischengerufen: Euro-Bonds. Ich finde, wir sollten uns zu schade
sein, die Fragen, die uns im Augenblick gestellt werden,
immer nur mit Ja oder Nein zu beantworten. Wenn wir
zu der politischen Union kommen wollen - und zwar mit
europäischer Solidarität, wie ich sie verstehe -, dann
müssen die Antworten anspruchsvoller ausfallen. Jeder
von uns, auch auf dieser Seite des Bundestages, weiß,
dass die Antwort nicht allein „Euro-Bonds“ lautet.
Den Weg zur politischen Union werden wir nur gehen
können, wenn wir uns in Europa auf klare Regeln und
solide Haushaltspolitik sowie auf Mindeststandards für
Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik verständigen. Das gilt
aber auch da, wo die Verständigungen am stärksten blockiert waren, etwa im Steuerrecht. Es kann doch nicht
sein, dass Länder wie Irland oder durch neue Entscheidungen jetzt auch Ungarn ihre Standards zulasten anderer Mitgliedsländer nach unten verändern.
({15})
Da brauchen wir eine engere wirtschaftspolitische Abstimmung und Homogenisierung.
Dann sage ich Ihnen: Ja, in diesem Zusammenhang
macht auch das Nachdenken über limitierte Euro-Bonds
einen Sinn. In diesem Zusammenhang sind sie tatsächlich verantwortbar. Wir sollten uns endlich aus einer
kleinlichen Instrumentendebatte befreien, die uns mit
den immer gleichen Fragen und den immer gleichen
Antworten aufgedrängt wird.
({16})
Wir müssen vielmehr die Größe der Frage erkennen, die
wir hier zu beantworten haben.
Frau Merkel, auch wenn Sie in der Regierungserklärung etwas anderes gesagt haben, sage ich Ihnen voraus:
Das meiste von dem, was ich eben als Aufgabe beschrieben habe, wird kommen, und zwar nicht nur, weil es vernünftig ist, sondern weil wir die Risiken, mit denen wir
im Augenblick zu kämpfen haben, für die Zukunft vermeiden wollen.
Ob wir den im Augenblick in Europa bestehenden
Grundzweifel an Deutschlands europapolitischer Glaubwürdigkeit beseitigen können, hängt von der entscheidenden Frage ab, wie wir uns in dem Diskussionsprozess
der nächsten Wochen darstellen, ob das alles gegen den
Widerstand eines unentschiedenen, zögernden und zweifelnden Deutschlands kommt oder ob wir die Kraft für
wirkliche Gestaltung in Europa zurückgewinnen. Ehrlichkeit, Mut und Klarheit, das ist aus meiner Sicht gefragt, nicht leere Hoffnung und Angst. Unsere Partner
erwarten von uns - darauf weise ich ausdrücklich hin ein klares Bekenntnis zum europäischen Projekt. Sie erwarten, dass wir uns eben nicht wegducken, sondern
dass wir Verantwortung übernehmen. Wenn ich sage
„Verantwortung übernehmen“, dann meine ich die europäische Verantwortung. Damit wir uns nicht missverstehen: Wenn wir europäische Verantwortung übernehmen,
dann liegt das im deutschen Interesse.
Herzlichen Dank.
({17}))
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn die Staats- und Regierungschefs in dieser Woche
zusammenkommen, um einen Krisenmechanismus für
den Euro zu beschließen und um Vertragsänderungen auf
den Weg zu bringen, dann befinden sie sich nicht nur in
dieser Hinsicht in einer außerordentlich schwierigen Situation. Es gilt, den Euro zu schützen. Es gilt, unsere
Währung zu stabilisieren, für einen harten Euro zu streiten. Aber es geht in diesem Zusammenhang auch um die
Zukunft Europas. Das ist uns klar; das ist auch der Regierung klar. Europa hat - das wissen wir; das ist hier in
der Debatte schon zum Ausdruck gekommen - für die
längste zusammenhängende Periode von Frieden, Freiheit und Wohlstand gesorgt. Deshalb wollen wir dieses
Europa stärken. Aber eine solche Stärkung wird man
nicht dadurch erreichen, dass man die Starken schwächt
oder die Prinzipien der Wirtschafts- und Währungsunion
infrage stellt oder weiter aufweicht. Es geht nur dadurch,
dass man diese Prinzipien, die Grundleitlinien der Europäischen Union, stärkt.
({0})
Die Bundeskanzlerin hat gesagt: Europa ist eine Verantwortungsgemeinschaft. Europa ist vor allen Dingen
auch eine Stabilitätsgemeinschaft. Diese Stabilitätsgemeinschaft muss im Angesicht der Krise gestärkt werden. Eine Veränderung hin zu einer Transferunion mag
dem einen oder anderen bequem erscheinen. Das würde
allerdings Europa auf Dauer schwächen und in seinen
Grundfesten erschüttern. Deshalb kämpfen wir für eine
Stabilitätskultur.
({1})
Das ist der Grund, warum sich der Deutsche Bundestag
in den letzten Wochen massiv engagiert hat. Wir haben
mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen eindeutige,
klare Beschlüsse gefasst und der Bundesregierung bei
ihren schwierigen Verhandlungen in Europa den Rücken
gestärkt. Diese Beschlüsse gelten fort.
({2})
Ich kann die Opposition in diesem Hause nur auffordern, die Bundesregierung bei der Wahrnehmung der Interessen Deutschlands in Europa, die darin bestehen,
eine Stabilisierung zu erreichen, zu unterstützen, anstatt
ihr in den Rücken zu fallen. Ich halte an dieser Stelle
fest: Die Mehrheit des Deutschen Bundestages steht klar
hinter der Verhandlungslinie der Bundesregierung.
({3})
In den letzten Wochen wurde der Rahmen für einen
dauerhaften Krisenmechanismus abgesteckt. Jetzt gilt es,
das durch entsprechende Vertragsänderungen umzusetzen; das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Es ist wichtig, das, was wir auf europäischer Ebene vereinbart haben, jetzt auch vertraglich zu formulieren.
Dazu gehört aus unserer Sicht ganz eindeutig die
Ultima Ratio. Hilfen gibt es nur als Ultima Ratio. Das
bedeutet, dass die betroffenen Staaten selbst alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, und es bedeutet genauso
- Herr Steinmeier, Sie haben das gerade angesprochen -,
dass private Gläubiger in allen Phasen beteiligt werden.
Dafür hat die Euro-Gruppe am 28. November die Grundlage geschaffen, und auf dieser Grundlage muss man
jetzt aufbauen. Für den Fall der Insolvenz ist eine zwingende Beteiligung der Gläubiger, der Haircut, vorgesehen, Herr Steinmeier. Genau das haben wir in harten
Verhandlungen erreicht. Wir haben damit genau das getan, was Sie jetzt plötzlich einfordern.
({4})
Wir sind überzeugt, dass nur mit einer solchen Beteiligung von Gläubigern Risiken minimiert werden und
dass sich Zinsen der Bonität anpassen. Wenn man die
Zinsen wirken lässt, ist das das beste Mittel, um die Eigenverantwortung zu stärken. Deshalb gilt für uns die
Ultima Ratio: Nur wer am Kreditmarkt keine Refinanzierung bekommt, kann Hilfen der europäischen Partner
bekommen. Das muss auch vertraglich entsprechend
vereinbart werden.
({5})
Herr Steinmeier, diese Koalition und diese Bundesregierung haben Verantwortung übernommen, und zwar
von Anfang an. Als es um Griechenland ging, haben wir
klar Verantwortung übernommen. Es war richtig, von
den betroffenen Ländern eigene Anstrengungen zu verlangen. Es war richtig, den IWF mit seiner Erfahrung
einzubinden. Es war richtig, dass die Bundesregierung
nicht gleich Geld ins Schaufenster gelegt, sondern zunächst einmal einen klaren Mechanismus gefordert hat.
Ja, wir haben Verantwortung übernommen, nicht nur bei
Griechenland, sondern auch für den gesamten Rettungspakt, der geschnürt worden ist. Sie, meine sehr verehrten
Damen und Herren von der Opposition, waren nirgends.
Sie haben nicht zugestimmt. Sie haben Ihre Verantwortung für Europa nicht wahrgenommen.
({6})
Deshalb sind Sie die Letzten, die dieser Bundesregierung hier Vorwürfe machen können.
({7})
Herr Steinmeier, Sie haben das Hü und Hott der letzten Tage beklagt.
({8})
Das kam doch nicht von dieser Koalition, und es kam
auch nicht von dieser Bundesregierung; sie hatte eine
klare Haltung. Ich bin überzeugt davon, dass es nicht
hilfreich ist, täglich neue Forderungen zu stellen, nachdem man sich auf die Grundstruktur eines Hilfsmechanismus verständigt hat. Diese Forderungen schüren nur
weitere Verunsicherung. Sehr geehrter Herr Steinmeier,
Sie haben hier zur EZB erklärt, sie sei auf dem Weg zu
einer Bad Bank. Das ist schlicht und ergreifend unverantwortlich. Sie reden diese Situation herbei. Das ist
nicht akzeptabel.
({9})
Sie haben hier demonstrativ Bekenntnisse zu Europa gefordert. Unser Bekenntnis zu Europa ist so klar, wie es
klarer nicht sein kann.
({10})
Sie fordern hier Bekenntnisse ein und erklären, dass
beispielsweise eine Garantie für alle Schulden anderer
Länder notwendig sei, mittelfristig auch Euro-Bonds.
Sehr verehrter Herr Steinmeier, demonstrative Bekenntnisse sind kein Ersatz für eine politische Lösung, und sie
sind vor allen Dingen kein Ersatz für eine Krisenbewältigung. Deshalb fordern wir Sie auf: Arbeiten Sie ganz
konkret an der Krisenbewältigung mit! Verlangen Sie
nicht einfach nur Bekenntnisse! Worte werden nicht reichen, um die Situation zu bewältigen.
({11})
Europa übt Solidarität.
({12})
Das ist in diesem Jahr so deutlich geworden wie selten
zuvor. Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße. Solidarität bedeutet, dass die Starken den Schwachen helfen.
Aber Solidarität bedeutet auch, dass diejenigen, die betroffen sind, selber Anstrengungen unternehmen müssen; das gehört genauso dazu.
({13})
Von dieser Solidarität hat Deutschland die größte Last
getragen. Wir sind weiter bereit, unserer Verantwortung
gerecht zu werden. Aber wir machen genauso deutlich,
dass es auf europäischer Ebene keine Vollkaskomentalität und keine Vollkaskoversicherung geben kann.
({14})
Wenn wir über die Euro-Bonds reden, dann geht es
nicht um irgendeine kleinliche Instrumentendebatte, sondern dann geht es im Kern um die Frage, ob es einen
Druck in Richtung Haushaltskonsolidierung gibt oder ob
es diesen Druck zukünftig nicht mehr gibt. Gemeinsame
europäische Anleihen führen dazu, dass diejenigen Länder, die die Haushaltssanierung in der Vergangenheit
nicht ernst genug genommen haben und die erst jetzt auf
dem Weg zur Haushaltskonsolidierung sind, diesen
Druck nicht mehr verspüren, weil sie eine Absicherung
bekommen. Gemeinsame Anleihen, das bedeutet nichts
anderes als einen Länderfinanzausgleich auf europäiBirgit Homburger
scher Ebene. Das bedeutet, dass Deutschland dauerhaft
für die Schulden anderer Länder zahlen würde. Das können wir nicht zulassen, das wollen wir nicht zulassen,
und das werden wir auch nicht zulassen.
({15})
Es ist wichtig, dass jetzt ganz klar festgelegt wird,
was europäisch vereinbart ist, nämlich das Einstimmigkeitsprinzip.
({16})
Das Einstimmigkeitsprinzip ist die Lebensversicherung
auch für die deutschen Sparer. Es stellt sicher, dass sie
nicht plötzlich für die Schulden aller anderen Europäer
in Haftung genommen werden können. Die Schulden anderer Länder müssen auch die Schulden anderer Länder
bleiben.
({17})
Weit über den Europäischen Rat hinaus gilt, dass wir
an einer Verschärfung des Stabilitätspakts arbeiten.
Dazu, sehr verehrter Herr Steinmeier, will ich Ihnen
schon sagen: Es ist dreist, was Sie sich hier erlauben:
({18})
von einer Stabilisierung zu reden, obwohl Sie diejenigen
waren, die im Jahr 2005 den Stabilitätspakt auf europäischer Ebene ausgehebelt haben.
({19})
Sie sind diejenigen, die Verantwortung dafür tragen, dass
Europa überhaupt in eine solch schwierige Situation gekommen ist.
({20})
Wir versuchen jetzt mühselig, auf europäischer Ebene
das zu erreichen, was Sie eingefordert haben,
({21})
nämlich eine Stärkung des Stabilitätspakts, einen Frühwarnmechanismus, bessere Kontrollierbarkeit, automatische Sanktionen und auch eine bessere Koordinierung in
der Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Das ist sicherlich
notwendig. Das alles ist auf den Weg gebracht und muss
in dieser schwierigen Situation verhandelt und diskutiert
werden.
({22})
Es sind harte Verhandlungen, die auf europäischer
Ebene geführt werden. Es ist ein klarer Kurs gefordert.
Dieser klare Kurs, der alle in die Solidarität nimmt, der
ein Bekenntnis zu Europa darstellt, ist ein Stabilitätskurs, an dem Europa ein vitales, eigenes Interesse hat.
Deshalb wollen wir diesen Stabilitätskurs fortführen für eine Europäische Union, die in ihren Mitgliedsländern Frieden sichert, Freiheit sichert und auch weiterhin
Wohlstand sichert. Die Bundesregierung hat bei dieser
schwierigen Aufgabe die volle Unterstützung der Mehrheit dieses Hauses und - davon bin ich überzeugt - auch
der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger, wenn sie hart
verhandelt.
Vielen Dank.
({23})
Dr. Gesine Lötzsch ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sie, Frau Merkel, eilen von einem
Großbrand zum nächsten und wollen den Eindruck erwecken, dass Sie alles im Griff haben. Die Wahrheit aber
ist, dass zahlreiche Brandherde weiter schwelen und es
nur eine Frage der Zeit ist, wann sie wieder auflodern.
Sie aber wehren sich mit Händen und Füßen dagegen,
nach den Brandursachen zu suchen, und sind auch nicht
bereit, die Brandstifter so zur Verantwortung zu ziehen,
dass sie nie wieder in die Versuchung kommen, ein
neues Feuer zu legen.
({0})
Frau Merkel, Sie sehen eine Ursache für diese Krise
in den überschuldeten Haushalten der Euro-Länder und
fordern deshalb einen eisernen Sparkurs. Das klingt für
den einen oder anderen CDU-Wähler ganz gut; doch es
hat dramatische Folgen für ganz Europa. Wir erinnern
uns: Sie wollten die Wahlen in Nordrhein-Westfalen gewinnen und Rot-Rot-Grün verhindern. Darum hatten Sie
ein so brutales Kürzungspaket für Griechenland geschnürt, dass selbst der beinharte IWF-Chef StraussKahn Bedenken anmeldete. Sie wussten doch, dass die
Griechen diese Auflagen niemals erfüllen konnten.
Trotzdem haben Sie von ihren ökonomisch unsinnigen
Forderungen nicht abgelassen.
Das Ergebnis war vorhersehbar: Griechenland befindet sich in der heftigsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg und wird seine Schulden auf absehbare Zeit nicht
zurückzahlen können. Das Beispiel Griechenland hat Sie
aber nicht bewegen können, Ihre falsche und kostspielige Strategie zu ändern. Auch Irland, Spanien und Portugal haben Sie eine entsprechende Rosskur verschrieben. Können Sie aus Ihren Fehlern nicht lernen, oder
verfolgen Sie ganz andere Ziele, Frau Merkel? Es geht
Ihnen doch gar nicht um ein gemeinsames, friedliches
Europa; es geht Ihnen vielmehr um die Rettung der Anlagen der deutschen Banken in diesen Ländern.
({1})
Deutsche Banken haben allein in Griechenland,
Irland, Portugal und Spanien 318 Milliarden Euro investiert. Diese Milliarden wollen die deutschen Banken
ohne Verluste und hochverzinst zurückhaben. Das erwarten sie von Ihnen. Frau Merkel, Sie müssen uns endlich sagen, in wessen Auftrag Sie am Donnerstag eigentlich verhandeln: Verhandeln Sie im Auftrag der
Bürgerinnen und Bürger oder im Auftrag dieser deutschen Banken?
({2})
Für beide gleichzeitig können Sie nämlich nicht verhandeln, weil die Interessen der Bürgerinnen und Bürger in
der Bundesrepublik nicht im Ansatz mit den Interessen
der deutschen Banken deckungsgleich sind.
({3})
Die Ursache der Euro-Krise sind nicht überschuldete
nationale Haushalte, sondern ist das schnelle ökonomische Auseinanderdriften der Volkswirtschaften in der
Euro-Zone. Die Agenda 2010 hat diesen Prozess noch
dramatisch beschleunigt. Ich will Ihnen das einmal an einem aktuellen Beispiel deutlich machen: In den französischen und dänischen Schlachthöfen werden Mindestlöhne gezahlt - in deutschen Schlachthöfen nicht.
({4})
Das hat dazu geführt, dass Schlachthöfe in Dänemark
schließen mussten und die französischen Arbeitgeber
von der EU fordern, in Deutschland auf Mindestlöhne zu
drängen. Die Deregulierung des deutschen Arbeitsmarktes bringt alle anderen europäischen Länder, die gerechte
Löhne zahlen, in größte Schwierigkeiten.
({5})
Es sind also nicht nur die Hochtechnologien, die zu einem deutschen Exportüberschuss führen - um mit dieser
Legende einmal aufzuräumen -, sondern es ist auch der
unfaire Wettbewerb um die niedrigsten Löhne, den die
Bundesregierung den anderen Volkswirtschaften aufzwingt. Das muss endlich ein Ende haben.
({6})
Eine andere Ursache der Euro-Krise liegt in der Fehlkonstruktion des Euro selbst. Waren die Väter des Euro
wirklich so naiv, zu glauben, dass allein die Währung in
der Lage sei, diesen unterschiedlichen Volkswirtschaften
Europas eine gemeinsame Basis zu geben? Ich sage Ihnen: Die Einführung des Euro, wie sie damals geschehen
ist, war eine Einladung zum Schuldenmachen. Mit dem
Euro in der Hand konnten auch schwache Volkswirtschaften zu niedrigen Zinsen Kredite aufnehmen und
sehr zur Freude deutscher Exporteure in Deutschland auf
Shoppingtour gehen. Das ist nämlich die Wahrheit.
({7})
Was wir jetzt brauchen, sind Investitionen in die Zukunft Europas. Selbst das regierungsfreundliche Handelsblatt fordert jetzt ein europäisches Konjunkturprogramm von 347 Milliarden Euro, um aus dieser
schweren Krise herauszukommen.
({8})
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung fordert
eine einmalige Vermögensabgabe zur Sanierung unserer
Haushalte. Doch ich sage Ihnen: Jedes Konjunkturprogramm ist für die Katz, wenn wir nicht endlich die Finanzmärkte wirksam regulieren.
({9})
Es ist doch sinnlos, wenn wir die öffentlichen Haushalte nur sanieren, damit wir wieder die Kosten der
nächsten Finanzkrise übernehmen können. Es ist für mich
völlig unbegreiflich, dass es die Bundesregierung seit
zwei Jahren nicht geschafft hat, für eine bessere Kontrolle
der Finanzmärkte zu sorgen. Neuerdings, Frau Merkel,
fordern Sie ja auch die privaten Anleger auf, ein Risiko
mitzutragen. Einverstanden. Aber warum fangen Sie
nicht gleich bei den deutschen Banken an? Worauf warten
Sie noch?
({10})
Die Linke fordert eine Finanztransaktionsteuer und
eine wirksame Kontrolle der Finanzmärkte. Wer eine
Währung ohne eine abgestimmte Wirtschafts-, Finanzund Sozialpolitik einführt, der handelt unglaublich verantwortungslos.
({11})
Es ist doch völlig absurd, in der Europäischen Union
eine Konkurrenz um die niedrigsten Unternehmensteuern überhaupt zuzulassen. Noch absurder ist es, dass Irland EU-Hilfen bekommt, ohne dass eine Anhebung der
unanständig niedrigen Unternehmensteuern vereinbart
wurde. So werden die Dinge nie in Ordnung gebracht,
meine Damen und Herren.
({12})
Wir als Linke sind der Auffassung, dass der Euro nur
gerettet werden kann, wenn die Finanzmärkte streng
kontrolliert und reguliert werden und endlich eine gemeinsame Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik vertraglich vereinbart wird. Euro-Bonds oder der Ankauf
von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank
sind im Rahmen einer Rettungsaktion als Übergangslösung wichtig. Eine grundsätzliche Revision des Lissabonner Vertrages ersetzen sie allerdings nicht.
({13})
Frau Bundeskanzlerin, überdenken Sie Ihre Rolle in
Europa! Bringen Sie unser Land nicht weiter in Verruf!
Suchen Sie nach gemeinsamen Lösungen, die Europa
stärken und nicht in Stücke reißen!
Vielen Dank.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Volker Kauder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Es war unsere Generation, die das Thema Europa in den
Mittelpunkt ihrer politischen Arbeit gestellt hat. Es war
unsere Generation, die an der deutsch-französischen
Grenze die Schlagbäume weggerissen und gesagt hat:
Wir wollen ein Europa ohne Grenzen! - Die Einheit Europas haben wir formuliert. Das ist unsere Zukunft.
Deutschland ist unser Vaterland. Europa ist unsere Zukunft.
({0})
Das waren die Formulierungen. An diesen Kernaussagen
hat sich überhaupt nichts geändert.
({1})
Wir haben in vielen, vielen Europawahlkämpfen gezeigt - viel mehr als manch anderer hier auf der linken
Seite dieses Hauses -, dass wir zu Europa stehen.
({2})
Wir haben keinen Zweifel an Europa gelassen. So bleibt es
auch in Zukunft. Wir haben alle großen Entscheidungen in
Deutschland mit Europa verbunden. Im Zusammenhang
mit einer der größten Entscheidungen der Nachkriegsgeschichte und einer der glücklichsten Entscheidungen der
Nachkriegsgeschichte haben wir schließlich immer formuliert: Deutsche Wiedervereinigung, deutsche Einheit
und europäische Einheit gehören zusammen. Ein größeres Bekenntnis zu Europa kann man gar nicht abgeben,
als wir es getan haben.
({3})
Zu diesen beiden Punkten - Deutschland als Vaterland, Europa als Zukunft - kommt heute dazu: Der Euro
ist unsere Währung. Diese drei Positionen bestimmen
unsere Politik. Wenn wir uns für den Euro einsetzen,
wenn wir alles dafür tun, dass der Euro stabil bleibt,
dann handeln wir schließlich auch im deutschen Interesse; denn der Euro ist die deutsche Währung. Diese
wollen und werden wir erhalten. Da kann sich jeder auf
uns verlassen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({4})
Wir wissen, dass die inzwischen berühmt gewordenen
Märkte auch die Solidarität in Europa testen. Ich kann
nur sagen: Sie können sich darauf verlassen, dass wir,
weil der Euro unsere Währung ist, schon aus ureigenem
Interesse alles für den Euro tun werden. Wir werden den
Spekulanten zeigen: Wir sind solidarisch in Europa. Wir
werden nicht zulassen, dass der Euro attackiert wird.
({5})
Jetzt, Herr Steinmeier, kommt es natürlich darauf an,
dass man nicht einfach so daherredet.
({6})
Auch ein Oppositionspolitiker trägt in solch schwierigen
Fragen Verantwortung. Jetzt will ich Ihnen einmal sagen,
was Verantwortung bedeutet: Ich rate dringend - dies
halte ich für außerordentlich klug -, dass weder ein Oppositionspolitiker noch jemand anderer die Unabhängigkeit unserer Notenbank in Zweifel zieht.
({7})
- Nein, Herr Steinmeier, so einfach kommen Sie nicht
davon. Es ist nicht Aufgabe des deutschen Parlaments,
darüber zu diskutieren, was die Europäische Zentralbank
in eigener unabhängiger Verantwortung tun darf oder
nicht. Das gefährdet nämlich die Dinge in Europa.
({8})
Wir alle haben ein natürliches Interesse an einem stabilen Euro. Sie selber haben - zumindest zum Start des
Euro - den Menschen versprochen, dass der Euro so stabil und hart ist wie die D-Mark. Aber kaum waren Sie in
der Regierungsverantwortung, haben Sie dies alles vergessen. Sie haben die Stabilität des Euro für einen kurzfristigen vermeintlichen Erfolg in Ihrer Regierungspolitik aufgeben. Das hat mit Verantwortung für Stabilität
nichts zu tun. Deswegen brauchen Sie aus der Opposition heute keine so großen Töne zu spucken. Sie haben
allen Grund, in sich zu gehen, und sollten hier keine solchen Reden führen.
({9})
Die Stabilität des Euro ist ganz entscheidend dafür,
dass der Satz, dass Europa unsere Stärke und Zukunft ist,
wahr wird. Der Euro wird nicht dadurch stark, wie es
heute eine Journalistin in der Welt zu Recht schreibt,
dass der Konsum national gesteuert wird und die Schulden auf die europäische Ebene gehoben werden. Dann
gibt es nämlich keinen Anreiz mehr.
Herr Kollege Steinmeier, was ist das für eine Argumentation? Sie haben mit uns allen dafür gestritten und
gestimmt, dass wir die Schuldenbremse in das Grundgesetz bringen. Aber mit der Schuldenbremse ist das, was
Sie vor wenigen Minuten hier an diesem Rednerpult gesagt haben, in keiner Weise vereinbar.
({10})
Sie sollten uns mehr darin unterstützen, dass wir auch in
anderen europäischen Ländern mehr Verständnis für
Haushaltsdisziplin und schuldenbremsende Politik bekommen, anstatt solche Reden zu führen, die niemanden
in Europa dazu motivieren, die Haushalte zu sanieren
und Schulden zurückzuführen.
Wenn ich sage, wir brauchen einen starken Euro, weil
Europa unsere Zukunft ist, dann sollten wir, wie die
Bundeskanzlerin zu Recht angemerkt hat, in diesen Tagen nicht nur auf die Rettung unserer Währung schauen.
In diesen Monaten, Wochen und Tagen findet nämlich
eine intensive weltweite Politik statt, bei der wir auf die
Stärke Europas angewiesen sind. Ich möchte es von diesem Pult einmal ausdrücklich sagen: Wir freuen uns darüber, dass Deutschland so stark und so gut aus der Krise
herausgekommen ist. Wir wissen aber auch, dass wir
trotz dieser Stärke die Dinge, die weltweit geregelt werden müssen, ohne Europa nicht regeln könnten. Das
heißt, wir brauchen Europa auch im eigenen Interesse.
({11})
Wir können doch nicht zuschauen, wie der ganze
Rohstoffmarkt auf einmal von China bearbeitet wird.
Wir können doch nicht zuschauen, wenn China auf einmal eine Afrika-Politik macht, die mit dem, was wir in
Europa wollen, nicht harmoniert. Wir müssen doch sehen, dass wir bei den WTO-Verhandlungen unsere Interessen durchsetzen. Herr Steinmeier, Sie wissen ganz genau: An diesem Pult Regelungen für eine Beteiligung
der Finanzmärkte zu fordern, ist etwas ganz anderes, als
das europaweit oder weltweit durchzusetzen. Diese Regierung müht sich.
({12})
Darin sollten Sie sie unterstützen, statt sie öffentlich zu
attackieren. Das liegt in schwieriger Zeit im nationalen
Interesse.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben deshalb allen Grund,
der Bundeskanzlerin, dem Bundesaußenminister und unserem Finanzminister viel Erfolg bei der Durchsetzung
des heute hier als richtig skizzierten Weges in den nächsten Tagen in Brüssel zu wünschen. Wir begleiten die Arbeit der Bundesregierung in diesem Sinne.
({14})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, Herr Kollege Kauder, Sie haben versucht, durch
Lautstärke einen tiefen Zwist in Ihren eigenen Reihen zu
übertönen.
({0})
Liebe Frau Merkel, wir haben Sie um diese Regierungserklärung gebeten, weil wir der Auffassung sind,
dass dieses Haus ein Anrecht darauf hat, in einer, wie
wir finden, dramatischen Situation über die Handlungsvorschläge, Alternativen und konstruktiven Ideen der
Bundesregierung zur Lösung dieser Krise informiert zu
werden. Mein Eindruck ist, dass Sie mit Ihrer Regierungserklärung der Dramatik der Situation überhaupt
nicht gerecht geworden sind.
({1})
Das reiht sich ein in die Geschichten der letzten Monate: Ihre Orientierungslosigkeit bei der Bankenrettung,
Ihr Zögern bei der Griechenland-Hilfe, Ihre falschen Versprechungen, Weiteres würde nicht folgen, Ihre ultimativ
vorgetragenen Forderungen nach Stimmrechtsentzug,
nach Rausschmiss Einzelner aus der Euro-Zone - all dies
war nicht nur europapolitisch fragwürdig, sondern es hat
die Krise auch verschärft und nicht vermindert. Das ist
das Problem.
({2})
Man könnte sagen: Das ist nicht so schlimm; denn wir
haben ja noch einen Bundesaußenminister.
({3})
Liebe Kollegin Homburger, da Sie auf die Geschichte
verwiesen, möchte ich auf eines aufmerksam machen,
was Ihre Verantwortung und Ihre Ideen angeht: Der jetzige Bundesaußenminister hat am 4. Juli 2002 hier eine
Rede gehalten.
({4})
- Da war er noch Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Fricke,
wenn Sie sich noch daran erinnern; ich weiß, Sie wollen
ihn loswerden, aber das ist die geschichtliche Wahrheit.
({5})
In dieser Rede hat er, als Vorhalt gegenüber der damaligen Bundesregierung, gesagt:
… dann reden wir über 6,5 Prozent Wirtschaftswachstum wie beispielsweise in Irland. … Der
Grund ist ganz einfach: Irland hatte wie wir eine
Staatsquote von etwa 50 Prozent, nach Jahren beträgt die Staatsquote jetzt etwa ein Drittel. Da müssen wir in Deutschland auch hin …
Von Irland lernen heißt siegen lernen.
({6})
Das waren nicht unsere Rezepte, sondern Ihre Rezepte, und das ist der Grund, warum wir Irland heute retten müssen.
({7})
Nun kommt derselbe als Bundesaußenminister und
erklärt öffentlich, Deutschland dürfe nicht zum Zahlmeister Europas werden. Meine Damen und Herren, eiJürgen Trittin
nen solchen Satz hätten Sie nie von einem Außenminister Steinmeier oder von einem Außenminister Fischer
gehört. Sie hätten ihn auch nie und nimmer von einem
Außenminister Kinkel oder von einem Außenminister
Genscher gehört; denn diese Außenminister haben sich
als Anwälte Europas in Deutschland verstanden und
nicht als Totalausfall.
({8})
Wie gehen Sie, Frau Bundeskanzlerin und Herr
Kauder, mit den Stimmen in Ihren eigenen Reihen um?
({9})
Da gibt es Herrn Dobrindt.
({10})
Er behauptet, wer für Euro-Bonds sei, der betreibe den
„Verrat deutscher Interessen“ und sei ein „Wegelagerer
Europas“. Er hat das zwar auf mich persönlich bezogen,
aber er meint natürlich jemand anderen.
({11})
Er meint einen Parteifreund von Ihnen, meine Damen
und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, nämlich ein
Mitglied der Europäischen Volkspartei, den konservativen, christdemokratischen Ministerpräsidenten Luxemburgs und Träger des Karlspreises, den Sie, verehrte
Frau Bundeskanzlerin, zum Vorsitzenden der EuroGruppe gemacht haben. Dieser sei ein „Wegelagerer Europas“. So weit ist diese Koalition mittlerweile europapolitisch gesunken. Da hätte ich mir von Ihnen ein klärendes Wort gewünscht.
({12})
Wir können die Debatte auch gerne fachlich führen.
Schauen Sie sich einmal an, wer sich neben Herrn
Juncker für dieses Instrument der Euro-Bonds eingesetzt
hat. Der Chef der konservativen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, Ihrer Schwester-, Bruder- oder Mutterpartei - ich weiß nicht, wie es bei Ihnen heißt -, hält
das für eine gute Idee. Der Chef der liberalen Fraktion,
der ehemalige belgische Ministerpräsident Guy
Verhofstadt - er wurde von Frau Merkel einmal als Präsident des Rates ins Gespräch gebracht -,
({13})
sieht es genauso.
Sie versuchen damit, eines vergessen zu machen,
nämlich dass man Euro-Bonds durchaus so konstruieren
kann, dass sie nicht zinssteigernd, sondern zinsbegrenzend wirken. Man kann sie so konstruieren, dass noch ein
Rest übrig bleibt, der nur durch nationale Anleihen gedeckt werden kann und der einen sehr großen Druck auf
diejenigen ausübt, die diese Euro-Bonds dann in Anspruch nehmen. Ohne dass ich mir alles, was Herr
Juncker aufgeschrieben hat, zu eigen machen will,
möchte ich sagen, dass dieser Vorschlag eines verdient
hätte: dass die Bundesregierung ihn ernsthaft prüft und
ihn nicht auf Zuruf der Bild-Zeitung einfach vom Tisch
wischt. Das ist keine europäische Verantwortung.
({14})
Es hätte noch etwas dazu gehört, liebe Frau Merkel.
Sie hätten der Öffentlichkeit erklären müssen, dass solche Anleihen überhaupt nichts Neues sind. Womit hat
denn in den letzten Monaten die Europäische Union
Ungarn und das Baltikum vor dem Staatsbankrott gerettet? Durch Euro-Bonds, die aufgenommen worden sind
und bei denen wir den Zinsvorteil an diese Länder weitergegeben haben. An dieser Stelle haben wir praktische
Solidarität geübt.
Was ist der europäische Krisenmechanismus, die Stabilitätsfazilität? Nichts anderes. Es werden Anleihen am
Markt aufgenommen mit den Garantien der solventen
EU-Staaten, wie wir es Gott sei Dank sind und auch bleiben wollen. Dieser Zinsvorteil wird dann an Länder wie
beispielsweise Irland weitergegeben. Was glauben Sie,
was mit den Zinsen für Anleihen passiert, wenn es jetzt
solventere Gläubiger als Irland gibt? Sie aber haben ein
sinnvolles Instrument zur Steuerung hin zu mehr Stabilität einfach vom Tisch gewischt. Das ist der Grund, warum Deutschland unter Ihrer Kanzlerschaft, liebe Frau
Merkel, mittlerweile so extrem unpopulär in der Europäischen Union ist.
({15})
Es kommt hinzu, dass Ihnen niemand Ihre Position
glaubt. Der Hintergrund dieser Krisen ist doch nicht
überbordender Staatskonsum. Das war allein in Griechenland das Problem; das ist aber nicht das Problem in
Irland, Spanien oder Portugal. Die Haushaltsdefizite in
diesen Ländern sind Ergebnisse zum Beispiel der Finanzkrise oder des Zusammenbruchs der Baubranche
nach dem Bauboom.
Wenn Sie jetzt als teutonisches Sparmonster herumlaufen - so werden Sie in vielen Ländern der Europäischen Union empfunden; es ist nicht meine Sicht -, dann
werden Sie sich einer Frage stellen müssen: Wie war das
denn im Jahr 2007? Im Jahre 2007 sind 2 Prozent unserer gesamten Wirtschaftsleistung, 25 Prozent unseres gesamten Exportüberschusses in Spanien, Italien, Irland,
Griechenland und Portugal erwirtschaftet worden. Das
heißt, wir haben als Wirtschaftsnation gut davon gelebt,
dass andere zum Kauf unserer Produkte Kredite aufgenommen haben, die sie dann nicht bedienen konnten.
({16})
Deswegen hat uns die Haltung, anderen nur Stabilität zu
predigen, aber selber konstruktive Beiträge und Lösungen zu verweigern, in Europa unpopulär gemacht.
({17})
Wir brauchen einen Abbau der gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichte; wir brauchen eine wirkliche
Wirtschaftsunion. Das sind die Schritte, vor denen Sie
zurückschrecken. Sie kommen mit der nationalen Regression à la Westerwelle oder Dobrindt nicht aus dieser
Krise heraus. Sie kommen nur mit mehr und nicht mit
weniger Europa aus dieser Krise heraus.
Es geht bei dem, was ich sage, aber nicht nur um eine
Frage der Wirtschaftspolitik. Kooperation in Europa ist
in unserem ureigenen Interesse. Für Helmut Kohl ging
es bei der Einführung des Euro um - ich zitiere - „eine
Frage von Krieg und Frieden“. Ich glaube, Helmut Kohl
hatte recht. Die Einheit Europas in Frieden basiert auf
wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Wir müssen endlich
zu einer gemeinsamen Wirtschafts- und Steuerpolitik in
diesem gemeinsamen Europa kommen. Nur dann wird
die gemeinsame Währungsunion funktionieren. Nur
dann hat dieses Europa eine Zukunft. Lieber Herr
Dobrindt, lieber Herr Westerwelle, das ist im Interesse
Deutschlands, nicht das dumme Gerede vom Zahlmeister.
({18})
Der Kollege Otto Fricke ist der nächste Redner für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Trittin, ich will Ihnen etwas zu der „Frage von
Krieg und Frieden“ sagen. Es gibt in der Nähe von Nowgorod einen kleinen Gedenkstein, auf dem der Name
meines Großvaters steht: Otto Fricke. Ich will Ihnen eines sagen: Mein Vater und viele in seiner Generation
sind ohne Vater aufgewachsen. Das lag daran, dass Europa nicht funktioniert hat. Meine Fraktion, die Koalition und die Regierung haben das begriffen. Sie versuchen an der Stelle, den Außenminister zu geben, obwohl
Sie das nie sein werden; das müssen Sie irgendwann einmal lernen.
({0})
Was hat der Kollege Trittin noch gemacht? Er hat versucht, zu sagen, dass es nicht im europäischen Sinne sei,
wenn man die Interessen des deutschen Steuerzahlers
berücksichtigt. Herr Kollege Trittin, da muss ich ehrlicherweise sagen: Ja, so denken Sie. Sie werden das Menetekel von Rot-Grün, den Stabilitätspakt aufgeweicht
zu haben, nie verlieren. Da können Sie so viel wischen,
wie Sie wollen: Die grüne Farbe wird weiterhin an der
Aufweichung des Stabilitätspaktes kleben; Sie werden
weiterhin nicht in der Lage sein, an der Stelle Lösungen
zu finden.
({1})
Noch etwas - das ist auch ein Vorwurf an den Kollegen Steinmeier -: Sie beschäftigen sich beim Thema Europa immer nur mit einer Frage, nämlich mit der Frage
der Gleichheit. Das ist Ihr wesentliches Problem. Sie
sind der Meinung, wenn alles gleich ist, ist alles gerecht,
und wenn alles gleich ist, dann haben wir auch für Europa gesorgt.
({2})
Nach diesem Motto handeln Sie auf nationaler Ebene,
indem Sie die Verschuldung hochfahren.
({3})
Das ist es, was Sie auch auf europäischer Ebene am
liebsten wollen.
Man kann an dieser Stelle nur davor warnen. Wenn
Sie für Euro-Bonds reden - Herr Steinmeier hat das getan, und Sie haben es letztlich auch getan -, dann sagen
Sie den Bürgern auch, was Euro-Bonds für den deutschen Haushalt bedeuten.
({4})
Sie bedeuten - wir konnten es in der FAZ lesen 17 Milliarden Euro jährlich an zusätzlichen Zinsausgaben. 17 Milliarden Euro! Das ist das, was Sie vom deutschen Steuerzahler haben wollen.
({5})
Man muss einmal klarmachen, wer der deutsche Steuerzahler ist. Das sind nicht nur irgendwelche Unternehmen, denen Sie etwas wegnehmen wollen. Das sind
nicht nur irgendwelche fleißigen Selbstständigen oder
Arbeitnehmer, die Lohn- und Einkommensteuer zahlen.
Das ist auch der Schüler, der sich morgens etwas kauft.
Das ist auch der Rentner, der versucht, mit seiner Rente
auszukommen.
({6})
Das sind auch diejenigen, die Mehrwertsteuer zahlen.
Das sind wir alle. Uns alle haben Sie genauso zu schützen.
Jetzt zum Thema Europa: Wenn Sie wirklich wollen,
dass wir ein zukunftsfähiges, ein starkes, ein stabiles
Europa haben, dann müssen Sie die Tatsache akzeptieren
- diese Wahrheit müssen Sie den Bürgern sagen -, dass
zu einem stabilen Europa gehört, dass man spart. Die
Bundesrepublik Deutschland hat das getan. Deswegen
spreche ich der SPD ausdrücklich meine Anerkennung
dafür aus, dass sie bei der Schuldenbremse mitgemacht
hat. Die Schuldenbremse ist der Kern. Ihre Aufgabe ist
es jetzt, nachdem Sie sie auf nationaler Ebene mitgemacht haben - hoffentlich stehen Sie noch dazu -, dieser
Bundesregierung zu helfen, damit sie sie auch auf europäischer Ebene erreicht. Ihre Verantwortung ist genauso
groß wie die der vielen anderen Demokraten in diesem
Land.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Axel Schäfer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Während der Kollege Fricke etwas von der SPD einforderte, hat das FDP-Vorstandsmitglied Chatzimarkakis
soeben erklärt: Frau Merkel hat in der Europapolitik total versagt.
({0})
Das ist alles nachzulesen. Herr Chatzimarkakis ist Mitglied des Europäischen Parlaments.
Herr Schäffler
({1})
hat zum Thema CDU erklärt, Herr Kollege Kauder:
„Schäuble führt die EU in den Geldsozialismus.“ Das ist
die europapolitische Realität dieser Koalition.
({2})
Kollege Fricke, Sie haben aus der FAZ zitiert. Ich
weiß, dass sie das Leitblatt, Ihr Leib- und Magen-Blatt
von ganz vielen auf dieser Seite des Hauses ist.
({3})
Passen Sie auf, wo Sie sich hinbegeben. Die FAZ hat am
Sonntag geschrieben: „Deutsche sollen wieder mehr
zahlen.“ Deutlicher wird sie im Innenteil: „Wir Deutsche
sollen noch mehr zahlen“, weil die Euro-Bonds
17 Milliarden Euro kosten. „Deshalb zurück zur
D-Mark?“ Um das Ganze zu toppen - ich zitiere noch
einmal -, stehen in der FAZ auf Seite 49 Tipps für Spekulanten. Das ist die europäische Wirklichkeit einer
Leitzeitung in Deutschland, auf die Sie sich beziehen.
({4})
Nehmen wir die Situation Deutschlands in Brüssel
einmal sehr genau unter die Lupe. Viele von Ihnen und
uns sind fast jede Woche dort, reden mit Kolleginnen
und Kollegen ihrer Fraktionen und der anderen Länder.
Die Situation der deutschen Europapolitik ist so katastrophal - ich bin seit 1978 in vielen Funktionen dort unterwegs -, wie wir es noch nie erlebt haben.
Ich will Ihnen das an dem ganz simplen Beispiel der
Einlagensicherung bei den Sparkassen deutlich machen.
Das, was Sie hier im Hause mit großer Zustimmung von
Populisten hinbekommen haben, die sogenannte Subsidiaritätsrüge, hat viele Scherben verursacht. Diese
Scherben räumen zurzeit die Berichterstatter der EVPFraktion, der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten, der Fraktion der Allianz der
Liberalen und Demokraten, der Fraktion der Grünen und
der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken wieder auf, damit wir die spezifischen Interessen der Sparkassen auch europarechtlich geregelt bekommen. Das
bekommen wir nicht dadurch geregelt, dass wir hier so
einen Unsinn wie die Subsidiaritätsrüge beschließen.
Das hat Deutschland geschadet. Für diesen Unsinn haben Sie von den Grünen und von den Sozialdemokraten
zu Recht keine Unterstützung erhalten. Interessanterweise hat die Linkspartei bei diesem Punkt geklatscht.
Sie sehen, in welche Konstellationen Sie sich mit dieser
Politik begeben.
({5})
Es gibt noch etwas viel Problematischeres, liebe Frau
Bundeskanzlerin. Von Ihnen wird über Vorschläge diskutiert und werden Initiativen auf den Weg gebracht, dabei aber von vornherein gesagt, dass sie für Deutschland
oder Frankreich nicht gelten sollen. Das Thema Stimmrechtsentzug ist bekanntlich nicht vom Tisch, sondern
nur auf die lange Bank geschoben worden, obwohl doch
eigentlich alle Länder gleich sind - Herr Fricke, das ist
immer noch unser Anspruch. Man bringt dann damit all
diejenigen gegen sich auf, die man braucht, wenn es um
die gemeinsame europäische Solidarität geht.
({6})
Diese Forderung nach Stimmrechtsentzug ist absurd.
({7})
Das wäre so, als würden wir in bestimmten Situationen
in Deutschland sagen - hier sitzen Vertreterinnen und
Vertreter des Bundesrates -: Weil die finanzielle Lage im
Saarland und in Bremen höchst schwierig ist, müssen
dem Saarland und Bremen die Stimmen im Bundesrat
entzogen werden. - Das ist politisch absurd und aus verfassungsrechtlichen Gründen in Deutschland nicht möglich.
({8})
In der EU geht so etwas auch nicht.
({9})
Von der europäischen Bürgerinitiative über die Frage,
wie wir jetzt mit der Krise umgehen, bis zum Thema europäische Wirtschaftsregierung, zu all diesen Punkten
gibt es von den Koalitionsfraktionen keinen Entschließungsantrag. Wir wundern uns gar nicht darüber; denn
Sie haben dazu keine Positionen. Auch das gehört zu den
Wahrheiten der Europapolitik in diesem Hause.
Axel Schäfer ({10})
({11})
Ich verspreche der Regierung eines: Was auch immer
Sie bei den Themen machen, an deren Behandlung das
Europäische Parlament im Rahmen der Gesetzgebung
beteiligt ist: Wir werden uns als sozialdemokratische
Fraktion des Deutschen Bundestages kooperativ mit unseren Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament einbringen. Wir wissen aus vielen Gesprächen: Im
Europäischen Parlament - dort geht es um Mehrheiten haben Sie für die meisten Ihrer Vorstellungen keine Unterstützung. Unsere Vorstellungen entsprechen eher denen der Mehrheit. Das werden wir konsequent parlamentarisch nutzen, weil Europa in dieser Krise mehr
Demokratie, mehr Gemeinschaft braucht. Gemeinschaft
ist nur in europäischer Demokratie möglich. Das ist unser sozialdemokratischer Weg; diesen Weg gehen wir.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Hans-Peter Friedrich
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! So flach, so seicht und so schlicht, wie diese Debatte vonseiten der Opposition geführt wird, wird sie der
historischen Herausforderung und der historischen Phase
der europäischen Integration, in der wir uns in diesen
Wochen und Monaten befinden, nicht gerecht.
({0})
In jeder Krise, so heißt es, liegt eine Chance. Ja, Krisen beschleunigen Prozesse, positiv wie negativ.
({1})
Eine Chance liegt aber nur dann in der Krise, wenn man
Defizite benennt und sie beseitigt.
({2})
Wir haben 2008 eine Nagelprobe für unsere Banken in
Europa, in der Welt erlebt, durch die Defizite aufgedeckt
wurden. Wir haben anschließend erlebt, dass die Wirtschaft einer Nagelprobe ausgesetzt wurde, durch die Defizite aufgedeckt wurden.
({3})
Wir sehen jetzt, dass die Staaten einem Stresstest ausgesetzt werden. Dabei geht es darum, Defizite zu benennen
und zu beseitigen.
Wenn wir das tun, wenn wir Defizite aufdecken und
sie beseitigen, dann wird der Euro stärker aus der Krise
hervorgehen, als er es vorher war. Unser Euro hat in den
letzten Jahren für Stabilität in Europa gesorgt. Übrigens
haben weltweit inzwischen über 40 Länder ihre Währung an den Euro angebunden. Wir sind auch stolz darauf, dass das deutsche Modell einer unabhängigen Zentralbank auf europäischer Ebene seinen Niederschlag
gefunden hat.
Lieber Herr Kollege Steinmeier, ich finde es unverantwortlich, dass Sie versuchen, die EZB zu beschädigen
und in den Schmutz zu ziehen.
({4})
Das ist nicht in Ordnung; das ist nicht patriotisch.
({5})
Wir müssen jetzt den Beweis dafür erbringen, dass
wir auch politisch in der Lage sind, Defizite zu benennen
und zu beseitigen.
({6})
Wir erleben das seit einigen Monaten in Griechenland.
Die griechische Regierung ist dabei, ihre Ausgaben um
4 Prozent und die Nettoneuverschuldung um 6 Prozent
zu reduzieren. Sie hat in all den Bereichen, in denen
Strukturveränderungen notwendig waren, Kürzungen
vorgenommen. Wir erleben das in Irland, wo die Neuverschuldung im nächsten Jahr massiv zurückgefahren
werden soll. Wir erleben das in Spanien und Portugal,
die in den beiden kommenden Jahren ihre Ausgaben um
jeweils 3 Prozent reduzieren werden. In jeder Krise liegt
eine Chance, wenn man die Defizite benennt und beseitigt. Herr Trittin, man wird natürlich nicht beliebt,
({7})
wenn man Defizite aufdeckt und fordert, sie zu beseitigen. Aber Europa braucht in dieser Phase keine Politiker, die geliebt werden wollen, sondern Politiker, die
Verantwortung für die Stabilität in Europa übernehmen.
({8})
Wir werden - das ist das Ziel der nächsten Tage und
Wochen - einen neuen europäischen Krisenmechanismus erarbeiten, der den vorläufigen Krisenmechanismus
weiterentwickelt, der für Irland sozusagen ad hoc in einer Notsituation geschaffen wurde und sich auf den Bereich der Euro-Zone beschränkt, der in den Verträgen
also in einem Bereich angesiedelt ist, der nur die EuroStaaten betrifft; ich halte das für wichtig.
Dieser neue Krisenmechanismus wird gegenüber dem
Mechanismus, der bisher für Irland gilt, modifiziert und
verbessert; ich denke, auch das ist wichtig. Entscheidend
ist, dass auch der neue Mechanismus die Aufgabe, auf
die es ankommt, nämlich Defizite aufzudecken und zu
beseitigen, erfüllt. Das ist auch die Anforderung an den
Rettungsschirm. Dabei ist es völlig irrelevant, wie groß
Dr. Hans-Peter Friedrich ({9})
dieser Schirm ist, sondern wichtig ist, dass er die Aufgaben, die er wahrzunehmen hat, erfüllen kann.
({10})
Dazu gehört auch die Beteiligung des IWF. Ich denke,
dass der Internationale Währungsfonds sowohl in Bezug
auf Griechenland als auch in Bezug auf Irland mit seiner
Expertise und seinen Möglichkeiten hilfreich gewirkt
hat.
Wir werden die Gläubigerbeteiligung einführen, die
nichts weiter bedeutet, als dass die Möglichkeit, dass ein
Staat insolvent wird und pleitegeht, aufrechterhalten
wird. Innerhalb des Mechanismus kann ein solcher Staat
allerdings aufgefangen werden, und ihm kann die Möglichkeit gegeben werden, sich zu sanieren und zu entschulden; das ist entscheidend.
Meine Damen und Herren, Europa geht den Weg in
eine Stabilitätsunion, und Deutschland geht voraus, zusammen mit Frankreich, mit den Niederlanden, mit Österreich und all den Ländern in Europa, die größtes Interesse an der Stabilität unserer gemeinsamen Währung
haben. Das gilt übrigens auch für diejenigen Länder, die
auf dem Weg zum Euro sind, zum Beispiel für Polen und
Tschechien, ob in naher oder ferner Zukunft. All diese
Staaten haben ein gemeinsames Interesse an einer stabilen gemeinsamen Währung. Wer gehört hat, welches
Hohelied der schwedische Außenminister vor zwei Wochen auf den Euro und seine Stabilität gesungen hat, der
weiß: Man schaut auf Europa. Man schaut auf die EuroZone und darauf, wie wir die Stabilität des Euros aufrechterhalten.
Die heilende Wirkung des Krisenmechanismus
({11})
mit der Zielsetzung der Aufdeckung und Beseitigung
von Defiziten wäre sofort, von heute auf morgen, beendet, wenn wir Euro-Bonds einführen würden.
({12})
Es irritiert mich sehr, dass die Einführung von EuroBonds plötzlich sowohl vonseiten der SPD als auch vonseiten der Grünen gefordert wird. Das gibt mir eine Vorstellung davon, wie das Klima wohl damals in der rotgrünen Koalition war, als man mir nichts, dir nichts und
ohne mit der Wimper zu zucken den Stabilitätspakt aufgeweicht hat
({13})
und als man, ohne Widerstand zu leisten, der Aufnahme
Griechenlands in die Euro-Zone zugestimmt hat. Das ist
Ihre Politik von damals, aus der Sie bis heute nichts gelernt haben. Deswegen sind wir froh, dass Sie in der Opposition sind.
({14})
Die Arbeit am Wachstums- und Stabilitätspakt wird
weitergehen. Es wird auch in der Zukunft eine wichtige
Aufgabe bleiben, die Sanktionen zu verschärfen, die Statistiken noch klarer, ehrlicher und transparenter zu machen und insgesamt mehr auf Indikatoren wie die Entwicklung der Gesamtverschuldung zu achten. Diese
Dinge sind nicht vom Tisch, sondern sie müssen in den
nächsten Monaten umgesetzt und politisch tragfähig gemacht werden.
Wir brauchen noch mehr Koordinierung. Aber Ihre
Forderung, Herr Trittin, nach einer Vergemeinschaftung
der Haushalts-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in Europa
bzw. im Euro-Land weise ich zurück.
({15})
Das muss auch in der Zukunft eine Aufgabe der nationalen Regierungen sein, unter Kontrolle der nationalen
Parlamente.
({16})
Auch künftig muss der Europäische Rat der Ort sein, an
dem die gemeinsame Koordinierung der nationalen Politiken stattfindet. Daran kann und darf es auch in der Zukunft keinen Zweifel geben.
({17})
Ja, wir brauchen eine stärkere Koordinierung, und wir
müssen Wege dafür finden, die Idee der deutschen Stabilitätskultur auf andere Staaten innerhalb des EuroRaums zu übertragen. Das ist ohne Frage richtig; da haben Sie recht. Ich denke, man darf dabei auch diejenigen
nicht ausschließen, die Interesse daran haben, diesen
Weg der Stabilität mit uns zu gehen, auch wenn sie den
Euro noch nicht eingeführt haben, namentlich Polen,
aber auch, wie gesagt, Tschechien und die anderen Länder, die dieses Interesse haben.
Die Menschen in Deutschland und in ganz Europa haben sich gewünscht, dass sie einen Euro bekommen, der
so stark ist wie die D-Mark. Der Euro ist heute stärker
als die D-Mark.
({18})
Dafür, dass er das auch bleibt und dass er weiterhin die
stabile Währung ist, auf die übrigens viele auch außerhalb von Europa ihre Hoffnung setzen, bürgen Angela
Merkel und diese Bundesregierung mit ihrem Kurs.
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, deswegen wünschen wir Ihnen alles Gute, viel Glück und eine glückliche Hand bei der Aufgabe, die Ihnen in den nächsten
beiden Tagen bevorsteht.
Vielen Dank.
({19})
Dr. Diether Dehm ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viel zu kurzfristig hat der Bundestag erfahren, dass
morgen auf dem Europäischen Rat ein Beschluss zur
Änderung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV - gefasst werden soll. Das ist
ganz sicher ein Vorhaben nach dem Zusammenarbeitsgesetz. Hier spreche ich Sie an, Herr Lammert, der Sie
sich, wie man hört, auch in Ihrer Partei oft beherzt für
die Rechte nach diesem Zusammenarbeitsgesetz einsetzen.
({0})
Darüber hätte die Bundesregierung den Bundestag rechtzeitig informieren müssen,
({1})
und sie hätte dem Parlament rechtzeitig die Möglichkeit
zur vorherigen Stellungnahme geben müssen. Das hat
sie nicht getan. Frau Bundeskanzlerin, damit haben Sie
ein weiteres Mal Ihre gesetzlichen und verfassungsmäßigen Pflichten grob verletzt.
({2})
Der Vertrag von Lissabon ist jetzt gerade einmal ein
Jahr in Kraft. Alle Probleme der EU sollten damit gelöst
werden, und er sollte lange Zeit unverändert bleiben.
Das verkündeten die Bundesregierung, aber auch SPD
und Grüne damals mit viel Pathos. Das alles ist jetzt
Schall und Rauch. Schon jetzt ändern Sie das Vertragsrecht radikal, indem Sie die Bail-out-Klausel außer Kraft
setzen.
Die Ursachen für die Finanzkrise bleiben also unangetastet, zum Beispiel dieser irrsinnige Art. 63 AEUV,
wodurch jegliche Beschränkung des turbokapitalistischen Finanzverkehrs verboten wird. Der US-Milliardär
Warren Buffett, den Sie ja oft wegen seiner Spenden loben, nannte diese Spekulationsgeschäfte - Zitat - „finanzielle Massenvernichtungswaffen“. Sagen wir es einmal
klar: Die Profiteure von Hunger, Massenarbeitslosigkeit,
Krieg und Finanzkrise lassen Sie unangetastet.
({3})
Ohne die Einführung einer sozialen Fortschrittsklausel, wie Sie von Gewerkschaften, Christen, Attac und
den Linken gefordert wird, zerreißen Sie die EU. Das ist
keine Science-Fiction-Vision: Da brennende Autos in
den Vorstädten von Paris und Athen, hier gut bewachte
Paläste. Ihre EU bleibt die EU derer, die sich Parteispenden in Höhe der Allfinanz und der Familie Quandt leisten können.
Die aggressive deutsche Exportstrategie, die durch
ein immer weiteres Herabpressen der deutschen Lohnstückkosten - die Lohnstückkosten und damit die deutschen Löhne entwickeln sich auch jetzt wieder nach unten - und damit durch das Herabpressen der Kaufkraft
charakterisiert ist, schießt sich selbst ins Knie und produziert immer mehr Zahlungsunfähigkeit in der EU.
Frau Homburger und Herr Fricke, Herr Kubicki hat
die FDP ja mit der DDR im Zerfallsprozess verglichen.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Soeben meldet n-tv, die
Südwest-FDP fordere den Rücktritt von Westerwelle.
Herr Westerwelle, ich weiß nicht, ob Sie das schon mitbekommen haben.
({4})
- Der ist schon weg; das ist richtig. Einigen wir uns darauf.
Eines jedenfalls ist klar: Wenn ich Sie höre, Herr
Fricke und Frau Homburger, dann kommt mir das tatsächlich vor wie weiland Erich Honecker - mit einer
kleinen Änderung -: Den Neoliberalismus in seinem
Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.
({5})
Wenn es mit dem Neoliberalismus in seinem Lauf abwärts ging, haben sich schon mancher Ochs und mancher Esel daran versucht, diese Fahrt abwärts abzubremsen. Der Neoliberalismus ist hoffnungslos verloren.
({6})
Meine Damen und Herren, wir wollen mit unserem
Entschließungsantrag ein transparentes Änderungsverfahren des Vertrags erreichen. Sie wollen ein sogenanntes vereinfachtes Verfahren, weil Sie die Öffentlichkeit
scheuen wie der Vampir das Tageslicht.
({7})
Sie wollen heute eine vertragswidrige intransparente Ermächtigung für einen sogenannten Stabilisierungsmechanismus zur Fortsetzung Ihrer EU-Politik für Ackermann
und die Superreichen.
({8})
Wer Euro-Bonds jetzt so dogmatisch verweigert,
treibt die EU auseinander. Sie, Frau Merkel, sind eine
Antieuropäerin par excellence.
({9})
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. - Letztlich wird diese Krise
zur Verstaatlichung des gesamten Kreditsektors führen,
nicht nur der Schrottbanken, sondern auch der Deutschen Bank als Diktatorin deutscher Wirtschaftspolitik
seit 1933; denn wenn Kredite das Blut der Wirtschaft
sind, dann dürfen wir die Blutbank nicht mehr länger
den Vampiren überlassen.
({0})
Michael Stübgen ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich möchte am Schluss dieser Debatte versuchen, unsere Aufmerksamkeit noch einmal darauf zu
lenken, was morgen beim Europäischen Rat zur Entscheidung ansteht. Es geht um Folgendes - Herr Dehm,
hören Sie genau zu -: Der Rat strebt eine politische Einigung auf eine kleine Vertragsänderung nach Art. 48 des
Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union
in Art. 136 AEUV, den Euro-Artikel, an. Der formelle
Beschluss über die Vertragsänderung soll im März nächsten Jahres gefasst werden. Selbstverständlich werden wir
dafür sorgen, dass der Bundestag im Vorfeld - so wie es
das Integrationsverantwortungsgesetz vorschreibt - das
Einvernehmen mit der Bundesregierung zu dieser Vertragsänderung herstellt. Aber wir sind jetzt schon in der
Lage, ziemlich genau über das, was geplant ist, zu diskutieren.
Da will ich zwei Anmerkungen machen. Ich höre ständig die Behauptung, die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen hätten in den letzten Monaten keinen klaren Kurs darüber gehabt, was wir in Europa ändern
müssen. Ich will Sie daran erinnern: Nachdem wir im
Mai dieses Jahres sehr kurzfristig und sehr schnell den
europäischen Rettungsschirm beschlossen haben, haben
wir von Anfang an in aller Klarheit darauf hingewiesen,
dass - erstens - dieser europäische Rettungsschirm nur
ein befristetes Notinstrument sein kann und dass - zweitens - wir darangehen müssen, im sekundärrechtlichen
Teil des Vertrages den Stabilitätsvertrag deutlich zu verschärfen, deutlich zu verändern. Aber wir haben auch
von Anfang an klargemacht, dass es notwendig sein wird,
eine Vertragsänderung anzustreben.
({0})
Ich kann mich daran erinnern, dass viele Leute in
ganz Europa gesagt haben: Bloß keine Vertragsänderung; das ist alles sehr kompliziert. - Wir haben daran
festgehalten, dass es sein muss.
Was ist seit Mai/Juni dieses Jahres passiert? Seit September liegt der Vorschlag der Europäischen Kommission, das sogenannte Governance Package, vor, eine Anzahl von Verordnungen und Richtlinien, die zu einer
nachhaltigen Verschärfung des Stabilitätspakts in Europa
führen werden. Es gibt seit Oktober einen einstimmigen
Vorschlag der Task Force des Europäischen Rates, der in
einzelnen Teilen minimal anders ist als der Vorschlag der
Europäischen Kommission. Wir werden in der Lage sein,
bis zum Sommer des nächsten Jahres - so ist der Zeitplan
des Europäischen Parlaments, der Fachministerräte und
der Europäischen Kommission - diese sekundärrechtliche Änderung durchzusetzen. Das ist ein Quantensprung
in unserem Bemühen darum, in Zukunft ähnliche
Schwierigkeiten und Katastrophen auf den Finanzmärkten bzw. ähnliche Verschuldungssituationen in Mitgliedsländern und Euro-Ländern verhindern zu können. Darauf
muss man hinweisen.
({1})
Des Weiteren haben wir immer gesagt, dass es nicht
ausreichen wird, nur sekundärrechtliche Änderungen
vorzunehmen, sondern um eine dauerhafte Einrichtung
des Stabilitätsmechanismus zu ermöglichen, der ausreichend vertraglich fixiert ist, und um dauerhaft in der
Lage zu sein, notleidenden Staaten zu helfen, müssen
wir auch eine Vertragsänderung anstreben. Genau diese
kleine Vertragsänderung wird diskutiert.
Die Euro-Gruppe und der letzte Ecofin-Rat haben sehr
konkrete Vorschläge gemacht, die in etwa auch morgen
zur Debatte und zur Beschlussfassung vorliegen werden.
Das führt dazu, dass wir zum einen den Stabilitätsmechanismus dauerhaft sichern. Zum Zweiten wollen wir festlegen, dass bei Verlust der Schuldentragfähigkeit eines
Euro-Mitgliedslandes ein geordnetes Umstrukturierungsverfahren mit Einbeziehung der privaten Gläubiger ermöglicht und auch in den Zusatzverträgen vertraglich
festgelegt wird.
Diese Vertragsänderung wollen wir bis zum Jahr 2012
umsetzen. Wir sind dabei auf einem guten Weg. Vor wenigen Wochen allerdings - das muss ich ehrlich sagen sah es nicht so aus, als ob wir dazu in der Lage sein würden.
Wirklich verwirrend und schwierig ist aber in der öffentlichen Diskussion zurzeit die Tatsache, dass es eine
unüberschaubare Vielzahl von mehr oder weniger durchdachten Vorschlägen gibt, wie man mit der Euro-Krise
umgehen könnte. Ich will nur auf zwei Tickermeldungen
von heute Morgen hinweisen. Reuters schreibt: „Steinbrück
und Steinmeier plädieren für Eurobonds“. Zeitgleich
schreibt die dapd, Steinmeier habe im ZDF-Morgenmagazin gesagt, mit Euro-Bonds sei das Problem nicht zu lösen. - Es scheint ja sehr gradlinig zu sein, was Sie wollen.
({2})
Wir haben heute von Herrn Steinmeier gehört, dass er
sich für limitierte Euro-Bonds ausspricht. Haben Sie den
Vorschlag von Jean-Claude Juncker nicht gelesen? Darin
geht es um limitierte Euro-Bonds. Also wollen Sie die
Euro-Bonds, wie Juncker sie vorschlägt. Des Weiteren
fordern Sie einen intelligenten Haircut. Haben Sie nicht
gelesen, was die Euro-Finanzminister beschlossen haben? Das geplante Vorgehen bei Verlust der Schuldentragfähigkeit eines Landes sieht einen intelligenten Haircut vor. Was wollen Sie mehr? Sie könnten dann doch
- aber dazu werden Sie sich sicherlich nicht durchringen
können - unseren Vorschlägen zustimmen.
Ich will noch kurz auf einen breit diskutierten Vorschlag eingehen, den der Premierminister von Luxemburg,
Jean-Claude Juncker, vor kurzem gemacht hat: die Einführung der sogenannten Euro-Bonds. Im Übrigen ist dieser Vorschlag von Jean-Claude Juncker nahezu identisch
mit dem Vorschlag des Brüsseler Instituts Bruegel.
Gestatten Sie mir drei kurze Anmerkungen dazu - das
muss man wissen, bevor man lauthals Euro-Bonds fordert -: Erstens würde die Einführung der Euro-Bonds
eindeutig eine große Vertragsänderung bedeuten. Wir
bräuchten dazu auf europäischer Ebene einen Konvent,
eine Regierungskonferenz
({3})
und zig verschiedene Referenden. Ich erinnere nur daran, wie lange wir gebraucht haben, um den LissabonVertrag umzusetzen, der einst als Verfassungsvertrag geplant war. Das dauert Jahre. Wir haben aber nicht jahrelang Zeit, zu diskutieren. Wir müssen jetzt entscheiden.
Zweitens - das ist schon mehrfach angesprochen worden -: Wenn wir Euro-Bonds bekämen, würden sie mit
Sicherheit sofort zu einer deutlichen Steigerung der
deutschen Zinslast und damit zu Milliarden Mehrausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden führen. Das
muss man den Menschen sagen, bevor man sie als kommendes Heilsinstrument beschreibt.
({4})
Drittens. Viele glauben - das ist eine trügerische
Hoffnung -, dass die Spekulationen plötzlich aufhören
würden, wenn wir Euro-Bonds bekämen. Ich sage Ihnen
voraus, dass das nicht passieren wird, und zwar aus folgendem Grund: Jean-Claude Juncker schlägt vor, dass
sich die Euro-Bonds, das heißt die gemeinschaftliche
Absicherung, auf bis zu 40 Prozent der Verschuldung der
Nationalstaaten im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt
beziehen sollen. Die Frage ist: Was ist mit dem Rest der
Verschuldung? Nahezu alle Euro-Länder haben eine
deutlich höhere Verschuldung als 40 Prozent. Es würde
wahrscheinlich nur Tage dauern, bis es zu Spekulationen
auf den Kapitalmärkten und zu einer Diskussion darüber
kommt, ob wir nicht auf 60, 80 oder 100 Prozent gehen
müssten. Dann wäre das Dilemma schlimmer als heute.
({5})
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die kleine Vertragsänderung als Ziel der Bundesregierung. Wir hoffen,
dass es morgen zu einer klaren und deutlichen Einigung
für diese kleine Vertragsänderung kommt.
({6})
Schon Anfang nächsten Jahres werden wir in diesem
Haus detailliert über die Inhalte dieser Vertragsänderung
einschließlich der Folgegesetze debattieren.
Danke schön.
({7})
Zum Schluss der Debatte erhält der Kollege
Dr. Michael Luther ebenfalls für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Europa ist uns wichtig, Europa ist richtig. Das
ist die richtige Antwort in einer globalen Welt.
({0})
Europa ist auf einem guten Weg.
({1})
Europa hat sich bewährt und bewährt sich auch heute
noch.
({2})
Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat alle, auch uns in
Deutschland, kalt getroffen. In Deutschland sind wir gut
aus der Krise herausgekommen, weil wir die Zeichen der
Zeit verstanden und gesagt haben: Wir müssen konsolidieren und unsere Wirtschaft stärken. Das wird in
Deutschland von den Märkten honoriert.
Mit dem Blick auf Europa muss man aber feststellen,
dass die Finanz- und Wirtschaftskrise Probleme aufgedeckt hat, die es zu lösen gilt. Aus dem, was Frau Merkel
hier vorgetragen hat und was mein Kollege Herr Stübgen
in seiner Rede gerade wiederholt hat, ergeben sich die
richtigen vernünftigen, kleinen Schritte, die jetzt getan
werden müssen, um aus den entstandenen Problemen zu
lernen und um Stabilität auf den Finanzmärkten in Europa wiederherzustellen.
Vorhin habe ich Herrn Steinmeier zugehört. Ich fand
beeindruckend, dass er sagte: Was wir brauchen, ist ein
kräftiges Signal. - In der weiteren Rede habe ich zunächst außer Kritik vonseiten der Opposition nichts weiter gehört.
({3})
Dann kamen allerdings zwei Vorschläge, nämlich der
intelligente Haircut und die limitierten Euro-Bonds.
Beide Vorschläge halte ich für limitiert intelligent.
({4})
Was wir in Europa brauchen, ist Solidarität. Das haben wir zum Beispiel mit dem Rettungsschirm gezeigt.
Dieser Rettungsschirm allein funktioniert jedoch nicht,
wenn er nicht mit Hausaufgaben für die betroffenen Länder verknüpft wird. Die europäischen Staaten, die den
Rettungsschirm in Anspruch nehmen wollen, müssen
sich mit den Fragen der Haushaltskonsolidierung und
der Konsolidierung ihrer Wirtschaft beschäftigen, wie
das auch Deutschland getan hat.
Man muss sich die Frage stellen: Warum sind die
Märkte so nervös? Sie sind nervös, weil sie sich Sorgen
über die Wirtschafts- und Finanzlage in bestimmten
Ländern machen und weil sie diese Situation beunruhigt.
Für mich stellt sich die Frage, ob uns in dieser Situation
Euro-Bonds etwas nutzen.
Ich habe versucht, mir das Ganze an einem einfachen
Beispiel zu verdeutlichen. Stellen Sie sich vor, Ihr Sohn
erzählt Ihnen eines Tages, dass er in der letzten Zeit leider einige Schulden gemacht und über seine Verhältnisse
gelebt hat. Er gibt also mehr Geld aus, als er hat.
({5})
Was machen Sie dann? Sie könnten natürlich zuschauen,
wie er mit dieser Situation zurechtkommt. Das machen
Sie als Familienvater aber nicht, weil Sie sich sagen: Wir
sind eine Familie, und eine Familie ist eine Solidargemeinschaft, in der man sich gegenseitig hilft. - Genauso
machen wir es in der Europäischen Union.
Wie helfen Sie Ihrem Sohn? Sie überlegen mit ihm
gemeinsam, warum diese Situation eingetreten ist und
was man tun kann, um aus ihr herauszukommen.
({6})
Erst danach machen Sie sich daran, die aktuellen Finanzprobleme in den Griff zu bekommen.
({7})
Notfalls werden Sie das Konto Ihres Sohnes ausgleichen.
({8})
Es gibt noch eine dritte Möglichkeit. Man könnte seinem Sohn sagen: Mein lieber Sohn, ich erteile dir Kontovollmacht, gebe dir meine Kreditkarte, und du kannst
so weitermachen wie bisher. - Um nichts anderes handelt es sich bei den Euro-Bonds.
({9})
Es geht eben nicht, dass manche Schulden machen
und alle anderen dafür haften sollen. Das trägt nicht zur
Lösung der vorhandenen Probleme bei. Die Finanzmärkte werden ihr Augenmerk darauf richten, ob die
Haushalte und die Wirtschaft in den betroffenen Ländern
in Ordnung sind oder nicht. Erst wenn die einzelnen
Wirtschaftslagen in Ordnung gebracht werden, werden
sich die Finanzmärkte beruhigen.
Ich sage an dieser Stelle ganz klar: Auf die CDU/CSU
und die FDP ist Verlass. Wir werden in Solidarität mit
den anderen europäischen Staaten uns darum bemühen,
dass die Solidargemeinschaft Europa funktioniert. Aber
wir werden jede Solidarität an die Erfüllung der richtigen und notwendigen Hausaufgaben knüpfen. Wir unterstützen ausdrücklich Frau Merkel auf dem vor uns liegenden Gipfel des Europäischen Rats. Das, was die Frau
Bundeskanzlerin vorgetragen hat, sind die richtigen
Schritte. Es geht um robuste Krisenbewältigungsmaßnahmen. Es geht um die Einbindung privater Gläubiger.
Es geht um eine tiefere wirtschaftspolitische Integration.
Es geht aber nicht um die Vergemeinschaftung von Risiken.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge, und zwar zunächst zur Abstimmung über
den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/4183. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD
und Grünen bei Enthaltung der Linksfraktion abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/4184. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/4185. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen von
SPD und Grünen abgelehnt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Fraktionen haben vereinbart, dass die Regierungsbefragung heute insgesamt 45 Minuten dauern soll.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
verfahren wir so.
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung wehrrechtlicher Vorschriften 2011 und
Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes.
Das Wort für die einleitenden je fünfminütigen Berichte haben zunächst der Bundesminister der Verteidigung, Herr Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, und
anschließend die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Kristina Schröder. - Bitte
schön, Herr Minister.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung hat heute die Eckpunkte zur Neuausrichtung der Bundeswehr und als ersten Schritt zu deren
Umsetzung den Entwurf eines Gesetzes zur Aussetzung
des Grundwehrdienstes und zur Einführung des freiwilligen Wehrdienstes beschlossen. Ich darf an dieser Stelle
vielen von Ihnen für zahlreiche Impulse und hilfreiche
Hinweise, die aus den Facharbeitsgruppen aller Fraktionen gekommen sind, danken.
Mit den heute verabschiedeten Eckpunkten bekräftigen wir unsere Absicht, die Bundeswehr als leistungsfähiges Instrument unserer Sicherheitspolitik zu stärken
und sie konsequent auf die heutigen und absehbaren Herausforderungen auszurichten. Mit den beschlossenen
Eckpunkten decken wir vier entscheidende Bereiche ab.
Wir sorgen zum Ersten dafür, dass die Bundeswehr ihren
Auftrag entsprechend den aktuellen und in Zukunft zu
erwartenden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen erfüllen kann. Wir leiten daraus zum Zweiten den erforderlichen Gesamtumfang der Streitkräfte ab. Wir
schaffen zum Dritten eine Wehrform, die unter Berücksichtigung der aktuellen sicherheitspolitischen Lage eine
angemessene Abwägung zwischen Freiheit und bürgerschaftlicher Verantwortung darstellt und dabei zumindest konzeptionell nicht auf eine Rekonstitutionsfähigkeit verzichtet. Wir stärken zum Vierten insgesamt die
Kosteneffizienz und den verantwortlichen Umgang mit
knappen Ressourcen.
Es ist deshalb folgerichtig, dass wir zeitgleich mit den
Eckpunkten eine Gesetzesnovelle zum Wehrpflichtgesetz auf den Weg bringen. Die Pflicht zum Grundwehrdienst wird zum 1. Juli 2011 ausgesetzt. Anstelle des
Grundwehrdienstes tritt ein neuer freiwilliger Wehrdienst von 12 bis 23 Monaten für junge Frauen und
junge Männer. Weder die verfassungsrechtliche noch die
einfachgesetzliche Grundlage der Wehrpflicht wird
gänzlich abgeschafft. Im Kern wird damit die Verpflichtung zum Grundwehrdienst ausgesetzt.
Dies unterstreichen wir zunächst dadurch, dass wir
den neuen freiwilligen Wehrdienst im Wehrpflichtgesetz
verankern. Auf der Grundlage der bei den Meldebehörden erhobenen Daten werden wir künftig junge Menschen mit Informationsmaterial über einen Freiwilligendienst in der Bundeswehr versorgen. Dies gewährleistet,
dass wir möglichst alle potenziellen Interessenten erreichen. So stellen wir sicher, dass diejenigen, die echtes
Interesse haben, auch eine ausführliche persönliche Beratung erhalten können. Damit ist zugleich sichergestellt,
dass wir junge Frauen und Männer gleichermaßen erreichen. Dieses Verfahren ist datenschutzrechtlich völlig
unproblematisch und zudem mit einem vergleichsweise
geringen bürokratischen Aufwand verbunden. Diese
neue Form einer Datenerfassung tritt an die Stelle der
bisherigen Erfassung, die aber im Spannungs- und Verteidigungsfall wie die gesamte Verpflichtung zum
Grundwehrdienst wieder aufleben würde.
Im Vorgriff auf die gesetzliche Regelung lässt sich gewährleisten, bereits ab dem 1. März des kommenden
Jahres niemanden mehr gegen seinen Willen einzuberufen. Wir haben zu diesem Zeitpunkt zwar noch die gesetzliche Ermächtigung, werden von ihr aber nur insoweit Gebrauch machen, als junge Männer sich damit
einverstanden erklären, freiwillig weiterhin Grundwehrdienst leisten zu wollen. Sie können dann bei Interesse
und Eignung in den freiwilligen Wehrdienst überführt
werden.
Meine Damen und Herren, ich bin sehr zuversichtlich, dass wir genügend Interessenten ansprechen können; denn wir werden den freiwilligen Wehrdienst attraktiv ausgestalten. Den Wehrsoldzuschlag, der bislang
für zusätzlichen freiwilligen Wehrdienst Leistende erst
ab dem siebten Dienstmonat gezahlt wurde, erhalten die
freiwillig Wehrdienst Leistenden künftig von Anfang an.
Wir verdeutlichen damit, dass junge Männer und junge
Frauen ihren Dienst in der Bundeswehr im Sinne eines
staatsbürgerlichen Engagements leisten können, ohne
sich gleich berufsmäßig als Soldat auf Zeit verpflichten
zu müssen. Hierdurch können wir bewährte Verfahrensregeln, zum Beispiel bezüglich der Personalgewinnung,
sowie bestehende rechtliche Vorgaben für den Grundwehrdienst auch für den freiwilligen Wehrdienst für anwendbar erklären. Dies dient nicht zuletzt einer sehr unbürokratischen und schnellen Umsetzung.
In meinen Augen ist es selbstverständlich, dass gesetzgeberische Entscheidungen, gerade wenn mit ihnen
neuartige Institutionen wie der freiwillige Wehrdienst
verbunden sind, regelmäßig auf ihre Praktikabilität und
ihre gesellschaftliche Akzeptanz überprüft werden. Wir
haben uns darauf verständigt, bis zum 1. Januar 2013
eine einheitliche Rechtsgrundlage für den freiwilligen
Dienst in den Streitkräften zu schaffen. Hier werden Erfahrungen mit dem freiwilligen Wehrdienst entsprechend einfließen.
Wehrform, -umfang, -strukturen, -fähigkeiten und -ausrüstung stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Dies
wird deutlich, wenn wir uns mit den Eckpunkten die
Konturen der Neuausrichtung vergegenwärtigen. Mit
den beschlossenen Eckpunkten kann die Neuausrichtung
beginnen, und in den nächsten Monaten werden wir die
notwendigen Feinausplanungen dafür leisten.
Vielen Dank.
Frau Ministerin, bitte.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Bundeskabinett hat heute die Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes beschlossen. Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf wollen wir zum Ersten die Einsatzkräfte,
die durch die Aussetzung des Zivildienstes wegfallen,
soweit es irgend geht kompensieren. Zum Zweiten werden wir mit diesem Gesetzentwurf einen Auftrag des
Koalitionsvertrages umsetzen, nämlich die Stärkung der
Freiwilligendienste der Länder.
Die Debatte über den Wegfall des Zivildienstes wurde
in den letzten Monaten von Bürgern, Trägern und Verbänden mit großem Interesse verfolgt. Es wurde deutlich, dass sich sehr viele Menschen Gedanken darüber
machen, was es bedeutet, wenn der Zivildienst wegfällt.
Jeder von uns hat Erfahrungen aus seinem Wahlkreis
und weiß um die besondere Bedeutung der Leistung der
Zivis für die Humanität unserer Gesellschaft. Hier geht
es um Dinge wie „Essen auf Rädern“, um behinderte Jugendliche, die von Zivis in die Schule begleitet werden,
oder um die alte Dame, die nur mithilfe ihres Zivis auch
einmal in den Garten kommt und frische Luft schnappen
kann. Angesichts der Arbeit, die die Zivis leisten, sind
sie uns allen in den letzten Jahrzehnten sehr ans Herz gewachsen.
Die Aussetzung der Wehrpflicht, mit Sicherheit einer
der größten Veränderungsprozesse der letzten 20 Jahre,
hat nicht nur Bedeutung für die Bundeswehr, sondern
auch Bedeutung für das Leben von jungen Männern. Sie
hat Bedeutung für die soziale Infrastruktur unserer Gesellschaft. Aber es ist ganz klar: Man kann die Wehrpflicht nicht über den Zivildienst begründen. An dem
Tag, an dem die Wehrpflicht endet, endet auch der Zivildienst.
Natürlich ist das deshalb schade, weil uns in Zukunft
die Zivis fehlen werden; aber es ist auch gerade deswegen schade, weil der Zivildienst für viele junge Männer
bisher die einzige Möglichkeit war, Interesse an einem
sozialen Beruf zu finden und mit diesen Feldern in Kontakt zu kommen. Die wenigen Männer, die zum Beispiel
in Kitas arbeiten, kamen in der Regel über den Zivildienst in diesen Beruf hinein.
Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, uns Gedanken
darüber zu machen, wie wir die Aussetzung des Zivildienstes so weit wie irgend möglich kompensieren können. Das bringen wir mit dem Entwurf eines Gesetzes
zur Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes auf den
Weg. Gleichzeitig stärken wir damit die Freiwilligendienste der Länder.
Die Eckpunkte werden Ihnen bekannt sein:
Wir wollen den Bundesfreiwilligendienst für Männer
und Frauen öffnen. Wir wollen ihn für Menschen jeder
Altersgruppe öffnen.
Die Regeldauer des Bundesfreiwilligendienstes soll
12 Monate betragen; 6 bis 18 Monate sollen möglich
sein, 24 Monate in Ausnahmefällen.
Wir wollen, dass der Bundesfreiwilligendienst von
unter 27-Jährigen in Vollzeit und von über 27-Jährigen
mit mindestens 20 Stunden die Woche geleistet wird.
Der Hintergrund für diese Regelung ist folgender: Wenn
man das weiter herunterschrauben würde und zum Beispiel einen Dienst für zehn oder fünf Wochenstunden ermöglichen würde, liefe man Gefahr - so unsere Befürchtung -, ehrenamtliches Engagement zu verdrängen, etwa
im Katastrophenschutz. Ich glaube, das will niemand
von uns.
Der Bundesfreiwilligendienst soll arbeitsmarktneutral
gestaltet werden. Es dürfen keine regulären Arbeitsplätze ersetzt werden. Es geht allein um unterstützende
Tätigkeiten.
Der Bundesfreiwilligendienst soll in den Bereichen
und an den Einsatzorten des bisherigen Zivildienstes geleistet werden. Hinzu kommen Einsatzbereiche wie
Sport, Integration, Kultur, Bildung sowie Zivil- und Katastrophenschutz.
Die Freiwilligen werden gesetzlich sozialversichert.
Ihr Taschengeld handeln sie wie beim FSJ und FÖJ mit
den Trägern aus. Es gibt aber eine einheitliche Obergrenze für Ost und West. Unterhalb dieser Obergrenze
kann frei vereinbart werden.
Durch die Ressortabstimmung, aber auch durch die
intensiven Gespräche mit den Ländern und Verbänden
haben wir sehr viele und sehr wertvolle Anregungen bekommen. Ich bin stolz darauf, dass mir Träger gesagt haben, sie seien bei einem Gesetzgebungsverfahren noch
nie so gut eingebunden worden wie in diesem Fall. Gerade auch der Ausbau der Jugendfreiwilligendienste auf
Länderebene wird ausgesprochen begrüßt.
Jetzt geht es darum, mit der eigentlichen Arbeit zu beginnen; denn wir haben erst den kleinsten Teil der Arbeit
geschafft. Jetzt stehen wir vor der großen Gemeinschaftsaufgabe, dafür zu werben, dass möglichst viele
Männer und Frauen sich in dem neuen Bundesfreiwilligendienst engagieren. Wir dürfen nicht darauf warten,
bis das Ganze im Bundesgesetzblatt steht, sondern im
Grunde beginnt die Arbeit heute. Es geht darum, klarzumachen, dass der Bundesfreiwilligendienst nicht nur
eine Bereicherung für die Gesellschaft, sondern auch
eine Bereicherung für jeden Einzelnen ist, der diesen
Dienst tut. Bund, Länder, Hochschulen und Unternehmen sind aufgefordert, Anreize zu schaffen, damit der
Dienst so attraktiv wie irgend möglich wird.
Danke schön, Frau Ministerin.
Ich bitte nun, zunächst Fragen zu den Themenbereichen zu stellen, über die soeben berichtet wurde. Der
Erste, der sich gemeldet hat, war der Kollege Markus
Grübel. Sodann folgt Hans-Peter Bartels.
Frau Bundesministerin, der Bundesfreiwilligendienst
soll für alle Altersgruppen offen sein, auch für Menschen
über 27 Jahre, also auch für Seniorinnen und Senioren,
unter der Bedingung - so haben Sie gerade gesagt -, dass
mindestens 20 Wochenstunden geleistet werden. Ist das
realistisch? Gewinnen wir so genug Menschen?
Meine zweite Frage richtet sich an den Herrn Bundesminister: Durch welche begleitenden Maßnahmen wollen Sie die Attraktivität des freiwilligen Wehrdienstes
steigern? Sie haben das Thema Wehrsold angesprochen.
Wie sollen konkret Information und Werbung gestaltet
werden? Im Grunde muss der aktuelle Abiturjahrgang
zeitnah angesprochen werden, bevor sich die Abiturienten um einen Studienplatz kümmern oder andere Wege
einschlagen.
Frau Ministerin, bitte.
Herr Kollege, in der Tat gehen wir mit unserer Absicht, auch ältere Menschen hierfür zu gewinnen, einen
neuen Weg; wir betreten Neuland. Ich bin aber optimistisch, dass es uns gelingen wird, viele ältere Menschen
für den Bundesfreiwilligendienst zu gewinnen. Wir wissen zum Beispiel aus dem Freiwilligensurvey der Bundesregierung, dass ein Drittel der über 65-Jährigen bereits ehrenamtlich engagiert ist und sich ein weiteres
Drittel gerne engagieren würde, dem aber noch der richtige Anknüpfungspunkt fehlt. Der Bundesfreiwilligendienst kann ein solcher guter Anknüpfungspunkt sein.
Die Frage hinsichtlich der 20 Wochenstunden haben
wir uns natürlich auch gestellt. Ich weiß, dass es aus der
Verbandsszene einzelne Überlegungen gab, diese Stundenzahl noch etwas herunterzufahren, zum Beispiel auf
zehn oder acht Stunden. Ich befürchte allerdings - das
habe ich schon geschildert -, dass dann reguläres ehrenamtliches Engagement verdrängt und plötzlich formalisiert würde. Ich glaube nicht, dass wir das wollen. Deshalb sage ich: Wir sollten erst einmal schauen, ob wir
unter diesen Voraussetzungen - 20 Stunden pro Woche genug Ältere finden, die bereit sind, den Bundesfreiwilligendienst zu leisten. Ich meine, dafür gibt es gute Hinweise. Aber natürlich werden wir auch dieses Gesetz
ständig überprüfen.
({0})
Nun antwortet der Minister.
Herr Kollege, die Frage der Attraktivität ist eine entscheidende. Sie gilt, wenn man so will, im Grunde für
alle Laufbahngruppen der Bundeswehr. Aber wenn wir
nach der Aussetzung des Grundwehrdienstes junge Menschen tatsächlich dafür gewinnen wollen, einen freiwilligen Dienst zu leisten, dann muss die Maßgabe sein, dass
jemand, der zur Bundeswehr kommt, sie besser ausgebildet und besser qualifiziert verlässt, als er es zu dem Zeitpunkt war, als er eingetreten ist. Das mag banal klingen;
aber das hat etwas damit zu tun, dass wir die Aus-, Fortund Weiterbildungsangebote, die wir bereits vorhalten,
weiter verbessern und weiter verbessern können. Es gibt
weitere Punkte - einen Punkt, der sich finanziell niederschlagen würde, habe ich schon genannt -, die wir
bereits in einem ganz breiten Attraktivitätsprogramm angelegt haben. Dazu sollen Anfang des Jahres Entscheidungen getroffen werden, auch mit Blick auf eine Priorisierung. Das ist sehr wichtig; denn wir können nicht
alles auf einen Schlag umsetzen.
Es wird aber auch darauf ankommen, bei Fragestellungen, die wir nicht alleine von der Bundesseite aus beantworten können, bei denen wir aber auch im Zusammenhang mit dem, was Kollegin Schröder gerade
vorgetragen hat, durchaus einen Mehrwert sehen würden, die Länder mit einzubinden. Wenn ein solcher
Dienst in der Gesellschaft entsprechend honoriert werden soll, dann muss man diese Honorierung auch darstellen können. Zum Beispiel könnte jemand, der diesen
Dienst leistet und sich dann um einen Studienplatz bewirbt, einen Bonus erhalten. Das geht aber nur mit einer
entsprechenden Begleitung durch die Bundesländer, aus
denen wir aber positive Signale bekommen, dass ein solcher Punkt mit aufgenommen werden soll.
Berufliche Weiterqualifikation, Ausbildung, Führerschein - diese Punkte habe ich bereits genannt -, das
sind Ansätze, die wir in dem weiteren Prozess noch ergänzen können.
Danke.
Nun hat Hans-Peter Bartels das Wort. Danach folgt
Kai Gehring.
Herr Minister, wir begrüßen die Korrekturen, die die
Bundesregierung jetzt vorgenommen hat und mit denen
sie sich in unsere Richtung bewegt: weg von dem unsinnigen W 6 - das war ein untauglicher Kompromiss zu
Anfang der neuen Koalition -, hin zu einem freiwilligen
Dienst in der Bundeswehr. Das ist ein vernünftiges Konzept, das wir gemeinsam tragen wollen. Das Konzept
geht auch weg von der Zahl der doch zu wenigen
7 500 jungen Leute im Freiwilligendienst - das wäre
eher symbolisch gewesen - und hin zu der größeren Zahl
von 15 000 jungen Leuten, die Sie in die Struktur der
Bundeswehr einbauen wollen.
Daraus ergibt sich folgende Frage: Auch wenn die
Musterung wegfällt, soll weiterhin erfasst werden. Der
Dienst wird für Frauen und Männer sein; aber erfasst
werden nur die jungen Männer. Ihnen soll mit einem
Brief Informationsmaterial zugeschickt werden. Ist das
genug? Oder müsste man nicht in einer ganz neuen und
viel breiter angelegten Weise für diese neue Kultur der
Freiwilligkeit, die wir hier im Hause, wie ich glaube, gemeinsam wollen, werben, etwa mit einer Woche der
Freiwilligendienste? Man könnte sich überlegen, ob die
Regierung, einzelne Ressorts oder vielleicht sogar der
Bundestag das anregt und einmal im Jahr eine Woche
der Freiwilligendienste ausrichtet, in der sich alle diese
Dienste - dazu gehört auch der Dienst in der Bundeswehr - in den Schulen, in der Öffentlichkeit, in den Medien vorstellen, um für diese Angebote zu werben. Es
wäre problematisch, wenn am Ende von einem über
50 Jahre gelebten Dienst an der Gemeinschaft nur ein
Brief übrig bleibt.
Herr Minister, bitte.
Herr Kollege Bartels, ich stimme mit Ihnen überein:
Ein Brief allein wird nicht reichen, um den Grundgedanken des Freiwilligendienstes an der Gesellschaft zu festigen und ihn wirklich zu etwas zu formen, das über das
hinausreicht, was wir heute vorfinden. Gelegentlich ist
es sogar so, dass dieser Dienst so gut wie überhaupt
keine Honorierung findet. Manche junge Menschen haben sogar einen Nachteil, wenn sie sich, nachdem sie
diese neun oder sechs Monate durchlaufen haben, beBundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
werben. Es soll nun dazu kommen, dass man daraus eher
einen Vorteil zieht.
Das Verfahren sieht so aus, dass sich, wie ich vorhin
gesagt habe, die neue Form der Erfassung von Daten, die
nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen betrifft,
auf einen Kernbereich von Daten beschränkt; das ist im
Gesetzentwurf so festgelegt. Ich finde den Gedanken,
eine Woche des Freiwilligendienstes bzw. Tage des Freiwilligendienstes auszurichten, sehr reizvoll. Wir sollten
uns auch überlegen, in welchen Bereichen man die Möglichkeit hat, möglichst viele junge Menschen auf den
Wert des freiwilligen Dienens hinzuweisen. Ich denke da
beispielsweise an die Schulen. Die Schulen sind einer
der wenigen Bereiche, in dem man quasi jeden jungen
Menschen ansprechen kann. Man darf jetzt nicht in Panik verfallen - das tun wir wahrscheinlich alle nicht -,
dass in den Schulen nunmehr für Auslandseinsätze geworben würde; eine entsprechende Diskussion hatten
wir in diesem Jahr schon. Ein Werben für den Wert der
Freiwilligkeit sollte man aber durchaus andenken, und
man sollte jede Möglichkeit, wie man diesen Gedanken
vertiefen kann, in Ansatz bringen.
Ich möchte noch einen Gedanken hinzufügen: In den
nächsten Monaten, in der Phase des Übergangs, ist es
ganz wichtig, dass wir die Kreiswehrersatzämter, die wir
jetzt noch vorhalten, aber bei denen sich noch einiges
ändern wird, so umgestalten - das ist eine Frage der
Feinausplanung -, dass sie in der Form, die am Ende in
veränderten Ansätzen entstehen wird, zunehmend Dienstleister in der Hinsicht werden, dass ihre Angebote so unterfüttert werden, dass junge Menschen angesprochen
werden. Damit kann diesen, wenn sie kommen, ein breiteres Angebot dargestellt werden, als es im Zweifelsfall
in einem Brief möglich ist. Dies sei vielleicht noch als
komplementärer Gedanke hinzugefügt.
Jede kreative Idee - das sage ich über alle Parteigrenzen hinweg -, die dazu beiträgt, den Grundgedanken der
Freiwilligkeit in diesem Lande zu stärken, ist herzlich
willkommen und wird selbstverständlich mit in die
Überlegungen aufgenommen.
Nun bitte Kai Gehring, danach Heidrun Dittrich.
Vielen Dank. - Vielen Dank auch für den Auftritt als
Duo an die Frau Ministerin und den Herrn Minister.
Noch besser wäre es sicherlich gewesen, wenn Sie als
Quartett aufgetreten wären, indem Sie auch Bundesbildungsministerin Schavan, die sich jetzt für die Schaffung von circa 150 000 Ausbildungs- und Studienplätzen verantwortlich fühlen muss, und Herrn Rösler
mitgebracht hätten, der jetzt zusehen muss, wie auch im
Rahmen der Pflegereform der Wegfall des Zivildienstes
kompensiert wird.
({0})
Sie vier hätten eigentlich zusammen eine konsistente
Gesamtstrategie entwickeln müssen, wie man aus Wehrpflicht und Zivildienst aussteigt, und entsprechende Alternativen aufbauen müssen.
Wir als Grüne haben nach wie vor Kritik an der Doppelstruktur. Ich würde die Ministerin gerne noch einmal
fragen: Werden die beiden verschiedenen Freiwilligendienste, also der Bundesfreiwilligendienst auf der einen
Seite und die bewährten Freiwilligendienste der Länder,
wie Sie es nennen, in Form von FSJ und FÖJ auf der
anderen Seite, jetzt an jedem Punkt und durchgängig
komplett gleiche Bedingungen haben, oder wird es in
einzelnen Punkten noch Unterschiede zwischen dem
Bundesfreiwilligendienst und den Freiwilligendiensten
der Länder geben? Wenn ja, mit welcher sachlichen und
fachlichen Begründung gibt es diese Unterschiede zum
Beispiel beim Kindergeld, bei der Anerkennungskultur,
beim Trägerprinzip etc.? In dem Zusammenhang stellt
sich auch die Frage: Wohin wollen Sie eigentlich? Welche Strukturen wollen Sie in fünf Jahren haben? Soll es
dann nur noch einen Bundesfreiwilligendienst geben,
oder soll es dann Länderfreiwilligendienste geben, die
auf den bewährten Strukturen aufbauen?
Ist im Kabinett auch Thema gewesen - vielleicht
kann das Herr Guttenberg beantworten -, ob eine Pflegeversicherungsreform kommt und in diesem Zusammenhang das Problem geklärt wird, dass künftig nicht alle
Zivildiensttätigkeiten ersetzt werden können? Also:
Welche Bedingungen, welche Strukturen, welche Angebote will die Bundesregierung jetzt eigentlich vorsehen,
um die wegfallenden Zivildienstleistenden zu ersetzen?
Mit dem Bundesfreiwilligendienst allein geht es nach eigenen Angaben eben nicht.
Bitte, Frau Ministerin.
Herr Kollege Gehring, herzlichen Dank für Ihre Fragen. Zunächst eine Bemerkung, weil Sie auch das Ressort von Frau Kollegin Schavan und die Befürchtung angesprochen haben, dass jetzt sehr viele Studierende auf
die Universitäten zukämen und das Probleme für die
Universitäten mit sich bringe. Wir haben sehr ernsthaft
darüber gesprochen. Uns ist bewusst, dass es diese Folgen gibt. Allerdings ist der Bundesfreiwilligendienst,
den ich vorschlage, eine Maßnahme, um gegen den starken punktuellen Andrang von Studierenden etwas zu unternehmen; denn je mehr junge Männer und Frauen wir
für den Bundesfreiwilligendienst gewinnen können,
umso eher entspannt sich die Lage an den Hochschulen.
Insofern ist der Bundesfreiwilligendienst kein Auslöser
der Probleme an den Hochschulen, sondern - ganz im
Gegenteil - ein Mittel, damit sich die Situation an den
Hochschulen entspannt.
Zu dem zweiten Punkt, den Sie angesprochen haben,
nämlich zu Ihrer Kritik, warum man Freiwilligendienste
einerseits auf Länderebene und andererseits auf Bundesebene anbietet. Wir haben schon oft darüber gesprochen;
das ist richtig. Ich denke, in den letzten Monaten ist auch
bei den Trägern die Überzeugung gereift, dass es ein
Fehler gewesen wäre, wenn wir die bestehenden Strukturen zerstört und alles auf Bundesebene gebündelt hätten. Es gab ja ein entsprechendes Ansinnen, angeführt
von Frau Kollegin Schwesig. Dies hätte aber bedeutet,
dass die bestehenden Strukturen auf Landesebene, nämlich FSJ und FÖJ, erst einmal plattgemacht worden wären. Wenn man, wie Frau Schwesig, für das FSJ keinen
einzigen eigenen Euro ausgibt, dann mag das nicht so
wehtun. Aber es gibt Länder, die gerade ihr Freiwilliges
Ökologisches Jahr mit unglaublich viel Herzblut gestalten, und es ist ein Unterschied, ob man das Freiwillige
Ökologische Jahr im Wattenmeer oder in den Alpen
macht. Deswegen glaube ich, dass es richtig ist, dass die
Länder weiterhin dafür verantwortlich sind. Wir sind froh
darüber, dass wir diese hoffentlich bald 35 000 Plätze haben.
In der Tat ist der Grundgedanke, die beiden Formate,
wo immer es geht, aneinander anzugleichen, sodass der
einzelne Freiwillige im Idealfall überhaupt nicht merkt,
um welche Rechtsform es sich handelt. Dort, wo es noch
Unterschiede gibt, beispielsweise beim Kindergeld,
muss ein Ausgleich erfolgen. Noch einmal: Im Idealfall
ist es dem Einzelnen völlig gleichgültig, um welche
Rechtsform es sich handelt. Auch für die Träger ist das
nichts Neues; denn sie haben in aller Regel bisher sowohl FSJ und FÖJ als auch Zivildienst durchgeführt. Sie
haben die Mittel schon aus zwei Töpfen bezogen, und so
wird es bleiben; denn das hat sich gut bewährt.
Herr Minister.
Herr Kollege Gehring, ich kann die Frage relativ zügig beantworten: Es hat heute Morgen keine Diskussion
über eine etwaige Reform der Pflegeversicherung gegeben.
Dann Kollegin Heidrun Dittrich, anschließend ErnstReinhard Beck.
Frau Ministerin, Sie haben soeben erklärt, dass das
Kindergeld bei einem Freiwilligendienst auf Länderebene gezahlt wird, beim Bundesfreiwilligendienst aber
offensichtlich nicht, und dass Sie das ausgleichen wollen. Ist Ihnen die Benachteiligung von Eltern im öffentlichen Dienst bekannt? Wenn das Kindergeld für eine Zeit
entfällt, dann entfallen im öffentlichen Dienst auch die
kindbezogenen Leistungen und leben auch nach Beendigung des Bundesfreiwilligendienstes nicht mehr auf. Die
Familien, die ihre Kinder in den Bundesfreiwilligendienst schicken, wären somit benachteiligt. Es könnte
aber auch sein, dass die Kindergeldkasse weiter zahlt
und hinterher festgestellt wird: Das war kein FSJ im
Bundesland XY; das war der Bundesfreiwilligendienst.
Liebe Eltern, zahlen Sie bitte die Beträge zurück! Sind Ihnen diese Punkte bekannt? Wenn ja: Warum
behandeln Sie nicht beide Fälle gleich und vereinheitlichen das? Denn es wird ein ähnlicher Dienst mit denselben Inhalten abgeleistet.
Die zweite Frage. In Ihrem Gesetzentwurf fehlt vollkommen die Begründung der Arbeitsmarktneutralität.
Sie behaupten diese zwar, aber sie steht nicht im Gesetzentwurf. Wie können Sie also begründen, dass diese
Dienste zusätzlich sind, sonst nicht erbracht würden oder
nicht in dem Umfang erbracht werden könnten, und warum wird diese Anforderung nicht im Gesetz festgeschrieben?
Frau Ministerin, bitte.
Frau Kollegin Dittrich, ich weiß nicht, mit wie vielen
FSJlern oder auch Zivis Sie in den letzten Monaten gesprochen haben. Die Frage, ob das Kindergeld entweder
in Form des Taschengeldes mit ausgezahlt werden soll
oder ob es weiter an die Eltern fließt, ist durchaus umstritten. Viele, die einen Freiwilligendienst leisten, sagen
uns, sie fänden es wesentlich besser, wenn das Geld Bestandteil ihres Taschengeldes wäre und nicht automatisch weiter an die Eltern ausgezahlt würde. Deswegen
glaube ich nicht, dass es eindeutig die bessere Lösung
ist, weiter das Kindergeld auszuzahlen, wie Sie es hier
suggerieren. Wir haben festgestellt, dass es durchaus
sehr viele Argumente dafür gibt, das Geld in das Taschengeld zu integrieren, wie wir es jetzt vernünftigerweise auf Bundesebene machen.
Ihre zweite Frage war, warum der Punkt der Arbeitsmarktneutralität nicht im Gesetzentwurf stehe. Er steht
drin; das können Sie nachlesen. Wir haben diesen Punkt
im Rahmen der Ressortabstimmung mit aufgenommen.
Danke schön. - Nun Ernst-Reinhard Beck, anschließend Harald Koch.
Herr Minister, Sie haben vorhin darauf hingewiesen,
dass der Übergang von der Wehrpflichtarmee zur Freiwilligenarmee ein historischer Einschnitt in die Bundeswehr ist und dass sich vieles ändern wird. Dazu zwei
kurze Nachfragen.
Die erste Frage: In welcher Weise verändern sich
durch diese Gesetzgebung die Aufgabe und die Rechtsstellung der Reservisten? Oder ist daran gedacht, auch in
der Reservistenkonzeption Veränderungen vorzunehmen?
Die zweite Frage: Markenkern der Wehrpflichtarmee
waren das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform und das
Prinzip der Inneren Führung. Welche Auswirkung hat
die Reform auf diese beiden Grundprinzipien?
Vielen Dank, Herr Kollege Beck, für die beiden Fragen. Es ist tatsächlich so, dass ein wesentlicher Bestandteil der großen Bundeswehrreform eine Reform der Reservistenkonzeption sein wird und sein muss. Wir haben
hochmotivierte, erstklassige Reservisten in diesem unserem Lande. Aber wir hören immer wieder von Reservisten, auch was das künftige Aufgabenspektrum anbelangt, dass wir ihnen mehr Verantwortung geben können
und geben sollten. Schon vor diesem Hintergrund ist es
ungemein wichtig, dass wir auch hier die Strukturen verändern, dass wir die Verantwortungsbereiche erweitern
und beispielsweise klare Kommandostrukturen bei den
Reservisten schaffen. Es gibt Aufgabengebiete, die vielen gar nicht bekannt sind. So befinden sich etwa schon
zahlreiche Reservisten in Auslandseinsätzen. Wir brauchen sie gerade im Bereich der zivil-militärischen Zusammenarbeit oder zum Beispiel bei Naturkatastrophen.
Diese Konzeption wird derzeit unter Federführung
von Generalleutnant Weiler, dem stellvertretenden Generalinspekteur, erarbeitet. Auch hier sind viele Impulse
aus den Reihen des Parlaments, über alle Fraktionsgrenzen hinweg, mit eingeflossen und fließen sicher auch
künftig mit ein. Im kommenden Jahr - in diesem Jahr
schaffen wir es nicht mehr - werden wir dann ein entsprechendes Reservistenkonzept auf den Weg bringen.
Die zweite Frage ist ganz entscheidend in Bezug auf
das Grundverständnis unserer Streitkräfte. Es ist tatsächlich so, dass wir in den letzten Jahrzehnten mit dem Modell der Wehrpflicht eine Verstärkung des Prinzips des
Staatsbürgers in Uniform und des Prinzips der Inneren
Führung darstellen konnten. Deswegen muss es unser
Anspruch sein, auch unter den neuen Strukturen im Rahmen des neuen Modells, das wir jetzt schaffen, diesbezüglich keinerlei Abstriche zu machen. Für alle Soldatinnen und Soldaten - egal welche Laufbahngruppe, egal
ob freiwillig Wehrdienstleistende oder Berufssoldaten,
egal ob Mannschaftsdienstgrad, Unteroffizier oder Offizier - sollte das Prinzip der Inneren Führung und des
Staatsbürgers in Uniform weiterhin gelten. Es ist nicht
zwingend allein an die Wehrpflicht gebunden, sondern
auch an das Verständnis von Ausbildung und an die
Frage, wie sich Gesellschaft und Bundeswehr wechselseitig zueinander verhalten. Dieser Anspruch bleibt
maßgeblich und wird die künftigen Strukturen und somit
auch die Ausbildung der Soldatinnen und Soldaten wie
auch in den vergangenen Jahrzehnten prägen.
Danke schön. - Nun Harald Koch und anschließend
Michael Groschek.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich weiß jetzt nicht,
wer von Ihnen beiden, Frau Ministerin und Herr Minister, meine erste Frage beantworten will. Das können Sie
selbst entscheiden. Nach welchen Kriterien, in welcher
Frequenz und in welcher Tiefe soll das Bundesamt für
den Zivildienst überprüfen, ob auch beim Bundesfreiwilligendienst strikte Arbeitsmarktneutralität gewährleistet
bleibt?
Meine zweite Frage richtet sich auf jeden Fall an Sie,
Frau Ministerin. Wie wollen Sie sicherstellen, dass trotz
erhöhter Förderpauschalen für die bestehenden Jugendfreiwilligendienste die durch den Bundesfreiwilligendienst geschaffene unnötige und zudem teure bürokratische Doppelstruktur zwischen Bund und Ländern nicht
zur Verdrängung bzw. Existenzvernichtung von sozialen
Trägern, Verbänden und gemeinwohlorientierten Einrichtungen führt? Ich bin Mitglied in zwei Freiwilligendiensten und habe in den letzten Wochen viele Gespräche in dieser Richtung geführt. - Danke schön.
Wer von Ihnen beiden möchte antworten? - Bitte
schön.
Ich glaube, beide Fragen gehen an mich. - Herr Kollege, Ihre erste Frage bezog sich auf die Überprüfung der
Arbeitsmarktneutralität. Die Überprüfung dieses wichtigen Kriteriums ist für das Bundesamt für den Zivildienst
nichts Neues; denn es hat schon bisher die Dienststellen
im Zivildienstbereich regelmäßig daraufhin überprüft.
Das ist auch einer der Gründe, warum ich sage: Wir werden weiterhin die sehr schlanke Struktur des Bundesamtes brauchen, weil die Überprüfung der Arbeitsmarktneutralität nur von einer neutralen Instanz wie dem
Bundesamt geleistet werden kann. Das können die Träger nicht selbst tun; darauf können wir uns nicht verlassen.
Deshalb wird es so weiterlaufen, wie es schon bisher
erfolgreich beim Zivildienst der Fall gewesen ist. Wenn
eine Einrichtung eine neue Dienststelle für den Zivildienst werden will, dann wird geschaut, zu welchen Tätigkeiten und in welchen Feldern Zivildienstleistende
eingesetzt werden sollen. Außerdem wird die Frage geklärt, ob irgendeine Gefahr besteht, dass bestehende
Arbeitsplätze ersetzt oder verdrängt werden. Wenn es
später Hinweise auf Probleme in Bezug auf die Arbeitsmarktneutralität gibt, dann wird ihnen selbstverständlich
nachgegangen und dann wird interveniert werden. Das
kann zu einer Aberkennung des Status als Dienststelle
führen. Genauso werden wir es beim Bundesfreiwilligendienst umsetzen.
Ihre zweite Frage bezog sich auf Existenzverdrängung. Sie sehen die Gefahr, dass Landesfreiwilligendienste verdrängt werden könnten. Genau deswegen haben wir uns so intensiv darum bemüht, zu einer
gleichwertigen Ausgestaltung - wenn irgendwie möglich - zu kommen. Von keinem Dienst kann man sagen,
er sei der bessere. Schauen Sie sich einmal die Obergrenzen für das Taschengeld an! Wenn Sie alles zusammenrechnen, dann kann man eine Gleichbehandlung
feststellen.
Wir haben die Pauschalen für die Landesfreiwilligendienste massiv erhöht; wir haben sie fast verdreifacht.
Damit stellen wir sicher, dass alle Dienste gleicherma8844
ßen attraktiv ausgestaltet sind. Ich gehe sogar noch weiter: Wenn es irgendwie möglich ist, sollten begleitende
Seminarangebote gemeinsam gemacht werden. Was die
politische Bildung angeht, könnte dies sogar zusammen
mit den freiwillig Wehrdienstleistenden in der Bundeswehr geschehen. Da haben wir viele Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass der Einzelne keine Unterschiede hinsichtlich der jeweiligen Rechtsform spürt, indem wir alle
gleich ausgestalten. Da mache ich mir - anders als Sie keine Sorgen um eine Verdrängung.
Nun Kollege Michael Groschek und anschließend
Kollegin Annette Groth.
Wir lernen täglich, wie wichtig eine gleichberechtigte
weibliche Repräsentanz im militärischen Bereich ist. Vor
diesem Hintergrund frage ich die Bundesregierung, was
sie angesichts der neuen Wehrerfassung von Frauen zu
tun gedenkt, um eine möglichst gleichberechtigte Teilhabe beider Geschlechter an beiden Dienstformen zu erreichen. Ich bin mir sicher: Die Bundesregierung teilt
meine Meinung, dass es nicht zur klassischen Rollenverteilung aus der Zeit vor der Jahrhundertwende kommen
sollte, bei der die weiblichen Erfassten - im Prinzip mit
der Schürze - die zivilen Freiwilligendienste leisten und
die männlichen Erfassten - im Prinzip mit der Schutzweste - die militärischen Freiwilligendienste. Insofern
interessiert es mich, was die Bundesregierung zusammen mit der Bundeswehr und den Trägern der zivilen
Dienste zu tun gedenkt, um eine gleichberechtigte Teilhabe beider Geschlechter an beiden Dienstformen zu erreichen.
Herr Minister, bitte.
Herr Kollege Groschek, zunächst einmal ist es wichtig, dass die Ansprache junger Männer und Frauen keine
Gewichtung zum Vorteil des einen oder anderen erkennen lässt, sondern junge Männer und Frauen gleichermaßen angesprochen werden. Deswegen gibt es die neue
Form der Datenerfassung und die Möglichkeiten, die daraus erwachsen mögen. Die Zielsetzung ist völlig klar:
Wir wollen seitens der Bundeswehr mehr junge Frauen
ansprechen, in den Dienst der Bundeswehr zu treten. Da
wird es mit der Ansprache allein nicht getan sein. Vielmehr wird man hier dafür zu sorgen haben, dass wir
auch in dieser Hinsicht, was die Angebote anbelangt, attraktiver werden müssen.
Sie haben vorhin von der „Schutzweste“ gesprochen.
Da geht es um etwas furchtbar Banales, was trotzdem
unglaublich wichtig ist: Der Mangel an Schutzwesten für
Frauen ist ein Problem im Einsatz. Wir können schlichtweg nicht alle Größen über Jahre hinweg vorhalten. Jetzt
ist ein Projekt im Gange, um das zu ändern. Das Beispiel
zeigt aber, dass sich das Denken in den letzten Jahren
gänzlich verändert hat. Wir gehen gezielt an die damit
verbundenen Herausforderungen heran.
Die Entwicklung der letzten Jahre beim Dienst von
Frauen in der Bundeswehr ist an sich gut. Der Dienst der
Frauen ist nicht alleine auf die Sanität beschränkt: Mittlerweile übernehmen Frauen auch in ganz anderen Bereichen Verantwortung; das soll gezielt gefördert werden. Hier stecken wir aber in einem Prozess, in dem wir
sicherlich auch gefordert sind, unsere Werbemaßnahmen
entsprechend umzustellen und zu optimieren.
Danke schön. - Nun Kollegin Annette Groth, anschließend Kollege Patrick Kurth.
Herr Minister, Ihre Argumentation vorhin in puncto
Wettbewerbsfähigkeit bzw. -verzerrung hat mich noch
nicht überzeugt. Wir alle wissen - es ist nicht schön, das
zu hören -, dass 1-Euro-Jobs auch reguläre, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze verdrängt haben und
verdrängen. Wenn es einen Freiwilligendienst gibt, bei
dem der Bund die Personalkosten trägt, dann hat der Arbeitgeber dadurch einen prima Wettbewerbsvorteil. Ich
befürchte, dass das zulasten anderer Freiwilligendienste
geht, die in eine totale Konkurrenzsituation geraten, vor
allen Dingen, wenn die Freiwilligen im Rahmen des
neuen Bundesfreiwilligendienstes viel länger arbeiten
müssen als bisher die Zivildienstleistenden. Wie wollen
Sie eine solche Entwicklung ausschließen? Wenn ich als
Arbeitgeberin jedes Jahr aufs Neue Gelder beantragen
muss, komme ich in Teufels Küche und in große
Schwierigkeiten.
Bitte schön, Frau Ministerin.
Zunächst eine Klarstellung: Die Freiwilligen müssen
ihren Dienst nicht länger versehen, sondern sie können
es. Sie sind nämlich Freiwillige.
Ich glaube, an dieser Stelle wird das Grundproblem
deutlich, das in den vielen Disputen zwischen der Linken und mir immer wieder durchschimmerte: Wir haben
ein ganz unterschiedliches Verständnis von Freiwilligkeit, und wir schätzen auch den Wert der Freiwilligkeit
für unsere Gesellschaft unterschiedlich ein. Sie stellen
Freiwilligkeit und Freiwilligendienste ständig unter den
Generalverdacht, dass dadurch Arbeitsplätze verdrängt
werden, dass dadurch Lohndumping möglich wird, dass
dadurch eine ungünstige Konkurrenzsituation entsteht.
Wir hingegen sagen erst einmal: Wir freuen uns über jeden, der sich freiwillig engagiert. Wir sind dankbar für
jeden, der sich freiwillig engagieren will. Freiwillige
leisten etwas Großartiges für unsere Gesellschaft, und
zwar nicht in Bereichen, in denen sie durch reguläre Arbeitskräfte ersetzt werden könnten. Wir wären sehr arm,
wenn es dieses freiwillige Engagement nicht gäbe. Das
ist der Grund. Wenn Sie sich anschauen, in welchen BeBundesministerin Dr. Kristina Schröder
reichen Freiwillige eingesetzt werden, stellen Sie fest,
dass das keine Bereiche sind, in denen dadurch Wettbewerbsvorteile entstehen. In diesen Bereichen findet vielmehr die Kür und nicht die Pflicht statt. Wenn wir uns
darauf einigen könnten, wären wir schon einen Schritt
weiter.
Nun fragt Patrick Kurth und danach als letzter Fragesteller Sönke Rix.
Herr Minister, ich komme auf die Kreiswehrersatzämter zurück, die im Zusammenhang mit der Reform
von wesentlichen Aufgaben entbunden werden sollen.
Auch die zivilen Mitarbeiter brauchen Planungssicherheit. Wann rechnen Sie mit einer neuen Konzeption, mit
einer neuen Ausrichtung der Kreiswehrersatzämter?
Zweite Frage. Sie sprachen von der Bundeswehr als
Teil der Gesellschaft und sagten, dass sie auch weiterhin
in die Mitte der Gesellschaft gehört. Muss man nicht
auch darüber nachdenken, wie man mit Standorten in Innenstädten umgeht, ob auf diese Standorte, Kasernen
und Garnisonen nicht möglicherweise eine veränderte
Verantwortung zukommt, damit sie weiterhin als Teil der
Gesellschaft verstanden werden?
Bitte schön, Herr Minister.
Vielen Dank, Herr Kollege Kurth. Zunächst zu den
Kreiswehrersatzämtern: Den Kreiswehrersatzämtern
kommt derzeit eine hochverantwortungsvolle Rolle zu.
Zum einen sind sie gefordert, den Status quo bis zum
30. Juni bzw. 1. Juli 2011 aufrechtzuerhalten, das heißt
in bekannten Strukturen zu arbeiten. Ich weise aber noch
einmal darauf hin, dass wir den Kreiswehrersatzämtern
das Angebot machen, sich im nächsten Jahr, beginnend
mit dem 1. März 2011, zu erneuern. Der junge Mensch
wird entsprechend anders darauf zurückgreifen können.
Dann wird er nicht mehr gegen seinen Willen eingezogen werden. In dieser Übergangszeit werden sich die
Kreiswehrersatzämter ihren neuen Aufgaben zuzuwenden haben. Letztlich werden sie in die Dienstleistungsstruktur in veränderter Form eintreten. Wir wollen sehr
bald, das heißt, in den nächsten zwei, drei Monaten,
Klarheit darüber haben, wohin die Reise geht und wie
sich die Kreiswehrersatzämter aufgrund ihrer neuen
Aufgabengebiete neu zu positionieren haben. Dabei
kann man natürlich Erfahrungswerte einfließen lassen.
Es ist sinnvoll, diese Erfahrungswerte aufzunehmen.
Was die Stationierung und die Standorte der Kreiswehrersatzämter anbelangt, ist zu sagen, dass das im
Zusammenhang mit der gesamten Standort- und Stationierungsplanung in Deutschland zu sehen ist, weil viele
Dinge dabei sehr eng zusammenhängen. Es kann ja
durchaus sein, dass die Nachfolgeeinrichtungen der heutigen Kreiswehrersatzämter in Bereichen aktiv werden,
zum Beispiel in Bereichen gezielt werben wollen, in denen man bereits jetzt keine Bundeswehrstrukturen mehr
hat. Vielleicht will man in diesen Bereichen eine Verstärkung erreichen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das
eine Rolle spielen wird. Deswegen hängt das zusammen.
Die Betrachtung der Einrichtungen der Bundeswehrinstitutionen bezieht sich natürlich nicht allein auf
die Innenstädte, sondern auf jeden einzelnen Standort in
diesem Land. Auch hier wird es eine breite Herangehensweise geben müssen, wohl wissend, dass wir uns in
gewissen Bereichen inhaltlich, konzeptionell und faktisch öffnen müssen, dass wir in einigen Bereichen Anlaufpunkt sind und Dinge erklären können müssen. Wir
müssen uns in den Innenstädten so präsentieren, dass die
Bindung zwischen Bundeswehr und Gesellschaft nicht
nur behauptet wird, sondern sich im täglichen Leben abspielen kann. Deswegen werden wir uns die Vorschläge,
die uns gemacht werden, sehr genau ansehen. Auch aus
dem Hause heraus werden bereits zahlreiche Vorschläge
entwickelt. Daher glaube ich, dass wir auf einem guten
Wege sind.
Kollege Sönke Rix.
Vielen Dank, dass Sie hier heute zur Beantwortung
der Fragen zur Verfügung stehen. - Wenn man nach einer möglichen Konkurrenz zwischen dem Jugendfreiwilligendienst und dem Bundesfreiwilligendienst fragt,
heißt es immer, die beiden seien eigentlich gleich. Man
wolle sie gleich behandeln, die Bezahlung solle möglichst gleich sein, es gebe bei beiden Bildungseinheiten.
Man wolle versuchen, sie auf einer gleichen Ebene zu
sehen.
Wenn es denn so viel Gleichheit zwischen diesen
Diensten gibt, frage ich mich: Warum gibt es dann diesen zweiten Dienst? Ich weiß, dass da meistens als Antwort gesagt wird: Wir brauchen die Strukturen für eine
eventuelle Wiedereinführung des Wehrdienstes bzw. wir
haben bei den Jugendfreiwilligendiensten keine Bundeszuständigkeit. Wenn wir keine Bundeszuständigkeit haben, frage ich mich allerdings, warum wir jetzt eine Erhöhung bei den Jugendfreiwilligendiensten vornehmen.
Wir brauchen die Strukturen des alten Zivildienstes
nicht auf Dauer. Im Grundgesetz steht zwar, dass wir einen Ersatzdienst zur Verfügung stellen müssen, falls wir
den Wehrdienst wieder einführen, aber das muss nicht
automatisch der Zivildienst sein.
Bitte schön, Frau Ministerin.
Herr Kollege Rix, darüber haben wir schon oft gesprochen; aber vielleicht müssen wir heute noch einmal
darüber sprechen. Die Antwort ist sehr einfach. Wenn
wir das Ganze auf Bundesebene bündeln würden, wür8846
den wir die bestehenden Strukturen der Länder plattmachen.
({0})
Wir würden sie gefährden. Ich glaube, das möchte keiner
von uns. Wir würden vor allen Dingen auch ein zentralistisches Instrument schaffen, das die regionalen Unterschiede, die es gerade auch beim Freiwilligen Sozialen
Jahr und Freiwilligen Ökologischen Jahr gibt, negieren
würden. Wenn ich mit den Trägern spreche, bei denen es
damals durchaus Sympathien für die Idee, alles auf Bundesebene zu bündeln, gab, habe ich das Gefühl, dass
diese wenigen Sympathien deutlich abgenommen haben
und sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass es gut ist,
dass wir diese Strukturen erhalten.
Sie haben auch gefragt, warum wir nicht quasi nur die
Landesfreiwilligendienste erhalten. Auch diese Antwort
ist ausgesprochen einfach: weil die Länder nicht bereit
sind, dafür 300 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen.
({1})
Wenn sie das tun würden, wäre das ein interessantes und
vielleicht auch zukunftsweisendes Unterfangen. Aber sie
sind nicht dazu bereit. Sie wollen, dass wir mit Mitteln
des Bundes Länderstrukturen umfassend finanzieren.
Das wäre finanzverfassungsrechtlich nicht zulässig;
diese Auseinandersetzung haben wir schon oft geführt.
Das wäre auch nicht im Sinne unseres Föderalismus und
auch nicht im Sinne einer klaren Zuständigkeit und einer
klaren Verantwortlichkeit.
Die Pauschalen, die wir zahlen - das wissen auch Sie -,
sind eine Art pädagogische Pauschalen. Es ist etwas anderes, ob Sie einen Dienst zu einem kleinen Teil oder
umfassend finanzieren. Darauf würde es hinauslaufen,
wenn wir 300 Millionen Euro für die Landesfreiwilligendienste zur Verfügung stellen würden.
Die einzige Möglichkeit wäre, den Ländern die
300 Millionen Euro über Umsatzsteuerpunkte zukommen zu lassen. Ich möchte gar nicht bestreiten, dass dies
rein theoretisch möglich ist. Ich glaube aber, wir alle
sind uns einig, dass das ein ganz schlechter Weg wäre.
Wir wissen aus anderen Gesetzgebungsbereichen - ich
möchte es einmal nett ausdrücken -, dass nicht immer
ganz klar ist, ob jeder Euro da ankommt, wo ihn der
Bundesgesetzgeber haben wollte. Deshalb sage ich: So,
wie wir das machen, ist es vernünftig.
Danke schön. - Ich beende die Befragung der Bundesregierung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Fragestunde
- Drucksache 17/4153 Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Gesundheit. Zur Beantwortung
steht die Parlamentarische Staatssekretärin Annette
Widmann-Mauz zur Verfügung.
Wir beginnen mit der Frage 1 der Kollegin Hilde
Mattheis:
Wird die Bundesregierung künftige Ausgabensteigerungen in der sozialen Pflegeversicherung alleine den Versicherten aufbürden, oder bleibt es bei der paritätischen Finanzierung des Beitrages, die bisher zumindest nominal gegeben
war, mit der Einschränkung, dass die Arbeitgeber schon bei
der Einführung der Pflegeversicherung durch Wegfall eines
Feiertages nicht belastet worden sind?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Frau Kollegin Mattheis, auf Ihre Frage antworte ich
Ihnen wie folgt: Der Koalitionsvertrag sieht vor, aus
Gründen der demografischen Entwicklung neben der sozialen Pflegeversicherung eine ergänzende Kapitaldeckung einzuführen. Zur genaueren Ausgestaltung soll
eine interministerielle Arbeitsgruppe Vorschläge machen.
Gibt es dazu eine Nachfrage?
Nachher.
Dann kommen wir zur Frage 2 der Kollegin Mattheis:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Beitragsbelastung
für die Versicherten in der sozialen Pflegeversicherung durch
eine prognostizierte Beitragserhöhung von jetzt 1,95 Beitragssatzpunkte auf 2,1 Beitragssatzpunkte im Jahr 2014, auf
2,3 Beitragssatzpunkte im Jahr 2020, auf 2,5 Beitragssatzpunkte im Jahr 2030 und auf 2,8 Beitragssatzpunkte im Jahr
2050 im Vergleich zu einem angedachten Zusatzbeitrag von
10 Euro oder 15 Euro oder 20 Euro bereits für das Jahr 2014?
Frau Kollegin Mattheis, die Bundesregierung verfolgt
das Ziel einer generationengerechten Verteilung der Beitragsbelastung in der sozialen Pflegeversicherung. Deshalb können den kommenden Generationen nicht kontinuierlich steigende Beitragssätze aufgebürdet werden.
Die im Koalitionsvertrag geplante ergänzende Kapitaldeckung in der Pflegeversicherung kann zu einem gerechten Ausgleich der Belastungen zwischen der heutigen Generation und künftigen Generationen beitragen.
Zur konkreten Ausgestaltung gibt es noch keine Festlegungen.
Nachfrage? - Bitte schön.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin, gestatten Sie
mir eine Nachfrage. Da es Hochrechnungen bezüglich
des prozentualen Beitragssatzes bis 2040/2050 gibt,
würde mich interessieren: Wie hoch wäre der Zusatzbeitrag für diesen Zeitraum? Gibt es auch dazu Hochrechnungen?
Die Höhe des Zusatzbeitrags hängt sehr stark von der
Ausgestaltung eines künftigen Finanzierungsmodells ab.
Da es noch keine Festlegung auf ein Finanzierungsmodell gibt, kann ich auch dazu zum heutigen Zeitpunkt
keine Aussage treffen.
Eine weitere Nachfrage?
Ja.
Bitte.
Meine Frage im Anschluss daran lautet: Wie sieht der
Zeithorizont aus? Das Gespräch mit den Beteiligten,
auch mit den Kostenträgern, bezüglich der Finanzierung
wurde abgesagt. Es gab für 2011 die Ankündigung, einen Finanzierungsvorschlag bzw. ein Konzept vorzulegen. Wie ist jetzt der Zeithorizont?
Frau Kollegin Mattheis, der Bundesminister für Gesundheit, Philipp Rösler, hat am 6. Dezember dieses
Jahrs mit einer Dialogreihe begonnen, in der es um die
inhaltlichen Festlegungen, die im Koalitionsvertrag vorgenommen worden sind, geht, angefangen beim Fachkräftebedarf über Fragen des Pflegebedürftigkeitsbegriffs und der Einstufung bis hin zur Förderung von
Wohngruppen und Ähnlichem. Das ist die Basis, um die
Beratungen über die Finanzierungsgrundlagen sorgfältig und sachgerecht durchführen zu können. Diese Gespräche werden wir im Laufe des ersten Halbjahres des
nächsten Jahres abschließen und eine interministerielle
Arbeitsgruppe einsetzen.
Danke. - Eine weitere Nachfrage stellt Frau Vogler.
Frau Staatssekretärin, mich würde interessieren, ob in
Ihrem Ministerium schon Berechnungen angestellt worden sind, wie viele Pflegemonate jemand, der mit
25 oder 30 Jahren anfängt, mit den von der Kollegin
Mattheis unterstellten Beitragssätzen in diese Zusatzversicherung einzuzahlen, mit dem angesparten Kapitalstock finanzieren könnte. Gibt es dazu Berechnungen?
Haben Sie geplant, solche Berechnungen anzustellen?
Wann können wir mit Ergebnissen rechnen?
Frau Kollegin Vogler, auch hier gilt: Die Bundesregierung und das Bundesgesundheitsministerium wollen
zunächst die inhaltlichen Fragestellungen klären, die die
Grundlage für den Finanzierungsbedarf bilden. Auf dieser Grundlage werden wir dann sicherlich auch Berechnungen zu entsprechenden Modellen anstellen. Aber wir
wollen nicht den zweiten vor dem ersten Schritt tun.
Deshalb kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht
mitteilen, dass wir bereits Berechnungen zu konkreten
Modellen angestellt haben.
Kollegin Senger-Schäfer hat eine weitere Nachfrage.
Vielen Dank. - Auch ich habe eine Frage zur Finanzierung. Ich sehe in Ihren Aussagen eine gewisse Ambivalenz - vielleicht können Sie mir da auf die Sprünge
helfen -: Auf der einen Seite haben Sie sich im Koalitionsvertrag auf eine verpflichtende individuelle und generationengerechte Kapitaldeckung festgelegt. Auf der
anderen Seite haben Sie in Ihrer Pressemitteilung vom
2. Dezember dieses Jahres geschrieben - Zitat -:
Grundsätzlich gilt, dass es bisher im Bundesgesundheitsministerium keine Festlegung auf ein
Finanzierungsmodell für die langfristige Sicherung
der Pflegeversicherung gibt.
Vielleicht können Sie mir hier gerade ein bisschen helfen.
Vielen Dank.
Frau Kollegin Senger-Schäfer, in dem Koalitionsvertrag sind Ziele formuliert. Sie fragen mich nach konkreten Umsetzungsmodellen zur Verwirklichung dieser
Ziele. Die Ziele stehen im Koalitionsvertrag und haben
von ihrer Gültigkeit nichts verloren. Für die konkreten
Umsetzungsmodelle bedarf es einer sorgfältigen Analyse des Finanzierungsbedarfs. Diese Modelle werden
wir jetzt in Gesprächen, im Dialog zunächst klären, und
erst dann können wir in die konkrete Planung und Erarbeitung des Finanzierungskonzepts eintreten.
Eine weitere Nachfrage hat Kollegin Bunge.
Frau Staatssekretärin, an und für sich ist es ja begrüßenswert, erst einmal die Aufgabe zu formulieren und
sich dann über die Finanzen den Kopf zu zerbrechen:
wie viel Geld man braucht und woher man es holt.
Dies tun Sie für das Jahr 2011, und damit definieren
Sie ein gewisses Leistungsvolumen. Dabei kommt vermutlich ein Mehrbedarf heraus. Sie sagen aber, die Pflegeversicherung sei durch die jetzige Finanzierung bis
Ende 2013 gesichert. Heißt das auf gut Deutsch, dass Sie
erst ab 2014 Leistungsverbesserungen vorsehen, oder
wird es vorgezogen zu Beitragserhöhungen kommen, damit die Ziele, durch die sicher ein Stück mehr Teilhabe
gewährleistet werden kann, umgesetzt werden können?
Frau Kollegin Bunge, zunächst erlaube ich mir, Sie zu
berichtigen. Ich habe heute Vormittag im Ausschuss für
Gesundheit die neuesten Entwicklungen und auch Prognosen hinsichtlich der Einnahmen und Ausgaben in der
sozialen Pflegeversicherung vorgestellt. Durch die verbesserte Entwicklung bei den Einnahmen werden wir
- das wird auch aus der Einnahme- und Ausgabenstatistik und aus der Berechnung sichtbar - zu einer auskömmlichen Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung bis zum Frühjahr des Jahres 2014 kommen. Die
Mittel inklusive der Mindestrücklage werden also bis
Anfang 2014 ausreichend sein.
Hinsichtlich der Fragen, welche Leistungen wir anbieten und zu welchem Zeitpunkt wir für Verbesserungen sowohl bei der Einstufung als auch bezüglich der
sonstigen Leistungen und der Strukturen sorgen, berät
sich die Bundesregierung seit dem 7. Dezember 2010
mit Fachleuten. Auf dieser Grundlage werden wir dann
die entsprechenden Entscheidungen treffen. Dem kann
aber nicht vorgegriffen werden.
Eine weitere Nachfrage von Kollegin Rawert.
Frau Widmann-Mauz, Sie haben gerade ausgeführt,
dass Sie zu den Strukturen und zu den weiteren Leistungen noch nichts sagen können oder wollen, weil Sie sich
im Dialog mit Fachleuten befinden. Nichtsdestotrotz gehört zu dieser Diskussion auch, dass über die Verbesserung des Personalschlüssels und die Verbesserung der
Situation der Fachkräfte gesprochen wird. Wie soll die
entsprechende Ausgestaltung in der Pflegeversicherung
aussehen, wie die Finanzierung dieser Verbesserungen
sichergestellt werden?
Frau Kollegin Rawert, genau dieses Thema treibt
auch die Bundesregierung und den Bundesgesundheitsminister um. Deshalb hat er den künftigen Fachkräftebedarf auch zum ersten Thema beim Pflegedialog am
7. Dezember 2010 gemacht. Hier hat eine intensive Diskussion stattgefunden. Diese Diskussion ist auch noch
nicht beendet.
Es ist vereinbart worden, das Gespräch zu genau diesem Themenkomplex fortzusetzen, da es unterschiedliche Annahmen hinsichtlich des Bedarfs an Pflegekräften, hinsichtlich des zusätzlichen Pflegefachpersonals
und hinsichtlich der Frage gibt, wie die Strukturen verbessert werden können, um den Fachkräftebedarf unter
Umständen auch etwas stärker stabilisieren zu können.
Der entsprechende Finanzierungsbedarf lässt sich nicht
seriös feststellen, bevor auch hier die Beratungen nicht
abgeschlossen sind.
Wir kommen damit zur Frage 3 des Kollegen SteffenClaudio Lemme:
Ist bei der Einführung der Zusatzversicherung für die
Pflege an einen Sozialausgleich gedacht, und wie wird dieser
gegebenenfalls ausgestaltet und finanziert?
Sehr geehrter Herr Kollege Lemme, die Frage der
Notwendigkeit eines Sozialausgleichs bei der Einführung einer kapitalgedeckten Zusatzvorsorge ist abhängig
von der genauen Ausgestaltung der Reform. Hierzu gibt
es derzeit noch keine Festlegungen.
Kollege Lemme.
Frau Staatssekretärin, erst einmal vielen Dank für die
Antwort. - Ich habe eine Zusatzfrage: Denken Sie bei
dem geplanten Sozialausgleich auch daran, dass eine
Überforderungsklausel geschaffen wird, weil schon davon ausgegangen werden kann, dass es in diesem Bereich zu sozialen Härten kommt?
Herr Kollege Lemme, auch für die Frage des Sozialausgleichs und der Überforderungsklausel gilt: Das
hängt von der Erforderlichkeit je nach Ausgestaltung des
Modells ab. Da es aber noch keine Vorüberlegungen und
Vorfestlegungen zu dem Modell gibt, kann ich zu Ihrer
Frage keine konkreten Aussagen machen.
Eine Nachfrage der Kollegin Senger-Schäfer.
Ich habe eine sehr kurze Frage: Ist denn schon klar,
wer diese Zusatzversicherung anbieten soll?
Frau Kollegin Senger-Schäfer, da das Modell noch
nicht feststeht und damit auch nicht die dem zugrunde
liegenden Details, kann ich Ihnen diese Frage zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten. Zuerst müssen die Arbeiten an dem Leistungspaket durchgeführt werden, und
dann müssen die Fragen der Finanzierung geklärt werden. Wir sind im Verfahren noch nicht so weit.
Damit kommen wir zur Frage 4 des Kollegen Lemme:
Was soll nach Ansicht der Bundesregierung aus Kapitalanlagen von Personen werden, die nicht pflegebedürftig werden
und nicht auf das Angesparte zurückgreifen müssen?
Verehrter Kollege Lemme, auch hier gibt es noch
keine Festlegungen. Im Rahmen von Versicherungslösungen werden die angesammelten Altersrückstellungen
üblicherweise nur für Leistungen verwendet und nicht an
die Versicherten oder gegebenenfalls an die jeweiligen
Hinterbliebenen ausgezahlt. Bei individuellen Sparverträgen kann dagegen das Kapital auch vererbt werden.
Nachfrage? - Bitte.
Vielen Dank. - An welche Anlageform im Bereich
dieser kapitalgedeckten Absicherung denken Sie denn?
Welche Kapitalstöcke haben Sie hier im Blick? Soll es
bei einer Nichtauslastung dieser kapitalgedeckten Versicherung auch zu Ausschüttungen kommen?
Die interministerielle Arbeitsgruppe wird sich sicherlich zum gegebenen Zeitpunkt auch mit dieser Fragestellung ausführlich befassen. Ich bin gerne bereit, Ihnen
dann, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, nämlich wenn
wir uns damit befasst haben, die entsprechenden Auskünfte zu liefern.
Eine Nachfrage der Kollegin Mattheis. Bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie sprachen gerade davon,
dass es zwei Möglichkeiten gibt. Sie erwähnten bei der
zweiten Möglichkeit, nämlich der der individuellen Ansparung, dass ein Vererben möglich sei. Habe ich es so
richtig verstanden - da wollte ich gerne nachfragen -,
dass bei Nichtvorliegen einer Pflegebedürftigkeit eine
Ansparung dann an die Angehörigen gehen würde?
Frau Kollegin Mattheis, ich habe referiert, wie bei bestehenden Versicherungsverträgen mit dem Kapital umgegangen wird. Der Gesetzgeber ist immer frei, weitere
Lösungen zu finden. Das werden die Beratungen in den
entsprechenden Gremien sicherlich mit beinhalten. Vor
diesem Hintergrund kann ich keine Aussagen zu geplanten Regelungen und damit auch nicht zu zwei oder mehreren Modellen machen; denn wir haben noch nicht über
Modelle gesprochen und deshalb auch noch keine Vorfestlegungen getroffen.
Weitere Nachfragen dazu gibt es nicht.
Damit kommen wir zur Frage 5 des Kollegen Karl
Lauterbach:
In welcher Höhe werden nach den Berechnungen der Bundesregierung die Beiträge für die kapitalgedeckte Zusatzversicherung in der gesetzlichen Pflegeversicherung liegen, und
auf welcher Grundlage hat die Bundesregierung diese Höhe
ermittelt?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Sehr geehrter Kollege Professor Lauterbach, Berechnungen sind noch nicht erfolgt und erst auf der Grundlage konkreter inhaltlicher Festlegungen über die leistungsrechtlichen und die finanziellen Einzelheiten eines
Reformkonzepts möglich.
Bitte schön, Herr Kollege.
Wir haben wiederholt gehört, dass es keine Berechnungen gibt. Daher die Nachfrage: Haben Sie Schwierigkeiten mit den Berechnungen? Brauchen Sie Hilfe?
({0})
Wir hören seit mehr oder weniger einem Jahr, dass es
zwar ein Modell, aber keinerlei Berechnungen gibt, und
dass Sie nicht in der Lage sind, uns auch nur ansatzweise
einen Überblick darüber zu geben, wie hoch der Finanzbedarf ist, wie die Finanzierung aussieht oder was auch
immer. Deshalb meine Frage: Soll aus taktischen Gründen keine Berechnung erfolgen, oder haben Sie technische Probleme? Können wir helfen?
Kollege Lauterbach, erstens möchte ich auf Folgendes hinweisen: Wenn Sie mir zugehört hätten, dann
wüssten Sie, dass es einen sachlichen Grund gibt, warum
wir die Berechnungen erst dann anstellen, wenn wir den
Inhalt dessen kennen, was wir berechnen sollen. Das ist
eine logische Abfolge, die Wissenschaftlern nicht fremd
sein sollte.
Zweitens gehe ich davon aus, dass Sie uns sicherlich
auch unaufgefordert Hilfe zukommen lassen würden,
was entsprechende Modellrechnungen anbelangt.
Drittens können Sie davon ausgehen, dass wir dann,
wenn wir die entsprechende logische Abfolge der
Schritte vorgenommen haben, sehr zügig zu Berechnungen kommen werden, wahrscheinlich zügiger, als es
beim Bürgerversicherungsmodell, das Ihre Fraktion sehr
lange nicht vorgelegt hat, der Fall war.
Eine weitere Nachfrage? - Bitte schön.
Zunächst einmal möchte ich mich für Ihr Vertrauen
bedanken. Wir werden Ihnen in der Tat auch unaufgefordert bei den Berechnungen zur Seite stehen.
Wenn Sie später ein Modell wählen, entsteht es normalerweise auf der Grundlage vorliegender Berechnun8850
gen, welches Modell zu welchem Ergebnis führen
würde. Daher ist Ihre Unterweisung in der Logik der Abfolge nicht ganz korrekt. Normalerweise hat man ein
Portfolio von Berechnungen und wählt auf dieser Grundlage dann das Modell, das den Zielen am nächsten
kommt. Wenn wir Ihre Berechnungen hätten, so Sie
diese angefertigt hätten, könnten wir uns in der gewohnt
konstruktiven Art und Weise an dieser Diskussion beteiligen.
Von daher noch einmal meine Nachfrage: Weshalb
wird nicht vorgelegt, was an Möglichkeiten besteht? Ich
mache es ganz einfach: Wie viel würde es beispielsweise
bringen, wenn sichergestellt werden soll, dass die Belastung des Einzelnen nicht mehr als 10 Euro pro Monat
betragen soll? Was würde es umgekehrt kosten, wenn erreicht werden soll, dass beispielsweise 25 Prozent der
späteren Aufwendungen für die Pflege aus dem Kapitalstock kommen? Wenn Berechnungen vorliegen, kann
man, auch gemeinsam, diverse Szenarien durchgehen.
Es leuchtet mir schlicht nicht ein, warum es keine Berechnungen für solche Szenarien gibt und Sie uns die
Möglichkeit der konstruktiven Begleitung Ihrer Arbeit
nehmen, während die Zeit von hinnen geht.
Herr Kollege Lauterbach, Sie haben sich bereits in Ihrer Fragestellung persönlich auf mehrere Vorfestlegungen festgelegt, was die Bewertung unterschiedlicher
Modelle angeht. Da es aber in der Bundesregierung noch
keine Vorfestlegungen gibt, kann diese Befassung, so
gerne wir konstruktiv mit den Oppositionsfraktionen
bzw. mit Ihrer Fraktion zusammenarbeiten, zum jetzigen
Zeitpunkt nicht erfolgen. Aber sobald wir wissen, was
wir berechnen wollen, werden wir sehr zügig die Grundsätze, die im Koalitionsvertrag festgelegt sind, in der interministeriellen Arbeitsgruppe erörtern und gerne dann
auch mit dem Parlament, im Ausschuss und in der Öffentlichkeit diskutieren.
Keine weitere Frage dazu.
Dann rufe ich die Frage 6 des Kollegen Lauterbach
auf:
Welche monatliche Prämienhöhe zur ergänzenden Kapitaldeckung ist nach Auffassung der Bundesregierung auch
für Rentnerinnen und Rentner und andere Bezieherinnen und
Bezieher vergleichsweise niedriger Einkommen tragbar, ohne
dass ein sozialer Ausgleich eingeführt wird?
Auch diese Frage des Kollegen Lauterbach kann ich
nicht anders beantworten als die vorige. Diese Frage
kann erst im Zusammenhang mit der Festlegung der genauen Ausgestaltung einer ergänzenden Kapitaldeckung
beantwortet werden. Ich glaube, die Diskussion und die
Antworten zu den letzten Fragen haben dies auch deutlich gemacht.
Kollege Lauterbach, bitte.
Das leuchtet mir nicht ein, Frau Kollegin. Es ist doch
im Wesentlichen eine Werteentscheidung, was Sie als
Obergrenze erachten, ab der ein Sozialausgleich beispielsweise für Rentner oder Geringverdiener nötig
würde. Selbst dann, wenn nicht klar wird, wofür das
Geld verwendet wird, wie viel insgesamt aufgebracht
wird und bis wann es zur Verfügung steht, müssten Sie
doch die normative Frage beantworten können, ab welcher Höhe Sie einen Sozialausgleich für nötig halten. Es
ist ja keine technische Frage, sondern eine Verteilungsfrage. Wie viel ist für den Geringverdiener zumutbar, bevor ein Sozialausgleich für den Zweck, den Sie hier beschreiben, notwendig wird?
Herr Kollege Lauterbach, auch diese Fragestellung ist
in großem Maße abhängig von unterschiedlichen Modellen: Modellen, die einen Sozialausgleich erforderlich
machen, Modellen, die keinen Sozialausgleich erforderlich machen usw. Da die Fragen der Finanzierung aber
erst am Ende der Beratungen anstehen, ist eine Vorfestlegung auf dieser Grundlage im Moment nicht möglich.
Deshalb kann ich Ihnen diese Frage zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten.
Keine Nachfrage?
Dann rufe ich die Frage 7 der Kollegin Carola
Reimann auf:
Wann werden erste Reformpläne zur Reform der Pflegeversicherung vorliegen, und werden mit den Reformansätzen
für Angebots- und Infrastrukturverbesserungen auch Vorschläge für eine Finanzreform vorliegen?
Frau Kollegin Reimann, die Bundesregierung hält,
wie im Koalitionsvertrag vereinbart, daran fest, dass neben einer neuen, differenzierten Definition der Pflegebedürftigkeit und der Notwendigkeit von an den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen orientierten Wohn- und
Betreuungsformen auch eine Ergänzung durch Kapitaldeckung notwendig ist, damit die Pflegeversicherung allen Bürgerinnen und Bürgern eine verlässliche Teilabsicherung der Pflegekosten weiterhin garantieren kann.
Beginnend mit dem 7. Dezember dieses Jahres werden im ersten Halbjahr 2011 zuerst im Rahmen einer
Reihe von Dialogveranstaltungen Diskussionen über die
künftige Ausgestaltung der Pflege im Hinblick auf konkrete Verbesserungen für die Menschen mit allen Beteiligten geführt.
Es bedarf zunächst einer Klärung von Kernfragen im
Leistungsbereich, bevor dann die Finanzierungsfragen
im Einzelnen zu beantworten sind.
Nachfrage? - Bitte.
Frau Staatssekretärin, ich habe eine Nachfrage. Wenn
ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie bislang keine
konkreten Reformkonzepte und auch keine Vorfestlegungen erstellt, sodass Sie keinen konkreten Termin für
die Vorlage von solchen Konzepten nennen können.
Können Sie denn sagen, wann dieser Dialog, der am
7. Dezember dieses Jahres begonnen hat, fortgesetzt
wird?
Die Bundesregierung ist an einer langfristigen und
nachhaltigen Lösung interessiert. Beispielsweise die
Komplexität des Pflegebedarfs der Betroffenen, aber
auch die Verbindungen zu anderen Leistungsbereichen
und anderen Sozialleistungen macht es erforderlich, dass
wir eine gründliche Prüfung voranstellen. Das Ziel ist es,
im Laufe des Jahres 2011 ein umfassendes Reformkonzept vorzulegen. Die Dialoggespräche wollen wir im
ersten Halbjahr des kommenden Jahres zu Ende führen.
Weitere Nachfrage?
Ich habe noch eine Nachfrage. Wir konnten hören und
lesen, dass bei dem ersten Gespräch vor allen Dingen der
Fachkräftemangel ein Thema war. Nun ist ein Faktor für
den Fachkräftemangel sicherlich die mangelnde Bezahlung. Deswegen möchte ich fragen: Ist der Bundesregierung bekannt, auf welchen Umwegen Unternehmen versuchen, den Mindestlohn, der im Pflegebereich seit
kurzem etabliert ist, zu umgehen, und was gedenkt die
Bundesregierung dagegen zu tun?
Frau Kollegin Reimann, wir haben im Rahmen der
ersten Diskussion sehr intensiv über die Fragen der Entlohnung, der Arbeitsbedingungen und der Motivation für
Pflegekräfte und Menschen, die diesen Beruf anstreben
und erlernen wollen, gesprochen. Sie dürfen versichert
sein, dass wir ein Auge auf die Einhaltung der Rechtsvorschriften haben werden und im Zusammenhang damit den Dialog mit den Experten führen werden.
Kollegin Rawert und danach Kollegin SengerSchäfer.
Ich habe eine Frage zum Thema Fachkräftemangel.
Wodurch wollen Sie die Ausbildungsbereitschaft der
Pflegeeinrichtungen erhöhen? Wir haben bis dato über
die Ausbildungsbereitschaft junger Menschen gesprochen. Hier liegt ein Problem. Derzeit sind nur 3 bis
6 Prozent der jungen Menschen an einer Tätigkeit im sozialen Bereich, also in den Gesundheits- und Pflegeberufen, interessiert.
Mir ist zudem wichtig, zu erfahren, mit welchen
Kampagnen Sie dafür Sorge tragen wollen, dass sich unsere Bevölkerung in ihrer Vielschichtigkeit in einem interkulturell offenen Pflege- und Gesundheitswesen wiederfindet. Was tun Sie auf diesem Gebiet?
Frau Kollegin Rawert, die Bereitschaft der Einrichtungen, also der Arbeitgeber, Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, steht aus unserer Sicht allein schon
deshalb auf der Tagesordnung, weil der Fachkräftebedarf
es in Zukunft notwendig macht, dass sich die Einrichtungen diesem Thema stärker widmen. Ansonsten lässt sich
der Fachkräftebedarf der entsprechenden Einrichtungen
dauerhaft sicherlich nicht auf dem bisherigen Niveau decken. Wir wollen dazu beitragen, dass die Einrichtungen
gute Modelle und gute Praxisbeispiele an die Hand bekommen; denn es gibt Einrichtungen, die im Vergleich
zu anderen durchaus weniger Schwierigkeiten haben,
den Fachkräftebedarf zu decken. Ausbildung ist immer
ein guter Ansatz, um den zukünftigen Bedarf decken zu
können.
Ich bin der festen Überzeugung, dass die Frage, welche Kampagnen vorgesehen sind, im Vergleich zu der
Frage, wie die Arbeitsbedingungen und die Strukturen
gestaltet sind, in denen Pflege geleistet wird, nachrangig
ist; denn die beste Kampagne nutzt nichts, wenn die
Realität der Beschäftigung den Bedürfnissen der Beschäftigten nicht entspricht. Deshalb hat das Bundesministerium für Gesundheit einen Dialog eingeleitet, in
dessen Rahmen wir uns nicht nur im Bereich der Altenpflege, sondern insbesondere in der Krankenpflege, bei
den medizinischen Fachberufen und Heilberufen, insbesondere bei Ärztinnen und Ärzten, um die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf kümmern. Die Arbeitsbedingungen sind entscheidend dafür, ob solche Berufe attraktiv
sind und gerade von der jungen Generation angenommen werden. Der Mindestlohn ist nur ein Baustein der
Mindestabsicherung von Pflegehilfskräften. Er ist sicherlich ein wichtiger Bestandteil. Aber die Lösung ist
sicherlich in einem Strauß von Maßnahmen zu suchen.
Dem widmet sich der Pflegedialog ausdrücklich.
Nun Kollegin Senger-Schäfer.
Vielen Dank. - Neben der Finanzierung ist die Reform der Definition des Leistungsumfangs von Ihnen
angedacht. Dazu meine Frage: Denkt denn die Bundesregierung im Zuge der Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffes im Rahmen einer umfassenden Pflegereform an eine Ausweitung der Leistungen der sozialen
Pflegeversicherung, um den Pflegebedürftigen Selbstbestimmung und Teilhabe zu ermöglichen?
Frau Kollegin Senger-Schäfer, bereits der Koalitionsvertrag drückt aus, dass uns sehr daran gelegen ist, auf
der Grundlage der Arbeiten des Beirats zur Erarbeitung
eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs von der Minutenpflege wegzukommen und den Bedarf, der sich durch
bestimmte Veränderungen, insbesondere durch das verstärkte Auftreten von Demenzerkrankungen, abzeichnet,
sachgerecht abzubilden. Menschenwürdige Pflege im
Alter heißt, den entsprechenden Bedürfnissen nachzukommen und ihnen Rechnung zu tragen, von der Einstufung bis hin zu den Fragen, in welchen Strukturen und
Wohnformen Leistungen in Anspruch genommen werden können. Wenn sich während der Beratungen konkreter Handlungsbedarf - auch bei den Leistungen - ergibt,
dann werden wir diesen bei einer Pflegereform zu berücksichtigen haben.
Keine weiteren Nachfragen dazu.
Dann kommen wir zu Frage 8 des Kollegen Martin
Dörmann:
Wie bewertet die Bundesregierung - vor dem Hintergrund,
dass insbesondere Journalisten, aber auch Film- und Fernsehschauspieler seit dem 1. Januar 2009 kein Krankengeld mehr
ab dem ersten Tag ausgezahlt bekommen - die Notwendigkeit, zur alten Regelung und der Auszahlung des Krankengeldes ab dem ersten Tag auch für diese Berufsgruppe zurückzukehren, und inwieweit wird sie entsprechende Forderungen
seitens der Fraktion der SPD, aber auch von Bundesrat, Gewerkschaften und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, BDA, im Rahmen der Gesetzesnovellierung zur Änderung arzneimittelrechtlicher Vorschriften und
anderer Vorschriften im Jahr 2009 aufgreifen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Dörmann, das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz hatte für bestimmte Versichertengruppen
mit Wirkung ab dem Jahr 2009 Wahltarife zur Absicherung des Krankengeldanspruchs eingeführt. Damit wurden flexible Angebote für die Versicherten ermöglicht.
Bei der Umsetzung der Vorgaben durch die Krankenkassen hat sich allerdings gezeigt, dass die gesetzlichen
Vorgaben zur Vermeidung von ungerechtfertigten Belastungen insbesondere älterer Versicherter und zur Verwaltungsvereinfachung angepasst werden mussten. Versicherte - auch der hier genannten Berufsgruppen -, die
einen Krankengeldanspruch nach den Regelungen des
GKV-WSG seit dem 1. Januar 2009 allein über einen
Wahltarif absichern konnten, haben deshalb mit dem Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer
Vorschriften mit Wirkung zum 1. August 2009 wieder
die zusätzliche Option erhalten, wie Arbeitnehmer gegen
Zahlung des allgemeinen Beitragssatzes einen sogenannten gesetzlichen Krankengeldanspruch ab der siebten
Woche der Arbeitsunfähigkeit abzusichern. Daneben ist
auch weiterhin der Abschluss von Wahltarifen möglich.
Auch über den sogenannten gesetzlichen Anspruch hinausgehende Absicherungswünsche nach Krankengeld,
zum Beispiel vom Beginn der Arbeitsunfähigkeit an,
können weiterhin über Wahltarife realisiert werden. Entgegen der zuvor verbreiteten Praxis der Krankenkassen
sind aber Differenzierungen nach dem individuellen Risiko der Versicherten, insbesondere Altersstaffelungen,
nicht mehr möglich.
Was die Versicherten nach dem Künstlersozialversicherungsgesetz angeht, so ist durch das GKV-WSG in
der Sache keine Änderung eingetreten. Bei dieser
Rechtslage sieht die Bundesregierung keine Notwendigkeit für weitere Rechtsänderungen.
Es gibt keine Nachfragen.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Jan Mücke zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 9 der Abgeordneten Sabine Stüber
auf. - Sie ist nicht anwesend. Es wird verfahren, wie in
der Geschäftsordnung vorgesehen.
Wir kommen zur Frage 10 des Abgeordneten Michael
Groß:
Inwieweit trägt die Bundesregierung bereits Vorsorge, um
dem erhöhten Mittelbedarf für die Erhaltungsmaßnahmen der
Verkehrsinfrastruktur, auch unter Einbeziehung der sich abzeichnenden Winter- und Frostschäden, entgegenzuwirken?
Bitte schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Kollege Groß, Ihre
Frage möchte ich wie folgt beantworten: Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Finanzierung von Erhaltungsmaßnahmen für die Infrastruktur des Bundes
einschließlich der Bundeswasserstraßen auch bei eventuell eintretenden Winter- und Frostschäden im Rahmen
der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel erfolgen
kann.
Sie haben Gelegenheit zur Nachfrage.
Vielen Dank für die Beantwortung. - Ich habe eine
Nachfrage: Wie hoch würden Sie die Kosten beziffern,
die im Winter 2009/2010 zur Beseitigung der Frostschäden entstanden sind, und können Sie eine Entwicklung
über die letzten fünf Jahre aufzeigen?
Diese Zahlen können wir im Einzelnen nicht erfassen,
weil die Länder die Beseitigung von Frostschäden über
die Auftragsverwaltungen aus den Erhaltungsmitteln
vornehmen. Deshalb kann ich Ihnen diese Zahlen nicht
liefern.
Damit kommen wir zur Frage 11 des Abgeordneten
Michael Groß:
Wie hoch schätzt die Bundesregierung finanziell den Investitionsbedarf für die Sanierung der Infrastruktur im Bereich der Straße nach dem Winter 2010/2011 ein, nachdem bereits aktuell ein Sanierungsstau festgestellt wird und von einer
sich potenzierenden baulichen Zustandsverschlechterung der
Bauwerke und Straßen auszugehen ist?
Das ist natürlich eine etwas hypothetische Frage, weil
wir ja noch nicht wissen, wie dieser Winter weitergeht.
Ich möchte Ihre Frage trotzdem beantworten.
Auf der Grundlage der Erhaltungsbedarfsprognose
des Bundesverkehrswegeplans 2003 sollen nach dem
Bundesfernstraßenhaushalt 2011 rund 2,6 Milliarden
Euro in die Erhaltung des Bundesfernstraßennetzes investiert werden. Eventuell auftretende Winter- und
Frostschäden werden diesen Bedarf nur unwesentlich erhöhen. Dem zunehmenden Erhaltungsbedarf in den
kommenden Jahren wird durch verstärkten Mitteleinsatz
Rechnung getragen. Von einer sich potenzierenden baulichen Zustandsverschlechterung kann deshalb keine
Rede sein.
Dazu hat der Kollege Koch eine Nachfrage.
Dazu eine kurze Nachfrage: Ist Ihnen im Ministerium
bekannt, dass es auf der Strecke A 38 Richtung Göttingen zwischen den Abfahrten Sangerhausen-Süd und
Goslar erhebliche Schlaglöcher gibt? Dort muss man das
Tempo auf 80 km/h reduzieren.
Das ist mir im Einzelnen persönlich nicht bekannt,
aber ich weiß, dass wir an ganz vielen Autobahnabschnitten in fast allen Bundesländern im Moment diese
Frostschäden haben. Sie werden durch die Auftragsverwaltungen in den einzelnen Bundesländern bei entsprechenden Witterungsvoraussetzungen natürlich beseitigt.
Die entsprechenden Mittel stehen im Ansatz für Erhaltungsmaßnahmen zur Verfügung.
Der Kollege Groß hat eine weitere Nachfrage.
Herr Mücke, generell wird festgestellt, dass es einen
Sanierungsstau gibt. Deswegen die Frage: Es gibt also
kein Finanzierungsdelta, wenn man auf der einen Seite
die Schäden und den Sanierungsbedarf sieht, den wir in
Zukunft haben, und auf der anderen Seite die finanziellen Mittel, die Sie zur Verfügung stellen können?
Nein, ein solches Delta gibt es nicht; denn wir haben
in jedem Haushaltsjahr mehr Mittel für Erhaltungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt. Wir wollen die bestehende Infrastruktur, die vor allen Dingen in den alten
Bundesländern im Wesentlichen aus den 60er- und 70erJahren stammt, unterhalten. Es macht keinen Sinn, nur in
neue Infrastrukturen zu investieren, wenn die bestehenden Infrastrukturen nicht unterhalten werden können.
Die 2,6 Milliarden Euro, die für Erhaltungsmaßnahmen
zur Verfügung gestellt werden, sind ein namhafter Betrag, der dazu beitragen wird, dass wir auch die Frostschäden, die in diesem Winter entstehen werden, beheben können.
Eine weitere Nachfrage hat die Kollegin Cornelia
Behm.
Es ist so, dass die Mittel zur Sanierung der Verkehrsinfrastruktur dann, wenn es um Bundesstraßen geht, vom
Bund den Ländern pauschal gegeben werden, ohne zu
berücksichtigen, um was für Straßen es sich im Einzelnen handelt, zum Beispiel ob es sich um Alleen handelt,
die bei der Sanierung einen größeren Aufwand erfordern
könnten. Deswegen meine Frage: Halten Sie es nicht für
angezeigt, dass man wenigstens für die Zukunft die real
entstehenden Kosten bei den Ländern erfasst, um dann
den Ländern Mittel in Abhängigkeit vom Aufwand zu
überweisen, um so einen effizienten Einsatz der Bundesmittel zu erreichen?
Frau Kollegin, die Mittel werden effizient eingesetzt.
Die Länder entscheiden in eigener Verantwortung und in
Absprache mit uns, welche Erhaltungs- und Unterhaltungsmaßnahmen am Bundesfernstraßennetz vorgenommen werden.
Ich weiß, dass in der Öffentlichkeit oftmals der Eindruck besteht, dass Straßen nicht in einem verkehrssicheren und einwandfreien Zustand sind, den man als
Kraftfahrer oder als sonstiger Verkehrsteilnehmer erwartet. Zumindest für das Bundesstraßennetz kann ich aber
sagen, dass wir den Ländern ausreichend Mittel zur Verfügung gestellt haben, egal ob es sich dabei um Alleen
oder um Fernstraßen anderer Bauart handelt. Sie können
das allein schon daran sehen, dass Bundesländer gelegentlich Erhaltungsmittel lieber für Neuinvestitionen
verwenden wollen. Wir dringen darauf, dass diese Mittel
ausschließlich für die Erhaltung des bestehenden Straßennetzes verwandt werden.
Der Kollege Hacker hat noch eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben sich eben hinsichtlich
des Einsatzes von Erhaltungsmitteln im Bereich des
Straßenbaus sehr pointiert geäußert. Können Sie mir
eine Erklärung zu Ihrer Antwort auf eine entsprechende
Frage zur Ortsumgehung Kallmerode in Thüringen
geben? Darin haben Sie nämlich mitgeteilt, dass die
Baumaßnahme - sie ist sowohl durch den Bundesverkehrswegeplan als auch den Investitionsrahmenplan
abgesichert, und für sie besteht Baurecht - wegen fehlender Mittel nicht realisiert werden kann und gegebenenfalls Erhaltungsmittel umverteilt werden sollen.
Ich kann nur noch einmal unterstreichen, dass mit den
Erhaltungsmitteln die bestehende Infrastruktur unterhalten werden soll. Die Ortsumgehung Kallmerode, die Sie
ansprechen, ist eine Neuinvestition und wird nicht aus
Erhaltungsmitteln finanziert werden können. Das Bundesland Thüringen erhält in großem Umfang Mittel, um
vor allen Dingen den Weiterbau wichtiger Bundesautobahnen auf seinem Gebiet zu finanzieren. Das ist unsere
vorrangige Priorität. Ich bin sicher, dass wir in den
nächsten Jahren auch für die Ortsumfahrung Kallmerode
eine Finanzierung finden werden, wenn die Maßnahmen
im Bundesautobahnnetz abgeschlossen werden können.
Nun noch Kollege Burkert.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, die schlimmsten
Straßenverhältnisse sind, glaube ich, in den Kommunen.
In meiner Heimatstadt Nürnberg beträgt der Sanierungsbedarf zurzeit 50 Millionen Euro beim Straßenbelag,
noch einmal 75 bis 80 Millionen Euro bei Brücken.
Meine Frage an die Bundesregierung ist: Denkt die
Bundesregierung daran, aufgrund der Winterverhältnisse, die wir auch in diesem Jahr zur Stunde wieder
feststellen können, einen Sondertopf, ein Sonderprogramm für Kommunen aufzulegen?
Nein, daran denkt die Bundesregierung im Moment
nicht. Der Bundeshaushalt, der durch Sie, also den Haushaltsgesetzgeber, beschlossen wurde, sieht ein solches
Programm nicht vor.
Wir kommen damit zur Frage 12 der Kollegin
Cornelia Behm:
Inwieweit hat sich die Zahl der Flugbewegungen im Luftraum über Berlin in den letzten fünf Jahren entwickelt, insbesondere hinsichtlich der Starts und Landungen an den Flughäfen Berlin-Tegel und Berlin-Schönefeld bitte mit Angabe der
Zahlen nach Jahren und Flughafenstandort getrennt?
Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Kollegin Behm,
Ihre Frage möchte ich sehr gern beantworten. Die Angaben zu Starts und Landungen lauten wie folgt:
Flugbewegungen für den Flughafen Berlin-Schönefeld: im Jahr 2006 67 702, im Jahr 2007 66 392,
({0})
im Jahr 2008 68 771 und im Jahr 2009 75 538.
({1})
Bis zum September 2010 gab es 57 024 Flugbewegungen am Flughafen Berlin-Schönefeld.
Des Weiteren möchte ich Ihnen die Zahlen der Flugbewegungen am Flughafen Berlin-Tegel mitteilen. Diese
beliefen sich im Jahr 2006 auf 140 611, im Jahr 2007 auf
151 396, im Jahr 2008 auf 161 237 und im Jahr 2009 auf
156 262. Bis zum September 2010 hat es am Flughafen
Berlin-Tegel 118 867 Flugbewegungen gegeben.
Zu den Flugbewegungen zählen auch die Überflüge.
Die Auswertung von Radardaten der Deutschen Flugsicherung zur Anzahl der Überflüge im Berliner Luftraum wäre nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand
durchzuführen.
Das ist doch eine sehr präzise Antwort gewesen, beinahe bis zu den Stellen hinter dem Komma.
({0})
Kollegin Behm, Sie sollen trotzdem das Recht auf Nachfrage haben.
Da will ich mich auch gar nicht beschweren, vielen
Dank. - Wenn ich die Zahlen Revue passieren lasse,
dann stelle ich fest, dass durchaus ein leichter Anstieg
bei den Flugbewegungen zu verzeichnen ist. Ich habe
vor einer Weile vom Fluglärmbeauftragten des Landes
Brandenburg die Aussage gehört, dass von den Flugrouten - das aktuell beliebte Thema - abgewichen und der
ganze Flugraum genutzt werden könnte, wenn die Kapazitätsauslastung des Luftraumes sehr stark ist. Das betrifft insbesondere die Starts; denn die Route bei den
Landungen ist ja fast immer dieselbe; sie ist immer gerade.
Ich frage Sie: Kann es mit Blick auf die Zahlen, die
Sie eben genannt haben, sein, dass die Kapazitätsauslastung des Luftraumes doch sehr stark ist, sodass von den
normalen Flugrouten abgewichen und eine breitere Region überflogen und damit auch verlärmt wird?
Nein, eine Kapazitätsauslastung kann ich für den Berliner Luftraum noch nicht konstatieren. Die Kapazität
wird mit dem Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld
noch weiter steigen. Das ist ja auch das gemeinsam erklärte Ziel der Landesregierung von Brandenburg und
der Regierung von Berlin. Denn sie sind Flughafenbetreiber und möchten, dass der neue Flughafen BerlinSchönefeld ein Erfolg wird.
Flugrouten bemessen sich nach den Festlegungen der
Deutschen Flugsicherung. Die Flugsicherung legt eine
Ideallinie fest, in der Anflüge und Abflüge zu erfolgen
haben. Diese Ideallinie wird in der Regel eingehalten, es
sei denn, es liegen meteorologische oder andere Besonderheiten vor, die ein Abweichen erforderlich machen.
Das sind aber sehr wenige. Deshalb kann von einer Ausbzw. Überlastung des Berliner Luftraumes aus meiner
Sicht nicht die Rede sein.
Eine weitere Nachfrage?
Da könnte man sich ja fast getröstet fühlen.
Ich tröste Sie gerne!
Nun hat meine Frage zum Hintergrund, dass ich wiederholt von Bürgern aus meinem Heimatort Kleinmachnow gefragt wurde, wie es denn zu erklären ist, dass die
Lärmbelastung, verursacht durch Überflüge, in der Regel im Anflug auf Tegel, sowohl im Jahr 2009 und dann
noch einmal ab August 2010, wirklich merkbar und gravierend angestiegen ist. Kann das denn, nachdem Sie
jetzt dargestellt haben, dass die Kapazitäten nicht ausgelastet sind und die Flugrouten eher selten verlassen werden, Ihrer Meinung nach damit zusammenhängen, dass
aktuell andere, leistungsstärkere Maschinen fliegen, die
mehr Lärm emittieren? Auf welche Ursachen führen Sie
diese Beobachtungen zurück?
Ich kann die Beobachtungen, dass der Verkehr zugenommen hat, schwer verifizieren. Es handelt sich ja um
subjektive Eindrücke. Wir können Ihnen die objektiven
Zahlen liefern. Diese habe ich Ihnen vorhin zur Kenntnis
gegeben. Wenn Sie von Kleinmachnow reden, gehe ich
davon aus, dass es sich um Anflüge auf Tegel handelt.
Ich kann nur darauf verweisen, dass wir ein Absinken
der Zahl der Flugbewegungen nach Tegel zu verzeichnen hatten. Ich wiederhole die Zahlen: Im Jahr 2008 waren es noch rund 161 000, im Jahr 2009 nur
156 000 Flugbewegungen. Das ist aus meiner Sicht ein
Hinweis darauf, dass es jedenfalls keinen Anstieg gegeben hat.
Ich will Sie gern darüber informieren, dass die Deutsche Flugsicherung, die Flughafenbetreiber und natürlich auch die Airlines alles unternehmen, um den Fluglärm zu reduzieren. Deshalb arbeiten wir auch an neuen
Anflugverfahren wie beispielsweise CDA, Continuous
Descent Approach. Hierbei handelt es sich um einen
kontinuierlichen Sinkflug, bei dem die Triebwerke nicht
die volle Leistung ausschöpfen und damit eine geringere
Lärmbelastung für die Anwohner hervorrufen.
Zu subjektiven Wahrnehmungen - da bitte ich um
Verständnis - kann ich leider keine Stellung nehmen. Ich
kann Ihnen nur die objektiven Zahlen zur Kenntnis geben.
Wir kommen damit zur Frage 13, ebenfalls der Kollegin Behm:
Wie häufig war in den letzten zehn Jahren der Einsatz von
Eisbrechern auf der Elbe erforderlich, und wie oft kam es dabei zu Behinderungen durch eine unzureichende Fahrrinnentiefe?
Das ist auch eine sehr jahreszeitbezogene Frage, die
ich natürlich sehr gerne beantworte: In den letzten zehn
Jahren hat in jedem Winter der Einsatz von Eisbrechern
auf der Elbe stattgefunden. Je nach Bedarf waren in sich
abgeschlossene Einsätze von mehreren Tagen bis mehreren Wochen erforderlich. Innerhalb dieser zehn Jahre
war zu Zeiten des Eisaufbruchs immer ein ausreichender
Abfluss in der Elbe vorhanden, sodass die Fahrrinnentiefen für den Eisbrechereinsatz keine Beeinträchtigungen
dargestellt haben.
Kollegin Behm, bitte.
Vielen Dank. - Jetzt hätte ich nachfragen wollen, an
welchen Segmenten es Behinderungen gegeben hat. Da
es aber keine Behinderungen gegeben hat, habe ich auch
keine Nachfrage.
Aber der Kollege Hacker hat eine Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Zum Eisgang auf der
Elbe, Herr Staatssekretär Mücke, habe ich eine Nachfrage. Ihnen ist sicherlich das Problem der sogenannten
Reststrecke zwischen Dömitz und Hitzacker bekannt.
Stammstrecke! Ich kenne sie als Stammstrecke!
Ja. - Bei dieser Reststrecke sind ja die Ausbaumaßnahmen bei den Buhnen in den 30er-Jahren nicht vollendet worden. Sehen Sie in diesem Abschnitt Gefahren für
die Deich- und Buhnenanlagen, weil es hier immer wieder zu Absenkungen des Wasserstandes kommt und dadurch bedingt regelmäßig Eisversetzungen eintreten?
Was gedenkt die Bundesregierung dagegen zu unternehmen? Ist zum Beispiel an einen Abschluss des Buhnenausbaus gedacht?
Die Bundesregierung bedient sich dafür ja der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung, die an dieser Stelle kontinuierlich ausbaggern lässt, um ein Versanden und Verlanden dieses Abschnitts der Elbe zu vermeiden. Somit
findet dort ein kontinuierlicher Erhalt der Fahrrinne statt.
Es ist aber sicher darüber nachzudenken, ob man im
Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens Erhaltungsund Ausbaumaßnahmen vornimmt, bei denen ökologische Belange genauso berücksichtigt werden wie die Belange der Schifffahrt, die einen verlässlichen und sicheren Zugang zur Elbe benötigt.
Danke. - Die beiden Fragen 14 und 15 des Kollegen
Paula werden schriftlich beantwortet.
Damit kommen wir zu Frage 16:
Wie und wo hat die Bundesregierung die in der Änderung
der Straßenverkehrs-Ordnung - die am 4. Dezember 2010 offiziell in Kraft getreten ist - aufgeführten Witterungsverhältnisse - wie Glatteis, Schneeglätte, Schneematsch, Eis oder
Reifglätte auf der Fahrbahn -, bei denen ein Auto nur mit
Winterreifen gefahren werden darf, gerichtsfest definiert, um
den einschreitenden Ordnungskräften eine eindeutige Feststellung des Tatbestandes sowie den Verkehrsteilnehmenden
ein regelkonformes Verhalten zu ermöglichen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Präsident! Verehrte Frau Kollegin Lühmann,
diese Frage möchte ich gerne beantworten. Die in § 2
Abs. 3 a Satz 1 der Straßenverkehrs-Ordnung genannten
winterlichen Wetterverhältnisse, bei denen ein Kraftfahrzeug nur mit M+S-Reifen gefahren werden darf, wurden
unter Mithilfe des Deutschen Wetterdienstes ermittelt.
Diesbezüglich wird auf die amtliche Begründung verwiesen, und zwar auf die Bundesratsdrucksache 699/10.
Nachfrage? - Bitte schön.
Hat bei dieser Antwort die Problematik mit dem Zusatzschild „Nur bei Nässe“, das üblicherweise bei Geschwindigkeitsbeschränkungen angewendet wird, Berücksichtigung gefunden? Der Grund der Frage ist
folgender: Nässe ist eine ähnliche Definition wie Schnee
oder Eisglätte. Bei dieser Definition gibt es erhebliche
Probleme und immer wieder rechtliche Auseinandersetzungen, ob Nässe vorliegt oder nicht. Sind die Erfahrungen mit diesem Zusatzschild und die rechtlichen Folgen
in die eben von Ihnen genannte Bewertung eingeflossen?
Diese Erfahrungen sind nicht eingeflossen, weil wir
uns zunächst darauf konzentriert haben, die winterlichen
Wetterverhältnisse zu definieren. Das ist durch ein Urteil
des Oberlandesgerichts Oldenburg erforderlich geworden, das festgestellt hat, dass die bisherige Formulierung
„winterliche Wetterverhältnisse“ in der StraßenverkehrsOrdnung nicht bestimmt genug ist, um entsprechende
Bußgeldverfahren rechtssicher durchführen zu können.
Das hat uns dazu bewogen, gemeinsam mit unserer
nachgeordneten Behörde, dem Deutschen Wetterdienst,
eine Definition dieser winterlichen Wetterverhältnisse
herbeizuführen. Ich will Ihnen hierzu gerne aus der
Drucksache des Bundesrates zitieren; dann wird wohl
deutlich, was damit gemeint ist:
Glatteis, Schneeglätte, Schneematsch, Eis- und
Reifglätte zählen nach Auskunft des Deutschen
Wetterdienstes zu den winterlichen Wetterverhältnissen. Solche Wetterverhältnisse sind in der Regel
geeignet, die Sicherheit des Straßenverkehrs zu beeinträchtigen. Verursacht werden diese Verhältnisse
insbesondere durch unterschiedliche Niederschlagsarten: Schneefall ({0}), Eiskörner, Glatteis bzw. gefrierender Regen ({1}), gefrierender
Nebel und Schneeverwehungen ({2}).
Diese Wettererscheinungen und -verhältnisse können bereits bei Lufttemperaturen einige Grad über
dem Gefrierpunkt auftreten. So kann sich bereits
bei starkem Schneefall bei 4 °C eine geschlossene
Schneedecke ausbilden. Das bedeutet für die Verkehrsteilnehmer, dass sie bei diesen Wetterverhältnissen mit Sommerreifen nicht mehr sicher am
Straßenverkehr teilnehmen können.
Weitere Nachfrage, oder kommen wir zur nächsten
Frage? - Noch eine Nachfrage.
Da wir bei der Definition, was „glatt“ ist, allein in
diesem Haus eventuell zu 10 bis 20 verschiedenen Definitionen kämen, ist meine Frage: Wenn Sie solch eine
neue Regelung einführen, dann möchte die Bundesregierung sicherlich, dass sie durchgesetzt wird. Wie bewertet
die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Aussage der Polizeigewerkschaft, dass insbesondere aufgrund der jetzigen Sicherheitslage überhaupt kein Personal zur Verfügung steht, um diese neue Regelung
flächendeckend überprüfen zu können?
Diese Stellungnahme der Polizeigewerkschaft ist mir
nicht bekannt.
({0})
- Vielen Dank für den Quellenhinweis. Ich werde das
gerne nachlesen. - Wir gehen davon aus, dass die Länderpolizeien das Recht durchsetzen, das wir hier machen. Dazu gehört insbesondere die Anwendung der
Straßenverkehrs-Ordnung. Ich glaube, dass eine weitergehende Definition von „Glätte“ den Gesetzgeber überfordern würde. Denn wie würden Sie persönlich Glätte
anders definieren als der Deutsche Wetterdienst? Ich
glaube schon, dass das eine für jeden einsichtige Formulierung ist. Es gibt einen Unterschied zwischen Schneematsch und Reifglätte, und es gibt einen Unterschied
zwischen Eisglätte und Schneeglätte. Ich glaube, das
kann jeder unterscheiden, auch die Beamten der Polizei.
Wir kommen damit zur Frage 17, ebenfalls der Kollegin Lühmann:
Wie will die Bundesregierung der Verkehrssicherheit
Rechnung tragen, wenn ein Kraftfahrer die neu gefasste Vorschrift erfüllt, indem er zwar Reifen mit dem Schneeflockensymbol verwendet, diese aber tatsächlich nicht auf die in der
Verordnung genannten winterlichen Wetterverhältnisse ausgelegt sind, weil sie ein Profil haben, das nachweislich nicht für
Glatteis, Schneeglätte, Schneematsch oder Eis geeignet ist,
unter anderem, weil sie keine Mindestprofiltiefe von 4 Millimeter haben?
Nach § 2 Abs. 3 a der Straßenverkehrs-Ordnung darf
bei den genannten winterlichen Wetterverhältnissen nur
mit M+S-Reifen gefahren werden. M+S-Reifen sind
„Reifen, bei denen das Profil der Lauffläche und die
Struktur so konzipiert sind, dass sie vor allem in Matsch
und frischem oder schmelzendem Schnee bessere Fahreigenschaften gewährleisten als normale Reifen. Das
Profil der Lauffläche der M+S-Reifen ist im Allgemeinen durch größere Profilrillen und/oder Stollen gekennzeichnet, die voneinander durch größere Zwischenräume
getrennt sind, als dies bei normalen Reifen der Fall ist“.
Ich verweise dazu auch auf den Anhang II Nr. 2.2 der
Richtlinie 92/23/EWG. Reifen, die diesen Eigenschaften
entsprechen, sind in der Regel mit einem M+S-Symbol
gekennzeichnet. Dieses Symbol ist sowohl für den Verbraucher als auch für das Kontrollpersonal ein Indiz dafür, dass die Reifen den Vorgaben des § 2 Abs. 3 a Satz 1
der Straßenverkehrs-Ordnung genügen. Entspricht der
Reifen trotz M+S-Symbol nicht den Anforderungen der
Richtlinie 92/23/EWG, liegt ein Verstoß gegen § 2
Abs. 3 a Satz 1 Straßenverkehrs-Ordnung vor, der mindestens mit einer Geldbuße von 40 Euro geahndet werden kann.
Bitte schön, eine Nachfrage? - Keine Nachfrage.
Aber Kollege Pronold hat eine Nachfrage.
Bei der Winterreifenpflicht, die jetzt eingeführt worden ist, geht es ja um die Verkehrssicherheit insgesamt.
Die Bundesregierung hat nun für den Pkw-Verkehr und
damit für den Verbraucher sehr klare - und kostenintensive - Regelungen definiert; für den Lkw-Verkehr gelten
aber andere Regelungen. Wir haben in den letzten Tagen
gesehen, dass es auf vielen Autobahnen deswegen Probleme gegeben hat, weil Lkws liegen geblieben sind.
Warum hat die Bundesregierung nicht auch in puncto
Lkw eine Winterreifenpflicht vorgeschlagen und durchgesetzt, die eine größere Sicherheit im Straßenverkehr
ermöglichen würde?
Bitte schön.
Dazu müssen wir festhalten, dass bei Lkws Winterreifen nicht zwingend dazu führen, dass diese Fahrzeuge
im Winter sicher betrieben werden können. Bei entsprechenden Witterungsverhältnissen und wenn ein Winterdienst nicht oder nicht so schnell gewährleistet werden
kann, kann es durchaus vorkommen, dass auch Lkws mit
Winterreifen liegen bleiben, sodass es zu Staus auf Autobahnen kommt. Das lässt sich bei diesen Witterungsverhältnissen leider nicht ganz ausschließen. Aber die Bundesregierung wird alles tun, um dafür zu sorgen, dass die
Winterreifenpflicht für alle gilt.
({0})
Dann kommen wir zur Frage 18 der Abgeordneten
Gottschalck:
Welche Kosten für den Streudienst haben die Bundesländer zum 15. Juni 2010 gemeldet, die sie für den Streudienst
auf Bundesstraßen im Winter 2009/2010 zu tragen hatten, und
kann die Bundesregierung im Vergleich der Winterperioden
2007/2008 und 2008/2009 einen Anstieg verzeichnen?
Liebe Frau Kollegin Gottschalck, aufgrund der Ländermeldungen kann die Bundesregierung eine Änderung
der Winterdienstkosten einschließlich des Salzverbrauchs vom Jahr 2007 bis zum Jahr 2010 bestätigen.
Ich nenne Ihnen die Zahlen gerne: Für die Winterperiode
2007/2008 betrugen die Winterdiensteinsatzkosten einschließlich des Salzverbrauchs 133 Millionen Euro; insgesamt wurden 555 000 Tonnen Salz verbraucht. Für die
Winterperiode 2008/2009 betrugen die Winterdiensteinsatzkosten 182 Millionen Euro, und 863 000 Tonnen
Salz wurden verbraucht. Die Winterperiode 2009/2010
hat den Winterdienst 258 Millionen Euro gekostet; dabei
sind 1,387 Millionen Tonnen Salz verbraucht worden.
Eine Nachfrage, Frau Gottschalck?
Herr Mücke, vielen Dank für die Beantwortung. Können Sie mir noch sagen, wie die Empfehlung des
Bundes und der Länder an die Autobahnmeistereien aus8858
sieht, um sicherzustellen, zukünftig noch effektiver Winterdienst leisten zu können?
Der Bundesverkehrsminister hat auf der Verkehrsministerkonferenz seine Länderkollegen gebeten, besondere
Obacht auf dieses Problem zu legen und sich frühzeitig
insbesondere mit Streusalz zu bevorraten. Die Bundesländer haben uns zugesichert, dass eine ausreichende Bevorratung gegeben ist bzw. dass solche Lieferverträge
abgeschlossen worden sind, die eine kontinuierliche Belieferung der Straßenmeistereien und Autobahnmeistereien auch bei länger andauerndem Winter garantieren.
Deshalb gehen wir davon aus, dass die getroffenen Vorkehrungen ausreichend Gewähr dafür bieten, den Winterdienst effektiv durchführen zu können.
Sie haben keine weitere Nachfrage.
Dann kommen wir zur Frage 19 der Kollegin
Gottschalck:
Ist der Bundesregierung bekannt, in wie vielen Fällen es
seit dem Wintereinbruch im Dezember 2010 zu Behinderungen des Bahnverkehrs an Bahnübergängen kam, weil aufgrund der Verwendung von Streusalz an Bahnübergängen sich
das Verhalten der elektrischen Kontakte, über die die Bahnschranken ihr Signal erhalten, veränderte und ein Kurzschluss
ausgelöst wurde?
Auf Ihre Frage kann ich Ihnen antworten: Der Bundesregierung sind keine Fälle bekannt, in denen aufgrund der Verwendung von Streusalz Kurzschlüsse in
den elektrischen Bahnübergangsanlagen vorgekommen
sind.
Es gibt keine Nachfrage dazu.
Die Fragen 20 und 21 der Kollegin Ute Kumpf werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 22:
Wie will die Bundesregierung als Eigentümer der Deutschen Bahn AG, DB AG, angesichts der erneuten winterbedingten Probleme im Zugverkehr sicherstellen, dass künftig
nur noch witterungsresistente Materialien in der Fahrzeugflotte sowie beim Neubau bzw. der Instandhaltung des Netzes
zum Einsatz kommen?
Herr Staatssekretär, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Kollege
Burkert, die Festlegung der Einzelheiten bei der Beschaffung von Fahrzeugen sowie beim Bau bzw. bei der
Instandhaltung der Schieneninfrastruktur liegt ausschließlich in der Verantwortung des Unternehmensvorstands. Der Bund nimmt hierauf keinen Einfluss. Im
Übrigen wird auf die Entscheidung des Ausschusses für
Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zur
Auslegung der §§ 105 und 108 der Geschäftsordnung
des Deutschen Bundestages verwiesen. Ich empfehle Ihnen dazu auch die Drucksachen 13/6149 und 16/8467.
Haben Sie eine Nachfrage? - Bitte, Herr Burkert.
Ich habe eine Nachfrage, Herr Staatssekretär. Ist die
Bundesregierung als 100-prozentige Eigentümerin der
Deutschen Bahn AG bereit oder denkt sie darüber nach,
zweckgebundene Mittel zur Verfügung zu stellen, um
witterungsbedingte Probleme bei der Deutschen
Bahn AG zukünftig auszuschließen oder zumindest besser in den Griff zu bekommen? Denkt die Bundesregierung darüber nach, die Dividende, die sie jährlich von
der Deutschen Bahn AG in Höhe von 500 Millionen
Euro bekommen möchte, abzuschmelzen, um witterungsbedingten Einflüssen entgegenzuwirken?
Zur ersten Teilfrage kann ich Ihnen sagen, dass sich
dieser Bereich ausschließlich auf die unternehmerische
Verantwortung der Deutschen Bahn AG bezieht. Deshalb ist hier vor allen Dingen der Vorstand gefragt. Sie
kennen die Regelungen des Aktiengesetzes und die Befugnisse des Vorstandes bzw. des Aufsichtsrates. Wir
gehen davon aus, dass der Vorstand der Deutschen
Bahn AG Vorsorge treffen wird, um sein rollendes Material weniger witterungsanfällig zu machen. Soweit ich
informiert bin, gibt es entsprechende Bemühungen des
Vorstandes in diesem Bereich.
Sie haben eine weitere Nachfrage?
Ja, ich habe eine weitere Nachfrage. Wird die Bundesregierung im Rahmen ihrer Tätigkeit im Aufsichtsrat
der Deutschen Bahn AG bei den Auftragsvergaben, was
den Materialpark angeht, darauf achten, dass Qualität
Vorrang vor dem Preis haben wird, um zukünftig Wintermängel auszuschließen?
Nein, die Vergabe ist keine Aufgabe des Aufsichtsrates.
Dann sind wir bei Frage 23 des Kollegen Martin
Burkert:
Werden Mittel aus dem Einzelplan 12 des Bundeshaushalts speziell für die Witterungsresistenz des Bestandsnetzes
der DB AG verwandt, und gibt es spezielle Anstrengungen
der Bundesregierung gegenüber der DB AG, Tunnel, wie beispielsweise den Schwarzkopftunnel, gegen Witterungseinflüsse zu schützen?
Nein, die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung,
mit der der Deutschen Bahn AG Mittel für Investitionen
im Bestandsnetz zur Verfügung gestellt werden, enthält
keine Vorgaben hinsichtlich der Witterungsresistenz.
Haben Sie eine Nachfrage dazu? - Bitte schön.
Herr Staatssekretär, meine Nachfrage bezieht sich auf
den Schwarzkopftunnel, der Ihnen vielleicht als wichtiges Nadelöhr im Schienenverkehr zwischen den Bundesländern Bayern und Hessen bekannt ist. Kennt die Bundesregierung die schwierige bauliche Situation im
Schwarzkopftunnel? Ist Ihnen bekannt, dass hier zurzeit
täglich Eis von der Tunneldecke abgeschlagen werden
muss, um vor allem bei Güterzügen die Sicherheit zu gewährleisten?
Es ist uns bekannt, dass diese Phänomene im Winter
in einzelnen Tunneln wegen Haarrissen und anderer
baulicher Unzulänglichkeiten auftreten können. Der
Deutschen Bahn AG sind mit der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung Mittel zur Verfügung gestellt worden, um diese baulichen Mängel zu beseitigen. Die
Deutsche Bahn AG ist verpflichtet, das umzusetzen.
Eine direkte Verantwortung der Bundesregierung dafür
gibt es nicht. Ich habe schon vorhin auf die unternehmerische Verantwortung der Deutschen Bahn AG verwiesen.
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
Ja.
Bitte schön.
Angesichts der Tatsache, dass Ihnen die Situation bekannt zu sein scheint, stellt sich die Frage, warum Sie
die Zustimmung zur vorliegenden Finanzierungsvereinbarung zum Bau neuer Tunnelröhren, insbesondere des
Schwarzkopftunnels, in letzter Sekunde zurückgezogen
und die Unterschrift verweigert haben, obwohl der Vertrag schon auf dem Schreibtisch des Ministers lag.
Das kann ich jetzt nicht bestätigen; ich müsste nachprüfen, ob es tatsächlich so war. Ich werde Ihnen die entsprechenden Informationen gerne schriftlich zukommen
lassen.
Vielen Dank. - Die Fragen 24 und 25 des Kollegen
Hans-Joachim Hacker werden schriftlich beantwortet,
ebenso die Fragen 26 und 27 des Kollegen Sören Bartol.
Wir kommen zu den Fragen 28 und 29 des Kollegen
Hofreiter:
Wer ist Eigentümer der für die Mauterhebung erforderlichen Einrichtungen und Anlagen - Mautbrücken, On-BoardUnits, Server, Software etc. - nach Auslaufen des aktuellen
Betreibervertrages, und wie bewertet die Bundesregierung die
Möglichkeit, das Unternehmen Toll Collect GmbH durch den
Bund zu übernehmen?
In welcher Form sucht die Bundesregierung nach einem
künftigen Betreiber nach Auslaufen des aktuellen Betreibervertrages - öffentliche Ausschreibung, Direktvergabe oder
Ähnliches -, und wie ist der Stand der beiden Schiedsverfahren gegen die Toll Collect GmbH?
Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Hofreiter, nach Auslaufen des aktuellen Betreibervertrages zur Lkw-Maut
stehen der Bundesrepublik Deutschland mehrere Optionen zur Verfügung:
Erstens: Errichtung eines neuen Mautsystems mit einem neuen Betreiber nach Ausschreibung und Abbau
des aktuellen Mautsystems durch Toll Collect.
Zweitens: Übernahme und Weiterbetrieb des bestehenden Mautsystems durch die Bundesrepublik Deutschland.
Drittens: Weiterbetrieb des bestehenden Mautsystems
durch Toll Collect oder einen neuen Betreiber, ebenfalls
nach Ausschreibung.
Ob und in welcher Form nach einem zukünftigen Betreiber zu suchen ist, hängt davon ab, welche Option die
Bundesrepublik Deutschland auswählt. Die Bundesregierung hat hierzu noch keine Entscheidung getroffen.
Zum Stand des Schiedsverfahrens nehme ich wie
folgt Stellung: Zwischen dem Bund und Toll Collect
sind zwei Schiedsverfahren anhängig. Das erste Schiedsverfahren wurde im Herbst 2004 vom Bund gegen das
Toll-Collect-Konsortium und dessen Konsorten Deutsche Telekom AG und Daimler Financial Services AG
eingeleitet. Der Bund macht in diesem Verfahren im Wesentlichen rund 3,3 Milliarden Euro Schadensersatz für
entgangene Mauteinnahmen wegen verspäteter Einführung der streckenbezogenen Lkw-Maut sowie Vertragsstrafen in Höhe von rund 1,65 Milliarden Euro wegen
diverser Verletzungen des Betreibervertrages geltend.
Die Toll Collect GmbH, die Betreibergesellschaft des
Mautsystems, hat im Dezember 2006 gegen den Bund
vor demselben Schiedsgericht ein weiteres Schiedsverfahren eingeleitet. Die Toll Collect GmbH macht gegenüber dem Bund im Wesentlichen angeblich ausstehende
Betreibervergütungen geltend. Dieses Verfahren nennen
wir das zweite Schiedsverfahren.
Derzeit findet die ursprünglich für Oktober 2009 angesetzte, dann aber wegen eines unbegründeten Befangenheitsantrages der Toll-Collect-Unternehmen gegen
den vom Bund benannten Schiedsrichter verschobene
zweite mündliche, mehrtätige Verhandlung zu beiden
Mautschiedsverfahren statt. In ihrem Rahmen werden
wesentliche Rechts- und Beweisfragen behandelt. In beiden Verfahren hat im Juni 2008 bereits eine erste mündliche Verhandlung stattgefunden. Nach der zweiten
mündlichen Verhandlung werden die Parteien Gelegenheit erhalten, zu deren Ergebnis Stellung zu nehmen.
Weitere Aussagen zum Fortgang des Verfahrens sind
derzeit nicht möglich, weil wir mitten in diesem Verfahren stecken.
Herr Hofreiter, Sie haben jetzt die Möglichkeit, bis zu
vier Nachfragen zu stellen. Das müssen Sie aber nicht
ausnutzen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Herr
Staatssekretär. Sie haben zwar die Frage 29 wunderbar
beantwortet, die Frage 28 aber überhaupt nicht. Da frage
ich, wer nach Auslaufen des Vertrages Eigentümer der
für die Mauterhebung erforderlichen Einrichtungen ist.
In dem Vertrag muss es eine Endschaftsregelung geben.
An wen gehen die Einrichtungen über? Fallen sie zurück
an den Betreiber, oder gehen sie in das Eigentum der
Bundesrepublik über?
Diese Anlagen gehören der Toll Collect GmbH. Der
Bund hat allerdings einen Anspruch auf kostenlose
Übertragung, weil diese Anlagen nach Auslaufen des
Betreibervertrages abgeschrieben sind. Das heißt, wir
haben einen Anspruch darauf, dass diese Anlagen der
Bundesrepublik Deutschland kostenfrei übereignet werden.
Sie haben eine weitere Nachfrage? - Bitte schön.
Es ging auch um die sogenannten Mehrwertdienstleistungen. Deswegen haben wir ein relativ aufwendiges
Verfahren gewählt. Gibt es denn Hinweise, dass irgendeiner dieser sogenannten Mehrwertdienste von Toll
Collect geleistet wurde?
Dafür habe ich keine Hinweise.
Haben Sie eine weitere Nachfrage, Herr Hofreiter? Bitte.
Wie sieht der ungefähre Zeitrahmen aus, den die Bundesregierung sich für die beiden Schiedsverfahren setzt?
Es geht um eine erhebliche Summe Geld. Das lässt sich
sicher nicht genau abschätzen. Zurzeit befinden wir uns
in den mündlichen Verhandlungen. Die Bundesregierung
muss aber eine ungefähre Vorstellung vom Zeitrahmen
für die beiden Schiedsverfahren haben.
Wenn es nach uns ginge, so schnell wie möglich. Allerdings sind wir auf unsere Partner und das Schiedsgericht angewiesen. Ich kann heute schwerlich einen
Endpunkt definieren. Wir haben aber ein großes Interesse daran, dass dieses Problem recht zeitnah geklärt
wird. Es ist auch, glaube ich, im Interesse des Steuerzahlers, dass unsere aus unserer Sicht berechtigten Ansprüche befriedigt werden und wir eine entsprechende Einnahme im Haushalt verzeichnen können. Es wäre aber
sehr vermessen von mir, heute einen Termin zu benennen, zu dem diese Schiedsverfahren beendet sein werden. Für uns geht es nicht vorrangig darum, schnell ein
Ergebnis zu haben, sondern darum, dass es ein gutes Ergebnis ist. Das Gute misst sich insbesondere daran, dass
wir möglichst viele unserer Forderungen, die auch finanzieller Art sind, umsetzen können. Deshalb bitte ich um
Verständnis dafür, dass ich keinen Endpunkt nennen
kann. Wir wollen zügig zum Ende kommen, aber wir
wollen natürlich auch eine möglichst hohe Einnahme aus
diesem Schiedsverfahren an den Bundeshaushalt abführen können.
Haben Sie noch eine weitere Nachfrage? - Bitte.
Ich habe noch eine weitere Nachfrage. Im Moment ist
völlig unabsehbar, wann das Schiedsverfahren endet.
Welche Konsequenzen hätte es aus Sicht der Bundesregierung, wenn das Schiedsverfahren bei Auslaufen des
Vertrages noch nicht abgeschlossen ist?
Aus meiner Sicht ergeben sich daraus keine wesentlichen Konsequenzen. Das ist eine sehr hypothetische
Frage. Wir wissen nicht, wie lange es dauert. Für uns ist
dann die Frage, welches Modell wir wählen, zum Beispiel ob wir neu ausschreiben. Das hat aber mit Forderungen, die aus der Anfangszeit des Mautsystems stammen, nichts zu tun. Diese Forderungen halten wir weiter
aufrecht, ganz egal, wie lange das Schiedsverfahren dauert. Ich gehe aber davon aus, dass die Schiedsverfahren
vor Ablauf der Betreiberverträge entschieden sein werden.
({0})
Jetzt eine Nachfrage des Kollegen Burkert dazu.
Herr Staatssekretär, können Sie schon heute sagen,
wie die Mittel, die nach Abschluss des Schiedsverfahrens zur Verfügung stehen, auf die einzelnen Verkehrsträger - Stichwort: Modal Split - verteilt werden? Die
Einnahmen aus der Maut sollen zukünftig allein der
Straße zugutekommen, während gegenwärtig auch die
Verkehrsträger Wasserstraße und Schiene davon profitieren. Werden die Altmittel zukünftig auch nur in den Verkehrsträger Straße fließen, oder denkt man daran, wenigstens diese Mittel den anderen Verkehrsträgern zu
geben?
Dazu kann ich heute noch keine Aussage treffen, weil
wir nicht wissen, was das Ergebnis dieses Schiedsverfahrens sein wird.
({0})
Nein, Sie dürfen keine Nachfrage stellen, weil dies
nicht Ihre eigene Frage ist.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht die Parlamentarische
Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser zur Verfügung.
Die Frage 30 des Kollegen Gerd Bollmann wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe Frage 31 des Kollegen Miersch auf:
Welche neuen Erkenntnisse in Bezug auf die Notwendigkeit der Atommülltransporte von Ahaus nach Majak hatte die
Bundesregierung zwischen dem 1. Dezember 2010, an dem
die Parlamentarische Staatssekretärin Katherina Reiche noch
von der Prüfung der Transporte sprach, und dem 6. Dezember
2010, an dem der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit, Dr. Norbert Röttgen, den Transport abgesagt hatte?
Frau Staatssekretärin.
Lieber Kollege Miersch, zum Tagesordnungspunkt 14
der Sitzung des Umweltausschusses des Deutschen Bundestages am 1. Dezember 2010 hatte meine Kollegin, die
Parlamentarische Staatssekretärin Katherina Reiche,
vorgetragen - das geht auch aus Ihrer Frage hervor -,
dass das Bundesumweltministerium im Rahmen seiner
Zuständigkeit den Sachverhalt umfassend prüfen und
mit Blick auf die uns allen gemeinsamen umweltpolitischen Ziele bewerten wird. Diese Prüfungen und Bewertungen, Herr Miersch, wurden durchgeführt. Am
6. Dezember 2010 hat Herr Bundesumweltminister
Dr. Norbert Röttgen der Presse das Ihnen allen bekannte
Ergebnis vorgestellt.
Sie haben eine Nachfrage, Herr Miersch? - Bitte.
Frau Staatssekretärin, das war der Sachverhalt, der
bekannt war. Ich habe aber nach einem anderen Aspekt
gefragt und erbitte nun in einer Nachfrage eine Antwort
darauf. Die Parlamentarische Staatssekretärin hat am
1. Dezember 2010 in der Tat von dieser Prüfung gesprochen. Der Bundesumweltminister hat in der Fragestunde
ebenso von der Prüfung gesprochen. Fünf Tage später
wurde dieser Transport abgesagt, obwohl am 1. Dezember auch die Sprecherin gesagt hatte, von Absage könne
keine Rede sein. Meine Frage lautet: Welche Prüfung
fand zwischen dem 1. und dem 6. Dezember 2010 statt,
die letztlich zu der Absage führte?
Es ist, wie Ihnen auch aus der Pressemitteilung des
BMU vom 6. Dezember 2010 bekannt wurde, geprüft
worden, ob die Brennelemente in der russischen Anlage
Majak schadlos verwertet werden können. Ich zitiere
jetzt Bundesumweltminister Röttgen:
Die vorliegenden Unterlagen lassen eine abschließende Aussage dazu nach den Maßstäben des
Atomgesetzes gegenwärtig nicht zu.
Genau dies wurde geprüft, und zwar nicht erst ab dem
1. Dezember, sondern auch schon vorher. Die Prüfung
hat, wie Sie sich denken können - wir haben Gutachten
eingeholt etc. -, einen langen Zeitraum gedauert. Deshalb ist Ihre Frage, denke ich, absolut korrekt beantwortet. Es gab die Prüfung, von der meine Kollegin und der
Minister gesprochen haben. Die Prüfungen sind am
6. Dezember zu einem Abschluss mit dem Ihnen bekannten Ergebnis gekommen.
Sie haben noch eine Nachfrage? - Bitte sehr.
Ich habe eine weitere Nachfrage. - In dieser Absage,
die am Montag erfolgte, ist von „gegenwärtig“ oder
„nach diesem Sachstand“ die Rede. Die Frage, die ich in
diesem Zusammenhang habe, ist: Ist dieser Transport auf
Dauer, also endgültig, abgesagt, oder welche Modalitäten verfolgt das BMU augenblicklich?
Das BMU hat, wie Ihnen bekannt ist, die Genehmigung versagt und gesagt - ich zitiere es noch einmal -,
dass der Nachweis der schadlosen Verwertung der
Brennelemente in Majak nicht gegeben ist. Das bedeutet,
dass man die Brennelemente dort nicht schadlos verwerten kann und somit kein Transport stattfindet.
Ich rufe Frage 32 des Kollegen Miersch auf:
Ist die Bundesregierung bereit, dem Parlament die in den
Bundesländern erstellten Auflistungen von konkreten oder an8862
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
gedachten Nachrüstungen von Atomkraftwerken zur Verfügung zu stellen, sobald diese der Bundesregierung vorliegen?
Meine Antwort, Kollege Miersch, lautet: Die Bundesregierung wird den Deutschen Bundestag in geeigneter
Weise über die im Zuge der Laufzeitverlängerung vorgesehenen Nachrüstungen informieren.
Sie haben eine Nachfrage, Herr Miersch? - Bitte sehr.
Frau Staatssekretärin, es ging um die Frage, ob die
Bundesregierung bereit ist, uns über die Faktenlage und
über die Erkenntnisse, die sie in diesem Zusammenhang
hat, vollständig zu informieren und uns dementsprechend auch Gutachten bzw. Unterlagen, die sie hat, vorzulegen.
Herr Miersch, Sie können mir glauben, dass das BMU
daran interessiert ist, das Verfahren transparent zu gestalten. Ich darf darauf hinweisen, dass die Entwicklung
sicherheitstechnischer Nachrüstmaßnahmen für Kernkraftwerke ein sehr dynamischer Prozess ist. Die Anforderungen, die auf der Homepage des BMU veröffentlicht
sind, werden anlagenspezifisch konkretisiert werden
müssen. Allerdings ist es auch die Aufgabe der Betreiber, die sicherheitstechnischen Verbesserungen ihrer Anlagen zu planen. Das werden Behörden und Sachverständige prüfen.
Bisher ist nicht abzusehen, welche Zwischenschritte
erfolgen und inwieweit mehr oder weniger umfassende
Dokumentationen in Form von Listen vorgenommen
werden. Deshalb können wir zum jetzigen Zeitpunkt
noch nicht so verfahren, wie Sie es gerne hätten. Aber
ich sage Ihnen zu, Sie umfassend über alles zu informieren.
Haben Sie noch eine Frage, Herr Miersch?
Ja. - Diese umfassende Information hätte ich mir - Sie
werden das vielleicht anders beurteilen - am 1. Dezember
dieses Jahres erhofft, als es um den Atomtransport nach
Majak ging; das ist ein kleines Beispiel. Fünf Tage später
lesen wir Parlamentarier dann etwas anderes. Insofern
will ich diese Gelegenheit nutzen, um diese Informationsflut gewissermaßen bei Ihnen abzugreifen. Ich frage Sie:
Schließen Sie aus, dass dann, wenn die erforderlichen
Nachbesserungen an der Anlage in Majak vorgenommen
werden, eventuell doch noch ein Transport dorthin stattfindet?
Ihre Nachfragen beziehen sich auf die Frage nach den
sicherheitstechnischen Anforderungen bei der Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken.
({0})
- Nein, um Atomkraftwerke, wenn ich aus Ihrer Frage
zitieren darf. - Ich habe Ihnen zugesagt, dass ich Ihnen
umfangreiche Informationen zur Verfügung stelle. Das
können Sie mir glauben. Dieses Thema können wir in einer der kommenden Sitzungen des Umweltausschusses
auch gerne besonders behandeln.
Was Majak angeht, habe ich Ihnen schon erläutert,
dass die Prüfung am 1. Dezember dieses Jahres noch
nicht abgeschlossen war. Das ist mehrfach betont worden, von meiner Kollegin und vom Minister. Sie müssen
uns zugestehen, dass wir die Prüfung erst einmal abschließen müssen, bevor wir zu einem Ergebnis kommen. Ich kann verstehen, dass Sie sich gewünscht hätten,
dass die Prüfung schon am 1. Dezember dieses Jahres
abgeschlossen gewesen wäre. Aber sie war es zu diesem
Zeitpunkt noch nicht, sondern erst sechs Tage später.
Jetzt gibt es noch eine Nachfrage der Kollegin
Steiner.
Danke schön für diese Möglichkeit. - Das, was Sie
gerade sagten, ist genau das Problem. Eigentlich hieß es
schon, der Transport geht auf die Reise, um es einmal leger auszudrücken, aber es gelingt uns nicht, im Umweltausschuss nicht und auch heute nicht, nähere Informationen darüber zu bekommen. Deswegen möchte ich in
Bezug auf die sicherheitstechnischen Maßnahmen, über
die Sie mit Abteilungsleitern in einer Telefonkonferenz
gesprochen haben, fragen: Was haben Sie in diesem
Rahmen hinsichtlich des konkreten Vorgehens bezüglich
der Nachrüstung von Atomkraftwerken vereinbart?
Ich finde es nett, dass Sie jetzt eine Frage Ihrer Kollegin Kotting-Uhl, die konkret nach dieser Telefonkonferenz gefragt hat, jetzt aber nicht hier ist, aufgreifen. Ich
kann Ihnen dazu nur sagen, dass in dieser Telefonkonferenz, die im Übrigen am 8. September dieses Jahres
stattgefunden hat, keine Vereinbarungen zum weiteren
Vorgehen getroffen wurden. Der Bund hat kein Protokoll
dieser Telefonkonferenz angefertigt. Deshalb kann ich
Ihnen dazu nicht mehr sagen.
Jetzt gibt es eine weitere Nachfrage des Kollegen
Schwabe.
Frau Staatssekretärin, Sie haben jetzt versucht, zumindest den Zeitraum vom 1. Dezember bis zum
6. Dezember dieses Jahres zu beleuchten. Was für die
Zeit danach dauerhaft folgt, habe ich immer noch nicht
verstanden. Deswegen will ich nachfragen: Können Sie
zusagen, dass der Transport nach Majak dauerhaft nicht
stattfindet: ja oder nein?
Ich darf darauf hinweisen, dass wir uns vorhin bereits
mit dieser Frage beschäftigt haben. Da jetzt verschiedene Fragen durcheinandergeworfen werden, halte ich
fest: Ich habe vorhin gesagt, dass der Nachweis der
schadlosen Verwertung in der Anlage in Majak nicht
vorliegt. Es kann natürlich sein, dass dieser Nachweis irgendwann in ferner Zukunft vorliegt. Das kann ich zum
jetzigen Zeitpunkt aber nicht beurteilen.
Wir haben heute zu entscheiden, ob eine Genehmigung zur Ausfuhr erteilt wird. Diese ist nicht erteilt worden, und deshalb erfolgt kein Transport nach Majak.
Die Fragen 33 und 34 der Kollegin Sylvia KottingUhl werden schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 35
des Kollegen Oliver Krischer.
Ich rufe die Frage 36 der Kollegin Dorothea Steiner
auf:
Besteht die Bundesregierung weiterhin auf ihren Ausführungen, dass mögliche Zusammenhänge zwischen den gehäuften Krebsfällen in der Samtgemeinde Asse und dem dortigen atomaren Lager gänzlich ausgeschlossen werden
können?
Ich bin der Kollegin Steiner dankbar dafür, dass sie
die Frage gestellt hat, sodass wir jetzt im Rahmen der
Fragestunde vielleicht noch einmal den einen oder anderen Sachverhalt im Zusammenhang mit den Krebsfällen
in der Samtgemeinde Asse besprechen können.
Frau Steiner, vorweg möchte ich zunächst sagen: Eine
Aussage dazu - ich zitiere jetzt aus Ihrer Frage -, „dass
mögliche Zusammenhänge zwischen den … Krebsfällen
in der Samtgemeinde Asse und dem dortigen atomaren
Lager gänzlich ausgeschlossen werden können“, wurde
seitens der Bundesregierung nicht getroffen. Eine derartige Aussage kann aufgrund genereller erkenntnistheoretischer Grenzen wissenschaftlicher Aussagen seriös auch
nicht getroffen werden.
Allerdings kann nach den vorliegenden Untersuchungsergebnissen der Umgebungsüberwachung der beobachtete Anstieg der Anzahl der Krebsfälle in der Samtgemeinde Asse nicht durch die Strahlenbelastung der
Asse erklärt werden; denn die Strahlenbelastung - das
wissen Sie - wird seit 1966 erfasst, und die bisherige Umgebungsüberwachung nach der Richtlinie zur Emissionsund Immissionsüberwachung kerntechnischer Anlagen
und die Messungen der Umweltradioaktivität im Rahmen
des integrierten Mess- und Informationssystems in der
Umgebung der Asse zeigen keine messbaren Einträge
von radioaktiven Stoffen aus der Schachtanlage Asse II
oder andere Auffälligkeiten.
Messbare Effekte in der Umgebung resultieren aus
dem Reaktorunfall von Tschernobyl bzw. sind auch natürlichen Ursprungs. Die gemessene Hintergrundstrahlung - das habe ich in der vorvergangenen Woche schon
als Antwort auf eine Frage der Kollegin Höhn gesagt kann nach den vorliegenden wissenschaftlichen Kenntnissen über die Entstehung der entsprechenden Krebserkrankungen nicht Ursache der erhöhten Krebshäufigkeit
sein, da die Dosis 10 000 Mal höher sein müsste.
Heute - Frau Steiner, ich kann Ihnen im Augenblick
nicht sagen, ob das schon geschehen ist - soll der Bericht des Epidemiologischen Krebsregisters Niedersachsen über Krebshäufigkeiten in der Umgebung der Asse
veröffentlicht werden, der morgen auch von einer Expertengruppe des Landkreises diskutiert wird. Darüber hinaus soll er von der Strahlenschutzkommission und vom
Bundesamt für Strahlenschutz geprüft und bewertet werden.
Wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt, dass die Anzahl
der Krebsfälle gestiegen ist, aber wir kennen die genauen individuellen Daten natürlich noch nicht, das
heißt, wir wissen noch nicht, welchen besonderen Expositionen die Erkrankten ausgesetzt waren. Es sind ganz
besonders diese Fragen, die wir in diesem Zusammenhang beantworten müssen. Wir erhoffen uns von dem
heute vorgestellten Bericht des Krebsregisters eine genauere Aufklärung darüber, aber, wie gesagt, ich kenne
den Bericht zum jetzigen Zeitpunkt eben noch nicht.
Eine Nachfrage der Kollegin Steiner?
Ja. - Das ist schade, weil es jetzt wirklich schön gewesen wäre, wenn ich diese Zahlen in die Nachfrage
hätte mit einbeziehen können.
Da stimme ich Ihnen sogar zu.
Ich möchte ein Stück weiter vorne anfangen. Mit
dem, was Sie gerade gesagt haben, haben Sie sich auch
in der Braunschweiger Zeitung zitieren lassen. Sie haben
einfach einen Umkehrschluss vorgenommen und gesagt:
Nach dem, was wir wissen, müsste die Dosis 10 000 Mal
höher sein als beobachtet, um Krebsfälle auf Strahlenbelastung zurückführen zu können. - Das haben Sie auch
damit begründet, dass die Umgebung der Asse seit 1966
- Zitat - „lückenlos“ erfasst wird.
Wir halten es für sehr fraglich, dass dies lückenlos erfolgt ist. Ich glaube, es ist eher so, dass man zwar die
Strahlung erfasst hat, dass man aber bis heute nicht weiß,
ob und wie die radioaktiv belasteten Laugenabflüsse in
die Biosphäre gelangen. Deswegen kann man nicht von
einer lückenlosen Erfassung ausgehen.
Das war der Hintergrund unserer Frage, und ich muss
hier schon noch einmal nachhaken: Haben Sie tatsächliche Belege dafür, dass Sie ausschließen können, dass
diese Krebsfälle durch Strahlenbelastung verursacht
sind? Es ist doch ein nennenswertes Krebsrisiko: Das Risiko, an Leukämie zu erkranken, ist zweimal so hoch wie
sonst üblich, und das Risiko, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken, ist dreimal so hoch.
Da stimme ich Ihnen zu. Ich habe gesagt, dass es bei
den beiden Erkrankungen in der Tat eine auffällige Häufung ist. Schilddrüsenkrebs beispielsweise kann ganz
klar durch radioaktives Jod ausgelöst werden.
Unsere Experten sagen - darauf muss ich mich jetzt
beziehen -, dass so etwas in der Asse nicht vorgefunden
wurde. Ich werde aber Ihrer Frage nach den Laugen
noch einmal gesondert nachgehen und Ihnen dazu in
Kürze eine Antwort zukommen lassen.
Sie haben eine weitere Nachfrage, Frau Steiner?
Ja, zu dem angesprochenen, heute vorzustellenden
Ergebnis. Selbst wenn Sie die Ergebnisse noch nicht
kennen und vermitteln können, wollen wir natürlich wissen, ob es gelungen ist, die Faktoren Alter, Familiengeschichte, Art der Erkrankung, Beruf und Wohnort mit
einzubeziehen, ob man es also auf diese Art und Weise
individualisieren konnte, und ob man die Daten - das ist
gerade vor dem Hintergrund des nicht geklärten Austritts
in die Biosphäre wichtig - in den angrenzenden Gemeinden ebenfalls erfasst hat. Ich nenne einmal die Gemeinden - Sie kennen sie vielleicht auch -: Sickte, Schöppenstedt, Baddeckenstedt, Schladen und Cremlingen.
Letzteres kann ich Ihnen nicht beantworten. Das muss
ich nachholen; das werde ich zügig tun.
Was den ersten Teil der Frage angeht, so waren es in
der Tat Bemerkungen, die wir auch gegenüber Niedersachsen gemacht haben, Fragestellungen, die uns interessieren, zumal sich unsere Strahlenschutzkommission
ebenfalls mit den Fällen befassen wird. Inwieweit das
tatsächlich eingegangen ist, kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.
Eine Nachfrage des Kollegen Miersch.
({0})
- Sie haben schon zwei gestellt, Frau Steiner. Deswegen
können Sie keine weitere Frage stellen.
Frau Staatssekretärin, wir haben Agenturmeldungen
von heute entnehmen können, dass die Strahlenbelastung in der Asse weit höher sein soll, als bislang angenommen. Welche Erkenntnisse liegen dem Ministerium
derzeit vor?
Mir persönlich liegen jetzt noch keine genauen Erkenntnisse darüber vor, außer den Meldungen, die, glaube
ich, gestern gekommen sind und heute in den Zeitungen
zitiert worden sind. Wir werden dem sehr ernsthaft nachgehen. Sie wissen, dass das auch Auswirkungen auf unseren Plan hat, die Fässer aus der Asse herauszuholen. Ich
warte dazu eine Stellungnahme des Bundesamtes für
Strahlenschutz ab. Dessen Sprecher hat gestern mitgeteilt, dass die Belastungen dort entsprechend höher sind.
Eine Nachfrage des Kollegen Ott.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Müssten Sie Ihre
eben gemachten Äußerungen nicht im Hinblick auf die
Tatsache hinterfragen, dass die Organisation IPPNW berichtet hat, dass eine statistische Auswertung der lebendgeborenen Kinder im Umfeld der Asse für die Jahre
1971 bis 2009 ein Zahlenverhältnis von 142 Jungen zu
150 Mädchen ergeben hat?
Auch diese Meldung ist mir bekannt. Wir werden
dem natürlich unter Berücksichtigung der entsprechenden Fragestellungen nachgehen.
Vielen Dank. - Ich rufe jetzt die Frage 37 des Abgeordneten Kaczmarek auf:
Mit welchen konkreten Maßnahmen will die Bundesregierung das in der nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt
formulierte Ziel - bis 2020 sind Fließgewässer und ihre Auen
in ihrer Funktion als Lebensraum so weit gesichert, dass eine
für Deutschland naturraumtypische Vielfalt gewährleistet ist erreichen?
Kollege Kaczmarek, mit der Umsetzung der EG-Wasserrahmenrichtlinie soll der Zustand auch der Fließgewässer in Deutschland verbessert werden. Die ersten Bewirtschaftungspläne und Maßnahmenprogramme nach
dieser Richtlinie wurden für die zehn für Deutschland relevanten Flussgebiete fristgemäß Ende 2009 aufgestellt.
Sie befinden sich zurzeit in der Umsetzung. Mit der Verbesserung des Gewässerzustands wird auch zum Ziel der
Erhaltung und Verbesserung der biologischen Vielfalt
beigetragen.
Mit dem im Herbst 2009 vorgelegten Auenzustandsbericht hat die Bundesregierung die Datengrundlage für
eine wirksame Auenentwicklung vorgelegt, für die alle
Gebietskörperschaften, vor allem Länder und Gemeinden, verantwortlich sind. Die Bundesregierung wird im
Rahmen des Bundesprogramms „Biologische Vielfalt“
Modellprojekte zur Umsetzung der nationalen Strategie
zur biologischen Vielfalt fördern.
Mit „chance.natur“, der Bundesförderung zur Errichtung und Sicherung schutzwürdiger Teile von Natur und
Landschaft mit gesamtstaatlich repräsentativer Bedeutung und mit einem jährlichen Fördervolumen von
14 Millionen Euro, leistet das Bundesministerium für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit einen wichtigen Beitrag zur Sicherung und Aufwertung auch von
Fließgewässern und Auen in ihrer Funktion als zentrale
Lebensräume für zahlreiche Arten.
Sie haben eine Nachfrage. Bitte sehr.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, für die Beantwortung meiner Frage. - Ich möchte auf den Indikatorenbericht zur nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt
zurückkommen. Sie weisen darin aus, dass Sie den Indikatorenwert für die größeren Flussauen von 19 auf
29 Prozent anheben wollen. Das ist ein ehrgeiziges Ziel.
Angesichts der Ergebnisse des Gipfels von Nagoya, die
erfreulicher ausgefallen sind als erwartet, möchte ich Sie
aber fragen, ob es innerhalb des Bundesumweltministeriums Überlegungen gibt, bei den Indikatorenzielen
noch einen Schritt voranzugehen.
Es hat uns in der Tat sehr gefreut, dass wir in Nagoya
zu einem wirklich guten Abschluss gekommen sind. Wir
werden innerhalb des Hauses sicherlich weiter beraten,
wie wir mit vielen einzelnen Punkten des Gipfels in Nagoya umgehen. Wir sind zurzeit damit befasst, zumal wir
bereits in der Umsetzungsphase sind. Inwiefern der Indikatorenbericht dabei eine Rolle spielen wird, kann ich
Ihnen jetzt noch nicht sagen.
Haben Sie eine weitere Nachfrage?
Nein.
Dann rufe ich die Frage 38 des Kollegen Oliver
Kaczmarek auf:
Was tut die Bundesregierung, damit, wie in der nationalen
Strategie zur biologischen Vielfalt angestrebt, 100 Prozent der
Wasserkörper einen guten oder sehr guten ökologischen Zustand erreichen, obwohl nach Meinung verschiedener Experten dieses Ziel nicht mehr realisierbar ist?
Ich darf kurz auf meine andere Antwort verweisen,
Herr Kaczmarek. Ziel der Wasserrahmenrichtlinie ist der
gute ökologische und chemische Zustand. Im Maßnahmenprogramm der Bundesländer und in den Planungen
der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung sind zahlreiche
Maßnahmen zur Verbesserung des ökologischen Zustands vorgesehen. Erst nach deren Umsetzung - das
müssen wir leider sagen -, die sich über mehrere Jahre
erstrecken wird, können wir tatsächlich beurteilen, ob
und wann der gute ökologische Zustand erreicht ist.
Dazu haben Sie eine Nachfrage.
Der Indikatorenbericht weist hierzu auf, dass zum einen die Verbauung von Fließgewässern ein Grund für
den nicht guten ökologischen Zustand der Fließgewässer
ist. Deswegen habe ich zum einen die Frage: Gibt es
Überlegungen innerhalb der Bundesregierung hinsichtlich einer ressortübergreifenden Strategie, beispielsweise
mit dem Verkehrsministerium? Im Anschluss daran habe
ich die Frage, wie Sie mit den Nährstoffeinträgen aus der
Landwirtschaft umgehen wollen.
Was die ressortübergreifende Strategie angeht, ist es
gut, denke ich, sich mit dem Verkehrsministerium abzustimmen. Dem werde ich nachgehen.
Die Nährstoffeinträge in der Landwirtschaft sind ein
immerwährendes Thema. Ich war vorher im Landwirtschaftsressort und kann vielleicht auch von dieser Seite
das eine oder andere dazu sagen. Wie Sie wissen, haben
wir uns im Zuge der Umsetzung der Gemeinsamen
Agrarpolitik sicherlich noch mit dem Thema „besondere
Umweltmaßnahmen“ zu befassen. Vielleicht kann man
Ihre Anregungen aufnehmen, das Thema Nährstoffeinträge entsprechend zu berücksichtigen.
Sie haben keine weitere Nachfrage dazu. Das hat jetzt
bestimmt auch die Schulklasse aus Neudietendorf besonders interessiert, über deren Anwesenheit auf der Tribüne ich mich sehr freue.
Wir kommen zur Frage 39 des Kollegen Hermann
Ott:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wie erklärt der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit, Dr. Norbert Röttgen, die Diskrepanz
zwischen ihm, der in seiner Rede auf der Klimaschutzkonferenz in Cancún davon sprach, dass der Klimaschutz in
Deutschland in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft angekommen sei und nicht als Bedrohung, sondern als Chance begriffen werde, und seinem Kabinettskollegen Rainer Brüderle,
der noch kürzlich in Einklang auch mit dem Bundesverband
der Deutschen Industrie e. V. eine Pause beim Klimaschutz
gefordert hat und die vermeintlichen Risiken und nicht die
Chancen von Klimaschutz betont, und hat sich die Meinung
des Kabinettskollegen Rainer Brüderle diesbezüglich mittlerweile geändert?
Ich bitte darum, die Fragen 39 und 40 gemeinsam beantworten zu dürfen, da sie in einem thematischen Zusammenhang stehen.
Dann rufe ich auch die Frage 40 auf:
Hat sich in diesem Zusammenhang die Position der Bundesregierung bezüglich einer unkonditionierten Erhöhung des
EU-Reduktionszieles auf 30 Prozent geändert?
Auf der Grundlage der Veröffentlichung der Mitteilungen der EU-Kommission vom 26. Mai 2010 mit dem
Titel „Analysis of options to move beyond 20 % greenhouse gas emission reductions and assessing the risk of
carbon leakage“ befasst sich die Bundesregierung mit
der von der EU-Kommission vorgelegten Analyse. Darin
geht es um die Sie bewegende Frage des unkonditionierten 30-Prozent-Ziels.
Die Bundesregierung hält es für nötig, dass sich der
Rat und erforderlichenfalls auch der Europäische Rat
Anfang 2011 wieder mit dieser Frage befassen werden.
Diese Debatte sollte auch in den Kontext der gegebenenfalls bis dahin veröffentlichten Roadmap 2050 der EUKommission zur Umsteuerung in eine kohlenstoffarme
Wirtschaft innerhalb der Europäischen Union gestellt
werden. Deutschland steht hinter dem international vereinbarten Ziel, dass die Industriestaaten ihre Treibhausgasemissionen bis 2050 um mindestens 80 Prozent reduzieren, und bekräftigt sein Ziel, in Deutschland die
Treibhausgasemissionen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Auf dieser Basis wird sich
Deutschland an der weiteren Diskussion zum EU-Klimaschutzziel beteiligen.
Entsprechend der Koalitionsvereinbarung sollen - jeweils gegenüber 1990 - bis 2020 die Treibhausgasemissionen um 40 Prozent und entsprechend der Zielformulierung der Industriestaaten bis 2050 um mindestens
80 Prozent reduziert werden. Das entspricht nach der im
Energiekonzept der Bundesregierung beschlossenen klimaschutzpolitischen Zielsetzung folgendem Entwicklungspfad bei der Minderung der Treibhausgasemissionen bis 2050 - das ist einmalig -: minus 55 Prozent bis
2030, minus 70 Prozent bis 2040 und minus 80 bis
95 Prozent bis zum Jahr 2050.
Herr Ott, Sie dürfen eine von maximal vier Nachfragen stellen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielen Dank, Frau
Staatssekretärin. Das war zwar eine äußerst wortreiche,
dennoch nicht ganz zufriedenstellende Antwort. Es geht
in dieser Frage um die Unterschiede in der Bewertung
durch BMU und durch BMWi. Gibt es in Ihrem Hause
Erkenntnisse darüber, wie angesichts des europäischen
20-Prozent-Ziels die Emissionsminderungen in den Sektoren aussehen müssten, die nicht vom Emissionshandel
gedeckt sind? Diese 20 Prozent sind für die deutsche Industrie festgelegt. Wenn Deutschland das 40-ProzentZiel erreichen will, die vom europäischen Emissionshandelssystem erfassten Sektoren - für immerhin fast die
Hälfte der Emissionen verantwortlich - aber nur
20 Prozent erreichen müssen, dann muss in den anderen
Sektoren, zum Beispiel beim Verkehr oder in den Haushalten, entsprechend mehr reduziert werden. Haben Sie
hierzu Berechnungen?
Nein, hierüber habe ich keine Kenntnis. Allerdings
weise ich nochmals darauf hin, dass wir das 40-ProzentZiel haben. Es gibt das Integrierte Energie- und Klimaprogramm der Bundesregierung, das umgesetzt wird, um
die 40 Prozent Emissionsreduktionen zu erreichen.
Deutschland beteiligt sich an der europäischen Debatte
auch vor dem Hintergrund seines eigenen 40-ProzentZiels. Wir werden Anfang nächsten Jahres sicherlich
eine spannende Debatte in der Europäischen Union erleben. Meine, wie Sie es formuliert haben, ausführliche
Antwort deutet bereits an, dass wir in verschiedenen
europäischen Gremien über diese Angelegenheit noch
weiter beraten werden.
Ich möchte noch einmal nachfassen - diese Angelegenheit ist für Ihre Verhandlungen mit dem BMWi sehr
wichtig -: Welche Reduktionsleistungen müssen die
Sektoren, die nicht vom Emissionshandelssystem ETS
erfasst werden, in Deutschland erbringen, falls Deutschland bei 40 Prozent bleibt, das europäische Ziel aber
20 Prozent vorgibt?
Ich habe den Prozess, in dem wir uns derzeit befinden, bereits skizziert. Wir sind dabei, Daten, Grundlagen
etc. zusammenzustellen, um diese in den europäischen
Prozess Anfang des kommenden Jahres einfließen zu
lassen. Wir haben aus Cancún die zusätzliche Verpflichtung zur Einhaltung des 2-Grad-Ziels mitgebracht. Auch
dieses Thema müssen wir in entsprechende Berechnungen, Vorstellungen und Debatten einbeziehen.
Herr Ott, haben Sie noch eine weitere Nachfrage?
Ja. - Vielleicht können Sie im Hause anregen, dass
eine solche Untersuchung von Ihnen durchgeführt wird.
Das könnte sehr überzeugend wirken.
Nicht ganz zufälligerweise ist das Wirtschaftsministerium ähnlicher Auffassung wie der BDI, der gerade noch
einmal davor gewarnt hat, dass Deutschland zu schnell
vorprescht. Das widerspricht ganz direkt den Vorstellungen des Ministers, der in Cancún noch einmal deutlich
herausgestellt hat, wie wichtig die grüne neue industrielle Revolution für die Wirtschaft Deutschlands ist.
Sind Sie mit dem BDI im Gespräch, um ihn von dem zu
überzeugen, was Ihrer Ansicht nach die Meinung der
Bundesregierung gemäß Koalitionsvertrag sein soll?
In Vorbereitung auf Ihre heutige Frage habe ich mich
natürlich im Wirtschaftsministerium vergewissert, dass
wir alle gemeinsam daran interessiert sind, eine gute Lösung für den Klimaschutz zu finden. Ich bitte jetzt aber
um Nachsicht, dass ich nicht für das Bundeswirtschaftsministerium antworten kann, und danke Ihnen ganz
herzlich für die gute Darstellung der Positionen des Bundesumweltministers.
Sie haben keine weitere Frage? - Dann rufe ich den
Kollegen Miersch auf.
Frau Staatssekretärin, der Kollege Ott hat eben auf die
Widersprüche innerhalb der Regierung hingewiesen. Wir
wissen auch, dass hier im Parlament bei CDU/CSU und
FDP sogenannte Klimaskeptiker sitzen sollen. Meine
Frage zum 30-Prozent-Ziel der Europäischen Union lautet daher: Strebt das Bundesumweltministerium an, dass
das Kabinett die Kanzlerin mandatiert, unkonditioniert
für das 30-Prozent-Minderungsziel auf der europäischen
Ebene einzutreten?
Wir befinden uns, Kollege Miersch, zurzeit in intensiven Gesprächen mit anderen Ressorts in Vorbereitung
auf die europäische Debatte. Die Position des Umweltministers ist Ihnen bekannt.
Herr Kollege Schwabe.
Geschätzte Staatssekretärin, wir waren mit einer Delegation des Deutschen Bundestages in Cancún und haben den Umweltminister begleitet. Er hat von einem großen Erfolg gesprochen. Seine Euphorie teile ich so nicht;
aber es war sicherlich ein wichtiger Schritt. Ein Teil dieses wichtigen Schrittes ist, dass sich die Kioto-Staaten
darauf verständigt haben, bis 2020 Reduktionsverpflichtungen in Höhe von 25 bis 40 Prozent, basierend auf
dem Jahr 1990, einzugehen. Teilen Sie meine Position,
dass vor diesem Hintergrund die Bundesrepublik
Deutschland und die Europäische Union keine andere
Chance haben, sich auf ein Ziel jenseits der 25 Prozent
festzulegen?
Dies wird die Debatte innerhalb der Europäischen
Union in den nächsten Wochen und Monaten zeigen. Ich
denke, dass unser 40-Prozent-Ziel ein guter Ansatz für
die Debatte in der Europäischen Union ist. Ich persönlich wünsche mir, dass andere Länder unserem Beispiel
folgen werden.
Dann kommen wir zu Frage 41 des Abgeordneten
Frank Schwabe:
Welche konkreten Schritte hat die Bundesregierung unternommen, damit die Europäische Union ihr Klimaschutzziel
auf 30 Prozent Minderung bis 2020 erhöht?
Frau Staatssekretärin, zur Antwort.
Wenn der Kollege Schwabe einverstanden ist, verweise ich auf meine Antworten auf die Fragen des Kollegen Ott.
Im Übrigen hält die Bundesregierung anspruchsvolle
Klimaschutzziele für Industriestaaten und Schwellenländer für erforderlich, um dem globalen Klimawandel
wirksam zu begegnen. In diesem Zusammenhang
möchte ich auf die ebenfalls im Energiekonzept der Bundesregierung enthaltenen Formulierungen zum Klimaschutz sowie zur Notwendigkeit der Umstrukturierung
der Energieversorgung verweisen. Ich habe gerade bei
der Beantwortung der Fragen des Kollegen Ott die Klimaschutzziele, die im Energiekonzept ausdrücklich genannt sind, aufgezählt.
Sie haben eine Nachfrage, Herr Schwabe.
Sie haben gerade ausgeführt, dass Sie sich wünschen,
dass es in der Europäischen Union eine Zielverschärfung
gibt. Danach habe ich aber gar nicht gefragt. Einer der
zahlreichen Beschlüsse in Cancún sieht vor, dass sich die
Kioto-Staaten verpflichten, sich im Rahmen einer
Spanne von 25 bis 40 Prozent zu bewegen. 30 Prozent
finde ich in diesem Zusammenhang nicht besonders ambitioniert. Meine Frage lautet: Sind auch Sie vor dem
Hintergrund der Beschlüsse von Cancún der Meinung,
dass die Europäische Union und damit auch die Bundesregierung keine andere Chance haben, als sich mindestens in der genannten Spanne zu bewegen? Man könnte
sich natürlich auf 25,1 Prozent anstatt auf 30 Prozent
festlegen. Das würde ich für falsch halten. Aber interpretieren Sie genauso wie ich diese Beschlüsse so, dass es
nun einen Automatismus geben muss und dass sich die
Bundesregierung und die Europäische Union auf ein Ziel
jenseits der 25 Prozent festlegen müssen?
Zum Ersten wollen wir in Deutschland ganz klar das
40-Prozent-Ziel erreichen; darin stimmen Sie mir sicherlich zu.
Zum Zweiten liegt uns eine Mitteilung der Kommission als Debattengrundlage für die nächsten Räte zum
Thema - um es verkürzt auszudrücken - „unkonditioniertes 30-Prozent-Ziel innerhalb der Europäischen
Union“ vor.
Zum Dritten haben wir in der Tat in Cancún klare Beschlüsse mitbekommen, die uns vorgeben, unsere Verpflichtungen zu überprüfen.
All dies wird in den nächsten Wochen und Monaten,
wie ich es schon mehrfach ausgeführt habe, erfolgen.
Wir befinden uns in intensiven Ressortgesprächen. Ich
persönlich bin zuversichtlich, dass diese Gespräche zu
einem guten Ende führen werden.
Sie haben noch eine Nachfrage. Bitte.
Ich habe verstanden, dass Sie jetzt noch nichts zur
Position der Bundesregierung sagen können. Mich
würde in der Tat interessieren, ob wir Kenntnis über die
Strategie der Bundesregierung bekommen werden. Wird
die Bundesregierung vor den Beschlüssen, die auf europäischer Ebene zu fassen sind, im Rat eine Position einnehmen, oder strebt die Bundesregierung an, erst im
Rahmen der Verhandlungen, also möglicherweise erst
auf dem Gipfel, zu einer solchen Positionierung kommen? Der Zeitplan würde mich schon interessieren.
Wann erfahren Sie den Zeitplan? Wann reden Sie mit
uns darüber?
Ich rede sehr gerne mit Ihnen darüber. Wir können uns
beispielsweise mit den Berichterstattern aus dem Umweltausschuss und mit weiteren Interessierten treffen, um
über die Umsetzung der Ergebnisse von Cancún und die
Vorbereitung der europäischen Debatte, die Anfang des
kommenden Jahres stattfinden wird, zu sprechen. Wie ich
bereits gesagt habe, ist unsere klare Aussage: Wir beteiligen uns an dieser Debatte vor dem Hintergrund unseres
eigenen 40-Prozent-Reduktions-Ziels.
Wie gesagt, nehme ich Ihr Gesprächsangebot sehr
gerne auf und rege an, dass wir uns Anfang Januar zusammensetzen, um über entsprechende Vorgaben zu
sprechen.
Herr Miersch, bitte.
Frau Staatssekretärin, ich verstehe eine Sache nicht.
Sie verweisen auf den Beschluss, 40 Prozent national zu
mindern, und trotzdem hakt es mit einem Beschluss des
Kabinetts, sich für eine unkonditionierte 30-ProzentMinderung einzusetzen. Woran hakt es in diesem Kabinett eigentlich?
Wir haben jetzt die Mitteilung der Kommission bekommen - ({0})
- Lassen Sie mich doch einmal ausreden. Das ist genauso wie eben bei Ihrer Frage nach dem 1. Dezember
und dem 6. Dezember.
({1})
Sie müssen uns Zeit geben, um innerhalb der Bundesregierung zu guten Ergebnissen zu kommen. Entscheidungen innerhalb der Europäischen Union, beispielsweise
von 20 auf 30 Prozent Treibhausgasemissionseinsparung
zu kommen, kann man nicht übers Knie brechen; schließlich muss man sie auch mit verschiedenen Teilen der Wirtschaft besprechen. Kollege Ott hat vorhin angeregt, noch
bestimmte Berechnungen durchzuführen. Auch das braucht
Zeit. Deshalb bitte ich Sie, uns diese Zeit zu lassen. Ich
habe zu Herrn Schwabe gesagt: Ich biete eine zeitnahe
Diskussion darüber an; sie soll noch im Januar einsetzen.
Herr Ott möchte noch eine Frage dazu stellen. Bitte
schön.
Frau Staatssekretärin, ich glaube Ihnen persönlich
und auch Ihrem Hause insgesamt, dass Sie sich in Europa für das 30-Prozent-Ziel einsetzen. Sie haben hier
eben den Eindruck vermittelt, auch die Bundesregierung
tue das. Nun sagen uns aber unsere Freunde in Europa:
Das stimmt nicht; Deutschland agiert innerhalb der EU,
in Brüssel gegen das 30-Prozent-Ziel. Deshalb meine
Nachfrage: Setzt sich die gesamte Bundesregierung in
Brüssel für eine Erhöhung des europäischen MindeDr. Hermann Ott
rungsziels auf 30 Prozent ein, oder trifft das nur für Ihr
Haus zu?
Noch einmal: Uns liegt eine Mitteilung der Kommission vor, die es zu beraten gilt. Die Bundesregierung bereitet zurzeit vor dem Hintergrund ihres eigenen 40-Prozent-Ziels ihre Stellungnahme und ihren Debattenbeitrag
dazu vor.
Dann sind wir jetzt bei der Frage 42 des Abgeordneten Frank Schwabe:
Mit welchen konkreten Handlungen hat sich die Bundesregierung in Cancún für eine zweite Verpflichtungsperiode
des Kioto-Protokolls eingesetzt?
Die Europäische Union hat mit Beschluss des Umweltrats vom 14. Oktober 2010 bekräftigt, dass sie zwar
ein einheitliches umfassendes Klimaschutzabkommen
bevorzugt, unter bestimmten Bedingungen aber auch bereit sein wird, Verpflichtungen im Rahmen einer zweiten
Verpflichtungsperiode des Kioto-Protokolls zu prüfen.
Zu den von der Europäischen Union hervorgehobenen
Bedingungen zählt zum einen die Bereitschaft anderer
Länder - das gilt vor allem für große Emittenten wie die
USA, aber auch für die Schwellenländer -, ebenfalls Klimaschutzverpflichtungen einzugehen. Zum anderen
muss das existierende Regelwerk des Kioto-Protokolls
verbessert werden, um seine Umweltintegrität sicherzustellen.
Zu diesem Zweck ist es erstens erforderlich, mögliche
Schlupflöcher bei der Anrechnung von Kohlenstoffsenken, insbesondere aus der Forstwirtschaft, zu schließen.
Zweitens muss eine Lösung für das Problem der überschüssigen Emissionsrechte gefunden werden.
Ich lasse jetzt noch eine Nachfrage des Kollegen
Schwabe zu. Nach ihrer Beantwortung sind wir am Ende
der Fragestunde angekommen.
Ich muss da insistieren, Frau Staatssekretärin. Es ist
interessant, was Sie ausführen; aber gefragt habe ich
nach den konkreten Schritten. Wir haben in Cancún gelernt, dass der Bundesumweltminister seine Rolle relativiert hat, indem er deutlich gemacht hat: Deutschland
verhandelt an vielen Stellen gar nicht; das macht vielmehr die Europäische Union. Wie hat sich Deutschland
eingesetzt? Welche konkreten Verhandlungen gab es?
Wie muss man sich das vorstellen? Wo hat sich Deutschland für eine zweite Verpflichtungsperiode des KiotoProtokolls eingesetzt?
Ich selbst bin weder beim Umweltministerrat am
14. Oktober 2010 noch in Cancún dabei gewesen. Sie
wissen, dass die Europäische Union auf internationalen
Konferenzen für ihre Mitgliedstaaten verhandelt, und
zwar auf der Grundlage von Beschlüssen, die beispielsweise vom Umweltrat in Form von Mandaten gefasst
worden sind, so wie es im Vorfeld von Cancún der Fall
gewesen ist. Die Bundesregierung hat sich im Umweltrat
entsprechend klar positioniert und die Diskussion über
die Ergebnisse von Cancún mit vorangebracht.
Damit ist die Fragestunde beendet, auch wenn Fragen
noch nicht erschöpfend beantwortet sind und noch nicht
sämtliche Fragewünsche erfüllt sind.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Konsequenzen der Bundesregierung aus der
aktuellen PISA-Studie für die Bildungspolitik
von Bund und Ländern
Das Wort hat der Kollege Swen Schulz für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sehen bei
den Ergebnissen der PISA-Studie eine durchaus positive
Tendenz. Wir waren von unseren Ergebnissen her zunächst eher unterdurchschnittlich, und jetzt sind wir im
guten Mittelfeld. Das muss man einmal positiv festhalten. Das ist zuallererst das Verdienst derjenigen, die sich
in der Schule und um die Schule herum um die Förderung der Schülerinnen und Schüler gekümmert haben.
Ihnen gebührt als Erstes unser Dank.
({0})
Das ist aber auch ein Stück weit ein Erfolg von Politik, von politischen Rahmenbedingungen. Zwar sind unsere Kolleginnen und Kollegen auf der Länderebene in
erster Linie verantwortlich, aber auch die Bundespolitik
spielt eine Rolle. Wenn man über die Frage nachdenkt:
„Welche Beiträge zu einer besseren Bildung gab es von
der Bundespolitik?“, fällt einem als Allererstes das
Ganztagsschulprogramm der rot-grünen Regierung unter
Gerhard Schröder ein. Das war ein richtiger Erfolg. Wir
wissen, dass Ganztagsschulen helfen. Das zeigt sich
auch bei der PISA-Studie. Das muss einmal mit Selbstbewusstsein gesagt werden,
({1})
auch wenn die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU und der FDP verständlicherweise nicht klatschen,
Swen Schulz ({2})
weil sie das Ganztagsschulprogramm damals bekämpft
haben.
Wenn man sich die Ergebnisse genauer anschaut, fällt
auf, dass wir unsere Fortschritte insbesondere den Migranten zu verdanken haben. Sie sind durchaus besser
geworden. Das war sehr nötig. Darüber hinaus freut es
mich im Zusammenhang mit der Integrationsdebatte, die
wir seit einiger Zeit besonders intensiv führen. Die
PISA-Ergebnisse zeigen nämlich, dass Bildung hilft,
({3})
dass Bildung oft den Unterschied ausmacht, dass diejenigen nicht recht haben, die etwa sagen: Es hat doch alles gar keinen Zweck; das ist alles genetisch bedingt. Wir geben niemanden verloren. Einsatz lohnt sich. Alle
haben eine optimale Chance verdient.
({4})
Wir, genauer gesagt: die Schülerinnen und Schüler,
sind bei PISA besser geworden, aber nicht gut genug. Es
gibt keinen Anlass, sich selbstzufrieden zurückzulehnen.
Das betrifft die besonders Schwachen in den Schulen,
aber auch diejenigen, die eigentlich zu den Leistungsstärkeren gehören.
Die entscheidende Frage für uns im Deutschen Bundestag ist: Trägt diese Regierungskoalition zu künftigen
Verbesserungen bei? Die klare Antwort lautet leider:
Nein. Die Regierungskoalition macht sogar kontraproduktive Politik. Sie ist nachgerade eine PISA-Gefahr.
({5})
- Sie lachen, liebe Kollegen. Es gibt eine ganze Menge
Beispiele dafür, dass sich CDU/CSU und FDP geradezu
bildungsfeindlich verhalten. Ich denke dabei etwa an das
Betreuungsgeld. Sie wollen Eltern Geld dafür geben,
dass Kinder nicht in Bildungseinrichtungen geschickt
werden. Das ist Irrsinn. Das geht so nicht.
({6})
- Herr Kollege Meinhardt, schauen Sie doch einfach einmal, was die PISA-Siegerländer haben, was wir in
Deutschland nicht haben:
({7})
Erstens: längeres gemeinsames Lernen.
({8})
Ich weiß, das ist völlig jenseits Ihres Denkhorizonts.
Dem wollen Sie sich überhaupt nicht nähern. Aber vielleicht lernen Sie dazu, genauso wie beim Thema Ganztagsschulprogramm. Schauen wir einmal.
({9})
Zweitens. In den PISA-Siegerländern gibt es eine bessere personelle Ausstattung. Das ist ohne Frage Aufgabe
der Länder.
({10})
Aber, Herr Kollege Meinhardt, die Bundespolitik leistet
einen Beitrag, indem sie für mehr oder weniger finanzielle Spielräume der Länder sorgt. Ihre unseriöse Finanzpolitik trägt dazu bei, dass den Ländern die Beine
weggehauen werden und sie in die Schulen und Kitas gar
nicht mehr investieren können. Das ist doch das Problem.
({11})
Drittens. Die PISA-Siegerländer haben Ganztagsschulen. In diesem Bereich sehe ich bei der Regierungskoalition eine Totalverweigerung: Sie wollen dieses
Thema überhaupt nicht anpacken; Sie wollen zusätzliche
Ganztagsschulen überhaupt nicht fördern und unterstützen. Das war zuletzt bei der Diskussion um das sogenannte Bildungspaket festzustellen. Ich habe im Ausschuss Ministerin Schavan noch einmal nach direkten
Investitionen in die Schulen gefragt. Frau Schavan hat
das klipp und klar kategorisch abgelehnt und gesagt:
Nein, in Schulen investieren wir nicht.
Die Politik, in Gutscheine für Nachhilfe statt direkt in
die Bildungseinrichtungen zu investieren, ist der Holzweg der Koalition. So kommen wir nicht weiter.
({12})
Wir glauben, es ist notwendig, dass der Bund jährlich
10 Milliarden Euro mehr in Bildung investiert. Das ist
erreichbar, wenn wir zum Beispiel auf so einen Quatsch
wie das von Ihnen geplante Betreuungsgeld verzichten,
wenn wir Steuergeschenke an Hoteliers und Erben wieder einkassieren und wenn wir die Vermögenden und
Hochverdiener am Steueraufkommen ordentlich beteiligen.
({13})
Wir wollen Ganztagsschulen. Wir wollen eine bessere
personelle Ausstattung. Wir wollen Sozialarbeiterinnen
und Sozialarbeiter an den Schulen. Das wäre ein wirklicher Fortschritt. Dann werden die nächsten PISA-Ergebnisse noch besser.
Herzlichen Dank.
({14})
Marcus Weinberg hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Lieber Herr Schulz, bei Ihnen bin ich immer gespannt, in welche Richtung Ihre Rede geht.
({0})
Sie sagten zunächst, dass es ein Einvernehmen gibt, dass
auch Sie gewisse Dinge ganz gut finden und begrüßen.
Irgendwann kamen dann die beiden entscheidenden Begriffe: Betreuungsgeld und Ganztagsschulprogramm.
Das, was Sie hier abgeliefert haben, war für eine bildungspolitische Debatte aber zu wenig. Darauf sollten
Sie dieses Thema nicht reduzieren.
({1})
Ich stimme Ihnen vollkommen zu: Man kann sich
über die Ergebnisse der aktuellen PISA-Studie durchaus
freuen. Es gab Reformen im pädagogischen Bereich. Sie
haben richtigerweise die Schulen und diejenigen, die im
pädagogischen Bereich arbeiten, angesprochen. Es dauert sehr lange, bis die eingeleiteten Reformen Wirkung
zeigen.
Was sind also die Botschaften von PISA? Wir haben
nach dem PISA-Schock 2000, der uns alle in eine gewisse Starre versetzt hatte, tatsächlich gelernt, dass wir
am Bildungsbereich arbeiten müssen. Das haben wir
auch getan. Es gab in der Tat eine „Pisaritis“ - im negativen Sinne. Wenn man sich mit finnischen Lehrern unterhält, dann sagen sie: Mit Blick auf die Bildungsimplikationen ist in Finnland die vorschulische Bildung das
Entscheidende.
({2})
Aber die Lehrer in Finnland sagen auch ganz klar: Bei
uns gibt es auch Defizite. Fragen Sie die Jugendlichen in
Finnland beispielsweise einmal nach den Übergängen in
die Berufsausbildung. Dieser Bereich ist dort relativ
schwach entwickelt. Auch das koreanische System ist
mit dem deutschen System nicht vergleichbar. Ich
möchte die Sozialisation der deutschen Kinder nicht mit
der Sozialisation koreanischer Kinder vergleichen.
Richtig ist: Die PISA-Ergebnisse sind besser geworden, und zwar in allen drei PISA-relevanten Bereichen.
Die Lesekompetenz hat sich signifikant verbessert. Für
den mathematischen Bereich ist das ähnlich: Seit 2003
haben sich die Ergebnisse signifikant verbessert. Auch
in den Naturwissenschaften hat sich die ansteigende
Tendenz letztendlich bestätigt; dort liegen die Ergebnisse stabil im oberen Bereich. Das ist gut so. Das sollten wir begrüßen; darüber sollten wir uns freuen. Das ist
ein gutes Ergebnis.
Insgesamt kann man feststellen: Wenn man sich von
Platz 21 auf Platz 16 verbessert hat, ist man zwar vorläufig aus der Abstiegszone heraus, aber es ist latent die Gefahr vorhanden, dass man in diese wieder hineinrutscht.
Deshalb muss nachgearbeitet werden.
Erste Herausforderung, die wir nach wie vor angehen
müssen - das haben Sie angesprochen -, ist das Thema
„Kinder mit Migrationshintergrund“. Richtig ist, dass
der Unterschied zwischen Kindern mit Migrationshintergrund und den Kindern, die in deutschen Familien aufwachsen, von früher 60 Punkte auf nunmehr 20 Punkte
geschrumpft ist. Das ist ein Erfolg. Hier hat sozusagen
eine Verdichtung stattgefunden. Auf der anderen Seite
kann es natürlich nicht sein, dass wir als Gesellschaft es
zulassen, dass Kinder mit Migrationshintergrund teilweise ein Jahr Rückstand gegenüber deutschen Kindern
haben.
Zweite Herausforderung - auch das ist richtig - ist
das Problem der sozialen Herkunft. Weiterhin ist es so,
dass wir hier in Deutschland Probleme haben. Lediglich
6 Prozent der sozial benachteiligten Schülerinnen und
Schüler erreichen in Deutschland ein höheres Leistungsniveau als der Durchschnitt; OECD-weit liegt dieser
Wert 2 Prozentpunkte höher.
Dritte Herausforderung - das hat gerade die PISAStudie ergeben - sind die Defizite beim Leseverständnis.
Das heißt, im Bereich Lesen und Bewerten von Texten
brauchen wir vertiefte Förderprogramme. Ich will gleich
einige erwähnen, die wir als Bundesregierung auf den
Weg gebracht haben.
Was ist also unsere Zielsetzung? Hier unterscheiden
wir uns schon ein wenig von Ihnen, meine Damen und
Herren von der Opposition. Sie fordern immer ein Ganztagsschulprogramm. Sie wollen, dass alle Kinder in einer
Einheitsschule lernen.
({3})
Wir treten für Chancengerechtigkeit und Leistungsanreize ein.
({4})
Das spiegelt sich dann auch in der politischen Ausrichtung wider.
Eine kleine Bemerkung sei noch zu Ihren Ausführungen, Herr Schulz, erlaubt: Das Ganztagsschulprogramm
liegt in der Verantwortung der Länder. Ich erinnere mich,
dass die CDU, als sie 2001/2002 die Regierung in Hamburg übernommen hat, die Mittel für den Ganztagsschulausbau dort verdreifacht hat. Hier ist es jedem Land unbenommen, eigene Schwerpunkte zu setzen.
({5})
Wir im Land hätten es uns allerdings gewünscht, Frau
Sager, dass man uns überlässt, wo wir die Schwerpunkte
Marcus Weinberg ({6})
setzen, und uns nicht vonseiten des Bundes eindeutige
Vorgaben macht.
Was wollen wir machen? Folgende Punkte wollen wir
umsetzen: erstens früher fördern, zweitens zielgenauer
fördern und drittens bedarfsorientiert fördern. Ich will
gerne aus der Vielzahl der Programme der Bundesregierung einige nennen. Sie gibt es nämlich. Man muss nur
das Ganze ein wenig durchstöbern und schauen, wie viel
Geld dafür ausgegeben wird.
({7})
Als erstes Beispiel nenne ich das Programm „Lesestart - Drei Meilensteine für das Lesen“. Es handelt sich
also um ein Leseförderprogramm, das speziell die Motivation fürs Lesen steigern soll,
({8})
und zwar beginnend bei den Eltern. Nur durch die Mitnahme der Eltern - das kann ich als Hamburger sagen können gewisse Veränderungen und Reformen auch erfolgreich sein. Hier fördern wir also mit einem deutlichen Schwerpunkt das Lesen.
({9})
Bezüglich des zielgenauen Förderns erinnere ich an
die Initiative „Haus der kleinen Forscher“. Man kann sagen, dabei handle es sich nur um ein kleines Programm,
für das gerade einmal ein zweistelliger Millionenbetrag
zur Verfügung steht. Gerade solche kleinen Programme
sind aber gute Programme. Über 30 000 Erzieher haben
sich bereits im Rahmen dieses Programmes weiterbilden
lassen. Es ist damit zu einem Bestandteil der frühkindlichen Bildung geworden.
Bedarfsorientiert fördern heißt schließlich, das Geld
da einzusetzen, wo es nötig ist. Ich erinnere daran, dass
das Paket von 820 Millionen Euro für die Kinder von
Hartz-IV-Empfängern, über das gerade verhandelt wird,
eine bedarfsorientierte Förderung darstellt.
Für frühes, bedarfsorientiertes und zielgenaues Fördern haben wir also viele Programme entwickelt.
Sie sagen nun, dass die Kooperation zwischen Bund
und Ländern nicht funktioniert. Ich habe den Eindruck,
dass wir im Ausschuss für Bildung und Forschung des
Deutschen Bundestages mittlerweile fast ausschließlich
darüber debattieren, wie wir als Bund den Ländern Mittel zur Verfügung stellen können. Das kann so nicht richtig sein.
({10})
Ich rufe einige Beispiele in Erinnerung. Da gibt es die
ganzen Pakete, die wir auf den Weg gebracht haben: den
Hochschulpakt mit 5 Milliarden Euro und dessen Erweiterung um eine dritte Säule mit dem Qualitätspakt
Lehre, das Programm zum Ausbau der Krippen - das gehört zur frühkindlichen Förderung - mit 4 Milliarden
plus 770 Millionen Euro ab 2013 jährlich, den Aktionsplan Kindertagespflege, die Qualifizierungsinitiative des
Bundes, die Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische
Fachkräfte und, und, und. Es ist also schon so, dass der
Bund ganz gezielt Schwerpunkte bei der frühen Förderung setzt. Das ist auch richtig so. Ich bitte aber bei der
Diskussion um die Kooperation mit den Ländern auch
zur Kenntnis zu nehmen, dass die Länder für den Bildungsbereich - das ist ja auch so gewollt - die Verantwortung tragen. Das heißt, sie müssen darüber auch Rechenschaft ablegen. Wir in Hamburg haben ja gerade
Erfahrungen, wenn ich das noch einmal sagen darf, mit
gewissen Reformen im Schulbereich gemacht, die dann
nicht durchkamen. Insgesamt ist es demnach gut, wenn
über all das die Menschen vor Ort entscheiden können.
Letzter Punkt, weil Sie gesagt haben -
Herr Kollege, Sie müssten längst zum Ende gekommen sein.
Ich komme zum Schluss. - Meine Damen und Herren, auf diesem von mir mitgebrachten Diagramm sehen
Sie, dass die Ausgaben für den Bereich Bildung und Forschung zu dem Zeitpunkt signifikant in die Höhe gehen,
als die CDU/CSU 2005 die Regierung übernommen hat.
Ich glaube, anhand dieses Diagramms zeigt sich, wie erfolgreich wir in diesem Bereich sind.
Herzlichen Dank.
({0})
Rosemarie Hein hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die PISA-Studie hat Deutschland bescheinigt, dass die
Bildungsleistungen der Schülerinnen und Schüler besser
geworden sind. Nun scheinen viele aufzuatmen. Es sei
noch nicht gut, aber es gehe voran, wird gesagt. Wir finden, dass es keinen Grund zur Zufriedenheit gibt. Den
Optimismus, den Sie, Herr Weinberg, eben verbreitet haben, kann ich überhaupt nicht teilen. Vielmehr scheint
mir das, was Sie gesagt haben, ein bisschen wie das Pfeifen im Walde.
({0})
Mit dieser PISA-Studie wurde vor allem untersucht,
ob sich die Leseleistungen der Schülerinnen und Schüler
verbessert haben. Die Frage der Lesekompetenz ist von
herausragender Bedeutung für die Lebenschancen in diesem Land. Auch das sagt die PISA-Studie. Das ist nicht
neu; das wissen wir. Deshalb möchte ich mich vor allem
mit der Lesekompetenz beschäftigen. Vor neun Jahren
wurde diese schon einmal untersucht. Damals ging ein
Aufschrei durch die Gesellschaft. Deutschland gehörte
zu den Bildungsverlierern. Die heute geprüften Schülerinnen und Schüler kamen damals gerade in die Schule
oder waren kurz vor ihrer Einschulung. Hätte man seinerzeit zügig Lehren aus diesem Desaster gezogen, dann
wäre es heute zu einem besseren Ergebnis gekommen.
Dem ist aber nicht so.
Damals konnten 22,6 Prozent nur schlecht lesen.
Heute sind es noch immer 18,5 Prozent. Damals war es
ein gutes Fünftel, heute ist es ein knappes Fünftel. Wer
das ein Jahrzehnt später als Erfolg verkaufen möchte,
der hat sehr bescheidene Vorstellungen von Erfolg.
({1})
Wir geben uns damit nicht zufrieden. Das heißt doch
nichts anderes, als dass 18,5 Prozent der Schülerinnen
und Schüler vermutlich auf der Strecke bleiben. Das
kann man doch nicht einfach so hinnehmen. In den
Hauptschulen ist es jede zweite Schülerin bzw. jeder
zweite Schüler, in den Förderschulen sind es sogar drei
Viertel. All das ist in der Studie nachzulesen. Damit
kann man sich doch nicht zufriedengeben.
Wieder wird festgestellt, dass der Bildungserfolg
stark von der sozialen Lage der Familien abhängt. Kinder aus Elternhäusern, in denen die Eltern keinen Berufsabschluss haben, sind deutlich benachteiligt. Zwar
wurde ihr Anteil am Gymnasialbesuch um 4 Prozent erhöht, aber nur von 11 auf 15 Prozent, während Kinder
aus Elternhäusern von Beamten, Ärzten und Ingenieuren
zu über 50 Prozent das Gymnasium besuchen. Das muss
man einmal zur Kenntnis nehmen. Damit kann man doch
nicht zufrieden sein.
({2})
Dabei ist auch noch die Zuweisung zu den unterschiedlichen Bildungsgängen sehr fragwürdig. Ein Viertel der
Hauptschülerinnen und Hauptschüler könnte genauso
gut an einer Realschule lernen. Dort sind sie aber nicht
angekommen. Ein Viertel der Realschülerinnen und
Realschüler könnte genauso gut an Gymnasien lernen.
Aber dort sind sie nicht angekommen.
Aber es wird noch schlimmer: Nicht nur, dass die
Verbesserungen beim Lesen für die bisher Bildungsbenachteiligten sehr mager ausfallen; die Leistungsspitze
vergrößert sich überhaupt nicht. Der Anteil der besten
Leserinnen und Leser geht sogar leicht zurück, und das,
obwohl sich der Ansturm auf das Gymnasium von 28 auf
33 Prozent erhöht hat. Genau genommen sind diese Befunde eine schallende Ohrfeige für die Verfechter des gegliederten Schulsystems.
({3})
Es ist weder für die Schwächeren noch für die Starken
gut.
({4})
- Sie müssen bis zum Schluss lesen.
({5})
Bemerkenswert ist: Es gab noch in keiner PISA-Studie
eine so deutliche Kritik am Gymnasium und an der frühen Trennung in unterschiedliche Bildungsgänge. Zwar
haben wir am Gymnasium anspruchsvollere Lesestoffe,
aber weniger Sprachförderung, was zum Beispiel für
Migrantinnen und Migranten wichtig wäre. Wir haben
zu wenig differenzierte Lernangebote. Eigentlich ist das
Gymnasium die Einheitsschule, nichts anderes.
Das gegliederte Schulsystem fördert nicht, es spaltet.
({6})
Das ist an drei Tatsachen abzulesen: Die frühe Trennung
in unterschiedliche Schulformen verstärkt die Ungleichheit in der Bildung. Lehrkräfte empfehlen eher Kinder
aus sozial begünstigten Elternhäusern ans Gymnasium.
Außerdem kann man an der Hauptschule nicht das Gleiche lernen wie am Gymnasium. Auch das grenzt aus.
Wer das nicht glaubt, muss bis Seite 250 lesen.
({7})
Was lernen wir nun daraus? Oder besser: Was sollten
wir lernen? Erstens. Es muss endlich Schluss sein mit
der Zuweisung zu unterschiedlichen Bildungsgängen.
Das hilft den Schwachen und auch den Starken nicht.
Unser Land kann aber auf kein Talent verzichten.
Zweitens. Die Schule kann so, wie sie ist, nicht die
nötige Förderung für jeden Heranwachsenden gewährleisten. Deshalb muss mit der Mär von angeblich leistungsgerechten Bildungsgängen endlich Schluss sein.
({8})
Wir müssen Anstrengungen unternehmen, um echte Gemeinschaftsschulen zu errichten - dabei meine ich nicht
die Zusammenlegung von Haupt- und Realschule -, an
denen alle Bildungsabschlüsse bis zum höchsten Bildungsabschluss möglich sind. Solche Projekte müssen
gefördert werden. Wir müssen ideologische Bildungsschranken endlich einreißen.
({9})
Die Schule muss in die Lage versetzt werden, ihren Bildungsauftrag zu erfüllen, und darum muss das Kooperationsverbot endlich fallen. Wann, wenn nicht jetzt?
Danke schön.
({10})
Sylvia Canel spricht für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der PISA-Schock 2000 zeigt Wirkung. Die
Bildungsleistung hat sich seit 2000 spürbar verbessert.
Deutsche Schüler können im Vergleich mit Schülern aus
anderen OECD-Staaten besser rechnen und haben mehr
naturwissenschaftliches Verständnis. Sie können nur
mittelmäßig lesen, aber immerhin schon besser als 2000.
Jugendliche mit Migrationshintergrund haben sich im
Bereich Lesen spürbar verbessert, und der Zusammenhang von Lesekompetenz und sozialer Herkunft hat
deutlich abgenommen. Zudem bleibt festzuhalten, dass
Schüler aus Familien mit einem geringeren Sozialstatus
häufiger als früher ein Gymnasium besuchen. Wenn das
keine Erfolge sind, dann weiß ich es auch nicht. Deshalb
weiß ich nicht, wovon Sie gesprochen haben, Frau Hein.
({0})
Als Liberale sage ich dazu: Gut, dass wir endlich vergleichen können und dass wir durch den Vergleich endlich mehr Wettbewerb haben. Dieser Wettbewerb treibt
die Schulentwicklung voran. Transparenz, Vergleiche
und Wettbewerb sind grundlegende Prinzipien liberaler
Bildungspolitik, und dadurch werden nachweislich Fortschritte erzielt.
({1})
Die Mühe lohnt sich, denn die Richtung stimmt. Unsere Anstrengungen dürfen daher auf gar keinen Fall
nachlassen. PISA 2009 muss uns allen ein Ansporn sein,
({2})
die Bremsen im Bildungssystem aufzuheben. Jedes Kind
muss unabhängig vom Elternhaus endlich eine Chance
auf gute Bildung bekommen, und jedes Talent muss individuell gefördert werden.
({3})
Dazu gehören auch die Guten, damit sie Spitze werden.
({4})
Erforderlich sind eine deutliche Qualitätssteigerung
bei der frühkindlichen Bildung sowie die Ausweitung
der Selbstständigkeit einer jeden Bildungseinrichtung.
({5})
Frühkindliche Bildung ist der entscheidende Schlüssel
zu sozialer Teilhabe und Chancengerechtigkeit.
({6})
Die Förderung von Bildung in den ersten Jahren ist effizient und sozial gerecht. Jeder am Anfang der Bildungslaufbahn investierte Euro macht ein Menschenleben
freier, unabhängiger und aufgeklärter.
Im Rahmen von PISA 2009 hat die OECD bestätigt
- da kann man einmal sehen, wie selektiv man diese Studie lesen kann -: Schülerinnen und Schüler, die am Vorschulunterricht teilgenommen haben, erzielen bessere
Ergebnisse. Schulsysteme mit einer längeren Vorschulbildung sind deutlich erfolgreicher. Doch wie gehen wir
mit unseren Kindern um? Es gibt zu wenig Personal, sanierungsbedürftige Gebäude, eine mangelhafte Ausbildung und Bezahlung der Erzieherinnen, und kein Ende
ist absehbar. Auch wenn der Bund jetzt mehr investiert,
muss man unterm Strich sagen: Hinsichtlich der frühkindlichen Bildung ist Deutschland immer noch Entwicklungsland.
({7})
Die rot-rote Koalition in Berlin hat kurz vor Erscheinen der ersten PISA-Studie für die Abschaffung der Berliner Vorschulen gesorgt. Bildungsforscher greifen sich
noch heute an den Kopf. Auch im Schulbereich ist das
Ganze nicht besser. Wenn Frau Künast, die gerade da
sitzt, darüber nachdenkt, die Berliner Gymnasien abzuwickeln, ist das ein verkehrtes Zeichen. Ich komme aus
Hamburg. In Hamburg haben sich die Bürger durchgesetzt und diesen Unsinn beendet.
({8})
Das unablässige Hin und Her und die ständigen Experimente halten unsere Schulen in einem Zustand der Hyperaktivität, und das bringt nur eines: Unsicherheit und
Frust an der Basis.
Ich sage Ihnen deshalb: Jede einzelne Schule weiß es
besser, weil sie nämlich die Fachleute vor Ort hat. Jeder
Fachmann und jede Fachfrau vor Ort weiß es besser als
jeder Theoretiker und jeder Politiker.
({9})
Das heißt: Schulen brauchen die Freiheit, die es ihnen
ermöglicht, selbstständig zu entscheiden und eigenverantwortlich zu handeln. Wir brauchen mehr eigenständige Schulen und weniger bevormundende Politik.
({10})
PISA bestätigt uns in dieser liberalen Forderung, und
die OECD stellt fest, dass Schüler in Ländern mit einer
hohen schulischen Eigenständigkeit bessere Ergebnisse
erzielen. Die erfolgreichsten Schulsysteme erteilen den
Schulen mehr Autonomie. Das ist der Schlüssel zur Zukunft.
({11})
Den Entscheidungsspielraum an deutschen Schulen
hinsichtlich der Verwendung der Ressourcen und der
Gestaltung des Unterrichts bewertet die OECD als unterdurchschnittlich im Vergleich zu anderen OECD-Staaten.
({12})
Wir benötigen deshalb mehr Freiheit und Stärke vor Ort.
Mehr Bildungsqualität braucht ein klares Bekenntnis zur
Eigenständigkeit der Schulen mit Möglichkeiten der
Leistungsdifferenzierung. Ein Bildungssystem, das auf
eine qualitativ hochwertige frühkindliche Bildung aufbauen kann, und eigenständige Schulen, in deren Eigenverantwortung es liegt, wie erfolgreich sie gemessen an
guten Qualitätsmaßstäben sind, sind ein Garant für Bildungsgerechtigkeit und für Bildungserfolg.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass die nächste PISAStudie für uns noch erfolgreicher ausfallen wird.
Danke sehr.
({13})
Jetzt spricht Priska Hinz für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich freue mich durchaus, dass man nach zehn Jahren
konstatieren kann, dass es für die Schülerinnen und
Schüler Verbesserungen im Schulsystem gibt und dass
wir nicht wieder in einen Schock versetzt werden, wie es
bei der ersten PISA-Studie der Fall war. Ich freue mich
vor allen Dingen, dass sich im unteren Bereich, also bei
den Schülerinnen und Schülern, die sehr schwach sind,
tatsächlich sehr viel verbessert hat und dass bei Migrantenkindern ein deutlicher Kompetenzzuwachs zu verzeichnen ist.
Allerdings besteht kein Grund, zu glauben, man habe
alles gemacht und müsse nur die Programme herunterbeten, die schon begonnen wurden, Herr Weinberg.
({0})
Ich glaube vielmehr, dass man auf Grundlage der PISAStudie, ihrer Ergebnisse und der sich daraus abzuleitenden Empfehlungen überlegen muss, wo noch Defizite im
politischen Handeln sind und welche Schlüsse wir daraus ziehen müssen. Dazu habe ich von Ihnen leider nur
wenig gehört.
({1})
Wenn es nach wie vor zutrifft, dass der Bildungserfolg
in Deutschland von der sozialen Herkunft abhängt, dass
Migrantenkinder immer noch große Kompetenznachteile
haben und dass es Überlappungen bei den Kompetenzen
von Hauptschülern und Gymnasiasten gibt, dann kann
man aufgrund dieser auffälligen Befunde nicht sagen:
Das viergliedrige Schulsystem hat sich bewährt. Außerdem sollen sich die Migrantenkinder ein bisschen mehr
anstrengen. Dann bekommen wir das Ganze schon geregelt.
Ein Fünftel der Jugendlichen im Alter von 15 Jahren
steht auf der untersten Kompetenzstufe, die dem Grundschulniveau entspricht. Das heißt schlicht und einfach,
dass sie nicht ausbildungsreif sind. Auf der anderen
Seite droht uns ein Fachkräftemangel. Wir wollen, dass
Jugendliche an der Gesellschaft teilhaben können, dass
sie eine Ausbildung machen und sich eine Existenz aufbauen können. Wir wollen nicht, dass sie sofort in der
Arbeitslosigkeit landen. Wir müssen uns daher anschauen, welche Rahmenbedingungen laut PISA-Studie
zu Verbesserungen geführt haben. Dann müssen wir
überlegen, welche zusätzlichen Maßnahmen von Bund
und Ländern noch auf den Weg gebracht werden können.
Eine längere und effektivere Lernzeit - das wurde
schon gesagt - ist eine Voraussetzung dafür, dass Kinder
besser lernen. Damit bin ich bei den Ganztagsschulen.
Eine Ganztagsschule bedeutet natürlich gute Ganztagsangebote, die mit dem Unterricht verzahnt werden, und
eine bessere Ausschöpfung der Lernzeit. Wir können uns
nicht damit zufriedengeben, dass nur 30 Prozent der
Schulen Ganztagsangebote haben und dass bei den restlichen Schulen die Kinder in die Röhre gucken, weil sie
von uns allein gelassen werden.
({2})
Wir benötigen ein neues Programm für Ganztagsschulen. Schulen mit Ganztagsangeboten sollen sich in gebundene Ganztagsschulen umwandeln können. Nur so
kann man die Qualität des Unterrichts steigern. Auf
diese Weise können alle Kinder von guten Schulen profitieren.
({3})
Es geht nicht darum, irgendwelche Schulen, egal welcher Schulform, abzuwickeln. Aber man muss sich fragen, wie man die Situation, dass teilweise Hauptschüler
so gut sind wie Gymnasiasten und Gymnasiasten manchmal so schlecht wie Hauptschüler sind, verändern kann.
Ungeachtet dieser Tatsache ist der Kompetenzzuwachs
an Gymnasien sehr stark und werden die Hauptschulen
von den Eltern nicht mehr ausgewählt. Deswegen halte
ich es für richtig, dass die Länder - bis auf manche - die
Mehrgliedrigkeit aufgeben und zumindest zur Zweigliedrigkeit übergehen.
In der Zukunft muss in Deutschland gelten, dass jede
Schule zu jedem Abschluss führt, dass man an jeder
Schule den Übergang zur Oberstufe hinbekommen kann,
damit jedes Kind, das später startet, das Abitur machen
und in die höhere Bildung einsteigen kann.
({4})
Frau Canel, das müsste doch in unser aller Interesse sein;
da brauchen wir hier doch nicht mehr den alten Schulkampf zu führen, der überhaupt keinen mehr hinter dem
Ofen hervorlockt.
Ich bin der Meinung, dass wir wieder Bund-LänderProgramme brauchen, wie zum Beispiel das Sinus-Programm, das dazu geführt hat, dass die Lehrer den Unterricht in Mathematik und Naturwissenschaften besser
gestalten können; unter anderem deswegen sind wir in
Naturwissenschaften und Mathematik besser als der
OECD-Durchschnitt. Das hat mit solchen Programmen
zu tun, die wir zurzeit nicht durchführen können, weil es
das Kooperationsverbot gibt.
Wir brauchen eine bessere Sprachförderung, die auch
evaluiert wird. Da ist der Bund gefragt, entsprechende
Priska Hinz ({5})
Forschungsprogramme aufzusetzen. Man muss dann
aber die Forschungsergebnisse in der Lehrerfortbildung
umsetzen. Das funktioniert nur, wenn Bund und Länder
gemeinsam solche Programme vereinbaren können.
({6})
Mein Fazit: Wir müssen gemeinsam die richtigen
Konsequenzen aus der PISA-Studie ziehen. Eine Konsequenz müsste tatsächlich sein: Das Kooperationsverbot
muss fallen, damit wir, Herr Weinberg, nicht nur Geld an
die Länder geben, sondern gemeinsam qualitativ gute
neue Standards vereinbaren können.
Danke schön.
({7})
Für die CDU/CSU hat Eckhardt Rehberg jetzt das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Hein und Herr Schulz, man kann natürlich
immer Haare in der Suppe finden. Wenn man aber zehn
Jahre zurückschaut und die Situation im Jahr 2000 mit
der Situation im Jahr 2010 vergleicht, dann erkennt man,
dass Deutschland einen internationalen Erfolg erreicht
hat: Wir sind eines der wenigen Länder, die in diesem
Jahrzehnt eine positive Entwicklung in den Bereichen
Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz
erreicht haben. Ich fände es gut, wenn bei der Opposition
- darunter sind auch diejenigen, die in den vergangenen
Jahren mitregiert haben - zumindest die Freude überwiegen würde und sie nicht nur Haare in der Suppe suchen
würden.
Herr Kollege Schulz, dieses Verhalten führt dazu,
dass diejenigen, bei denen Sie sich bedankt haben, eher
frustriert sind: Sie fragen sich, ob ihre Arbeit wirklich
wertgeschätzt und gewürdigt wird, wenn in der Politik
nur negativ darüber geredet wird.
({0})
Das, was Sie hier aufgeführt haben, führt nicht dazu,
dass die Bildungspolitik in Deutschland vorankommt.
({1})
Die SPD spricht davon, dass für die Bildung 10 Milliarden Euro obendrauf gepackt werden sollen. Dazu
muss ich sagen: Solange Sie hier die Bildungspolitik bestimmt haben - zwischen 1998 und 2005 -, konnte ich
keinen wesentlichen Aufwuchs bei den Bildungsausgaben erkennen.
({2})
Erst nach 2005, insbesondere aber nach 2009 sind die
Bildungsausgaben deutlich gewachsen. Insgesamt haben
sich die Mittel des Einzelplans in diesen Jahren fast verdoppelt. Wir werden in dieser Legislaturperiode - in den
nächsten Jahren - insgesamt 6 Milliarden Euro für Bildung ausgeben. Da konnte man in Ihren Worten ziemlich
viel Neid erkennen.
({3})
Es ist immer ganz spannend, sich über eine lange Distanz anzuschauen, wie Länder in Deutschland bei verschiedenen Vergleichen im Bildungsbereich abschneiden. Wenn man sich PISA 2006 - auf die Bundesländer
heruntergebrochen -, die Studie des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen aus 2008 und 2009
und den Bildungsmonitor der Initiative Neue Soziale
Marktwirtschaft anschaut, dann erkennt man - das ist
ganz interessant -, dass vier Länder, davon zwei im
Osten - Sachsen und Thüringen - und zwei in den alten
Ländern - Bayern und Baden-Württemberg -, immer
vorne liegen. Diese Länder haben ganz unterschiedliche
bildungspolitische Ansätze verfolgt. Während in Bayern
und Baden-Württemberg die klassische Dreigliedrigkeit
heute nach wie vor vorhanden ist, haben Sachsen und
Thüringen gleich 1990 die Mittelschule bzw. die Regelschule und damit die Zweigliedrigkeit eingeführt. Eines
ist diesen Ländern über zwei Jahrzehnten hinweg aber
gemeinsam: Weil es stabile politische Verhältnisse gab,
wurde Schule nicht zum Experimentierfeld. Das ist der
wesentliche Punkt.
({4})
Schauen Sie sich die Situation einmal ganz genau an - ich
lasse die Namen der Länder auf den Plätzen 13, 14, 15
und 16 weg -: Wo schulpolitische Kontinuität herrscht, ist
man bei den Ländervergleichen erfolgreich, und in den
Ländern, in denen Schule ein Experimentierfeld ist, profitieren die Schülerinnen und Schüler überhaupt nicht.
Wenn wir über Bildungsstandards reden, dann ist
auch die Frage zu stellen, warum sich fünf Länder, in denen das Kultusministerium CDU- bzw. CSU-geführt ist,
nämlich Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, SachsenAnhalt, Baden-Württemberg und Bayern, entschlossen
haben, auf ein Zentralabitur hinzuarbeiten. Da ist kein
SPD-geführtes Land dabei. Scheut man dort den Vergleich?
({5})
Der Weg zu mehr Kontinuität und mehr Vergleichbarkeit
in Deutschland führt doch über einheitliche Bildungsstandards. Das Zentralabitur ist mit der wichtigste
Schritt auf dem Weg, mehr Qualität zu erreichen und die
Vergleichbarkeit in Deutschland herzustellen.
({6})
Auch wenn Ihnen von der Opposition das nicht passt,
insbesondere Ihnen von der SPD, waren die letzten Jahre
in bildungspolitischer Hinsicht mehr als erfolgreich: Erstens. Wir haben noch nie so viele Studienanfänger
gehabt wie im Jahr 2010 - ein deutlicher Aufwuchs.
Zweitens. Wir haben mittlerweile eine geschlossene Bildungskette. Das gilt für die frühkindliche Bildung, wo
sich der Bund engagieren kann. Das gilt aber insbesondere für den Übergang von Schule zu Berufsausbildung.
Davon profitieren insbesondere die Schwachen und Benachteiligten. Ich denke an die Bildungsketten. Ich
denke an Berufseinstiegsmaßnahmen und an berufsbegleitende Maßnahmen. Auf diesem Gebiet ist der Bund
aktiv und sehr erfolgreich.
Ich denke, daran, wie wir aufgestellt sind, und daran,
wie wir unser Geld einsetzen, wird deutlich, dass unser
Motto lautet - das sage ich auch mit Blick auf die demografische Entwicklung und die Fachkräftesituation -:
Wir lassen keinen zurück!
Danke schön.
({7})
Für den Bundesrat hat jetzt das Wort Senator Jürgen
Zöllner.
({0})
Wir kämpfen beide immer nur um die Spitze, Herr
Lindner. - Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Das große Interesse der
Öffentlichkeit an PISA ist geblieben, die Aufgeregtheit
hat sich möglicherweise etwas gelegt, und eine sachlichere Betrachtungsweise hat Einzug gehalten.
({0})
Wo stehen wir zehn Jahre nach PISA? Übrigens, Herr
Weinberg, es ist die angeblich so leistungsfeindliche
SPD, der die Bundesrepublik die Teilnahme an der
PISA-Studie zu verdanken hat. Es war der damalige
Schulminister aus Rheinland-Pfalz, Jürgen Zöllner, der
den Antrag, uns dem Vergleich zu stellen, in Konstanz
gestellt hat.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich meine,
die unbefriedigenden PISA-Ergebnisse aus dem Jahr
2000 waren ein heilsamer Schock für viele. Ich kenne
kein Land in dieser Bundesrepublik Deutschland, egal
welcher politischen Couleur, in dem es nicht massive
Anstrengungen gegeben hat, die Schulqualität zu verbessern. Die Priorität von Bildung ist seitdem auch in finanzpolitischer Hinsicht unbestritten, auch wenn es für
einige Betroffene immer noch zu wenig ist.
Die drei Kernbotschaften von damals waren: Erstens,
die besten Schülerinnen und Schüler in Deutschland
können mit den besten Schülerinnen und Schülern in der
Welt zwar mithalten, aber, zweitens, Deutschland hat ein
Problem bei den leistungsschwächeren Schülerinnen und
Schülern, und der Bildungserfolg in Deutschland ist,
drittens, so stark wie praktisch nirgendwo sonst abhängig vom Elternhaus. Für eine entwickelte Industrienation
wie die Bundesrepublik sind die letzten beiden Befunde
ohne Zweifel nicht hinnehmbar.
({2})
Deshalb muss, wer das Ziel gleicher Chancen unabhängig vom Geldbeutel und der Bildung der Eltern wirklich will, gezielt die Rahmenbedingungen speziell für
diese Schülergruppe verbessern.
Die Ergebnisse von PISA 2009 zeigen, dass wir Erfolge zu verzeichnen haben. Besonders erfreulich ist
- das ist erwähnt worden -, dass die Leistungen der
Schülerinnen und Schüler mit einem Migrationshintergrund erheblich besser geworden sind. Sie sind ein wichtiger, wenn nicht sogar der entscheidende Grund für die
Leistungssteigerung in Deutschland insgesamt. Es sind
unsere Kinder.
({3})
Zwei bildungspolitische Maßnahmen sind für mich
dabei zentral. Sie sind heute, wie ich in dieser Debatte
erfreut festgestellt habe, unbestritten. Damals, als wir in
der KMK die acht Eckpunkte festgezurrt haben, waren
sie heiß umstritten. Es hat lange gedauert, die konservativen Kolleginnen und Kollegen davon zu überzeugen.
({4})
Erstens: die frühkindliche Förderung, insbesondere
die Sprachförderung in den Kindertagesstätten. Bei diesen Bildungseinrichtungen ist entscheidend, dass der Besuch kostenfrei ist; denn Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen.
({5})
Im Lande Berlin beispielsweise sind ab dem 1. Januar
2011 alle drei Kindergartenjahre vor Schulbeginn gebührenfrei.
({6})
Im Lande Berlin setzen wir das um, wovon andere nur
reden. Wir werden für Kinder, die einen festgestellten
Sprachförderbedarf haben, faktisch eine Kitapflicht für
das letzte Jahr vor Schuleintritt einführen.
({7})
Senator Dr. Jürgen Zöllner ({8})
Zweitens. Eine zentrale Rolle bei der Verbesserung
spielt auch das Ganztagsschulprogramm der früheren
rot-grünen Bundesregierung. Dadurch konnten viele
Schulen in Deutschland zu Ganztagsschulen ausgebaut
werden. Ich freue mich auch hier darüber, dass die einstigen Gegnerinnen und Gegner dieses Programms - viele
von ihnen sind noch heute in der Bildungspolitik tätig den Wert und die Möglichkeiten der pädagogischen Ansätze des Ganztagsangebotes erkannt haben.
({9})
Nur so wird es uns letzten Endes gelingen, an die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler heranzukommen.
Was mir im Zusammenhang mit den neuesten PISAErgebnissen die meisten Sorgen bereitet - es gibt Erfolge zu verzeichnen, auf die wir insgesamt stolz sein
sollten -, sind die Schülerinnen und Schüler aus den sogenannten bildungsfernen sozial benachteiligten Elternhäusern. Wenn der schöne Ausdruck „Bildungsrepublik
Deutschland“ nicht nur Worthülse sein soll, brauchen
wir eine gemeinsame weitere Kraftanstrengung zwischen Bund und Ländern - sie ist auch in der derzeit verfassungsmäßig festgelegten Lage möglich -, um diese
Schülergruppe gezielt ins Auge zu fassen. Wir brauchen
so etwas wie ein gemeinsames Ganztagsschulprogramm.
({10})
Ziel muss es sein, alle Schulen in Deutschland zu
Ganztagsschulen weiterzuentwickeln. In Berlin haben
wir damit begonnen. Es gibt die Verantwortung der Länder, zu der wir gerne stehen. Neben den Grundschulen,
die in Berlin alle Ganztagsschulen sind, haben wir in der
Sekundarstufe I eine neue Schulstruktur geschaffen: ein
zukunftsfähiges zweigliedriges Schulsystem aus Gymnasien und Integrierten Sekundarschulen. Letztere werden sämtlich zu Ganztagsschulen ausgebaut. Die ersten
Schritte im Bereich der Gymnasien haben wir schon unternommen.
Wir brauchen in den Ganztagsschulen zum Beispiel
auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Dies wäre
eine Chance für den Bund. Ein Bundesprogramm in diesem Bereich wäre sehr hilfreich.
({11})
Was wir - auch das muss an einem solchen Tag gesagt
werden - in diesem Zusammenhang nicht brauchen - damit möchte ich schließen -, ist ein nur gut gemeintes Bildungspaket der Bundesregierung. Dieses droht nach
meiner festen Überzeugung - ich muss mich um die Umsetzung kümmern - ein riesiges Bürokratiemonster zu
werden.
({12})
Dabei wäre es ganz einfach, die Mittel effektiver für die
bedürftigen Kinder und Jugendlichen einzusetzen.
Ich will Ihnen ein aus dem Leben gegriffenes Beispiel
nennen. Das Land Berlin investiert bereits heute in das
Schulmittagessen für Grundschülerinnen und Grundschüler der Klassen 1 bis 6, sodass alle Eltern nur noch
einen Eigenbeitrag von 23 Euro pro Monat leisten müssen. Nach den Plänen der Bundesregierung müssten sich
die Eltern weiterhin mit 20 Euro monatlich an diesen
Kosten beteiligen.
Es verbliebe also lediglich eine Kostenersparnis von
3 Euro monatlich, die die Eltern in einem aufwendigen
Verfahren unter Beteiligung von Jobcentern, Schulen und
Caterern als Zuschuss beantragen müssten. Würden die
vorgesehenen Mittel dagegen direkt dem Land Berlin
zweckgebunden zur Mittagsversorgung zur Verfügung gestellt werden,
({13})
könnten wir mit den gleichen Mitteln allen - ich betone:
allen - bedürftigen Kindern und Jugendlichen, nicht nur
denen in der Grundschule, ein kostenloses Schulmittagessen anbieten,
({14})
übrigens ganz ohne Verwaltungsaufwand, ganz ohne Beteiligung der Eltern an den Kosten.
({15})
- Ich will doch gar nicht mehr Geld.
({16})
Das wäre mit dem gleichen Betrag möglich, den Sie für
die Verwaltungskosten, die ich beschrieben habe, ausgeben.
({17})
Ich appelliere an Sie: Investieren Sie effektiv in die
vorhandenen Bildungseinrichtungen, in die Kitas und
die Schulen, damit dort optimal gefördert werden kann
und wir unsere Leistungsfähigkeit auch im Rahmen von
PISA weiter verbessern können.
Ich bedanke mich.
({18})
Heiner Kamp hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir sind wirklich glücklich
und froh, am heutigen Tag über die durchaus ansehnlichen Erfolge im Bildungsbereich sprechen zu dürfen.
Das PISA-Konsortium hat Deutschland attestiert, sich
seit dem Jahr 2000 spürbar verbessert zu haben. Dies
liegt nicht zuletzt daran, dass wir es geschafft haben, die
Zahl der Bildungsverlierer maßgeblich zu verringern.
Mittlerweile liegt Deutschland beim Lesen im OECDMittelfeld. In Mathematik und in den Naturwissenschaften spielen wir, um es mit den Worten des Bildungsforschers Professor Klieme zu sagen, in der ersten Liga mit.
Gerade Jugendliche mit ausländischen Wurzeln konnten sich beim Lesen spürbar verbessern. Der Leistungsunterschied zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund
konnte deutlich verringert werden. Dabei verbuchten Jugendliche türkischer Herkunft eine leichte Verbesserung
und Jugendliche, deren Eltern aus der ehemaligen UdSSR
eingewandert waren, sehr deutliche Leistungszugewinne.
Positiv festzuhalten ist auch, dass der Zusammenhang
zwischen Lesekompetenz und sozialer Herkunft seit
PISA 2000 deutlich abgenommen hat und Schülerinnen
und Schüler aus Familien mit geringerem Sozialstatus
häufiger als früher ein Gymnasium besuchen. Bemerkenswert ist auch, dass die OECD die personelle Ausstattung an Deutschlands Schulen im Vergleich zu dem
Durchschnitt der OECD-Staaten positiv beurteilt.
Allerdings wird der fehlende Entscheidungsspielraum
der Schulen, zum Beispiel bei der Verwendung der Ressourcen und der Gestaltung des Unterrichts, von der
OECD weiterhin als unterdurchschnittlich beklagt. Es ist
eben nicht nur eine Frage des Geldes, ob und inwieweit
eine Schule gut funktioniert. Es sind häufig weiche Faktoren, die ausschlaggebend sind. Fehlende Freiheitsgrade lassen sich nicht einfach durch den Ruf nach der
Geldschatulle kompensieren.
({0})
Dies zeigt sich ganz deutlich beim Blick in die einzelnen Länder - ich lade Sie ein, auf diese Reise mitzukommen -: Alle Bundesländer haben sich verbessert, manche mehr als andere. Während sich bei den letzten
innerdeutschen Vergleichen zeigte, dass Bayern, BadenWürttemberg und Sachsen sogar in der internationalen
Spitzengruppe mithalten können, streiten sich die Bundesländer Berlin, Brandenburg und Bremen traditionell
um die rote Laterne. Auch der Ländervergleich des letzten Sommers zeigte eindrucksvoll: Wer auf einen Abstiegsplatz in der Bildungsliga wetten will, der braucht
nur nach einem SPD-geführten Kultusministerium Ausschau zu halten.
({1})
Wer wundert sich angesichts einer solchen Negativbilanz, dass die Sozialdemokraten ihren Berliner Bildungssenator in den Bundestag schicken, damit er sich
in der Runde ein wenig Orientierung verschaffen möge!
({2})
Möglicherweise könnte er seinen Senatskollegen berichten, dass es nicht sonderlich sinnvoll ist, die Schulen in
einem ständigen Experimentierfeld zu halten. Das Bildungssystem ist kein Chemielabor, meine Damen und
Herren.
({3})
Jahrgangsübergreifendes Lernen, Lehrerbedarfsplanung und der Aufbau der Einheitsschule: Egal was, es
geht in die Grütze, um es mit klaren Worten zu sagen.
({4})
Es ist kein Wunder, dass Berlin beim Boom der Privatschulen ganz weit vorne ist. Ich kann das verstehen;
grundsätzlich stehe ich den Schulen in freier Trägerschaft sehr positiv gegenüber. Doch wenn sich das staatliche Schulwesen derart marode darstellt wie in der
Hauptstadt, dann wundert es mich kaum, dass die Privatschulen für viele Eltern die Rettungsanker sind.
Der Fahrstuhleffekt, wonach alle Länder besser geworden sind, ist grundsätzlich positiv. Ich kann jedoch
die Eltern in Berlin, Brandenburg und Bremen verstehen, die sich damit aber nicht zufriedengeben wollen,
weil sie ähnliche Chancen für ihre Kinder wie in BadenWürttemberg, in Bayern, in Sachsen und in Thüringen
haben möchten.
({5})
Wir müssen deswegen daran arbeiten, dass dies möglich
wird.
Herzlichen Dank.
({6})
Marianne Schieder hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Ergebnisse von international vergleichenden Studien wie der PISA-Studie dürfen und müssen
selbstverständlich kritisch hinterfragt werden; Herr Kollege Weinberg, damit hatten Sie ganz recht. Selbstverständlich freuen wir Sozialdemokratinnen und Sozialde8880
Marianne Schieder ({0})
mokraten uns mit unseren Schülerinnen und Schülern
und mit den Lehrerinnen und Lehrern über die verbesserten Ergebnisse der neuesten Studie.
({1})
Diese Ergebnisse eignen sich aber absolut nicht für
die Lobhudelei à la Schwarz-Gelb, die wir heute gehört
haben,
({2})
und sie eignen sich auch wirklich nicht für plattes parteipolitisches Gezänk, wie wir es gerade von meinem Vorredner erlebt haben.
({3})
Hören Sie auf, nach der Methode „Man nehme das,
was einem gerade passt und was gut gelaufen ist, und
lässt sich dafür groß feiern“ zu verfahren, während Sie
das, was weniger gut ist, konsequent ignorieren.
({4})
So kommen mir nämlich die ganzen Reaktionen vor,
die ich seitens der Bundesregierung und seitens der sie
tragenden Fraktionen gehört habe. Was konnte ich da alles lesen? Von Sprachtests vor dem dritten Lebensjahr,
von mehr Geld für die Stiftung Lesen, von der Förderung von benachteiligten Jungen, von Fortbildungsprogrammen für Erzieherinnen usw. war die Rede. Alles
Mögliche wurde lautstark gefordert. Jede und jeder hat
irgendetwas vorgeschlagen. Alles schön und gut, aber
tragfähige Konzepte sehen anders aus.
Das, was wir wirklich brauchen, sind schlüssige, abgestimmte Konzepte, die nachhaltig Wirkung entfalten
können. Das, was durch den PISA-Vergleich in den letzten Jahren wirklich in Gang gebracht wurde, nämlich
eine intensive gesellschaftliche Diskussion über die Rahmenbedingungen von guter Bildung, muss genutzt und
in konkrete Aktivitäten umgesetzt werden. Wir brauchen
einen Masterplan Bildung, durch den deutlich gemacht
wird, dass gute Bildung für unsere Kinder und jungen
Menschen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist und
nicht das Problem derer bleiben kann, die gerade Kinder
im schulpflichtigen Alter haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es muss dabei die
Devise gelten: Es werden Kinder und nicht Fächer an
unseren Schulen unterrichtet. - Es kommen morgens
Kinder in unsere Schulen, die ihre Sorgen, Nöte und Probleme nicht an der Schulhaustüre abgeben können, um
sie nach der Schule auf dem Nachhauseweg wieder mitzunehmen. Sie und ihre Eltern, aber auch ihre Lehrerinnen und Lehrer brauchen konkrete Hilfen.
Wir wissen längst, dass die Schulsozialarbeit hier die
richtige Antwort ist. Überall, wo sie angeboten wird, ist
sie sehr, sehr erfolgreich. Leider sind wir aber noch sehr
weit von einer flächendeckenden Versorgung entfernt.
Für den weiteren Ausbau fehlen die Finanzmittel. Dabei
wissen wir alle auch, dass hierfür zwar zunächst einmal
erhebliche Kosten entstehen, die später aber, beispielsweise im Bereich der Jugendhilfe, in mindestens gleicher Höhe wieder eingespart werden könnten.
({5})
Es kommen morgens Kinder in unsere Schulen, die
Förderung und Zeit brauchen, um das, was zu lernen ist,
auch verstehen und verarbeiten zu können. Sie brauchen
sportliche, musische und künstlerische Angebote, wie
sie in einer guten Ganztagsschule vorzufinden sind.
Wer sich die Ergebnisse der PISA-Studie wirklich genau ansieht, der kann feststellen, dass die erzielten Verbesserungen gerade im Bereich der leistungsschwächeren
Schülerinnen und Schüler in einem ganz entscheidenden
Zusammenhang mit der Schulsozialarbeit und der Ganztagsschule stehen. Durch die unter Rot-Grün gestellten
Weichen konnte also für eine erhebliche Verbesserung
der Situation gesorgt werden.
Wir sind aber noch sehr weit von einer wirklich flächendeckenden Versorgung mit Ganztagsschulen entfernt, weil sich der Anteil der Schülerinnen und Schüler,
die eine Ganztagsschule - sei es in offener oder in gebundener Form - besuchen können, seit 2002 zwar verdoppelt hat, es aber eben doch nicht überall vor allem
gebundene Ganztagsschulen gibt.
Ganztagsschulen sind aber unverzichtbar, zum einen
aus pädagogischen Gründen, weil Schule mehr Zeit für
Bildung und mehr individuelle Förderung braucht. Sie
sind unverzichtbar aus integrationspolitischen Gründen,
weil Ganztagsschule besser als jede andere Schulform
die sprachliche, kulturelle und soziale Integration von
Kindern und jungen Menschen aus Familien mit Migrationshintergrund leisten kann. Und sie sind unverzichtbar aus sozialpolitischen Gründen, weil sich in Ganztagsschulen Bildungschancen für alle am besten
organisieren lassen. Also muss es unser Ziel sein, Ganztagsschulen für alle zu schaffen. Das werden wir nur gemeinsam erreichen, gemeinsam in einer Aktion mit einem Masterplan, getragen von Bund, Ländern und
Kommunen.
Wir brauchen dazu natürlich auch eine Diskussion
über eine Aufhebung des Kooperationsverbots, um eine
bessere Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Bereich der Bildung zu ermöglichen. Aber auch ich möchte
betonen: Die PISA-Ergebnisse haben wiederum gezeigt,
dass immer noch die soziale Herkunft über den Bildungserfolg junger Menschen entscheidet. Kinder bleiben auf der Strecke, weil die individuellen Fähigkeiten
nicht ausreichend gefördert werden, die frühkindliche
Bildung zu spät einsetzt oder der Geldbeutel der Eltern
leider zu klein war, um mithalten zu können. Ich fordere
Sie auf, liebe Kolleginnen und Kollegen von SchwarzGelb: Nehmen Sie Ihren viel bemühten christlichen Anspruch endlich ernst, und sorgen Sie mit uns für mehr
Bildungsgerechtigkeit in diesem Land! Geben Sie allen
Kindern eine Chance von Anfang an, und bringen Sie
mit uns ein Ganztagsschulprogramm und einen flächendeckenden Ausbau der Schulsozialarbeit auf den Weg!
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Marianne Schieder ({6})
({7})
Für die Bundesregierung hat der Parlamentarische
Staatssekretär Thomas Rachel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! PISA wird
dieses Jahr zehn Jahre alt. In diesen zehn Jahren ist die
Bildung ins Zentrum der deutschen Politik gerückt. Ich
denke, das ist auch gut so.
({0})
Die PISA-Studien haben uns alle alarmiert. Sie haben
dem Bildungssystem letztlich gutgetan; denn es hat sich
gezeigt, dass unser Bildungssystem sehr wohl wandlungsfähig ist. Deutschland hat sich seit 2000 kontinuierlich in allen drei Bereichen - im Lesen, in der Mathematik und in den Naturwissenschaften - verbessert. Dies ist
nur wenigen anderen OECD-Ländern gelungen.
Bei PISA 2000 lagen die 15-Jährigen in Deutschland
im Lesen unter dem OECD-Durchschnitt. 2009 liegen
sie am oberen Rand des Durchschnitts. In Mathe und
Naturwissenschaften lagen die deutschen Schülerinnen
und Schüler im Durchschnitt, jetzt liegen sie über dem
Durchschnitt der OECD-Länder.
Diese Verbesserungen gehen auch mit größerer Gerechtigkeit einher. Im Bereich des Lesens hat sich die
Leistungsvarianz zwischen 2000 und 2009 so stark verringert wie in keinem anderen OECD-Land. Anders gesagt: Der Abstand zwischen den schwachen und den
starken Lesern ist geringer geworden, ohne dass sich die
Starken deshalb verschlechtert hätten.
({1})
Das ist in meinen Augen auch ein Stück Bildungsgerechtigkeit. Gleichzeitig konnte das Gymnasium seinen
hohen Stand halten, obwohl es gleichzeitig G 8 eingeführt hat und obwohl heute 20 Prozent mehr Schülerinnen und Schüler auf den Gymnasien sind als 2000.
Meine Damen und Herren - Kollege Zöllner hat es
bereits angesprochen -, zum besseren Gesamtergebnis
haben vor allem die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund beigetragen. Vielleicht ist das die
beste Nachricht von PISA 2009.
({2})
Wenn wir die Differenz zwischen den Schülerinnen
und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund betrachten, so sehen wir: Diese Differenz hat sich seit
PISA 2000 um 28 Punkte verringert. Dies ist mehr als
ein halbes Schuljahr.
Natürlich haben wir auch weiterhin Probleme. Trotzdem dürfen wir sagen: Die Integration auch von Zuwandererkindern gelingt besser, und zwar sowohl ins Bildungssystem als auch zunehmend in den Arbeitsmarkt.
Über diese Erfolge dürfen wir uns, glaube ich, gemeinsam freuen.
({3})
Indem wir uns darüber freuen, möchte ich an erster
Stelle den Lehrerinnen und Lehrern an den Schulen in
Deutschland ein ganz herzliches Wort des Dankes sagen;
denn sie haben trotz des Aufschreis bei PISA im Jahr
2000 nicht resigniert, sondern sie haben die Herausforderung angenommen.
Sie haben Konzepte zur individuellen Förderung und für
die Ganztagsschule entwickelt, und sie haben die soziale
Integration als weitere Kernaufgabe der Schulen begriffen. Insofern herzlichen Dank an die Lehrerinnen und
Lehrer in Deutschland!
({4})
Ich nenne als Zweites die Bildungspolitik der Länder.
Sieben Handlungsfelder hat die KMK 2001 als Reaktion
auf PISA formuliert und die gemeinsamen Bildungsstandards entwickelt. Das war eine richtige und notwendige
Maßnahme. Im Übrigen sind schließlich die Länder für
die Schulpolitik zuständig. Sie werden weitere Schritte
unternehmen.
Eine Initiative ist bereits angekündigt: Fünf Bundesländer werden ein gemeinsames Abitur entwickeln.
Michael Kretschmer kommt aus Sachsen. Sachsen ist eines dieser fünf Länder. Ich halte es für richtig, diesen
Weg zu gehen. Denn er dient der Vergleichbarkeit und
der Mobilität innerhalb Deutschlands und verpflichtet
die Länder, die mitmachen, auf ein gemeinsames hohes
Leistungsniveau. Ich würde mir wünschen, dass sich
noch mehr Länder in der Bundesrepublik Deutschland
diesem gemeinsamen Ziel eines deutschen Abiturs, wie
ich es einmal formulieren will, anschließen.
({5})
An dritter Stelle möchte ich die Bundesebene nennen.
Das BMBF, das Bildungs- und Forschungsministerium,
hat die Schulen begleitet, und zwar auch die Schulen, die
sich zu Ganztagsschulen weiterentwickelt haben. Das
setzen wir fort. Wir haben die dafür notwendige und für
Deutschland weitgehend neue Forschung finanziert.
({6})
Wir haben mit dem Sinus-Programm unmittelbar zur
Verbesserung des mathematisch-naturwissenschaftlichen
Unterrichts beigetragen. Wir haben mit dem FörMig-Programm neue Wege zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund erprobt, und wir
haben - ich denke, das ist ein wichtiger Beitrag zur
Transparenz - den nationalen Bildungsbericht etabliert.
Last, but not least nenne ich die empirische Bildungsforschung. Denn seien wir ehrlich, meine Damen und
Herren: Ein Stück weit krankt die politische Bildungsdebatte im Bundestag, aber auch in den 16 Landtagen
daran, dass sie zwar stark von politischen und ideologischen Bildern geprägt ist, aber dass die wissenschaftliche Datenbasis zumindest in der Vergangenheit keineswegs für eine fundierte Debatte ausreichend war.
({7})
Dies ändert sich jetzt, weil wir die Förderung der empirischen Forschung im Bereich der Bildungsforschung
betreiben. Das ist ein Beitrag des Bundes. Ich denke, das
ist zum Besten der Bildung.
({8})
Daraus wird deutlich: Lehrerinnen und Lehrer, aber
auch die Bildungspolitik und die Forschung - sie alle
tragen mit dazu bei, dass wir dem Ziel der Bildungsrepublik, dem wir uns gemeinsam verpflichtet fühlen, näher
kommen. Aber wir sind nicht am Ziel. Es gibt keinen
Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Die guten
Nachrichten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass
es noch sehr viel zu tun gibt.
Deutschland hat sich zwar verbessert, aber unsere
Schülerinnen und Schüler sind im Lesen nur durchschnittlich. Das kann nicht reichen. Nach wie vor gehört
fast ein Fünftel der Schülerinnen und Schüler im Alter
von 15 Jahren zu den schwachen Lesern. Auch die Abhängigkeit der Leistungen vom sozialökonomischen
Hintergrund - das zeigt der Bericht - oder auch vom Migrationshintergrund der Schülerinnen und Schüler ist
weiterhin groß. Dies ist nicht hinnehmbar. Daran müssen
wir gemeinsam arbeiten.
({9})
Das BMBF geht hier voran. PISA zeigt, dass sich in
den Schulen viel verbessert. Aber wir müssen noch stärker als bisher das Umfeld der Schulen mit einbeziehen
und dabei ganz besonders die Eltern in den Blick nehmen. Denn seien wir ehrlich - auch ich weiß das als Familienvater -: Ob ein Kind gut lesen kann, hängt auch,
aber wahrlich nicht nur von der Schule ab. Hier sind
selbstverständlich die Geschwister, die Eltern und die
Großeltern gefragt.
Deshalb werden wir an drei Punkten ansetzen. Wir
beginnen mit den Kleinsten und verbessern mit dem
neuen Programm „Lesestart - Drei Meilensteine für das
Lesen“ die Bildungschancen von Anfang an.
({10})
Wir ermutigen die Eltern zum Vorlesen und Kinder zum
Lesen. Wir werden in der ersten Stufe 50 Prozent der
Schülerinnen und Schüler erreichen, und in der dritten
Stufe werden wir alle Grundschulkinder am ersten
Schultag erreichen.
Wir wenden uns also zunächst an die Eltern und Kinder in sozialen Brennpunkten. Dort geht es zunächst einmal darum, dass wir ihnen helfen. Mit dem Schuleintritt
werden wir alle ansprechen.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, sind
die Bildungsleistungen und vor allem die Ausbildungschancen. „Abschluss und Anschluss - Bildungsketten bis zum Ausbildungsabschluss“: Es geht darum,
dass die jungen Menschen die Chance bekommen, ihre
Potenziale frühzeitig zu erkennen, ihnen zu helfen, sich
für einen Beruf zu entscheiden, der ihnen Spaß macht
und ihnen liegt, und sie erfolgreich in den Berufseinstieg
zu begleiten. Deshalb nehmen gerade in den ersten Tagen dieser Woche 500 Bildungslotsen ihre Arbeit auf,
um den Jugendlichen zu helfen, denen es schwerfällt.
({11})
Mit dem Programm „Lernen vor Ort“ werden wir darüber hinaus Kommunen helfen, ihr Bildungsangebot
strukturell zu verbessern. Dutzende Kommunen werden
in den nächsten drei Jahren gefördert, um ein übergreifendes Bildungsmanagement sowie Bildungsbündnisse
zu etablieren. Denn eins ist klar: Bildung ist letztlich ein
gesamtgesellschaftlicher Auftrag. Wir müssen die gesamte Gesellschaft in diese Aufgabe einbeziehen.
Noch nie wurde in Deutschland so viel in Bildung investiert wie heute. Wenn ich das sage, meine ich selbstverständlich die Kommunen, die vielen freien Träger,
die Bundesländer und letztlich auch den Bund. Noch nie
stand die Bildung von der frühen Kindheit bis zum Berufsabschluss derart im Zentrum der Politik, wie das
heute im Deutschen Bundestag und auch in den Landtagen der Fall ist. Das zeigt: PISA hat eine Menge auf den
Weg gebracht. Wir sind auf einem guten Weg. PISA hat
dazu beigetragen.
Ich sage aber auch: Wir dürfen PISA nicht überbewerten. Vergessen wir nicht, dass es vieles gibt, was
PISA nicht testet, beispielsweise wie gut 15-jährige
Schülerinnen und Schüler in Fremdsprachen sind oder
ihre musikalischen Fähigkeiten. All dies ist nicht Bestandteil von PISA. Trotzdem hat PISA in der deutschen
Schullandschaft eine enorme Dynamik ausgelöst. Wir
möchten die Vielfalt der individuellen Entwicklungen
ermöglichen. Wir wollen die Leistungen im Schul- und
Bildungssystem verbessern und das System gerechter
machen. Das meinen wir, wenn wir von Bildungsrepublik sprechen.
({12})
Lassen Sie uns gemeinsam für diese Bildungsrepublik
arbeiten!
Herzlichen Dank.
({13})
Caren Marks hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Herr
Staatssekretär Rachel, es gibt durchaus erfreuliche Fortschritte, die wir aus den Ergebnissen der neuen PISAStudie ablesen können. Bezogen auf die Bundesebene
sind das Erfolge der Vorgängerregierung und vor allem
Erfolge von Rot-Grün.
({0})
Ob die Richtung stimmt, die die jetzige Bundesregierung
hier einschlägt, muss sich erst noch zeigen.
Die aktuelle Studie zeigt erneut - das muss uns alle
miteinander umtreiben -, dass in keinem anderen
OECD-Land der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft der Kinder abhängt. Herr Staatssekretär,
hier sehe ich dringenden Handlungsbedarf, und zwar
nicht nur seitens der Bundesländer, sondern auch vonseiten der Bundesregierung und von Schwarz-Gelb.
({1})
Der Handlungsbedarf beginnt - das haben Sie ausgeblendet - bei der frühkindlichen Bildung. Auf den Anfang kommt es an. Das kann man gar nicht oft genug sagen. Man muss dann aber auch entsprechend handeln.
Frühkindliche Bildung verbessert die Chancen von Kindern, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Sie kann
Benachteiligungen von Kindern wirkungsvoll entgegenwirken. Ganz wichtig ist dabei die individuelle Förderung von Kindern. In Krippen und Kitas wird der Grundstein für den späteren Bildungsweg gelegt. Deshalb
brauchen wir dort eine gute Personalausstattung.
Es bedarf einer Verbesserung des Betreuungsschlüssels in Kindertagesstätten. Ebenso bedarf es einer engen
Kooperation zwischen Kitas und Grundschulen, damit
der Übergang zwischen diesen beiden ersten wichtigen
Bildungseinrichtungen für Kinder gut gelingen kann.
({2})
Im Familienausschuss haben wir heute Morgen über
das Fachkräfteproblem in Kitas diskutiert. Die Regierungskoalition zog sich auf den Standpunkt zurück: Die
Länder sind zuständig.
({3})
Ich würde gern den Ministerinnen Frau Schröder und
Frau Schavan, die leider nicht anwesend sind, die Frage
stellen: Warum führen sie nicht dennoch mit den Ländern Gespräche über eine notwendige gemeinsame
Fachkräfteoffensive für Erzieherinnen und Erzieher?
Augenscheinlich fehlt ihnen der Mut für diese notwendige Kraftanstrengung.
({4})
Sozialdemokratische Länder machen doch vor, wie es
anders geht. Rheinland-Pfalz beispielsweise hat eine Erzieheroffensive mit einem umfangreichen Fortbildungsprogramm umgesetzt. Das Land lässt den Personalbedarf
in Kitas und in der Kindertagespflege wissenschaftlich
ermitteln. Aber längst nicht alle Bundesländer sind so
fortschrittlich.
Gerade deshalb hat diese Bundesregierung die Pflicht,
solche Initiativen überall in Deutschland anzuschieben
und voranzubringen.
({5})
Der Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung,
aber vor allem auch das Angebot an Ganztagsbetreuung
in Kitas und Schulen sind die wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben unserer Zeit. Das gilt ganz besonders für
den Ausbau der Betreuungsplätze für die unter Dreijährigen. Eine Quote von bisher 23 Prozent ist alles andere
als ausreichend.
Wir alle wissen um die schlechte Finanzsituation der
Länder und vor allem der Kommunen. Es ist fatal, dass
diese Bundesregierung mit ihrer Haushalts-, Finanz- und
Steuerpolitik systematisch dazu beiträgt, dass Strukturen
vor Ort kaputtgespart werden. So hat allein das Wachstumsbeschleunigungsgesetz dieser Bundesregierung
({6})
- da können Sie weiter zetern; es bleibt wahr - bei den
Kommunen zu Einnahmeausfällen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro geführt, und zwar jährlich. Wir, die SPD,
fordern deshalb einen Rettungsschirm für Kommunen
und einen Bildungssoli, damit in eine vernünftige und
bedarfsgerechte Bildungsinfrastruktur investiert werden
kann. Sie machen mit Ihrer Haushaltspolitik die Finanzsituation der Kommunen und damit auch die Gestaltungsfähigkeit der Kommunen im Hinblick auf eine bessere Bildung kaputt.
({7})
Die schwarz-gelbe Koalition lehnt unsere Forderungen ab. Das ist unverständlich. Noch viel schlimmer:
Das von der Bundesregierung gegebene Versprechen, bis
2015 gesamtstaatlich mindestens 10 Prozent für Bildung
und Forschung aufzuwenden, wartet weiter auf seine
Einlösung. Die Geduld - nicht so sehr die der Opposition, sondern vor allem die der Eltern und der älteren
Kinder, die das immer mehr begreifen - ist überstrapaziert, und zwar zu Recht.
Fassungslos machen mich die Äußerungen der für
den Betreuungsausbau zuständigen Ministerin Schröder.
Die Bundestagsfraktion der SPD fordert seit langem einen erneuten Krippengipfel für Bund, Länder und Kommunen, um voranzukommen. Die Ministerin sagt dazu:
Das ist totaler Quatsch. - Die Jugend- und Familienministerkonferenz sowie die kommunalen Spitzenverbände fordern merkwürdigerweise denselben Quatsch.
Vielleicht sollte Ministerin Schröder einmal innehalten
und ihre Arbeit endlich aufnehmen.
({8})
Studien beweisen längst, dass ein Betreuungsgeld geradezu bildungsfeindlich wäre. Ministerin Schröder sagt,
frühkindliche Bildung habe sie mittlerweile als Thema
für sich entdeckt. Aber ich frage mich, warum sie dann
kein klares Nein zum Betreuungsgeld sagt; denn es
würde falsche Anreize schaffen, indem es gerade den
Verzicht auf die so wichtige frühkindliche Bildung fördert. Chancengleichheit würde dadurch verhindert und
der Ausbau der frühkindlichen Infrastruktur konterkariert.
Frau Kollegin!
Ich bin sofort am Ende. - Aktuelle Studien zeigen zudem, dass ein Betreuungsgeld sogar verfassungsrechtlich bedenklich wäre.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
Frau Kollegin!
- geben Sie sich einen Ruck! Verabschieden Sie sich
vom Betreuungsgeld! Investieren Sie in den Ausbau des
Angebotes für die unter Dreijährigen und der Ganztagsschulen!
Frau Kollegin!
Die Kleinsten in unserem Land haben mehr Anstrengung verdient.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({0})
Florian Hahn hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Dr. Hein, wenn wir einmal nüchtern die
Fakten zur diesjährigen PISA-Studie betrachten, dann
stellen wir fest, dass das von Ihnen gezeichnete pessimistische Zerrbild ganz schnell in sich zusammenfällt.
({0})
Gott sei Dank ist die Zeit, als Sie für Bildung und Kultur
in der SED-Bezirksleitung mitverantwortlich waren,
vorbei.
({1})
- Ja. Hören Sie nur zu! Das interessiert die Bürger sehr
wohl.
({2})
Wenn selbst Andreas Schleicher, Mister PISA, der
sich bekanntlich mit Kritik an unserem deutschen Bildungssystem nie zurückgehalten hat, Deutschland diesmal Riesenfortschritte attestiert, können auch Sie das
nicht schlechtreden. Deshalb noch einmal, um es sich
besser zu merken:
Fakt 1. Die Schülerinnen und Schüler in Deutschland
haben in der jüngsten PISA-Studie bessere Ergebnisse
erzielt als in den Studien zuvor.
Fakt 2. Die Schülerinnen und Schüler haben in den
Tests eine deutlich bessere Lesefähigkeit als bisher attestiert bekommen. Der Leistungsabstand zwischen guten
und schwachen Lesern hat sich so stark wie in keinem
anderen OECD-Land verringert.
({3})
Fakt 3. In den naturwissenschaftlichen Fächern rangieren die Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler
deutlich über dem Durchschnitt.
Fakt 4. Die PISA-Studie belegt zudem, dass sich die
Chancen für junge Menschen aus bildungsfernen Familien in Deutschland weiter verbessert haben.
Auch ein Blick auf die Jugendarbeitslosigkeit bestätigt die Leistungsfähigkeit unseres Bildungssystems.
Beim PISA-Spitzenreiter Finnland lag diese im Oktober
dieses Jahres bei den unter 25-Jährigen bei 20,9 Prozent,
in Deutschland hingegen bei 8,5 Prozent. Damit sind wir
einmal mehr ganz vorne in Europa. Es geht doch darum,
dass wir junge Leute so gut ausbilden, dass sie später
auch einen entsprechend guten Job finden. Das muss unser Ziel sein, nicht allein das Interpretieren von Statistiken. Diese geben uns nur einen Hinweis darauf, ob wir
auf dem richtigen Weg sind.
({4})
Die Fakten zeigen, dass der Kurs stimmt, und sie sind
gleichzeitig Motivation für die zukünftigen Aufgaben im
Bildungssektor.
Bundesministerin Professor Annette Schavan und der
Präsident der Kultusministerkonferenz, Bayerns Staatsminister Dr. Ludwig Spaenle, haben deutlich gemacht,
dass die vor uns liegenden Herausforderungen im Bildungssystem entschieden angegangen werden. Wir ruhen uns nicht aus; wir sind nicht selbstzufrieden, sondern wir wissen: Es gibt noch viel zu tun.
Wir wollen daher die „Kulturtechnik Lesen“ weiter
stärken, um aus dem Mittelfeld der PISA-Studie weiter
an die Spitze vorzudringen. Lesen eröffnet in einer globalisierten und vernetzten Welt das Tor zur Gestaltung
von Gesellschaft und Wirtschaft. Hier werden wir weiter
mit bundesweit einheitlichen Bildungsstandards und einer begleitenden Evaluation am Ball bleiben. Mit dem
Konzept „Lesestart - Drei Meilensteine für das Lesen“
sind wir da auf dem richtigen Weg.
Ferner müssen wir daran arbeiten, dass Jugendliche
aus Zuwandererfamilien ihre Fähigkeiten voll einbringen und Sprachbarrieren abbauen können. Hier bescheinigt uns die vorliegende PISA-Studie im Übrigen wichtige Erfolge, auf denen wir konsequent aufbauen
werden, um diesen Kindern mehr Chancen und Möglichkeiten zu eröffnen. Wir machen deutlich: Für uns ist die
Förderung aller, sowohl der Leistungsstarken als auch
der Leistungsschwachen, gleich bedeutsam.
Entgegen den Vorschlägen von SPD, Linken und Grünen greifen wir nicht zu Vorschlägen aus der alten politischen Mottenkiste und rufen nach der Einheitsschule,
sondern wir bekennen uns klar zu einer zielorientierten
Weiterentwicklung des differenzierten Bildungssystems.
({5})
So wollen wir das differenzierte Schulsystem weiter verbessern und individuelle Förderung ausbauen.
({6})
Damit werden wir die Talente jedes jungen Menschen
noch besser erkennen, um ihm eine gute Ausgangsposition für einen erfolgreichen Start in das private und berufliche Leben zu ermöglichen.
Dass dieser Weg richtig ist, zeigen nicht zuletzt auch
die Ergebnisse des Bildungsvergleichs der deutschen
Länder vom Sommer 2010. Während die ersten vier
Plätze unionsregierte Länder belegen, bilden das dunkelrote Berlin und das rot-grün regierte Bremen die
Schlusslichter. Dieses Ergebnis, meine Damen und Herren von der Opposition, sollte Ihnen daher zuallererst zu
denken geben. Entwickeln Sie erst einmal mit Ihren Kollegen in den Ländern tragfähige und chancenreiche Konzepte.
({7})
Sorgen Sie endlich dafür, dass es den Kindern dort besser geht, wo Sie heute Verantwortung tragen. Das ist
mehr als überfällig.
Herzlichen Dank.
({8})
Ernst Dieter Rossmann hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um gar nicht erst
ein Missverständnis aufkommen zu lassen: Die Sozialdemokratie bzw. die „linke Seite des Parlaments“, wie
Sie uns gerne denunzieren, freut sich über die PISA-Ergebnisse;
({0})
denn das ist eine Leistung von Lehrern, Schulträgern,
Länderministern und Bundesregierung. Und damit auch
Schluss ist mit dem Werbeblock: An der Vereinbarung
der Kultusminister waren Kultusminister aller Farben
beteiligt, und in Bezug auf die zehn Jahre gilt: Fünf
Jahre hat Schröder regiert und fünf Jahre Merkel. Wollen
wir uns jetzt wechselseitig vorwerfen, dass in dieser Zeit
in Sachen Bildung etwas geleistet worden ist? Nein. Wir
tun das nicht, und Kollege Schulz hat es auch nicht getan.
({1})
- Er hat es absolut nicht getan, sondern Kollege Schulz
hat rückgefragt, ob bei den guten Fortschritten, die uns
bescheinigt werden, wir nicht gemeinsam sensibel auf
die noch vorhandenen Bedarfe schauen sollten, was uns
durch die PISA-Studie nahegelegt wird.
Ich definiere diese Bedarfe noch einmal: Zum Ersten
gibt es für Kinder aus sozial schwierigeren Verhältnissen
nach wie vor eine soziale Diskriminierung durch einen
erschwerten Zugang in Bildungslaufbahnen. Das darf
uns nicht ruhen lassen, und das wird Sie genauso wenig
ruhen lassen. Zum Zweiten haben wir ein Problem in
Bezug auf eingewanderte oder zugewanderte Kinder und
Jugendliche, bei denen wir Fortschritte erzielt haben,
aber noch nicht so stark wie erwünscht und durchaus
noch differenziert nach Herkunftsgruppen. Zum Dritten
haben wir, wie es mancher gesagt hat, ein Jungen-Mädchen-Problem in Bezug auf spezielle Lesekompetenz
und Zugänglichkeit, was für uns eine pädagogische Herausforderung sein muss. Wenn man das benennen kann,
dann sollten wir daran auch gemeinsam arbeiten.
Ich will das aufgreifen, was Kollege Rachel für die
Bundesregierung an Alternativen vorgetragen hat; ich
fand das übrigens sehr mager. Vielleicht ist es an uns, die
acht Punkte, die 2001 von der Kultusministerkonferenz
mit Unterstützung der Bundesregierung erarbeitet worden sind, auf vier Punkte zu komprimieren.
Ich fange bei der Sprache an. In Klammern sei gesagt:
Zehn Jahre sind eine Bildungsbiografie. Die jetzt getesteten 15-Jährigen waren damals 5 Jahre alt. Insoweit ist
das eine Dekade, die genau den PISA-Zeitraum umfasst.
Wir wissen noch nicht, wie die später gestarteten frühkindlichen Fördermaßnahmen greifen. Wir haben die
Hoffnung, dass sie zu Verbesserungen führen. - Die Studie zeigt auf, dass es besondere Schwierigkeiten in der
kontinuierlichen Sprachförderung gibt.
({2})
In anderen Ländern wird kontinuierliche Sprachförderung auch noch in der Sekundarstufe I betrieben, und das
fachbezogen. Das ist etwas, Herr Rachel, liebe Kultus8886
ministerkonferenz, was wir gemeinsam verstärken sollten.
({3})
Es geht nicht um ein Sprachförderanfangsprogramm,
sondern um eine kontinuierliche Sprachförderung. Das
ist ein Analysepunkt und damit ein Handlungspunkt.
Der zweite Punkt. Es ist schon angesprochen worden,
dass es in anderen Ländern differenziertere Schulteams
gibt - das ist nicht aus der Mottenkiste; das ist PISA-Erkenntnis -, in denen Psychologen, Schulsozialarbeiter,
Lehrer und andere Engagierte arbeiten. Das wird jetzt in
die Debatte gebracht, auch als Möglichkeit, Schulsozialarbeit aufzubauen. Das wird auch in allen Ländern versucht; aber die sind bei 10 bis 15 Prozent. Da ist die
Frage, ob man einen großen Aufbruch erreicht, weil
nicht nur das Angebot, sondern auch die Vermittlung des
Angebots wichtig ist. Schulsozialarbeit ist also der
zweite Punkt, der in ein Vier-Punkte-PISA-Folgeprogramm gehört.
Der dritte Punkt ist die Ganztagsschule. Es geht nicht
an, Herr Rachel, dass wir uns zusammen darüber freuen,
dass wir beim Thema Ganztagsschule zu guten Einsichten gefunden haben - es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die zeigen, wie wichtig eine gute Ganztagsschule für alle in der Schule ist -, daraus aber keine
Handlungen folgen lassen. Es ist doch förmlich die Aufforderung aus den wissenschaftlichen Untersuchungen,
aus dem Konsens, zu einem guten gemeinsamen Ganztagsschulprogramm zu kommen.
({4})
Als Viertes bleibt die offene Stelle aus den acht Punkten der Kultusministerkonferenz von 2001, nämlich die
gute Lehrerausbildung. Bei der guten Lehrerausbildung
geht es um die Primärausbildung, aber auch um die Weiterbildung. Wieso haben wir länderübergreifende Qualitätsstandards, aber keine länderübergreifende Lehrerweiterbildung? Sie würde viel helfen, auch in Bezug auf die
Mobilität und die praktische Standardisierung.
So könnten wir auch in einem anderen Bereich noch
etwas tun. Die PISA-Studien haben uns im internationalen Vergleich gezeigt, dass bei uns interkulturelle Kompetenz an Schulen und Bildungseinrichtungen noch nicht
hinreichend ausgereift ist. Da ist es natürlich bitter, dass
etwas, auf das wir viel Hoffnung gesetzt haben, nämlich
das Anerkennungsgesetz, um die Lehrerin aus Kasachstan oder den Lehrer aus der Türkei oder den Erzieher
aus Jordanien in unserem Bildungssystem fruchtbringend einsetzen zu können, nicht zustande kommt.
Der vierte Punkt müsste also sein, diesen Aspekt der
interkulturellen Kompetenz aufzunehmen und gemeinsam zu versuchen, das mithilfe eines vom Bund gestützten Programms schnell in die Schulen hineinzubringen.
Wir möchten von der Sozialdemokratie aus für eine
solche komprimierte Vier-Punkte-Lösung werben. Eine
Schlussbeobachtung dazu. Kollege Rachel, Sie haben
die Bildungsrepublik so herausgestellt. Fällt uns da eigentlich noch etwas auf? Im letzten Jahr und vor zwei
Jahren gab es eine Euphorie: Bund und Länder kommen
bei der Kanzlerin zum Bildungsgipfel zusammen. Morgen ist wieder Ministerpräsidentenkonferenz mit der
Kanzlerin. Die Qualifizierungsinitiative wird nur zur
Kenntnis genommen. Es wird nicht inhaltlich vertieft, es
wird nicht einmal inhaltlich darüber gesprochen. Das
kann uns nicht ruhen lassen. Es muss doch eine neue Initiative geben, dass Bund und Länder in diesen vier Punkten - und anderen noch dazu - inhaltlich zusammenkommen.
Wir von der Sozialdemokratie fordern das ein
Herr Kollege!
- und werben dafür, dass wir uns nicht im KleinKlein der Ländervergleiche verzetteln,
Herr Kollege!
- sondern uns zusammen für gute Bildungsansätze
einsetzen.
Danke schön.
({0})
Michael Kretschmer hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Leider
ist auch diese Debatte wieder ein Beleg dafür, dass es in
der Politik keinen Bereich gibt, der so mit Ideologie aufgeladen ist wie die Bildung.
({0})
Das ist deswegen besonders schade, Herr Kollege
Rossmann, weil wir am heutigen Tag mit Blick auf diese
Studie sagen können: Wir sind erfolgreich. - Wenn es etwas gibt, das in der Pädagogik wichtig ist, dann ist es
zunächst einmal, Erfolge anzuerkennen.
({1})
Man sollte nicht mit den alten Kamellen kommen und
wieder die alten Forderungen zum gegliederten Schulsystem aufstellen, sondern zur Kenntnis nehmen, dass
Länder, Schüler, Lehrer und Eltern gemeinsam etwas erreicht haben. Darauf können wir stolz sein, meine Damen und Herren.
({2})
Es ist heute schon angesprochen worden: Zentrale
Verbesserungen gibt es bei den Migranten und auch bei
den Kindern, die zu Hause nicht mit ihren Eltern deutsch
sprechen können; aber diese Kinder bleiben immer noch
deutlich zurück. Jedes Mal, wenn ich nach Dresden oder
nach Hause, nach Görlitz, fahre, dann fahre ich entweder
durch Kreuzberg oder durch Neukölln. Ich denke dann
immer: Was hat diese linke Multikultipolitik für einen
Schaden in diesem Land angerichtet? Welche Lebenschancen junger Leute hat sie zerstört?
({3})
Es war die Regierung von Angela Merkel, die mit einem
Integrationsgipfel begonnen hat, das Thema Integration
ernst zu nehmen, und mit diesem Multikulti Schluss gemacht hat.
({4})
Sie hat gesagt: Natürlich muss man in diesem Land
deutsch sprechen, die deutsche Sprache beherrschen,
wenn man bei der Bildung erfolgreich sein will. Auch
das kann man an der PISA-Studie ablesen.
({5})
Eines kristallisiert sich ganz deutlich heraus: Die
PISA-Ergebnisse sind die Folgen einer verfehlten Gesellschaftspolitik; es sind die Fehler von linker Politik
und Folgen eines linken Zeitgeists.
({6})
In den Ländern im Westen, in denen die Union lange regiert hat und diese Fehler nicht möglich gewesen sind,
sind die PISA-Ergebnisse um Vieles besser, auch bei den
Kindern mit Migrationshintergrund.
({7})
Das Schlimme ist doch: Die neuen Bundesländer sind
vor 20 Jahren auf dem gleichen Niveau gestartet; und
heute liegen die Ergebnisse von Sachsen und Brandenburg gewaltig auseinander, um ein ganzes Jahr. Sachsen
hatte nach der Wiedervereinigung Baden-Württemberg
und Brandenburg Nordrhein-Westfalen als Partner. Das
sind konkrete Ergebnisse, die man zur Kenntnis nehmen
muss.
({8})
Schlimm ist auch, dass der zentrale Rat von Bildungsforschern heute nicht lautet: „Macht das so, oder macht
das so!“, sondern: Bitte macht Politik für einen Schulfrieden.
({9})
Als ich das zum ersten Mal gehört habe, habe ich mich
gefragt: Was ist denn los in diesen Ländern? Was sind
denn das für Zustände?
({10})
Wenn man sich das anschaut, stellt man fest: Sobald
Rot-Grün in Regierungsverantwortung kommt, wird in
der Bildung erst einmal alles umgestellt, alles neu gemacht - koste es, was es wolle. Ergebnisse werden ignoriert.
({11})
Das sehen wir gerade wieder in Nordrhein-Westfalen.
Wir waren auf einem guten Weg. Jetzt wird alles umgestellt.
Das Schlimmste, was man im Bildungsbereich, in
dem es um Vertrauen und Kontinuität geht, tun kann, ist,
andauernd etwas anderes zu machen. Deswegen ist die
Aussage: „Macht doch bitte einen Schulfrieden!“ schon
bezeichnend. Die Strukturen sind nicht das Entscheidende, sondern es geht um Leistungsorientierung, darum, dass die Lehrer arbeiten können, dass man Eltern,
Lehrer und Schüler in Ruhe lässt und die Politik nicht
andauernd reinredet.
({12})
Sachsen-Anhalt hat unter dieser Politik am meisten gelitten, weil dort am meisten rumgerührt worden ist. Seitdem es Kontinuität gibt, geht es aufwärts.
({13})
Das ist ein wunderbarer Beleg für diese These.
({14})
Wir haben in den vergangenen Jahren unter Angela
Merkel - jetzt machen wir es zusammen mit der FDP einen deutlichen Schwerpunkt auf Bildung gelegt. Wir
haben die Länder auf diesem Weg mitgenommen.
({15})
Das muss man zur Kenntnis nehmen.
Ich finde in diesem Zusammenhang die Aussage des
hochgeschätzten Bildungssenators Zöllner interessant,
auf den Sie mehr hören sollten,
({16})
und zwar sollten Sie auch auf das hören, was Ihnen nicht
gefällt. Man muss auf alles hören und alles zur Kenntnis
nehmen und darf nicht immer nur selektiv wahrnehmen.
({17})
Er hat heute nicht gefordert, das Kooperationsverbot
aufzuheben, sondern er hat dezidiert gesagt: Auch in
diesem System ist es möglich, zu kooperieren. - Wir tun
das. Wir tun dies jedes Jahr mit mehreren Milliarden
Euro, die der Bund den Ländern zur Verfügung stellt.
Diesen Weg wollen wir weitergehen, gern gemeinsam
- dazu sind Sie eingeladen -, aber nach Möglichkeit
ideologiefrei.
({18})
Um an diesem Punkt anzukommen, haben Sie aber noch
ein ganzes Stück Weg zurückzulegen.
Herzlichen Dank.
({19})
Ich schließe die Aussprache.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Die nächste Sitzung berufe ich auf morgen, Donnerstag, den 16. Dezember 2010, 9 Uhr, ein.
Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonnenen Einsichten.
Die Sitzung ist geschlossen.