Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute vor 20 Jahren, am 2. Dezember 1990, fanden in
Deutschland die Wahlen zum 12. Bundestag statt. Es
waren ganz normale und zugleich ganz besondere Wahlen. Denn ein gutes Jahr nach dem Fall der Mauer, zwei
Monate nach dem Tag der vollzogenen Einheit, konnten
alle Deutschen erstmals wieder in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl ihr gemeinsames Parlament wählen. 58 Jahre haben die Deutschen
darauf warten müssen; denn die letzte freie Wahl in ganz
Deutschland fand davor 1932 statt.
Nachdem die deutsche Einheit am 3. Oktober 1990
hergestellt war, wurde am 2. Dezember doch noch in
zwei getrennten Wahlgebieten gewählt, im Wahlgebiet
West mit rund 48 Millionen Wahlberechtigten und im
Wahlgebiet Ost mit rund 12 Millionen Wahlberechtigten,
wobei für jedes Wahlgebiet eine eigene Fünfprozenthürde galt. Neu war übrigens auch, dass die Westberliner
ihre Abgeordneten zum ersten Mal direkt in den Bundestag wählen konnten. Bis dahin wurden diese vom Berliner Abgeordnetenhaus in den Bundestag gesandt, der
seinen Sitz damals noch in Bonn hatte. Die Konstituierung des gesamtdeutschen Bundestages fand hier in Berlin statt. Am 20. Dezember 1990 eröffnete der damalige
Alterspräsident Willy Brandt die Sitzung hier in diesem
Raum.
Auf den Tag sechs Monate später, am 20. Juni 1991,
fasste das erste gesamtdeutsche Parlament dann den Beschluss, seinen Sitz ganz nach Berlin zu verlegen, übrigens mit ähnlich knapper Mehrheit wie bei der Entscheidung im November 1949 für Bonn statt Frankfurt als
Sitz der Verfassungsorgane. Seither begleitet und flankiert der Deutsche Bundestag von Berlin aus den Prozess
der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Einheit
Deutschlands.
Wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, heute auf
jenen 2. Dezember 1990 zurückblicken, so im Bewusstsein, dass die ersten gesamtdeutschen Wahlen in der parlamentarischen Geschichte Deutschlands zweifellos ein
Ereignis von besonderer Bedeutung darstellen. Als historisches Datum auf dem Weg zur deutschen Einheit gehört dieser Tag in seiner verfassungsrechtlichen und
politischen Bedeutung in eine Reihe mit dem 9. November 1989, dem 18. März 1990 und dem 3. Oktober 1990.
Die Teilung Deutschlands liegt hinter uns, Gott sei
Dank. Wie sehr sie unser Leben und unsere Wahrnehmung über Jahrzehnte auch in scheinbar unpolitischen
Gesellschaftsbereichen bis zum Fall der Mauer geprägt
hat, davon vermittelt zurzeit eine Ausstellung im PaulLöbe-Haus einen jedenfalls interessanten Eindruck, die
Ausstellung „Ästhetik und Politik. Deutsche Sportfotografie im Kalten Krieg“, die ich denjenigen, die nicht
gestern schon bei der Eröffnung dabei waren, zur gelegentlichen Information unbedingt ans Herz legen
möchte.
Im Übrigen möchte ich den Kolleginnen und Kollegen, die heute vor 20 Jahren in den Deutschen Bundestag gewählt worden sind und damit heute gewissermaßen ihr 20-jähriges Dienstjubiläum begehen, ganz
herzlich dazu gratulieren.
({0})
- Nein. Einen Tag frei gibt es nicht, jedenfalls nicht,
wenn es sich um einen Sitzungstag handelt.
Die Fraktion der SPD hat mir mitgeteilt, dass der Kollege Dr. Edgar Franke sein Amt als Schriftführer aufgibt.
Als Nachfolgerin wird die Kollegin Sonja Steffen vorgeschlagen. Können Sie sich damit anfreunden? - Das
sieht so aus. Dann ist die Kollegin Steffen damit zur
Schriftführerin gewählt.
({1})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Sabine Leidig, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsetzung einer Enquete-Kommission
„Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt“
- Drucksache 17/3990 ({2})
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP
Schlichterspruch zum Bahnprojekt Stuttgart 21
({3})
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaffen
- Drucksache 17/4046 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Ergänzung zu TOP 36
Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Oliver Krischer, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ungebundene EU-Mittel aus dem Konjunkturpaket ({5}) unverzüglich für mehr Energieeffizienz und erneuerbare Energien nutzen
- Drucksache 17/4017 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD
Fehlende Aktivitäten der Bundesregierung
hinsichtlich der Zukunftsängste des wissenschaftlichen Nachwuchses
ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Flüchtlinge aus dem Iran aufnehmen
- Drucksache 17/3997 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Irland unterstützen und Steuerharmonisierung vorantreiben
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/4065 ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Irland unterstützen und den Euro stabilisieren
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes
i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/4082 ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Irland unterstützen und gerechten, wirksamen
Mechanismus zur Bewältigung von Staatsfinanzierungskrisen schaffen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/4014 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Ulrich, Michael Schlecht, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
zum Antrag der Republik Irland auf finanzielle Unterstützung im Rahmen des Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus
({8})
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 1 des Gesetzes
über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in
Angelegenheiten der Europäischen
Union
Profiteure der Krise zur Kasse bitten - Keine
weitere Verstaatlichung fauler Bankkredite
bei Finanzhilfen für Irland
- Drucksache 17/4029 Von der Frist der Beratungen soll, soweit erforderlich,
abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 8 s und 10 werden abgesetzt. An den Platz des abgesetzten Tagesordnungspunktes 10 sollen nunmehr mehrere Anträge, die sich mit der
Präsident Dr. Norbert Lammert
finanziellen Unterstützung Irlands befassen, aufgerufen
werden. Danach folgen der Tagesordnungspunkt 12 sowie unmittelbar nacheinander die drei Punkte zur Verlängerung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Das
sind die Tagesordnungspunkte 11, 13 und 15. Der dann
übersprungene Tagesordnungspunkt 14 folgt im Anschluss an diese drei Entscheidungen über die Auslandseinsätze, sodass Sie sich bitte auch auf die entsprechende
Abfolge von Abstimmungen einstellen mögen.
Ich mache außerdem auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Die am 25. November 2010 überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll zusätzlich dem Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({9})
zur Mitberatung überwiesen werden:
Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
2010 zur Haushalts- und Wirtschaftsprüfung
des Bundes ({10})
- Drucksache 17/3650 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({11})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ich darf Sie fragen, ob Sie damit einverstanden sind. -
Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c sowie
den Zusatzpunkt 3 auf:
5 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung gemäß § 154 Absatz 4 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf
67 Jahre
- Drucksache 17/3814 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über
die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den
künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154 Absatz 1 und 3 SGB VI ({13})
und
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2010
- Drucksache 17/3900 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anton
Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen für die Teilhabe am Arbeitsleben
nutzen - Arbeitsbedingungen verbessern Rentenzugang flexibilisieren
- Drucksache 17/3995 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({15})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Fritz Kuhn,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaffen
- Drucksache 17/4046 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Hier geht es um die Beratung mehrerer Vorlagen zur
Rentenpolitik.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Auch dazu gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Bundesministerin Frau Dr. von der Leyen.
({17})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Bundeskabinett hat vor zwei Wochen den
Bericht der Bundesregierung zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre beschlossen. Das gesetzliche
Renteneintrittsalter erhöht sich ab 2012 Schritt für
Schritt behutsam um zwei Jahre bis zum Jahre 2029. Das
heißt, dass alle Beteiligten genügend Zeit haben, sich darauf einzustellen. Das ist auch sinnvoll; denn es gibt
noch viel zu tun.
Die Erhöhung der Altersgrenze auf 67 im Jahr 2029
ist notwendig, und sie ist vertretbar. Ich will das an einigen wenigen Zahlen deutlich machen. Allein in den letzten 50 Jahren ist die Lebenserwartung von Männern
und Frauen um 11 Jahre gestiegen. Das ist gut für den
Einzelnen. Das sind gewonnene Jahre, die wir zum Teil
auch für die Schaffenskraft in diesem Land, für den Arbeitsmarkt nutzen können. Dadurch wird aber natürlich
auch die Frage nach der gerechten Lastenverteilung zwischen den Generationen aufgeworfen.
Der zweite Tatbestand ist der durchschnittliche Rentenbezug. In den letzten 50 Jahren hat sich die Dauer des
Rentenbezugs fast verdoppelt. Vor 50 Jahren bezog ein
Rentner im Durchschnitt zehn Jahre lang eine Rente,
heute sind es im Schnitt 18 Jahre. Vor zehn Jahren erarbeiteten noch sechs Erwerbstätige eine Rente, heute sind
es drei Erwerbstätige.
Deshalb, meine Damen und Herren, hatte Franz
Müntefering recht, als er bei der Einführung der Rente
mit 67 sagte: „Die Rente mit 67 ist demografisch und finanziell unabdingbar.“
({0})
Diese Aussage war damals richtig, aber sie ist auch
heute noch richtig, auch wenn das heute noch lange nicht
populär ist. Das weiß ich. Aber manchmal, meine Damen und Herren, braucht man in der Politik den Mut zur
Verlässlichkeit. In diesem Fall ist es der Mut zur Nachhaltigkeit, den wir gemeinsam haben sollten.
({1})
Eine Absage oder eine Verschiebung der Rente mit 67,
die von Teilen der SPD und den Gewerkschaften - ich
sage bewusst: von Teilen - diskutiert wird, wäre meines
Erachtens verantwortungslos. Denn wer das fordert, der
muss auch sagen, was die Konsequenzen für unser Land
sind:
({2})
entweder die Beiträge für die Jüngeren zu erhöhen oder
die Rente für die Älteren zu senken. Aber eine Aussetzung der Rente mit 67 zu fordern, ohne die Folgen zu
benennen, das ist meines Erachtens nicht in Ordnung,
meine Damen und Herren.
({3})
Ich weiß, bis zur Rente mit 67 im Jahr 2029 ist es
noch ein weiter Weg. Aber es ist auch der Weg zur Stärkung des Generationenvertrages.
Die Rente mit 67 ist vertretbar. Wir haben im Augenblick weniger als 3 Millionen Arbeitslose. Unter den
OECD-Staaten haben wir in unserem Land das höchste
Wachstum. Noch nie waren so viele Menschen sozialversicherungspflichtig tätig. Uns geht nicht die Arbeit
aus - wir haben so viel Arbeit und so viele Aufträge wie
nie zuvor -, aber uns gehen die Arbeitskräfte aus. Deshalb ist die Rente mit 67 bis 2029 auch ein wichtiger
Schritt, um im Arbeitsmarkt genügend Fachkräfte zu
haben.
({4})
Es zeigt sich inzwischen auch schon, dass ein Umdenken stattfindet. Dazu trägt natürlich bei, dass die Frühverrentungsregelungen abgeschafft worden sind und
dass sich der Blick auf ältere Menschen verändert. Das
zeigt sich auch in den Zahlen. Seit 2005 ist die Zahl der
Erwerbstätigen, die älter als 55 Jahre sind, um gut
1 Million gestiegen. Die Älteren waren im letzten Jahrzehnt die Gewinner am Arbeitsmarkt. Das sollten wir an
dieser Stelle auch einmal betonen.
({5})
Es handelt sich dabei eben nicht um prekäre Jobs, wie
immer, oft auch mit Absicht, behauptet wird. Das Gegenteil ist richtig. Drei von vier Beschäftigten im Alter
von 55 bis 64 Jahren haben sozialversicherungspflichtige Vollzeitjobs. Es gibt also mehr und bessere Jobs für
Ältere, und die Zahl nimmt zu.
Wenn man den Blick auf die Gruppe der 60- bis 64Jährigen richtet, also auf die Gruppe, die zum Teil noch
in hohem Maße von den Frühverrentungsregelungen
profitiert hat, dann sieht man, dass sich deren Erwerbstätigenquote in den letzten zehn Jahren von 20 Prozent,
also einem niedrigen Niveau, auf fast 40 Prozent im Jahr
2009 nahezu verdoppelt hat.
({6})
Gemäß den Daten des Europäischen Statistikamtes ist
die Quote im zweiten Halbjahr 2010 inzwischen auf
41,1 Prozent gestiegen.
({7})
Wann, wenn nicht jetzt, wagen wir den Aufbruch in eine
altersgerechte Arbeitswelt? Das ist doch die Frage, die
wir uns stellen sollten.
({8})
In den kommenden 15 Jahren werden uns 5 Millionen
Arbeitskräfte fehlen. Das entspricht zum Beispiel knapp
der Hälfte der Einwohnerzahl von Baden-Württemberg.
Reden wir doch einmal darüber, welche Lebenserfahrung, welches Betriebswissen und welche sozialen Kompetenzen Ältere besitzen und den Jüngeren voraushaben.
Diejenigen, die sich mit aller Kraft gegen eine Rente mit
67 und damit auch gegen die Beantwortung der Frage
stemmen, wie das Arbeiten bis 67 funktionieren kann,
blenden automatisch jedwede Überlegung über ein neues
Bild des Alters aus.
({9})
Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Ich führe den Gedanken zu Ende. - Wir müssen doch
anders diskutieren. Wir müssen über den richtigen Mix
aus betrieblicher Gesundheitsförderung und der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege, über eine altersgerechte
Arbeitsplatzgestaltung, Weiterqualifizierung und Weiterbildung reden. Das sind die Themen, bei denen wir etwas bewegen sollten.
Ich weiß, dass Kritiker einwenden: Was ist mit den
körperlich schweren Tätigkeiten? Soll der Dachdecker
bis 67 auf dem Dach arbeiten? - Nein, das soll er nicht.
Das macht er heute im Alter von 65 Jahren übrigens
auch nicht mehr. Er muss künftig frühzeitig auf den
Wechsel vorbereitet werden. Das ist die Denke, die wir
entwickeln müssen.
So jemand hat Lebenserfahrung, Kompetenzen und
Betriebswissen. Mit diesem Know-how kann er sich
zum Beispiel auf den Vertrieb, die Ausbildung oder den
Arbeitsschutz spezialisieren. Vorausschauende Unternehmen und übrigens auch vorausschauende Sozialpartner denken längst anders.
({0})
Ich weiß, sie sind noch in der Minderheit, aber sie sind
die Trendsetter einer altersgerechten Arbeitswelt.
Wir sind inzwischen eine Gesellschaft des langen Lebens, ob es uns passt oder nicht. Eine solche Gesellschaft
muss dementsprechend auch langfristig denken. Kluge
Politik ist nachhaltig und demografiefest, und nur durch
eine zukunftsfähige, nachhaltige und demografiefeste
Politik werden wir unser Land auch gut weiterbringen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Sigmar Gabriel für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Ministerin von der Leyen, Sie sollten feststellen, ob jetzt
- so fordert es das Gesetz - und nicht irgendwann in der
Zukunft die arbeitsmarktpolitischen Voraussetzungen
und die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen
- auch das steht im Gesetz - für den Einstieg in die
Rente mit 67 vorliegen oder ob das nicht der Fall ist. Es
geht also nach dem Auftrag des Gesetzes heute gar nicht
darum, ob die Rente mit 67 eingeführt wird, sondern darum, wann die Voraussetzungen für die Rente mit 67
vorliegen.
Denn dass wir nicht tatenlos zusehen können, dass
aufgrund kleiner werdender Geburtenjahrgänge immer
weniger aktive Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
eine immer größer werdende Zahl von Rentnern finanzieren müssen, ist völlig unbestritten. Ich glaube, die
Fraktion Die Linke ist die einzige, die bestreitet, dass wir
ein demografisches Problem in der Rentenkasse haben;
wir bestreiten das nicht. Dass zur Bewältigung dieses
Problems die Anhebung des Renteneintrittsalters eine
der notwendigen Antworten ist, Frau von der Leyen,
wird von uns auch nicht bestritten.
Die Frage ist aber, ob wir das Gesetz erfüllen. Denn
das Gesetz will vorher geklärt wissen, ob die Anhebung
des Renteneintrittsalters auf 67 die betroffenen Arbeiter
und Angestellten, die rentenversichert sind - um diese
Menschen, Frau von der Leyen, und nicht um eine allgemeine Erwerbstätigenquote geht es -, vor eine unlösbare
Aufgabe stellt oder ob sie eine reale Chance haben, länger zu arbeiten. Das will das Gesetz wissen.
({0})
Um das zu klären, Frau Ministerin, muss man nicht
mit Taschenspielertricks die Zahl der älteren Erwerbstätigen, sondern die der älteren rentenversicherten Arbeiter und Angestellten in Deutschland heranziehen. Denn
es geht bei der Rentenkasse nicht um Beamte, um
Selbstständige, um Minijobber oder um 1-Euro-Jobber.
Diese rechnen Sie allerdings dazu, wenn Sie sagen: Es
ist doch alles wunderbar und auf gutem Wege.
Bei der Betrachtung der Wirklichkeit, Frau von der
Leyen, helfen auch keine Rechentricks. Denn das Gesetz
fordert zur Prüfung auf, ob ältere Arbeitnehmer eigentlich die Chance haben, bis 67 zu arbeiten. Dazu muss
man sich die Beschäftigten zwischen 60 und 64 anschauen. Wer hingegen auf die Altersgruppe der 55-Jährigen zurückgreift, will nur die Statistik schönen, aber
nicht die Realität zur Kenntnis nehmen.
({1})
Wie ist die Lage, Frau Ministerin, dieser rentenversicherten Arbeiter und Angestellten heute? 23,4 Prozent,
Frau Ministerin, der 60- bis 64-Jährigen waren 2009 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Bei den 64-Jährigen, meine Damen und Herren, sind es ganze 10 Prozent.
({2})
- Der Kollege meint, von den rentenversicherten Arbeitern und Angestellten dieser Altersgruppe seien
90 Prozent in Altersteilzeit.
({3})
Wenn ich jetzt einmal unterstelle, dass das stimmen
würde, dann wirft das bei mir die Frage auf: Warum
streichen Sie eigentlich die geförderte Altersteilzeit, obwohl diese so gut sein soll? Das ist meine Frage an Sie.
({4})
Meine Damen und Herren, heute reden wir darüber,
dass uns das Gesetz auffordert, zu prüfen, ob die Arbeitsmarktbedingungen gegeben sind. Dabei stellen wir
fest, dass 80 Prozent der rentenversicherten Arbeiter und
Angestellten zwischen 60 und 64 nicht mehr arbeiten.
Insofern stellen Sie, Frau von der Leyen, knapp
80 Prozent auf dem Arbeitsmarkt vor eine unlösbare
Aufgabe. Denn sie finden entweder keine Arbeit im Alter, oder sie sind körperlich so kaputt, dass sie nicht
mehr arbeiten können.
Genau das will das Gesetz nicht. Es will Arbeiter und
Angestellte nicht vor eine unlösbare Aufgabe stellen.
Vielmehr fordert es mehr Arbeitsmöglichkeiten für
Ältere,
({5})
bevor die Rente mit 67 beginnt.
({6})
Sie, Frau von der Leyen, wollen die Hände in den
Schoß legen, und tun so, als ob allein der demografische
Wandel dazu führen würde, dass mehr Ältere beschäftigt
werden. Ich zitiere einmal, was der Sozialbeirat der Bundesregierung - ich weiß ja nicht, ob Sie dessen Publikationen lesen - dazu geschrieben hat:
Die Gutachter warnen deshalb: „Es gibt somit keine
Automatik, dass sich infolge des demografischen
Wandels die Arbeitsmarktchancen der Älteren wesentlich verbessern.“
Das schreiben Ihre eigenen Gutachter.
Sie müssen also etwas tun, damit Ältere Beschäftigung finden. Tatsache ist aber, dass gerade die Arbeitslosigkeit von Älteren zunimmt.
({7})
Ältere rentenversicherte Arbeiter und Angestellte finden
oft keinen Arbeitsplatz; anders sind die 80 Prozent auch
nicht zu erklären. Für diese bedeutet die Erhöhung des
Renteneintrittsalters nichts anderes als eine Rentenkürzung.
Frau von der Leyen, ich frage Sie: Wissen Sie eigentlich, was Rentner an Renteneinkommen haben? Von
den 20 Millionen Rentnerinnen und Rentnern in
Deutschland beziehen über 16 Millionen eine Rente aus
der gesetzlichen Rentenversicherung und leben ausschließlich von dieser. Sehr viele dieser 16 Millionen
Rentnerinnen und Rentner beziehen eine Rente von
500 bis 1 000 Euro im Monat. In Ostdeutschland sind es
mehr als 50 Prozent der Männer, die nicht mehr als
500 bis 1 000 Euro Rente ausschließlich aus der gesetzlichen Rentenversicherung bekommen. Diesen Prozentsatz sollte man sich merken, finde ich. In Westdeutschland sind es 65 Prozent der Männer und 97 Prozent der
Frauen, deren gesetzlicher Rentenanspruch unter
1 200 Euro im Monat liegt.
({8})
Herr Kollege Gabriel, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Lehrieder zu?
Ja, natürlich.
Bitte schön.
Herr Kollege Gabriel, ist Ihnen bekannt, dass sich die
Entwicklung der Gesamtbeschäftigungsquote in Deutschland von 33,6 Prozent im Jahr 2000 auf 33,2 Prozent im
Jahr 2009 fortgeschrieben hat, dass jedoch bei den
60- bis 65-Jährigen 10,9 Prozent im Jahr 2000 und
23,4 Prozent im Jahr 2009 in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis waren und damit
ein Zuwachs zu verzeichnen ist?
({0})
Herr Kollege, das Arbeitsministerium hat verzweifelt
versucht, bei Ihnen einen Redner zu finden, der mich das
fragt;
({0})
ich hätte Ihnen empfohlen, meiner Rede zuzuhören.
Denn genau das, was Sie eben vorgetragen haben, habe
ich auch schon gesagt.
({1})
Insofern vielen Dank für den Beweis, dass bei Ihnen
Kommunikationsprobleme existieren.
Im Ernst, ich sage das nicht ohne Grund. Lassen Sie
es uns doch ehrlich zugeben: Wer von uns in diesem
Haus kann sich vorstellen, im Alter mit einer Rente von
500 bis 1 200 Euro auszukommen? Der Zorn vieler
Menschen, Frau von der Leyen - das richtet sich an uns
alle -, rührt doch daher, dass die faktische Rentenkürzung - dies bedeutet das, was Sie durchsetzen wollen,
für viele - von Menschen gefordert und beschlossen
wird, die niemals auch nur annähernd in die Lage kommen, im Alter mit einem so geringen Renteneinkommen
auskommen zu müssen. Das ärgert die Menschen.
({2})
Deshalb, Frau von der Leyen, müssen wir uns die Debatte um die Rente mit 67, die ich nicht bestreite und von
der wir sagen, dass die Entscheidung richtig war,
({3})
schwerer machen, als Sie es derzeit tun. Es wird nämlich
in Zukunft mehr Menschen mit geringen Renten geben.
Denn Armutslöhne schaffen auch Armutsrenten. Deshalb brauchen wir endlich einen gesetzlichen Mindestlohn für alle. Das ist entscheidend.
({4})
Sie verweigern den gesetzlichen Mindestlohn. In unserem Land arbeiten mehr als 6 Millionen Menschen für weniger als 8 Euro brutto pro Stunde. Minilöhne produzieren
Minirenten. Armutslöhne produzieren Armutsrenten. Wissen Sie, Frau von der Leyen, welcher Rentenanspruch sich
aus 45 Arbeitsjahren bei einem Bruttostundenlohn von
8 Euro ergibt? Das sind 558 Euro. Wenn Sie dagegen
nichts unternehmen, dann müssen die Menschen zornig
auf die Barrikaden gehen, wenn sie hören, dass ihnen
diese Rente auch noch gekürzt werden soll.
({5})
Sie müssen Mindestlöhne einführen, damit die Menschen damit auskommen können.
Das gilt übrigens auch für das Prinzip „Gleicher Lohn
für gleiche Arbeit“ in der Leiharbeit, und zwar ohne jede
Ausnahme und ohne jedes Schlupfloch, Frau von der
Leyen, nicht so, wie Sie es gerade mit der Scheingesetzgebung versuchen. Wenn sich Leistung im Arbeitsleben
wie in der Rente lohnen soll, dann müssen wir in
Deutschland erst einmal Recht und Ordnung auf dem
Arbeitsmarkt schaffen. Das wäre Ihre Aufgabe, Frau von
der Leyen, statt statistische Tricks vorzuhalten.
({6})
Viele von denen, die trotz eines sehr langen Arbeitslebens von 45 Jahren nur einen Rentenanspruch von
500 bis 1 200 Euro haben, müssen bereits heute Rentenkürzungen hinnehmen; denn sie schaffen es gar nicht,
bis 65 zu arbeiten.
({7})
Wenn Sie denen jetzt noch einmal die Rente kürzen wollen, ohne ihnen Angebote zu machen, wie sie, weil sie
nicht mehr arbeiten können, ohne zusätzliche Rentenabschläge in Rente gehen können, dann ist das genau der
Zynismus in der Politik, den die Menschen in Deutschland inzwischen abscheulich finden.
Das Gesetz fordert uns auf, die Wirklichkeit zu betrachten. Deshalb ist es ein gutes Gesetz. Das Gesetz
sagt uns: Tut genug dafür, dass Menschen wirklich länger arbeiten können. Deshalb enthält es die Forderung,
den Arbeitsmarkt zu betrachten, bevor man handelt. Sie
machen das genaue Gegenteil: Sie kürzen im Bundeshaushalt die Mittel für die Qualifizierung von Arbeitslosen - auch von älteren Arbeitslosen - um 1,3 Milliarden
Euro. Statt sie zu qualifizieren, kürzen Sie bei der Qualifizierung.
({8})
Frau von der Leyen, Sie gehören zu denjenigen, die in
der Diskussion über den Fachkräftebedarf der Zuwanderung aus dem Ausland das Wort reden. Ich sage Ihnen:
Sie kassieren den Druck, von dem Sie sagen, dass die
Arbeitgeber ihn spüren müssen, damit sie Ältere einstellen, wieder ein. Das kann doch nicht wahr sein.
Solange wir 70 000 Schüler ohne einen vernünftigen
Abschluss entlassen, solange der Anteil der Arbeitslosen
und der Älteren steigt, solange Frauen keine vernünftigen Erwerbschancen haben, wenn sie Kinder haben, so
lange scheint der Fachkräftebedarf in Deutschland nicht
besonders groß zu sein. Das müssen wir angehen, aber
nicht die leichte Flucht in die Zuwanderung.
({9})
Meine Damen und Herren, das Gesetz fordert nicht
nur, den Arbeitsmarkt zu betrachten, sondern es will
auch wissen, ob das sozialpolitisch vertretbar ist. Frau
von der Leyen, Sie haben in Ihrem Bericht kein Wort
über Menschen verloren, die beruflich schwere und
schwerbelastende Arbeit leisten und das Renteneintrittsalter von 65 oder 67 gar nicht erreichen können. Dies gilt
beispielsweise für Schichtarbeiter, Krankenschwestern,
Altenpfleger, Kraftfahrer, Handwerksgesellen und Facharbeiter.
Frau von der Leyen, das sind keine Einzelfälle. Nur
3,9 Prozent aller Frauen und nur knapp 10 Prozent aller
Männer gehen aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung abschlagsfrei in die Altersrente. Mehr schaffen das gar nicht. Das ist nicht die Ausnahme, sondern
das ist die Regel, Frau von der Leyen.
Ich will Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie solche Lebensverhältnisse von Altenpflegern, Krankenschwestern, Facharbeitern und Schichtarbeitern nicht kennen.
Ein bisschen mehr Empathie für diejenigen, denen Sie
nur die Rente kürzen wollen und denen Sie keinerlei
Chance geben, das erhöhte Renteneintrittsalter überhaupt zu erreichen, müssen Sie aber schon entwickeln.
({10})
Herr Kollege Gabriel, darf Herr Kollege Hinsken Ihnen eine Frage stellen?
Nein.
Meine Damen und Herren, damit Sie besser verstehen
können, warum wir uns als Sozialdemokraten schwertun, mit der Rente mit 67 einfach loszulegen, will ich Ihnen ein Beispiel erzählen.
({0})
- Ich weiß nicht, ob Sie anders als Ihr Kollege zugehört
haben. Wir versuchen, einen Blick auf die Wirklichkeit
zu werfen, wie es das Gesetz fordert. Herr Kollege, Sie
ignorieren das Gesetz.
({1})
Frau von der Leyen, ich erzähle Ihnen einmal ein
praktisches Beispiel, damit Sie unsere Empathie verstehen können. Gerda Küchler ist 55 Jahre alt und Pflegekraft in München. Mit 16 Jahren hat sie ihre Ausbildung
begonnen und ist in den Beruf gegangen. Sie hat
30 Jahre lang in der Pflege gearbeitet. Als das Kind da
war, hat sie überwiegend Nachtschichten gemacht. Das
ist ein harter Job. Gelenke und Wirbelsäule sind geschädigt aufgrund der Belastungen durch viele Erkrankungen, ganz zu schweigen von den Belastungen durch die
Patienten.
Gerda Küchler hatte Glück. Im Alter von 55 Jahren
muss sie nicht mehr in der Pflege arbeiten. Sie ist jetzt
im Seniorenzentrum tätig. Sie sagt, für sie sei das der
Himmel auf Erden. Sie sagt aber auch, solche Stellen
seien ganz selten und man müsse Glück haben und Fachkraft sein.
Für die meisten ist das unerreichbar. Wer nicht Fachkraft ist, sondern Pflegehilfskraft - Sie wissen das, Frau
von der Leyen -, der hat keine Chance. Im Übrigen
schafft die Bundesregierung gerade ihre Chancen auf
Qualifizierung ab.
Gerda Küchler sagt weiter: Die wenigsten Pflegekräfte schaffen es, bis 60 zu arbeiten. Wer älter ist, muss
das Gleiche leisten wie die Jüngeren. Der Normalfall ist
die Erwerbsminderungsrente.
Gerda Küchler wird mit 65 einen Rentenanspruch von
1 100 Euro haben. Das ist nicht sehr viel nach einem langen Arbeitsleben. Wenn sie mit 63 in Rente gehen muss,
hat sie Abschläge von 80 Euro hinzunehmen. Wird das
gemacht, was Sie sagen, ohne ihr ein Angebot zu machen, dann verdoppelt sich der Abschlag.
Mathematisch gesehen und mit Blick auf die Rentenversicherung sind die Abschläge sicher sinnvoll. Für die
meisten von uns, die hier sitzen, und auch für diejenigen,
die darüber schreiben, wäre ein Abschlag von 80 Euro
oder 160 Euro noch nicht einmal die Welt. Frau von der
Leyen, für diejenigen aber, die sich ihr Leben lang im
wahrsten Sinne des Wortes krumm gemacht haben und
sowieso schon wenig verdienen, sind 80 Euro oder
160 Euro pro Monat ein sehr großer Unterschied. Um
diese Menschen geht es, meine Damen und Herren.
({2})
Offensichtlich plagt Sie Ihr schlechtes Gewissen;
denn anders könnte man sich einige Ihrer Anzeigen nicht
erklären. Sie schreiben beispielsweise in einer Anzeige,
die im Weser Kurier erschienen ist: „Wer heute 47 Jahre
oder älter ist, muss gar nicht oder nur wenige Monate
länger arbeiten.“
Damit wollen Sie den Leuten sagen: Beruhigt euch.
Wer 47 Jahre oder älter ist, den trifft das alles gar nicht.
({3})
Ich weiß nicht, ob Sie klammheimlich das Gesetz geändert haben. Aber die Wahrheit ist, dass diejenigen, die
heute 47 Jahre alt sind, bereits bis 66 Jahre und 10 Monate arbeiten müssen, also fast bis 67.
({4})
Nun kann man sicherlich Rechenfehler machen; das ist
bei Ihrer Regierung nicht verwunderlich.
({5})
Aber die Menschen in einem so zentralen Punkt mit Anzeigen, die aus Steuergeldern finanziert sind, in die Irre
führen zu wollen, ist schon mehr als ein Tippfehler. Das
ist Ausdruck Ihres Wunsches, den Menschen etwas vorzumachen.
({6})
Erstens. Wir wollen die Erwerbsminderungsrente ausbauen. Wir wollen flexible Übergänge und Regelungen
für all diejenigen schaffen, die heute noch nicht einmal
bis 64 oder 65 arbeiten können. Zweitens wollen wir dafür sorgen, dass Armutslöhne verschwinden, Frau von
der Leyen, und sich Arbeit wieder lohnt. Sozial ist nicht,
was Arbeit schafft. Sozial ist vielmehr, was Arbeit
schafft, von der man leben kann, und zwar auch im Alter.
({7})
Drittens wollen wir mehr für die Beschäftigung älterer
Arbeitnehmer tun. Sie machen das Gegenteil. Das sind
die drei Voraussetzungen, die wir für die Rente mit 67
schaffen müssen. Das fordert das Gesetz.
Übrigens gibt es andere, die uns dabei helfen, zum
Beispiel die Tarifpartner. Die IG BCE hat einen ersten
Demografietarifvertrag geschlossen. Gesetzliche Rente,
private Vorsorge, betriebliche Renten und Tarifverträge
müssen zusammen dafür sorgen, dass die Probleme gelöst werden können. Solange wir das nicht getan haben,
solange kann die Rente mit 67 nicht in Kraft treten. So
will es das Gesetz, Frau von der Leyen, und so wollen es
auch wir Sozialdemokraten.
({8})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Hinsken
das Wort.
Herr Kollege Gabriel, da Sie meine Zwischenfrage
nicht zugelassen haben, habe ich mich zu einer Kurzintervention gemeldet. Ich frage Sie: Haben Sie die Rede,
die Sie gerade gehalten haben, mit Ihrem Vorgänger im
Amt des Parteivorsitzenden, dem ehemaligen Arbeitsminister Müntefering, abgestimmt und, wenn nicht, warum
nicht? Des Weiteren ist mir sehr wohl aufgefallen, dass
sich Herr Müntefering des Beifalls nach Ihrer Rede enthalten hat. Er denkt wahrscheinlich ein bisschen anders
und teilt nicht die Meinung, die Sie hier dargelegt haben.
Es wäre angebracht, wenn Sie sich in diesem Fall im
Rahmen eines Privatissimums von Herrn Müntefering
unterweisen ließen.
({0})
Herr Kollege, der Kollege Müntefering sitzt hinten,
glaube ich. Sie können gerne ein Privatissimum mit ihm
abhalten. Wir haben darüber in der SPD-Fraktion diskutiert. Vielleicht haben Sie trotz des ganzen Zorns, der anscheinend bei Ihnen über meine Rede existiert, bemerkt
({0})
- jedenfalls waren Ihre Ohren irgendwie ein bisschen
verstopft; das liegt vielleicht am Schnee -, dass ich wörtSigmar Gabriel
lich gesagt habe: Das Gesetz ist ein gutes Gesetz. - Ich
habe nicht das Gesetz kritisiert. Vielmehr werfe ich Ihnen vor, dass Sie das Gesetz nicht einhalten.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Gabriel, wir halten das Gesetz ein und tun
genau das, was in § 154 SGB VI vorgeschrieben ist. Wir
legen den jährlichen Rentenversicherungsbericht und
den Fortschrittsbericht zur Einführung der Rente mit 67
vor. Beides tun wir, und zwar auf eine sehr sachliche
Weise. Was Sie hier tun, Herr Kollege Gabriel, ist ein
Stück weit beschämend für den angeblichen Oppositionsführer in diesem Haus. Herr Gabriel, Sie können
sich doch nicht ernsthaft hier hinstellen, nachdem die
SPD bis vor einem Jahr über elf Jahre den Arbeitsminister in Deutschland gestellt hat, und sagen, es müssten erst
einmal Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt hergestellt werden. Haben Sie oder Ihre Minister elf Jahre lang
geschlafen?
({0})
Es ist wirklich nicht so, dass wir in den zwölf Monaten Unordnung hätten schaffen können oder wollen. Wir
hatten vielmehr alle Hände voll mit den Baustellen zu
tun, die Sie uns hinterlassen haben. Ich nenne als Beispiel die Jobcenter oder die Regelsätze für Hartz IV.
({1})
Es ist doch unglaublich, welche Vorstellung Sie hier abgeliefert haben. Das ist eines Oppositionsführers unwürdig.
({2})
Das sieht man auch an dem konkreten Vorschlag, einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, womit alle
Probleme gelöst seien und es keine Altersarmut in
Deutschland mehr gebe. Wenige Sätze später rechnen
Sie in Ihrer Rede vor, dass selbst bei einem Mindestlohn
von 8 Euro und bei 45 Erwerbsjahren der Rentenanspruch gerade einmal - ich habe es mir aufgeschrieben 558 Euro betragen würde.
({3})
- Wenn Sie jetzt von 10 Euro sprechen - der Zwischenruf kam gerade -, dann weise ich darauf hin, wie der gesetzliche Mindestlohn wirkt. Der gesetzliche Mindestlohn würde in ganz Deutschland einheitlich gelten, im
Erzgebirge wie im Rhein-Main-Gebiet. Es fragt sich,
wie sich das auf den Arbeitsmarkt im Erzgebirge auswirkt, wie viele Jobs in Deutschland wegfallen und wie
viele Menschen dann ungleich schlechtere Voraussetzungen haben, einen vernünftigen Rentenanspruch zu erwerben.
({4})
Ich möchte noch auf andere Aspekte verweisen, die
auch heute hier zur Debatte stehen und die erwähnt werden müssen; denn ich finde, dass die Entwicklung der
gesetzlichen Rentenversicherung in der jüngsten Vergangenheit eine wirkliche Erfolgsgeschichte, geradezu
eine sensationelle Erfolgsgeschichte ist.
({5})
Die gesetzliche Rentenversicherung hat die weltweite
Wirtschafts- und Finanzkrise weitgehend unbeschadet
überstanden. Die Nachhaltigkeitsrücklage wächst von
10,8 Milliarden Euro auf fast 27 Milliarden Euro am
Ende des Jahres 2014. Die Beiträge können ab dem
Jahre 2014 gesenkt werden. Trotzdem wird es in den
nächsten Jahren - selbst wenn die Dämpfungen bei der
Rente nachgeholt werden - Jahr für Jahr Rentenerhöhungen für die Rentner in diesem Land geben. Das heißt, die
Bundesregierung ist in diesem magischen Dreieck gut
unterwegs. Ich sage Ihnen auch, wieso: weil wir es geschafft haben, mit einer vernünftigen Politik für ein starkes Wachstum - es ist das stärkste in der EU - und für
eine geradezu sensationelle Entwicklung bei der Beschäftigung in diesem Land zu sorgen. Die Zahlen sind
gerade erst vor zwei Tagen gekommen. Es gibt einen Rekord bei der sozialversicherungspflichten Beschäftigung. Das bedeutet sprudelnde Beitragseinnahmen.
Während die Prognose für das Jahr 2010 - Rechenergebnis der gesetzlichen Rentenversicherung - zu Beginn des
Jahres noch gewesen ist, dass man mit einem Minus von
2 Milliarden Euro abschneidet, so können wir jetzt feststellen: Wir werden ein Plus von 1,3 Milliarden Euro haben. Das zeigt: Die Versicherten, also die Aktiven, die
Beiträge entrichten, und die Rentner: In diesem Lande
sitzen alle in einem Boot. Eine gute Rentenpolitik muss
vor allen Dingen die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in unserem Land im Auge behalten, und genau
das tun wir.
({6})
Auf diesem Weg wollen wir weiter voranschreiten.
Ich glaube, dass die Entscheidungen, die wir treffen, mit
Augenmaß getroffen werden. Ich möchte noch etwas zur
Anhebung der Regelaltersgrenze sagen. Das Renteneintrittsalter von 65 Jahren ist in der Kaiserzeit festgesetzt
worden, 1911 und 1916. Damals betrug die Lebenserwartung 48 Jahre für Frauen und 45 Jahre für Männer.
Die Lebenserwartung ist heute mindestens 30 Jahre höher - und das bei ungleich besseren Arbeitsbedingungen.
Es gibt immer noch Schwierigkeiten in einzelnen Berufen - das bestreite ich nicht -, aber dagegen muss man
etwas tun. Das führt natürlich zu deutlich längeren Rentenbezugszeiten. Ich bin kein großer Anhänger der Anhebung des fixen Renteneintrittsalters, aber es ist auch
nicht unvertretbar, in dieser Situation, vor allen Dingen
angesichts der auf dem Arbeitsmarkt erzielten Fortschritte, gerade was die Beschäftigung Älterer anbelangt, über eine maßvolle Anhebung nachzudenken.
Zum Schluss möchte ich Sie, Herr Gabriel, noch etwas fragen. Was hat sich die SPD eigentlich vorgestellt,
als sie damals dieses Gesetz mit dieser Überprüfungsklausel gemacht hat? Sowohl die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse der 60bis unter 65-Jährigen als auch die Zahl der Erwerbstätigen haben sich innerhalb weniger Jahre prozentual verdoppelt. Es ist ein Riesenfortschritt, den wir erreicht haben. Sie können sich doch heute nicht hier hinstellen und
sagen, Sie hätten sich alles viel besser vorgestellt. Niemand konnte erwarten, dass wir am Ende des Jahres
2010 eine derart günstige Entwicklung am Arbeitsmarkt
haben. Jetzt müssen Sie springen und zu dem stehen,
was die SPD auf den Weg gebracht hat, als sie in Verantwortung war.
({7})
Wir sind bereit, uns dieser Verantwortung zu stellen. Es
wäre schön, wenn auch Sie diesen Mut hätten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Klaus Ernst ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir erleben hier eine Debatte, die insofern seltsam ist, als mit Quoten und mit Zahlen jongliert wird.
Ich habe den Eindruck, hier wird einiges durcheinander
gebracht. Ich will mit dem anfangen, was Frau von der
Leyen und leider auch Teile der Sozialdemokratie - die
Grünen sowieso - als Argument dafür verwenden, dass
wir länger arbeiten könnten, und das ist die Erwerbstätigenquote.
({0})
Man muss sich die Erwerbstätigenquote ansehen und
fragen, was das eigentlich ist. Darin enthalten sind alle
Erwerbstätigen, auch diejenigen, die überhaupt nichts
mit der gesetzlichen Rentenversicherung zu tun haben.
Darin enthalten sind Beamte und Selbstständige, und es
sind diejenigen enthalten, die nur eine Stunde in der Woche beschäftigt sind. Es sind die Minijobber enthalten.
Wenn man diese Quote heranzieht, dann stimmt es tatsächlich: In der Altersgruppe der 55- bis 65-Jährigen ist
inzwischen eine Beschäftigtenquote von 55,9 Prozent erreicht; sie ist um 10,5 Prozent gestiegen. Diese Erwerbstätigenquote ist aber nicht der richtige Maßstab bei dieser Frage, und das verkennen Sie.
({1})
Ich möchte jetzt versuchen, Ihnen das noch einmal zu
erläutern. Selbst wenn man bei dieser Erwerbstätigenquote bleibt, ist die Altersgruppe der 55- bis 65-Jährigen
vollkommen falsch.
({2})
Betrachtet man nämlich die 60- bis 64-Jährigen, dann
sind es nicht mehr 55,9 Prozent, die in Beschäftigung
sind, sondern nur noch 38,4 Prozent. Frau von der
Leyen, selbst aus Ihrem eigenen Bericht geht aus
Seite 35 hervor, dass dann, wenn man die eigentlich
richtige Gruppe betrachtet, nämlich die der 64-Jährigen,
bei den Erwerbstätigen nur noch eine Quote von
22,3 Prozent besteht. Das heißt, fast 80 Prozent derjenigen haben keine Beschäftigung, die länger arbeiten sollen. Das ist der Skandal in unserem Land, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Ich sage Ihnen: Richtig wäre, nicht die Erwerbstätigenquote zu betrachten, sondern die Quote derjenigen,
die eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben. Sie haben diese Gruppe in Ihrem Bericht dankenswerterweise aufgeführt, und zwar auf der Seite 36. Dort
können wir feststellen, dass bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Altersgruppe, die gar nicht
relevant ist, nämlich in der Gruppe der 55- bis 64-Jährigen, inzwischen eine Quote von 37 Prozent beschäftigt
ist. Bezieht man dies auf die Gruppe der 60- bis 64-Jährigen, die auch eine falsche Gruppe darstellen, dann sind
es nur noch 16,6 Prozent. Es sind also weit über 80 Prozent, die keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben.
Wenn man jetzt die einzig relevante Gruppe nimmt
- ich sage auch gleich, warum das die einzig wirklich relevante Gruppe ist -, nämlich die Gruppe der 64-Jährigen, dann stellen wir fest, dass wir nur noch eine Beschäftigtenquote von 9,9 Prozent haben. 90 Prozent der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten der Altersgruppe der 64-Jährigen haben keinen Job mehr. Frau von
der Leyen, wenn Sie sagen: „Die sollen länger arbeiten“,
muss ich entgegnen: Das geht nicht, weil in diesem Land
mit 65 keiner mehr eingestellt wird. Zeigen Sie mir zehn
Leute aus dieser Altersgruppe, die noch einen Job gekriegt haben! Die gibt es nicht.
({4})
Deshalb sagen wir: Das, was Sie vorlegen, ist vollkommen neben der Spur. Was ist letztlich die Konsequenz dessen, was Sie treiben? Die Konsequenz ist, dass
Sie die Menschen mit höheren Abschlägen in die Rente
schicken. Ich komme gleich noch darauf zu sprechen.
Ich habe eben ausgeführt, dass nur 9,9 Prozent eine
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben.
Wenn man es genau nimmt, dann ist selbst das noch die
falsche Gruppe. Man müsste nämlich eigentlich schauen,
wie viele von denen eine sozialversicherungspflichtige
Vollzeitbeschäftigung haben, wie viele tatsächlich noch
aus einer vollen Erwerbstätigkeit heraus in die Rente gehen können. Die Quote derer, die im Alter von 64 Jahren
noch eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung haben, liegt bei 6,4 Prozent. Das sind weit unter
90 Prozent.
Ich greife jetzt einzelne Berufsgruppen heraus, zuerst
die Maler und Lackierer. Hier liegt die Quote bei
2,9 Prozent. Bei den Mechanikern liegt sie bei
2,8 Prozent. Bei den Bau- und Raumausstattern beträgt
sie nur 2,7 Prozent. Bei den Bäckern liegt sie bei nur
2,0 Prozent. Bei den berühmten Dachdeckern, Zimmerern usw. liegt sie bei 1,6 Prozent. Für einen großen Teil,
nämlich für die überwältigende Mehrheit der Menschen,
ist die Anhebung des Renteneintrittsalters nichts anderes
als eine gigantische Rentenkürzung um 7,2 Prozent.
({5})
Besonders prekär ist übrigens die Lage der Frauen
- Frau von der Leyen, auch darauf möchte ich noch einmal zu sprechen kommen -: Die Quote der sozialversicherungspflichtig in Vollzeit beschäftigten Frauen liegt
bei den 60- bis 64-Jährigen bei 10 Prozent und bei den
64-Jährigen bei 4 Prozent. Somit werden insbesondere
Frauen von der Anhebung des Renteneintrittsalters betroffen sein.
Frau von der Leyen, ich kann es nicht anders sagen:
Sie verschleiern mit Ihren Zahlen die Wahrheit. Warum?
Weil Sie auf die Gruppe der 64-jährigen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Ihrem Bericht überhaupt
nicht eingehen. Die Zahlen, die ich jetzt genannt habe,
stammen aus einer Anfrage, die die Linken an Sie gerichtet haben; es sind somit Zahlen aus Ihrem Ministerium. Warum schreiben Sie in Ihrem Bericht nicht die
Wahrheit, sondern verschleiern sie?
({6})
Fakt ist, dass diese Abschläge - Herr Gabriel hat darauf hingewiesen - bei dem Rentenniveau, das wir haben, für einen großen Teil der Menschen zu direkter Altersarmut führen wird. Ich möchte darauf hinweisen,
dass zurzeit für mehr als 90 Prozent der Menschen das
Ergebnis Ihrer Anhebung des Renteneintrittsalters nichts
anderes sein wird als eine Rentenkürzung. Bereits 1998
hatten 1,4 Prozent der Neurentner Abschläge zu verzeichnen. Selbst ohne Ihre Anhebung des Renteneintrittsalters hatten 2009 45 Prozent der Neurentner Rentenabschläge hinzunehmen.
Ich garantiere Ihnen: Diese Rentenabschläge werden
natürlich größer werden, wenn die Menschen vor dem
Erreichen des Renteneintrittsalters aus dem Erwerbsleben aussteigen. Sie werden in einer Größenordnung auftreten, die viele Menschen direkt in die Altersarmut
führt. Mit Ihrer Rentenpolitik treiben Sie die Menschen
in die Altersarmut. Das ist das, was diese Bundesregierung macht.
({7})
Um auch noch einen Diskussionsbeitrag aus Ihren
Reihen zu bringen: Auf dem Bundesparteitag der CDU
wurde ein Antrag verabschiedet - offensichtlich gegen
den Willen der Führung Ihrer Partei -, in dem es heißt
- ich darf zitieren -:
Und die Anhebung der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung darf nicht zu einer
versteckten Rentenkürzung werden.
Das wurde sogar auf Ihrem Parteitag beschlossen. Sie
aber machen genau das Gegenteil. Sie verordnen den
Menschen nichts anderes als eine Rentenkürzung.
Eines ist offensichtlich auch bei der SPD immer noch
nicht angekommen, und darüber ärgere ich mich auch:
Sigmar Gabriel, selbstverständlich wissen wir, dass demografische Veränderungen stattfinden.
({8})
Folgendes ist aber Fakt: Wir haben in diesem Land eine
durchschnittliche Wachstumsrate - ich will es noch einmal sagen - von 1,4 Prozent jährlich. Das heißt, der Kuchen, der zu verteilen ist, wird größer, auch wenn es der
eine oder andere nicht wahrhaben will. Ich habe vorhin
die Zahlen noch einmal beim Statistischen Bundesamt
nachgelesen. Wir haben von 2008 bis 2030 - das ist die
„gute“ Variante - 4,6 Millionen Menschen weniger in unserem Land bzw. - das ist die „schlechtere“ Variante 3 Millionen Menschen weniger, also weniger Menschen,
die sich von diesem Kuchen ernähren müssen. Wenn der
Kuchen größer wird, Sigmar Gabriel, und weniger Menschen sich diesen Kuchen teilen müssen, dann werden
- das ist Volksschule Sauerland; da habe ich den Dreisatz
gelernt; wo ist denn Herr Müntefering? - die einzelnen
Kuchenstücke größer und nicht kleiner. Trotz demografischer Veränderungen können wir uns eine vernünftige
Rente leisten.
({9})
Frau von der Leyen, Sie haben vorhin die Gewerkschaften angesprochen. Es ist allemal besser, die Rentenbeiträge - das ist der Vorschlag, den der DGB-Vorsitzende gemacht hat - um 0,5 Prozentpunkte zu erhöhen.
Das macht bei 0,25 Prozent, paritätisch finanziert, weniger aus, als eine Maß Bier im Monat kostet. Ich habe noch
niemanden gefunden, der wegen einer Maß Bier weniger
im Monat zwei Jahre länger arbeiten will.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. StrengmannKuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Debatte über Stuttgart 21 zeigt, dass wir in der Politik
anders an Großprojekte herangehen müssen. Auch der
Umbau der Rentenversicherung ist ein Großprojekt, bei
dem wir die Bevölkerung überzeugen und mitnehmen
müssen, sonst wird die Politikverdrossenheit weiter ansteigen.
Die Schlichtung zu Stuttgart 21 hat gezeigt, was dazu
als Erstes passieren muss: Die Zahlen und Fakten müssen offen und ehrlich auf den Tisch. Diesbezüglich hat
die Bundesregierung in ihrem Bericht „Aufbruch in die
altersgerechte Arbeitswelt“ eine große Chance verpasst.
({0})
Was nötig gewesen wäre, wären Prognosen über die zukünftige Entwicklung am Arbeitsmarkt - Fehlanzeige.
Was aber vor allen Dingen auch nötig gewesen wäre
- Sigmar Gabriel hat gesagt, das steht so im Gesetz -,
wäre eine ehrliche Darstellung der sozialen und wirtschaftlichen Situation der Älteren heute. Das passt aber
nicht zu der Welt von Ursula von der Leyen. Wir haben
gerade eben wieder erlebt, wie die rosarote Welt von
„Ursula Poppins“, wie sie in der Frankfurter Rundschau
vor kurzem bezeichnet wurde, aussieht:
„Erfolg, Erfolg, wir sind erfolgreich,
({1})
ich bin erfolgreich, ich bin die Gröößte“, tirilierte
sie noch ein letztes Mal und flog wie Mary Poppins
durch die Lüfte.
So stand es in diesem Kommentar. Aber es ist nicht alles
gut, Frau Ministerin.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schlecht?
Im Moment noch nicht, später vielleicht. Ich bin ja
jetzt auch bei der Ministerin und nicht bei den Linken.
({0})
- Und auch keine Frage zu Stuttgart 21, nein.
Aber es ist nicht alles gut, Frau Ministerin. Zwar steigen die Erwerbsquoten und auch der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an den 60- bis 64-Jährigen an, Herr Lehrieder, selbst in der Krise sogar relativ
stark auf 23 Prozent. Aber der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an den 64-Jährigen - Herr
Ernst hat das schon gesagt -, also in dem Jahr vor dem
Renteneintritt, ist im letzten Jahr sogar gesunken. Der
Anteil der atypischen Beschäftigungen steigt. Der Anteil
der Arbeitslosengeld-II-Bezieher bei den Älteren steigt.
Das alles sind Zahlen, die in Ihrem Bericht vorkommen,
die Sie aber überhaupt nicht problematisieren, weil es
nicht in Ihre rosarote Welt und die der Regierung passt.
Schon gar nicht werden in diesem Bericht Lösungen dafür aufgezeigt. Wir brauchen aber Lösungen - gerade für
diese Probleme.
({1})
Die Mehrheit der Bevölkerung ist nämlich nach wie vor
gegen die Rente mit 67. Die Menschen sind dagegen,
weil sie echte Sorgen und Ängste haben. Für diese Sorgen und Ängste brauchen wir Antworten und keine Jubelarien. Die Menschen haben Angst davor, dass sie
nicht so lange arbeiten können. Sie haben Angst davor,
dass ihre Rente gekürzt wird. Die Menschen haben
Angst vor Altersarmut. Sie haben Angst davor, dass sie
bis 67 arbeiten müssen, komme, was da wolle.
Wir nehmen diese Sorgen der Menschen sehr ernst und
machen Vorschläge, was man da tun kann. Wir sagen: Die
Rente mit 67 wird nur dann akzeptiert werden, wenn gewährleistet ist, dass Menschen, die lange versichert sind,
nicht zum Sozialamt müssen, vorher ihr ganzes Altersvermögen aufbrauchen und sich einer stigmatisierenden
Bedürftigkeitsprüfung unterziehen müssen. Wir schlagen
deswegen eine Garantierente vor, die so ausgestaltet ist,
dass jemand nach 30 Versicherungsjahren eine Rente
über dem Grundsicherungsniveau erhält - vom Staat garantiert.
({2})
Wir sagen: Wer nicht mehr kann und erwerbsgemindert ist oder wer schwerbehindert ist, muss wie bisher
mit 63 ohne Abschläge in Rente gehen dürfen.
({3})
Wir sagen - wie übrigens auch der Sachverständigenrat -:
Die Erwerbsminderungsrente muss insgesamt verbessert
werden. Wir sagen: Wer bereit ist, Abschläge in Kauf zu
nehmen, soll bereits ab 60 in Rente gehen dürfen und
nicht gezwungen sein, weiter arbeiten zu müssen. Wir sagen: Es müssen fließende und selbstbestimmte Übergänge in den Ruhestand geschaffen werden. Es soll möglich sein, ab 60 die Arbeitszeit zu reduzieren und eine
Teilrente zu beziehen.
({4})
Von all dem finden wir in dem Bericht der Bundesregierung nichts. Und ich sage Ihnen, Frau Ministerin: So
werden Sie die Menschen nicht für sich und nicht für die
Rente mit 67 gewinnen können.
({5})
Wie sagte Heiner Geißler? Die Zeit der Basta-Politik ist
vorbei.
Die Menschen machen sich aber auch Sorgen, ob ihre
Rente in Zukunft noch bezahlbar ist, sie machen sich
Sorgen über die hohen Beiträge, die sie bezahlen müssen, und sie machen sich Sorgen, dass die Beiträge in der
Zukunft noch ansteigen.
Was wir deshalb auch brauchen, ist eine nachhaltige
Finanzierung der Rente. Wir wollen dazu die Rente zu
einer Bürgerversicherung weiterentwickeln, für die
alle auf alle Einkommen einzahlen, auch wir PolitikerinDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
nen und Politiker - eine für alle, auch bei der Rente. Das
stabilisiert die Finanzierung der Rentenversicherung und
erhöht gleichzeitig die Solidarität.
({6})
Wir halten aber darüber hinaus die Rente mit 67 für
notwendig, weil dadurch die Beiträge noch geringer sein
können und das Rentenniveau höher. Höher, Herr Ernst!
Ich will Ihnen das an Ihrem Kuchenbeispiel verdeutlichen, das ich im Übrigen gar nicht so schlecht finde.
Wenn die Regelaltersgrenze bei 67 und nicht bei 65 liegt,
gibt es weniger Rentnerinnen und Rentner. Einverstanden? - Gut. Auf der anderen Seite gibt es mehr Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Das heißt, der gesamte
Rentenkuchen wird zumindest nicht kleiner, sondern eher
größer. Herr Ernst, was ist denn mit den einzelnen Stücken, wenn dieser Kuchen auf weniger Rentnerinnen und
Rentner verteilt wird:
({7})
Werden die Stücke dann kleiner oder größer? - Sie werden größer. Das heißt, mit der Rente mit 67 werden die
Rentenkuchenstücke für die einzelnen Rentnerinnen und
Rentner größer; das Rentenniveau steigt. Wir sind deswegen gegen die Abschaffung der Rente mit 67.
({8})
Auch die Aussetzung der Rente mit 67, wie sie die
SPD vorschlägt, finden wir nicht überzeugend. Ich gebe
zu, dass wir darüber diskutiert haben; denn auch wir sind
der Meinung, dass die Voraussetzungen für die Rente
mit 67 heute noch nicht gegeben sind.
({9})
Es geht aber nicht um die Rente mit 67 heute, sondern
im Jahr 2031. Das entscheidende Argument gegen eine
Aussetzung war für uns, dass eine Aussetzung von vielen - Herr Gabriel und Herr Schaaf, nicht von Ihnen als Einstieg in den Ausstieg aus der Anhebung der Regelaltersgrenze verstanden würde. Das halten wir für fatal, weil es zu einer Selffulfilling Prophecy werden kann:
Der Druck, die Voraussetzungen für die Rente mit 67 zu
schaffen, wird verringert.
Eine wichtige Voraussetzung für die Anhebung der
Altersgrenze ist ein veränderter Arbeitsmarkt. Wir halten es für ein wichtiges Signal insbesondere an die Unternehmen, dass die Rente mit 67 kommen wird, damit
sich die Unternehmen endlich darum kümmern, mehr
Arbeitsplätze für Ältere zu schaffen. Vor allen Dingen
müssen sich die Unternehmen darum kümmern, die Arbeitsplätze so zu gestalten, dass die Menschen wirklich
länger und gesünder arbeiten können.
({10})
Die meisten Menschen würden gerne länger arbeiten,
wenn sie denn könnten. Wenn die Bedingungen aber
nicht so sind, dann müssen wir sie ändern: So gehen wir
Grüne an Probleme heran.
({11})
Die Arbeitsbedingungen müssen nicht nur für die Älteren geändert werden: Wenn die Rente mit 67 ab 2031
- darum geht es - für möglichst viele Menschen erreichbar sein soll, müssen wir auch die Arbeitsbedingungen
der Jüngeren ändern. Wir brauchen eine Kampagne für
eine umfassende Humanisierung der Arbeitswelt; damit
müssen wir sofort anfangen. Dabei sind wir alle gefordert: Unternehmen, Gewerkschaften, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, natürlich auch die Politik. Die
Maßnahmen, die im Bericht der Bundesregierung genannt werden, reichen hier bei weitem nicht aus.
({12})
Wir Grüne nehmen diese Herausforderungen ernst und
werden uns darum kümmern, die Voraussetzungen für die
Anhebung der Regelaltersgrenze zu schaffen, für mehr
Beschäftigung von Älteren, um Rentenkürzungen zu vermeiden, für bessere Arbeitsbedingungen, für eine Flexibilisierung des Renteneintrittsalters und für eine Garantierente, um Altersarmut zu verhindern.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Der Kollege Schlecht erhält die Möglichkeit zu einer
Kurzintervention.
Herr Strengmann-Kuhn, ich muss zunächst einmal
mit Bedauern feststellen, dass Sie und die Grünen bei
der Frage der Rente mit 67 weiterhin programmatisch so
nah bei der CDU/CSU und der Regierungskoalition stehen, dass dazwischen im Grunde genommen kein Blatt
Papier passt. Hier ist selbst die SPD mit der von ihr vorgeschlagenen homöopathischen Modifikation weiter. Es
gäbe aber sehr wohl eine Alternative zur Rente mit 67;
das ist in den letzten Wochen selbst von der Arbeitsministerin konzediert worden. Die Alternative heißt: um
0,5 Prozentpunkte höhere Beitragssätze in der Rentenversicherung bis zum Jahr 2029. Man müsste also die
Beiträge in einer zaghaften Stufung bis zum Jahre 2029
hochfahren.
Ich habe mich vorhin gemeldet, um eine Zwischenfrage zu stellen, als Sie Ihre Ausführungen mit dem Satz
begonnen haben:
Die Debatte über Stuttgart 21 zeigt, dass wir in der
Politik anders an Großprojekte herangehen müssen.
Es ist interessant, dass die Grünen das anscheinend erst
bei Stuttgart 21 gelernt haben. Der veränderte Umgang
kann sich doch nicht nur in der Kommunikation zeigen;
entscheidend ist es, die Menschen zu beteiligen. Bei vielen anderen Dingen sind Sie, die Grünen, dafür, dass man
Volksabstimmungen oder Volksbefragungen durchführt.
Die Frage ist eigentlich: Wären die Grünen nicht dazu bereit, sich dafür starkzumachen, eine Volksbefragung oder
Volksabstimmung - das müsste man juristisch prüfen ({0})
zu der Frage durchzuführen, ob die Menschen ab 2029
zwei Jahre länger arbeiten wollen oder sie bereit sind, ab
2029 einen um 0,5 Prozentpunkte höheren Rentenversicherungsbeitrag zu zahlen?
({1})
Das ist doch eine sehr einfache Frage, die man auf einem
Stimmzettel unterbringen kann.
Wären Sie bereit, sich für ein solches Projekt starkzumachen? Ich würde das begrüßen.
({2})
Herr Kollege Schlecht, ich weise mit Abscheu und
Empörung zurück, dass in dieser Frage zwischen CDU/
CSU und uns kein Blatt Papier passt.
({0})
Wenn Sie bei meiner Rede vernünftig zugehört haben
und in unseren Antrag schauen, wissen Sie, was wir
noch alles tun müssen und wollen, um die Anhebung der
Regelaltersgrenze zu ermöglichen. In dieser Hinsicht tut
die Bundesregierung fast nichts; da gibt es also große
Unterschiede zwischen uns. Es gibt aber sehr große
Übereinstimmungen beispielsweise mit dem Inhalt des
Antrags der SPD.
Noch einmal zu der Frage, was die Konsequenzen
sind, wenn die Rente mit 67 kommt. Zum einen sinken
die Beitragssätze. Sie würden nicht sinken, wenn man
das Rentenalter nicht auf 67 Jahre anheben würde. Zum
anderen steigt die Rente. Wenn Sie in den Rentenversicherungsbericht schauen, sehen Sie hinten das Gutachten des Sozialbeirats; es ist aber auch so relativ einfach
zu berechnen. Wenn die Menschen zwei Jahre länger arbeiten, zahlen sie auch zwei Jahre länger in die Rentenkasse ein. Die Rente steigt dadurch um über 50 Euro.
({1})
Das heißt, es ist nicht nur so, dass die Beiträge sinken,
sondern die Rente erhöht sich. Ich habe das an einem
Beispiel deutlich gemacht.
({2})
- Natürlich gilt das nur für diejenigen, die so lange arbeiten.
({3})
Das müssen wir in der Tat ermöglichen; da müssen
wir ran. Wir müssen ermöglichen, dass die Leute länger
arbeiten können, und wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen, die nicht länger arbeiten können, eine vernünftige Rente bekommen.
({4})
Natürlich ist richtig, dass es auch auf die Verteilung
der Renten ankommt. Da müssen wir ran, und da unterscheiden wir uns massiv von der CDU und der CSU.
Was Volksabstimmungen angeht, sind wir natürlich
sofort dafür. Dann führen wir aber auch eine breite Debatte darüber, wie hoch die Beitragssätze und wie hoch
die Renten im Jahr 2031 tatsächlich sein werden. Wir haben davor überhaupt keine Angst.
({5})
Sie verweisen immer wieder auf Umfragen. Wenn die
Umfrage nur auf Ja oder Nein abzielt, dann bekommt
man klare Ergebnisse. Sobald man differenzierter fragt,
zum Beispiel: „Wären Sie auch unter bestimmten Bedingungen für die Rente mit 67?“, sehen die Umfrageergebnisse schon ganz anders aus.
({6})
Wir haben keine Angst vor Volksabstimmungen, im Gegenteil.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Karl Schiewerling
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege StrengmannKuhn, ich wäre sehr gespannt, wie ein moderiertes Rentenzukunftsprojekt analog Stuttgart 21 aussähe.
({0})
Das hätte aber zur Konsequenz, dass Sie dann auch den
Schlichterspruch annehmen müssten.
({1})
Das gilt für alle anderen auch.
Meine Damen und Herren, die Zahlen, die uns mit
dem Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung
und dem Bericht zur Rente mit 67 vorgelegt worden
sind, sprechen eine nüchterne Sprache. Bis 2029 werden
wir in Deutschland 6 Millionen Menschen weniger im
erwerbsfähigen Alter haben. Wir werden 5,5 Millionen
Menschen mehr haben, die älter als 65 Jahre sind. Die
Rentenbezugsdauer wird um zwei bis drei Jahre gestiegen sein. Der drohende Fachkräftemangel ist damit signifikant. Das ist uns allen längst geläufig. Wir in der
Politik haben die Aufgabe, dies zur Kenntnis zu nehmen
und uns die Welt nicht so bunt zu malen, wie wir sie
gerne hätten.
({2})
Wir haben zusätzlich die Entwicklung, dass die Quote
der 60- bis 65-Jährigen, die im Erwerb sind, in den letzten Jahren von 20 auf 41 Prozent gestiegen ist. Außerdem sind in den letzten fünf Jahren 1 Million mehr Menschen zwischen 55 und 65 Jahre in Beschäftigung.
Herr Kollege Gabriel, ich darf zitieren, was die SPD
zu § 154 SGB VI, zur sogenannten Überprüfungsklausel, beantragt hat. In Ihrem Antrag steht - ich zitiere -:
Die Bundesregierung hat den gesetzgebenden Körperschaften vom Jahr 2010 an alle 4 Jahre über die
Entwicklung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer zu berichten und eine Einschätzung darüber abzugeben, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze
unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage
- die ist wahrhaftig nicht schlecht sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation
älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint
und die getroffenen gesetzlichen Regelungen bestehen bleiben können.
Nach einer ganz wichtigen Klausel, die in dem Antrag
steht, muss dargelegt werden, dass zur Beibehaltung eines Sicherungsniveauziels - vor Steuern - von 46 Prozent über das Jahr 2020 hinaus von der Bundesregierung
entsprechende Maßnahmen unter Wahrung der Beitragsstabilität vorzuschlagen sind.
Die Bundesregierung hat nichts anderes getan, als
dem zu entsprechen. Wir haben eine wirtschaftliche Prosperität, die die berechtigte Erwartung zulässt, dass wir
die Menschen länger in Beschäftigung halten können.
Wir haben einen signifikanten Anstieg der Zahl der Älteren, die in Beschäftigung sind. Das reicht natürlich noch
nicht aus; aber wir haben auch noch nicht das Jahr 2029.
Mit dem Jahr 2012 begeben wir uns ja erst auf den Weg.
Ich halte das, was Sie damals beantragt haben, für
völlig richtig. Deswegen haben wir das mitgetragen, und
deswegen legen wir gemäß Ihrem Antrag einen sehr präzisen Bericht vor. Die Frau Ministerin hat ihn vorgestellt.
({3})
Mir liegt daran, dass wir zur Kenntnis nehmen, dass
wir aus der Geschichte lernen müssen. Vor 40 Jahren gab
es Forscher, die deutlich gemacht haben, dass die demografische Entwicklung so verlaufen wird, wie sie nun
verläuft. Damals haben wir das alle nicht ernst genommen. Wir nehmen das erst ernst, seitdem weniger Kinder
im Kindergarten sind, weil wir zu wenig Kinder haben.
Wir nehmen es sehr ernst, seitdem wir merken, dass in
den Grundschulen weniger Kinder sind. Erst jetzt werden wir wach. Gott behüte, dass uns dasselbe im
Jahr 2029 passiert, weil wir die Weichen nicht rechtzeitig gestellt haben, weil wir nicht sehen wollten, wohin
sich das Ganze entwickelt. Wir können machen, was wir
wollen: Die demografische Entwicklung ist nicht umkehrbar.
Lieber Kollege Schiewerling, darf der Kollege
Birkwald Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Schiewerling, erst einmal danke ich Ihnen, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Frau Ministerin von der Leyen hat das vorhin leider nicht getan.
Hätte ich vielleicht besser auch nicht getan!
({0})
Das spricht für sich.
Sie haben eben behauptet, Sie hätten einen präzisen
Bericht vorgelegt. Deswegen möchte ich Sie bitten, mir
die Frage zu beantworten, warum ausgerechnet die
Beschäftigungsquoten der 64-Jährigen in dem Bericht
nicht zu finden sind. Diese Zahlen gibt es. Wir haben sie
im Ministerium von Frau von der Leyen abgefragt. Dabei ist herausgekommen, dass im März 2010 - das sind
die neuesten Daten, die vorliegen - insgesamt nur
5,8 Prozent aller 64-Jährigen eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung haben. Bei den Frauen
sind das nur mickrige 3,4 Prozent; bei den Männern sind
es 8,3 Prozent. Diese Werte sind im Vergleich zum
Jahr 2009 noch einmal gesunken. Sie sind nicht gestiegen, sondern gesunken. Sie haben eben das Gegenteil
behauptet.
({0})
Vor diesem Hintergrund frage ich Sie, ob es aus Ihrer
Sicht vertretbar ist, dass die große Mehrheit der heute
64-Jährigen und derjenigen, die ihre Rente erst ab 67 beziehen sollen - das sind nicht die 47-Jährigen, sondern
alle ab dem Jahrgang 1947 -, massive Rentenkürzungen
wird hinnehmen müssen. Die Rentenkürzung beträgt
schon heute im Durchschnitt 117 Euro pro Monat. Eine
ähnliche Summe ist für die Zukunft zu erwarten.
Ich möchte Sie ferner bitten, den Satz von Frau von
der Leyen zu bewerten, den sie auf ihrer Pressekonferenz gesagt hat: Entweder kürzt man die Renten, oder
man erhöht den Beitragssatz drastisch, oder aber wir arbeiten alle etwas länger. - Sind 7 Euro im Jahr 2029
„drastisch“, und sind zwei Jahre arbeiten „etwas länger“? Wenn Sie die Menschen fragen, kommt etwas anderes dabei heraus. Was sagen Sie dazu?
Es hat eine Umfrage gegeben, in der die Menschen
gefragt wurden, ob sie für die Rente mit 67 sind. Ganz
viele haben gesagt: Nein. Dann wurden sie gefragt, ob
sie bereit sind, mehr Geld in die Rentenversicherung einzuzahlen, um das Rentenniveau zu erhalten? Dazu waren
auch wenige bereit. Dann wurden sie drittens gefragt, ob
sie eine Alternativlösung hätten. Die allergrößte Mehrheit der Menschen hatte keine Alternativlösung parat. Genau so ist die Diskussion, die wir im Augenblick erleben.
({0})
Die Zahlen im Rentenbericht sind überprüfbar, entsprechen den statistischen Angaben und weisen alle darauf hin, dass wir in einer positiven Entwicklung sind
und dass wir es bis 2029 mit vereinten Kräften schaffen
können, dass ganz viele Menschen das 67. Lebensjahr in
Arbeit erreichen.
({1})
- Herr Kollege Birkwald, wir können uns die Zahlen natürlich zurechtlegen, wie sie uns politisch gerade passen.
({2})
Ich halte mich an die Zahlen, die vorgelegt worden sind.
({3})
Sie sind überprüfbar und statistisch so dargelegt.
({4})
Was Ihre Frage angeht, Herr Kollege Birkwald, ist es
in der Tat so - ich bin noch nicht fertig; Sie hatten mich
das gefragt -:
({5})
Wir haben bei der Rente insgesamt nur drei Stellschrauben. Entweder wir arbeiten länger, oder wir erhöhen die
Rentenversicherungsbeiträge, oder wir senken das Rentenniveau ab. Hinsichtlich der Frage, was das Humanere
ist, eine niedrigere Rente oder ein höherer Rentenversicherungsbeitrag, werden die allermeisten Menschen sagen, dass, wenn die Rahmenbedingungen im Betrieb
stimmen, sie bereit sein werden, länger zu arbeiten - und
das tun sie schon.
({6})
Wir werden unser Ziel
({7})
- ich lasse keine Zwischenfrage mehr zu; das reicht - natürlich nur durch gemeinsame Anstrengungen erreichen.
Auch das steht im Rentenbericht und wurde sehr präzise
dargelegt. Dazu gehört, dass wir in der deutschen Rentenversicherung im erfolgreichen und hervorragenden
Bereich Reha nicht kürzen dürfen, sondern ihn weiterentwickeln müssen. Das bedeutet, dass wir die Prävention, um länger und besser leben zu können, stärken
müssen. Aber da sind nicht nur die Regierungen gefordert, sondern auch die Tarifpartner, die Betriebe. Auch
jeder einzelne Arbeitnehmer muss sich mit seinem Verhalten darauf einstellen. Auch das gehört zur Wahrheit,
ob uns das passt oder nicht. Ich glaube, dass die Zahlen,
die jetzt vorliegen, hoffen lassen, dass sich die Dinge
vernünftig entwickeln.
Wir diskutieren nicht nur die Rente mit 67, sondern
auch den Rentenversicherungsbericht. Ich möchte darauf
hinweisen, dass die Rente in einer außerordentlich guten
Verfassung ist. 2005 hatten wir gerade noch eine Rücklage für drei Tage, mit der wir Renten hätten zahlen können.
({8})
Wir haben jetzt eine Rentenrücklage von mehr als einer
Monatsausgabe. Wenn sich das Ganze weiter gut entwickelt, werden wir die Rentenversicherungsbeiträge im
Jahr 2014 wieder senken können,
({9})
sodass sowohl Arbeitnehmer als auch Versicherte etwas
davon haben.
({10})
Ich halte diese Gesamtentwicklung für hoffnungsvoll.
Ich sage Ihnen auch mit Blick auf die Rentnerinnen und
Rentner in Deutschland: Norbert Blüm hat gesagt, die
Rente sei sicher. Ich sage Ihnen: Ja, die Rente ist sicher. Es mag Leute geben, die darüber lachen. Wir können das
jetzige Rentenniveau aber nur halten, weil wir entsprechende Schutzmaßnahmen eingeführt haben, und zwar
nicht erst jetzt, sondern seit 1992 durch verschiedene
Bundesregierungen parteiübergreifend.
({11})
Der große Vorteil der Rente war, dass man diese Dinge
gemeinsam gestaltet hat.
({12})
Ich lade alle herzlich dazu ein, sich daran zu beteiligen;
denn die Rentnerinnen und Rentner brauchen Sicherheit.
Wir werden aber die Botschaft ins Land geben müssen: Die Rente wird nur so lange sicher sein, wie wir
auch über die nächsten Generationen genügend Menschen haben, die in die Rentenkasse einzahlen und dafür
sorgen, dass die dann ältere Generation davon leben
kann. Auch wird die Rente nur dann sicher sein, wenn
wir uns gemeinsam auf diesen Prozess verständigen und
uns gemeinsam auf diesen Weg begeben.
({13})
Zu dem Rentenbericht der Bundesregierung und den
Initiativen der Bundesarbeitsministerin nenne ich nur
Stichworte: bessere Lebens- und Gesundheitssituation in
den Betrieben, Stärkung von gesunder Arbeit in den Betrieben. Diese Entwicklungen müssen fortgeführt werden; das ist keine Frage. Mit dem gesellschaftlichen
Konsens und mit gemeinsamen Anstrengungen in dieser
Richtung können wir einer guten Zukunft entgegensehen. Das sagen wir der jetzigen Rentnergeneration, und
das sagen wir den zukünftigen Rentnergenerationen.
Dass das ein Zuckerschlecken wird, hat diese Bundesregierung und haben übrigens auch frühere Bundesregierungen nie behauptet. Es ist eine Kraftanstrengung, die
sich lohnt; denn es geht um die Generationengerechtigkeit in unserem Land.
({14})
Der Kollege Schaaf hat nun das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier heute
über § 154 SGB VI, weil die SPD-Bundestagsfraktion
im damaligen Gesetzgebungsverfahren darauf bestanden
hat, dass § 154, die Überprüfungsklausel, Bestandteil
des Gesetzes wird. Wir berufen uns auf diesen Bestandteil des Gesetzes, und wir nehmen ihn ernst.
({0})
Diese Überprüfungsklausel wurde trotz des massiven
Widerstands der Union ins Gesetz aufgenommen. Die
Union wollte diesen Teil in die Präambel oder die Begründung aufnehmen, aber nicht verpflichtend ins Gesetz.
Ich habe nun gesehen, in welcher Art und Weise Sie
und insbesondere die Ministerin jetzt mit dem Bericht
umgegangen sind. Bevor der Bericht vorlag, sagte die
Ministerin: Die Rente mit 67 kommt auf jeden Fall. Bevor
der Bericht vorlag, hat Staatssekretär Brauksiepe gesagt:
Die Rente mit 67 kommt auf jeden Fall. Bevor das Parlament, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, diesen Bericht in den Händen hatten, ist er veröffentlicht
worden. Da sieht man, wie ernst man die Berichtspflicht
gegenüber den Körperschaften des Deutschen Bundestages, die im Gesetz steht, nimmt.
Die Ministerin sprach von Mut zur Nachhaltigkeit.
Ich kann Ihnen in Bezug auf das Verfahren, wie ich es
hier erlebe, sagen: Es geht Ihnen nicht um Nachhaltigkeit. Vielmehr ist es ein Verfahren nach dem Motto: Plan
ist Plan. Wir haben es einmal beschlossen, wir denken
nicht mehr darüber nach; wir ziehen es jetzt durch. Viele argumentieren jetzt mit der Finanzierung. Es geht
in der Tat um 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte beim Beitragssatz. Es geht hier aber nicht um die Finanzierung, sondern um die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft. Diese
müssen wir herstellen und erhalten.
Wir brauchen eine verbesserte Erwerbsminderungsrente. Sie, meine Damen und Herren von der Union, haben in den Verhandlungen über die Rente mit 67 dafür
gesorgt, dass die Regelungen der Erwerbsminderungsrente noch schlechter werden, dass man nicht mehr nach
35 Jahren, sondern erst nach 40 Jahren abschlagsfrei in
Erwerbsminderungsrente gehen kann.
({1})
Sie haben kein Interesse daran, dass die Menschen ihr
gesetzliches Renteneintrittsalter in würdiger Arbeit erreichen; Ihnen ist es egal. Herr Fuchtel, beantworten Sie
mir einmal folgende Frage: Was machen wir mit Langzeitarbeitslosen, die jetzt gezwungen sind, mit 63 Jahren Rente zu beantragen? Sie haben überhaupt keine
Chance; sie sind dazu gezwungen. Ab dem Jahre 2012
müssen sie die Abschläge nicht nur bis 65 hinnehmen,
sondern, Herr Strengmann-Kuhn, aufgrund der schrittweisen Erhöhung der Regelaltersgrenze auch darüber hinaus.
({2})
Die Menschen werden bestraft, obwohl sie nichts dafür
können, dass sie arbeitslos werden. Das müssen wir verhindern.
In der Analyse liegen Sie richtig. Aber da, wo es konkret wird, wo es um Erwerbsminderungsrente, gleitende
Übergänge, würdige Arbeit und Vollzeiterwerbstätigkeit
bis zum Rentenalter geht, sagen Sie nicht konsequent,
dass man das in zwei Jahren nicht erreichen kann und
wir die Einführung der Rente mit 67 deswegen zumindest verschieben müssen. Darum geht es. Die Ministerin
sprach von Mut zur Nachhaltigkeit. Ich sage Ihnen: Sie
haben nur nachhaltig Mut, wenn es darum geht, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Rentnerinnen und
Rentner sowie Arbeitslose zu belasten. Das ist der Mut,
den Sie haben.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Vogel für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Danke für den Hinweis, dass ich noch etwas jünger bin,
lieber Kollege Kolb. Das ist auch ein interessanter
Punkt. Ich habe mir einmal die Geburtsjahre meiner geschätzten Vorredner angeschaut und festgestellt, dass ich
von den Rednern in dieser Debatte der Erste bin, den die
Rente mit 67 betreffen wird, der Erste, der bis 67 arbeiten wird.
({0})
- Herr Strengmann-Kuhn, ich entschuldige mich in aller
Form, dass ich Sie vergessen habe. Es betrifft also uns
zwei; aber es betrifft nicht die bisherigen Redner von der
SPD.
({1})
- Lieber Herr Gabriel, ich zahle freiwillig in die gesetzliche Rentenversicherung ein.
({2})
Einen Augenblick! Das Thema ist hochspannend und
verdient jede Menge kräftiger Kommentare. Aber wenn
sie alle gleichzeitig vorgetragen werden, erreicht nichts
davon die erstaunte deutsche Öffentlichkeit. Deswegen
wäre es schön, wenn der Kollege Vogel jetzt ein paar
Sätze hintereinander ungestört vortragen dürfte.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Damit sind wir beim Punkt. Es geht nicht darum, wie
die Situation auf dem Arbeitsmarkt heute ist - die Rente
mit 67 wird ja nicht morgen eingeführt -, sondern es geht
darum, ob die schrittweise Steigerung des Renteneintrittsalters angesichts der aktuellen Entwicklung möglich ist.
Da kann ich nur sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD: Wie Sie es drehen und wenden, die Entwicklung bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ist besser, als Sie sich je erhoffen konnten.
Bei den 55- bis 60-Jährigen nahm die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in den letzten fünf Jahren um 35 Prozent zu ({0})
- nein, Herr Kollege Ernst, keine Zwischenfrage;
({1})
es wurde gerade schon genug dazwischengebrüllt -, bei
den 60- bis 64-Jährigen sogar um 40 Prozent.
({2})
- Sie können sich gerne zu einer Kurzintervention melden. Ich antworte Ihnen dann gerne.
({3})
- Ja. Aber es geht hier um die Entwicklung, Herr Schaaf.
Übrigens, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, handelt es sich dabei auch um gute Jobs. Die
Quote der geringfügigen Beschäftigung, der Minijobs,
ist stabil geblieben; diese Zahl ist nicht gestiegen.
({4})
Ich glaube, wenn man ehrlich ist, kann man konstatieren - hören Sie bitte gut zu, gerade Sie, Herr Kollege
Schaaf -: Die allgemeine Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt verbessert sich, auch bei den Älteren. Es ist eine
Bewegung da, die in die richtige Richtung geht. Die
Rente ab 67 ist notwendig, um die Rente zukunftsfest zu
machen und den Generationenvertrag fortzuführen. Deshalb starten wir 2012 mit der schrittweisen Umsetzung
der Rente ab 67. - Das waren nicht meine Worte. Das
waren Ihre Worte, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD. Das haben Sie, Herr Schaaf, Herr Müntefering
und Frau Mast, im Plenum des Deutschen Bundestages
gesagt, als die Rente mit 67 beschlossen wurde.
({5})
Der Punkt ist doch: Damals war von einer 50-ProzentQuote, die Ihnen heute so wichtig ist, keine Rede. Hand
aufs Herz: Wenn Sie ehrlich sind, wissen Sie genau, dass
die Entwicklung seitdem besser ist, als Sie sich je erhoffen konnten.
({6})
Damals haben Sie nicht davon geredet, dass 2012 eine
50-Prozent-Quote erfüllt sein muss. In Wahrheit ist das
Verzögerungstaktik. Im Fußball heißt das: ängstlich auf
Halten spielen. Das hat mit dem Offensivgeist, den Sie
gerade bei der Reform der sozialen Sicherungssysteme
einmal hatten, nichts mehr zu tun.
({7})
Ich kann nur feststellen: Die Unternehmer in Deutschland sind auf dem richtigen Weg - ältere Arbeitnehmer
werden im Erwerbsleben besser anerkannt -, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind auf dem richtigen
Weg, und die Regierungskoalition ist auf dem richtigen
Weg zu einem vernünftigen, generationengerechten Rentensystem.
({8})
Auch Sie waren einmal auf diesem Weg. Sie sind aber
davon abgekommen. Sie haben sich verirrt. Davon wird
sich die Regierungskoalition allerdings nicht beirren lassen. Wir setzen unsere generationengerechte Rentenpolitik fort.
Vielen Dank.
Johannes Vogel ({9})
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute über den Rentenversicherungsbericht 2010 der Bundesregierung. Dieser Rentenversicherungsbericht ist letztendlich ein Beweis für die gute Politik der Bundesregierung.
({0})
Mit der wirtschaftlichen Entwicklung, die unter Bundeskanzlerin Angela Merkel und den von ihr geführten Bundesregierungen eingetreten ist - das gilt für die Große
Koalition, genauso aber auch für die christlich-liberale
Koalition -, ist die Gesundung der Rentenversicherung
vorangeschritten. Es sind positive Ergebnisse zu verzeichnen.
({1})
Der Kollege Kolb und der Kollege Schiewerling haben bereits darauf hingewiesen, dass die Rücklagen der
Rentenversicherung steigen und bis 2014 möglicherweise die Marke von 1,5 Monatsrenten erreichen, sodass
eine Senkung des Rentenversicherungsbeitragssatzes in
Aussicht gestellt werden kann. Dies ist letztendlich auf
die gute wirtschaftliche Entwicklung und die Zunahme
der Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse in unserem Land zurückzuführen. Eine fortschrittliche Sozialpolitik ist nur zu finanzieren, wenn wir
eine gute Wirtschaftspolitik betreiben. Darum haben wir
uns in der Vergangenheit in der Großen Koalition bemüht, und darum bemühen wir uns auch jetzt in der
christlich-liberalen Koalition.
Ich glaube, heute ist es an der Zeit für einen kleinen
Rückblick, wie die Situation in früheren Jahren war. Von
einem meiner Vorredner ist schon dargestellt worden,
dass in früheren Jahren zumindest die Rentenpolitik
fraktionsübergreifend betrieben worden ist. Diese fraktionsübergreifende Zusammenarbeit wurde 1997/1998
vom damaligen SPD-Vorsitzenden Lafontaine aufgegeben.
Die damalige christlich-liberale Regierung hat die demografische Entwicklung bereits als große Herausforderung verstanden.
({2})
Unter Norbert Blüm wurde der demografische Faktor
in die gesetzliche Rentenversicherung eingeführt.
({3})
SPD und Grüne sind im folgenden Bundestagswahlkampf dagegen vorgegangen
({4})
und haben verbreitet, es sei gar nicht notwendig, eine
Antwort auf die demografische Entwicklung zu geben.
Sie haben postuliert, den demografischen Faktor auszusetzen. Das haben sie dann auch getan, allerdings mit der
Folge, dass die Rentenfinanzen, vor allen Dingen die
Rücklagen der gesetzlichen Rentenversicherung, abgeschmolzen sind; im Jahr 2005 sind sie bis auf null abgeschmolzen.
({5})
Das war die Konsequenz der Politik, die Rot und Grün
betrieben haben. SPD und Grüne haben damals eine rentenpolitische Geisterfahrt unternommen, zum Schaden
der Bürgerinnen und Bürger und der Rentnerinnen und
Rentner.
({6})
Es war daher sehr entscheidend - ich danke hier ausdrücklich dem damaligen Bundesarbeitsminister Franz
Müntefering -, dass in der SPD wieder rentenpolitischer
Sachverstand zur Durchsetzung gebracht worden ist.
({7})
Jetzt geht es um die Beibehaltung dieses rentenpolitischen Sachverstandes. Wir haben zu beurteilen, ob es sozialpolitisch und wirtschaftlich sowie unter Arbeitsplatzgesichtspunkten möglich ist, die Rente mit 67 bis zum
Jahr 2029 einzuführen. Die wirtschaftlichen Daten geben es her, die vermehrte Beschäftigung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gibt es her. Auch
die Bewegungen am Arbeitsmarkt und die Überlegungen
in den Betrieben, altersgerechte Arbeitsplätze zu schaffen, sind ein Beleg dafür, dass es verantwortbar ist, diesen Weg zu beschreiten. Die SPD möchte sich letztlich
nur klammheimlich von ihrem Beschluss davonstehlen
und steht nicht mehr für eine verantwortungsvolle Rentenpolitik für die Zukunft der Menschen in unserem
Land.
({8})
Lieber Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege, herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. - Ist Ihnen erstens bekannt, dass die
Zahl der Arbeitslosen, die älter als 60 sind, von 42 000
in 2007 auf 91 000 im Jahr 2009 gestiegen ist?
({0})
Ist Ihnen zweitens bekannt, dass 36 Prozent der Betriebe
niemanden beschäftigen, der über 50 Jahre alt ist? Ist Ihnen drittens bekannt, dass in 44 Prozent der Betriebe
keine Weiterbildung stattfindet?
Haben Sie deshalb dafür Verständnis, dass viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sagen, das Gesetz
sei folgendermaßen zu vergleichen: „Man verabschiedet
ein Gesetz, dass die Menschen vom Dreimeterbrett ins
Wasser springen müssen, hat aber vergessen, das Gesetz
so zu gestalten, dass im Becken Wasser sein muss“? Momentan ist die Situation doch so, dass viele Menschen
aufgrund der Situation, die sie vorfinden - im Jahr 2012
soll die Rente mit 67 beginnen -, dafür überhaupt keine
Möglichkeit sehen. Was sagen Sie dazu?
Herr Kollege Ernst, erstens sind die Argumente, die
Sie vortragen, falsch.
({0})
Zweitens ist die Arbeitslosigkeit bei älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gestiegen, weil wir die
Möglichkeit des vorzeitigen Renteneintritts richtigerweise abgeschafft haben. Wir stehen auch für den Kündigungsschutz, der zum Segen der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben besteht; das ist
eine zusätzliche Herausforderung für die Betriebe, vor allen Dingen wieder ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzustellen. Wir wenden uns zu Recht dagegen,
dies aufzuweichen, indem wir vermehrt zulassen sollen,
dass ausländische Facharbeitskräfte in Deutschland arbeiten können. Das wäre eine falsche Antwort.
Wir schaffen für die älteren Bürgerinnen und Bürger
Chancen, weiterhin in Arbeit zu sein, und wir wollen
dies nicht mit Belastungen für die Jüngeren verbinden,
wie es letztlich die Linken mit ihrem Vorschlag der Beitragserhöhung zur Rentenversicherung immer wieder in
die Diskussion bringen.
({1})
Ich kann verstehen, dass die Linken dies fordern.
({2})
Wenn ihre Parteimitglieder ein Durchschnittsalter von
70 aufweisen, dann ist völlig klar, dass denen ein ordentlicher Beitragsanstieg lieber ist. Sie selbst müssten ihn ja
nicht mehr schultern; aber sie hätten dafür die schöne
Rente.
({3})
Die Jungen sollen nur kräftig zahlen. Das ist die Politik
der Linken in unserem Land: nicht zukunftsgerichtet,
sondern nur daseinsbezogen für ihre ältere Kundschaft.
({4})
- Es geht natürlich darum, dass wir zukünftig auch Arbeitsplätze für Ältere haben. Darin gebe ich Ihnen völlig
recht. Ich bin aber überzeugt, dass wir hier auf einem guten Weg sind.
Alle Tarifpartner, die Arbeitgeber, die Gewerkschaften, strengen sich an, altersgerechte Arbeitsplätze in den
Betrieben zu schaffen. Das war in der Vergangenheit
nicht notwendig, weil man immer sehr leicht Frühverrentungsmaßnahmen beschließen konnte, die für viele,
wenn das Geld gestimmt hat, natürlich eine Attraktion
waren. Früher in Rente zu gehen, ist natürlich immer angenehmer, als etwas länger arbeiten zu müssen.
Ich möchte aber durchaus noch feststellen: Es ist für
die Zukunft schon eine Herausforderung, die Rente für
erwerbsgeminderte Menschen zu gestalten. Das ist sicherlich eine Aufgabe, der auch wir als Koalition uns
widmen werden, weil ich der Überzeugung bin, dass die
Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen oder aufgrund einer körperlichen Belastung nicht mehr arbeiten
können, eine Erwerbsminderungsrente erhalten müssen,
durch die sie ihren Lebensunterhalt sichern können.
Ich möchte aber auch herausstellen, dass wir, die Große
Koalition, bei dem Beschluss über die Rente mit 67 auch
eingeführt haben, dass jemand, der 45 Beitragsjahre oder
gleichgestellte Zeiten in der Rentenversicherung nachweisen kann, mit Vollendung des 65. Lebensjahres abschlagsfrei in Rente gehen kann.
({5})
Auch das ist eine soziale Regelung für die ältere Generation und insbesondere für die Bürgerinnen und Bürger,
die sehr frühzeitig in das Arbeitsleben eintreten, also mit
dem 16. Lebensjahr eine Lehre beginnen, und die ganze
Zeit einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
nachgehen.
Werte Damen und Herren, eines möchte ich noch feststellen: Auch heute wurde wieder der Ruf nach einer
Bürgerversicherung laut. Das würde letztendlich aber
keine Entlastung für die Rentenversicherung hinsichtlich
der finanziellen und demografischen Herausforderungen
bedeuten, weil jede Beitragszahlung in die Rentenversicherung unabhängig davon, ob sie ein Beamter, Angestellter oder Arbeiter leistet, natürlich eine entsprechende Rentenleistung nach sich ziehen muss. Deshalb
kann die Rentenversicherung mit einer sogenannten Bürgerversicherung nicht in die Zukunft geführt werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort erhält der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
vergangenen Jahr 2009 sind 651 000 Kinder geboren
worden. Im Jahr 2029, in dem die Rente mit 67 erstmals
vollumfänglich zur Geltung kommt, werden diese
651 000 Kinder 20 Jahre alt sein und damit gerade ihre
Berufsausbildung abgeschlossen haben bzw. vielleicht
mit dem Studium beginnen. In diesem gleichen Jahr
2029 werden 1,35 Millionen Menschen in den Ruhestand treten. Diese beiden Zahlen, 651 000 zu 1,35 Millionen,
({0})
sind nicht nur beeindruckend, wie Herr Kolb gerade angemerkt hat,
({1})
sondern durch sie zeigt sich auch, wie ernst das Problem
ist und wie ernst wir dieses Problem nehmen sollten.
({2})
Das ist aber kein Grund, den Menschen Angst zu machen.
({3})
Es zeigt sich schon, dass die Entwicklungen in die richtige Richtung gehen. Dass sich die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Alter von 60 bis
64 Jahren in den letzten Jahren verdoppelt hat, ist hier in
der Debatte schon mehrfach gesagt worden.
({4})
Dass sich der Trend vom falschen Jugendwahn der Vergangenheit abkehrt und jetzt in die richtige Richtung
geht, ist bemerkbar. Dass der Fachkräftemangel, dem
wir entgegensehen, hier zusätzlich für Entlastung sorgen
wird, ist auch deutlich.
Der Trend geht in die richtige Richtung, aber die Herausforderungen sind trotzdem groß. Trotz dieser positiven
Entwicklungen werden wir natürlich eine innovativere
Politik für die Zukunft machen müssen, beispielsweise
eine innovativere Berufsbildungspolitik; denn eines ist
auch klar - darauf weisen hier alle zu Recht hin -: Es
gibt Berufe, in denen man nicht 30, 40 oder 50 Jahre
lang am Stück bei guter Gesundheit arbeiten kann. Auch
in diesem Bereich gibt es aber gute Anzeichen. So gibt
es zum Beispiel das von der Bundesregierung geförderte
„Demographie Netzwerk“. 220 Unternehmen haben sich
bereits zusammengeschlossen. Sie bieten einen Wissenstransfer untereinander und tauschen miteinander Erfahrungen darüber aus, wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch über längere Zeit bei guter Gesundheit
arbeiten können. Dass das möglich ist, lieber Herr Ernst,
zeigen auch Sie. Denn wenn Sie sich hier in unnachahmlicher Eleganz in die Seitenlage legen, um mit der Frau
Ministerin zu sprechen,
({5})
dann zeigt dies doch, dass man auch mit 56 Jahren eine
ganz gesunde Wirbelsäule haben kann.
({6})
Das, was Ihnen gegönnt ist, sollten wir auch den anderen
Menschen ermöglichen.
Wir als christlich-liberale Koalition, lieber Herr Ernst,
lieber Herr Gabriel, wollen den Menschen nicht Angst
machen. Vielmehr wollen wir den Herausforderungen
mit Mut und Zuversicht begegnen. Das ist das Kennzeichen dieser christlich-liberalen Koalition im Angesicht
des demografischen Wandels: mit Ernst, aber auch mit
Zuversicht und Mut die Herausforderungen anpacken. Vielen Dank.
({7})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Zum Abschluss dieser Debatte fragen sich wahrscheinlich viele derjenigen, die die Debatte verfolgt haben:
Was ist denn nun wirklich los mit der Rente? Deswegen
komme ich zunächst einmal zu dem, was die über
20 Millionen Rentnerinnen und Rentner in unserem
Land interessiert, und das steht im Rentenversicherungsbericht. Selten konnte eine Regierung einen Rentenversicherungsbericht mit so positiven Perspektiven vorlegen, wie das jetzt Ursula von der Leyen tun konnte.
({0})
Diese Feststellung treffe ich jetzt nicht einfach als Abgeordneter der Regierungskoalition, sondern aufgrund der
Beurteilung der vielen Behauptungen und Fakten, die
von unterschiedlichen Rednerinnen und Rednern aufgestellt bzw. vorgetragen worden sind.
({1})
Es gibt in Deutschland ein Gremium, nämlich den
Sozialbeirat, zusammengesetzt aus Wissenschaftlern,
Vertretern der Gewerkschaften und Vertretern der Arbeitgeberverbänden, das zu beiden Berichten, die wir
heute diskutieren, Stellung nimmt. Das einstimmige Votum dieser Gewerkschafter, Arbeitgeber und Wissenschaftler ist,
({2})
Peter Weiß ({3})
dass sich die Rentenversicherung in der Krise, die wir
erlebt haben, als Fels in der Brandung erwiesen hat und
dass damit die Rentenversicherung weit vor allen anderen Systemen der Alterssicherung als das stabilste Alterssicherungssystem in der Welt angesehen wird. Ich
glaube, das ist ein großartiges Lob, das der Sozialbeirat
abgegeben hat.
({4})
Ich will nur wenige Fakten nennen. Zu Beginn der
Krise haben wir befürchtet, dass die Mindestreserve bei
der Rentenversicherung eines Tages eventuell nicht ausreichen könnte. Heute erfahren wir, dass die Reserve in
der Rentenversicherung in der Krise sogar angewachsen
ist und weiter anwachsen wird
({5})
- und zwar ohne Tricksereien - und dass wir auf der sicheren Seite sind.
({6})
Zweitens. Noch vor einem Jahr ist prognostiziert worden, dass sich die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland wahrscheinlich über mehrere Jahre mit Nullrunden
bei der Rente zufriedengeben müssen. Jetzt sagt uns der
Rentenversicherungsbericht, dass wahrscheinlich in jedem der kommenden Jahre eine zwar bescheidene, aber
immerhin eine Rentenerhöhung möglich sein wird.
({7})
In vielen Jahren haben die Rentnerinnen und Rentner
in unserem Land den Eindruck gehabt, dass ihnen zwar
zusätzliche Lasten aufgebürdet werden, sie aber keine
Entlastung erhalten. Die gute Nachricht des Rentenversicherungsberichts lautet nun: Ja, die Rentnerinnen und
Rentner werden am Aufschwung in Deutschland teilhaben können. Ich finde, diese gute Nachricht sollte man in
einer Rentendebatte zuallererst herausstellen.
({8})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das Vorhaben „Erhöhung der Altersgrenze bis zum Jahre 2029 auf
67 Jahre“ haben wir in der Großen Koalition beschlossen, weil wir wollen, dass nicht nur heute, sondern auch
im Jahr 2030 und in den nachfolgenden Jahren die Rentenversicherung in Deutschland zu den stabilsten Alterssicherungssystemen in Deutschland gehört. Darum geht
es.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
verstehe nicht, dass Sie das Erbe von Franz Müntefering,
der diese Reform vorangetrieben und durchgesetzt hat,
heute so leichtfertig aufs Spiel setzen wollen.
({9})
Denn in Wahrheit setzen Sie die Sicherheit der gesetzlichen Rentenversicherung als eines der weltweit stabilsten Sicherungssysteme aufs Spiel.
({10})
Herr Kollege Weiß, lassen Sie noch eine - wenn, dann
allerdings ganz knappe - Zwischenfrage des Kollegen
Fuchtel zu?
Ja. Bitte schön.
Herr Kollege Weiß, können Sie bestätigen, dass die
von der SPD jetzt wieder vorgeschlagenen Änderungen
in der Rentenberechnung zur Berücksichtigung der demografischen Entwicklung schon einmal schiefgegangen sind, nachdem 1997 Blüm einen Demografiefaktor
ins Gesetzblatt gebracht hat, die SPD dann 1998 einen
Rentenwahlkampf geführt und in der Regierungserklärung im selben Jahr die Aussetzung mit den schon genannten Ergebnissen angekündigt hat, und dass Bundeskanzler Schröder im Jahr 2003 kleinlaut im Parlament
erklärt hat: „Das war ein Fehler“?
({0})
Herr Kollege Fuchtel, in der Tat befürchte ich auch,
dass die Sozialdemokraten das Abrücken von den gemeinsam in der Großen Koalition gefassten Beschlüssen
schlichtweg deswegen praktizieren, weil sie angesichts
ihrer schlechten Umfragewerte glauben, für die kommenden Wahlen des Jahres 2011 Wahlkampfmaterial zu
ihren Gunsten sammeln zu können. Das war auch bei der
Bundestagswahl 1998 so.
Die damalige rot-grüne Bundesregierung - auch die
Grünen tragen also Verantwortung dafür - hat die von
Norbert Blüm beschlossene Reform der Rente mit dem
Demografiefaktor zurückgenommen. Wenige Jahre
später musste der damalige Bundeskanzler Gerhard
Schröder vor dem Parlament erklären, dass es nicht nur
ein Fehler, sondern einer seiner größten Fehler gewesen
sei, diese Reform zurückzunehmen.
Meine Aufgabe ist es nicht, mir als Christdemokrat
besondere Sorge um die Sozialdemokraten zu machen,
({0})
aber ein gewisses christliches Mitgefühl hat man doch.
Lieber Kollege Fuchtel, die Frage ist erkennbar beantwortet. Sie dürfen sich wieder setzen. Die Zeit läuft weiter.
Ich fürchte, dass es die Sozialdemokraten noch einmal erleben werden, dass sie sich vor dem Parlament daPeter Weiß ({0})
für entschuldigen müssen, dass sie die Reform ihres eigenen Arbeits- und Sozialministers kaputtschießen
wollen.
({1})
Ich will nicht all das wiederholen, was zum Thema
Anhebung der Regelaltersgrenze für die Rente auf
67 Jahre bis zum Jahr 2029 gesagt worden ist, sondern
nur einen Punkt herausstellen, der von vielen Rednern
vorgetragen worden ist, nämlich dass das eigentlich eine
verkappte Rentenkürzung sei. Der Sozialbeirat hat - ich
wiederhole, es ist eine gemeinsame Stellungnahme von
Gewerkschaften, Arbeitgebern und Wissenschaftlern gesagt: Ein Blick auf die Zusammenstellung der einzelnen Gruppen von Rentnerinnen und Rentnern zeigt, dass
sich in vielen Fällen die Behauptung, dass die Anhebung
der Regelaltersgrenze zu einer Rentenkürzung führt,
nicht bewahrheiten wird. Der Sozialbeirat sagt also klipp
und klar: Die Behauptung, das sei eine generelle Rentenkürzung, ist schlichtweg falsch.
({2})
Ich betone: unterschrieben von Gewerkschaftern, Arbeitgeberverbänden und Wissenschaftlern.
Nein, es entsteht der gegenteilige Effekt: Erstens wird
die Anhebung der Regelaltersgrenze dazu führen, dass
selbstverständlich diejenigen, die länger arbeiten, dann
auch zusätzliche Rentenansprüche erwerben. Zweitens
führt der Nachhaltigkeitsfaktor - das ist ein Faktor, der
in der Rentenformel vorhanden ist ({3})
- von Rot-Grün übrigens eingeführt; das will ich gerne
mit erwähnen - dazu, dass sich dann, wenn länger gearbeitet wird, die Renten derjenigen, die in Rente sind, erhöhen werden. Sprich: Keine Rentenkürzung für die
Rentnerinnen und Rentner, sondern kontinuierliche Rentenerhöhungen sind die Folge des Nachhaltigkeitsfaktors.
Deswegen kann man eine Feststellung treffen: Die
Rentenkürzer sitzen da, wo diejenigen sind, die die
Rente mit 67 ab dem Jahr 2029 kippen und außer Kraft
setzen wollen; denn diejenigen kürzen die Rente.
({4})
Das ist die logische Mathematik der Rentenformel.
({5})
Vielleicht sollten die Kolleginnen und Kollegen, die hier
meines Erachtens unverantwortliche Reden halten, zuerst einmal die Rentenformel lesen, bevor sie das Gegenteil von dem behaupten, was tatsächlich die Wirkung der
Rente mit 67 sein wird.
({6})
Lieber Kollege Weiß, Sie müssen zum Schluss kommen. Die Redezeit ist vorbei.
Herr Präsident, ich will gern zum Schluss kommen
und Folgendes sagen: Selbstverständlich ist die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland heute schlecht. Das ist gar keine
Frage. Die Frage, die im Rentenversicherungsbericht zu
untersuchen war, lautete aber: Verschlechtert oder verbessert sie sich über die Jahre hinweg? Gott sei Dank hat
sie sich in den letzten Jahren verbessert. Außerdem stehen die Chancen gut, dass sie noch besser wird, und
zwar insbesondere dann, wenn das Programm „50 plus“,
das von Franz Müntefering und Olaf Scholz initiiert
wurde, in Deutschland seine Wirkung entfaltet.
Deshalb wollen wir alles tun, damit ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland eine Chance
auf dem Arbeitsmarkt haben und damit die positiven
Wirkungen der Anhebung des Rentenalters dazu führen,
dass sich diese Menschen eine ordentliche und gute alterssicherende Rente erwirtschaften.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Noch ein Hinweis zum Debattenverlauf. Ich habe eine
Reihe von Zwischenfragen und Kurzinterventionen zu-
gelassen und eine ganze Reihe weiterer Wünsche nicht.
Das löst bei denjenigen, die nicht zum Zuge gekommen
sind, keine große Freude aus. Ich möchte nur darauf auf-
merksam machen, dass wir zu Beginn dieser Debatte
einvernehmlich beschlossen haben, diese Debatte soll
1 Stunde und 15 Minuten dauern. Tatsächlich hat sie je-
doch 1 Stunde und 45 Minuten gedauert. Ich bitte ein-
fach zu berücksichtigen, dass für das Präsidium die vom
Plenum selbst festgesetzte Debattenzeit ein jedenfalls
nicht weniger relevantes Kriterium in der Moderierung
der Sitzung ist als die sich spontan ergebenden Rede-
wünsche. Das Dilemma ist nicht rundum überzeugend
auflösbar. Aber ich wollte das noch einmal dem Plenum
zur Kenntnis geben.
Nun stimmen wir ab über die Überweisung der Vorla-
gen auf den Drucksachen 17/3814, 17/3900, 17/3995
und 17/4046 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint
der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd
Scheelen, Nicolette Kressl, Joachim Poß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Klare Perspektiven für Kommunen - Gewerbesteuer stärken
- Drucksache 17/3996 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Fraktion der SPD
Rettungsschirm für Kommunen - Strategie für
handlungsfähige Städte, Gemeinden und Landkreise
- Drucksachen 17/1152, 17/4060 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch
diese Aussprache 1 Stunde und 15 Minuten dauern, was
der eine oder andere vielleicht zur Erinnerung auf einem
Zettel festhält. Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann
ist das so vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
Herr Staatsminister Dr. Carsten Kühl für das Land
Rheinland-Pfalz. - Bitte schön.
({2})
Dr. Carsten Kühl, Staatsminister ({3}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bedanke mich zunächst sehr herzlich für die
Gelegenheit, als Mitglied des Bundesrats und als Mitglied der Gemeindefinanzkommission zu diesem Thema
sprechen zu können.
Es ist ein Thema, das alle angeht: die Kommunen, die
Länder und den Bund. Es geht die Kommunen an, weil
sie natürlich an allererster Stelle diesen harten Konsolidierungskurs konsequent beschreiten müssen, um aus
ihrer prekären Finanzsituation herauszukommen. Es
geht die Länder an, weil sie die vornehmste Aufgabe haben, die Kommunen dabei zu unterstützen, beispielsweise dadurch, dass sie ein konsequentes Konnexitätsprinzip pflegen, beispielsweise dadurch, dass sie einen
Entschuldungsfonds auflegen, um die hohen Liquiditätskredite der Kommunen zurückzuführen und sie wieder
handlungsfähig zu machen, und beispielsweise dadurch,
dass sie - so etwas können die Länder - versuchen, die
Einnahmen, die sie den Kommunen über den Finanzausgleich geben, über einen Solidarfonds im Zeitablauf zu
verstetigen und ihnen dadurch mehr Kalkulationsgrundlagen zu geben.
Aber auch der Bund ist gefordert. Es gibt zwei Entwicklungen in den letzten Jahren, die für die prekäre Situation der kommunalen Haushalte sehr stark mit verantwortlich sind und die vom Bund zu verantworten sind.
Der Bund muss sich engagieren, dass das in Zukunft anders und besser wird.
({4})
Zum einen geht es um die Steuereinnahmen der
Kommunen. Sie sind - genauso wie die von Ländern
und Bund - in den letzten Jahren eingebrochen, bei den
Kommunen aber ganz besonders stark. Wir haben heute
eine Steuerquote, die unter 21 Prozent liegt. Das sind
zwei Prozentpunkte weniger als vor zwei Jahren. Wenn
Sie das auf das Bruttoinlandsprodukt beziehen, dann erkennen Sie eine Lücke in Höhe von 50 Milliarden Euro.
Das hat etwas damit zu tun, dass wir nicht befristet, sondern strukturell angelegt und damit dauerhaft Steuersenkungen in der Größenordnung von 36 Milliarden Euro
seit 2008 auf den Weg gebracht haben. Das belastet die
kommunalen Haushalte mit etwa 5 Milliarden bis 7 Milliarden Euro. Da kommen sie nicht alleine heraus.
Zum anderen geht es - das ist ein weiterer kritischer
Punkt - um die Soziallasten. Die Soziallasten, an denen
die Kommunen finanziell partizipieren, die sie mit finanzieren müssen, sind in den letzten Jahren im Vergleich
zur Entwicklung der kommunalen Einnahmen weit überproportional gestiegen. Wir haben beispielsweise bei der
Grundsicherung und der Eingliederungshilfe Steigerungsraten von über 40 Prozent und bei der Jugendhilfe
in den letzten zehn Jahren zum Teil Steigerungsraten von
130 Prozent zu verzeichnen gehabt. Gleichzeitig sind die
Steuereinnahmen der Kommunen nur um 21 Prozent gestiegen. Diese Schere, die sich da auftut, können die
Kommunen alleine, ohne Hilfe Dritter, nicht schließen.
Darin müssen wir sie unterstützen.
({5})
Die Situation ist dramatisch. Wenn eine Situation dramatisch ist, dann sollte man eigentlich sofort etwas tun.
Deswegen haben sich das Land Rheinland-Pfalz, andere
Länder und viele Kommunen gefreut, als die SPD-Fraktion im März dieses Jahres eine Initiative auf den Weg gebracht hat mit dem Ziel, unabhängig von längerfristigen
und grundsätzlichen Maßnahmen ein Sofortprogramm
aufzulegen. Leider hat das offensichtlich hier in diesem
Haus keine Mehrheit gefunden. Eine Mehrheit in diesem
Haus gefunden hat etwas anderes, das die Haushalte der
Kommunen zusätzlich belastet hat. Sie haben mit Ihrem
Haushaltsbegleitgesetz Abgabenerhöhungen in Höhe
von 7 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, und zwar
solche, die ausschließlich dem Bundeshaushalt zustehen
und gleichzeitig die Bemessungsgrundlage der den Kommunen zustehenden Einnahmen schmälern, beispielsweise der Gewerbesteuer. Damit haben Sie die Situation
der Kommunen einmal mehr verschlimmert.
({6})
Staatsminister Dr. Carsten Kühl ({7})
Sie haben die Rentenversicherungsbeiträge beim ALG II
abgeschafft. Sie haben die Heizkostenpauschale abgeschafft. Ich garantiere Ihnen: Das wird sich irgendwann
bei der Grundsicherung im Alter und den Kosten der Unterkunft auf der Rechnung der Kommunen wiederfinden.
({8})
Die Bundesregierung hatte im Februar eine Gemeindefinanzkommission etabliert, die sich den Fragen annehmen sollte. Diese Kommission hat sehr intensiv und analytisch gearbeitet. Sie war im besten Sinne fleißig und hat
Ergebnisse produziert. Ich war daher etwas überrascht,
dass der Bundesfinanzminister vor ein paar Wochen nach
einem Gespräch mit den kommunalen Spitzenverbänden
ein Fazit für sich gezogen und Ergebnisse verkündet hat.
Ich war nicht überrascht, dass der Bundesfinanzminister
zu dem Ergebnis kam, man müsse die Gewerbesteuer
unangetastet lassen. Denn alle Analysen der Kommission
zeigen, dass das Alternativmodell aus verschiedensten
Gründen - weil es quantitativ schwierige Ergebnisse produziert und kaum administrierbar ist - nicht umsetzbar
ist. Zudem ist die Gewerbesteuer trotz aller Unkenrufe
eine gute Steuer für die Gemeinde, weil sie das größte
Aufkommensentwicklungspotenzial hat.
({9})
Wenn Finanznot herrscht, dürfen wir nicht die Steuer abschaffen, die langfristig die höchsten Erträge bringt.
Ich habe mich gefreut, dass der Bundesfinanzminister
den Vorschlag gemacht hat, zumindest über die Grundsicherung im Alter einen Einstieg in die Entlastung der
Kommunen von Soziallasten zu finden.
({10})
Der Bundesfinanzminister hat weiter vorgeschlagen,
dass man additiv zur Gewerbesteuer bei der Einkommensteuer ein Zuschlagsrecht etablieren sollte. Wir und
die meisten kommunalen Verbände waren skeptisch, und
zwar aus einem ganz einfachen Grund: Wir befürchten
- diese Befürchtung ist ernst zu nehmen -, dass dadurch
der Konflikt zwischen armen und reichen Gemeinden in
Deutschland verschärft wird, dass Druck entsteht und
gerade die hochverschuldeten und in der Tendenz Kommunen mit einkommensschwachen Bürgern in die Situation versetzt werden, die Hebesätze anzuheben, und wir
dann in die etwas skurrile Situation kommen, dass zukünftig in manchen Orten Einkommensschwächere höhere Steuern bezahlen müssen als Einkommensstärkere
in anderen Orten, die es sich leisten können, die Hebesätze zu senken.
({11})
Das widerspricht dem Prinzip, das über 60 Jahre bei der
Einkommensteuer in Deutschland Konsens ist, nämlich
dem Leistungsfähigkeitsprinzip, wonach Gleiches gleich
zu besteuern ist. Schließlich: Wir ärgern uns seit Jahren
über Steueroasen im Ausland. Ich vermag nicht einzusehen, warum wir Anreize für die Schaffung von Steueroasen in Deutschland setzen sollten.
({12})
Meine Damen und Herren, wie sieht die Bilanz aus?
Ich hätte mir zunächst einmal gewünscht, dass wir den
Vorschlag von Herrn Schäuble in der Gemeindefinanzkommission diskutieren. Aber was ist stattdessen passiert? Es ist das passiert, was immer passiert, wenn diese
Koalition versucht, steuer- und finanzpolitische Probleme zu lösen: Es wird gestritten, es wird ein bisschen
chaotisch, und es entsteht Stillstand. In der Zwischenzeit
soll eine Koalitionsrunde zu diesem Thema stattgefunden
haben. Die FDP scheint mittlerweile alles infrage zu stellen. Der Finanzminister und die Bundeskanzlerin relativieren ihre Gewerbesteuergarantie, die sie gegenüber den
Kommunen abgegeben haben, und von der Übernahme
von Soziallasten wird überhaupt nicht mehr geredet.
({13})
Mittlerweile gibt es Koalitionsarbeitsgruppen. Aber
was heißt das denn für die Gemeindefinanzkommission?
Die Gemeindefinanzkommission wartet jetzt auf einen
Vorschlag der Koalitionsarbeitsgruppe. Den soll sie sich
dann zu eigen machen, um ihn anschließend der Bundesregierung zu empfehlen.
({14})
Die Aufgabe der Kommission ist eine Empfehlung an
die Bundesregierung. Noch einmal: Die Gemeindefinanzkommission bekommt von der Bundesregierung erzählt, was sie der Bundesregierung empfehlen soll. Das
ist ein Witz, über den weder die Kommunen noch die
Länder lachen können;
({15})
denn die Finanzsituation ist zu ernst, um koalitionsinterne Befindlichkeiten auszuleben. Wiederbeleben sollten wir entweder die Gemeindefinanzkommission, oder
der Bundesfinanzminister sollte einen Vorschlag auf den
Tisch legen, der für alle, nicht nur für die Koalitionäre,
konsensfähig ist. Meine Bitte wäre, dass wir uns nicht
mehr allzu viel Zeit damit lassen. Die Liquiditätskredite der Kommunen steigen von Tag zu Tag. Die Kommunen stehen nicht mehr nur mit dem Rücken an der
Wand, sondern der Rücken drückt sich immer mehr in
die Wand hinein.
Vielen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Götz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nicht nur der
Bund, sondern auch die Städte, Gemeinden und Kreise
befinden sich in einer schwierigen finanziellen Lage.
Das ist unbestritten. Es ist auch unbestritten, dass sich
eine große Zahl von Kommunen nur noch mit hohen
Kassenkrediten über Wasser halten kann. Trotz der immer noch schwelenden Krise an den internationalen
Finanzmärkten sind wir in Deutschland dank einer guten, vorausschauenden Politik der CDU-geführten Bundesregierung auf einem guten Weg; das sollten wir auch
sagen.
({0})
Die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig wie noch nie
in den letzten 20 Jahren. Mit 41 Millionen ist die Zahl
der Erwerbstätigen so hoch wie noch nie.
({1})
Herr Kollege Scheelen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen hat inzwischen ein
Niveau erreicht, um das uns andere Länder in Europa beneiden, und das wirkt sich auch auf die Kommunalfinanzen aus.
({2})
Die Einnahmen aus der Gewerbesteuer - eine wichtige kommunale Steuer; das ist unbestritten - sind übrigens für viele überraschend stark gestiegen.
({3})
Für 2011 rechnen die Steuerschätzer mit einem weiteren
kräftigen Anstieg auf 31,6 Milliarden Euro. Zu dieser
positiven Entwicklung hat übrigens nicht nur, aber auch
das Wachstumsbeschleunigungsgesetz maßgeblich beigetragen.
({4})
Richtig ist, dass die Schere zwischen finanzstarken
und finanzschwachen Kommunen nach wie vor immer
weiter auseinandergeht. Herr Minister Kühl, das hat übrigens auch etwas mit Landespolitik zu tun;
({5})
denn zum Beispiel streicht in Rheinland-Pfalz das Land
die Einnahmen aus der Grunderwerbsteuer ein. In dem
Land, aus dem ich komme, in Baden-Württemberg, bekommen die Kommunen die Einnahmen aus der Grunderwerbsteuer. Das hat also auch etwas mit Landespolitik
zu tun.
({6})
Viele Gemeindefinanzen werden von den Zinsen und
von den Kosten für Soziales im wahrsten Sinne des Wortes aufgefressen; das ist wahr. Herr Minister, wenn wir
helfen wollen, dann müssen wir die Ursachen anschauen
und sie analysieren. Die Ursachen reichen weit zurück in
die Zeit der kommunalfeindlichen rot-grünen Regierungspolitik. Mit der Übernahme der Kanzlerschaft
durch Angela Merkel hat sich das übrigens schlagartig
- von heute auf morgen - geändert.
({7})
Die Jahre kurz vor der Krise waren für die Kommunen die besten Jahre seit Bestehen der Bundesrepublik.
({8})
Der kommunale Saldo lag in dieser Zeit bei mehr als
8 Milliarden Euro, und viele Kommunen konnten investieren, auch wenn es Ihnen nicht passt, Herr Poß. Sie haben Rücklagen gebildet und ihre Schulden abgebaut.
Herr Poß, in Zeiten rot-grüner Regierungsverantwortung war daran nicht zu denken. Damals lag der kommunale Saldo im Minus. Der Investitionsstau wurde immer
größer.
Kollege Götz, darf ich Sie kurz unterbrechen? Der
Kollege Hartmann würde Ihnen gern eine Zwischenfrage
stellen.
Ich sage den einen Satz noch, dann bin ich sehr damit
einverstanden. - Nur zur Erinnerung: 2003 betrug der
Negativsaldo der kommunalen Haushalte 8,4 Milliarden
Euro - im Minus. - Bitte schön.
Herr Kollege Götz, Sie haben erfreulicherweise darauf hingewiesen, dass die Einnahmen der Kommunen
durch die Gewerbesteuer gestiegen sind. Diese erfreuliche Feststellung veranlasst mich zu der Frage: Bedeutet
dies ein klares und uneingeschränktes Bekenntnis von
Ihnen und Ihrer Fraktion zum Erhalt der Gewerbesteuer?
({0})
Das ist ein klares Bekenntnis dazu, dass die Besteuerung aus wirtschaftlicher Betätigung in Zukunft auch für
die kommunale Seite gelten muss - eindeutig.
({0})
Lassen Sie mich auf den Gedanken zurückkommen,
den ich vorhin fortsetzen wollte. Die Verschuldung in
den Städten, Gemeinden und Kreisen ist in der Zeit Ihrer
Regierungsverantwortung gestiegen. Das ist die Ursache. Herr Scheelen, davon haben sich gerade im Ruhrgebiet viele Städte und Gemeinden noch lange nicht erholt.
Das geht nicht von heute auf morgen. Rot-Grün hat den
Kommunen ständig Geld weggenommen und ihnen Aufgaben übertragen, ohne die notwendige Finanzierung
mitzuliefern. Das war Ihre damalige Politik, und dafür
tragen Sie von Rot-Grün die Verantwortung.
({1})
Sich jetzt in der Opposition als Retter aufzuspielen, ist
nicht nur scheinheilig, sondern auch unanständig.
({2})
- Herr Poß, noch kurz vor Toresschluss hat die SchröderRegierung beschlossen, den Bundesanteil von 3 Milliarden Euro an den Kosten der Unterkunft im Bereich der
Hartz-IV-Empfänger rückwirkend auf null zu reduzieren. Ich wiederhole: auf null. Das war in Ihrer Zeit.
({3})
Es war eine der ersten Entscheidungen der Regierung
Merkel, diesen kommunalfeindlichen Akt sofort zu beseitigen und die Bundesbeteiligung zugunsten der Kommunen wieder anzuheben.
({4})
Jetzt als Opposition eine Erhöhung der Bundesbeteiligung zu fordern, ist mehr als durchsichtig und spricht eigentlich für sich.
({5})
Rot-Grün hat übrigens auch die Grundsicherung im
Alter, die vorhin angesprochen worden ist, den Kommunen aufs Auge gedrückt, aber vergessen, eine anständige
Finanzierung mitzuliefern.
({6})
Wir haben in unserer Regierungszeit die Mittel aufgestockt und dynamisiert. Das hatten Sie vergessen.
({7})
Rot-Grün hat übrigens die von Ihnen so gelobte
Gewerbesteuerumlage erhöht und damit den Kommunen Teile der Gewerbesteuereinnahmen genommen.
Auch das ist erst auf unseren Druck hin korrigiert worden. Heute singen Sie das Hohelied der Gewerbesteuer.
Das hat mit glaubwürdiger Politik eigentlich gar nichts
zu tun.
({8})
In diesen Tagen fordern die Grünen eine Bodenschutzrichtlinie, die allein für die Kommunen zusätzliche Bürokratiekosten von mehreren Hundert Millionen
Euro bedeuten würde, ohne dass in Deutschland der Bodenschutz auch nur etwas verbessert würde.
({9})
Ich könnte aus dem Katalog Ihrer kommunalfeindlichen
Entscheidungen beliebig weiter vortragen, aber dafür
reicht die Redezeit nicht.
Uns geht es darum, den Kommunen zu helfen und die
Gemeindefinanzen trotz schwierigster Haushaltslage, in
der sich der Bund, wie wir alle wissen, nach wie vor befindet, wieder auf eine solide Grundlage zu stellen.
({10})
Wir wollen den Gemeinden mehr Eigenverantwortung
geben und dadurch die kommunale Selbstverwaltung
stärken. Deshalb begrüßen wir die positive Haltung des
Städte- und Gemeindebundes sowie des Deutschen
Landkreistages zum vorgeschlagenen kommunalen Hebesatzkorridor auf den Einkommensteueranteil der
Kommunen. Herr Minister Kühl, das hat mit Steueroasen in Deutschland wirklich überhaupt nichts zu tun.
({11})
Notwendige Korrekturen bei der Gewerbesteuer dürfen weder zulasten der Kommunen noch zulasten der
Bürger gehen. Wir wollen, dass vor Ort wieder mehr entschieden werden kann. Wir wollen eine Entlastung vor
allem in dem Bereich der sozialen Aufgaben und der sozialen Ausgaben.
({12})
Von der eingesetzten Gemeindefinanzkommission, an
der Bund, Länder und die kommunalen Spitzenverbände
beteiligt sind - auch die Länder und die kommunalen
Spitzenverbände sind dabei - und die auf Konsens angelegt ist - das ist auch gut so -,
({13})
erwarten wir im Januar, also in einem Monat, die Ergebnisse.
Wir wollen, dass die Kommunen durch stabile Gemeindefinanzen wieder Luft zum Atmen bekommen
und die vielen ehrenamtlichen Räte in den Gemeinden,
Städten und Kreisen ihre Heimat wieder eigenverantwortlich gestalten können;
({14})
denn sie vor Ort wissen am besten, was für ihre Bürgerinnen und Bürger gut und richtig ist.
({15})
Unsere Kommunen haben sich in der schwersten
Krise unseres Landes hervorragend verhalten. Sie haben,
unterstützt durch unser Konjunkturpaket II,
({16})
mit klugen Entscheidungen maßgeblich dazu beigetragen, dass Deutschland schneller und besser aus der Wirtschaftskrise herausgekommen ist, als wir alle gedacht
hatten. Dafür sagen wir heute in einer Kommunaldebatte
ein herzliches Dankeschön.
({17})
Jetzt geht es darum, unser Land und die Kommunen
zukunftsfest zu machen. Das ist nicht einfach. Das geht
nicht mit Jammern, sondern das geht mit Anpacken. Packen wir es also an! Mit Mut und Zuversicht können wir
gemeinsam viel erreichen. Ich lade auch Sie als Opposition sehr herzlich dazu ein.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat der Kollege Frank Tempel von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich freue mich, an dieser Stelle mit direktem Bezug zur Kommunalpolitik, genauer gesagt: zu den
Kommunalfinanzen, sprechen zu dürfen; denn diese
Möglichkeit zu haben, war einer der Gründe dafür, dass
ich als Kommunalpolitiker genau hierher wollte.
Die Probleme durch fehlende finanzielle Mittel in den
Kommunen kommen auf direktem Wege bei den Bürgern an, werden dort spürbar, und dann stehen oftmals
die kommunalen Mandatsträger in der Kritik - wegen
fehlender notwendiger Aktivitäten, die aber nur eine
Folge fehlender finanzieller Möglichkeiten sind. Oft
müssen Streichungen in den Bereichen Kultur, Bildung
und Soziales vorgenommen werden; denn trotz aller
Sparmaßnahmen in anderen Bereichen ist in den Kommunen das Geld dafür nicht mehr da.
Das wiederum liegt sehr häufig an Bundesgesetzen.
In meinem Kreistag im Altenburger Land führte das
dazu, dass wir bereits seit einem halben Jahr eine Haushaltssperre haben. Damit sind wir kein Einzelfall. Aus
allen Fraktionen im Kreistag werde ich immer wieder
aufgefordert, das hier an dieser Stelle noch stärker zu betonen. Erst gestern Abend standen auf der Tagesordnung
Einschnitte wie Kürzungen in der Jugendhilfe und Streichung des Zuschusses für das Schulessen. An solchen
Kürzungen haben Sie, meine Damen und Herren, eine
Mitverantwortung.
({0})
Bevor mein Kollege Axel Troost nachher zu Zahlen
und Steuern kommt, geht es mir in allererster Linie um
ein Instrument, das unabdingbar notwendig ist, um kommunale Realitäten und Aufgaben mit der Bundespolitik
in Einklang zu bringen. Die Regierungskoalition wird es
vielleicht überraschen: Ich meine den Unterausschuss
Kommunales. Bisher haben Sie sich der Bedeutung und
Wichtigkeit dieses Ausschusses weitestgehend verweigert. Ich erinnere nur daran, wie lange Sie gebraucht haben, um wenigstens Mitglieder für diesen Unterausschuss zu benennen. Zu Beginn der Wahlperiode hatte
man sich im Ältestenrat des Bundestages auf diesen Unterausschuss geeinigt. Ein ordentlicher Ausschuss Kommunalpolitik, wie ihn die Linke gefordert hat, wäre
angemessener gewesen; aber es war immerhin ein Kompromiss gefunden.
({1})
Heute muss man feststellen, dass alle anderen Unterausschüsse ihre Arbeit aufgenommen haben; aber der
Unterausschuss Kommunales hat sich lediglich konstituiert,
({2})
und das nach einem Viertel der Legislatur - Klasseleistung. Nach dem Willen der Regierungskoalition soll der
Unterausschuss zu einem Erfüllungsgehilfen des Innenausschusses werden. Aber das Aufgabenfeld ist sehr viel
weiter, und ein Selbstbefassungsrecht, also das Recht,
selbst Themen auf die Tagesordnung zu nehmen, ist eine
Grundbedingung für die Wirksamkeit dieses Ausschusses.
({3})
Ein eigenes Aufgabenfeld fehlt. Die kommunalrelevanten Angelegenheiten als Querschnittsbereich der Politik
anzuerkennen, ist eine klare, logische und konsequente
Forderung der Linken.
90 Prozent der im Bundestag beschlossenen Gesetze
müssen letztendlich von den Kommunen ausgeführt
werden. Die schwarz-gelbe Koalition feiert sich nun, einen Unterausschuss Kommunales vorweisen zu können.
Tatsächlich ist die Koalition dagegen, dass sich der Unterausschuss mit den unmittelbaren Problemen der Kommunalpolitik befasst. Zentrale Themen wie die Kommunalfinanzen wollen Sie von diesem Unterausschuss nach
Möglichkeit fernhalten.
({4})
Ich möchte deswegen einmal darauf verweisen, wie
der Deutsche Bundestag bereits 1952 die Aufgaben eines
solchen Ausschusses definiert hat: „… die indirekten
Auswirkungen der Bundesgesetzgebung auf die kommunalen Angelegenheiten zu beobachten und sich gegebenenfalls in die Bearbeitung von Vorlagen einzuschalten.“
Das heißt Selbstbefassungsrecht 1952. Schreiben Sie es
einfach ab! Aber einen entsprechenden Antrag von Linken, SPD und Grünen zu einem wohlformulierten
Grundsatzbeschluss haben Sie bereits am 27. Oktober
dieses Jahres im Innenausschuss ohne Debatte abgelehnt.
Sie wollen kein Medikament für die kranken Kommunalfinanzen, Sie wollen lieber ein Placebo, um den
Patienten ruhigzuhalten. Ich möchte Ihnen aber an dieser
Stelle versprechen: Die Linke wird das weitere Ausbluten der Kommunen nicht hinnehmen.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Kühl, wir haben von
Ihnen gehört, dass die Kommunen sich sehr über die Anträge der SPD gefreut haben. Ich will Ihnen einmal sagen: Die Schönwetteranträge der Sozialdemokraten in
der Opposition helfen den Kommunen überhaupt nichts.
({0})
An den Gesetzen, die Rot-Grün in Regierungsverantwortung verabschiedet hat, haben die Kommunen bis
heute eine schwere Last zu tragen. Das ist die Realität.
({1})
Sie reden in Ihrem Antrag, meine Kolleginnen und Kollegen von der Sozialdemokratie, nur über Einnahmen
der Kommunen. Von den Ausgaben wollen Sie gar nicht
so viel sprechen, weil die Ausgaben nämlich ein Problem sind, das Sie verursacht haben.
({2})
Es sind 40 Milliarden Euro Sozialausgaben unter
Rot-Grün entstanden. Das ist die Folge Ihrer Sozialpolitik.
({3})
Sie wollten damals nicht auf uns hören. Wir hatten Ihnen
damals in der Föderalismuskommission I gesagt, dass
wir ein Konnexitätsprinzip brauchen, dass es mit den
Kommunen so nicht weitergehen kann. Wenn der Bund
Ausgaben beschließt, so wie Sie es zur Genüge getan haben, dann muss er auch die Finanzierung sicherstellen.
Sie haben das damals abgelehnt. Sie waren dagegen. Die
Grünen waren dagegen. Auf kommunaler Ebene sprechen Sie gern vom Konnexitätsprinzip. Aber dass es an
Ihnen gescheitert ist, verschweigen Sie den Menschen in
Deutschland.
({4})
Wir reden heute wieder über ein Problem - die christlich-liberale Koalition löst es -, das sich unter Ihrer Regierungsverantwortung massiv verschärft hat. Sie sagen
in Ihrem Antrag nur unter einem einzigen Spiegelstrich
etwas zu den Ausgaben der Kommunen; das ist bezeichnenderweise auch noch der letzte Spiegelstrich. Sie fordern im Grunde genommen nichts anderes, als dass die
christlich-liberale Koalition die Kommunen aus einer
Misere befreit, in die sie von Sozialdemokraten und Grünen geführt wurden. Na, bravo!
Sie schlagen keine wirkliche Lösung vor. Wenn man
Sie fragt, wie das Problem bewältigt werden soll, kommt
immer die gleiche Antwort: durch eine Verstetigung der
Gewerbesteuereinnahmen.
({5})
- Frau Kressl sagt es wieder: Es geht um eine Verstetigung der Gewerbesteuereinnahmen; das sagt auch der
sozialdemokratische Landesfinanzminister Kühl. Das
soll die große Lösung sein.
({6})
Damit die Menschen verstehen, was Ihr Vorschlag bedeutet: Ihr Vorschlag bedeutet nichts anderes, als dass
ein Unternehmen, das zu wenig Einnahmen hat, um ausreichend Steuern zu zahlen, künftig auch Steuern auf die
Ausgaben zahlen soll.
({7})
Das ist der Vorschlag der Sozialdemokraten. Sie verschweigen, dass das am Ende zulasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht, weil Sie damit die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft massiv
schwächen, was am Ende Arbeitsplätze kosten wird. Das
ist keine sozial verantwortliche Politik. Deswegen machen wir da nicht mit.
({8})
Ihr Vorschlag ist nicht einmal logisch und schon gar
keine Lösung.
({9})
Was im Einkommensteuerrecht nicht einmal ansatzweise
von Ihnen angedacht wird, soll bei der Gewerbesteuer
umgesetzt werden. Kein Mensch außer Ihnen käme auf
die Idee, die Mieten der Bürgerinnen und Bürger zu besteuern oder ihnen höhere Steuern abzuverlangen, weil
sie höhere Ausgaben haben.
({10})
Was im Einkommensteuerrecht schlicht Unsinn ist, das
wird bei der Gewerbesteuer nicht zu einer Form der höheren Weisheit. Es ist gut, dass FDP und Union Ihrem
finanzpolitischen Unsinn ein Ende bereiten. Wir haben
mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz dafür gesorgt, dass Unternehmen nicht - aufgrund Ihrer Gesetze in Insolvenz geraten. Wir werden diese Politik fortsetzen.
({11})
Wir Liberale werden an unserer Forderung festhalten,
die Gewerbesteuer zu ersetzen, um ein wettbewerbsfähigeres und besseres Unternehmensteuerrecht in Deutschland zu erreichen, ganz im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die wir fest im Blick haben; das
bestätigen auch die günstigen, rückläufigen Arbeitslosenzahlen. Diese Politik ist gut für dieses Land und für
die Kommunen. Der Koalitionsvertrag sieht im Hinblick
auf die Ersetzung der Gewerbesteuer einen Prüfauftrag
vor. Wenn der Bundesfinanzminister in einzelnen Gesprächen andere Vorstellungen hat, nehmen wir das zur
Kenntnis. Das Ziel der FDP bleibt jedenfalls, die Gewerbesteuer zu ersetzen, die Kommunen solide zu finanzieren, Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen und ein
besseres Unternehmensteuerrecht in Deutschland zu implementieren. Das ist das Ziel, und an diesem Ziel halten
wir eisern fest.
({12})
Es geht aber nicht nur um die Gewerbesteuer. Aufgrund der Beschlüsse der christlich-liberalen Koalition
ist eine Gemeindefinanzkommission eingesetzt worden. Die Gewerbesteuer gehört hier aber untrennbar
dazu.
Rot-Grün hat mit den Hartz-IV-Reformen den Grundstein für die Finanznöte der Kommunen gelegt.
Schwarz-Gelb geht nun daran, die Gemeindefinanzen
auf eine solide Basis zu stellen. Wenn wir Ihre Fehler
korrigieren - ({13})
- Die Grünen wollen mit all dem nichts mehr zu tun haben; die Sozialdemokraten wollen mit Hartz IV nichts
mehr zu tun haben.
({14})
Die Kommunen zahlen aber bis heute; denn Sie haben
die Kommunen mit ihren ungelösten Problemen alleingelassen. Wir stellen uns all diesen Aufgaben.
Wir werden Ihre Fehler auch in diesem Bereich korrigieren. Es wäre nur besser, wenn Sie uns dabei konstruktiv unterstützen würden, anstatt uns mit Ihren Anträgen
ohne jeden substanziellen Inhalt bei der Arbeit aufzuhalten. Rot-Grün hat die Kommunen in die Schieflage gebracht; Schwarz-Gelb wird die Kommunen sanieren.
({15})
Die Gemeindefinanzreform wird kommen. Sie wird
zu einer Verbesserung der finanziellen Lage der Kommunen führen. Davon haben die Kommunen jedenfalls
mehr als von Ihrem Antrag, der nichts anderes ist als ein
Hohelied der Gewerbesteuer.
({16})
Ich würde Ihnen empfehlen, endlich einmal mit Ihrer unsinnigen Diskussion über die Verstetigung der Gewerbesteuereinnahmen aufzuhören. Wenn Sie mit der Gewerbesteuer so konform gehen, dann machen Sie doch
einmal einen Vorschlag, wie Sie die Kommunen mit der
Gewerbesteuer finanzieren wollen, ohne Arbeitsplätze
zu gefährden.
({17})
Das können Sie nicht.
Deswegen: Hören Sie mit Ihren Anträgen auf und diskutieren Sie konstruktiv mit uns! Wir brauchen eine bessere kommunale Finanzierung und keine Fortführung
der Probleme, die Sie geschaffen haben.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Anwesende auf den Besuchertribünen! Herr Wissing, Ihre Rede macht deutlich, wie blank
Sie beim Thema Kommunen eigentlich sind.
({0})
Herr Götz, Ihre Fraktion im Übrigen auch. Denn was Sie
konsequent machen, ist, sich mit der Regierungszeit von
Rot-Grün und den Beschlusslagen aus den Jahren 2002
und 2004 zu beschäftigen.
({1})
Nun kann man der FDP zugestehen, dass sie gerade erst
seit einem Jahr regiert. Aber auch nach einem Jahr Regierung könnte man fragen: Wo ist denn der substanzielle Vorschlag in der Sache, der die Lage der Kommunen verbessert? Der ist bisher nicht da, weil Sie dazu
nichts zu sagen haben.
Das Einzige, was gerade wirklich gut war, war, dass
Sie sowohl den Kommunen als auch der CDU noch einmal eindeutig gesagt haben, wo bei Ihnen die Fahrt hingeht. Ich habe mir den Satz gemerkt: Wir halten eisern
an der Abschaffung der Gewerbesteuer fest. Ich hoffe,
das haben die Städte und Gemeinden gehört, und ich
hoffe, das haben auch die CDUler gehört.
({2})
Herr Götz, Sie bei der CDU können sich das in der
Sache nicht so einfach machen. Merken Sie eigentlich
nicht, dass sich die Menschen bei der Auseinandersetzung mit den Jahren 2002 und 2004 inzwischen fragen:
Was sind eigentlich die konzeptionellen Vorschläge der
CDU, die seit 2005 regiert und die Kanzlerin stellt?
({3})
Seit 2005, das sind immerhin fünf Jahre!
Wir können gerne über die Frage der Verantwortung
für die Auswirkungen der Kapitalertragsteuer auf die
Kommunen unter Rot-Grün reden. Diese habe ich schon
zu rot-grünen Zeiten kritisiert. Ich kann Ihnen aber auch
sagen, wie im Bundesrat Ihre CDU bei solchen Vorschlägen gehandelt, agiert und das Ganze befeuert hat.
Darüber können wir gerne reden.
({4})
Das ändert aber für die Zukunft nichts. Das legt nur offen, wie blank und nichtssagend Ihre Vorschläge bislang
sind. Sie haben in der Frage, wie wir denn die Probleme
der Städte und Gemeinden lösen, nichts zu bieten.
({5})
Wenn wir uns die Politik von heute ansehen - wir sind
ja im Hier und Jetzt, im Jahr 2010 -, dann kann man einige in Ihrer Verantwortung getroffene Beschlüsse feststellen - ich will sie Ihnen gern in Erinnerung rufen; denn
das tun Sie anscheinend ungern -: 6,5 Milliarden Euro
Minus durch Steuersenkungsbeschlüsse seit dem Jahr
2008 für die Kommunen, 600 Millionen Euro Minus
durch Änderungen bei den Funktionsverlagerungen im
Rahmen der Unternehmensteuer. Dann als Nächstes die
SGB-II-Reform, die Streichung beim Heizkostenzuschuss und beim Kinderwohngeld; das sind über
300 Millionen Euro. Streichung bei den ALG-Rentenbeiträgen: über 1,8 Milliarden Euro. Das alles wurde gestrichen, und zwar zulasten der Kommunen, gerade im
aktuellen schwarz-gelben Haushalt. Wir haben eine Kürzung der Städtebaufördermittel zu verzeichnen. Das Gebäudesanierungsprogramm ist gestrichen worden.
({6})
Das alles ist massiv eingeschränkt worden. Wir haben
massive Kürzungen bei den Eingliederungshilfen und
bei den Arbeitsmarktmitteln. Das alles liegt in Ihrer jetzigen Verantwortung und ist den Städten und Gemeinden
aufgebürdet worden. Diese Beschlusslagen aus Ihrem
Haushalt werden die Städte und Gemeinden massiv treffen.
({7})
Wir könnten über viele weitere Fragen reden.
Ich möchte Sie gern einmal an etwas erinnern. Sie sagen hier: Wir wollen, wir würden gern, wir möchten in
der nächsten Zeit. Was haben Sie denn letzte Woche hier
im Bundestag entschieden? Sie haben den Einspruch des
Bundesrates, der mit Stimmen der CDU-Länder formuliert worden ist, nämlich bei den Kosten der Unterkunft zu einem höheren Bundesanteil zu kommen, einfach ganz schnöde zurückgewiesen. Sie haben ohne jede
Debatte die höhere Bundesbeteiligung einfach abgelehnt.
({8})
Dann kommen Sie mir doch nicht mit der Debatte über
2004. Sie haben letzten Freitag die Chance gehabt, zu
entscheiden, dass die Kommunen einen höheren Bundesanteil bekommen.
Ferner möchte ich gerade die CDUler aus NRW - die
müssten sich jetzt eigentlich alle wegducken ({9})
daran erinnern, dass Ihre NRW-CDU noch am 26. Oktober 2010 gemeinsam mit Rot und Grün in NRW einen
Landtagsantrag auf den Weg gebracht hat, mit dem der
Bund aufgefordert wird, einen Anteil von 50 Prozent der
Kosten der Unterkunft zu übernehmen, um zu einer Entlastung der sozialen Kosten zu kommen. Wo waren denn
die über 40 Abgeordneten aus NRW letzten Freitag? Ich
sage Ihnen: Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Herr Röttgen als neuer Vorsitzender der NRWCDU hier im Bundestag gegen die Beschlusslage seiner
eigenen Leute in NRW stimmt und sich in NRW für solche Sachen feiern lässt.
({10})
Frau Kollegin Haßelmann, lassen Sie eine Frage des
Kollegen Götz zu?
Gerne.
Bitte, Herr Götz.
Frau Kollegin, ich würde Sie gerne fragen, ob Sie es
als ehrlich empfinden, dass Sie sich darüber beklagen,
dass der Anteil des Bundes an den Kosten der Unterkunft jetzt nicht erhöht wird, obwohl Sie während Ihrer
Regierungszeit den Anteil des Bundes an diesen Kosten
auf null gesetzt haben. Finden Sie das in Ordnung?
({0})
Herr Götz, wenn Sie meiner Rede gefolgt wären,
wüssten Sie, dass das, was Sie gesagt haben, in der Sache nicht richtig ist.
({0})
Vielleicht hat ja jemand, der nach mir spricht, mehr Redezeit und kann darauf eingehen.
Das Nächste ist: Sie regieren seit 2005. Warum haben
Sie den Bundesanteil nicht erhöht, wenn Sie glauben,
dass die Beschlusslagen falsch waren? In der letzten Legislaturperiode lag uns hier sogar ein Antrag der damaligen Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, bestehend aus CDU und FDP, vor. Ich sage Ihnen: Sie
kommen damit nicht durch. Sie können nicht immer sagen: 2004 ist etwas passiert; 2004 ist etwas falsch gelaufen.
({1})
Sagen Sie doch einmal, was Ihr Ansatz bei der Frage der
sozialen Kosten ist. Wie stehen Sie zu einem höheren
Bundesanteil? Sie haben keine Idee, und deshalb reden
Sie gerne über die Jahre 2002 oder 2004. Ich finde, das
darf man Ihnen nicht durchgehen lassen.
({2})
Frau Haßelmann, erlauben Sie eine Nachfrage des
Kollegen Götz?
Wenn Herr Götz sich so mehr Redezeit verschaffen
möchte, bitte.
Bitte.
Mir geht es nicht um mehr Redezeit, sondern mir geht
es darum, dass wir einigermaßen bei der Wahrheit bleiben.
({0})
Ja, bitte. Das finde ich auch gut. Ich erinnere Sie nur
an den letzten Freitag.
Dazu gehört, dass der Anteil des Bundes an den Kosten der Unterkunft während der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung auf null gesetzt wurde und dass sofort
nach Übernahme der Regierungsverantwortung durch
Dr. Angela Merkel als Bundeskanzlerin diese 3,2 Milliarden Euro den Kommunen als Anteil des Bundes an
den Kosten der Unterkunft sofort wieder zur Verfügung
gestellt worden sind.
({0})
Heute mehr zu fordern, ist die eine Sache. Darüber
kann man natürlich immer reden. Ich frage Sie, ob Ihnen
bewusst ist, dass wir gegenwärtig einen Bundeshaushalt
- Sie sind, wenn ich richtig informiert bin, Haushälterin mit einer Nettoneuverschuldung von nahezu 50 Milliarden Euro haben. Deshalb wird es auch in Zukunft
schwierig sein, die Auswirkungen auf die unterschiedlichen politischen Ebenen einigermaßen angemessen zu
berücksichtigen. Können Sie mir folgen?
Das heißt, Sie sind dagegen, dass sich die Bundesebene an sozialen Kosten in einem höheren Umfang beteiligt. So habe ich Ihren Einwand verstanden.
({0})
Über die Jahre 2002 und 2004 können wir in aller
Ruhe diskutieren. Wir können auch über Verantwortlichkeiten und Beschlüsse, die getroffen wurden, reden. Das
entlässt Sie aber nicht aus der Verantwortung, Herr Götz.
Ich bin seit fünf Jahren im Bundestag. Seit vier Jahren
diskutieren wir über einen höheren Bundesanteil, über
eine größere Verantwortung des Bundes bei den Kosten
der Unterkunft. Ich stelle fest, dass Sie sich seit vier Jahren im Bund dagegen wehren, zu einem anderen Berechnungsmodus zu kommen und den Anteil des Bundes zu
erhöhen. Auf kommunaler Ebene, auf Landesebene und
im Bundesrat streiten CDU-geführte Länder aber sehr
wohl dafür, dass der Anteil des Bundes steigt. Ich sage
Ihnen: Diese Widersprüchlichkeit wird man feststellen.
Die Leute bemerken das. Das darf man Ihnen nicht
durchgehen lassen.
({1})
Jetzt lassen Sie uns einmal über die Kommission zur
Gemeindefinanzreform reden. Sagen Sie doch einfach
einmal, was Sie wollen. Die FDP hat gerade erklärt: Wir
halten an der Abschaffung der Gewerbesteuer eisern
fest. Bei Ihnen ist das so: Erst erklärt der Finanzminister:
„Wir schaffen die Gewerbesteuer ab und ersetzen sie“,
jetzt ist er auf dem Trip, die Gewerbesteuer beizubehalten. Das ist ein Versprechen an die Kommunen - mittlerweile von Angela Merkel und dem Finanzminister. Jetzt
ist gemeinsam mit der FDP anscheinend die Lösung gefunden worden, die Gewerbesteuer zu entkernen, anstatt
sie auszubauen, sie also sozusagen zu einer Rumpfgewinnsteuer zu machen, um sie dann im zweiten Schritt
abzuschaffen. Ich sage Ihnen: Es gibt nur zwei Gemeindesteuern. Diese Gemeindesteuern brauchen die Städte
und Gemeinden als stabile Steuern und nicht etwa so
entkernt und so entschlackt, dass sie sich nur noch auf
Gewinne beziehen.
({2})
Ich halte auch Ihre Analyse für falsch. Es ist nicht
richtig, zu sagen, wir bewerten Fremdkapital oder
Fremdfinanzierungen völlig anders als Eigenkapital.
Vielmehr brauchen wir auch die Hinzurechnungen. Ihr
Totschlagargument, dass damit eine Substanzbesteuerung vorliege, ließe sich doch auflösen. Wir finden genügend Möglichkeiten, zum Beispiel über Freibeträge oder
Verlustvorträge, um im Rahmen der Gewerbesteuer zu
berücksichtigen, dass Unternehmen schlechte Jahre haben, aber dennoch weiterhin Hinzurechnungen erzielen.
Mehr als Ausreden sind bei Ihnen bisher konzeptionell
gar nicht drin. Schenken Sie den Leuten endlich einmal
reinen Wein ein, und sagen Sie als CDU - die FDP hat es
schon getan -, was Sie wollen!
({3})
Wohin wollen Sie denn bei der Gewerbesteuer? Einmal
sind Sie dafür, einmal sind Sie dagegen und wollen sie
irgendwie ersetzen. Das ist doch keine substanzielle
Politik einer Regierungspartei!
({4})
Sagen Sie den Leuten klar, ob Sie sie abschaffen oder ob
Sie sie ersetzen wollen! Legen Sie ein Modell vor, über
das man reden kann! Aber agieren Sie hier nicht mit
Teufelsszenarien nach dem Motto: Wir gingen hier voll
in die Substanzbesteuerung. - Es gibt genug Möglichkeiten, das Thema Substanzbesteuerung zu regeln, zum
Beispiel durch Freibeträge und durch Verlustvorträge. In
der Sache können wir gerne darüber streiten.
({5})
Ein zweites Thema: die kommunale Einkommensteuer. Hierbei handelt es sich doch um ein vergiftetes
Angebot an die Städte und Gemeinden. Wollen Sie denn
den Städten und Gemeinden im Ruhrgebiet sagen: „Wir,
Schwarz-Gelb in Berlin, senken die Einkommensteuer
und machen uns als diejenigen beliebt, die Steuern senken; aber ihr vor Ort könnt dann schön den Hebesatz anheben, wenn es euch miserabel geht, und seid damit für
die Steuererhöhungen verantwortlich“? - Wie kann man
einen solchen Vorschlag in einer Situation machen, in
der Städte und Gemeinden 40 Milliarden Euro Kassenkredite haben?
({6})
Da kann man doch nicht einfach nur sagen, der Wettbewerb der Kommunen solle befördert werden. Wir müssen dringend etwas tun, damit es nicht zu einem ruinösen
Wettbewerb der Städte und Gemeinden untereinander
kommt. Wenn Ihre Antwort darauf die kommunale Einkommensteuer ist, dann hoffe ich, dass Ihnen genügend
Städte und Gemeinden, denen es schlecht geht, wirklich
einmal deutlich die Quittung für einen solchen Vorschlag
geben.
({7})
Angesichts einer Situation von 12 Milliarden Euro
Defizit, von 40 Milliarden Euro Kassenkrediten und
50 Milliarden Euro Investitionsnotwendigkeiten gehört
in die Debatte ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit als nur
Verweise auf frühere Regierungen und Absichtserklärungen, die bei Ihnen heute so und morgen so aussehen.
Legen Sie doch einmal vor, welche Form von Bundesbeteiligung Sie bei den Kosten der Unterkunft und bei der
Grundsicherung im Alter wollen.
({8})
Ich sehe nur einen Finanzminister, der jeden Tag einen
neuen Vorschlag macht, so jüngst den Vorschlag, dass
der für die Bundesagentur für Arbeit gedachte Mehrwertsteuerpunkt, der 8 Milliarden Euro ausmacht, an die
Kommunen gehen soll.
Frau Haßelmann, Ihre Zeit ist schon lange abgelaufen.
Ich komme sofort zum Ende.
Sie müssten wieder einmal durchatmen; das wäre
ganz gut.
({0})
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann
meiner Meinung nach nicht auf noch mehr Geld verzichten. Sie haben deren Haushalt um 16 Milliarden Euro geschröpft. Das ist genug.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gern nutze ich erneut die Gelegenheit, mit Ihnen heute
über die Finanzausstattung der Kommunen zu reden. Ich
hätte mich aber gerne einmal mit neuen Positionen und
neuen Tatbeständen auseinandergesetzt und nicht zum
wiederholten Male mit den immer gleichen Argumenten,
die keine Lösung für die Kommunen darstellen.
In Ihrem Antrag „Klare Perspektiven für Kommunen Gewerbesteuer stärken“, liebe Kollegen von der SPD,
fällt Ihnen wieder nur die Gewerbesteuer ein. Sie fordern uns auf, Gesetzesänderungen zu unterlassen, auf die
Einführung neuer Gestaltungsmöglichkeiten zu verzichten und bei der Gemeindefinanzkommission, von der Sie
sowieso nichts halten, schnell zum Ende zu kommen.
({0})
Herr Minister Kühl, dass Sie sich hier hinstellen und
die Schuldfrage in dem Sinne klären, dass die Finanzsituation der Kommunen dadurch entstanden sei, dass der
Bund Gesetze im Sozial- und Steuerbereich gemacht
habe, die die Kommunen belasteten, finde ich einigermaßen dreist; denn jeder von uns weiß, dass diese Bundesgesetze selbstverständlich im Bundesrat gewesen
sind und dass Sie als Vertreter der Länder sich Ihre Zustimmung haben gut abkaufen lassen. Das war ein richtig teures Vergnügen für den Bund. Leider haben Sie
dann vergessen, das Geld an die Kommunen weiterzugeben, sodass die Schuldfrage, wenn überhaupt, zwischen
uns beiden gemeinsam zu klären ist.
({1})
Ich finde, dass es zur Ehrlichkeit gehört - viele Redner in dieser Debatte sind ja aus dem Finanzbereich -, zu
sagen, wie sicher die Gewerbesteuer ist. Sie ignorieren
immer noch, dass die Gewerbesteuer nicht nur konjunkturabhängig ist, sondern auch große Risiken aufgrund
veränderter Rechtsprechung birgt. Sie ignorieren, dass
sich bei den Körperschaften zwischenzeitlich ein Verlustvortragspotenzial von über 506 Milliarden Euro
aufgebaut hat und dass diese Verlustvorträge zu Steuerausfällen von 140 Milliarden Euro führen könnten. Die
bestehenden Verlustvorträge entsprechen dem 3,6-Fachen des Jahresaufkommens von Körperschaftsteuer und
Gewerbesteuer gemeinsam. Diese Thematik hat aufgrund des BFH-Beschlusses vom August 2010 an Brisanz gewonnen. Der BFH hat bezüglich der Regelung
zur Mindestbesteuerung gesagt, dass sie in Sonderfällen eventuell nicht rechtens ist und die Verluste geltend
gemacht werden dürfen.
Auch die Abschirmwirkung der Gewerbesteuer,
die die Kommunen bisher als Garant für die Kontinuität
der Steuereinnahmen gesehen haben, gilt nicht mehr,
weil die Rechtsprechung des EuGH auch hier zu Veränderungen führt.
Sie aber erzählen den Kommunen: Wir behalten die
Gewerbesteuer bei, dann wird alles gut, dann ist eure Finanzsituation gesichert. Das verstehen wir nicht unter
klaren Perspektiven für Kommunen.
({2})
Wir sind froh, dass das Finanzministerium Vorsorge trifft
und überlegt, wie man diese Risiken, die gegebenenfalls
auf uns und insbesondere auf die Kommunen zukommen, auffangen kann und wie man schon heute Entscheidungen treffen kann, um die Kommunen in die Lage zu
versetzen, besser planen zu können.
Was haben wir bisher gemacht? Diese Frage, die Sie
gestellt haben, ist berechtigt. Kollege Götz hat sehr beeindruckend dargestellt, was wir in den vergangenen
Jahren für die Kommunen getan haben.
({3})
Ich kann die Liste der Gesetze, bei denen wir ausdrücklich auf die möglichen Auswirkungen auf die Kommunen geachtet haben, fortführen: Konjunkturprogramme,
CO2-Programme. Ja, diese wurden in der Großen Koalition beschlossen. Sie werden ja nicht verhehlen, dass wir
dabei waren und federführend mit an den Konjunkturprogrammen gearbeitet haben.
Ich kann gerne auch Beispiele aus dieser Legislaturperiode nennen. Wir werden morgen über das Bildungspaket abstimmen. Das Bildungspaket entlastet die Kommunen bei den Kosten für Kita- und Schulmittagessen
für bedürftige Kinder. Das kostet den Bund 120 Millionen Euro.
({4})
Die Kommunen werden entlastet, indem wir 500 Millionen Euro für außerschulische Bildung zur Verfügung
stellen. Die Kommunen werden entlastet, indem wir die
Fahrtkosten von bedürftigen Schülerinnen und Schülern
an weiterführenden Schulen übernehmen.
({5})
Natürlich kommen wir als Bund auch für die entsprechenden Verwaltungskosten auf.
Herr Götz hat Ihnen die Energieprogramme dargestellt. Es gibt auch hier kein einziges Programm, bei dem
die Kommunen nicht besonders gefördert werden.
Für Sprachförderung stellen wir 400 Millionen Euro
zur Verfügung.
Hinsichtlich der Steuervereinfachungsgesetze - diese
stehen ja noch an - haben wir schon gesagt, dass die
Kommunen an deren Finanzierung nicht beteiligt werden.
Was tun Sie von den Sozialdemokraten und den Linken? Sie diskutieren morgen mit uns über die Regelsätze
bei Hartz IV. Ihnen sind die 5 Euro Regelsatzerhöhung
zu wenig.
({6})
Ich habe von Ihnen noch kein Wort dazu gehört - auch in
Ihren Änderungsanträgen steht dazu nichts -, dass diese
Regelsatzerhöhung selbstverständlich Auswirkungen
auf die Kommunen hat, weil sie automatisch auch Folgewirkungen auf SGB XII hat. 5 Euro Regelsatzerhöhung
bedeutet 143 Millionen Euro Kosten für die Kommunen.
Dazu haben Sie keinen Gegenfinanzierungsvorschlag
gemacht;
({7})
fordern aber hier eine weitergehende Regelsatzerhöhung
ständig ein.
({8})
Sie sehen, dass die bundespolitischen Maßnahmen
massiv an Qualität gewonnen haben, seitdem wir an der
Regierung sind. Es gibt kein Gesetz, bei dem die Auswirkungen auf die Kommunen nicht betrachtet werden,
({9})
natürlich unter dem Aspekt, dass Bund, Länder und
Kommunen massive finanzielle Schwierigkeiten haben.
Im Gegensatz zu einigen anderen im Haus, die der
Schuldenbremse nicht zugestimmt haben, finde ich nach
wie vor, dass das die beste Errungenschaft der letzten
Legislaturperiode war. Wir stehen dazu.
({10})
Man muss natürlich alle drei Ebenen gleichzeitig betrachten.
Frau Kollegin Haßelmann, Sie weisen zu Recht darauf
hin, dass Vergangenheitsbewältigung schwierig ist, wenn
etwas schon sieben Jahre her ist. Die Kommunen leiden
aber tatsächlich immer noch unter den Kosten der
Grundsicherung. Das ist einer der Bereiche, in dem die
Kosten außerordentlich stark steigen. Deshalb finde ich
den Vorschlag des Bundesfinanzministers, die Kommunen an dieser Stelle gegebenenfalls zu entlasten, richtig.
Wir werden hier Reparaturen an Problemen durchführen,
die Sie verursacht haben. Wir werden Spielräume schaffen. Wir glauben, dass solche Spielräume nützlicher sind
als irgendwelche Sonderprogramme für die Kommunen.
Wir trauen den Kolleginnen und Kollegen auf kommunaler Ebene zu, verantwortlich eigene Entscheidungen zu treffen.
({11})
Wir werden durch die Gesetzesänderungen bei SGB II
und SGB XII ein Satzungsrecht beschließen, demzufolge Kreise und Kommunen demnächst die Höhe der
Kosten für Unterkunft und Heizung in ihren Gebieten
angemessen selbst bestimmen dürfen und demzufolge
Kommunen demnächst auch Pauschalen für die Kosten
von Unterkunft und Heizung einführen dürfen. Liebe
Kollegin Haßelmann, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen, Ihren im Ausschuss eingebrachten Änderungsantrag kann ich daher eigentlich nur als Misstrauensvotum gegenüber Stadträten sehen.
({12})
Die Grünen fordern in ihrem Antrag, diese Regelung zu
streichen. In Ihrem Antrag heißt es:
Die Regelungen zur Bestimmung der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung durch Satzung führen zu sozialpolitisch unerwünschten Folgen. Die Folge wäre eine verstärkte Segregation
und die Zunahme sozialer Brennpunkte.
Liebe Kollegen, was haben Sie für ein Verständnis von
Kommunalpolitik? Sind wir in Berlin die Einzigen, die
vernünftig, sachlich und sozial gerecht entscheiden?
Wird es sofort eine Zunahme sozialer Brennpunkte geben, bloß weil wir den Stadträten erlauben, über ihre
Stadt selber zu entscheiden? Das ist nicht unsere Auffassung.
({13})
Wir glauben, dass auf kommunaler Ebene sehr verantwortungsbewusst und sehr vernünftig entschieden wird.
({14})
Das Gleiche gilt beim Thema Hebesätze. Die Kommunen und die kommunalen Spitzenverbände halten das
Hebesatzrecht bei der Gewerbesteuer und der Grundsteuer zu Recht hoch. Unterschiedliche Lebensverhältnisse gibt es schon heute; der Geringverdiener in einer
Großstadt wird durch die Grundsteuer natürlich mehr belastet als der Geringverdiener in einer kleineren Stadt.
Das Hebesatzrecht ist Ausdruck der kommunalen Selbstverwaltung. Wenn es bei der Gewerbesteuer und bei der
Grundsteuer gerecht ist, warum soll es dann bei der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer Gift sein?
({15})
Das Problem liegt doch eher bei den Ländern; das sagen die Vertreter der kommunalen Spitzenverbände sehr
deutlich. Die kommunalen Spitzenverbände haben die
Sorge, dass das Hebesatzrecht von den Ländern sofort
genutzt wird, um Kommunen zu zwingen, eine Steuer zu
erheben.
({16})
Das werden wir durch ein Bundesgesetz ausschließen,
sollten wir uns tatsächlich auf dieses Hebesatzrecht verständigen. Das ist für uns wiederum ein Ausdruck des Bemühens, die Verantwortung auf die Ebene zu heben, wo
sie hingehört. Die Verantwortung für die Kommunen gehört nicht nach Berlin, sondern in die Stadträte. Wir vertrauen unseren Vertreterinnen und Vertretern dort sehr.
({17})
Sie fordern in Ihrem zweiten Antrag schließlich, dass
bundesgesetzliche Regelungen hinsichtlich ihrer Finanzierung bzw. ihrer Kosten künftig einer Stellungnahme
durch die Kommunen zu unterziehen sind. Das ist ein
guter Vorschlag. Die Gemeindefinanzkommission hat
ihn aber schon längst gemacht; und ich schätze auch die
Vorschläge, die von dort kommen, sehr. Ich finde es
nämlich richtig, dass wir demnächst, wenn wir über
Bundesgesetze sprechen, auch die Auswirkungen auf die
Kommunen, die die Kommunen in einer Stellungnahme
zum Ausdruck bringen können, beraten. Es darf nicht
nur um den Gesetzestext, der vom Finanzministerium
sowieso vorgelegt wird, gehen, sondern die kommunalen
Spitzenverbände sollten ruhig eine Stellungnahme abge8534
ben dürfen. Wir glauben, dass wir bei Bundesgesetzen
dann noch mehr auf die Kommunen achten könnten.
Aber ich wiederhole: Das wäre eigentlich Aufgabe der
Länder, die das offensichtlich aber nicht vernünftig machen, sodass wir diese Verantwortung gerne übernehmen.
Liebe Kollegen, wir wollen klare Perspektiven für die
Kommunen: mehr Planungssicherheit, mehr Eigenverantwortung, mehr Handlungsspielraum. Das scheint für
Sie ein Experiment zu sein, das Sie sich nicht zutrauen.
Wir trauen uns das zu.
({18})
Wir glauben, dass die Stadträte in den Kommunen vor
Ort richtige, sozial verantwortliche und vernünftige Entscheidungen treffen können.
Danke schön.
({19})
Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin dem Finanzminister des Landes RheinlandPfalz, Carsten Kühl, sehr dankbar, dass er hier deutlich
gemacht hat, dass Bund und Länder in der Verantwortung stehen. Ich darf sagen: Rheinland-Pfalz ist, was die
Verantwortung für die Kommunen angeht, vorbildlich.
({0})
Ich darf auf den Fonds zur Stabilisierung der kommunalen Finanzen hinweisen. Er hat Vorbildcharakter. Daran
sollten Sie sich ein Beispiel nehmen.
({1})
- Jetzt sage ich etwas zur Grunderwerbsteuer, Herr
Götz, und komme damit zu Ihnen: Sie haben darauf hingewiesen, in Baden-Württemberg gebe es andere Zuständigkeiten als in Rheinland-Pfalz. Das interessiert die
Kommunen eigentlich überhaupt nicht. Für die Kommunen ist wichtig, was bei ihnen ankommt. Dafür sind die
Länder zuständig. Die Länder sind für die Verteilung der
Steuermasse zuständig, und da verhalten sich RheinlandPfalz und andere SPD-regierte Länder vorbildlich.
Herr Kollegen Scheelen, möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Nein, bitte nicht.
Keine Zwischenfragen, okay.
Nächster Punkt: Kosten der Unterkunft. Herr Götz,
den Unsinn, den Sie hier verbreiten, muss man ein für
alle Mal ausrotten. Sie verbreiten die Lüge, im Gesetz
habe es im Hinblick auf die Kosten der Unterkunft eine
Nullsumme gegeben. Das ist und bleibt eine Lüge.
({0})
In dem Gesetz, das am 1. Januar 2005 in Kraft trat - damals war von Angela Merkel als Bundeskanzlerin überhaupt noch nicht die Rede -, haben wir eine Summe von
über 4 Milliarden Euro festgelegt, wobei die Kommunen
um 2,5 Milliarden Euro entlastet wurden. Die Null, die
Sie ansprechen, war ein Platzhalter im Gesetz, der aufgrund der Tatsache, dass Sie diese Entscheidung im
Bundesrat verhindert haben, weil Ihnen das alles zu viel
war, notwendig war.
({1})
Jetzt zum Thema. Im Jahre 2008 erzielten die circa
12 500 Städte und Gemeinden in Deutschland Einnahmen von 183 Milliarden Euro, ihre Ausgaben betrugen
175 Milliarden Euro. Das heißt, sie hatten einen Finanzierungsüberschuss von 8 Milliarden Euro im Schnitt.
Wir wissen, dass es Kommunen gab, denen es gut ging,
und Kommunen, denen es schlecht ging. Sie wissen, wie
das mit dem Durchschnitt ist. Wenn Sie mit einem Bein
auf der Herdplatte stehen und mit dem anderen im Eiskübel, haben Sie im Schnitt eine angenehme Temperatur.
Trotzdem haben Sie hinterher ein verbranntes und ein
unterkühltes Bein.
Im Jahr 2010 sieht das aber anders aus. Bei 180 Milliarden Euro Ausgaben gab es nur noch 168 Milliarden
Euro Einnahmen. Das heißt, da ist jetzt plötzlich eine
Lücke von 12 Milliarden Euro. Im Vergleich zu 2008
fehlen 20 Milliarden Euro. Diese Lücke ist groß, und da
müssen wir als Bund handeln und helfen.
({2})
Diese Lücke ist krisenbedingt, aber sie ist auch durch
Schwarz-Gelb bedingt. Durch Ihre Gesetze, die Sie in
dem einen Jahr, in dem Sie regieren, gemacht haben - die
Kollegin Haßelmann hat darauf hingewiesen; ich will
das nicht im Einzelnen ausführen -, haben Sie die Kommunen schon um 3 Milliarden Euro zusätzlich belastet.
Das machen wir auf Dauer nicht mit.
({3})
Deswegen haben wir den Antrag eingereicht, einen
Rettungsschirm für die Kommunen zu spannen. Denn
Kommunen sind genau wie Banken, genau wie Unternehmen, genau wie Arbeitsplätze systemrelevant. All
das ist systemrelevant. In der Kommune erfahren die
Bürger Politik, dort nehmen sie wahr, welche Folgen
Politik hat, und deswegen muss man den Kommunen
helfen.
Wir haben in dem Antrag kurzfristige Maßnahmen
vorgeschlagen:
400 Millionen Euro zusätzlich für Kosten der Unterkunft; den Kommunen soll also der Betrag wiedergegeben werden, den Sie ihnen voriges Jahres weggenommen haben. Diesen Antrag haben wir letzte Woche im
Haushaltsausschuss eingebracht. Den Antrag haben Sie
abgelehnt. Da haben Sie Ihre Kommunalfreundlichkeit
bewiesen, Herr Götz.
Dann haben wir gefordert, die Belastungen, die Sie
durch Ihre Gesetze geschaffen haben, auszugleichen.
Auch dazu haben wir von Ihnen bisher nichts gehört
({4})
außer Ihrer Aussage, in der Kommission müsse man mal
über die Gewerbesteuer reden.
Von der Abschaffung der Gewerbesteuer soll ja das
Heil kommen. Das ist für die Städte und Gemeinden die
wichtigste Steuer mit einem Aufkommen von 41 Milliarden Euro im Jahr 2008.
({5})
- Ja, zu Ihnen komme ich gleich, Herr Dr. Wissing. Machen Sie sich ruhig schon mal parat.
({6})
Sie wollen den Kommunen die Gewerbesteuer wegnehmen. Die Gewerbesteuer - das muss man für die Zuhörerinnen und Zuhörer vielleicht einmal erläutern - ist eine
Steuer, die nur von den Unternehmen gezahlt wird, und
zwar von denen, die das auch können,
({7})
weil sie auf den Gewinn erhoben wird, und zum Gewinn
werden tatsächlich bestimmte Dinge noch hinzugerechnet. Sie haben gesagt, dabei handele es sich um Ausgaben. Das sind keine Ausgaben, sondern es sind in der
Regel umgewandelte Gewinne. Es ist für Unternehmen,
gerade für international tätige, überhaupt kein Problem,
({8})
Gewinne in Mieten, in Pachten, in Leasingraten zu verwandeln. Diese Hinzurechnung haben wir gemeinsam in
der Großen Koalition - damals war die CDU/CSU ja
noch auf dem richtigen Weg - beschlossen. Das wollen
Sie jetzt zurückdrehen.
({9})
An die Stelle der Gewerbesteuer wollen Sie drei Säulen setzen: Sie wollen die Einkommensteuer- und Lohnsteuerzahler belasten, Sie wollen die Verbraucher belasten, und dann wollen Sie noch ein bisschen die
Unternehmen bei der Körperschaftsteuer belasten. Die
Körperschaftsteuer ist aber oft bei null; da sollte man
sich einmal fragen, welcher Hebesatz auf null denn irgendetwas bringt.
Sie haben zwei Argumente gegen die Gewerbesteuer;
mit denen will ich mich noch kurz auseinandersetzen.
Sie sagen, die Gewerbesteuer hat Aufkommensschwankungen, und Sie sagen, die Gewerbesteuer wirkt krisenverschärfend. Das sind ja Ihre beiden Hauptargumente.
({10})
- Ich werde Ihnen gleich einmal ein paar Grafiken zeigen.
Erstes Argument: Wenn die Gewerbesteuer krisenverschärfend wirkte - wir haben ja nun eine Krise mit
einem Einbruch des Wachstums um 4,7 Prozent -, dann
müsste die Anzahl der Insolvenzen ja dramatisch nach
oben gegangen sein, dann müsste 2009 in etwa Folgendes passiert sein,
({11})
dass nämlich wie hier auf der Grafik die Zahl der Insolvenzen doppelt so hoch liegt. Das ist aber nur ein Fake,
denn tatsächlich ist die Zahl der Insolvenzen gleichgeblieben.
({12})
Im Jahr 2009, im stärksten Krisenjahr, gab es sogar weniger Insolvenzen als 2006, als 2005, als 2004.
({13})
Das Argument zieht also nicht.
Zweites Argument: Aufkommensschwankungen.
Natürlich schwankt das Aufkommen aus der Gewerbesteuer. Allerdings hat der Deutsche Städtetag eine
schöne Broschüre mit dem Titel „Die Gewerbesteuer eine gute Gemeindesteuer“ herausgegeben; die sollten
Sie mal lesen.
({14})
Es sieht nämlich folgendermaßen aus:
({15})
Die Gewerbesteuer schwankt mit einer Amplitude von
knapp 30 Prozent - das ist richtig -, aber sie entwickelt
sich dynamisch; sie wächst nämlich jedes Jahr um
4,7 Prozent. Das macht keine andere Steuer. Alle anderen Steuern wachsen nur um etwa 1,2 Prozent und haben
dabei genau die gleiche Schwankungsgröße. Insoweit ist
auch dieses zweite Argument von Ihnen entkräftet.
Jetzt bleibt Ihnen nichts anderes mehr übrig, als ein
Loblied auf die Gewerbesteuer zu singen. Darauf warten
wir jetzt. Die Gewerbesteuer ist vor kurzem 200 Jahre alt
geworden. Viele wollten sie abschaffen. Ich gebe Ihnen
die Prognose: Sie werden das nicht schaffen. Die Gewerbesteuer wird auch die nächsten 200 Jahre überdauern.
Vielen Dank.
({16})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Bernhard Kaster das Wort.
Vielen Dank. - Herr Kollege Scheelen, Sie haben in
Ihrer Rede einleitend auf die Mustersituation im Land
Rheinland-Pfalz hingewiesen. Aus Fürsorge auch in Bezug auf weitere Redebeiträge von Ihnen möchte ich Sie
damit konfrontieren, dass Rheinland-Pfalz bei einem
Vergleich der westlichen Flächenländer - so schreibt
dies der Rechnungshof Rheinland-Pfalz - im Jahre 2009
die absolute Spitze beim Defizitsaldo darstellte.
({0})
Im gleichen Bericht des Rechnungshofes RheinlandPfalz für das Jahr 2010 ist ausgeführt:
Die finanzielle Lage der rheinland-pfälzischen
Kommunen ist desolat: …
In einem folgenden Spiegelstrich heißt es dazu:
Auch in Jahren, in denen die Kommunen der meisten übrigen westlichen Flächenländer Überschüsse
erzielten, wies die Kassenstatistik für die rheinlandpfälzischen Gemeinden und Gemeindeverbände
Defizite aus.
Die Frage ist, ob das nicht auch etwas mit Landespolitik zu tun haben könnte. Ich weiß jetzt nicht, ob Sie die
Finanzierungsmodelle, die es in Rheinland-Pfalz gibt
und die sehr ungewöhnlich sind, wie beispielsweise das
vom Nürburgring, in dieser Form auch den Kommunen
empfehlen würden.
({1})
Herr Kollege Scheelen, zur Erwiderung.
Herr Kollege, Sie können sich sicherlich daran erinnern, dass ich darauf hingewiesen habe, dass RheinlandPfalz einen Stabilisierungsfonds für die Finanzen der
Kommunen eingerichtet hat.
({0})
Das ist vorbildlich, weil es den Kommunen in Rheinland-Pfalz natürlich nicht deutlich besser geht als den
Kommunen im Rest der Republik.
({1})
Es gibt einige SPD-regierte Länder, die solche Fonds haben. Das letzte Land, das einen solchen eingerichtet hat,
ist Nordrhein-Westfalen.
Ich halte fest: Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz,
Nordrhein-Westfalen - überall dort wird vorbildliche
Landespolitik im Interesse der Kommunen gemacht.
Herzlichen Dank.
({2})
Jetzt hat die Kollegin Birgit Reinemund für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle
Jahre wieder, nein, jede Woche wieder debattieren wir
hier im Bundestag auf Betreiben der SPD-Fraktion über
das Thema Gemeindefinanzen.
({0})
In der letzten Sitzungswoche geschah dies in einer Aktuellen Stunde, heute debattieren wir über zwei Anträge
gleichen Inhalts.
Das ist das gute Recht der Opposition, doch wo bleiben Ihre zusätzlichen Aspekte? - Neue Ideen? Fehlanzeige!
({1})
Neue Lösungsansätze? Heute waren keine zu hören.
Ständige Wiederholungen bringen uns nicht weiter.
({2})
Schon Goethe wusste: „Getretener Quark wird breit nicht stark“.
({3})
Seit der letzten Debatte hat sich an der Faktenlage
nichts geändert. Die Regierungskommission hat die Aufgabe, einen nachhaltigen Vorschlag zu erarbeiten,
({4})
um die Finanzierung der Kommunen auf eine verlässlichere Basis zu stellen. Das beinhaltet sowohl die strukturelle Verbesserung der Einnahmesituation als auch die
Entlastung auf der Ausgabenseite. Diese Regierungskommission besteht aus Regierungsmitgliedern, Mitgliedern der Landesregierungen und Vertretern der kommunalen Spitzenverbände. Das ist übrigens die erste
Regierungskommission, bei der die Vertreter der kommunalen Spitzenverbände gleichrangig mit am Tisch sitzen. Das haben Sie damals, 2003, nicht geschafft.
({5})
Auf die Ergebnisse der Kommission warten wir länger als gedacht; das ist richtig. Wir erwarten diese genauso ungeduldig wie Sie. Auf Basis dieser Ergebnisse
wollen wir diskutieren. Sie veranstalten hier immer wieder den gleichen Schlagabtausch mit allseits bekannten
Positionen.
Seit der Wiedervereinigung haben die deutschen
Kommunen gemäß der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung einen Überschuss von 6,6 Milliarden Euro erwirtschaftet. Im gleichen Zeitraum machte der Bund ein
Defizit von fast 1 Billion Euro. Dennoch haben die
Kommunen aktuell ohne Zweifel an einer Notlage zu leiden. Der Deutsche Städtetag spricht von einem Haushaltsdefizit von 11 bis 12 Milliarden Euro im Jahr 2010.
({6})
Unabhängig von jeder Krise sind die Einnahmen der
Kommunen im Schnitt um 1,5 Prozent gestiegen, die
Ausgaben dagegen um 4 Prozent. Das ist doch eindeutig
ein strukturelles Defizit, das wir mit strukturellen Lösungsansätzen beheben müssen.
({7})
In der Krise zeigt sich die seit Jahrzehnten bekannte
Problematik der Gewerbesteuer drastisch: ihre generelle Schwankungsanfälligkeit um bis zu 50 Prozent, abhängig von der Konjunktur - das hat sogar Herr
Scheelen bestätigt -,
({8})
ihre ungleiche Verteilung zwischen den Kommunen,
ohne dass ein direkter Bezug zwischen dem Steueraufkommen und der Leistung der Kommune besteht, und
die Abhängigkeit vieler Kommunen von einzelnen großen Gewerbesteuerzahlen, wie SAP in Walldorf, BASF
in Ludwigshafen, Audi in Ingolstadt usw.
Einen Punkt haben Sie bisher in jeder Debatte ignoriert - Frau Tillmann hat es ausführlich ausgeführt -: die
aktuelle Rechtsprechung des EuGH und das Urteil des
Bundesfinanzhofes, infolge derer bzw. dessen
({9})
der Gemeindesteuer ein massiver Einbruch durch erweiterte Verlustverrechnungen drohen kann.
Was schreibt denn nun die SPD in ihren Anträgen? Ich zitiere:
Der Bund hat in der Zeit sozialdemokratischer Regierungsverantwortung wichtige Maßnahmen zur
Verbesserung der kommunalen Finanzlage ergriffen …
({10})
Ich frage die Kolleginnen und Kollegen der SPDFraktion: Ist das wirklich Ihr Ernst? Wie scheinheilig ist
das denn!
({11})
Die Kommunen sind doch gerade deshalb in ihrer fatalen
Lage, weil der Bund ihnen immer mehr Aufgaben aufgebürdet hat, ohne ihnen gleichzeitig die finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen.
({12})
Daran leiden die Kommunen aktuell. Das geschah vor
allem unter sozialdemokratischer Regierungsverantwortung. Es war Ihr Minister Clement, der im Jahre 2005
den Anteil des Bundes bei den Kosten der Unterkunft
auf null setzen wollte. Dass dies ein Platzhalter war,
Herr Scheelen, ist das einzig Neue, was ich heute gehört
habe.
({13})
Heute dagegen streiten wir hier darum, ob die derzeitige
Kostenübernahme in der Höhe ausreichend ist; das ist
eine ganz andere Qualität, Herr Scheelen.
({14})
Wenn Ihre gebetsmühlenartigen Forderungen nach
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer erfüllt würden, würde das zu nichts anderem als
zu einer weiteren Substanzbesteuerung der Unternehmen
führen.
({15})
Gerade in der Krise hat sich gezeigt, wie krisenverschärfend dies ist. Das gefährdet Unternehmen und Arbeitsplätze. Jede Firmeninsolvenz ist ein Gewebesteuerzahler
weniger und bedeutet zig Arbeitslose mehr. Das ist Politik zulasten der Arbeitnehmer und zulasten der Kommunen.
({16})
Auch die Einbeziehung der freien Berufe ist ein immer wieder gerne vorgebrachtes Placebo. Denn es bedeutet viel Bürokratie für wenig Ertrag, und größtenteils
bringt es lediglich eine Verlagerung der Einnahmen von
Bund und Land auf die Kommune. Das freut natürlich
die Kommunen, ist jedoch nicht im Sinne der Sache.
Was tun wir für die Kommunen,
({17})
und zwar bereits vor jeder Gemeindefinanzreform? Wir haben die Städtebauförderung über dem Stand von
2008 weitergeführt.
({18})
Wir haben die energetische Gebäudesanierung auf hohem Niveau weitergeführt. Wir haben ein Bildungspaket
für bedürftige Kinder in Höhe von fast 1 Milliarde Euro
verabschiedet, das zum Großteil den Kommunen zugutekommt.
Die größte Unterstützung für die Kommunen ist unsere solide Finanz- und Wirtschaftspolitik,
({19})
angefangen mit einer Steuerentlastung für Bürger und
Unternehmen
({20})
von über 22 Milliarden Euro zum 1. Januar 2010 mit
dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz.
({21})
Nicht umsonst haben wir 2010 zusätzlich zum Export
erstmals wieder einen steigenden Binnenkonsum und ein
steigendes Investitionsvolumen in Deutschland. Nicht
umsonst haben wir ein geschätztes Wirtschaftswachstum
von 3,7 Prozent in diesem Jahr und von 2,2 Prozent im
nächsten Jahr.
Frau Kollegin Reinemund, Ihre Zeit ist seit einer gewissen Weile abgelaufen.
({0})
Nur die Redezeit, hoffe ich doch.
Ja. - Bitte schön.
Unser Ziel ist und bleibt eine nachhaltige strukturelle
Verbesserung der kommunalen Finanzen.
Klare Perspektiven für Kommunen - ja, das wollen
wir. Wir wollen klare Perspektiven für die kommunale
Selbstverwaltung, aber keine Zuwendungen und Rettungsschirme.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Axel Troost von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
einem hat meine Vorrednerin völlig recht: Es geht um
ein strukturelles Defizit, und insofern sollten wir hier
nicht von „ein bisschen Konjunktur rauf“ und „ein bisschen Konjunktur runter“ reden. Vielmehr sollten wir
festhalten - und dabei finde ich es unwürdig, das eine
oder das andere zu machen -: Die rot-grünen Steuerreformen haben bei den Kommunen von 2000 bis 2009 zu
über 25 Milliarden Euro an Mindereinnahmen geführt,
und das eine Jahr unter Schwarz-Gelb hat 3,3 Milliarden
Euro an Mindereinahmen gebracht. Das ist so, und allein
das Wachstumsbeschleunigungsgesetz wird im nächsten
Jahr zu über 1,5 Milliarden Euro an Mindereinnahmen
bei den Kommunen führen.
Herr Kollege Götz, wer immer noch sagt, dass der
Aufschwung rein exportorientiert begründet sei und am
Wachstumsbeschleunigungsgesetz liege, der glaubt wohl
auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Das ist nach
wie vor Unsinn.
({0})
Aber - damit hat Frau Haßelmann völlig recht - die
Kommunen interessiert nicht die Vergangenheit; wir
müssen uns vielmehr mit dem Jetzt auseinandersetzen
und uns um Alternativen bemühen.
({1})
Ich möchte an den Einsetzungsbeschluss für die
Kommission erinnern, weil das gar nicht mehr zur Diskussion steht. In diesem Beschluss geht es um den aufkommensneutralen Ersatz der Gewerbesteuer durch irgendetwas anderes. Dazu heißt es:
Dabei hat die Kommission auf die Vermeidung von
Aufkommens- und Lastenverschiebungen insbesondere zwischen dem Bund auf der einen und Ländern und Kommunen auf der anderen Seite zu achten.
Wenn man das ernst nimmt, dann kommt für die Kommunen überhaupt nichts heraus. Selbst wenn man zusagt,
ihnen auf der Ausgabenseite etwas abzunehmen, dann
nimmt man ihnen das auf der Einnahmeseite wieder
weg. Insofern muss, wenn man das strukturelle Defizit
ernst nimmt, der Auftrag der Kommission verändert
werden. Es muss festgelegt werden, dass am Ende mehr
für die Kommunen herauskommt,
({2})
und zwar muss für sie das herauskommen, was Sie den
Kommunen in den letzten Jahren durch Steuersenkungen
genommen haben.
Zu der Debatte um die Gewerbesteuer wird immer
wieder gesagt, dass das ein alter Hut sei. Ich möchte auf
ein gemeinsames Gutachten der Deutschen Akademie
für Städtebau und Landesplanung und der Akademie für
Raumforschung und Landesplanung - das sind die renommiertesten Kommunal- und Regionalforscher der
Bundesrepublik - hinweisen, das im Herbst erstellt worden ist. Diese Wissenschaftler haben nichts mit Parteien
zu tun. Sie kommen zum Schluss ihrer sehr guten Analyse auf vier Seiten zu Empfehlungen, aus denen ich drei
Passagen zitieren will, und zwar zuerst, weil das sehr
wichtig ist, zu den Kassenkrediten. Dazu sagt das Gutachten:
Hierzu gehören auf der Einnahmeseite kommunale
Entschuldungsfonds in denjenigen Ländern, in denen Kommunen mit hohen Kassenkrediten eine
nennenswerte Rolle spielen.
Das ist sehr wichtig, weil viele Kommunen nicht mehr
aus dem Elend herauskommen.
Zum Thema unserer Debatte heißt es:
Die Gewerbesteuer ({3}) ist in drei
Richtungen fortzuentwickeln: Sie benötigt eine breitere, das heißt weniger von Gewinnschwankungen
abhängige und regional weniger streuende Bemessungsgrundlage. Weitere Steuerpflichtige ({4}) sind in die Besteuerung einzubeziehen. Langfristig sollten Möglichkeiten zum schrittweisen
Abbau der Gewerbesteuerumlage mit dem Ziel der
fiskalischen Entflechtung der Ebenen geprüft werden.
Ich weise darauf hin, dass die Ansicht, es sei angeblich
völlig klar, dass die Gewerbesteuer nicht tragfähig ist,
von den Wissenschaftlern nicht geteilt wird und sie die
Situation völlig anders einschätzen. Sie kommen zu genau demselben Ergebnis wie wir in der Opposition mit
unseren Anträgen.
({5})
Zwei Absätze weiter heißt es dann:
Der kommunale Anteil an der Einkommensteuer
({6}) ist beizubehalten. Für die Ablehnung eines Hebesatzrechtes hier spricht vor allem folgender Grund: Eine bedarfsorientierte Differenzierung der Hebesätze würde in den Städten zu
überdurchschnittlichen, im Umland zu unterdurchschnittlichen Hebesätzen führen und so die raumentwicklungspolitisch unerwünschte Stadt-Umland-Wanderung … befördern.
Das wird völlig zu Recht von den Wissenschaftlern festgestellt.
Insofern kann ich nur sagen: Was Sie machen, widerspricht allen Erkenntnissen der Wissenschaft, und es entspricht nicht den Forderungen der Kommunen. Es entspricht
allenfalls den Forderungen einiger Umlandgemeinden.
Deswegen müssen wir hier weiterkommen. Es kann aber
nicht allein darum gehen, nur einen aufkommensneutralen
Ersatz zu schaffen. Notwendig ist vielmehr eine Weiterentwicklung der Gewerbesteuer, die zu Mehreinnahmen der
Kommunen führt, damit diese wieder handlungsfähig
werden.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat der Kollege Peter Aumer von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wieder einmal dürfen wir über einen Antrag der SPD zu
den Kommunalfinanzen debattieren.
({0})
- Sie werden sich gleich freuen.
({1})
Ihr Antrag trägt den Titel „Klare Perspektiven für Kommunen - Gewerbesteuer stärken“. Wo war die klare Perspektive der SPD? Ich habe in der ganzen Debatte nichts
von einer Perspektive gehört.
({2})
Die Forderungen Ihres Antrags werden in der Gemeindefinanzkommission schon längst bearbeitet.
Die Bundeskanzlerin, der Bundesfinanzminister, der
bayerische Ministerpräsident und die CSU haben immer
gesagt, dass wir ohne die Kommunen keine Entscheidung über die Gewerbesteuer treffen. Dieser Punkt, den
Sie von der SPD und auch Sie, Frau Haßelmann, immer
ansprechen, hat sich also erledigt. Die Zusage des Bundesfinanzministers, einnahme- und ausgabenseitig etwas
zu ändern, entspricht dem, was Sie in Ihrem Antrag fordern. Außerdem wird das Kommunalmodell in der Gemeindefinanzkommission bereits diskutiert und bearbeitet.
Deshalb frage ich mich, weshalb Herr Staatsminister
Dr. Kühl vorhin gesagt hat, die Gemeindefinanzkommission sei ein Witz, obwohl er selbst Mitglied darin ist.
Herr Staatsminister, Sie kennen wahrscheinlich den Antrag Ihrer Genossen aus dem Bundestag nicht. Bei der
SPD weiß offensichtlich die Linke nicht, was die Rechte
tut, und das Land weiß nicht, was der Bund tut. Zudem
verabschiedet sich der Herr Staatsminister auch noch in
eine Pause, während wir über die Zukunft diskutieren.
Das sollte man auch einmal ansprechen.
({3})
Herr Kollege Aumer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Haßelmann?
Nein, keine Zwischenfrage.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD,
Perspektiven zielen auf die Zukunft. Sie haben die Zukunft aber doch schon längst aus dem Blick verloren. Es
geht nicht um ein bisschen „Rauf und Runter“; damit haben Sie vollkommen recht, Herr Troost. Wir arbeiten für
eine klare Struktur der Kommunalfinanzen. Deswegen
nehmen wir uns in der Debatte Zeit, und zwar die Zeit,
die Sie uns nicht lassen wollen. Man braucht aber Zeit,
um ganz konkret über Themen zu diskutieren und um
das Band zwischen Ländern und Kommunen neu auszurichten.
({0})
Wir, die christlich-liberale Koalition, arbeiten an unserem Wählerauftrag für die Zukunft unseres Landes.
Zur Zukunft gehört Verlässlichkeit, die Sie von der SPD
bei Stuttgart 21 und bei der Rente mit 67 vermissen lassen. Das ist keine verlässliche Politik.
({1})
Die Bundeskanzlerin hat in Ihrer Haushaltsrede die
tragenden Säulen unserer Politik angesprochen:
Wir sind erstens für eine starke Wirtschaft, zweitens
für einen starken Staat und drittens für ein starkes
Gemeinwesen.
Um genau diese drei Punkte kümmert sich die Gemeindefinanzkommission. Damit soll erreicht werden, dass
das Band zwischen Wirtschaft und Kommunen eine
tragfähige Zukunft hat.
Das Gemeinwesen, das in einem noch stärkeren Wettbewerb um die besten Entscheidungen steht, muss sich
auf neue Gegebenheiten einstellen. Darüber hinaus müssen in Zukunft die Menschen noch stärker an der politischen Diskussion beteiligt werden. Genau daran arbeiten
wir als christlich-liberale Koalition. Lassen Sie uns konstruktiv zum Wohle unserer Kommunen, zum Wohle unseres Gemeinwesens und zum Wohle unseres Staates arbeiten. Frau Haßelmann, wo sind denn Ihre Vorschläge?
({2})
Die Gemeindefinanzkommission hat angekündigt, im
Januar werde das Ergebnis bekannt gegeben. Dann können wir im Parlament darüber diskutieren.
({3})
- Oder im Februar. Über einen Monat später oder früher
sollten wir uns nicht streiten. Ich weiß aber schon, was
die Grünen sagen werden. Sie werden sagen: Wir sind
dagegen.
({4})
Denn in den vergangenen Wochen und Monaten war es
immer so, dass wir für die Zukunft arbeiten und Sie dagegen sind.
({5})
Wir sind im Großen wie im Kleinen ein verlässlicher
Partner für die Kommunen. Der Bundesverkehrsminister, den die CSU stellt, Peter Ramsauer, hat zum Beispiel
eine Regelung für den Feuerwehrführerschein auf den
Weg gebracht. Das hat die SPD mit ihrem Bundesverkehrsminister nie geschafft. Letztlich ist es bei Ihnen nur
zu einer kleinen Regelung gekommen, die aber nicht
weitergeholfen hat.
Wir kümmern uns jedoch um die Belange der Kommunen. Sprechen Sie auch das einmal an. Wir sind ein
verlässlicher Partner im Schulterschluss mit unseren Gemeinden. Dafür arbeiten wir. Deshalb gibt es die Gemeindefinanzkommission. Wir lassen uns von Ihnen
nicht drängen und lassen uns von Ihnen auch nicht in die
falsche Ecke stellen.
({6})
Sie sind kein verlässlicher Partner - Herr Troost, Ihr
Brummen hilft auch nicht weiter -; denn Ihr Vorschlag
ist kein Vorschlag für die Zukunft.
({7})
- In der Politik muss man aber unterscheiden zwischen
dem, was pragmatisch umzusetzen ist, und dem, was
wissenschaftlich machbar ist. Wir arbeiten für eine pragmatische und für eine verlässliche Politik, die Zukunft
schafft und die neue Perspektiven eröffnet.
Die SPD konnte das mit ihrem Antrag heute nicht erreichen. Machen Sie konstruktive Vorschläge! Machen
Sie Vorschläge, die auf die Zukunft ausgerichtet sind, die
man mit Zahlen untermauern kann und die eine verlässliche Politik für unsere Gemeinden hinsichtlich der Finanzen bedeuten.
Der Herr Staatsminister hat im Übrigen nicht gesagt,
wie er sein Land voranbringen möchte. Herr Kaster hat
vorhin aufgezeigt, dass es eine gemeinsame Politik geben muss, eine gemeinsame Politik von Bund, Ländern
und Kommunen. Ich glaube, nur in einem verlässlichen
Miteinander können wir zukunftsfähige Politik gestalten. Deswegen bitte ich Sie und fordere Sie auf: Lassen
Sie uns nicht in Phrasen diskutieren, sondern lassen Sie
uns an der Zukunft arbeiten! Machen Sie substanzielle
Vorschläge! Lassen Sie die Gemeindefinanzkommission
zum Ende ihrer Beratungen kommen! Wir werden auf
der Grundlage der Ergebnisse dieser Kommission und
im Einklang mit den Kommunen eine gute Zukunft gestalten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Carsten Sieling von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte zeigt, wie gemeingefährlich diese schwarzgelbe Koalition für die Menschen und die Kommunen ist.
({0})
Sie haben hier in aberwitziger Weise darüber gejammert,
dass die Einnahmen aus der Gewerbesteuer Schwankungen aufweisen; das ist in der Tat so. Sie haben aber keine
Vorschläge gemacht, aus denen hervorgeht, wie diese
Einnahmen zu stabilisieren sind. Vielmehr machen Sie
Vorschläge, die zum Ziel haben, sie weiter zu schwächen
und zu unterlaufen. Damit machen Sie die Kommunen
kaputt.
({1})
Ich bin sehr froh, dass meine Fraktion den vorliegenden Antrag eingebracht hat, in dem wir uns ausdrücklich
hinter das sogenannte Kommunalmodell stellen. Das
heißt, wir haben kein Verständnis dafür, dass die Gewerbesteuer in der jetzigen Form - so bewährt sie auch ist den Handwerker belastet, während sein Steuerberater
und sein Rechtsanwalt von dieser Steuer befreit sind.
Das geht nicht. Das ist eine ungerechte Steuer.
({2})
Man muss die Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer erweitern; das ist ein Vorschlag. Dafür hätten Sie
sich einsetzen sollen. So käme man zu einem vernünftigen Kompromiss in der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen. Aber Sie jagen diese Kommission - ich
will ausdrücklich wiederholen, was Herr Minister Kühl
hier sehr deutlich gemacht hat - von links nach rechts.
Die Bundesregierung setzt eine Kommission ein, und
dann kommt ein Koalitionsausschuss, der andere Vorschläge macht. Das hat nichts mit Demokratie zu tun. Sie
wollen eine Koalitionsherrschaft ausüben. Das geht
nicht. Das schadet den Menschen.
({3})
Ich möchte in den letzten wenigen Sekunden, die mir
als Redezeit verbleiben, einen weiteren aberwitzigen
Punkt aufgreifen, den der schon nicht mehr anwesende
Vorsitzende des Finanzausschusses, Herr Wissing - ihm
ist das anscheinend nicht so wichtig -, angesprochen hat.
Er hat uns vorgeworfen, wir würden die Ausgabenproblematik nicht angehen. Ich will es konkretisieren: In
der letzten Woche ist in diesem Haus der Haushalt beschlossen worden. Die SPD hat im Haushaltsausschuss
vorgeschlagen, die Kommunen bei den Kosten der Unterkunft um 400 Millionen Euro und bei der Grundsicherung im Alter um 300 Millionen Euro zu entlasten sowie
vor allem die Streichungen bei der Städtebauförderung
zurückzunehmen. Wir haben insgesamt 1 Milliarde Euro
mehr für die Kommunen gefordert. Aber Sie von der
schwarz-gelben Koalition haben das abgelehnt. Auch da
haben Sie die Kommunen geschwächt.
({4})
Sie reden über das eine, tun aber etwas ganz anderes.
Das ist nicht vertretbar. Ändern Sie Ihre Politik! Machen
Sie etwas für die Menschen!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Herr Kollege Sieling, ich möchte darauf hinweisen,
dass keine Fraktion in diesem Hause gemeingefährlich
ist.
({0})
Wir arbeiten nach demokratischen Prinzipien zusammen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg
von der CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass Sie, Herr Präsident, den Begriff „Gemeingefährlichkeit“ abgeräumt haben. Ich wäre sonst ausführlich darauf eingegangen. Ich glaube, dass die Politik der
christlich-liberalen Koalition das genaue Gegenteil von
gemeingefährlich im Hinblick auf die Kommunen ist.
Ich will das am Wachstumsbeschleunigungsgesetz,
das heute vielfach erwähnt worden ist, deutlich machen.
Ein wesentliches Element des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes ist, dass es durch die Erhöhung des Kindergeldes und des Kinderfreibetrages 4,5 Milliarden
Euro mehr für Familien, für „ganz normale“ Menschen
in diesem Land gibt.
({0})
Wir haben so die Kaufkraft der Menschen in den Kommunen gestärkt. An den aktuellen Zahlen sehen wir, dass
die Menschen von der gestiegenen Kaufkraft Gebrauch
machen. Das schlägt sich erfreulicherweise in allen
Steuerkassen nieder, auch in den Steuerkassen der Kommunen.
({1})
Ich halte von diesen wissenschaftlichen Musterrechnungen, wonach die Kommunen aufgrund des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes 1,5 Milliarden Euro Mindereinnahmen haben, gar nichts. Das sage ich ganz
offen; denn diese Rechnungen gehen davon aus, dass die
Wirtschaft völlig statisch ist:
({2})
Alle produzieren immer das Gleiche, alle verdienen das
Gleiche, und die Unternehmen machen bei diesen Rechnungen immer die gleichen Gewinne. Wir erleben im
Moment aber einen grandiosen konjunkturellen Aufschwung in diesem Land.
({3})
Dieser wirkt sich aus und schlägt sich in mehr Kaufkraft
und in höheren Steuereinnahmen nieder.
({4})
Selbst wenn Sie niedrigere Sätze haben, haben Sie unter
dem Strich mehr Einnahmen. Das kann Ihnen jedes
Milchmädchen ausrechnen.
({5})
Der Kollege Götz hat richtigerweise auf Folgendes
hingewiesen: Als wir 2005 mit Ihnen starteten, hatten
wir 5 Millionen Arbeitslose in diesem Land. Wir haben
jetzt die 3-Millionen-Grenze unterschritten. Die Perspektive für die kommende Zeit ist hervorragend. Wir
reden sogar schon über Facharbeitermangel. Das ist eine
Situation, die die Kommunen im Bereich der Sozialausgaben ganz gewaltig entlastet. Das ist nicht nur - das
nehmen wir gar nicht für uns allein in Anspruch -, aber
auch Ausfluss des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes,
durch dessen zweiten Teil vor allem die Mittelständler
und die kleinen Unternehmen in diesem Land aufgrund
der Sofortabschreibungen, Verlustnutzung usw. entlastet
werden.
({6})
Wenn wir schon von problematischer Politik im Hinblick auf die Kommunen reden - ich will gar nicht die
Vergangenheit bemühen, sondern auf die aktuelle Beschlusslage der SPD verweisen -, dann möchte ich Sie
auf ein Zitat des Geschäftsführers des Deutschen
Städte- und Gemeindebundes hinweisen, der sich mit
Ihren Vorschlägen zur Hartz-IV-Politik und der Verabschiedung von der Agendapolitik auseinandergesetzt hat.
Die Mehrleistungen und den Verzicht auf Vermögensund Einkommensprüfung, den Sie beschlossen haben,
bezeichnet der Deutsche Städte- und Gemeindebund als
unbezahlbar. Es gelte, die Eigenverantwortung der Bürger zu stärken, statt immer wieder den Eindruck zu vermitteln, der Staat könne weiter ein Rundum-sorglos-Paket finanzieren. Zitat:
Wer aus eigener Arbeitskraft oder mit eigenem Vermögen seinen Unterhalt bestreiten kann, darf nicht
noch zusätzliche Transferleistungen erhalten …
({7})
Wenn wir das umsetzen würden, wäre das eine Belastung der Kommunen. Was Sie hier vorschlagen, ist allenfalls eine Mogelpackung; denn Sie wollen die Gewerbesteuer erhöhen, aber auf der anderen Seite sorgen Sie
auch für eine Mehrbelastung der Kommunen im Hartz-IVBereich. Das ist doch völlig unglaubwürdig.
({8})
Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt eingehen.
Die Gewerbesteuer hat Nachteile; diese sind genannt
worden. Sie hat auch manche Vorteile. Aber es geht doch
wirklich nicht, die Hinzurechnung so darzustellen, dass
man Gewinne gewissermaßen in Mieten und Pachten
übersetzen kann.
({9})
Das ist doch abwegig. Sie können Gewinne über verschiedene Jahre strecken, aber zum Schluss entsteht
doch folgende Situation: Wenn ein Einzelhändler mehrere Jahre lang schlechte Geschäfte gemacht hat, dann ist
er am Ende. Er hat keine Substanz mehr, aus der er Ihre
Hinzurechnung bezahlen könnte. Irgendwann kann er
die Steuern nicht mehr strecken.
({10})
- Nein, Herr Poß, Sie haben es nicht begriffen. Der ist
fertig und macht Pleite, und dann sind die Arbeitsplätze
verloren.
({11})
Das führt zu toten Innenstädten, wo vorher der Einzelhandel floriert hat. Das wäre das Ergebnis Ihrer Politik.
Deswegen haben wir die Hinzurechnungen nicht erhöht,
sondern reduziert; denn wir wollen etwas für das Leben
in den Innenstädten tun.
({12})
Es ist geradezu empörend, dass Sie diese Banalitäten immer wieder als Lösungsmodell anpreisen. Das halte ich
wirklich für empörend.
({13})
Ich möchte noch eine Bemerkung zu dem Zuschlag
zur Einkommensteuer mit kommunalem Hebesatz machen. Sie kritisieren das in aller Breite. Die kommunalen
Verbände äußern sich dazu durchaus differenziert. Der
Deutsche Städte- und Gemeindebund hat gesagt, die
Horrorszenarien, von denen die SPD spreche, seien völlig wirklichkeitsfremd, sonst hätten unterschiedliche Abfall- und Abwassergebühren längst zu einer Abwanderung ins Umland führen müssen. Die Kollegin Tillmann
hat zu Recht auf das Thema Grundsteuer hingewiesen.
Auch bei der Gewerbesteuer haben wir unterschiedliche
Sätze, und das Land leidet nicht darunter. Im Gegenteil:
Sie sprechen sich in dem Punkt ja sogar dafür aus. Professor Henneke vom Deutschen Landkreistag sagt, der
Hebesatz stärke die kommunale Selbstverwaltung ausdrücklich. Der Bürger könne damit besser sehen, was die
Leistungen der Gemeinde kosten. Er rechne damit, dass
man sorgsam mit diesem Instrument umgehen werde.
({14})
Daran sollten wir uns auch halten und den Verlauf der
Diskussion ganz sachlich abwarten. Ich finde, es handelt
sich in keiner Weise um ein Diktat des Ministers. - Herr
Minister Kühl, es wäre zweckmäßig, wenn Sie während
einer Debatte, in der Sie als Auftaktredner aufgetreten
sind, weiterhin aufmerksam teilnähmen.
({15})
Ich finde, es ist überhaupt nicht empörend, dass es einen Vorschlag des Ministers gibt. Es gibt eine gemeinsame Presseerklärung des Ministeriums und der kommunalen Spitzenverbände. Es gibt gewissermaßen einen
Zwischenbericht der Kommission, der zeigt, wo man
sich über die verschiedenen Punkte einig ist.
({16})
Wir sollten jetzt die sachliche Diskussion über den
Vorschlag von Herrn Schäuble abwarten. Die Situation
der Kommunen ist zu ernst, als dass wir tatsächlich auf
die Schnellschüsse von Ihnen reagieren sollten.
Danke schön.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3996 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall, dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit
dem Titel „Rettungsschirm für Kommunen - Strategie
für handlungsfähige Städte, Gemeinden und Land-
kreise“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/4060, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1152 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Dage-
gen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist an-
genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 i sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
36 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 23. Juni 2010 zur Änderung des
Protokolls über die Übergangsbestimmungen,
das dem Vertrag über die Europäische Union,
dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft
beigefügt ist
- Drucksache 17/3357 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Berufskraftfahrer-Qualifika-
tions-Gesetzes
- Drucksache 17/3800 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des ZIS-Ausführungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 17/3960 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 29. März 2010 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und St. Vincent
und die Grenadinen über die Unterstützung in
Steuer- und Steuerstrafsachen durch Informationsaustausch
- Drucksache 17/3959 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Juni 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und St. Lucia über
den Informationsaustausch in Steuersachen
- Drucksache 17/3961 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro-
tokoll vom 17. Juni 2010 zur Änderung des
Abkommens vom 8. März 2001 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Malta zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 17/3962 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
g) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Burkhard Lischka, Dr. Peter Danckert, Martin
Dörmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die
Wahrnehmung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten ({4})
- Drucksache 17/3991 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz ({6}), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Bei Aussetzung der Wehrpflicht Hochschulpakt aufstocken
- Drucksache 17/4018 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Birgitt Bender, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Umsetzung der EU-Health-Claims-Verordnung voranbringen
- Drucksache 17/4015 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({8})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Oliver Krischer, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ungebundene EU-Mittel aus dem Konjunkturpaket ({9}) unverzüglich für mehr Energieeffizienz und erneuerbare Energien nutzen
- Drucksache 17/4017 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 37 a bis
37 k. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir beginnen mit Tagesordnungspunkt 37 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({11}) zu dem Antrag der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck ({12}), Volker Beck ({13}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
OSZE-Vorsitz für Reformen in Kasachstan
nutzen
- Drucksachen 17/1432, 17/2476 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Grund
Franz Thönnes
Wolfgang Gehrcke
Viola von Cramon-Taubadel
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/2476, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1432 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung von SPD und Linke.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Das sind die Tagesordnungspunkte
37 b bis 37 k.
Tagesordnungspunkt 37 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 171 zu Petitionen
- Drucksache 17/3918 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 171 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 172 zu Petitionen
- Drucksache 17/3919 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 172 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 173 zu Petitionen
- Drucksache 17/3920 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 173 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Tagesordnungspunkt 37 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 174 zu Petitionen
- Drucksache 17/3921 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 174 ist einstimmig angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 37 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 175 zu Petitionen
- Drucksache 17/3922 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 175 ist bei Gegenstimmen
von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 176 zu Petitionen
- Drucksache 17/3923 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 176 ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 177 zu Petitionen
- Drucksache 17/3924 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Die Sammelübersicht 177 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Linken und der Grünen angenommen.1)
Tagesordnungspunkt 37 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 178 zu Petitionen
- Drucksache 17/3925 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 178 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 179 zu Petitionen
- Drucksache 17/3926 -
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Sammelübersicht 179 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der Grünen
bei Gegenstimmen von SPD und Linken angenommen.
1) Anlage 2
Tagesordnungspunkt 37 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 180 zu Petitionen
- Drucksache 17/3927 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 180 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Fehlende Aktivitäten der Bundesregierung
hinsichtlich der Zukunftsängste des wissenschaftlichen Nachwuchses
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Swen Schulz von der SPDFraktion.
({24})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir müssen
uns Sorgen um den wissenschaftlichen Nachwuchs machen. Es gibt eine aktuelle Studie, von der Bundesregierung in Auftrag gegeben, wonach Nachwuchswissenschaftler ihre Arbeit an sich durchaus positiv bewerten,
aber Zukunftsängste haben. Letzteres ist auch nur zu
verständlich; denn lediglich etwa 10 Prozent aller
Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler haben eine unbefristete Stelle, etwa
90 Prozent müssen sich mit einer befristeten Stelle zufriedengeben.
In der Studie kommt sehr deutlich zum Ausdruck,
dass die Leute Perspektiven haben wollen - das ist doch
nachvollziehbar -, dass sie Planbarkeit ihres Berufsweges wünschen,
({0})
dass sie eine unbefristete Stelle haben wollen. Das ist natürlich auch wichtig für die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, die uns so sehr am Herzen liegt.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, warum ist
das nun ein Thema, warum diese Aktuelle Stunde? Weil
wir den wissenschaftlichen Nachwuchs brauchen! Wir
brauchen ihn für die Lehre an den Hochschulen. Immer
mehr Leute wollen studieren - das ist wunderbar -, aber
sie müssen natürlich auch ausgebildet werden. Dafür
braucht es entsprechend qualifiziertes Personal. Wir
brauchen daneben natürlich auch Forscherinnen und
Forscher, die uns voranbringen, die uns in verschiedenen
Bereichen Problemlösungen anbieten. Dabei entstehen
Swen Schulz ({2})
Schwierigkeiten, wenn Leute von schlechten Arbeitsbedingungen abgeschreckt werden.
Ich möchte aus dieser aktuellen Studie gern etwas
vorlesen, nämlich das Zitat von einer im Bereich Naturwissenschaften tätigen wissenschaftlichen Mitarbeiterin
einer Universität:
Die Gefahr, nach jahrelangem „Durchschlagen“ auf
befristeten Stellen und einem gewissen „Berufsnomadentum“ am Ende keine permanente Stelle zu
bekommen, ist hoch. Das Risiko, diesen Weg zu gehen, ist mir persönlich zu hoch, auch wenn ich die
Arbeit in der Wissenschaft mag.
Wir sehen an diesem Zitat, dass wir Menschen verlieren,
dass wir ihre Kompetenzen verlieren. Das können wir so
nicht hinnehmen. Da müssen wir gegensteuern.
({3})
Es gilt auch hier der sozialdemokratische Grundsatz
von der guten Arbeit. Nur mit Perspektiven und nur mit
guten Arbeitsbedingungen können wir die Leute gewinnen, und nur so können diese auch die exzellenten Leistungen abliefern, die wir von ihnen sehen möchten. Das
wollen wir erreichen: gute Arbeit, auch in der Wissenschaft.
({4})
Das Thema ist natürlich nicht ganz neu, auch wenn
wir hier eine aktuelle Studie haben. Die Bundesregierung hat bereits 2008 in dem umfangreichen „Bundesbericht zur Förderung des Wissenschaftlichen Nachwuchses“ selbst festgestellt, dass es durchaus Probleme gibt.
Die Frage ist bloß: Was tut die Bundesregierung, um dieses Problem zu lösen? - Unter Rot-Grün haben wir Regelungen zur Ausschaltung von Kettenbefristungen geschaffen, und in der Großen Koalition haben wir das
Wissenschaftszeitvertragsgesetz gemacht. Wir haben
aber gleichzeitig gesagt, dass es evaluiert werden soll,
weil wir gucken müssen, was tatsächlich in der Realität
passiert. Wir haben die Bundesregierung damit beauftragt, eine Evaluation vorzulegen.
({5})
Meine sehr verehrten Herren Staatssekretäre, die Evaluation durch die Bundesregierung ist überfällig. Wo ist der
Bericht? Legen Sie ihn vor, damit wir da weiterkommen.
Tatsächlich müssen wir überlegen: Reichen die jetzigen Bestimmungen aus, oder sind sie vielleicht sogar an
der einen oder anderen Stelle kontraproduktiv? Ein
Punkt scheint mir jedenfalls jetzt schon klar zu sein: Die
Tarifsperre muss weg.
({6})
Es sollte die Möglichkeit geben, dass Arbeitgeber und
Arbeitnehmer gemeinsam Regelungen über das Gesetzliche hinaus treffen. Das sollte gerade in diesem Bereich
möglich sein. Wir als Sozialdemokraten haben das übrigens in der Großen Koalition gefordert, aber unser damaliger Koalitionspartner CDU/CSU wollte die Tarifsperre unbedingt drin haben. Ich hoffe, dass da jetzt ein
Umdenkprozess möglich ist.
({7})
Der zweite Punkt sind Juniorprofessuren. Unter RotGrün haben wir Juniorprofessuren eingeführt und auch
gefördert, weil das vielen Nachwuchswissenschaftlern
Perspektive gibt. Da stellt sich die Frage, warum unter
der Regie von Frau Schavan die Förderung beendet bzw.
kein neues Programm aufgelegt wurde. Wir wollen Juniorprofessuren. Deswegen schlagen wir ein neues
Bund-Länder-Programm vor: 1 000 Juniorprofessuren das wäre ein guter Beitrag.
({8})
Der dritte Punkt ist: Der sogenannte Tenure Track,
also der Karriereweg an der eigenen Hochschule, muss
ausgebaut werden. Die Bundesregierung sollte da aktiv
werden und mit den Ländern ins Gespräch kommen, wie
wir den Tenure Track ausbauen können.
Der vierte Punkt ist: Die Hochschulen müssen eine
solide Personalentwicklungsplanung machen. Das ist
leicht gesagt, aber schwerer getan. Da muss Überzeugungsarbeit geleistet werden. Da müssen Kompetenzen
aufgebaut werden. Ich habe da einen kleinen Vorschlag
für die Bundesregierung: Sie bieten seit neuerem Kurse
für Hochschulen an, wie Stipendien eingeworben werden können. Wie wäre es, wenn Sie einmal etwas Vernünftiges machen und Kurse für Personalentwicklungsplanung anbieten? - Das wäre doch ein vernünftiger
Beitrag.
({9})
Und der fünfte Punkt: Es gibt eine Menge Bund-Länder-Programme im Hochschulbereich, etwa den Hochschulpakt und die Exzellenzinitiative. Die Bundesregierung hat in ihrem Bericht gesagt, dass mit dem
Hochschulpakt sicherlich alles viel besser für die Nachwuchswissenschaftler wird. Aber Vertrauen allein reicht
nicht. Da muss man auch genauer hinschauen und vielleicht auch einmal den Erhalt von Bundesmitteln an
Mindestarbeitsbedingungen knüpfen und Anreize für
gute Arbeit einbauen. Es kann nicht sein, dass - wie es
tatsächlich insbesondere in der Hochschullehre häufig
passiert - Leute nachgerade ausgebeutet werden, zu
ganz schlechten Bedingungen Arbeit leisten, die eigentlich von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten geleistet werden sollte. Dem müssen wir einen Riegel vorschieben.
({10})
Herr Kollege Schulz, kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Präsident, Sie wollen keine weiteren Punkte hören? Das ist natürlich traurig. Ich hätte noch einiges anzubieten, zum Beispiel aus dem Drittmittelsektor.
Letzter Satz: Wir sollten im Ausschuss dieses Thema,
das nicht leicht ist, seriös und sachlich auf der Basis der
Evaluation diskutieren, die dann hoffentlich bald kommt
- Herr Staatssekretär, Sie können dazu gleich etwas sagen -, und dann tatsächlich Konsequenzen ziehen. Diese
Debatte hier sollte dafür ein Auftakt sein.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Helge Braun.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunft
Deutschlands liegt ganz erheblich in den Händen junger
Nachwuchswissenschaftler. Wir erwarten von ihnen Beiträge zur Lösung unserer Klimaprobleme, der Welternährung, der Energieversorgung, der Volkskrankheiten
und internationaler Konflikte. Wir erwarten von ihnen
auch Innovationen, sodass Wachstum und soziale Sicherheit in Zeiten des demografischen Wandels verstetigt werden können.
Deshalb steht selbstverständlich der wissenschaftliche Nachwuchs mitten im Fokus der Politik der Bundesregierung und des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung.
Junge Forscher sind oft voller Begeisterung; aber ich
bin sicher, dass sie deutlich weniger davon begeistert
sind, dass diese Aktuelle Stunde - der Auftakt der Debatte zum Thema Nachwuchswissenschaftler - mit dem
polemischen Titel „Fehlende Aktivitäten der Bundesregierung hinsichtlich der Zukunftsängste des wissenschaftlichen Nachwuchses“ versehen wurde. Ich glaube
nicht, dass Sie damit die klügsten Köpfe in diesem Land
beeindrucken können.
({0})
Als aktuellen Aufhänger haben Sie die HIS-Studie zitiert, die sich der Situation der Nachwuchswissenschaftler in Deutschland widmet. Es war Bundesministerin
Annette Schavan, die 2008 den ersten „Bundesbericht
zur Förderung des Wissenschaftlichen Nachwuchses“
vorgelegt hat.
({1})
Es war diese Bundesregierung, die den HIS-Bericht
„Wissenschaftliche Karrieren“ in Auftrag gegeben hat,
damit wir erstmals empirische Zahlen zur Situation des
wissenschaftlichen Nachwuchses erhalten. Schon dieser
Bericht, aus dem Sie heute hier zitieren, ist ein erster Beweis dafür, dass die Bundesregierung nicht tatenlos ist,
sondern sich intensiv diesem Thema widmet.
({2})
Wenn Sie sich den Bericht anschauen, dann sehen Sie,
dass die Nachwuchswissenschaftler gebeten wurden,
den folgenden Satz zu vervollständigen:
„Wenn ich meine berufliche Situation ändern
könnte, dann würde ich …“
Der Punkt, der am meisten genannt wurde, war: „Unbefristete Stelle“. An zweiter Stelle lag: „Bezahlung“. Ich
glaube, dass es kaum eine Berufsgruppe gibt, in der die
Arbeitszufriedenheit so hoch ist wie bei den Nachwuchswissenschaftlern, denn an dritter Stelle lag die Nennung:
„Nichts ändern“. Ich denke, das macht deutlich, dass
hier viele junge Menschen mit Engagement und Freude
wissenschaftlich tätig sind. Deswegen ist es aus meiner
Sicht völlig falsch, wie Sie bei diesem Thema stigmatisieren.
({3})
Die Studie macht im Hinblick auf die Einkommenssituation deutlich, dass junge Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler geradezu mit großer Freude daran arbeiten, ihren Weg an den Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen fortzusetzen; sie haben ein
großes Interesse daran und sind sogar bereit, ein geringeres Einkommen in Kauf zu nehmen, wenn sie weiterhin
über die Freiheiten des Wissenschaftssystems verfügen
dürfen.
Ich will etwas zur Situation von Akademikern am Arbeitsmarkt sagen, die nicht in die Wissenschaft, sondern
in die freie Wirtschaft gehen. Diejenigen mit einem akademischen Abschluss haben die weitaus besten Chancen
am Arbeitsmarkt. Die Bundesagentur für Arbeit hat für
das Jahr 2009 entsprechende Zahlen herausgegeben: Danach gibt es bei der Beschäftigung von Akademikern
eine positivere Entwicklung als bei allen Beschäftigten.
Akademiker sind am kürzesten arbeitslos. Die Zahl der
Beschäftigten hat bei den Akademikern in den letzten
zehn Jahren um 21 Prozent zugenommen, bei allen Beschäftigten hat sie um 2 Prozent abgenommen. Allein im
letzten Jahr hat sie um 3,5 Prozent zugenommen, bei al8548
len Beschäftigten um 0,3 Prozent abgenommen. - Wenn
Sie die absoluten Zahlen wissen wollen: Am Ende der
Regierung Schröder gab es 244 000 arbeitslose Akademiker; heute sind es 167 000, also deutlich weniger als
damals.
({4})
Sie haben das Thema Tenure Track angesprochen. Sie
wissen genau, dass Sie sich damit am allerwenigsten an
die Bundesregierung richten müssen. Wir haben zum
Beispiel im Bereich der Helmholtz-Gemeinschaft den
Nachwuchswissenschaftlern und Gruppenleitern in vielen Fällen einen solchen Tenure Track angeboten, also
die Möglichkeit, bei positiver Evaluation ihrer Tätigkeit
unbefristete Stellen zu bekommen. Es treibt auch die
Bundesregierung um, dass sich der Tenure Track an vielen Universitäten - und zwar nicht aufgrund fehlender
Initiativen der Bundesregierung - noch nicht so durchgesetzt hat, wie sich das viele junge Nachwuchswissenschaftler wünschen. Ich denke, die Berichte, die wir an
dieser Stelle abgegeben haben, können dazu beitragen,
dass dieses Thema in sachlicher Weise weiter vorangebracht wird.
({5})
Sie brandmarken hier die Untätigkeit der Bundesregierung. Dazu will ich einige Sätze sagen, Herr Kollege:
Erstens. Sie haben selber die Exzellenzinitiative angesprochen. Die vom Bund finanzierte Exzellenzinitiative
hat 3 800 neue Jobs für Nachwuchswissenschaftler geschaffen.
({6})
In der zweiten Runde der Exzellenzinitiative werden es,
wenn es sich verstetigt, bis zu 5 400 sein.
Zweitens haben wir darüber hinaus im Zusammenhang mit der Exzellenzinitiative 39 Graduiertenschulen
geschaffen.
({7})
Drittens sorgt der Pakt für Forschung und Innovation
dafür, dass das Gleiche auch an den außeruniversitären
Forschungseinrichtungen geschieht.
Viertens. Sie haben auch das Thema der Vereinbarkeit
von Familie und Beruf angesprochen. Das Programm
„Zeit gegen Geld“ ist ein erfolgreiches Programm zur
Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Familienkomponente im Wissenschaftszeitvertragsgesetz haben Sie
selbst genannt.
Zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz will ich Ihnen
sagen: Sie werden die Evaluation Anfang nächsten Jahres bekommen. Sie wird sogar noch viel umfangreicher
werden als das, was dem ursprünglichen Auftrag entspricht, und um weitere Facetten ergänzt.
({8})
Wir haben nämlich gesehen, wenn wir die Situation im
Detail beleuchten wollen, dann brauchen wir mehr Zahlen, mehr Daten, mehr Fakten und auch eine Umfrage
unter den Betroffenen, um die Situation richtig einschätzen zu können. Ich glaube deshalb, dass Sie Anfang
nächsten Jahres einen Bericht bekommen werden, der die
Erwartungen, die der Bundestag damals in das Thema gesetzt hat, bei weitem übertreffen wird. Deshalb bitte ich
Sie an der Stelle einfach noch um ein wenig Geduld.
({9})
Was haben wir fünftens getan? Wir haben die Mittel
für die Begabtenförderung, insbesondere für die Promotionsstipendien, von 30 auf 50 Millionen Euro jährlich
angehoben. Damit steht einem Promotionsstudierenden
in den Begabtenförderungswerken jetzt ein monatliches
Salär von 1 050 Euro zur Verfügung.
Was haben wir sechstens gemacht? Wir haben in den
großen Forschungsprogrammen Nachwuchsgruppen etabliert, zum Beispiel im Gesundheitsforschungsprogramm oder im Programm der empirischen Bildungsforschung.
Wir haben siebtens die Programme „PhD-Net“ und
- ganz erfolgreich - auch das Programm „International
promovieren“ gestartet.
Und wir haben achtens mit dem KISSWIN-Netzwerk
ein erfolgreiches Netzwerk etabliert. Ich konnte im letzten Jahr selber die entsprechende Tagung eröffnen, auf
der junge Nachwuchswissenschaftler nicht nur Transparenz im Hinblick auf ihren Karriereweg bekommen, sondern sich auch erfolgreich vernetzen können.
Wir haben neuntens die Rückkehrperspektiven nach
Auslandsaufenthalten verbessert. Ich glaube, die
Alexander-von-Humboldt-Professur ist etwas, was in der
ganzen Welt Beachtung findet. Gleichzeitig, seit 2009,
gibt es auch das DAAD-Programm zur Rückführung und
Rückgewinnung von deutschen Wissenschaftlern.
Doch nicht nur die Bundesregierung direkt, sondern
auch die DFG hat ermöglicht, dass zukünftig Promovierende - Sie haben ihre Arbeitsverhältnisse angesprochen - mehr als 50 Prozent einer Stelle in Anspruch
nehmen können. Die DFG hat 301 Graduiertenkollegs
und -schulen gebildet. Wir haben das Emmy-NoetherProgramm und die Heisenberg-Professur, den HeinzMaier-Leibnitz-Preis und vieles andere.
({10})
Also, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD, ich glaube, es wird deutlich:
Das, was die Regierung in den letzten Jahren auf den
Weg gebracht hat, ist das, was Deutschland braucht,
nämlich die Leistungsträger in unserem Land - und das
sind die Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler - deutlich zu stärken. Wir haben
eine Vielzahl von Initiativen. Mit der vorliegenden Studie und der Fortschreibung des von uns erstmals vorgelegten „Bundesberichtes zur Förderung des WissenParl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
schaftlichen Nachwuchses“ werden wir an dem Thema
weiter arbeiten, damit die jungen Menschen in Deutschland, die Nachwuchswissenschaftler, bei guten beruflichen Perspektiven entscheidend dazu beitragen können,
dass Deutschland eine gute Zukunft hat.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss
Studien wirklich ernst nehmen und auch lesen können.
Und die Studie der HIS GmbH, die Anlass dieser Debatte ist, zeigt eines ganz deutlich: Das Rennen um die
Einwerbung zusätzlicher Forschungsgelder, also um die
sogenannten Drittmittel, führt zu einer deutlichen Verschlechterung der Beschäftigungsbedingungen des wissenschaftlichen Nachwuchses an Wissenschaftseinrichtungen.
({0})
Zwischenzeitlich arbeiten mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf solchen Drittmittelstellen
als auf Stellen, die aus den regulären Haushalten finanziert werden. Der wissenschaftliche Mittelbau bzw.
Nachwuchs bildet heute die Verschiebemasse in den
Haushalten von Hochschulen und Instituten. Die Betroffenen sind quasi zum akademischen Proletariat geworden.
({1})
Alle bisherigen Studien, auch diese jüngste, zeigen uns:
Wer in das deutsche Wissenschaftssystem einsteigt, kann
auch gleich auf einem Vulkan tanzen. Es ist nämlich völlig offen, ob man sich halten kann, oder ob man wieder
ausgestoßen wird. Wissenschaftliche Dauerstellen - das
haben Sie schon gesagt, Herr Kollege - im Mittelbau
verglühen nämlich immer mehr. Laut HIS-Umfrage haben nur noch 9 Prozent der Befragten an Universitäten
und 6 Prozent an außeruniversitären Einrichtungen eine
unbefristete Stelle inne. Es dominiert die befristete Beschäftigung. Doch damit nicht genug: Auch die Dauer
der Befristung wird ständig eingedampft. Deutlich mehr
als die Hälfte der Befragten hat einen Vertrag mit einer
Laufzeit von weniger als 24 Monaten. Ein Viertel der
Bezugsgruppe hat einen Vertrag mit einer Laufzeit von
weniger als einem Jahr. Dann finden sich noch ganz bizarre Erscheinungen. Uns wird in jüngster Zeit immer
öfter von Monats- oder sogar Wochenverträgen berichtet, und das im Wissenschaftsbereich.
Deutschland, ein Land der Ideen, wie Sie immer so
schön sagen? Angesichts dieser Entwicklung kommen
Hochqualifizierte nur auf eine Idee: Weggehen, und das
lieber heute als morgen. Das tun sie auch in großem
Maße. Sie tun das, weil sie mit den Perspektiven ihres
Berufs, mit ihrem Einkommen und mit den Ungewissheiten, die solche existenziellen Konkurrenzkämpfe mit
sich bringen, unzufrieden sind.
Wie schon gesagt: Das alles ist nicht neu. Zuletzt hat
sich der Forschungsausschuss 2009 in einer großen Anhörung damit beschäftigt. Die Erkenntnisse daraus blieben nahezu folgenlos. Was Sie aufgezählt haben, Herr
Braun, existiert schon lange. Das sind überhaupt keine
originären Leistungen dieser Bundesregierung.
({2})
Das Einzige, was Sie nach dieser Anhörung gemacht haben, ist, ein Internetportal zu schaffen, damit man die
Stellenvermittlung besser gestalten kann. Ansonsten sehen Sie Ihre Aufgaben der Förderung des Nachwuchses
mit der Projektförderung und vor allem mit der Exzellenzinitiative als erledigt an.
Die Exzellenzinitiative löst die Probleme aber nicht,
sondern sie verschärft sie weiter. Ich will das kurz erklären. Man hat also, wie Sie schon erwähnt haben, etwa
4 000 Projektstellen in einem hochspezialisierten Bereich geschaffen. Das ist zusätzliches Personal. Dieses
und das bereits vorhandene Personal steuern auf das
gleiche Nadelöhr zu. Dahinter liegen die bereits erwähnten höchst seltenen Dauerstellen. Dort aber gibt es, wie
wir wissen, keinen Aufwuchs. Deshalb werden von den
vielen über die Exzellenzinitiative Geförderten später
viele keine Beschäftigung an Hochschulen und Instituten
finden. Die Gewerkschaften haben uns früh auf diesen
Widerspruch hingewiesen. Schon deshalb hätte weder
Rot-Grün die Exzellenzinitiative noch Schwarz-Rot später das Wissenschaftszeitvertragsgesetz beschließen dürfen. Erst dieses Gesetz hat die unbegrenzte Befristung
von Drittmittelstellen möglich gemacht.
({3})
Wie dem auch sei: Wenn sich mit dieser Debatte eine
Chance eröffnet, diese Fehler zu korrigieren, dann sollten wir sie entschlossen nutzen. Tilgen Sie die Fehler im
Gesetz; einige sind schon genannt worden. Kippen Sie
die Tarifsperre, damit Gewerkschaften und Arbeitgeber
aktiv gegen diese miesen Arbeitsbedingungen im Drittmittelbereich vorgehen können. Stellen Sie endlich das
Kooperationsverbot ins Abseits, damit das Ausufern des
Drittmittelsektors begrenzt werden kann. Stellen Sie die
Basisfinanzierung von Hochschulen und Forschungseinrichtungen auf sichere Füße. Schließlich - da kann ich
mich meinem Kollegen aus der SPD-Fraktion nur anschließen -: Legen Sie ein Stellenprogramm von Bund
und Ländern vor, damit insbesondere im Postdocbereich,
also in der Zeit nach der Promotion, verlässliche Beschäftigungschancen angeboten werden können.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Martin Neumann
von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Zukunftsperspektive junger Menschen
beschäftigt dieses Haus des Öfteren. In der Vergangenheit haben wir oft über Bildungsverlierer, Schulabbrecher und dergleichen gesprochen. Heute, in dieser Debatte, stellen wir uns die Frage nach der Situation derer,
die eigentlich auf der Sonnenseite der Gesellschaft stehen müssten. Letztendlich geht es um diejenigen, die den
Sprung in das wissenschaftliche Ausbildungssystem geschafft haben und - das sage ich auch als Hochschulprofessor - den Weg in Richtung Wissenschaft gehen wollen.
Wie geht es also unseren Doktoranden, Postdoktoranden und Juniorprofessoren? Die Studie, auf die diese Diskussion Bezug nimmt, die HIS-Studie, basiert auf Zahlen
aus dem Jahr 2009. Die Frage, wie es heute aussieht,
muss man sicherlich durchaus differenziert beantworten.
Bei den Doktoranden - das will ich an dieser Stelle deutlich sagen - sind wir im Vergleich mit dem EU-Durchschnitt viel besser. In den 27 Mitgliedstaaten der EU gibt
es im Durchschnitt 2,7 Promotionen je 100 Hochschulabschlüsse. Wir haben eine Quote von 14,2 Prozent. Wir
sind besser als Frankreich, besser als Großbritannien und
sogar besser als Finnland. An dieser Stelle sage ich: Die
OECD hat es versäumt, uns dafür einen Lorbeerkranz zu
überreichen. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt.
({0})
Hier kann - das ist in der Bildung allgemein so - sicherlich das eine oder andere besser gemacht werden.
({1})
Ein Artikel in der FAZ stand unter der Überschrift
„Fördert mich, ich bin Forscher!“. In diesem Zusammenhang ist die Frage zu klären: Wie kann man Defizite mit
Programmen beispielsweise auch aus der Bundespolitik
bereinigen? Ich spreche auch die Landespolitik an; dazu
komme ich gleich noch. Im Kern - das ist eine Diskussion, die wir im Herbst vergangenen Jahres hatten - geht
es um die qualifizierte Betreuung, die Planbarkeit und
die Finanzierungsmöglichkeiten. Die Hochschulen machen das schon, wenn wir sie nur lassen. Wir müssen den
Hochschulen die Möglichkeit geben. Sie antworten mit
strukturierten Promotionsprogrammen und Graduiertenkollegs, um an der Stelle nur einige Punkte zu nennen.
Auch die Stipendienprogramme der Begabtenförderwerke sind ein wesentlicher Bestandteil, um hier etwas
deutlich zu verbessern.
Das Thema Projektarbeit sowie befristete Arbeitsverträge sind in der Tat ein Problem. Wenn Sie einmal in die
Studie gucken, werden Sie feststellen, woher die Klage
kommt. Die Klage kommt nicht von den Menschen mit
befristeten Arbeitsverträgen, sondern sie kommt im Regelfall von denen, die einen unbefristeten Vertrag haben.
Wir müssen hier wirklich etwas tun, auch in Richtung
Kommunikation und Darstellung.
({2})
- Das steht da drin, Herr Schulz. Das ist so.
Was tut die Bundesregierung? Ich will an dieser Stelle
noch einmal deutlich hervorheben - Staatssekretär Braun
hat das gerade gesagt -: Wir haben mit der dritten Säule
des Hochschulpakts etwas für eine bessere Lehre getan.
2 Milliarden Euro gibt es beispielsweise für mehr Stellen. Klar ist, dass das eine oder andere zu tun ist. Wir haben nicht die Verhältnisse wie beispielsweise in Großbritannien, etwa einen Lecturer oder solche Dinge. Wir
brauchen sicherlich eine strukturiertere Position.
({3})
- Natürlich. Darüber muss man in Zukunft nachdenken. Wir brauchen rechtliche Rahmenbedingungen - das ist
die Aufgabe dieser Bundesregierung -, um Deutschland
attraktiv, forschungsfreundlich und international konkurrenzfähig zu machen.
({4})
Wir reden über ein Thema, das von ureigenem landespolitischen Interesse ist. Das ist an verschiedenen Stellen
diskutiert worden. Ich komme aus Brandenburg. Die
Wissenschaftspolitik im rot-rot regierten Brandenburg
ist meiner Ansicht nach wirklich beängstigend.
({5})
Stellen Sie sich bitte Folgendes vor: Die Landesregierung vereinbart mit den Hochschulen einen Hochschulpakt. Die Hochschulen bilden Rücklagen. Das wird getan, um eine langfristige Perspektive zu bekommen.
Dann gibt es plötzlich Probleme im Haushalt, und dann
greift man einfach einmal in die Tüte.
({6})
- Fragen Sie doch einmal die Kollegen, die letztendlich
keine Perspektive sehen, weil es keine verlässliche
Hochschulpolitik gibt. Es geht nicht nur um diese
10 Millionen Euro. Es geht darum, dass man in bestehende Verträge eingreift und so Planbarkeit verhindert.
({7})
- Liebe Frau Sitte, das sind Rücklagen. Man bildet
Rücklagen für eine langfristige Personalentwicklung.
({8})
Das führt meiner Ansicht nach dazu - gestatten Sie mir
diesen Satz -, dass junge Wissenschaftler dann nicht
mehr an einen Vertrag glauben, sondern fragen: Was ist
Dr. Martin Neumann ({9})
die Perspektive an dieser Hochschule? Das schadet uns
sehr. Darum habe ich Angst.
({10})
Ich bitte Sie, diese Angst an der Stelle so zu erkennen.
({11})
Wir brauchen in der Zukunft Aktivitäten, die langfristig und planbar sind, um ein besseres und in der Tat immer wieder zu veränderndes und weiterzuentwickelndes
Hochschul- und Wissenschaftssystem zu haben.
Ich bedanke mich. Glück auf!
({12})
Das Wort hat die Kollegin Krista Sager von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Braun, Sie haben richtig festgestellt, dass unser wissenschaftlicher Nachwuchs Spaß an der wissenschaftlichen
Arbeit hat. Aber das muss er nicht an deutschen Hochschulen machen. Das muss er noch nicht einmal in
Deutschland machen. Sie haben offensichtlich überhaupt
keine Ahnung, wie es für den wissenschaftlichen Nachwuchs an deutschen Hochschulen inzwischen aussieht.
({0})
Befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeitarbeit, nebenberufliche Tätigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, und zwar für Leute, die Daueraufgaben in Forschung und Lehre leisten - das ist inzwischen der
Normalfall. Für einen wirklich guten Postdoc gibt es
kaum Möglichkeiten, durch den engen Karriereflaschenhals zu einer ordentlichen Professur zu kommen. Auf
30 Promovierte kommen 3 Habilitierte und eine ordentliche Professur.
({1})
Sie weisen darauf hin, dass wir so viele Graduiertenprogramme haben. Durch diese wird doch der Druck auf
diesen engen Flaschenhals nur größer. Dadurch wird das
Problem nicht gelöst.
({2})
Sie haben für den wissenschaftlichen Nachwuchs
überhaupt keine Berechenbarkeit, überhaupt keine Planbarkeit der Karriere geschaffen. Im Gegenteil: Der wissenschaftliche Nachwuchs läuft heute Gefahr, dass er im
fünften Lebensjahrzehnt immer noch befristete Stellen
hat, immer noch als Nachwuchs gilt und am Ende als
Überqualifizierter und Gescheiterter im beruflichen Nirwana landet. Das kann doch nicht die Perspektive in unserem Wissenschaftssystem sein.
({3})
Viele deutsche Postdocs arbeiten in den USA. Sie würden liebend gerne nach Deutschland zurückkommen;
aber das ist für sie ein Hochrisikounternehmen. Wenn
man in den USA ein guter Postdoc ist, nützt es einem
nichts, wenn man gesagt bekommt, man könne auch bei
uns Postdoc werden. Die Postdocs wollen wissen, was danach kommt. Herr Schulz hat recht, wenn er sagt, dass die
Familiengründung in dieser Lebensphase eher schwierig
ist.
({4})
Es geht hier nicht um ein individuelles Problem einiger
Hochqualifizierter, sondern um die Frage, wie attraktiv
der wissenschaftliche Beruf in Deutschland ist. Dies betrifft nicht nur unsere Hochschulen und unsere außeruniversitären Forschungseinrichtungen, sondern dies ist ein
existenzielles Problem unseres Wissenschaftssystems
insgesamt. Es geht um dessen Wettbewerbsfähigkeit und
Qualität in der Zukunft. Die Bundesregierung reagiert darauf mit Realitätsverweigerung. Wir haben eine Kleine
Anfrage gestellt. Sie haben auf unseren Hinweis auf die
rasante Zunahme von befristeten und nebenberuflichen
Beschäftigungsverhältnissen noch am 10. November dieses Jahres geschrieben, dass die Beschäftigungsverhältnisse Ihrer Auffassung nach attraktiv und konkurrenzfähig sind.
Wenn man Bund, Länder und auch einen Teil der
Wissenschaftsorganisationen betrachtet, sieht man, dass
Wegschauen oder kollektive Verantwortungslosigkeit - man
schiebt sich den Schwarzen Peter für das Problem gegenseitig zu - herrschen. Ich glaube, es ist überfällig,
dass Bund, Länder und Wissenschaftsorganisationen die
Fragen nach den Arbeitsbedingungen für hauptberufliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an den
Hochschulen in Deutschland und nach den Perspektiven
unseres wissenschaftlichen Nachwuchses gemeinsam
ganz oben auf die Tagesordnung setzen.
({5})
Dieses Problem ist weder beim Hochschulpakt, also
dem Pakt für mehr Studienplätze, noch beim Pakt für Forschung und Innovation angesprochen worden. Die Grundfinanzierung in den Ländern bricht weg. Die Drittmittelfinanzierung des Bundes kann das nicht kompensieren. Wir
haben dadurch eine rasant ansteigende Zahl befristeter
Beschäftigungsverhältnisse. Die Personalstruktur ist im
internationalen Vergleich extrem ungünstig: 14 Prozent
ordentliche Professuren und darunter Nachwuchs und unselbstständiger Mittelbau mit unklaren Perspektiven in
befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Mit einer solchen Personalstruktur können wir in Deutschland nicht
weiter erfolgreich sein im Wettbewerb um die besten
Köpfe.
({6})
Deswegen sage ich Ihnen: Wir brauchen jetzt ganz dringend einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs, einen Pakt für die Zukunftsperspektiven der hauptberuflichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wir
brauchen Änderungen im Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Es hat nicht die gewünschten Ziele erreicht. Es ist gescheitert; das muss man heute anerkennen. Wir brauchen
wissenschaftsgerechte Bedingungen. Wenn wir das nicht
schaffen, wird uns der demografische Wandel böse einholen. Die jungen Leute sind heute viel internationaler
orientiert, als es noch vor 20 Jahren der Fall war. So werden wir die besten Köpfe weder für die Wissenschaft gewinnen noch sie hier halten können.
({7})
Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Feist von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
({0})
- Ich habe doch noch gar nichts gesagt, Herr Schulz. Sie
müssen sich doch noch nicht aufregen.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben die
SPD als Partei der konsequenten Enthaltung kennenlernen dürfen, und zwar immer dann, wenn es um die Zukunftsfragen unseres Landes geht. Eine Partei, die zudem das Abrücken von ihren eigenen Programmpunkten
- das Zeitvertragsgesetz gehört dazu - zur alleinigen
Strategie erklärt, muss sich nicht wundern, wenn sie in
der öffentlichen Diskussion keine Rolle mehr spielt.
({2})
Die Umfragewerte sprechen hier eine deutliche Sprache.
({3})
Man könnte sich nun fragen, welch eine Verzweiflung
bei den Chefideologen dieser Partei herrschen muss,
({4})
wenn sie versuchen, nicht nur ein Thema für sich zu besetzen, welches eine erschreckende Realitätsferne bezeugt, sondern gleich noch die medienkompatible Schlagzeile dazu liefern: „Fehlende Aktivitäten der Bundesregierung hinsichtlich der Zukunftsängste des wissenschaftlichen Nachwuchses“.
({5})
Man könnte vermuten, dass diese Formulierung auf die
Lektüre eines Buches des Psychologen Michael Thiel
zurückgeht, in dem er die Strategie „Mit Jammern zum
Erfolg“ ausbreitet.
({6})
Mit der Realität hat das Beschwören von Zukunftsängsten allerdings nichts zu tun.
({7})
Eine Art Zukunftsoptimismus breitet sich aus, „No
future“ war gestern - so bilanzierte der Zukunftsforscher
Horst Opaschowski vor wenigen Tagen. Das Sinus-Institut kommt in einer Studie zu dem Ergebnis: Zukunftsängste sind zwar vorhanden, beziehen sich jedoch meist
auf die Tatsache, dass noch kein konkretes Berufsziel
vorliegt. Die hohe Anziehungskraft, die von dem Berufsziel Wissenschaftler ausgeht, ist ungebrochen; das stellen wir fest. Allerdings gibt es strukturelle und weitgehend bekannte Probleme
({8})
- das kommt noch hinzu -, die insbesondere die Karriereplanbarkeit, die berufliche Sicherheit und die Gerechtigkeit von Personalentscheidungen sowie die Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Familie und Beruf betreffen.
({9})
Allerdings ist auch das Problem der Verengung der
Jobperspektive allein auf den Hochschulraum bekannt.
Genau das haben wir festgestellt, verehrte Kollegin
Sager, als wir bei der GAIN-Conference in Boston waren. Wir müssen die Studenten natürlich auch dafür sensibilisieren, dass sie sich für Jobs in der Wirtschaft oder
in der Verwaltung interessieren; genau das brauchen wir.
({10})
Eine Verengung auf die Hochschulperspektive wird dieses Problem nicht lösen.
Jetzt noch ein paar Fakten. An den deutschen Hochschulen ist die Zahl der hauptberuflichen wissenschaftlichen Stellen in den letzten zehn Jahren um 26 Prozent
gestiegen. Ist das Versagen? Die Zahl der Professorenstellen stieg im gleichen Zeitraum um 6 Prozent. Ist das
nichts?
({11})
Die Zahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter stieg um
knapp 50 Prozent. Das sind doch Ergebnisse, die sich sehen lassen können.
({12})
Allein für Sachsen bedeutet dies einen Anstieg um
27 Prozent. Ich kann Ihnen sagen: Das sind für die
Hochschulen in Sachsen die richtigen Impulse. Das sind
genau die Impulse, die die Bundesregierung gesetzt hat.
Trotz der Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung auch das gehört zur Wahrheit - ist das Volumen des Bildungshaushalts in dieser Legislaturperiode so groß wie
nie. Das BAföG wurde erhöht, ebenso der Elternfreibetrag. Die Altersgrenze für den BAföG-Bezug wurde
deutlich heraufgesetzt. Mit der Einrichtung des Deutschlandstipendiums kämpfen wir für die Etablierung einer
neuen Anerkennungs- und Förderkultur für den wissenschaftlichen Nachwuchs.
({13})
Nicht nur wir, sondern auch die Studierenden und die
Nachwuchswissenschaftler sehen deutlich: Von Tatenlosigkeit der Bundesregierung kann hier keine Rede sein.
Das bestreiten wir. Auch die Zahlen und Fakten sprechen dagegen. Zukunftsangst ist vor allem eines: in der
Sache unbegründet.
({14})
Eine aktuelle Studie stellt fest: 86 Prozent der Studenten gehen davon aus, im Anschluss an das Studium zügig eine Anstellung zu finden, die ihren Erwartungen
und Qualifikationen entspricht.
({15})
Ich wiederhole: 86 Prozent. Das durchschnittliche Einstiegswunschgehalt stieg von 37 000 Euro im Jahr auf
38 000 Euro im Jahr. Das alles sind doch deutliche Signale, die Sie nicht negieren können.
({16})
Diese Studie kommt zu dem Schluss: Von Zukunftsangst kann, jedenfalls in dieser Studentengeneration,
trotz der weltweiten Krise keine Rede sein.
({17})
Jetzt komme ich auf einen weiteren Aspekt zu sprechen. Frau Kollegin Sager, auch Sie haben, wie gesagt,
an der GAIN-Conference in Boston teilgenommen.
({18})
Wir haben uns dort mit den Zukunftsängsten der Nachwuchswissenschaftler, insbesondere der Postdocs, beschäftigt.
({19})
Auf die Frage, welche Zukunftsängste es gibt, wurde geantwortet: Es ist zu unsicher, dass befristete Professorenstellen verlängert werden. An genau dieser Stelle haben
wir nachgefragt. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine befristete Professorenstelle verlängert wird, liegt bei „nur“
80 Prozent. Wenn wir auf diesem hohen Niveau weiterjammern wollen, bitte schön, dann können wir das gerne
tun.
({20})
Abschließend: Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat
nicht zu Unrecht gesagt: Das 20. Jahrhundert war das
Jahrhundert der Sozialdemokratie. Willkommen im
Jahr 2010!
Einen schönen Tag noch.
({21})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Kolbe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen und Kolleginnen!
Über die Performance der schwarz-gelben Regierung
bisher kann man ja wirklich trefflich streiten. Ich halte
sie für denkbar schlecht. Nur in einem Punkt würde ich
Schwarz-Gelb halbwegs gute Noten ausstellen, und
zwar, wenn es darum geht, Sachen schön zu reden und
Wohltaten anzukündigen.
({0})
Glaubt man Ihrer Rhetorik und der Rhetorik der Bundesregierung, dann sind die Arbeitssituation und die Zukunftsaussichten junger Wissenschaftler in unserem
Land wirklich ganz ausgezeichnet.
({1})
Aber wie sieht die Realität aus? Viele junge Forschende
sind in Teilzeit eingestellt und arbeiten trotzdem fast
Vollzeit. Der übergroße Teil ist befristet eingestellt, und
das ohne eine wirklich längerfristige Perspektive. Zu
viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen
an den Universitäten und Forschungseinrichtungen unseres Landes nur eine begrenzte Perspektive. Laut der aktuellen Studie sehen nur 20 Prozent der Befragten eine
Karriere, die sie planen können. Zum Teil werden selbst
Postdocs, also Menschen, die eine Promotion hinter sich
haben, noch Stipendien angeboten. Das ist wirklich eine
Daniela Kolbe ({2})
ziemliche Frechheit. Wenn man dann weiß, dass das
nicht nur an Universitäten passiert, sondern auch an vom
Bund mitfinanzierten Forschungseinrichtungen, dann
wird schlussendlich doch mindestens klar, dass es auch
in der Verantwortung des Bundes liegt, da etwas zu tun.
Aber was tut Frau Schavan? Da ist nichts zu hören außer warmen Worten, und heute ist von ihr nicht mal was
zu sehen. Sicherlich stimmt es, dass die Arbeitsverhältnisse für den wissenschaftlichen Nachwuchs einige Spezifika haben. Denn viele junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen schätzen es durchaus, dass sie eine
Zeitlang einfach nur forschen und sich beweisen können.
Ihnen geht es oft gar nicht um den unbefristeten Arbeitsvertrag mit einer 40-Stunden-Woche. Das zeigen auch
die Zahlen. Trotz dieser hochprekären Arbeitsbedingungen und unsicheren Perspektiven sind die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ihrem Job zufrieden. Sie schätzen eigenverantwortliches Forschen,
und sie sind hochgradig motiviert. Aber wissenschaftlicher Idealismus allein sichert auf Dauer kein Auskommen.
({3})
Nur mit Kant, Planck, Einstein usw. wird weder die
Wohnung warm noch Hunger gestillt noch für die Rente
vorgesorgt. Vor allem bedrücken junge Wissenschaftler
in unserem Land die Unsicherheit und die fehlende Planbarkeit ihrer Karrieren.
({4})
Meine Damen und Herren, ein Blick auf die soziale
Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses wirft die
Frage auf: Können und wollen wir es uns wirklich leisten, junge Akademikerinnen und Akademiker, die wir so
dringend brauchen, so lange in Unsicherheit zu lassen?
Wir sagen Nein. Weder wollen wir, dass junge Menschen in solcher Unsicherheit verharren, mit allen für sie
schmerzhaften persönlichen Konsequenzen wie Kinderlosigkeit, dem Gedanken, auszuwandern, und schlicht
schlechter Lebensqualität, noch können wir es uns als
wissensbasierte Gesellschaft leisten, diese jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in solcher Unsicherheit zu lassen.
Wir Sozialdemokraten meinen, Beschäftigungsverhältnisse müssen auch für Forscher in der Promotionsphase zur Norm werden. Allein durch Stipendien können
wir diese Gruppe auf Dauer nicht halten
({5})
und nicht zufriedenstellen. Hier muss der Bund
({6})
als regelmäßiger Mittelgeber höhere Anforderungen an
gute Arbeitsbedingungen stellen.
({7})
Besonders dramatisch wirkt sich die permanente Unsicherheit auf junge Frauen aus. Nicht nur, dass Frauen
in wissenschaftlichen Führungspositionen noch immer
so dramatisch unterrepräsentiert sind, dass selbst dem liberalsten Verfechter der reinen Leistungsgesellschaft das
Grausen kommen muss ({8})
an systematisch geringerer Leistung kann das ja wohl
nicht liegen -, nein, auch die mangelnde Vereinbarkeit
von Familie und Beruf trifft in besonderem Maße
Frauen. Seien wir ehrlich: Die derzeitigen Arbeitsbedingungen im akademischen Berufsumfeld lassen es kaum
zu, dass junge Wissenschaftlerinnen Mütter werden.
({9})
Viele Frauen verschieben den Wunsch nach Kindern in
eine ferne Zukunft, doch der ideale Zeitpunkt für ein
Kind kommt unter diesen Bedingungen selten oder nie.
Gerade junge Frauen - lesen Sie ruhig mal die Studie sorgen sich mehr um ihre berufliche Perspektive und sehen die größere Gefahr, abgehängt zu werden, wenn sie
Kinder bekommen.
Wir brauchen auch in den wissenschaftlichen Arbeitsgruppen eine andere Kultur. Oft hängt es von der Stimmung und der Kultur in den Instituten ab, ob Kinderwünsche erfüllt werden. Dadurch wird die Bundesregierung aber nicht aus der Verantwortung entlassen.
({10})
Gerade in der Postpromotionsphase, in der viele junge
Forscherinnen an vom Bund mitfinanzierten außeruniversitären Forschungseinrichtungen arbeiten, müssen
verlässliche Karriereperspektiven her: Arbeitsstellen in
der Wissenschaft, durch die ein Leben an einem Ort für
eine längere Zeit ermöglicht wird. Wir sagen: TenureTrack-Karrieren müssen auch in Deutschland häufiger
werden.
({11})
Die Probleme liegen auf dem Tisch, und sie sind erdrückend. Wir reden in der Tat über eine Gruppe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die die Zukunft
unseres Landes mitbestimmen können. Nehmen Sie die
Sorgen dieser jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur in Sonntagsreden, wie heute hier im
Deutschen Bundestag, sondern endlich auch in der realen Politik ernst.
({12})
Das Wort hat der Kollege Patrick Meinhardt für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen
und Kollegen! Ich darf nochmals den Titel dieser Aktuellen Stunde zitieren: „Fehlende Aktivitäten der Bundesregierung hinsichtlich der Zukunftsängste des wissenschaftlichen Nachwuchses“.
({0})
Das ist ein beachtlicher Titel, so präzise auf den Punkt
gebracht und so knackig. Vielleicht könnte man in Richtung SPD eher sagen: fehlende Fähigkeit der SPD hinsichtlich der verständlichen Formulierung des Themas
einer Aktuellen Stunde.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, um was geht
es in der Debatte? Es geht um die grundlegende Frage:
Wie attraktiv ist Deutschland für junge Wissenschaftlerinnen und junge Wissenschaftler? Wenn wir in die Studie hineingucken, dann sehen wir eine zentrale Aussage
dazu: Trotz aller Hürden ist der Beruf der Wissenschaftlerin und des Wissenschaftlers ein attraktives Ziel.
({2})
Durch unendlich viele Aktivitäten im Rahmen des
Pakts für Forschung und Innovation, des Hochschulpakts, der Exzellenzinitiative, des Professorinnenprogramms und des Stipendiatenprogramms wird sehr deutlich, dass Deutschland im Moment sein Gesicht ändert.
Deutschland wird als Wissenschaftsstandort von Jahr zu
Jahr attraktiver.
({3})
Es ist aber richtig: Man muss sich anhören, was beispielsweise die jungen Studierenden und die Doktoranden auch in den Netzwerken wie GAIN, dem German
Academic International Network, sagen. Dabei werden
natürlich auch Punkte angesprochen, denen wir uns unter allen Umständen mit einer gewissen Sorgsamkeit
widmen müssen, zum Beispiel wird dort gefordert, dass
es auch für Partnerinnen und Partner verstärkt Angebote
geben soll und dass es auch eine familienfreundliche Infrastruktur an unseren Hochschulen geben muss, um die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erhöhen.
Gucken wir uns doch einmal die Realität an. Wir haben Schritt für Schritt Veränderungen herbeigeführt. Die
TU und das Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden betreiben gemeinsam eine
Kindertagesstätte. Genau das ist der Weg, den wir beschreiten müssen, um familienfreundliche Strukturen in
den Forschungseinrichtungen und den Universitäten herzustellen.
({4})
Es ist dringend notwendig, dass wir uns auch damit
auseinandersetzen, wo wir jungen Menschen, jungen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Perspektiven geben können. Natürlich ist der Hochschul- bzw.
Universitätsbereich dabei von zentraler Bedeutung. Es
ist aber eine genauso klare Ansage, dass wir attraktive
Perspektiven auch im Bereich der Wirtschaft, im Mittelstand und bei den forschenden Unternehmen anbieten
wollen. Im vergangenen Jahr haben wir sage und
schreibe 67 Milliarden Euro durch Unternehmen generiert, in denen Forschung und Entwicklung der zentrale
Punkt ihres unternehmerischen Schaffens gewesen ist.
Es ist doch gut, wenn die jungen Menschen dort arbeiten, eine Perspektive für sich entwickeln können und
eine attraktive Zukunftsperspektive für sich sehen, und
das muss man auch als klares Ziel einer vernünftigen
Wissenschaftspolitik deklarieren.
({5})
Schauen Sie sich an, was wir nicht nur durch die Forschung, sondern auch durch die Lehre in den Bereich
Qualitätsoffensive investieren. Das ist ein ganz klares
Zeichen. Mit den 2 Milliarden Euro aus dem Qualitätspakt Lehre leisten wir eine Investition in die Zukunft
junger Menschen. Dadurch soll auch dazu beigetragen
werden, dass der Lehrstandort Hochschule für junge
Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler
attraktiver gestaltet wird. Das ist ein Ergebnis unserer
christlich-liberalen Politik.
({6})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Wissenschaftsorganisationen konnten von 2006 bis 2010 eine
jährliche Steigerung von 3 Prozent verzeichnen, und ab
2011 wird die Steigerung bei 5 Prozent jährlich liegen.
Dies unterstützt diese Koalition, um außeruniversitäre
Forschungsstandorte zu stärken und um jungen Wissenschaftlern Alternativen und attraktive Möglichkeiten zu
bieten.
({7})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen in diesem Land ein richtiges Grundgefühl, eine
richtige Grundstimmung, eine richtige Grundeinstellung.
({8})
Deswegen ist es immer wieder schön, wenn junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von sich aus sagen, dass sie in diesem Land eine Perspektive haben.
Diese Perspektive lassen wir uns von der Opposition
auch nicht kaputtreden.
Der nächste Schritt - diesen hat der Staatssekretär für
nächstes Jahr angekündigt -, den wir jetzt nach der Debatte machen müssen, ist, dass wir aufzeigen, wie wir
dieses Land im Bereich der Wissenschaftsfreiheit voranbringen. Dann haben wir die Chance, im kommenden
Jahr eine Diskussionskultur über mehr Wissenschaftsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland zu etablieren
und auf diesem Wege die dynamische Forschungspolitik,
die ein Qualitätszeichen dieser Bundesregierung ist, fortzuschreiben.
Vielen herzlichen Dank.
({9})
Der Kollege Klaus Barthel ist nun der nächste Redner
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will zuerst versuchen, das Thema in den Gesamtzusammenhang zu stellen.
Wir haben heute Vormittag eine heftige Debatte über
die Rente mit 67 geführt. Die Koalitionsredner haben
wieder einmal ihr Mantra von der Demografie heruntergeleiert. Aber ein Blick in die Demografiegeschichte
zeigt doch, dass wir den gravierendsten demografischen
Wandel, was das Verhältnis der erwerbstätigen Bevölkerung zur Gesamtbevölkerung angeht, bereits hinter uns
haben. Obwohl sich dieser demografische Wandel bei
uns in den letzten 100 Jahren vollzog, haben wir hohe
Wachstumsraten erzielt und den Sozialstaat ausgebaut,
und zwar trotz der Kriege und Krisen.
Warum ging das überhaupt? Es ging, weil sich die
Produktivität der Arbeit schneller entwickelt hat als der
demografische Wandel. Denn wenn es nur nach der Demografie ginge, müssten Bangladesch, Guatemala und
der Kongo das beste Rentensystem haben.
Die Produktivität hängt von der Qualität der Arbeit ab
und diese Qualität wiederum von den Fertigkeiten und
Fähigkeiten der Erwerbstätigen. Dabei spielen die Bereiche Wissenschaft, Forschung und Entwicklung eine zentrale Rolle, weil wir aus dem Wertprodukt dieser Arbeit
alles, also auch den Staat, die Sozialversicherung und die
Wissenschaft, finanzieren.
Umgekehrt gilt: Fehlende Bildung, fehlende Qualifikation, fehlende Wissenschaft und fehlende Forschung
würden uns erhebliche Wohlstandsverluste bescheren.
Die Prognos AG hat zum Beispiel errechnet, dass sich,
sofern wir nichts tun - und hier sind wir bei der Untätigkeit der Bundesregierung -, eine immer größere Arbeitskräftelücke insbesondere im Bereich der Fachkräfte und
Akademiker auftun wird.
Man kann nicht allen Zahlenspielen, die es dazu gibt,
folgen, aber die Größenordnungen, die aufgezeigt werden, müssen uns doch zu denken geben. Von heute bis
2030, so Prognos, baut sich unter Berücksichtigung der
Qualifikation ein Wachstumsverlust von mehr als 5 Billionen Euro auf. Damit fällt das Bruttoinlandsprodukt je
Einwohner im Jahre 2030 um 4 000 Euro weniger aus,
wenn wir nichts tun. 2030 haben wir nur noch ein halb
so großes Wachstum, wenn wir nichts tun. Daher ist es
notwendig, dass wir in den Bereichen Bildung und Wissenschaft handeln.
({0})
Man wird den Eindruck nicht los, dass die Bundesregierung hier zwischen Ignoranz und Untätigkeit einerseits
- das haben wir heute gerade wieder gehört - und einer
interessengeleiteten Hysterie andererseits schwankt.
Sie führen gerade eine kurzatmige Debatte über Zuwanderung und darüber, wie man Hochqualifizierte ins
Land holt. Herr Brüderle und Teile der Union würden
zum Beispiel gerne die Einkommensmindestgrenzen für
Fachkräfte absenken.
({1})
Sie wollen Akademiker aus aller Welt anlocken, um
Druck auf die Arbeitsbedingungen für die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auszuüben. Das ist reines
Lohndumping auch noch in diesem Bereich. Es ist alles
andere als eine Lösung des Problems, über das wir heute
reden.
({2})
Noch gibt es keinen generellen Fachkräftemangel. Ich
will nicht in die Hysterie mit einstimmen, aber Sie sind
dabei, ihn zu produzieren. Deswegen müssen Sie endlich
die Studien- und Arbeitsbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs deutlich verbessern. Es kann
doch nicht wahr sein, dass ausgerechnet der öffentliche
Forschungs- und Wissenschaftsbetrieb vom Idealismus
der dort Tätigen lebt und ansonsten in diesem Bereich
die Prekarität die Regel ist: von Befristung zu Befristung
bei Teilzeitbezahlung für Vollzeitarbeit frei nach dem
Motto „Nur die Not gebiert Großes“, wenngleich sie
auch keine Kinder gebiert, weil die Zukunft unklar ist,
wie wir gehört haben.
Die Entwicklung zieht sich inzwischen bis in die Ehrenamtlichkeit hinein. Mir ist heute der Mustervertrag
einer namhaften deutschen Hochschule vorgelegt worden. Darin ist unter anderem vorgesehen, dass sich
Lehrbeauftragte, die in einem öffentlich-rechtlichen
Rechtsverhältnis stehen, verpflichten, die einschlägigen
Arbeitssicherheits- und Unfallverhütungsvorschriften
einzuhalten. Das Ganze nennt sich Lehrauftrag. Der
Kernsatz lautet:
Eine Vergütung des Lehrauftrages erfolgt nicht.
Meine Damen und Herren, heben Sie die Tarifsperre
im Wissenschaftszeitvertragsgesetz auf!
({3})
Auch wissenschaftliche Arbeit ist Arbeit, und Arbeit
muss der Tarifautonomie unterliegen. Ersetzen Sie prekäre durch reguläre Arbeit! Schaffen Sie Dauerstellen
für Daueraufgaben! Sie wollen sicherlich nicht behaupten, dass die wissenschaftliche Arbeit keine Daueraufgabe ist.
({4})
Wir werden den internationalen Wettbewerb um die
besten Köpfe, wie es so schön heißt, nicht im Wettlauf
um die miserabelsten Arbeitsbedingungen gewinnen.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Tankred Schipanski
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die SPD veranstaltet heute eine erstaunlich
populistische Aktuelle Stunde.
({0})
Die Linke tanzt auf einem heißen Vulkan, und die SPD
springt auf die jüngst veröffentlichte HIS-Studie „Wissenschaftliche Karrieren“ auf. Die darin angesprochenen
Probleme sind allseits bekannt. Lösungsvorschläge werden diskutiert und Maßnahmen ergriffen.
Die Vertreter der christlich-liberalen Koalition sind
im regen Gedankenaustausch mit jungen Wissenschaftlern vor Ort in den Hochschulen, aber auch mit den Vertretern der Jungen Akademie. Wir haben ein Ohr für
diese Probleme. Dazu braucht es keine Aktuelle Stunde.
({1})
Bereits in vorangegangenen hochschulpolitischen Debatten haben wir uns klar dazu bekannt, eine kalkulierbare Laufbahnperspektive für junge Wissenschaftler
zum Beispiel nach dem Vorbild des Tenure Track weiter
auszubauen und den Ausbau unbefristeter Stellen im
akademischen Mittelbau voranzutreiben. Die Befristung
von Stellen im akademischen Mittelbau auf maximal
zwölf Jahre durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz
ist aber im Grundsatz sehr sinnvoll. Sie dient dem Wettbewerb. Sie gibt dem wissenschaftlichen Nachwuchs einen Orientierungsrahmen und den nötigen Schub, um
Dissertationen abzuschließen und Habilitationen anzugehen. Sie vermeidet, dass Menschen über Jahrzehnte
auf Qualifizierungsstellen sitzen, ohne nennenswerte
Forschungsergebnisse zu produzieren und ohne Anreize
zu haben, im akademischen System weiter aufzusteigen.
({2})
Doch sehen wir durchaus auch einen Korrekturbedarf
mit Blick auf bessere Rahmenbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs.
({3})
Die Kollegen der SPD sollten aber auf den Adressaten
ihrer Aktuellen Stunde achten. Gefordert ist nicht primär
der Bund; gefordert sind die Länder und die Hochschulen.
({4})
Schon heute haben die Wissenschaftseinrichtungen die
Möglichkeit, Mitarbeiterstellen nicht zu teilen, Juniorprofessorenstellen einzurichten und Tenure-Track-Optionen zuzulassen. Sie machen davon aber einfach nicht
ausreichend Gebrauch.
Der Bund stellt bereits umfassend Mittel zur Verfügung, die allen voran dem wissenschaftlichen Nachwuchs zugutekommen. Wir haben von Graduiertenschulen im Rahmen der Exzellenzinitiative gehört.
Außerdem geben wir Mittel im Rahmen des Hochschulpakts 2020. Ferner stellen wir Mittel bereit im Rahmen
des Pakts für Forschung und Innovation. Darüber hinaus
unterstützen wir Promotionsstipendien, Nachwuchsgruppen und Netzwerke.
Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht verkennen, dass die Grundfinanzierung einer Hochschule Ländersache ist. Dreh- und Angelpunkt sind die Haushaltsstellen, die eine Hochschule braucht. Dabei ist nicht der
Bund, sondern dabei sind die Länder in der Pflicht.
({5})
Das Handelsblatt titelte am 12. Oktober dieses Jahres:
Bund sichert Überleben der Hochschulen.
Weiter heißt es dort:
Stück für Stück steigt der Bund in die Grundfinanzierung der Hochschulen ein - und übernimmt damit ureigene Aufgaben der Länder.
Die FAZ berichtet am 25. November: Das Fundament
einer Grundfinanzierung der Hochschulen bröckelt. Den
Unis fehlt Planungssicherheit für ihre Entwicklungen
und Profilbildungen. Länder verweigern sich, ihre Haushalte zugunsten von Bildungs- und Innovationsausgaben
umzugewichten. Fakt ist, dass die Länder nicht mehr
agieren, sondern nur noch reagieren.
({6})
Schlimmer noch: Sozialdemokratische Kultusminister, wie beispielsweise der Kultusminister in Thüringen,
sparen im Hochschulbereich. Wir haben heute auf der
Besuchertribüne Gäste aus Thüringen.
({7})
In der Zeit hieß es am 11. November:
Allen Versprechungen zum Trotz geben die Landesregierungen weniger Geld für Bildung aus.
Im kleinen Bundesland Thüringen kürzt SPD-Bildungsminister Christoph Matschie für das Haushaltsjahr
2011 den Hochschulen 20 Millionen Euro. Er kündigt
einfach aus heiterem Himmel einen Pakt des Landes mit
den Hochschulen. Der Kollege Neumann hat dies für
Brandenburg bereits dargestellt.
Im gleichen Atemzug erhält Thüringen durch den
Hochschulpakt 2020
({8})
- hören Sie doch erst einmal zu - vom Bund 16 Millionen Euro für das Jahr 2011 zusätzlich für seine Hoch8558
schulen, also für Studienplätze und wissenschaftlichen
Nachwuchs.
Wissen Sie, was die Demonstranten in Thüringen sagen? Sie sagen: Uni-Tod in Raten: Danke, liebe Sozialdemokraten.
({9})
Die SPD sollte sich lieber darum kümmern, nicht die
Grundfinanzierung der Hochschulen zu kürzen. Damit
wäre dem wissenschaftlichen Nachwuchs mehr geholfen
als mit einer populistischen Aktuellen Stunde im Bundestag.
Die christlich-liberale Koalition in Berlin schürt keine
Zukunftsangst beim wissenschaftlichen Nachwuchs.
Dies macht die SPD mit ihren Ministern wie Christoph
Matschie, der das Fundament der Grundfinanzierung der
Hochschulen nachhaltig schädigt, und dies im Zeitalter
der Bildungsrepublik Deutschland.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ernst Dieter
Rossmann für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Beste bei solchen Debatten wäre, wenn wir uns alle
vornehmen, dass diese Reden, die wir hier wechselseitig
halten, an den Hochschulen im Bereich des wissenschaftlichen Nachwuchses verteilt werden oder auch bei
der Landesregierung von CDU und SPD in Thüringen.
({0})
Ich will damit nur sagen: Wir können uns das jetzt wechselseitig in die Schuhe schieben. Ein Kollege hat Brandenburg angeführt. Wir könnten Bayern anführen. Sie,
Herr Schipanski, haben Thüringen angeführt. Wir könnten fragen, wer in Thüringen regiert. Lassen wir das.
Ich finde, wir hatten einen guten Einstieg in das
Thema durch die Rede des Kollegen Schulz. Herr Staatssekretär Braun hat dann richtigerweise auf die Ambivalenz in der HIS-Studie abgehoben. Dieser Studie ist bei
den Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern viel Begeisterung für die Wissenschaft zu entnehmen, aber auch viel Sorge um die Bedingungen, unter
denen man eine optimale Leistung der Wissenschaft
schaffen will und kann.
Diese Ambivalenz muss uns doch Ansporn sein. Es
muss doch unser Ansporn sein, dass es nicht mehr eine
Ambivalenz bleibt, sondern zu ganz konkreter Unterstützung wird, aus der besseren Absicherung von wissenschaftlicher Tätigkeit heraus dann mit aller Energie für
die Wissenschaft arbeiten zu können.
Ich will in gleicher Weise für eine Balance werben.
Diese Balance ist etwas aus dem Ruder geraten. Im wissenschaftlichen System muss es natürlich immer Innovationen, Erneuerungen und Wechsel geben. Daher sind
wir in der Zeit von Rot-Grün und in der Großen Koalition bei einem Zeitvertragsgesetz und bei dem Modell
„zweimal sechs Jahre“ angekommen. Wenn aber auf der
anderen Seite 75 Prozent des wissenschaftlichen Nachwuchses nur befristet beschäftigt sind, dann ist die Balance in die falsche Richtung gegangen,
({1})
und wir müssen eine neue Balance finden.
Aus diesem Grund will ich noch einmal die fünf
Handlungsfelder beschreiben, die uns Sozialdemokraten
besonders wichtig sind.
Zunächst einmal muss es doch eine institutionelle Sicherheit für Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen geben, damit sie ihre Hochschuletats, ihre Forschungsetats und ihre Mitarbeiteretats nicht immer nur
durch Projektförderung finanzieren können. Dabei ist
natürlich existenziell wichtig - das spreche ich ganz ruhig an -, dass es an erster Stelle eine auskömmliche Wissenschaftsfinanzierung durch die Länder gibt. Aber ohne
eine auskömmliche Finanzierung der Länder gibt es
keine auskömmliche und sichere Wissenschaftsfinanzierung. Lassen Sie uns das gemeinsam festhalten, und
zwar sowohl für die CDU als auch die SPD in Thüringen.
({2})
Das Zweite ist, dass es eine neue Betrachtung von
Hochschule geben muss. Frau Sager, vielleicht habe ich
die Tragweite Ihrer Ausführungen nicht ganz verstanden. Aber das Ziel jedenfalls, dass jede wissenschaftliche Laufbahn am Ende in eine wissenschaftliche
Spitzenposition, in eine Professur, zu münden hat, darf
nicht das ausschließliche Leitbild des wissenschaftlichen
Nachwuchses sein.
({3})
Die Hochschulen sind breiter aufgestellt. Sie sind Forschungseinrichtungen und kümmern sich auch um Wissenschaftsvermittlung, Vermittlung von beruflichem Wissen und Weiterbildung. Vor diesem Hintergrund bedarf es
eines neuen Ethos und einer neuen Wahrnehmung dessen,
was früher akademischer Mittelbau genannt wurde.
({4})
Die Personalstruktur der Hochschulen muss deshalb in
zweierlei Hinsicht weiterentwickelt werden: in Richtung
Forschung und in Richtung Lehre.
Wenn es hier zu einem neuen Aufbau kommt, dann
gibt es auch Sicherheit für den wissenschaftlichen Nachwuchs. Im Qualitätswettbewerb entscheidet sich dann,
an welcher Stelle sich der wissenschaftliche Nachwuchs
im Wissenschaftssystem einbringen kann. Wenn wir die
Lehre aufwerten, dann schaffen wir schließlich auch hier
zunehmend qualitativ hochwertige Stellen.
Das Dritte ist: Wir müssen einerseits die Juniorprofessur über den Tenure Track ausbauen und andererseits die
Graduiertenkollegs noch mehr profilieren. Ich will den
bedenkenswerten Punkt dessen, was Sie, Herr Feist, angesprochen haben, aufgreifen. Es muss auch im Rahmen
des Graduiertenkollegs und des Promotionsbereichs eine
Vermittlung von beruflichen Kenntnissen geben, die auf
eine Tätigkeit außerhalb der Hochschule abzielen. Ich
bitte Sie, bei den Graduiertenkollegs nachzufragen, wie
es nicht nur um die Wissenschaftsorientierung, sondern
auch um die Berufsorientierung bestellt ist. Das könnte
zu einer neuen Qualität in Deutschland, dem Spitzenland
in Europa bei den Promotionen, führen.
Der vierte Punkt bezieht sich auf die Familienförderung. Diese scheint uns Sozialdemokraten in der Debatte
unterbelichtet zu sein. Wenn 25 Prozent der männlichen
Nachwuchswissenschaftler, aber nur 12 Prozent der weiblichen Kinder haben, dann kann uns das nicht ruhen lassen.
Das ist nicht nur diskriminierend. Vielmehr verschenken
wir hier auch Potenzial. Dass Nachwuchswissenschaftlerinnen so wenige Kinder haben, ist Ausdruck einer Notlage; denn sie haben den gleichen Wunsch nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie, von Wissenschaft und
Familie. Dennoch haben sie deutlich geringere Chancen,
Beruf und Familie zu vereinbaren. Schwache Studentenwerke und schwache Beratungsstellen, wenn es um Kindertagesstätten und Unterstützung geht, schwächen den
wissenschaftlichen Nachwuchs. Es ist eine gemeinsame
Aufgabe, hier für Verbesserungen zu sorgen.
({5})
Der fünfte Punkt betrifft den Tarifbereich. Es sollte
einen Wissenschaftstarifvertrag in Ergänzung der gesetzlichen Regelungen geben. Ich sage an Ihre Adresse,
meine Damen und Herren von der Koalition: Das Streiten für die Wissenschaftsfreiheit ist sicherlich richtig.
Aber Freiheit erzeugt auch Bedarf nach Sicherheit. Nur
wenn es Freiheit und Sicherheit gleichzeitig gibt, kommen wir voran. In dieser Hinsicht fand ich Ihre Ausführungen, Herr Neumann, im Hinblick auf das nächste Jahr
verheißungsvoll.
Aber es geht nicht nur um das nächste Jahr. Ich
möchte auch Rückschau auf das letzte Jahr halten. Im
Dezember letzten Jahres haben wir mit großen Erwartungen auf den Bildungsgipfel der Bundeskanzlerin mit
den Ministerpräsidenten geschaut. Auch dieses Jahr findet wieder eine Ministerpräsidentenkonferenz statt. Dort
soll ein Resümee in Bezug auf die Qualifizierungsinitiative gezogen werden. Ich werbe und kämpfe bei Frau
Merkel und den Ministerpräsidenten dafür: Nehmen Sie
auch die Fragen betreffend den wissenschaftlichen
Nachwuchs in Ihre Agenda auf, wenn Sie bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz überprüfen, was bei
der Qualifizierungsinitiative gut und was schlecht gelaufen ist! Machen Sie das rechtzeitig! Verschenken Sie
nicht wieder ein Jahr! Warten Sie nicht erst die Studie
ab, sondern sorgen Sie jetzt für entsprechende Weichenstellung! Tun Sie jetzt mehr für die Qualifizierung des
wissenschaftlichen Nachwuchses! Das ist der Anlass für
diese Aktuelle Stunde und nicht das, was manche meinten uns Sozialdemokraten als Polemik ins Stammbuch
schreiben zu müssen. Die wissenschaftlichen Nachwuchskräfte sollten uns jede gemeinsame Anstrengung
wert sein, auch den Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin.
Danke schön.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In dieser Woche wurde die große HIS-Studie „Wissenschaftliche Karrieren“ vorgelegt.
({0})
Für diese Studie wurden 2 300 Nachwuchswissenschaftler befragt. Als ich die Auswertung der Antworten gelesen habe, habe ich mich zuerst sehr gefreut. Denn entgegen der Meinung vieler, die den Wissenschaftsstandort
Deutschland permanent schlechtreden, haben die Befragten mit überwältigender Mehrheit angegeben, dass
sie mit den Bedingungen und den Inhalten ihrer Arbeit
sehr zufrieden oder zufrieden sind.
({1})
Der Beruf des Wissenschaftlers stellt ein erstrebenswertes Ziel dar. Die Studie zeichnet insgesamt ein sehr positives Bild vom Klima und von den Arbeitsbedingungen
an den Hochschulen und an unseren Forschungseinrichtungen.
({2})
- Doch, Arbeitsbedingungen auch. - Darüber können
wir uns auch, bevor wir gleich wieder ins Kritisieren fallen, wahrlich freuen, und darauf können wir zumindest
für einen Moment stolz sein.
({3})
In der Studie werden auch Sorgen angesprochen. Die
Sorgen der Nachwuchswissenschaftler, die zum Ausdruck kommen, drehen sich vor allem um die Befristung
von Stellen und die dadurch entstehenden Unsicherheiten für die Karriere und für die Familienplanung. Man
muss ehrlicherweise sagen: Diese Unsicherheiten werden wir nie ganz aus dem System nehmen können. Es
kann in der Wissenschaft nicht jeder als Professor oder
als Dozent unbefristet beschäftigt werden.
({4})
Ich kann daher nur jedem Wissenschaftler empfehlen,
immer auch eine berufliche Option außerhalb der Wissenschaft im Blick zu haben. Nichtsdestotrotz nehmen
wir die Sorgen der jungen Wissenschaftler sehr ernst.
Frau Bundesministerin Schavan war die erste Ministerin,
die diese Situation systematisch erfasst und 2008 den
ersten „Bundesbericht zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses“ vorgelegt hat.
({5})
Parallel dazu wurde zum Beispiel die KISSWIN-Plattform freigeschaltet; der Staatssekretär hat es vorhin angesprochen. Auch die erwähnte HIS-Studie, die am
Montag vorgelegt worden ist, wurde im Auftrag der
Bundesregierung erstellt. Diese Untersuchungen sind für
alle Beteiligten eine wichtige Bestandsaufnahme und
bieten Ansatzpunkte zur Verbesserung der Situation.
({6})
Ich will einen herausgreifen, der mich persönlich
nachdenklich gestimmt hat. Laut HIS-Studie sind - darüber ist heute noch nicht debattiert worden - nur etwa
20 Prozent der Befragten der Meinung, dass Personalentscheidungen in der Wissenschaft im Allgemeinen fair
ablaufen. Wir setzen die jungen Wissenschaftler einem
harten Wettbewerb aus und erwarten von ihnen Topleistungen. Aber dann müssen wir auch darauf achten, dass
die Bedingungen und die Regeln in diesem Wettbewerb
fair sind und die Regeln auch so wahrgenommen werden. Das kann der Bund nicht von oben verordnen, sondern das ist ein Thema, das die ganze Community angeht. Vorbild kann zum Beispiel das Auswahlverfahren
für das Emmy-Noether-Programm der DFG sein. Das
hat in der Wissenschaft einen hervorragenden Ruf.
Wenn es um die Schaffung attraktiver Rahmenbedingungen für Nachwuchswissenschaftler geht, sind alle Beteiligten gefordert. Der Bund fördert die Wissenschaft in
großem Umfang. Alleine über die Exzellenzinitiative
- Herr Staatssekretär Braun hat es vorhin angesprochen sind in den letzten Jahren über 4 000 neue Stellen für Wissenschaftler geschaffen und an die 330 Professuren neu
eingerichtet worden.
({7})
Ähnlich erfolgreich sind die Initiativen Hochschulpakt und Pakt für Forschung und Innovation.
({8})
Die Länder sind ebenfalls gefordert, ihren Beitrag zu
leisten. Wir haben das eben in der Debatte von den Kollegen Schipanski und Neumann gehört. Es stehen auch
die Hochschulen und die Forschungseinrichtungen in der
Verantwortung. Sie haben durch neue Hochschulgesetze
und durch die Wissenschaftsfreiheitsinitiative Spielräume erhalten, die sie jetzt nutzen müssen, um eine
transparente, streng leistungsorientierte und eine an den
Bedürfnissen der jungen Wissenschaftler ausgerichtete
Personalentwicklung zu betreiben. Nur gemeinsam können wir besser werden im Sinne unserer jungen Wissenschaftler.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
den Zusatzpunkt 6 auf:
7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtslage im Iran verbessern
- Drucksache 17/4011 -
b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
Die Hinrichtung der Iranerin Sakineh
Mohammadi Ashtiani verhindern und weltweit die Todesstrafe abschaffen
- Drucksache 17/3993 ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Flüchtlinge aus dem Iran aufnehmen
- Drucksache 17/3997 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Ich sehe, damit sind Sie
einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion das
Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sprechen heute über die ernste Menschenrechtslage im Iran. Erst gestern wurde eine Frau gehängt; erst gestern wurde wieder die Todesstrafe vollstreckt. Unabhängig davon, ob Frau Schahla Dschahed
unschuldig oder schuldig war - an ihrer Schuldigkeit
gibt es nach Amnesty International sehr wohl Zweifel -,
glaube ich, wir alle hier im Hohen Haus können sagen:
Wir sind gegen die Todesstrafe, und sie gehört weltweit
abgeschafft.
({0})
Diese Hinrichtung ist leider kein Einzelfall. Nach
Schätzungen von Amnesty International sollen im letzten Jahr 388 Menschen hingerichtet worden sein. In diesem Jahr sollen bereits 146 Todesurteile vollstreckt worden sein. Weitere Menschen sind von der Todesstrafe,
auch von der besonders grausamen Art der Hinrichtung,
nämlich der Steinigung, bedroht. Darunter ist Frau
Sakine Aschtiani. Redner aller Fraktionen haben in vorherigen Debatten zu Recht und unablässig gefordert, sie
von der Steinigung zu verschonen.
Deswegen ist es wichtig und richtig, dass sich die Bundesregierung regelmäßig gegenüber Vertretern der Islamischen Republik Iran für die Abschaffung der Todesstrafe einsetzt. Daneben initiiert und unterstützt sie
regelmäßig EU-Demarchen oder EU-Erklärungen, wie
zum Beispiel im Juli 2010. Da drohte die Hinrichtung eines zur Tatzeit Minderjährigen. Oder: Im Mai 2010 wurden ohne vorherige Ankündigung fünf Kurden hingerichtet. Hier hat die Bundesregierung eine Protesterklärung
der Hohen Vertreterin der EU, Lady Catherine Ashton,
initiiert.
Deswegen ist auch unser interfraktioneller Antrag
richtig. Wir fordern darin die iranische Regierung auf,
die Todesstrafe nicht mehr zu vollstrecken und endlich
dem 2. Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt
über bürgerliche und politische Rechte beizutreten.
({1})
Die iranische Bevölkerung ist tagtäglich gravierenden
Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Unter Mahmud
Ahmadinedschad hat sich die Lage verschlechtert. Neben
fehlender Versammlungsfreiheit und eingeschränkter
Meinungsfreiheit kommt es auch zu willkürlichen Verhaftungen. Seit Juni 2009 gab es rund 6 000 Verhaftungen
von Demonstranten, politisch Andersdenkenden oder
Unterstützern von regimekritischen Kreisen. Anderen gelang glücklicherweise die Flucht. Deswegen hat die Bundesregierung zu Recht entschieden, iranische Bürger aufzunehmen, die nach der sogenannten Grünen Revolution
in die Türkei geflohen sind und ohne gesicherte Aufenthaltsperspektive waren. 29 sind mittlerweile in Deutschland angekommen.
Ich möchte an dieser Stelle dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus Löning, sehr
herzlich danken. Er war gestern bei uns im Menschenrechtsausschuss und hat über seinen Besuch in der Türkei berichtet. Er hat auch darüber berichtet, dass er sich
dort mit iranischen Flüchtlingen getroffen und mit den
Familien gesprochen hat. Das zeigt: Wir nehmen dieses
Thema sehr ernst.
({2})
Es geht uns bei diesem Antrag aber nicht nur um die
Todesstrafe oder um die Flüchtlinge. Es geht uns darum,
dass wir uns für die allgemeine Verbesserung der Menschenrechtslage einsetzen, damit politische und bürgerliche Freiheiten endlich gewährt werden. Universitätsprofessoren, die nicht die staatliche Meinung vertreten,
wurde die Lehrbefugnis entzogen. Die Bandbreite des
Internets wird staatlich eingeschränkt, und Mobilfunknetze, die für die Zivilgesellschaft sehr wichtig sind,
werden regelmäßig blockiert. Das zeigt: Die grundlegenden Prinzipien der Presse- und Meinungsfreiheit werden
nicht eingehalten. Deswegen ist es, auch für die iranischen Blogger und für die iranische Zivilgesellschaft, so
wichtig, dass diese Prinzipien endlich gewährleistet werden.
Die Diskriminierung von Oppositionellen, von
Frauen, von Homosexuellen, von anderen Minderheiten,
vor allem religiösen Minderheiten wie den Bahai, ist im
Iran leider an der Tagesordnung. Diese Diskriminierung
ist massiv. Die Maßnahmen während der Grünen Revolution haben gezeigt, wozu das Regime fähig und bereit
ist. Es ist daher auch an uns, für all diejenigen einzutreten, die nicht mehr gehört werden können. Wir müssen
weiter das Sprachrohr sein für die Frauen und Männer,
die sich für die Menschenrechte und für ihre Mitmenschen im Iran einsetzen.
Das Regime im Iran bewertet die Lage natürlich anders. Die Anwendung der Todesstrafe wird gerechtfertigt mit der Bekämpfung von Umstürzlern oder von
Menschen, die als terroristische Gefahr gebrandmarkt
werden. Rechtsstandards werden mit dem Vorrang der
islamischen Scharia begründet. Diese Entwicklungen
können wir nicht gutheißen.
Erinnern wir uns: Eine Vielzahl von Menschenrechten ist bereits in der iranischen Verfassung niedergeschrieben. Das heißt, es ist auch an uns, die Islamische
Republik immer wieder an die eigenen Standards zu erinnern,
({3})
damit diese endlich eingehalten werden.
({4})
Das iranische Volk blickt auf eine erfolgreiche und
stolze Geschichte innerhalb der Völker dieser Welt zurück. Es verdient eine Regierung, eine Justiz und Sicherheitsbehörden, die es beschützen und fördern, statt es zu
unterdrücken. Deswegen ist es wichtig, dass wir Parlamentarier im Bundestag, aber auch die Bundesregierung
mit unserer Arbeit weitermachen und den vorliegenden
Antrag verabschieden. Wir senden damit ein Signal an
das Regime, aber vor allem auch an die Zivilbevölkerung.
Die Islamische Republik muss sich ihrer Verantwortung bewusst werden und endlich ein klares und deutliches Bekenntnis zu Freiheit, zu Rechtsstaatlichkeit und
gegen die Todesstrafe, gegen Folter, gegen Unterdrückung und gegen Diskriminierung ablegen - nicht durch
Worte, sondern durch Taten.
({5})
Für die Islamische Republik steht viel auf dem Spiel.
Es geht nämlich um die Zukunft, um die Zukunft von
74 Millionen Menschen. Deswegen ist es richtig und
wichtig, dass wir mit unserem Engagement nicht nachlassen, dass wir aber auch nicht die Gesprächskanäle in
den Iran verschließen.
Vielen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Graf für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Fall der Sakine Aschtiani beschäftigt uns und die
Medien seit Monaten. Ihr Schicksal ist nach wie vor unklar. Selbst wenn die entsetzliche Strafe der Steinigung
nicht vollstreckt wird, droht ihr nun der Tod durch Erhängen.
Ich selbst habe Ende September an einer Pressekonferenz teilgenommen, um für die SPD-Fraktion gegen dieses schreckliche Schicksal von Frau Aschtiani zu protestieren - immer in der Hoffnung, dass internationaler
Protest die Verurteilte und ihre Angehörigen schützen
könnte. Ich danke ausdrücklich Frau Mina Ahadi, die
uns als Dissidentin und Gründungsmitglied des Komitees gegen Steinigung auf dieses schreckliche Steinigungsurteil aufmerksam gemacht hat und damals auch
den Telefonkontakt mit dem Sohn von Frau Aschtiani
hergestellt hat.
Todesurteile gibt es im Iran zuhauf. Frau Kollegin
Schuster hat gerade schon die Nachricht angesprochen,
dass die Iranerin Schahla Dschahed gestern im Teheraner Evin-Gefängnis wegen Mordes an einer Rivalin
durch den Strang hingerichtet wurde. Diese Nachricht ist
nur wenige Stunden alt. Die Angehörigen des Opfers
übernahmen laut Presseberichten bei der Hinrichtung
eine aktive Rolle. Frau Dschahed war die Ehefrau auf
Zeit eines iranischen Fußballprofis.
Ob die Anklagen gegen Frau Aschtiani oder Frau
Dschahed gerechtfertigt waren oder nicht, kann ich nicht
beurteilen. Es gibt erhebliche Zweifel daran; das hat
eben auch die Kollegin Schuster schon angesprochen.
Wir wissen aber wohl, dass ihr Verfahren weder fair
noch rechtsstaatlich war.
Gefangenen im Evin-Gefängnis droht generell die
Folter. So hat Frau Dschahed nach fast einem Jahr Untersuchungshaft ihr Geständnis vor Gericht widerrufen unter Hinweis auf die Umstände, unter denen es zustande gekommen ist.
Wir müssen leider seit Jahren feststellen: Die Menschenrechtssituation im Iran ist katastrophal, in jeglicher
Hinsicht. Die zivile Opposition, die gegen das Regime
aufbegehrt, wird blutig niedergeschlagen, und ihre Anhänger werden politisch verfolgt. Ich darf darauf hinweisen, dass der WDR am Montag, dem 6. Dezember, ab
22 Uhr eine Fernsehsendung mit dem Titel „Wo ist
meine Stimme?“ ausstrahlt. Da werden Bilder von diesem Aufstand in Teheran gezeigt. Jeder möge sich selbst
ein Bild davon machen.
Es kommt nach Geltung der Scharia in diesem Land
zu für uns unglaublichen Urteilen für zweifelhafte Vergehen wie zum Beispiel der Steinigung bei Abfall vom
Glauben, Ehebruch oder Homosexualität. Dieben, die
Schokolade stehlen, wird öffentlich die Hand abgehackt grausige Vorgänge in diesem Land!
Auch das Thema Zeitehe - ich habe es im Zusammenhang mit Frau Dschahed erwähnt - ist ein Thema,
mit dem man sich genauer auseinandersetzen sollte. Die
Ehe auf Zeit kann für Jahre, Tage, Stunden oder auch nur
für den Geschlechtsverkehr geschlossen werden. Zeitehen werden übrigens auch mit zum Tode verurteilten
Frauen vor ihrer Hinrichtung eingegangen, um sie legitimiert vergewaltigen zu können. All dies sind furchtbare
Vorgänge im Iran. Man muss sie deutlich ansprechen,
damit man weiß, was in diesem Land passiert.
Aber nicht nur diese Todesurteile - 2 000 Verurteilungen allein im Jahre 2009 - müssen uns zu denken geben.
Der Iran ist ein Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger
terrorisiert. Journalisten, Studenten, Lehrer, Menschenrechtsverteidiger und Frauenrechtsaktivistinnen, die sich
für eine Öffnung des Irans engagieren wollen, werden
verfolgt, gegängelt, inhaftiert, ihre Familien werden bedroht, sie werden gefoltert, körperliche Züchtigungen
sind an der Tagesordnung, und die Todesstrafe droht ihnen.
Akbar Gandschi hat das bei einem Zeitungskongress
in Hamburg, wo dem ebenfalls im Evin-Gefängnis inhaftierten iranischen Journalisten Ahmad Zeid-Abadi die
„Goldene Feder der Freiheit“ verliehen wurde, sehr
deutlich ausgesprochen. Er brachte sich damit wohl
selbst wieder in Gefahr. Er war schon einmal wegen einer Äußerung, die er im sogenannten Westen gemacht
hat, sechs Jahre in ebendiesem Evin-Gefängnis. Man
kann den Mut dieser Menschen nur bewundern, die damit deutlich an die Öffentlichkeit gehen.
({0})
Dass auch ausländische Journalisten von Verfolgung
nicht verschont werden, ist jedem von uns bekannt. Ich
habe es sehr gut gefunden, dass sich eine Delegation des
Bundestages in Teheran für die Freilassung der Journalisten eingesetzt hat, und hoffe, dass der Antrag, den wir
heute besprechen, auch dabei hilft, hier tätig zu werden
und die Regierung in Teheran entsprechend zu beeindrucken.
Die Situation in Teheran, im Iran, ist auch sehr
schwierig, was die Medien betrifft. Das Internet wird
kontrolliert.
Ich möchte noch einen kurzen Satz zu dem Antrag sagen, den wir vorliegen haben: Die Abscheu gegen diejenigen, die mit einem solchen Terrorregime Menschen
beherrschen, und der Kampf gegen die Todesstrafe eint
uns alle. Deswegen haben wir das leider sehr kurzfristige
Angebot der Koalition angenommen, nach einigen nötiAngelika Graf ({1})
gen Ergänzungen diesen Antrag, über den wir heute reden, gemeinsam einzubringen - auch um dem Anliegen
der Frau Aschtiani mehr Gewicht zu geben. Wir hätten
uns allerdings gefreut, wenn es möglich gewesen wäre,
die Anzahl der Flüchtlinge - das haben Sie angesprochen - von 50 auf eine größere Zahl zu erhöhen.
({2})
Wir wollten, dass es geprüft wird. Es war also kein irgendwie unsittliches Ansinnen, das wir da formuliert haben. Es handelte sich um einen Prüfauftrag an die Bundesregierung. Ich denke, die Bundesregierung und die
sie tragenden Parteien hätten da über ihren Schatten
springen sollen; denn 50 ist zu willkürlich, es ist zu wenig, und es ist ein zu schwaches Signal.
({3})
Wir sollten etwas nicht vergessen: Die Menschen, die
wir aufnehmen, sind fähig, nach der Schreckenszeit des
Herrn Ahmadinedschad den Iran wieder aufzubauen.
Auch das sollten wir bedenken, wenn wir über solche
Dinge reden. Es hat auch etwas mit unserer eigenen Geschichte zu tun. Wo wären wir heute, wenn wir nicht die
Menschen gehabt hätten, die geholfen haben, unseren
Staat wieder aufzubauen?
Darum meine Bitte an Sie bei den weiteren Beratungen: Gehen Sie in sich! Vielleicht ist es doch noch möglich, diesen Satz in den Antrag einzufügen.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Graf, zunächst ein Wort an Sie. Wir sind
heute in der Lage, über einen interfraktionellen Antrag
zu debattieren; das kommt in diesem Haus nicht sehr oft
vor.
({0})
Es ist per se gut, dass wir uns alle bei diesem Thema sehr
einig sind; das wurde auch in den Redebeiträgen deutlich.
Zusätzlich liegt ein Antrag von SPD und Grünen zur
Aufnahme weiterer Flüchtlinge aus dem Iran vor. Wir
haben uns auf die Aufnahme von 50 Flüchtlingen aus
dem Iran geeinigt. Unsere Regierung - unter anderem
der Außenminister und der Menschenrechtsbeauftragte waren hier aktiv. Inzwischen sind 29 Flüchtlinge in
Deutschland angekommen; Kollegin Schuster hat es bereits gesagt. Die anderen Fälle befinden sich derzeit in
der Prüfung. Frau Kollegin Graf, bei allem Verständnis
für Ihr Begehren muss ich schon darauf hinweisen: Wir
müssen bei solchen Fragen immer die Länder mit einbeziehen; es ist nicht so einfach, über ihre Köpfe hinweg
zu entscheiden.
({1})
Ich möchte ein Beispiel dafür anführen, dass die Bundesregierung und das Parlament in der Lage sind, zu
handeln, wenn die Lage prekär wird, wenn die Menschenrechte mit Füßen getreten werden und die Menschen in Not sind. Ich erinnere an eine Aktion auf europäischer Ebene, die von Deutschland ausging: 10 000
irakische Flüchtlinge sollten nach Europa gebracht werden. 2 501 Flüchtlinge sind in Deutschland angekommen; wir haben unsere Hausaufgaben erfüllt; wir sind
nach wie vor sehr eng bei den irakischen Flüchtlingen.
Wir brauchen also keine Aufforderung von Ihnen. Wenn
wir sehen, dass etwas nicht funktioniert, sind wir durchaus in der Lage, zu handeln und den Menschen zu helfen. In diesem Fall war Deutschland der Motor in Europa. Das zeigt, dass wir uns um die Menschen in Not
kümmern. Das wollte ich zunächst einmal zu dem anmerken, was Sie gesagt haben.
Wir haben das Thema Iran bereits mehrfach hier im
Hohen Haus - im Plenum, aber auch im Menschenrechtsausschuss - behandelt. Wir haben Betroffene, zum
Beispiel die Bahai, gehört. Wir stehen aber auch in Kontakt zu Exiliranern, die uns über die Situation in ihrer
Heimat berichten.
Wir sollten an dieser Stelle daran erinnern, dass Iran
Mitunterzeichner der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 ist. Am 8. Dezember findet in Erinnerung an die Unterzeichnung der Internationale Tag
der Menschenrechte statt. Wir werden dann noch einmal
die Situation im Iran thematisieren.
({2})
Der Iran ist aber auch Vertragsstaat des Internationalen
Paktes über bürgerliche und politische Rechte und schon
von daher verpflichtet, die grundlegenden Menschenrechte zu gewähren.
Die Realität sieht aber leider anders aus. Beide Kolleginnen haben bereits davon berichtet; ich brauche das
nicht zu wiederholen. Fundamentale Menschenrechte
wie das Recht auf Leben, auf angemessene Behandlung
im Gefängnis und auf Rechtsstaatlichkeit - keine Inhaftierung aus Willkür, sondern nur nach Überprüfung
durch den Haftrichter -, aber auch die Meinungsfreiheit,
die Pressefreiheit und viele andere Rechte werden im
Iran nicht gewährleistet. Menschen, deren Angehörige
Repressalien und Folter erfahren oder zu Tode kommen,
erfahren Druck und Zwang, wenn sie Kontakt mit der
Presse aufnehmen, um Öffentlichkeit zu schaffen.
Auch ausländische Journalisten, die sich darum kümmern, sind der Schikane ausgesetzt. Aktuell sind zwei
deutsche Journalisten im Zusammenhang mit dem Fall,
den die Kollegin gerade angesprochen hat, inhaftiert.
Hier ist das Auswärtige Amt dabei, zu helfen. Wir hoffen, dass es im Fall Aschtiani vorangeht. Erst weg von
der Steinigung, dann hin zum Erhängen, und jetzt eventuell eine Begnadigung.
Eine Steinigung ist grausam: Die Männer werden bis
zur Hüfte, die Frauen bis zur Brust eingegraben und
dann gesteinigt. Teilweise ist es ein stundenlanger
Kampf, bis man tot ist. Das ist ganz barbarisch. Im Vergleich dazu erscheint der Tod durch Erhängen fast wie
ein Gnadenakt; aber das ist auch nicht viel besser. Es
handelt sich um ein Todesurteil aus Willkür. Geständnisse werden durch Folter erpresst. Man hört vom Menschenrechtsrat im Iran, dass im Fall Aschtiani eine Begnadigung anstehen könnte. Wir wissen nicht, ob das
stimmt; aber ich denke, dass der weltweite öffentliche
Druck in diesem Fall etwas bewirken konnte und kann.
Wir sollten in diesem Fall dafür sorgen, dass der Druck
so lange aufrechterhalten wird, bis auch der Sohn und
der Anwalt und auch die beiden deutschen Journalisten
aus der Haft entlassen werden. Ich denke, da sind wir
uns sehr einig.
({3})
Dieser Fall zeigt, dass wir durch öffentlichen Druck
Einfluss auf die Geschehnisse im Iran nehmen können,
wenn auch nicht massiv, aber doch langsam und stetig.
Dieser Druck muss international aufgebaut und dann
aufrechterhalten werden; wir haben mit vielen Reisen
des Ausschusses dazu beigetragen. Frau Kollegin Graf,
wir waren gerade in Kairo. Auch dort konnte man feststellen: Die Deutschen haben einen guten Ruf in der
Welt, gerade im Hinblick auf die Einforderung der Menschenrechte. Ich erwähne in diesem Zusammenhang gerade auch Indien und viele andere Länder mehr. Wir
schauen danach. Wenn man insistiert, hat man auch Erfolg. Wir wollen dieses Pfund, unseren guten Ruf als
Deutsche nutzen, um immer wieder darauf hinzuweisen,
dass die fundamentalen Menschenrechte eingehalten
werden müssen.
Wenn man sich die Bilanz des derzeitigen Präsidenten
ansieht, muss man sagen, dass sich die Menschenrechtssituation dramatisch verschlechtert hat. Ich hatte die Situation geschildert, die Grüne Revolution und all das,
was den Menschen, die für ihre fundamentalen Rechte
auf die Straße gehen, geschieht: Sie werden inhaftiert,
gefoltert und kommen zu Tode. Davon sind auch Minderjährige betroffen. Auch die traurigen Rekorde an Hinrichtungen wurden genannt. In diesem Jahr wurden bislang 2 000 Todesurteile verhängt; einige Hundert sind
bis jetzt vollstreckt worden. Zu den Details der Hinrichtungen habe ich mich bereits geäußert.
Es gibt viele Straftatbestände, auch vermeintliche
Straftatbestände, auf deren Grundlage jemand in Haft
kommt und mit dem Tode bestraft werden kann. Es gibt
zum Beispiel den Straftatbestand der Gottesfeindschaft.
Das kann man sehr weit auslegen. Ein Beispiel dafür,
dass man auch dafür schwere Repressalien erfahren
kann, ist die 26-jährige Bloggerin und Menschenrechtsaktivistin Frau Ahari, die seit Dezember 2009 im berühmt-berüchtigten Evin-Gefängnis einsitzt. Auch ihr
droht der Tod.
Die iranische Verfassung - das hatte ich im Rahmen
einer Rede vor knapp einem Jahr hier schon im Detail
beschrieben - ist auf den ersten Blick eine Verfassung,
mit der man leben kann. Sie enthält Menschenrechte und
Grundfreiheiten - das ist dort gewährleistet -; aber alles
steht unter dem Vorbehalt der Scharia, und das ist das
Problem. Die Scharia erlaubt körperliche Strafen wie
Peitschenhiebe und Amputationen, die Todesstrafe und
Steinigungen - auch bei Minderjährigen. Die Frauen
- das möchte ich als Frau noch erwähnen; es sprechen
heute zum Thema ja einige Frauen - sind alles andere als
gleichberechtigt; das ist ganz schwierig. Frau Kollegin
Graf hat die Möglichkeit der Ehe als Nebenfrau auf Zeit,
auf Stunden, angesprochen. Das war auch bei der Frau
der Fall, die gestern Morgen gehängt wurde.
Die Situation der Bahai und anderer religiöser Minderheiten ist ganz prekär. In diesem Zusammenhang
habe ich gerade die Nachricht erhalten, dass einem iranischen Pfarrer, 35 Jahre alt, wegen des Übertritts vom
muslimischen zum christlichen Glauben über seinen Anwalt das Todesurteil zugestellt worden ist. Männer erhalten dafür die Todesstrafe, die Frauen eine lebenslange
Haft. In diesem Fall sind beide Eheleute konvertiert. Sie
haben zwei Söhne im Alter von sechs und acht Jahren.
Das ist eine schwierige Situation. Ich denke, wir sollten
uns gemeinsam auch dieses Falles annehmen und sehr
dezidiert darauf achten, ob sich die Situation im Iran verändert.
Wir müssen aber auch schauen, dass wir für die Menschen, die hier in Deutschland leben oder im Iran sind
und die Situation aushalten wollen, die Situation verbessern. Ich habe in meinem Wahlkreis aktuell eine junge
Frau, eine Iranerin, die in Deutschland lebt und mit einem Iraner verheiratet ist. Sie hat sich nicht so verhalten,
wie der Mann es wollte. Er hat gesagt: „Wir fahren zu einem Besuch in die Heimat“ und hat sie dann dort ins Gefängnis geschafft mit dem Argument, sie habe Ehebruch
begangen und müsse gesteinigt werden. Es ist nur unter
schwierigsten Umständen möglich gewesen, die Frau
wieder aus dem Gefängnis zu holen.
Wir müssen die Situation derer, die geflohen sind,
tragfähig machen, aber auch dafür sorgen, dass sich die
Situation im Land verändert. Das gilt auch für den Irak.
Wir müssen zusehen, dass die Menschen in ihrer Heimat
eine Perspektive haben. Nur dort, wo es überhaupt nicht
möglich ist und der Tod vor der Tür steht, müssen wir
auch hierfür aus Deutschland Hilfe leisten.
Ich möchte zusammenfassen: Wir müssen in diesem
Haus - auch durch die heutige Debatte - eine Öffentlichkeit für dieses Thema schaffen. Wir müssen aber nach
wie vor auch versuchen, mit der Regierung, den Oppositionellen, Organisationen und Religionsvertretern vor
Ort im Gespräch zu bleiben. Wir müssen auch auf der
Grundlage der internationalen Verpflichtungen, die der
Iran eingegangen ist, dafür sorgen, dass die fundamentalen Menschenrechte eingehalten werden. Wenn wir uns
in diesem Haus beim Thema Iran so einig sind wie
heute, dann sollte das auch bei anderen Staaten der Welt
gelten, in denen es ähnlich prekäre Situationen gibt.
Noch einmal zu der Prüfung der Annahme weiterer
Flüchtlingen: Da werden wir, wenn es so weit ist, weitere Gespräche führen. Wir haben das Kontingent von 50
noch nicht ausgeschöpft. Wenn sich die Situation verschärft und Bedarf besteht, dann können wir sicherlich
auch mit den Vertretern der Länder darüber reden, ob
und wie wir hier eine weitere Hilfestellung geben können, so wie wir es auch beim Irak gemacht haben. Ich
denke, dann werden wir, die Bundesregierung, der Außenminister und auch der Menschenrechtsbeauftragte
das Ohr am Volk, nah bei den Menschen haben und helfen. Ich denke, darin sind wir uns einig, und das sollten
wir weiter so machen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Groth für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte einmal kurz auf die Entstehung
des Antrags der Regierungskoalition, von SPD und Grünen eingehen. Es waren die Grünen, die die Regierungsfraktionen gebeten hatten, einen interfraktionellen Antrag gegen die Hinrichtung der Iranerin Sakine Aschtiani
zu unterstützen. Die Koalition lehnte dies aus innenpolitischem Kalkül ab. So sind die Grünen und die SPD auf
uns, die Linke, mit der Bitte zugekommen, gemeinsam
einen Oppositionsantrag zu formulieren. Das ist der jetzt
vorliegende Antrag der Linken. Nachdem wir drei Fraktionen einen gemeinsamen Antrag erarbeitet hatten, sind
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, zu SPD und Grünen gegangen und haben
plötzlich für einen gemeinsamen Antrag geworben. Dem
haben Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Grünen, zugestimmt. Sie wollen es sich nicht mit
der CDU verderben, stehen nächstes Jahr doch etliche
Wahlen an, bei denen es interessante Koalitionsmöglichkeiten gibt.
({0})
Dieses Spiel machen wir nicht mit.
({1})
Wir haben uns entschieden, den gemeinsam mit SPD
und Grünen ausgearbeiteten Antrag als eigenständigen
Antrag zur Abstimmung zu stellen, da er schlicht und
einfach besser ist. Also gibt es keine Zustimmung zu Ihrem Antrag.
({2})
Wir setzen uns gegen die Vollstreckung des Todesurteils an Frau Aschtiani ein und fordern die iranische Regierung sowie alle anderen Regierungen auf, das von der
UNO-Generalversammlung beschlossene Hinrichtungsmoratorium zu befolgen. Insbesondere betrifft dies neben dem Iran China, den Irak, Saudi-Arabien, den Jemen
und die USA. Diese Länder vollstrecken die meisten
Hinrichtungen.
Wir unterstützen auch eine Resolution, die demnächst
in die UNO-Generalversammlung eingebracht wird.
Alle Staaten, die die Todesstrafe noch nicht abgeschafft
haben, werden aufgefordert, dem UNO-Generalsekretär
und der Öffentlichkeit sämtliche Informationen über Todesstrafe und Arten der Hinrichtung zur Verfügung zu
stellen, um so die staatliche Geheimhaltung zu überwinden.
Ich setze mich ganz bewusst für Frau Aschtiani, ihr
Recht auf ein faires Gerichtsverfahren und ihr Recht auf
Leben ein.
({3})
Ich halte es im Kampf für die Abschaffung der Todesstrafe für enorm wichtig, immer wieder auf Einzelschicksale von Menschen, die weltweit durch die eigene
Regierung vom Tode bedroht sind, aufmerksam zu machen. Darum beteilige ich mich seit Jahren an der internationalen Kampagne für Mumia Abu-Jamal, der in den
USA von der Todesstrafe bedroht ist.
({4})
Bei unserem Einsatz für die Menschenrechte und gegen die Todesstrafe dürfen andere politische Interessen
gegenüber den betreffenden Staaten keine Rolle spielen.
({5})
Die Fraktion Die Linke wird sich nicht an Ihrer Debatte
über die Achse des Bösen beteiligen. Die Todesstrafe im
Iran ist genauso barbarisch wie die Todesstrafe in China
oder den USA.
({6})
Wenn ich mir Ihren gemeinsamen Antrag ansehe, bin
ich mir nicht ganz sicher, worum es Ihnen eigentlich
geht.
({7})
Wollen Sie sich für Frau Aschtianis Recht auf Leben einsetzen, oder benutzen Sie sie, um einmal richtig gegen
den Hort des Bösen, den menschenfeindlichen Islam,
vom Leder ziehen zu können? Wir lehnen es ab, unseren
Appell gegen die Todesstrafe für außenpolitische und
geostrategische Machtinteressen instrumentalisieren zu
lassen. Für die Fraktion Die Linke ist immer wichtig,
dass Menschenrechtsverletzungen, die von unseren Verbündeten begangen werden, nicht einfach unter den
Tisch gekehrt werden, während sie, wenn sie von unliebsamen Regimen begangen werden, offensiv aufgegriffen
werden. Eine solche Menschenrechtspolitik ist unehrlich
und schadet unserem Bemühen, die Achtung der Menschenrechte weltweit durchzusetzen.
({8})
Die Menschenrechtsverletzungen im Iran sind
schwerwiegend; das wissen wir alle. Aber schauen Sie
auch einmal in die ägyptischen Folterkammern oder
nach Saudi-Arabien. Warum schreien Sie nicht auf,
wenn unzählige Kinder und Frauen bei dem israelischen
Krieg gegen den Gazastreifen ums Leben kommen? Wo
ist Ihre Stimme, wenn Kinder in israelischen Gefängnissen gefoltert oder bei friedlichen Demonstrationen erschossen werden?
Wir stellen uns gegen jeden Versuch, die iranische
Oppositionsbewegung als Vorwand für eine Neuordnung
der Ölregion im Interesse der westlichen Industrienationen zu missbrauchen. Sanktionen, die die Bevölkerung treffen - Sanktionen treffen immer die Bevölkerung -, lehnt die Linke ab. Sanktionsdrohungen tragen
zur Verschärfung von Konflikten bei. Wem es wirklich
um Demokratisierung und Menschenrechte im Iran geht,
der muss alles tun, um die internationale Lage des Iran
zu entspannen. Wir alle kennen die Kriegsdrohungen gegen den Iran.
Sie sollten sich für eine Politik starkmachen, die den
Iran einbindet und statt Konfrontation und Isolation eine
Politik des wirklichen Dialogs wählt. Solange deutsche
Iranpolitik im Kern auf Sanktionen und Androhung militärischer Intervention beschränkt bleibt, ist eine wirkungsvolle Menschenrechtspolitik unmöglich.
Danke.
({9})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Volker Beck das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben einen
gemeinsamen Antrag mit der Koalition eingebracht, weil
es uns darum geht, das gemeinsame Signal dieses Hauses an den Iran zu senden:
({0})
Stoppen Sie die Steinigung von Aschtiani! Führen Sie
sie einem fairen Gerichtsverfahren zu! Lassen Sie sie sofort frei, wenn die Schuld nicht erwiesen ist!
({1})
Darum geht es in dieser Debatte, nicht um die Kindereien zwischen CDU/CSU-Fraktion und Linksfraktion.
Ich finde, unser Signal wäre stärker - das will ich deutlich sagen -, wenn alle fünf Fraktionen auf dem Antrag
stünden. Themen, bei denen wir uns einig sind, Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern zu kritisieren, sollten wir hier im Hohen Haus gemeinsam tragen.
({2})
Ich bin nicht bereit, wegen der Probleme, die Sie mit
der Linken haben, das gemeinsame Signal gegenüber einem menschenrechtsverletzenden Regime zu schmälern.
Deshalb haben wir uns auf diesen Antrag eingelassen.
Der Antrag zur Menschenrechtssituation im Iran ist umfassend. Er beinhaltet nicht nur das Problem der Steinigung, sondern auch Themen, die Oppositionelle und religiöse Minderheiten sowie Homosexuelle und Frauen
regelmäßig betreffen.
Die Kollegin Schuster hat vorhin angesprochen, dass
wir den Iran auffordern, das Zusatzprotokoll zur völligen
Abschaffung der Todesstrafe zu unterzeichnen. Im Fall
Aschtiani und auch in anderen Fällen reicht es aber, ihn
an seine Verpflichtung zu erinnern, die er zur Einschränkung der Todesstrafe im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte eingegangen ist. Danach
darf die Todesstrafe nur bei schwersten Verbrechen, bei
einer klaren Beweislage und in einer nicht brutalen Form
verhängt werden. All diese Punkte verletzt der Iran. Deshalb müssen wir den Iran aufgrund seiner selbstständig
eingegangenen völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Verpflichtungen daran erinnern, dass das so nicht
geht und dass die Staatengemeinschaft das nicht hinnimmt.
({3})
Ehebruch, Abfall vom Glauben oder Homosexualität
sind häufig Gründe für Todesurteile im Iran. Keiner dieser Gründe ist ein schwerstes Verbrechen. Das kann man
schon dem entnehmen, dass es über die Strafbarkeit dieser Tatbestände in der Staatengemeinschaft überhaupt
keinen Konsens gibt. Dann können es keine schwersten
Verbrechen sein.
({4})
Wie die Urteile zustande kommen, kann man auch an
dem Fall von Ibrahim Hamidi nachvollziehen, einem 18-Jährigen, der von der Hinrichtung durch Erhängen am Kran
bedroht ist, weil er mit drei anderen jemanden homosexuell vergewaltigt haben soll. Der Tatvorwurf der homosexuellen Vergewaltigung ist der häufigste Vorwurf,
der gemacht wird, um Homosexuelle zu verfolgen. Die
Geständnisse der Zeugen sind in der Regel erpresst oder
gehen, wie in diesem Fall, auf Familienstreitigkeiten zurück. Später ziehen die Zeugen ihre Aussagen zurück,
aber das Todesurteil bleibt in Kraft. Während seiner Vernehmung war Ibrahim Hamidi an den Beinen aufgehängt
und geschlagen worden. Bei einer weiteren Vernehmung
ging ein Glastisch zu Bruch. Auf diese Art bekommt der
Iran in seinen Moralverfahren die Beweise. Das ist verbrecherisch. Ein solches Vorgehen müssen wir verurteilen.
({5})
Volker Beck ({6})
Wenn wir das glaubwürdig tun, können wir aber nicht
sagen, dass wir nur 50 Flüchtlinge - Oppositionelle, Anhänger religiöser Minderheiten und Homosexuelle aus
dem Iran - aus der Türkei aufnehmen.
({7})
Es gibt dazu einen umfangreichen Antrag unserer Fraktion, über den wir gestern im Ausschuss gesprochen haben. Die Türkei akzeptiert gegenwärtig nicht die Regeln
der Genfer Flüchtlingskonvention für nichteuropäische
Flüchtlinge. Oppositionelle, die aus dem Iran fliehen,
werden regelmäßig eingesperrt, so übrigens der Anwalt
von Frau Aschtiani. Ich habe mich persönlich dafür eingesetzt, dass sich das Auswärtige Amt für seine Freilassung einsetzt. Mohammed Mostafai wurde von den türkischen Behörden zunächst festgenommen und konnte
später nach Norwegen ausreisen. Wir sehen: Homosexuelle, Oppositionelle und Menschenrechtsverteidiger haben in der Türkei aufgrund deren Außenpolitik gegenüber
dem Iran oftmals weitere Verfolgung und Diskriminierung zu ertragen. Deshalb müssen wir Menschen aus der
Türkei aufnehmen, die es geschafft haben, den Iran zu
verlassen, aber in der Türkei nicht in einem sicheren Hafen sind.
({8})
Ich bitte Sie: Stimmen Sie diesem Prüfauftrag oder
unserem umfassenden Antrag zur Aufnahme von Flüchtlingen zu. Es ist nicht so - damit möchte sich die Koalitionsmehrheit in diesen Debatten immer herausreden -,
dass es dafür nach unserem Ausländerrecht der Zustimmung der Länder bedarf und deswegen so kompliziert
ist. Ich lese Ihnen, mit Erlaubnis der Präsidentin, zum
Schluss meiner Rede § 22 des Aufenthaltsgesetzes vor:
Einem Ausländer kann für die Aufnahme aus dem
Ausland aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Eine Aufenthaltserlaubnis ist zu erteilen, wenn das Bundesministerium des Innern oder
die von ihm bestimmte Stelle zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland
die Aufnahme erklärt hat.
Welches politische Interesse könnte höher stehen als die
Wahrung der Menschenrechte und die Unterstützung
von Menschenrechtsverteidigern, die sich in Gefahr für
Leib, Leben und Freiheit für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen!
({9})
Die Frau Präsidentin darf gerne die Zwischenfrage
der Kollegin Granold zulassen.
Kollege Beck, das hätten Sie mit der Kollegin vorher
klären müssen. Sie haben, wie Sie wissen, Ihre Redezeit
bereits überschritten.
({0})
Ich hätte die Frage gerne beantwortet.
({0})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Polenz.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Iran ist eine alte und große Kulturnation. Die
Iraner sind zu Recht stolz darauf. Schon im 13. Jahrhundert hat der berühmte persische Dichter Saadi in seinem
poetischen Meisterwerk Golestan - auf Deutsch Rosengarten - die Solidarität der Menschen über alle Grenzen
hinweg beschworen. Ich möchte gerne einen Vers aus
dem Rosengarten zitieren:
Als Adams Nachfahr’n sind wir eines Stammes
Glieder.
Der Mensch schlägt in der Schöpfung als Juwel
sich nieder.
Falls Macht des Schicksals ein Organ zum Leiden
führt,
Sind alle Andern von dem Leid nicht unberührt.
Wenn niemals Du in Sorge um den andern brennst,
Verdienst du nicht, dass Du Dich einen Menschen
nennst.
Wie weit hat sich die heutige iranische Regierung von
dieser Humanität, von diesem Respekt vor der Würde eines jeden einzelnen Menschen entfernt?
({0})
Die Vertreter der iranischen Regierung werden nicht
müde, immer wieder einzufordern, mit Respekt, mit
Würde und auf gleicher Augenhöhe behandelt zu werden.
Die gleiche Regierung verhält sich dem eigenen Volk gegenüber nicht so. Jeder, der nicht ihrer Meinung ist, wird
bedroht; er läuft Gefahr, unterdrückt und misshandelt zu
werden, wenn die Kleidungsvorschriften nicht exakt eingehalten werden oder wenn eine Party mit westlicher Musik gefeiert wird.
Kollege Polenz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Liebich?
Ja.
Bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Polenz, wir arbeiten im
Auswärtigen Ausschuss sehr gut zusammen, und ich
schätze Ihre faire Verhandlungsführung. Mich würde interessieren, wieso es Ihre Fraktion eigentlich ablehnt,
dass wir in dieser Frage, in der wir uns über die Fraktionsgrenzen hinweg einig sind, einen gemeinsamen Antrag einbringen.
({0})
Ich stelle mir diese Frage gerade bei Themen, die die
Menschenrechte betreffen, immer wieder. Aber ich muss
Ihnen ganz ehrlich sagen: Der Beitrag Ihrer Kollegin, die
vorhin gesprochen hat, hat mich darin bestärkt, dass es
diesmal richtig war.
({0})
Ich fordere die iranische Regierung auf, ihre eigenen
Bürgerinnen und Bürger mit Respekt zu behandeln. Ich
fordere sie auf, Respekt vor der politischen Entscheidung des iranischen Volkes zu haben, wenn es an die
Wahlurnen gerufen wird. Ich fordere die iranische Regierung auf, Respekt vor der politischen Meinung der
Iranerinnen und Iraner zu haben, sie sie frei äußern zu
lassen, friedliche Demonstrationen zuzulassen und Medien- und Pressefreiheit zu gewährleisten.
Wir müssen auch Respekt vor der Würde des Menschen einfordern: im Strafvollzug, im Gerichtsverfahren
mit anwaltlicher Vertretung und fairen rechtsstaatlichen
Regeln. Weil wir die weltweite Abschaffung der Todesstrafe aber nicht in einem Anlauf erreichen werden, müssen wir, wie ich finde, mit allem Nachdruck fordern,
dass die Steinigung, die die barbarischste Form der Todesstrafe ist, sofort abgeschafft wird.
({1})
Man kann sich zur Begründung dieser barbarischen
Strafe auch nicht auf den Koran berufen. Ajatollah
Ghaemmaghami, ein oberster schiitischer Rechtsgelehrter, der in Teheran Theologie studiert hat und das Islamische Zentrum Hamburg leitete, an dem früher auch der
ehemalige iranische Präsident Chatami tätig war, hat gerade erst in einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung geschrieben: „Im Koran finden wir keine Bestätigung dieser Strafmethode“. Außerdem stellte er fest,
„dass die Steinigung aus koranischer Sicht nicht akzeptabel sein kann“. So äußerte sich ein oberster schiitischer
Rechtsgelehrter.
Ich fordere auch in dieser Debatte dazu auf, die deutschen Journalisten Marcus Hellwig und Jens Koch, die
schlimmen Haftbedingungen ausgesetzt sind, zügig vor
Gericht zu stellen, wenn sie gegen iranische Vorschriften
verstoßen haben sollten, und ihnen ein faires Verfahren
zu gewährleisten, damit sie nach Deutschland zurückkehren und das Weihnachtsfest mit ihren Familien feiern
können.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Iran hat den
UN-Zivilpakt unterschrieben. Wie kommt es dann zu
diesen schweren Menschenrechtsverletzungen? Der Philosophieprofessor Reinhard Brandt aus Marburg hat gerade an einer UNESCO-Konferenz in Teheran zum
Thema „Philosophie: Theorie und Praxis“ teilgenommen
und einen Erfahrungsbericht darüber veröffentlicht. Er
zitiert einen iranischen Teilnehmer, Mohammad Hossein
Talebi, der auf diesem Kongress Folgendes gesagt hat:
Das Menschenrecht richte sich nach dem islamischen Recht, das den Menschen zum Tier erklärt,
wenn er von Gott abfällt. … Von einem Menschenrecht auf der Grundlage eines unverlierbaren Personenstatus jedes Menschen, selbst des Verbrechers
({3}), könne keine Rede sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wer einen Menschen zum Tier erklärt, hat ein bestialisches Verständnis
von Menschenwürde und Menschenrechten.
({4})
Das steht im Gegensatz zu den internationalen Verpflichtungen des Iran und zur UN-Charta, übrigens auch im
Gegensatz zur Auffassung vieler hervorragender islamischer Theologen - auch aus dem Iran. Es steht außerdem
im Gegensatz zu den Worten des großen iranischen Poeten Saadi:
Wenn niemals Du in Sorge um den andern brennst,
Verdienst Du nicht, dass Du Dich einen Menschen
nennst.
Aus Sorge um Frau Aschtiani, die beiden deutschen
Journalisten, die Bahai, die verfolgten Studenten und
Professoren und aus Sorge um die ins Gefängnis geworfenen Blogger und Journalisten führen wir im Deutschen
Bundestag heute diese Debatte.
Wir führen sie aus Sorge um die Humanität im Iran,
die immer mehr von dieser Regierung und ihren Helferinnen und Helfern mit Füßen getreten wird.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Arnold
Vaatz das Wort.
Der Kollege Polenz hat soeben zu dem Thema Stellung genommen, ob es nicht zusammen mit der Linken
gemeinsame Anträge zum Thema Menschenrechte geben sollte. Ich möchte der Antwort des Kollegen Polenz
etwas hinzufügen: Ich halte es für richtig, dass unsere
Anträge so stark wie möglich sind und eine so breite Unterstützung wie möglich erfahren, wenn sie dem Thema
Menschenrechte gelten, weil es um die Betroffenen geht
und nicht um uns. Aber das setzt voraus, dass man sicher
ist, dass alle Unterstützenden unter dem Wort „Menschenrechte“ in etwa dasselbe verstehen.
({0})
Das große Problem, das ich mit den Kolleginnen und
Kollegen von der Linken habe, ist, dass mir in meinem
Wahlkreis sehr viele Vertreter der Linken-Basis begegnen, die in der DDR behauptet haben, dass dieser Staat
die Menschenrechte optimal verwirkliche. Genau das
zeigt, dass es hier eine dramatische Differenz im Verständnis dieses Begriffs gibt. Ich möchte ein gemeinsames Votum dieses Hauses nicht dadurch schwächen,
dass ich mich dem Verdacht aussetze, unter Menschenrechten etwas Ähnliches zu verstehen, was die aus der
DDR kommende Parteibasis der Linken ihr Leben lang
darunter verstanden hat und noch heute darunter versteht.
({1})
Der Kollege Liebich hat das Wort.
Herr Kollege Vaatz, zunächst einmal möchte ich Ihnen sagen, dass Ihre Aussage schon in der Sache überhaupt nicht zutrifft. Sie machen sich gar nicht die Mühe,
sich mit uns auseinanderzusetzen und mit uns eine Diskussion darüber zu führen, was wir in Fragen der Menschenrechte hier vertreten wollen, sondern Sie sagen von
vornherein - nicht nur unserer Fraktion, sondern allen
anderen Fraktionen im Haus -, dass Sie, egal, was wir
finden, immer gemeinsame Anträge mit uns ablehnen
werden. Machen Sie sich insofern hier nicht die Mühe,
sich irgendwelche Ausreden einfallen zu lassen!
({0})
Zum Zweiten. Wenn es in unseren Reihen jemanden
gäbe, der die Universalität der Menschenrechte infrage
stellte, dann wäre er nicht lange Mitglied unserer Fraktion. Dass es in Parteien Menschen gibt, die da durchaus
abweichende Meinungen haben, möchte ich gerne an Sie
zurückgeben; denn das gibt es durchaus auch in Basisorganisationen der CDU. Ich habe hin und wieder auch
mit der CDU meine Diskussionen.
Wir sind die gewählten Mitglieder des Deutschen
Bundestages. Wir versuchen gemeinsam ein starkes Signal in Richtung Iran zu senden; aber Ihre Fraktion
macht aus rein parteipolitischem Kalkül jedes Mal das
gleiche Spiel. Da müssen Sie nicht im Nachhinein nach
irgendwelchen Ausreden suchen. Es wäre wirklich
schön, wenn Sie den besonderen Worten Ihres Vorredners, Herrn Polenz, ein wenig Aufmerksamkeit schenkten und zumindest darüber einmal nachdächten.
({1})
Zu einer weiteren und damit letzten Kurzintervention
in dieser Phase der Debatte hat der Kollege Volker Beck
das Wort.
Ich möchte auch auf diesen Punkt in der Rede von
Herrn Polenz zurückkommen. Ich meine, dass wir uns
keinen Gefallen tun, wenn wir bei Menschenrechtsfragen nicht gemeinsam agieren.
Wir müssen akzeptieren, dass jeder der Abgeordneten
der Linksfraktion das gleiche Mandat hat wie wir; er
wurde von Wählerinnen und Wählern dieses Landes gewählt und ist deshalb legitimiert, mit uns gemeinsam
Politik zu machen. Niemand will doch behaupten, dass
diese Linksfraktion anstrebt, die DDR wieder zu errichten und damit eine Diktatur. Das ist doch wirklich albern. Aber bei ganz konkreten Menschenrechtsanträgen
gibt es Differenzen mit der Linken, weil sie bei bestimmten Ländern nicht so genau hinschaut, zum Beispiel wenn es um China oder Kuba geht. Wir hatten da in
der letzten Wahlperiode eine scharfe Auseinandersetzung in der Frage, ob man nur auf Guantánamo schaut
oder auch um Guantánamo herum die Maßstäbe der internationalen Menschenrechtsverträge anlegt.
Diese Auseinandersetzung ersparen Sie den Linken
damit, dass Sie sie hier zu Schmuddelkindern erklären.
Ich will die politische Auseinandersetzung mit ihnen
führen und auch hart darüber streiten. Wir hatten auch
schon Diskussionen mit Vertretern der Unionsfraktion
darüber, dass man das bei bestimmten befreundeten Ländern nicht ganz so streng sieht und dass man bei ihnen
einen Weichzeichner benutzt.
Wir sind der Meinung: Die Richtlinien in der Menschenrechtsdebatte und der Menschenrechtspolitik müssen die internationalen Verträge und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sein. Wer das unterstützt,
ist uns willkommen, auch wenn er eine schwierige Geschichte hat.
Ich meine, auch in den Fraktionen auf der bürgerlichen Seite des Hauses gibt es schwierige Vergangenheiten von einzelnen Mitgliedern dieser Partei. Das hat uns
nie davon abgehalten, Richtiges zu unterstützen. Deshalb werden wir zu den richtigen Forderungen der
Linkspartei und der Koalition immer Ja und zu falschen
Forderungen und falschen Sichtweisen genauso deutlich
Nein sagen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Strässer für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bis vor kurzem habe ich gedacht, dass wir hier über ein
Thema sprechen, bei dem nichts weniger am Platz ist als
parteipolitisches Gezänk.
({0})
Weil das jetzt vielleicht ein bisschen subjektiv rüberkommt, will ich das auch noch einmal in aller Deutlichkeit sagen:
({1})
Ich als Mitglied dieses Deutschen Bundestages unterstelle bei einer solchen Forderung keinem Kollegen, aus
welcher Fraktion auch immer, unlautere Motive; das tue
ich nicht. Alle Kolleginnen und Kollegen, die hier sitzen, sind gewählt und haben, wenn sie gegen die Todesstrafe eintreten, das Recht, dass ihnen das abgenommen
wird. Ich nehme ihnen das ab und sage nicht: Die haben
eine Vergangenheit, mit der sie sich auseinanderzusetzen
haben, und deshalb dürfen sie nicht die Abschaffung der
Todesstrafe im Iran fordern.
({2})
Ich glaube, wenn die Menschen, die wir damit ansprechen wollen, diesen Teil der Debatte hören, dann werden
sie sich von dem Schauspiel, das hier in diesem Hohen
Hause gerade abgelaufen ist, beschämt abwenden.
({3})
Ich sage das auch vor dem Hintergrund ganz deutlich,
dass man sich - ich verlasse jetzt einfach einmal mein
Manuskript - natürlich mit bestimmten Fragen auseinandersetzen kann und muss; das ist doch überhaupt nicht
das Problem. Man muss aber zumindest ein Angebot
machen, und dann kann man sehen, wo die Leute eigentlich stehen und was da eigentlich los ist.
Ich sage das für mich persönlich ganz klar - wir haben das auch in unserer Fraktion so besprochen -: Die
Forderung nach einer Nichtvollstreckung der Todesstrafe für Frau Aschtiani ist bei uns ebenso Konsens wie
die Forderung, die Todesstrafe weltweit abzuschaffen.
Deshalb werden wir dem Antrag, den wir selber mit formuliert haben, am Schluss dieser Debatte auch zustimmen. Das ist für mich überhaupt keine Frage.
({4})
Darüber kann man sich natürlich auseinandersetzen,
aber ich hätte mir gewünscht, dass das in dieser Plenarsitzung heute nicht erforderlich gewesen wäre.
Frau Kollegin Groth, ich verstehe Sie nicht. Sie haben
keinen einzigen Ton dazu gesagt, was an dem Antrag,
den wir hier eingebracht haben, falsch ist. Sie haben gesagt: Unser Antrag ist besser. - Damit kann man natürlich leben und sich einen schlanken Fuß machen. Ich bin
aber wirklich einmal gespannt - das würde ich von Ihnen
gerne hören -, zu welchem Punkt unseres Antrags Sie
Nein sagen wollen. Man kann hier natürlich die großen
imperialistischen Verschwörungen bemühen - das ist in
Ordnung -, aber ich sage: Wir als Bundesrepublik
Deutschland haben hier eine Verantwortung.
Ich habe gelesen - das ist wohl auch so - dass der
„Atomdialog“ mit dem Iran in diesen Tagen wieder aufgenommen wird. Ich darf hier einfach einmal an die internen Schicksale dort erinnern. Mir wird schlecht - ich
glaube, das gilt für viele von uns -, wenn ich alleine die
Möglichkeit in Betracht ziehe, dass dieses Regime im
Iran über Atomraketen, über Massenvernichtungswaffen, verfügt.
({5})
Deshalb finde ich die Verhandlungen darüber, sie davon
abzubringen, auch vernünftig und sinnvoll.
Ich möchte aber an die Bundesregierung appellieren:
Eines darf bei diesen Verhandlungen und bei dem diplomatischen Geplänkel nicht passieren, nämlich dass wir
dabei die Menschen im Iran vergessen. Ich glaube, das
ist die Kernbotschaft, mit der wir umgehen müssen: Die
Massenvernichtungswaffen, die der Iran möglicherweise
anstrebt, sind das eine, aber die Instrumente dafür - ich
sage das jetzt einmal etwas zynisch -, sein eigenes Volk
nach innen zu unterdrücken und zu drangsalieren, hat er
schon. Deshalb sage ich einmal ganz deutlich und offen:
Ich wünsche mir, dass die Bundesregierung in den Gesprächen genau auch dieses Thema der Menschenrechte
im Iran anspricht. Denn ansonsten verlieren wir - jedenfalls nach meiner Überzeugung - jede Glaubwürdigkeit,
über diese Fragen global zu reden.
({6})
Einige Punkte sind schon angesprochen worden. Ich
will zwei, drei Punkte, die mir im Katalog über die momentane Lage im Iran besonders aufgefallen sind, ansprechen.
Mir liegt - schließlich werden wir in absehbarer Zeit
auch über das Thema Religionsfreiheit sprechen - das
Schicksal der Bahai besonders am Herzen. Ich sage das,
weil die Bahai nach meiner Einschätzung - ich bin nicht
religiös oder konfessionell gebunden - eine der Religionen sind, die weltweit zwar in sehr kleinem Umfang
agieren, aber seit Anfang an Friedfertigkeit gegenüber
jedermann, gegenüber anderen Religionen und gegenüber anderen Konfessionen, predigen. Insofern ist es besonders pervers, dass sieben führende Mitglieder der Bahai seit mehr als zwei Jahren im Iran ohne Gerichtsurteil
inhaftiert sind. Ich zitiere aus einer Stelle, die mir besonders aufgefallen ist, dass die Anklage gegen diese Menschen zu Beginn dieses Jahres um einen Vorwurf erweitert wurde, der in der deutschen Übersetzung noch
schlimmer klingt, als er es vielleicht ist; ich weiß es
nicht. Dieser Vorwurf lautet „Verdorbenheit auf Erden“.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, da sitzen Menschen im Knast, die einer Religionsgemeinschaft angehören, die den Frieden predigt. Genau
diesen Menschen wird „Verdorbenheit auf Erden“ vorgeworfen, und auf diesen Tatbestand steht im Iran die Todesstrafe. Das ist für mich eine der vielen Perversionen
dieses Regimes, und diese Perversion müssen wir in diesem Hohen Hause einheitlich aufzeigen. Deshalb
möchte ich noch einmal an die Linksfraktion gerichtet
werben - dabei ist es mir egal, ob es den Kollegen von
der CDU gefällt -: Stimmen auch Sie diesem Antrag zu!
Denn nur damit gewinnen Sie die Glaubwürdigkeit, die
Sie in Anspruch nehmen und mit der wir uns auseinandersetzen müssen.
In diesem Sinne würde ich mir wünschen, Frau Kollegin Granold - vielleicht noch als Ergebnis zum 8. Dezember, dem Tag der Menschenrechte; das wäre ein
klasse Signal -, dass die Bundesregierung verkünden
würde: Wir öffnen uns. Wir nehmen von den 4 000 Inhaftierten in der Türkei ein paar mehr als diese 50 auf,
deren Aufnahme wir schon zugesichert haben. - Das
wäre für diese Menschen - obwohl sie keine Christen
sind - ein schöner Auftakt für die Weihnachtszeit. Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache. - Mir liegt von den Kollegen Koenigs, Nouripour, Malczak und Beck ({0})
eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung
vor.1) Eine weitere Erklärung nach § 31 unserer Ge-
schäftsordnung liegt mir von zahlreichen Abgeordneten
der Fraktion Die Linke vor.2) Entsprechend unseren Re-
gularien nehmen wir diese zu Protokoll.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/4011 mit dem Titel „Men-
schenrechtslage im Iran verbessern“. Wer stimmt für die-
sen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der
SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion, der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen gegen vier Stimmen aus der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der übrigen Fraktion Die Linke
angenommen.
Tagesordnungspunkt 7 b. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3993
mit dem Titel „Die Hinrichtung der Iranerin Sakineh
Mohammadi Ashtiani verhindern und weltweit die To-
desstrafe abschaffen“. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag
ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-
Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3997 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
1) Anlage 3
2) Anlage 4
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 r auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Gerechte Alterseinkünfte für Beschäftigte im
Gesundheits- und Sozialwesen der DDR
- Drucksache 17/3871 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Gerechte Lösung für rentenrechtliche Situation von in der DDR Geschiedenen
- Drucksache 17/3872 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Gerechte Versorgungslösung für Ballettmitglieder in der DDR
- Drucksache 17/3873 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Regelung der Ansprüche der Bergleute der
Braunkohleveredlung
- Drucksache 17/3874 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Beseitigung von Rentennachteilen für Zeiten
der Pflege von Angehörigen in der DDR
- Drucksache 17/3875 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsidentin Petra Pau
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Rentenrechtliche Lösung für Land- und Forstwirte, Handwerkerinnen und Handwerker,
andere Selbständige sowie deren mithelfende
Familienangehörige aus der DDR
- Drucksache 17/3876 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Rentenrechtliche Anerkennung von zweiten
und vereinbart verlängerten Bildungswegen
sowie Forschungsstudien und Aspiranturen in
der DDR
- Drucksache 17/3877 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Rentenrechtliche Anerkennung von DDR-Regelungen für ins Ausland mitgereiste Ehepartnerinnen und Ehepartner sowie von im Ausland erworbenen Ansprüchen
- Drucksache 17/3878 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Rentenrechtliche Anerkennung aller freiwilligen Beiträge aus DDR-Zeiten
- Drucksache 17/3879 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Befristetes System „sui generis“ für die Beseitigung des Versorgungsunrechts bei den Zusatz- und Sonderversorgungen der DDR
- Drucksache 17/3880 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Vertrauensschutz für Versorgungsberechtigte
der DDR mit einem Ruhestandsbeginn bis
zum 30. Juni 1995 schaffen
- Drucksache 17/3881 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Regelung der Ansprüche und Anwartschaften
auf Alterssicherung für Angehörige der Deutschen Reichsbahn der DDR
- Drucksache 17/3882 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({12})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Regelung der Ansprüche und Anwartschaften
auf Alterssicherung für Angehörige der Deutschen Post der DDR
- Drucksache 17/3883 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({13})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Angemessene Altersversorgung für Professorinnen und Professoren neuen Rechts, Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen Dienst und weitere Beschäftigte universitärer und anderer
wissenschaftlicher Einrichtungen in Ostdeutschland
- Drucksache 17/3884 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({14})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Vizepräsidentin Petra Pau
o) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Angemessene Altersversorgung für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes der DDR, die
nach 1990 ihre Tätigkeit fortgesetzt haben
- Drucksache 17/3885 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({15})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
p) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Angemessene Altersversorgung für Angehörige von Bundeswehr, Zoll und Polizei, die mit
DDR-Beschäftigungszeiten nach 1990 ihre Tätigkeit fortgesetzt haben
- Drucksache 17/3886 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
q) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Einheitliche Regelung der Altersversorgung
für Angehörige der technischen Intelligenz der
DDR
- Drucksache 17/3887 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({17})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
r) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Wertneutralität im Rentenrecht auch für Personen mit bestimmten Funktionen in der DDR
- Drucksache 17/3888 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({18})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es handelt sich um die Beratung mehrerer Vorlagen
zur Überleitung von DDR-Rentenrecht in Bundesrecht.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Martina Bunge.
({19})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit fast 20 Jahren haben wir es bei der Rentenüberleitung mit Überführungslücken, Versorgungsunrecht
und auch Rentenstrafrecht zu tun. Trotz vieler Ankündigungen der Kanzlerin und im Koalitionsvertrag von
Schwarz-Gelb ist bisher nichts geschehen.
Die Betroffenen waren voller Hoffnungen. Auch wir
als Linke sind erst einmal zurückhaltend geblieben. Im
Mai dieses Jahres haben wir sozusagen als Gedankenstütze einen Gesamtantrag für eine umfassende Korrektur der Rentenüberleitung vorgelegt mit der Aufforderung, bis Ende des Jahres aktiv zu werden. Bis Ende
2010 ist nichts geschehen. Das ist untragbar.
({0})
Wir und die Betroffenen erwarten einfach nur die Anerkennung gelebten Lebens und die Gleichbehandlung von
Berufsgruppen und Erwerbsbiografien Ost wie West.
Zum Abschluss der letzten Legislaturperiode hatte
Gregor Gysi angekündigt: Solange wir im Bundestag
sind, werden wir diese Anträge in jeder Legislaturperiode vorlegen.
({1})
Sie haben es sich also selbst zuzuschreiben, dass wir
heute wieder ein Gesamtpaket mit allen zu lösenden Einzelproblemen vorlegen. Sie haben weder den im Gesundheitswesen der DDR Beschäftigten noch den
Reichsbahnerinnen, Postlern oder Akademikerinnen und
Akademikern zu einer ihren Berufskolleginnen und -kollegen West wenigstens annähernd vergleichbaren Altersversorgung verholfen.
Besonders grotesk finde ich die Broschüre zum
20. Jahrestag der Einheit. Darin rühmt sich die Bundesregierung mit Fotos, dass der Raum Bitterfeld von der
Dreckschleuder zum „Solar Valley“ wurde.
({2})
Aber denen, die in der Nähe im Raum Borna/Espenhain
mit seiner zerstörten Umwelt in der Braunkohleveredlung gearbeitet haben
({3})
- die dort geschuftet haben, muss man sagen -, streichen
Sie einfach den besonderen Rentenanspruch. Das finden
wir beschämend.
({4})
Wie sehen denn Ihre Aktivitäten aus? In der CDU/
CSU-Fraktion wurden die Verantwortlichen ausgetauscht. Zumindest sah das in der Debatte zum Gesamtantrag im Mai so aus. Denn in der letzten Legislaturperiode hatte Kollegin Maria Michalk aus Sachsen
wenigstens einen gewissen Handlungsbedarf eingeräumt. Ein neuer Abgeordneter, der Kollege Frank
Heinrich, sprach am 20. Mai dieses Jahres hingegen von
„Härten, Verwerfungen und Randschwächen“, mit denen
wir bei der Rentenüberleitung leben müssten. Hoffentlich stehen Sie heute zu Ihrem Wort, Kollegin Michalk.
Ich habe gesehen, dass Sie noch sprechen werden. Aber
wo sind die Taten?
({5})
Es geht um die Anerkennung gelebten Lebens von Hunderttausenden älteren Menschen im Osten.
({6})
Das haben übrigens auch die Kolleginnen und Kollegen
von der FDP-Fraktion in der letzten Legislaturperiode so
gesehen und einen Antrag mit fast allen der von uns erkundeten Probleme vorgelegt.
({7})
Kollegin Bunge, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lazar?
Das ist jetzt zwischendrin etwas schwierig, weil ich
gerade bei der FDP-Fraktion bin. Vielleicht nach dem
Passus. Ich bin gerade mittendrin.
({0})
Ich will mich erst einmal mit der FDP beschäftigen.
Sie haben als Oppositionsfraktion fast alles in Ihren Antrag hineingebracht. Sie hatten beispielsweise erkannt,
dass ein Techniker Ost eine ähnliche zusätzliche Versorgung hatte wie ein Techniker West, und waren schockiert, wie dann bei der Überführung der Rentenansprüche vorgegangen wurde.
({1})
Sie haben damit bewiesen, dass das keine Absurditäten
im Alterssicherungssystem der DDR waren, sondern
Ansprüche in Systemen, in die der Einzelne zum Teil erhebliche Beiträge eingezahlt hatte.
({2})
Ich denke, wir müssen hier den Vertrauensschutz einfordern.
({3})
Jetzt bin ich mit meiner Bemerkung über die FDP fertig.
Wenn die Wortmeldung zu der Zwischenfrage noch
besteht, dann lasse ich sie jetzt zu.
Kollegin Bunge, ich kann nachvollziehen, dass Sie
sich für viele Gruppen, meines Erachtens teils für die
richtigen Gruppen, aber auch für Gruppierungen einsetzen, die wir kritisch sehen, weil dies die privilegierten
Gruppierungen waren, die die DDR in den Ruin getrieben haben. Sie haben ein sehr schönes Beispiel aus der
Region, aus der ich komme, nämlich aus dem Süden
Leipzigs, sehr treffend beschrieben.
Sie sollten einmal zur Kenntnis nehmen, dass es in
der DDR mit den älteren Menschen, mit den Rentnerinnen und Rentnern auch nicht so gut bestellt war. Sie sind
genauso wie ich in der DDR aufgewachsen. Bitte nehmen Sie doch zur Kenntnis, dass es auch in der DDR Altersarmut gab. Es gab privilegierte Rentner. Das waren
meistens die Rentner, die sehr staatsnah waren. Die Renten in der DDR waren aber teilweise so niedrig, dass
auch Verarmung stattgefunden hat.
Ich möchte, dass in dieser Debatte auch dieser Aspekt
zum Tragen kommt. Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu
nehmen.
({0})
Frau Kollegin, das DDR-Rentensystem war nicht üppig. Es gab aber eine Mindestrente. Man konnte zumindest bescheiden davon leben, weil es eine zweite Lohntüte gab, da die Mieten sehr viel niedriger waren. Eine
Zweiraumwohnung kostete beispielsweise 30 Mark.
Insofern sind die Zusatzversorgungssysteme denen mit
höheren Qualifikationen aus dem Westen nachgebildet
worden. Rentenrecht hat eine Wertneutralität. Deshalb
kann man nicht a priori sagen, dass es sich um privilegiertes Einkommen handelt. Das ist einfach nicht möglich.
Sie können doch nicht einfach alles auf die Rente zurückstufen und sagen, dass sei für Sie alles Luft. Es gibt
einen Vertrauensschutz, weil Beiträge gezahlt wurden.
({0})
- Schauen Sie doch einmal genau hin. Das hat sogar
Herr Seehofer damals als Staatssekretär zugegeben, der
diese Rentenüberleitung gemacht hat.
({1})
Nun zur SPD-Fraktion. Kollege Anton Schaaf, meine
Hochachtung. Sie haben das Versagen zu SPD-Regierungszeiten eingestanden. Ich hoffe nur, dass Sie jetzt
Ernst machen. Ich denke, wir haben viele Gemeinsamkeiten. Sie, verehrte Kollegen von den Grünen, hatten einen Antrag zu den Geschiedenen gestellt, den Sie leider
heute zurückgezogen haben. Lassen Sie uns das doch gemeinsam anpacken. Ich denke, es ist nun an der Zeit, einen gangbaren Weg zu suchen. Umsetzen muss dies natürlich das Ministerium für Arbeit und Soziales. Dort
sind die personellen Kapazitäten vorhanden.
Ich fordere insbesondere die Koalitionsfraktionen und
die Kanzlerin auf: Machen Sie die Sache zur Chefsache
Ost. Machen Sie endlich Schluss mit den Ungerechtigkeiten und der Diskriminierung von Hunderttausenden
älterer Bürgerinnen und Bürgern im Osten.
Danke schön.
({2})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Weiß das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundestagspräsident Dr. Lammert hat heute Morgen
die Plenarsitzung des Bundestages mit einem Gedenken
an den 20. Jahrestag der ersten Wahl eines gesamtdeutschen Bundestages eröffnet. Zu den großen Leistungen
dieses ersten gesamtdeutschen Bundestags gehört es, dass
er die Rentenüberleitung Ost-West beschlossen hat, eines
der markantesten und wichtigsten sozialpolitischen Vorhaben des wiedervereinigten Deutschlands. Ich möchte
an dieser Stelle zunächst einmal den Abgeordneten, die
damals im ersten gesamtdeutschen Bundestag diese Rentenüberleitung beschlossen haben, einen herzlichen Dank
aussprechen für den Mut und die Weitsicht, die sie damals
mit diesem Beschluss bewiesen haben.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Rentenüberleitung war und ist eine großartige Solidarleistung
zuallererst der Versicherten und des Staates. Durch diese
Rentenüberleitung wurden die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern nicht benachteiligt, sondern sie sind die eigentlichen Gewinner des gemeinsamen deutschen Rentenrechts. Für die Rentnerinnen und
Rentner in den neuen Bundesländern war die Rentenüberleitung ein echter Zugewinn im Vergleich zu dem,
was sie nach altem DDR-Recht je hätten bekommen
können.
({1})
Ich möchte das an folgendem Beispiel deutlich machen.
Wurden ihnen in der alten DDR gerade einmal 30 bis
40 Prozent des durchschnittlichen Arbeitseinkommens
ausgezahlt und wurden ihnen im ersten Jahr der Vereinigung nur 35 Prozent der Westrente ausgezahlt, kletterte
dieser Anteil im Laufe der letzten 20 Jahre auf 89 Prozent des Westwertes. Um es kurz und knapp zu sagen:
Hätten wir keine Rentenüberleitung geschaffen, lebten
heute die Rentnerinnen und Rentner im Osten Deutschlands allesamt in Armut. Sie könnten von ihren Renten
nie und nimmer leben.
({2})
Bei aller Kritik, die man an einzelnen Regelungen
üben kann, sollten wir heute, am 20. Jahrestag der Wahl
des ersten gesamtdeutschen Parlaments, festhalten: Es
war, ist und bleibt bis zum heutigen Tag eine großartige
Solidarleistung der Deutschen, dass wir durch die Rentenüberleitung den älteren Menschen in der ehemaligen
DDR bzw. in den neuen Bundesländern eine Alterssicherung garantieren, die es ihnen ermöglicht, nicht in die
Armutsfalle zu geraten und einen angemessenen Lebensabend zu verbringen. Das DDR-Recht hätte ihnen das
nie und nimmer ermöglicht.
({3})
Wenn man nun zwei völlig unterschiedliche Altersversorgungssysteme, nämlich das der alten Bundesrepublik Deutschland und das der alten DDR, im Rahmen einer Rentenüberleitung langsam zu einem gemeinsamen
System zusammenführen will, dann muss man - übrigens wie bei jeder anderen Regelung, mit der zwei unterschiedliche Systeme zusammengebracht werden sollen mit Stichtagen arbeiten. In der Tat haben Stichtage etwas
Willkürliches. Aber Stichtage sind notwendig, weil man
das vor diesem Stichtag existierende System und das
diesem System innewohnende Unrecht nicht für alle Zeiten auslöschen und nachträglich heilen kann. Auch das
Rentenüberleitungsgesetz sieht daher Stichtagsregelungen vor.
Ich möchte das beispielhaft am Versorgungsausgleich
für Geschiedene deutlich machen. Die Linke beantragt,
geschiedenen Frauen und Männern, die nach altem DDRRecht keinen Versorgungsausgleich bekommen - das ist
für die Betroffenen sicherlich finanziell hart -, nachträglich ein mit Mitteln der heutigen deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern finanzierten Versorgungsausgleich zu zahlen. Das hört sich gut an. Aber ich frage: Wo
bleibt die Gerechtigkeit? Was sollen die in den alten Bundesländern lebenden Rentnerinnen und Rentner sagen,
die zum Beispiel vor dem Jahr 1977 geschieden wurden
und ebenfalls keinen Versorgungsausgleich bekommen?
Diese würden dann mit dem gleichen Recht fragen: Warum wird nicht auch uns nachträglich ein mit Steuermitteln finanzierter Versorgungsausgleich gezahlt? Oder:
Müssten dann nicht auch diejenigen Männer und Frauen,
die einen Teil ihrer Versorgungsansprüche im Rahmen
des Versorgungsausgleichs an den geschiedenen Partner
abgegeben haben, sagen: „Alles zurück zu mir! Der Staat
soll das ausgleichen.“?
Diese Beispiele zeigen: Wer behauptet, mit Einzelanträgen für bestimmte Gruppen für mehr Gerechtigkeit zu
sorgen, sorgt in Wahrheit für noch mehr Ungerechtigkeit, weil dann andere Gruppen fragen, warum nicht
auch sie das bekommen, was man den anderen gegeben
hat. Das ist das Problem.
({4})
Wir haben schon im Mai 2009 über die meisten der
nun vorliegenden Anträge debattiert und eine Anhörung
mit Fachexperten durchgeführt. Die Experten haben einhellig darauf hingewiesen, dass sie keinen Handlungsbedarf, wohl aber die Gefahr weiterer Ungerechtigkeiten
sehen, wenn wir das beschließen, was vorliegt.
Peter Weiß ({5})
({6})
Bevor wir angebliches Unrecht durch Beschlüsse vermeintlich beheben, was wieder anderen Unrecht zufügt
oder andere zu der Auffassung bringt, dass ihnen Unrecht
geschieht, sollten wir diesem Expertenrat folgen. Wir
brauchen - das haben wir uns in der Koalition vorgenommen - ein einheitliches Rentenrecht in Deutschland. Das
muss unser großes Ziel sein.
({7})
Aber mit den vielen vorliegenden Einzelanträgen widerfährt niemandem Gerechtigkeit. Es bleibt dabei: Mit der
Rentenüberleitung haben wir ein ungerechtes Rentensystem Ost abgeschafft und den Rentnerinnen und Rentnern
in den neuen Bundesländern eine Lebensgrundlage gegeben. Das wäre mit einer Rente nach DDR-Recht nie
möglich gewesen.
Vielen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Schaaf das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Bunge, ich glaube nicht, dass es der
Sache, die Sie hier vortragen - auch wenn man sie in
Teilen für berechtigt halten kann -, guttut, wenn man das
Rentenrecht und die Rentenüberleitung, die allen Menschen, die Rentenansprüche aus der DDR hatten, ein
Auskommen gesichert haben, hier als Rentenstrafrecht
bezeichnet. Ich glaube, der Sache tut man damit nichts
Gutes.
({0})
Ich habe es schon letztes Mal gesagt und sage es jetzt
noch einmal: Ich habe maximales Verständnis dafür,
dass es hier in diesem Hause Kolleginnen und Kollegen
gibt, die an einer Stelle schlichtweg nicht springen können, nämlich an der Stelle, wo es darum geht, dass man
die Privilegien derjenigen, die in der DDR besonders
partei- und staatsnah waren, in heutige Rentenansprüche
überträgt. Das kann ich absolut nachvollziehen.
({1})
Sie tun der Sache keinen Gefallen, wenn Sie die Rentenüberleitung als Nachteil für eine riesige Masse von Menschen im Osten der Republik darstellen. So finden wir
keine gemeinsame Lösung.
Sie haben jetzt bis auf einen neuen Antrag wieder
wortgleiche Anträge eingebracht.
({2})
Zu diesem neuen Antrag kann ich Folgendes sagen: Ich
habe mir alle Mühe gegeben, zu verstehen, wen Sie damit genau meinen. Ich weiß nicht, welcher Professor diesen Antrag geschrieben hat. Aber ich konnte noch nicht
einmal herausfinden, welche Anspruchsberechtigten Sie
meinen. Auch Leute, die wirklich Ahnung vom Rentenrecht haben, haben vergeblich versucht, herauszufinden,
was eigentlich mit diesem Antrag gemeint ist. Sie haben
hier und da einen Finanzvorschlag in den Anträgen gemacht. All das bewegt sich innerhalb des Rentenrechts.
({3})
Ich sage Ihnen: Sie werden mich damit nicht dazu bewegen, meine Zustimmung zu einer neuen Anhörung zu
dieser Thematik zu geben. Das ergibt überhaupt keinen
Sinn. Solange sich Ihre Vorschläge im Rahmen des Rentenrechts bewegen, wo sie nichts zu suchen haben, kommen wir keinen Schritt voran.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Lösungen
für einzelne Fallgruppen, die dort beschrieben sind, suchen müssen. Ich finde, man kann den Standpunkt rechtfertigen, dass sich aus der Rentenüberleitung für einen
Teil der Bevölkerung besondere Härten ergeben haben.
Dafür muss man aber eine sozialpolitische Lösung finden und keine rentenpolitische Lösung, die auf Dauer
rentenwirksam wird. Das kann man von mir aus tun,
aber dazu höre ich von Ihnen nichts. Ihr Erkenntnisgewinn hat bisher nicht dazu ausgereicht, zu sagen: Lasst
uns doch einmal überlegen, wie wir soziale Härten außerhalb des Rentenrechts mildern können. - Deswegen
arbeiten wir an einem Vorschlag zur Errichtung eines
Sozialfonds, der besondere Härten, die sich aus der Rentenüberleitung ergeben haben, abmildern soll.
({4})
Das wäre ein sinnvoller Vorschlag. Damit trifft man zielgenau die, die wirklich betroffen waren.
Ich nenne noch eine Gruppe, die Sie ständig vergessen,
die ich aber immer auf dem Schirm habe und auf die man
genau achten sollte. Es handelt sich um die Menschen, die
aus der DDR geflüchtet sind und nach dem Fremdrentengesetz zunächst einmal Ansprüche hatten, aber nach der
Rentenüberleitung nach dem allgemeinen Rentenrecht
behandelt worden sind. Auch diese Menschen haben
durch die Einigung und den Rentenüberleitungsvertrag
Nachteile erlitten. Wir müssen also schauen, dass wir
auch an dieser Stelle etwas bewegen. Das ist nicht Ihre
Klientel, das ist mir klar, aber auch für diese muss aus
meiner Sicht eine sozialpolitische Lösung gefunden werden. Die sollten wir gemeinsam suchen.
({5})
An die Regierung gerichtet - da pflichte ich Ihnen
gerne bei - würde ich sagen: Meiner Kenntnis nach gibt
es einen konkreten Vorschlag für Menschen, die in der
Karbonchemie gearbeitet haben. Es gibt einen vernünftigen Vorschlag zur Umsetzung der Ansprüche. Ich bitte
Sie, diesen zügig zu bearbeiten. Es gibt 500 Leute, die
dringend darauf warten, dass ihre Ansprüche erfüllt werden. Wenn es einen Lösungsvorschlag gibt, der tragbar
ist, dann kümmern Sie sich darum, sonst sind die
500 Leute weggestorben, bevor sie diese Ansprüche geltend machen können. An die Regierung gerichtet sage
ich, dass es einen Vorschlag einiger Bundesländer im
Bundesrat gibt, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzurichten, um die Problematik der Geschiedenen in der
DDR aufzugreifen und vielleicht Lösungsvorschläge zu
unterbreiten. Lassen Sie sich auf den Versuch ein, Lösungen zu finden, damit wir einige Schritte vorankommen.
Ich glaube, wir können die Lage nur dann befrieden,
wenn man schaut, wo soziale Härten entstanden sind und
wie man diese sozialen Härten vernünftig abmildert. Bewegen Sie sich an dieser Stelle. Ich kann damit leben,
wenn wir das alles nicht im Rentenrecht lösen; denn da
hat es im Allgemeinen nichts zu suchen. Wenn man das
Ganze sozialpolitisch mit einem Sozialfonds löst, um
Härten abzumildern, dann hat man einmalige Aufwendungen, aber man hat den Menschen tatsächlich und sehr
konkret geholfen. Bewegen Sie sich also an dieser Stelle.
({6})
Ein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte: Sie haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass es eine rentenrechtliche Ost-West-Angleichung geben soll.
({7})
Ich sage Ihnen dies als Mahnung: Wenn man ein solches
Versprechen macht, bei dem am Ende substanziell für
die Menschen keine Verbesserung herauskommt, dann
sollte man sich besser an dieses Podium stellen und sagen: Das können wir zurzeit nicht stemmen. - Das sollte
man besser tun. Gehen Sie nicht mit einem Vorschlag
raus, der nicht wenigstens ein Stück weit etwas von dem
einlöst, was die Menschen im Osten erwarten. Das tut
uns allen nicht gut und Ihnen sowieso nicht. Ich sage Ihnen: Wenn Sie schon etwas machen, dann muss dabei etwas Substanzielles für die Menschen passieren, sonst
lassen Sie besser die Finger davon. Sagen Sie den Menschen: Wir kriegen es nicht gewuppt.
Frau Bunge, ganz zum Schluss: Ich weiß, wie schwierig es ist, die Problematik zu lösen, und wie viel Geld
man bewegen müsste, um alle Bedürfnisse zu befriedigen. Vor diesem Hintergrund habe ich gesagt: Wir haben
das in den letzten Legislaturperioden, in denen wir Verantwortung getragen haben, nicht hinbiegen können. Das
ist kein Schuldeingeständnis, sondern es zeigt nur auf,
wie schwierig es ist, diese Problematik tatsächlich zu lösen; denn es kostet enorm viel Geld und befriedigt unter
Umständen nicht alle. Wir haben eine wechselseitige
Diskussion: Wenn wir auf der einen Seite ein bisschen
mehr machen, dann wird auf der anderen Seite darüber
diskutiert, dass das bezahlt werden muss. Das ist auch
nicht gut für unser Land.
({8})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Dr. Bunge.
Danke, Frau Präsidentin. - Kollege Schaaf, da Sie
mich mehrmals angesprochen haben, ich aber nicht andauernd Zwischenfragen stellen wollte, möchte ich zum
Abschluss einiges sagen.
Ich weiß nicht, welchen Antrag Sie vorliegen hatten.
Ich denke, vieles von dem, was Sie angesprochen haben,
sollten wir in der Ausschussarbeit klären. Es sind jetzt
übrigens insgesamt 19 Anträge. In der vorigen Legislatur waren es 17, die aktualisiert sind, weil durch Gerichtsverfahren Neueres hinzugekommen ist und, und,
und.
Wir beziehen nicht alles auf die Rente, sondern wir
stellen uns für die Zusatz- bzw. Sonderversorgung ein
System sui generis vor, ein System besonderer Art für
eine befristete Zeit. Das liegt also außerhalb des Rentenrechts. Denn wir meinen, diese Menschen können ihr
Leben nicht wiederholen, und deshalb muss eine Lösung
gefunden werden.
({0})
Was die Gruppe derjenigen angeht, die „freiwillig“
aus der DDR gegangen sind oder die DDR verlassen haben, weil sie dort unter Druck waren, - ({1})
- Das ist ja prima, das ist ja nett, wie Sie sich getroffen
fühlen. Es ist bezeichnend.
({2})
Ich hatte Verständnis dafür, dass diese Gruppe nicht zu
uns gekommen ist, solange wir noch PDS waren. Die
Befindlichkeiten konnte ich gut nachvollziehen. Können
Sie sich aber vorstellen, dass diese Menschen sich jetzt
auch an uns wenden, weil Sie einfach nichts tun?
({3})
So groß ist deren Not, dass sie sagen: Dieses Problem
muss gelöst werden. Wir sehen: Die Linke macht hier etwas. Wir möchten möglichst, dass Sie gemeinsam etwas
unternehmen, um auch unser Problem zu lösen.
Danke.
({4})
Herr Kollege Schaaf, bitte.
Frau Kollegin Bunge, ich wollte nur sagen, dass neben dem Personenkreis, den Sie benannt haben, andere
betroffene Gruppen da sind, die durch die Rentenüberleitung auch Nachteile erlitten haben. Ich habe das noch
einmal angesprochen: Wir sollten die Debatte vollständig und mit allen betroffenen Personengruppen führen,
und wir sollten das Ganze einer sozialpolitischen Lösung
zuführen.
Ich habe am Anfang etwas gesagt, zu dem ich weiterhin stehe: Ich nehme vieles von dem, was Sie an Anträgen gestellt haben, ebenso wie die Schicksale dahinter
sehr ernst. Das ist nicht mein Problem. Ihr Erkenntniszugewinn in den letzten Anträgen, dass die Rentenüberleitung für die allermeisten Menschen aus der DDR wirklich glatt gelaufen ist, ist ein Erkenntniszugewinn, den
wir in dieser Form vorher noch nicht hatten. Ich konstatiere das wirklich als einen positiven Schritt nach vorn.
Wenn Sie hier permanent damit argumentieren, das, was
da praktiziert werde, sei ein Rentenstrafrecht,
({0})
wohl wissend, dass niemand - niemand! - ohne Rente
durch die Überleitung gegangen ist, dann ist das dem
Versuch einer gemeinsamen Lösung nun wirklich nicht
angemessen. Deswegen weise ich das in aller Deutlichkeit zurück.
({1})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Heinrich Kolb für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin mit den Kollegen Weiß und Schaaf nachdrücklich der Meinung, dass die Rentenüberleitung, das heißt
die Integration des Rentensystems der DDR in das Rentensystem der Bundesrepublik, eine riesige Leistung ist.
Man muss einfach festhalten, Frau Bunge: Millionen
von Menschen haben wir dadurch im Alter einen Lebensstandard gesichert, von dem sie zu DDR-Zeiten
nicht zu träumen wagten. Das muss man hier einmal sehr
deutlich sagen.
({0})
Sie konnten nicht erhoffen, dass es ihnen so gut gehen
würde, wie es durch das bundesdeutsche Rentensystem
am Ende gewährleistet werden konnte.
Man sollte hier nicht den Eindruck erwecken, dass
das Leben als Rentner in der DDR ein Zuckerschlecken
gewesen wäre; Sie haben das aber ein Stück weit getan,
Frau Bunge.
({1})
Ich bin kein DDR-Bürger gewesen, aber ich kenne viele
Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind und auch
als Ältere dort gelebt haben. Sie haben mir sehr deutlich
gemacht, dass die Rentner in der DDR eine benachteiligte Gruppe waren. Daran muss man erinnern. Das werden die Menschen nicht vergessen. Auch die älteren
Menschen aus der ehemaligen DDR wissen das bis heute
sehr genau.
Dass es bei der Überleitung zu Verwerfungen, zu gefühlten oder tatsächlichen Ungerechtigkeiten kam, war
unvermeidlich, weil die Systeme nicht völlig kompatibel
waren. Die Rentensysteme der DDR konnten dem, was
im Westen, in der alten Bundesrepublik, Standard war,
nicht einfach nachgebildet werden. Es waren unterschiedliche Systeme. Daraus ergeben sich in der Überleitung notwendigerweise Ungerechtigkeiten.
({2})
- Nein, das kann man nicht sagen. - Das sehen Sie auch
an den drei Fallgruppen, in die man die 18 Fälle im Wesentlichen einteilen kann. Es gibt die Menschen, die aus
rechtlichen, politischen, persönlichen Gründen in der
DDR keine Rentenversicherungsbeiträge leisten konnten; sie konnten einfach keine Beiträge leisten. Dann
gibt es die Menschen, deren Rentenansprüche aus der
DDR-Zeit nicht mit dem SGB VI kompatibel waren
- das sind im engeren Sinne die, von denen ich gesprochen habe -, deswegen auch nicht überführt werden
konnten. Und schließlich gibt es die Menschen, die Anwartschaften hatten, die aber statt in andere Versorgungssysteme ins SGB VI übergeleitet wurden, einfach
weil es kein bundesdeutsches Äquivalent gab.
Die vierte Fallgruppe, eine Sondergruppe, so will ich
einmal sagen, bilden diejenigen, die geflüchtet sind, die
also noch vor der Maueröffnung die DDR verlassen haben. Es war wirklich ein starkes Stück, fand ich, wirklich
eine Unverschämtheit, mit Blick auf diese Gruppe zu sagen: Na ja, wir wissen ja nicht, aus welchen Gründen die
gegangen sind. - Sie wussten ganz genau, warum sie die
DDR verlassen haben. An mir nagt, dass diese Menschen bis heute keine Gerechtigkeit erfahren konnten.
Schwierig wird die Sache durch Folgendes: Ein Teil
derjenigen, mit denen wir gesprochen haben - wir haben
uns mit jeder einzelnen Gruppe unterhalten -, fordert,
das frühere DDR-Recht nicht mehr wirken zu lassen
- ich bringe es einmal auf diese kurze Formel -, und ein
anderer Teil fordert gerade, dass Ansprüche nach ebendiesem früheren Recht komplett anerkannt werden. Man
erkennt sehr schnell, dass das zu Ungerechtigkeiten führen muss und dass es keine einfache Lösung gibt. In diesem Sinne ist auch das Ergebnis zu verstehen, das wir in
der Anhörung im Mai 2009 erzielt haben. Die Sachverständigen haben die Empfehlung abgegeben, keine Korrektur der geltenden Gesetze vorzunehmen.
({3})
Sie haben uns deutlich gemacht, dass die Nachjustierung
zu neuen Ungleichbehandlungen, also zu neuen Ungerechtigkeiten, führen würde.
In dieser Situation haben wir versucht, einen Lösungsvorschlag zu entwickeln. Unser Vorschlag bewegt
sich innerhalb des Rentensystems, also innerhalb des
SGB VI. Da gilt nun einmal der Grundsatz: ohne Beitrag
keine Leistung. Deswegen war unsere Idee - sie ist es
unverändert -, günstige Nachversicherungsmöglichkeiten zu schaffen, sodass die Menschen aus diesen
18 Fallgruppen Ansprüche erwerben können. Wir suchen also eine Lösung auf dem Boden der Beitragsäquivalenz, eine Nachversicherungslösung auf freiwilliger
Basis. Wir halten das für gut geeignet. Wir sind mit dem
Kollegen Schaaf, den ich persönlich und fachlich sehr
schätze, und allen Gutwilligen in diesem Hause dabei,
gemeinsam eine Lösung zu suchen. Nur eines geht nicht,
Frau Bunge: Ich bin nicht bereit, diese Larmoyanz, mit
der Sie hier angetreten sind, zu akzeptieren. Dass Menschen in der DDR unter schwierigsten Arbeits- und Umweltbedingungen gearbeitet haben, dass sie haben schuften müssen bis zum Umfallen - da frage ich mich schon,
wer am Ende die Verantwortung dafür gehabt hat, dass
die Umwelt in der DDR zerstört wurde und dass Menschen unter teils unmenschlichen Bedingungen gearbeitet haben.
({4})
Deswegen will ich Ihnen ein Stück weit auch die Kompetenz absprechen, hier einfach als die Gutmenschen,
die bei allem wissen, wie es geht, aufzutreten. Sie tragen
einen Gutteil Verantwortung daran,
({5})
dass sich die Menschen in der Situation befinden, in der
sie heute sind.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch wir finden, dass die Überleitung der DDR-Alterssicherung in die deutschen Rentenversicherungen eine
große Leistung war. Ich kann nur wiederholen, was andere Kollegen, Herr Weiß und Herr Schaaf, gesagt haben: Die Rentnerinnen und Rentner sind die Gewinner
der deutschen Einheit gewesen. Das zeigen alle empirischen Untersuchungen. Sie sind diejenigen, die am meisten von der Einheit profitiert haben.
({0})
Im Übrigen konnte das nur funktionieren, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, weil wir ein umlagefinanziertes Rentensystem haben und kein kapitalgedecktes. Da wäre das nämlich nicht möglich gewesen.
({1})
Nun ist es so, dass immer noch einige Regelungen des
Rentenüberleitungsgesetzes bei einigen Betroffenen zu
Diskussionen führen, sie sich diskriminiert fühlen und
denken, dass ihre Lebensleistung aberkannt wurde. Dafür haben wir im Einzelnen durchaus Verständnis. Aber
ich glaube, dass es nicht möglich ist, im Rahmen eines
solchen Rentenüberleitungsgesetzes tatsächlich alle Einzelfälle zu lösen und jedem Einzelfall gerecht zu werden. Deswegen finden wir auch heute, dass vor diesem
Hintergrund eine grundlegende Korrektur des Rentenüberleitungsgesetzes nicht sinnvoll ist.
Aber es gibt einige wenige Gruppen, bei denen tatsächlich Handlungsbedarf besteht; das sehen wir ganz
ähnlich wie die SPD. Da greife ich eine Gruppe heraus:
die Geschiedenen der ehemaligen DDR. Bei der Rentenüberleitung wurde keine Gewährung der Geschiedenenwitwenrenten für Frauen vorgesehen, die vor Einführung
des Versorgungsausgleichs im Jahr 1992 in den neuen
Bundesländern geschieden wurden. Eine Frau aus den
alten Bundesländern, deren Ehe vor 1977 geschieden
wurde, kann Geschiedenenwitwenrente beziehen, wenn
ihr geschiedener Ehemann vor seinem Tod Unterhalt gezahlt hat. Eine Frau aus den neuen Bundesländern, deren
Ehe vor 1977 geschieden wurde, hat keinen Anspruch
auf Geschiedenenwitwenrente, auch dann nicht, wenn
ihr Mann gerichtlich dazu verurteilt wurde, ihr Unterhalt
zu zahlen. Der Versorgungsausgleich trat erst 1992 nach
dem Einigungsvertrag in Kraft. Dies führt im Vergleich
zu den alten Ländern tatsächlich zu einer Schlechterstellung dieser Personengruppe und zu einer Benachteiligung gegenüber den Personen, die nach dem ab dem
1. Januar 1992 geltenden Recht in den neuen Ländern
mit einem Anspruch auf Versorgungsausgleich geschieden worden sind. Wir finden, dass diese Gerechtigkeitslücke tatsächlich geschlossen werden muss.
({2})
Unter Berücksichtigung des überwiegend schon sehr
fortgeschrittenen Alters der Betroffenen sollte die Erarbeitung und Festlegung konkreter Lösungen zügig in
Angriff genommen und die beschlossenen Maßnahmen
unverzüglich umgesetzt werden. Auch wenn die Bundesregierung, wie auf eine unserer schriftlichen Fragen
im Juli zu erfahren war, keinen Handlungsbedarf sieht,
hat meine Fraktion hierzu bereits in der letzten Legislatur konkrete Vorschläge gemacht, und wir werden das
auch in dieser Legislaturperiode wieder tun.
Wir sind nicht die Einzigen, die diesbezüglich Handlungsbedarf sehen - der Kollege Schaaf hat schon darauf
hingewiesen -: Der Bundesrat hat am 24. September dieses Jahres die Bundesregierung nachdrücklich gebeten,
eine befriedigende Lösung für diese Gruppe herbeizuführen. Wenn Sie schon nicht unserem Vorschlag folgen
können, fordern wir Sie auf, wenigstens dem Beschluss
des Bundesrates zu folgen und endlich etwas zu tun.
({3})
Wir sehen noch eine Gruppe, die zum Teil durch das
Rentenüberleitungsgesetz benachteiligt wurde, die nicht
bei den Linken vorkommt - auch darauf hat Herr Schaaf
schon hingewiesen -, nämlich die DDR-Flüchtlinge.
Den Flüchtlingen wurden damals im Zuge der Wiedervereinigung und im Rahmen der neuen Sozialgesetzgebung die bereits zuerkannten Rentenansprüche nach
Fremdrentengesetz wieder aberkannt. Sie wurden rentenrechtlich wie Bürgerinnen und Bürger des Beitrittsgebiets behandelt, obwohl sie zum Teil schon viele Jahre
vor dem Mauerfall die DDR verlassen hatten, ihre Rentenverläufe längst festgestellt waren und sie dann in der
berechtigten Erwartung ihrer Rentenanwartschaften enttäuscht wurden. Die formale Anwendung mag juristisch
vertretbar sein, schafft aber Ungerechtigkeiten, ausgerechnet gegenüber Menschen, die die DDR teils unter
Lebensgefahr, teils unter großen Repressalien und teils
unter großen persönlichen Entbehrungen vor 1989 verlassen haben.
({4})
Wir finden, auch hier muss es eine gerechte Lösung geben.
({5})
Zum Schluss ein Blick nach vorne. Zurzeit sind die
Renten im Osten immer noch höher als im Westen; das
muss einmal zur Kenntnis genommen werden. Das wird
sich aber in den nächsten Jahren dramatisch ändern.
Aufgrund der Arbeitsmarktsituation im Osten und der
Lebensläufe derjenigen, die jetzt oder künftig in die
Rente eintreten, wird das durchschnittliche Rentenniveau im Osten erheblich sinken. Deswegen brauchen wir
auch hier eine Garantierente für langjährig Versicherte,
die über dem Grundsicherungsniveau liegt. Davon profitieren vor allem Menschen in Ostdeutschland, die in den
nächsten Jahren von Armut bedroht werden. Ich habe
gesagt, dass es aus unserer Sicht nicht möglich war und
ist, bei der Rentenüberleitung jedem einzelnen Fall gerecht zu werden. Eine Garantierente hilft aber zumindest
denjenigen, die sich benachteiligt fühlen und zurzeit geringe Rentenansprüche haben.
Die Regierungsparteien haben in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentenrecht in Ost und West einzuführen.
({6})
Wir finden in der Tat, dass es dafür 20 Jahre nach der
Einheit höchste Zeit ist. Es ist nicht hinnehmbar, dass
der Rentenwert im Osten immer noch niedriger ist als im
Westen. Wir sind für einheitliche Rentenregelungen in
Ost und West. Die Vereinheitlichung sollte so schnell
wie möglich umgesetzt werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle Jahre
wieder bringt die Fraktion der Linken Anträge ein, in denen gefordert wird, die Altersversorgung zahlreicher
Menschen mit DDR-Erwerbsbiografie in bestimmten
Berufsgruppen aufzubessern.
({0})
Wir haben zuletzt - das wurde schon gesagt - im Mai
letzten Jahres hier im Hohen Haus darüber debattiert und
entschieden; wir haben Anhörungen dazu durchgeführt.
Trotzdem bringen Sie heute 18 Anträge ein, die alle eines gemeinsam haben, nämlich die Aufforderung: Bis
zum 30. Juni nächsten Jahres muss alles geregelt sein.
({1})
Haben Sie als Antragsteller die Argumente vergessen,
die ausgetauscht und uns in der Anhörung von Sachverständigen vorgetragen worden sind?
({2})
Haben Sie keine Auswertung vorgenommen? Hier gab
es keine Willkür, sondern eine Entscheidung auf rechtsstaatlicher Basis, untermauert mit guten Argumenten
von Experten. Dort, wo bestimmte rentenrechtliche Regelungen aus der Vergangenheit nicht bestätigt wurden,
hat das Hohe Haus Gesetzesänderungen vorgenommen,
in vielen Fällen übrigens auf der Grundlage von Urteilen
zum Leidwesen der SED-Opfer.
({3})
Ich glaube, wir sollten uns deshalb einig sein, dass die
Überführung der rentenrechtlichen Regelungen die Situation der Menschen in den neuen Bundesländern verbessert hat; sie ist eine Erfolgsgeschichte.
({4})
Es wurde von meinen Vorrednern herausgearbeitet - ich
möchte das bestätigen -: Die Überführung der rentenrechtlichen Regelungen war gut. Natürlich hat sie auch
zu Verwerfungen geführt. Jeder von uns kennt einzelne
Beispiele: Verwerfungen durch Stichtagsregelungen,
aufgrund der Besonderheit, dass es in der DDR ein berufsspezifisches Rentenrecht gab. Wir haben selbstverständlich darüber diskutiert. In bestimmten Fällen diskuMaria Michalk
tieren wir weiter darüber; das will ich hier durchaus
einräumen.
Es ist historisch gesehen schon ein starkes Stück, dass
sich diejenigen, die die Komplexität und Kompliziertheit
der Materie der rentenrechtlichen Zusammenführung
verursacht haben, heute zu Fürsprechern bestimmter Berufsgruppen aufschwingen. Das will ich Ihnen heute bescheinigen.
({5})
Ich halte Ihre Anträge für durchweg opportunistisch.
Gleichwohl bestätige ich Ihnen noch einmal, dass es
Einzelschicksale, einzelne Gruppen gibt, die auch uns
am Herzen liegen und mit deren Problemen wir uns beschäftigen. Das geht aber nicht so: Hopp, hopp, hopp,
Pferdchen, lauf Galopp.
({6})
Am 30. Juni 2011 kann nicht alles erledigt sein. Es handelt sich um eine hochkomplexe Materie, mit der wir uns
intensiv beschäftigen. Wir werden unsere Zusage aus
dem Koalitionsvertrag einhalten.
({7})
Die angeblichen Ungerechtigkeiten bei der Rentenüberleitung haben - das muss man einmal sagen - ihre
Ursache in der Willkür des DDR-Rentenrechts.
({8})
Zum Beispiel gab es in der DDR keine eindeutigen, einheitlich angewendeten und einklagbaren Regeln für Zusatzrenten.
({9})
Zu diesem Punkt haben bereits frühere Regierungen ganz
unterschiedlicher Zusammensetzung umfangreiche Prüfungen vorgenommen und letztlich die Überführungsregeln bestätigt. Die Gerichte haben das auch getan, und das
müssen Sie jetzt einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
Wir haben in den vorangegangenen Debatten auch
immer wieder festgestellt, dass eine pauschale Besserstellung der heute wieder in Rede stehenden einzelnen
Gruppen die Debatte nicht beenden, sondern - das
wurde schon gesagt - neue Ungerechtigkeiten bei anderen Gruppen hervorrufen würde.
({10})
Uns in der Union war immer bewusst, dass mit der
Regelung zur Rentenüberleitung nicht sämtliche Erwartungen aller Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern erfüllt werden. Mir tun die Leute an vielen
Stellen schon auch leid.
({11})
Aber ein Preis der deutschen Einheit war, ein überhaupt
nicht kompatibles Rentenrecht zu überführen. Das hat
nur Deutschland gemacht. Die anderen Staaten im sozialistischen Block, Ihre Brüder und Schwestern, haben das
nicht machen müssen. Wir sind an dieser Stelle die Einzigen.
Wie kompliziert das ist, möchte ich einmal kurz an
dem Beispiel Ihres Antrages zeigen, der sich mit den gerechten Alterseinkünften für Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen der DDR beschäftigt. Zur Erinnerung: Für Versicherte, die mindestens zehn Jahre
ununterbrochen in Einrichtungen des Gesundheits- und
Sozialwesens eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt haben, sah die 1. Rentenverordnung der DDR aus
dem Jahr 1979 vor, dass bei der Bestimmung des Steigerungsbetrages der Alters- und Invalidenrente jedes Jahr
der Tätigkeit in einer solchen Einrichtung statt mit
1 Prozent mit 1,5 Prozent zu berücksichtigen ist.
({12})
Diese Regelung müssten wir in das SGB VI übernehmen. Das ist schon deshalb problematisch, weil wir ein
Gleichbehandlungsgebot zu erfüllen haben. Denn die damit verbundene Begünstigung würde sich nur auf Beschäftigte des Gesundheits- und Sozialwesens und nur
auf die Berechnung der Alterseinkünfte, nicht aber auf
die Berechnung der Erwerbsminderungsrenten beziehen.
Das ist ein Beispiel, das zeigt: Wenn wir das so lösen
würden, hätten wir eine neue Ungerechtigkeit.
({13})
Bei der Rentenüberführung in diesem Punkt haben die
Gerichte dezidiert keinen Verstoß gegen Art. 14 des
Grundgesetzes festgestellt, da dieser nicht einzelne Berechnungselemente, sondern den Geldwert der Rente
schützt. Wir haben uns in vorangegangenen Debatten bereits darüber ausgetauscht, wie hoch der Geldwert nach
der Mark der DDR im Vergleich zum heutigen EuroAuszahlbetrag wäre. Auch das müssen wir uns noch einmal in Erinnerung rufen.
Meine Empfehlung ist: Ziehen Sie Ihre 18 Anträge,
Ihre 18-Punkte-Wunschliste, zurück
({14})
und konzentrieren Sie sich auf die Fragen einer zukunftssicheren Rentenregelung im vereinten Deutschland. Wir in der Union werden das jedenfalls tun.
Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
({15})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sonja Steffen für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir reden heute über ein unbequemes Thema,
dem bereits seit der Wiedervereinigung, also seit 20 Jahren, mit allerlei Sonderregelungen ausgewichen wurde:
gerechte Alterseinkünfte für Rentner und Rentnerinnen
im Osten.
Die Bilanz der Rentenangleichung ist bislang - zumindest aus ostdeutscher Sicht - ernüchternd. Nach einem rasanten Anstieg stagniert die Ostrente, und viele
Ostdeutsche sehen ihre Arbeitsleistung nicht ausreichend anerkannt. Darauf zielen auch die meisten der
18 bzw. 19 Anträge der Fraktion Die Linke ab.
In meiner Eigenschaft als Mitglied des Petitionsausschusses sind mir die Petitionen, die dieses Anliegen
verfolgen, hinlänglich bekannt. Ich sehe hier auch einige
andere Mitglieder des Petitionsausschusses, die das mit
Sicherheit bestätigen können.
Das ist ein sehr schwieriges Thema. Ich will das
Thema heute zum Anlass nehmen, als Abgeordnete aus
Ostdeutschland zu Ihnen zu reden.
In Ihrem Koalitionsvertrag, meine Kolleginnen und
Kollegen von Union und FDP, haben Sie festgeschrieben, die Unterschiede im Rentensystem in Ost und West
endlich zu beseitigen. „Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Rentensystem in Ost und West
ein“, heißt es in Ihrer Vereinbarung, und in einem Beschluss des CDU-Bundesausschusses kann man lesen:
Wir wollen ein einheitliches Rentenrecht in Ost und
West schaffen.
Herr Kolb, ich glaube, auch Sie haben das verschiedentlich in der Presse bestätigt.
({0})
Unterschlagen wurde in den Papieren bisher aber der
Zeitpunkt. Ich befürchte, dass die Lösung weiterhin auf
den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird.
({1})
Aber auch in den alten Bundesländern - das ist heute
schon mehrfach zur Sprache gekommen - rumort es bereits seit längerem bei diesem Thema, weil die Menschen in den alten Bundesländern die Ostruheständler
bevorzugt sehen. Nach der Wiedervereinigung 1990
mussten die Ostrenten aufgewertet werden - das wissen
Sie alle hier -, um es den Rentnern im Osten zu ermöglichen, ihren Ruhestand bei gesamtdeutschen Mieten und
Lebenshaltungskosten zu finanzieren. Dadurch sehen
sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Westen
benachteiligt. Allerdings - Herr Weiß, hören Sie bitte
gut zu - sind die Löhne im Osten nach wie vor viel niedriger. Wesentlich niedrigere Renten sind die Folge.
({2})
Sigmar Gabriel hat uns heute Morgen in seiner Rede
drastisch vor Augen geführt, dass eine Arbeitsbiografie
mit 35 Erwerbsjahren bei einem Stundenlohn von 8 Euro
zu einer Rente von 558 Euro monatlich führt. 558 Euro
monatlich!
({3})
Der Gang zum Sozialamt zur Beantragung von Leistungen nach der Grundsicherung ist damit unvermeidbar.
In meinem Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern
gehören Menschen mit einem Stundenlohn von 8 Euro
schon fast zu den Gutverdienenden; glauben Sie mir das.
({4})
Die Bundesregierung muss also dringend gegensteuern,
um Altersarmut vor allem im Osten zu verhindern.
({5})
Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass viele Menschen im Osten nach 1990 meist unverschuldet ihre Arbeit verloren haben, lange arbeitslos waren oder sind und
oftmals nur sehr schlecht bezahlte Arbeit gefunden haben. Dies wird dramatische Spätfolgen für die Rente haben. Das Problem bleibt nicht auf Ostdeutschland beschränkt, wenn prekäre Beschäftigung und Niedriglöhne
nicht bekämpft werden.
({6})
Meine Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die soziale Einheit vollenden. Dazu gehört ein einheitliches
Rentensystem in Ost und West, und zwar noch in dieser
Legislaturperiode.
({7})
Absichtserklärungen der Regierungskoalition reichen
nicht aus.
({8})
An 20 Millionen Rentnern kommt man nicht vorbei. Wie
sieht die Bundesregierung auch an dieser Stelle aus,
wenn sie 2013 feststellt, dass sie hinsichtlich der versprochenen Angleichung der Altersbezüge in Ost und
West nichts erreicht hat?
Ich warne jedoch davor, auf diesem Wege erneut die
Belange der ostdeutschen Bevölkerung zu vernachlässigen. In einem Welt-Online-Artikel von heute dämpft der
Unionskollege Michael Kretschmer - ich weiß nicht, ob
er heute hier ist - die Erwartungen der ostdeutschen Bevölkerung sehr deutlich. Man kann dort lesen - ich zitiere -:
Die Anpassung bedeutet für Ostdeutsche nicht automatisch eine Anhebung des Niveaus.
({9})
Darauf hat der Kollege Schaaf schon hingewiesen. Lassen Sie die Leute nicht im Ungewissen. Sie haben hohe
Erwartungen an diese Ost-West-Angleichung.
({10})
Ich muss heute an dieser Stelle noch einmal darauf
hinweisen, dass die Ostdeutschen, dass wir Ostdeutsche
ohnehin schon die Gebeutelten des sogenannten Sparpaketes sind. Die Zahlen der Paritätischen Forschungsstelle sprechen eine sehr deutliche Sprache: Die Kürzungsbeträge pro Einwohner und Jahr für den Zeitraum
2010 bis 2014 beginnen bei 22 Euro in Bayern und enden bei 96 Euro in Berlin. Da die Hauptmasse der Kürzungen im SGB-II-Bereich liegt, sind die ostdeutschen
Länder besonders betroffen.
({11})
Mecklenburg-Vorpommern drohen dadurch Wertschöpfungsverluste von insgesamt 840 Millionen Euro. Die
Angleichung der Rente muss daher mit einem ausgewogenen und wirksamen Programm zur Bekämpfung der
Altersarmut und mit der Einführung gesetzlicher flächendeckender Mindestlöhne verbunden sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Sebastian
Blumenthal für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte auf die Drucksache 17/3888 aus dem Antragsreigen, den die Linken vorgelegt haben, eingehen. Darin
geht es um Personen mit besonderen Funktionen in der
DDR.
In der heutigen Debatte können wir sicherlich festhalten, dass es Sachverhalte gibt, die von niemandem hier
infrage gestellt werden. Dazu gehört auf jeden Fall, dass
es in individuellen Wahrnehmungen in den neuen Bundesländern gefühlte Ungerechtigkeit gibt. So gibt es Ruheständler, die aufgrund der Diktatur in der DDR keine
persönliche Karriere machen konnten. Auch sie haben
Ungerechtigkeitsgefühle. Das sollte hier nicht verschwiegen werden.
({0})
Sie von den Linken gehen aber immer nur auf den anderen Teil ein. Das zumindest besagt der Antrag, den Sie
uns hier vorgelegt haben. Wie wollen Sie es aber den
eben genannten Menschen als angemessen oder gerecht
verkaufen, wenn Sie, wie es heißt, „Personen mit bestimmten Funktionen“ eine höhere Rente bescheren
möchten? Diese Frage drängt sich in diesem Zusammenhang einfach auf.
Konkret fordern Sie in Ihrem Antrag, die Regelung
des § 6 Abs. 2 im Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz zu streichen. Wir können hier ganz konkret benennen, um welche Personengruppen es sich handelt. Dazu schweigt sich Ihr Antrag nämlich ganz
vornehm aus. Es geht um Personen mit Amt und Würden, zum Beispiel um ehemalige Staatssekretäre im
Politbüro der SED.
({1})
Es geht um ehemalige Minister und ehemalige Generalsekretäre des Zentralkomitees.
({2})
Es geht um Staatsanwälte, Richter, Vorsitzende des
Staatsrats und weitere. Genau das ist der Personenkreis.
Und diesem Personenkreis möchten Sie eine
Höchstrente bescheren, indem Altersansprüche, die nicht
nur durch Arbeitsleistung erworben wurden, dargestellt
werden sollen.
({3})
- Frau Bunge, mir ist schon die ganze Zeit aufgefallen,
dass Sie ständig dazwischenbrüllen, wenn wir versuchen, auch einmal andere Standpunkte darzustellen.
Meine Familie gehört zu denen, die damals „freiwillig
die DDR verlassen“ haben, wie Sie es hier so süffisant
dargestellt haben.
({4})
Es war eine große Herausforderung, Ihrem Beitrag zuzuhören, ohne die Fassung zu verlieren, bzw. während Ihres Beitrages die parlamentarischen Gepflogenheiten
einzuhalten.
({5})
Jetzt möchte ich Sie bitten, einfach einmal zuzuhören.
Das Bundesverfassungsgericht hat ja im Sommer
festgestellt, dass die Rentenansprüche der eben genannten Personenkreise zum Teil „Prämien für Systemtreue“
gewesen sind. Aber Prämien für Systemtreue sieht unser
Rentensystem einfach nicht vor.
Wir von der FDP sehen als Zielsetzung ganz klar, hier
eine ganzheitliche Lösung zu finden. Das haben die Kollegen Vorredner schon ausgeführt. Auf die Wiedereinführung einer Prämie für Systemtreue werden wir ganz
sicher verzichten. Aus diesem Grund werden wir zumindest diesen einzelnen Antrag, den Sie vorgelegt haben,
in der weiteren Beratung entschieden ablehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Frank
Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich stehe als Letzter in dieser Debatte und
merke, dass eigentlich schon alles gesagt ist. Die Argumente wurden nicht nur letztes Jahr, sondern auch in diesem Jahr schon einmal ausgetauscht und liegen heute
schon wieder auf dem Tisch. Daher möchte ich nur zusammenfassen und zwei Grundgedanken in die Debatte
einbringen.
Der erste Gedanke, der mir dabei kommt, ist: Quantität vor Qualität. Quantitativ haben Sie sich ausgiebig mit
den unterschiedlichsten Ansprüchen verschiedenster
Gruppen beschäftigt. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass damit auch eine Annäherung an Lösungen
stattfindet.
({0})
Viele Kolleginnen und Kollegen verschiedener Fraktionen - Herr Schaaf, Sie haben das gesagt - haben sich in
den letzten Jahren bemüht, differenziert mit diesem
Thema umzugehen. Ein abschließendes Ergebnis gibt es
noch nicht. Wir gehen davon aus und ich setze mich dafür ein, dass wir nächstes Jahr an die nächsten Angleichungsschritte herangehen. Das heißt, dann wird noch
einmal debattiert werden. Mein Einsatz wird in diese
Richtung gehen. Wir sind aber noch bei keinem Ergebnis. Das zeigt die Komplexität.
Wie müssen sich die Betroffenen zum Teil fühlen,
wenn es immer wieder hü und hott geht? Sie machen ihnen neue Hoffnungen, sprechen sie von Ihrer Seite aus
immer wieder an und machen sie heiß. Denken Sie nur
einmal daran - Herr Blumenthal hat es gerade gesagt;
auch mir ist da einiges durch den Kopf gegangen -, wie
Sie diese eine Gruppe ansprechen und wie Sie darüber
reden.
Ihre 18 Anträge sind meines Erachtens nicht im Interesse der einzelnen Gruppen. Das Vorgehen wird keiner
oder kaum einer der Gruppen gerecht. Da wird eher instrumentalisiert, und ich hinterfrage die Motive.
({1})
Am Ende kann die Linke allen, jeder dieser Gruppen, sagen: Für eure Gruppe haben wir uns eingesetzt.
({2})
Schauen Sie in den Mai 2009, in das Jahr 2010, in den
November und auf den 2. Dezember dieses Jahres. - Wie
komplex die Lösung von und das Herangehen an Rentenfragen ist, kommunizieren Sie allerdings nicht.
({3})
Wie ernsthaft gehen Sie dieses Anliegen an? Einzelne
kleine Nachbesserungen mögen eine geringe Chance haben, die meisten der Forderungen in Ihren Anträgen sind
allerdings realitätsfern; so denke ich, so denken wir. Die
größten Chancen für einen Ausgleich - an dieser Stelle
möchte ich tatsächlich doch noch eine Gruppe nennen sehe ich bei den Wissenschaftlern und Professoren, die
nach der Wende die Wissenschaftslandschaft in den
neuen Bundesländern maßgeblich aufgebaut haben. Ihre
Renten müssen diese Lebensleistung nach der friedlichen Revolution widerspiegeln. Vertreter dieser Gruppe,
mit denen ich in Kontakt bin, haben mir gesagt: Wir fühlen uns in diesem Antrag nicht richtig wiedergegeben.
({4})
Wir sehen - so haben Sie es genannt, Frau Dr. Bunge das Gesamtpaket. Wir wollen nicht in den gemeinsamen
Topf geworfen werden. Das wird unserer Problematik
überhaupt nicht gerecht. - Ich bin sicher, dass es anderen
in anderen Bereichen ganz ähnlich geht.
({5})
Der zweite Gedanke, den ich ansprechen möchte, ist,
dass einige der Anträge mit dem Wort „Gerecht“ beginnen, zum Beispiel „Gerechte Alterseinkünfte“. Da gibt
es ein Problem, eine Kollision. Durch die Wende - das
haben wir nicht verschwiegen - und durch die Stichtage,
die angesetzt wurden, sind Ungerechtigkeiten gehalten
worden oder entstanden. Dies betrifft aber auch generell
die Frage der Generationengerechtigkeit. Junge Leute
sagen mir: Wie können Sie immer noch darüber diskutieren? Es ist so geschehen. Wir müssen Rechtssicherheit
schaffen und neu in die Zukunft denken.
({6})
Man kann nicht in allen Fällen völlige Gerechtigkeit
erreichen. Ich habe die Frage im Ohr, warum man das in
einem Rechtsstaat nicht schafft. Die Herausforderung
der Einzelfallgerechtigkeit können wir so nicht meistern.
Meine Kritik ist auch hier: Sie klären die Menschen
nicht auf. Ich weiß - das ist bei meinen Vorrednern
mehrfach angeklungen -, dass Vertrauen enttäuscht worden ist. Aber es ist viel mehr vor der Wende, vor der
friedlichen Revolution enttäuscht worden.
({7})
Worauf wurde überhaupt vertraut? Viele Planungen und
Erwartungen sind hinfällig geworden. Es ist nachvollziehbar, dass auf die sozialen Versprechungen der DDR
vertraut wurde.
({8})
Jetzt machen Sie in Ihren Anträgen ähnliche Versprechungen. Das Wort „Willkür“ ist im Zusammenhang mit
dem Rentenrecht gefallen. Die Ungerechtigkeiten, die
ich hier aufgelistet habe, sind alle genannt worden.
Ich möchte zum Schluss sagen: Insgesamt betrachtet
war die Übertragung des Rentensystems West auf das
Rentensystem Ost eine große gesellschaftliche Leistung.
({9})
Es war eine tolle Leistung, die in kürzester Zeit stattfand.
Die Löhne sind danach gestiegen. Wir haben es geschafft, die Rentnerinnen und Rentner daran zu beteiligen. Das war überhaupt nicht selbstverständlich. Dies
geschah immer in dem Bewusstsein, dass Ungerechtigkeiten dabei passieren. Auch jetzt führt jede Veränderung zu neuen Ungerechtigkeiten. Ich habe das Bild eines Mobiles vor Augen: Wenn wir es an einer Stelle
belasten, wird das System kippen.
Die wirtschaftlichen Fehler von damals, die sich auch
in unzähligen Lebensläufen, in die widerrechtlich eingegriffen wurde, niedergeschlagen haben, heute entsprechend ausgleichen zu wollen, ist trotz aller Bestrebungen
nicht möglich.
({10})
Wir würden die Leistungsfähigkeit unseres Staates überdehnen, wenn wir für alle negativen Folgen, die das System für den Bürger hatte, einen Ausgleich schaffen wollten. Gerechtigkeit kann man nicht gegen Gerechtigkeit
aufwiegen, auch ein demokratischer Rechtsstaat kann
das nicht.
Schwer nachvollziehbar ist für mich allerdings - damit komme ich zum Schluss -, dass die angeblichen oder
tatsächlichen Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten in
regelmäßigen Abständen von Ihrer Seite immer wieder
so stark betont werden. Dies steht nicht im Verhältnis zu
den Chancen, die mit der Erlangung der Freiheit verbunden waren. Deshalb erinnere ich zum Ende noch einmal
an den Satz von Peter Weiß, der heute den Jahrestag betont hat.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Er hat damit genau diese Freiheit dokumentiert.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3871 bis 17/3888 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des
Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen
- Drucksache 17/3403 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/4062 Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Christian Ahrendt
Jerzy Montag
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
SPD vor.
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Ich sehe, damit sind Sie
einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Max Stadler das
Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute abschließend eines der umfangreichsten, schwierigsten und wichtigsten rechtspolitischen Vorhaben dieser Legislaturperiode. Es handelt
sich um nicht mehr und nicht weniger als um die seit
1970 größte Reform des Rechts der Sicherungsverwahrung aus einem Guss.
({0})
Damit werden die teils verfehlten Detailkorrekturen der
letzten Jahre abgelöst. Wir schaffen nun ein in sich stimmiges System, das den rechtsstaatlichen Anforderungen
voll entspricht und die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung wahrt. Ich finde, dies ist ein sehr zufriedenstellendes Ergebnis der intensiven Beratungen aller Fraktionen im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages.
({1})
Sicherungsverwahrung bedeutet weiteren Freiheitsentzug nach vollständiger Verbüßung einer schuldangemessenen Strafe aufgrund einer Gefährlichkeitsprognose. Das bedeutet zugleich: Dieses Institut ist zwar
notwendig, es kann und darf in einem Rechtsstaat aber
nur die Ultima Ratio, das letzte Mittel, sein. Ich bin deswegen sehr zufrieden, dass die Parlamentarier in den Beratungen des Rechtsausschusses den Katalog der Anlasstaten, also derjenigen Taten, bei denen dieses
einschneidendste und letzte Mittel des Strafrechts noch
zur Anwendung kommen darf, sehr genau durchforstet
haben. Das Ergebnis ist, dass nun im Wesentlichen nur
noch schwere Gewalt- und Sexualdelikte und einige weitere schwere Straftaten mit hoher Strafandrohung Anlass
für die Verhängung von Sicherungsverwahrung sein
können. Damit ist der Ultima-Ratio-Charakter, den ich
erwähnt habe, deutlich gewahrt. Das ist ein gutes Ergebnis der Beratungen des Rechtsausschusses.
({2})
Meine Damen und Herren, unserer Meinung nach hat
sich die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht bewährt. Es ist daher besser, den Anwendungsbereich der
schon im Urteil vorbehaltenen Sicherungsverwahrung
auszubauen. Genau dies geschieht mit diesem Gesetz.
Schließlich mussten wir auf eine Sondersituation reagieren, nämlich auf die Situation, dass Verurteilte aus der
Sicherungsverwahrung schon entlassen wurden oder
noch zu entlassen sind, und zwar wegen eines Ihnen bekannten Urteils des Europäischen Gerichtshofes für
Menschenrechte. Für diese Fälle schaffen wir das Gesetz
zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter
Gewalttäter. Wir haben damit als Bundesgesetzgeber das
getan, was uns möglich ist, um diese schwierige Situation zu meistern. Es handelt sich dabei um eine Sondersituation, auf die wir mit speziellen Vorschriften reagieren.
Ich möchte am Ende meiner kurzen Einführung allen
Mitgliedern des Rechtsausschusses dafür danken, dass
sie in sehr konstruktiven Beratungen die Vorschläge, die
das Bundesjustizministerium erarbeitet hat und die die
Koalitionsfraktionen eingebracht haben, noch einmal
verbessert haben. Ich finde, jetzt liegt ein anspruchsvolles und ausgewogenes Gesamtkonzept vor, das sich
durchaus sehen lassen kann.
Vielen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine
Lambrecht für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor fast genau einem Jahr hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt, dass die nachträgliche Verlängerung der zunächst auf zehn Jahre
begrenzten Sicherungsverwahrung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Ein Jahr später - spät, aber nicht zu spät - liegt uns jetzt ein Gesetzentwurf vor, der, wie ich finde und wie die SPDBundestagsfraktion findet, durchaus eine Antwort auf
die Vorgaben, die uns der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte gemacht hat, ist. Damit wird nämlich
vor allem ermöglicht, Kinder, Jugendliche und Frauen
auch weiter vor Gewalttätern zu schützen, die als hochgefährlich gelten müssen.
({0})
Die SPD-Fraktion hat als Oppositionspartei von Anfang an gesagt, dass wir Sie in diesem Prozess gern,
auch gemeinsam mit unseren sozialdemokratischen Justiz- und Innenministern, konstruktiv begleiten, und wir
haben auch eine Lösung für die Altfälle eingefordert.
Von Anfang an haben wir diese Zusage gemacht, und ich
denke, wir haben sie auch entsprechend konstruktiv eingehalten.
Uns war es wichtig, dass bei dieser Neuregelung, zu
der wir ja verpflichtet sind, die Anlasstaten, die Vortaten,
beschränkt werden auf Taten, die es tatsächlich wert
sind, dass jemand nach Verbüßen der Strafhaft weiter die
Freiheit entzogen bekommt. So haben wir darauf hingewirkt, dass diese Taten auf schwerste Taten gegen Leben, körperliche Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung beschränkt wurden. Deswegen - das muss ich
an dieser Stelle auch sagen - bin ich froh, dass Sie nicht
mit einem Gesetzentwurf in die anstehenden Beratungen
hineingegangen sind und gesagt haben, so bleibt es - das
wäre ja auch eine Möglichkeit gewesen -, sondern dass
es im Beratungsprozess gelungen ist, gemeinsam diese
Veränderungen herbeizuführen.
Somit möchte ich mich an der Stelle noch einmal bei
allen Kolleginnen und Kollegen dafür bedanken, dass
wir bei diesem hochemotional beladenen Thema in sehr
konstruktiven und sehr sachlichen Diskussionen hingekriegt haben, entsprechende Neuregelungen zu schaffen.
Ich denke, dieses Klima herrschte auch zu Recht. Herzliches Dankeschön!
({1})
Die Sicherungsverwahrung - Herr Staatssekretär
Stadler hat es gesagt - ist ja die schärfste Sanktion, die
das deutsche Strafrecht überhaupt kennt. Sie bedeutet
Freiheitsentzug zum Schutz der Allgemeinheit trotz bereits erfolgter vollständiger Verbüßung der Haftstrafe,
wenn zu befürchten ist, dass bei jemandem weiterhin
eine Gefahr für die Sicherheit der Allgemeinheit besteht.
Deswegen soll diese Ultima Ratio nur für eng begrenzte
Fälle möglich sein. Ich will es deutlich sagen: Es geht
nicht um ein subjektives Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung. Wir müssen die Tatsache akzeptieren, dass es
einzelne, Gott sei Dank sehr wenige Menschen gibt, die
tatsächlich eine permanente Gefahr für die Gesellschaft
darstellen. Für diese begründeten Einzelfälle, wirklich
nur für die, muss es unserer Überzeugung nach auch in
Zukunft die Möglichkeit der Sicherungsverwahrung geben.
({2})
Zu Beginn der Beratungen hatten wir noch einen Entwurf auf dem Tisch liegen, gegenüber dem wir sehr kritisch waren, insbesondere weil darin auch Vermögensdelikte enthalten waren. Unsere Position war: Wenn wir es
jetzt schon neu regeln, dann sollten wir es wirklich eng
auf eine geringe Anzahl von Anlasstaten begrenzen auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit. Ich habe es
schon gesagt: Es ist gelungen, diese Konzentration zu erreichen, und das ist auch gut so.
Unserer Meinung nach immer noch nicht gut ist, dass
es nicht gelungen ist, Sie davon zu überzeugen, den letzten Schritt zu gehen, eben auch die Sicherungsverwahrung für Heranwachsende und für Jugendliche neu zu regeln. Dass uns das nicht gelungen ist, ist sehr schade.
Wir bedauern das. Da haben Sie Handlungsbedarf. Da
sind Sie gefordert. Ich gehe davon aus, dass das dann
auch zügig erfolgen wird.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu
dem Therapieunterbringungsgesetz kommen. Diese Regelung wurde geschaffen, weil nach dem vorhin schon
genannten Urteil Menschen aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurden bzw. jetzt entlassen werden, teilweise völlig unvorbereitet auf das, was sie nach jahrelanger Haft und auch noch Sicherungsverwahrung in
Freiheit erwartet, und dann noch umgeben von mehreren
Polizisten, die sie rund um die Uhr bewachen. Ich glaube,
das ist ein untragbarer Zustand. Deswegen ist dieses Therapieunterbringungsgesetz sicherlich ein schmaler Grat,
ein schwieriger Weg, den man aber nichtsdestotrotz gehen muss. Ich glaube auch, dass die Eingrenzung, die vorgenommen wurde, eine durchaus sachgerechte und auch
akzeptable Einschränkung ist.
Ich will es deswegen noch einmal deutlich sagen:
Diese Unterbringung im Nachhinein ist nur möglich - als
Auswirkung des Urteils -, wenn Verurteilungen aufgrund
von Taten erfolgt sind, die auch jetzt nach der Neuregelung als Vortaten der Sicherungsverwahrung gelten würden, und wenn zwei externe Gutachter feststellen, dass
eine Störung vorliegt, aufgrund der die Gefahr besteht,
dass der Verurteilte weitere Straftaten begehen wird,
durch die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, oder dass eine hinreichend konkretisierte
potenzielle schwere Straftat droht.
Ich glaube, wir haben es mit diesen ganz engen
Voraussetzungen geschafft, dass wirklich nur der Personenkreis erfasst ist, den wir auch erfassen wollen. Wir
wollen nämlich nicht, dass durch das Therapieunterbringungsgesetz alle, die nach dem genannten Urteil entlassen wurden und werden, erfasst werden, sondern wirklich nur die Schwerstkriminellen, von denen zu erwarten
ist, dass sie in genau den gerade angeführten Bereichen
hinterher rückfällig werden. Ich glaube, für diese ist der
Gesetzentwurf auch angemessen.
Es ist ein Novum, dass im Gesetzentwurf von der psychischen Störung gesprochen wird. Diesen Begriff kannten wir im deutschen Recht bisher nicht. Wir kennen die
psychische Krankheit, aber nicht die psychische Störung. Ich glaube aber durchaus, dass das mit dem, was
uns aus Europa vorgegeben worden ist, zu vereinbaren
ist. Ich sage aber auch: Es kommt jetzt darauf an, was
die Länder daraus machen. Allein die Buchstaben des
Gesetzes werden nicht entscheidend sein. Auch das Urteil ist ja nicht erfolgt, weil etwas im Gesetz stand, sondern weil die Sicherungsverwahrung in Deutschland so
ausgestaltet war, dass sie nichts anderes als eine Verlängerung der Strafhaft war. Das war die Situation, die vorgefunden wurde. Darauf wurden wir auch hingewiesen.
Trotzdem wurde in den Ländern nichts verändert.
An diesem Knackpunkt wird sich hinterher auch entscheiden, ob mit dem ThUG, diesem Therapieunterbringungsgesetz, das erreicht wird, was beabsichtigt ist,
nämlich Menschen in einer entsprechenden Maßnahme
auf das vorzubereiten, was auf sie zukommt. Das sollte
unser aller Anspruch sein: Jeder, der in Sicherungsverwahrung untergebracht ist, muss einen Anspruch darauf
haben, eine Perspektive zu besitzen. Diese Unterbringung darf für niemanden bedeuten: Tür zu, und das war
es. Für jeden muss vielmehr eine Perspektive eröffnet
werden. Das muss in den Ländern geleistet werden.
Ich sage aber auch: Das wird die Länder richtig viel
Geld kosten, weil sie Therapieangebote zu machen haben und für entsprechende räumliche Ausgestaltungen
sorgen müssen. Deswegen habe ich auch an dieser Stelle
noch einmal die ganz klare Forderung: Wir dürfen die
Länder hier finanziell nicht im Regen stehen lassen, sondern hier ist, bitte schön, auch der Bund gefragt.
({4})
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es nach dem Inkrafttreten des Gesetzes wirklich in allen Ländern möglich
ist, den entsprechenden Tätern eine sogenannte Fußfessel anzulegen; denn ich weiß nicht, ob alle Länder entsprechend darauf vorbereitet sind. Ich glaube, eher nicht.
Es wird also wohl eine Übergangsphase geben. Wie gesagt: Hier kommt auf die Länder richtig viel Arbeit zu,
und wir sollten sie entsprechend begleiten.
Zusammenfassend sage ich: Der Gesetzentwurf liegt
spät vor, nämlich erst nach einem Jahr, aber immerhin
nicht zu spät. Die geforderten Korrekturen bezogen auf
die Anlasstaten haben wir immerhin erreicht. Schwachpunkt bleibt natürlich, wie gesagt, dass Sie sich nicht zu
Veränderungen bei den Jugendlichen und Heranwachsenden durchringen können. In der Gesamtabwägung
kommen wir von der SPD-Bundestagsfraktion aber zu
dem Schluss, dass mit diesem Gesetzentwurf ein gangbarer Weg aufgezeigt wird. Ich frage mich nämlich: Was
wäre ein alternativer Weg gewesen?
({5})
Etwa nichts zu tun und dabei zuzuschauen, wie höchst gefährliche Straftäter völlig unvorbereitet in eine untragbare Situation entlassen werden, sodass Gefahr von ihnen
ausgeht? Ich sage Ihnen: Das ist kein verantwortbarer
Weg. Deswegen haben wir uns entschieden, Verantwortung zu übernehmen. Wir werden diesem Gesetzentwurf
zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun die Kollegin Andrea Voßhoff für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen!
Es ist vom Staatssekretär schon gesagt worden: Die
christlich-liberale Koalition legt heute einen Gesetzentwurf zur abschließenden Neugestaltung der Sicherungsverwahrung vor, einen Gesetzentwurf mit einer rechtspolitischen Tragweite von - ich glaube, das sagen zu
können - grundsätzlicher Bedeutung. Nach meiner Erinnerung hat es, seitdem ich im Bundestag bin, kein anderes
Gesetzgebungsverfahren in der Rechtspolitik gegeben,
das in der öffentlichen Wahrnehmung zu Recht so aufmerksam diskutiert und verfolgt worden ist.
Ich denke auch, sagen zu können - das wissen all die,
die sich intensiver damit befasst haben -, dass gerade
diese Materie zu den komplexesten und schwierigsten
im Bereich des Strafrechts, des Strafprozessrechts und
des Strafvollzugs gehört und es demzufolge in besonderer Weise eine Herausforderung war. Das wird jeder feststellen, der schon einmal in den Gesetzentwurf hineingeschaut hat.
Mit dem Gesetzentwurf, den wir Ihnen heute zur abschließenden Beratung vorlegen, regeln wir nicht nur
das Recht der Sicherungsverwahrung nahezu komplett
neu, sondern - das ist auch die Auffassung der Union wir werden hiermit künftig auch ausgewogen und verantwortbar Schutzlücken im Recht der Sicherungsverwahrung schließen und damit den Ansprüchen gerecht,
die die Bürger an uns haben. Ich glaube, all das wird mit
diesem Gesetzentwurf zu einem großen Teil erreicht.
({0})
Die Neuordnung der Sicherungsverwahrung gehörte
ja von Anfang an - auch das hat der Staatssekretär erwähnt - zu den umfassendsten rechtspolitischen Vorhaben dieser christlich-liberalen Koalition. Nachdem in einer Vielzahl von Gesetzesinitiativen der vergangenen
Jahre immer wieder einzelne Bereiche geregelt wurden,
ist das Recht insgesamt unübersichtlich geworden. Es
gibt wohl kaum eine andere Materie, die mit so unterschiedlich divergierenden Entscheidungen von Bundesgerichten bis hin zum EGMR leben musste. Die Ursachen kennen wir. Die Folgen haben wir heute mit dem
Gesetzentwurf nicht nur zu lösen versucht, sondern auch
auf einem guten Weg - wie ich finde - lösen können.
Wir standen vor der schwierigen Frage - ich sagte es
bereits -, im Lichte der divergierenden Entscheidungen
von Obergerichten einschließlich des EGMR das Recht
der Sicherungsverwahrung neu zu regeln und im Spannungsfeld dieser unterschiedlichen Entscheidungen auch
einen Weg zu finden, um die Lücken, die die Entscheidungen des EGMR, aber auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und infolgedessen des BGH aufgerissen haben, zu schließen.
Die durch das EGMR-Urteil entstandene Situation
wurde hier schon angesprochen; ich brauche es daher
nicht im Einzelnen zu thematisieren. Viele betroffene
Bürger und Eltern haben sich an uns gewandt und gefragt: Ist es richtig und was tut der Staat dagegen, dass
immer noch Straftäter, die erklärtermaßen als gefährlich
eingestuft werden, aufgrund des Urteils des EGMR entlassen werden? All dieses stellte für die Bürger ein Problem dar, und sie wussten nicht, wie sie mit den dadurch
ausgelösten Ängsten umgehen sollten.
Schutzlücken im Gesetz zu schließen, war demzufolge der Auftrag und der Anlass für unsere Reform. Es
ist schon gesagt worden: Wir haben Ihnen heute in drei
Bereichen gute Regelungen vorgelegt.
Erstens. Für künftige schwere Gewalt- und Sexualstraftäter haben wir die Sicherungsverwahrung unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung und auch
des Urteils des EGMR neu geregelt. Aufgrund der Neuordnung der primären, aber auch der Ausweitung der
vorbehaltenen Sicherungsverwahrung insbesondere auch
auf Ersttäter sind wir ebenso wie viele Sachverständige
der Auffassung, dass die umstrittene nachträgliche Sicherungsverwahrung in Zukunft entbehrlich ist. Deshalb
unterstützen wir dies - und das haben wir auch nachhaltig gefordert - gerade im Bereich der Sicherungsverwahrung für künftige Fälle.
Zweitens. Für die Altfälle haben wir mit der Beibehaltung der bisherigen Regelungen zur Sicherungsverwahrung eine, wie wir meinen, im Ergebnis tragfähige
Lösung gefunden. Ich weiß - darüber haben wir auch im
Rechtsausschuss diskutiert -, dass das nicht unumstritten
ist. Ich denke allerdings, dass das BMJ sehr abgewogen
und im Ergebnis sehr überzeugend dargelegt hat, dass
die im Gesetz beabsichtigte Übergangsregelung als vertretbar anzusehen ist.
Einen dritten Punkt möchte ich noch nennen, der hier
auch schon angesprochen worden ist, nämlich die sogenannten Parallelfälle. Es geht darum, wie wir mit denjenigen umgehen, die aufgrund des Urteils des EGMR bereits in die Freiheit entlassen werden mussten oder in
absehbarer Zeit in die Freiheit entlassen werden. Es ist
von meinen Vorrednern gesagt worden: Mit dem Therapieunterbringungsgesetz haben wir auf eine Sondersituation, die einen begrenzten Personenkreis betrifft, reagiert. Für den vorliegenden Gesetzentwurf - ich weiß, es
ist nicht unumstritten, und es gibt immer auch Argumente dagegen - gilt hier mein besonderer Dank dem
BMJ, das den engen Korridor, den das EGMR in Art. 5
ermöglicht hat, sehr abgewogen und rechtstechnisch
sehr gut umgesetzt hat.
Von Vertretern der Linken musste ich heute lesen, mit
diesem Gesetz würden wir uns dem Druck der Stammtische beugen. Dazu kann ich nur sagen: Meine Damen
und Herren von der Linken, sprechen Sie doch einmal
mit den besorgten Eltern, in deren Nachbarschaft solche
Straftäter wohnen, die aus einem ganz anderen Grund
freigelassen wurden als aus dem, dass sie nicht mehr gefährlich sind. Ich glaube nicht, dass Sie mit solchen Parolen dort überzeugen können.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist schon erwähnt worden: Im Nachgang zur Anhörung haben wir einige weitere Änderungen vorgenommen.
Sozusagen im Lichte der Auswertung der Anhörung
haben wir den Kreis der Anlasstaten nochmals eingegrenzt, um die Ultima-Ratio-Funktion der Sicherungsverwahrung deutlich zu dokumentieren.
Wir haben weiterhin das Erlöschen des Vorbehalts
beim Bewährungswiderruf rückgängig gemacht. Das bedeutet, dass der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung bei
jemandem, der vorzeitig auf Bewährung freigelassen
wird, nicht automatisch erlischt. Vielmehr kann der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung wieder aufleben, wenn
die Bewährung aus welchen Gründen auch immer - beispielsweise weil er Straftaten begangen hat oder erneut
auffällig geworden ist - aufgehoben wird. Im Nachgang
zu der Anhörung ist es auch gelungen, die Frist für die
Rückfallverjährung von 10 auf 15 Jahre zu verlängern.
Wenn man dies alles zusammennimmt, dann ist diese
grundlegende Reform der Sicherungsverwahrung - das
habe ich eingangs gesagt - ein tragfähiges Konzept für
die Zukunft. Das ist - nach den Regelungen der vergangenen Jahre - ein großer Erfolg der christlich-liberalen
Koalition. Es ist nicht in allen Punkten unumstritten; das
wissen wir. Aber die Materie ist außerordentlich komplex und schwierig.
Ich meine, die christlich-liberale Koalition hat in dieser Frage den richtigen Weg gefunden und in den offenen Punkten einen guten Kompromiss erzielt. Dass sich
die Linken dem nicht anschließen können, kann man
schon deren Stellungnahme entnehmen. Die Kollegin
Lambrecht hat es bereits angesprochen. Die Grünen entwickeln sich leider zu einer Dagegen-Partei. Es gibt - so
wurde es auch von der SPD vorgetragen - gute Gründe,
diesem Gesetzentwurf zuzustimmen.
({2})
- Das muss nicht sein, keine Frage. Es zeigte sich aber in
den Beratungen, dass wir in vielen Fragen nicht nur einen guten Kompromiss, sondern auch einen vertretbaren
Weg gefunden haben.
Auch ich darf mich beim BMJ und beim Koalitionspartner für die guten konstruktiven Gespräche im Rahmen unserer Berichterstattung bedanken. Das war wichtig und gut. Wir haben viele Anregungen aufgenommen
und, wie Sie sehen, die eine oder andere auch umgesetzt.
In diesem Sinne darf ich an die Länder appellieren. Es
ist von entscheidender Bedeutung - das wäre es schon
die ganzen Jahre über gewesen, aber jetzt erst recht -,
dass die Länder die Umsetzung der Sicherungsverwahrung jetzt endlich neu anpacken. Ich weiß, dass es eine
Arbeitsgruppe auf Länderebene und ein erstes Kriterienpapier gibt. Auch dort ist man also auf einem guten Weg.
Unser Gesetz kann nur so gut sein wie die anschließende
Umsetzung in den Ländern. Deshalb darf ich hoffen,
dass die Länder an dieser Stelle zügig weitermachen.
Wir sind es der Sicherheit unserer Bürger schuldig.
Vielen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Halina Wawzyniak
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Mir scheint, dass wir in zwei verschiedenen
Welten leben. In der Debatte um die zukünftige Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung hat ein von mir sehr
geschätzter Kollege aus den Reihen der Union sinngemäß gesagt: Absolute Sicherheit wird es nicht geben.
Deshalb ist immer eine Abwägung zwischen den Sicherheitsinteressen der Bevölkerung und dem rechtsstaatlichen Umgang mit Straftätern notwendig.
({0})
Diese Aussage kann ich bedingungslos teilen.
({1})
Ich glaube, wir können sie alle bedingungslos teilen. Sie
entspricht auch den übereinstimmenden Einschätzungen
aller Sachverständigen, die wir in den letzten Wochen zu
diesem Thema gehört haben.
Aber mit dem vorgelegten Gesetzentwurf kommt die
Koalition in ihrer Abwägung zu einem Ergebnis, das
diesem Anspruch bedauerlicherweise nicht gerecht wird
und bei dem erhebliche rechtsstaatliche Bedenken bestehen bleiben. Deshalb können wir Linken den Gesetzentwurf nicht mittragen.
({2})
Dass die Sicherungsverwahrung unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten ein problematisches Instrument
ist, wird selbst von konservativen Strafrechtlern nicht
bestritten. Deshalb sagen auch Befürworter der Sicherungsverwahrung, dass dieses Mittel nur die Ultima Ratio sein darf. In der Abwägung der Koalition wird jedoch
dieses rechtsstaatlich fragwürdige Instrument nicht beschränkt. Das postulierte Ziel der Sicherungsverwahrung
als Ultima Ratio wird nicht eingehalten. Massive Bedenken hinsichtlich der Europarechtskonformität werden
ignoriert. Das Gesetzgebungsverfahren war allenfalls
formal von dem Bemühen geprägt, ein größtmögliches
Einvernehmen herzustellen. Inhaltlich hat die Koalition
es schlicht durchgezogen.
Sicherungsverwahrung bedeutet im Kern, dass Menschen, die für früher begangene Straftaten eine Freiheitsstrafe verbüßt haben, aufgrund einer vermuteten Gefährlichkeit für die Zukunft präventiv weggesperrt werden.
Das aber steht im Widerspruch zum Schuldprinzip des
deutschen Strafrechts. Der Gesetzentwurf manifestiert
diesen Widerspruch, und deshalb lehnen wir ihn ab.
({3})
Wir erleben heute die zweite und dritte Beratung eines Gesetzentwurfs, der fast genauso aussieht, wie er
eingebracht wurde. Ich erinnere daran: Der Gesetzent8590
wurf wurde von der Koalition wenige Tage vor der ersten Lesung eingebracht. Die Begründung umfasste
knapp 100 Seiten. Danach gab es eine Sachverständigenanhörung und zwei sogenannte Orientierungsgespräche.
Wir Linke waren die einzige Fraktion, die trotz erheblicher grundsätzlicher Bedenken gegen den ganzen Ansatz
nach der Sachverständigenanhörung eine schriftliche
Stellungnahme für das Orientierungsgespräch vorgelegt
haben, in der wir detailliert und sehr konkret einen erheblichen Änderungsbedarf aufgezeigt haben. Aber was
ist jetzt das Ergebnis der Anhörung und der Orientierungsgespräche? Lediglich an einem einzigen Punkt haben Sie Veränderungen vorgenommen, nämlich bei den
Anlassstraftaten. Der Preis für diese Veränderung war
die Verlängerung der Frist für die Rückfallverjährung
auf 15 Jahre. So etwas nennt man Kopplungsgeschäft.
Selbst die Veränderung bei den Anlassstraftaten führt
nicht zu dem Ziel, die Sicherungsverwahrung als Ultima
Ratio zu gestalten. Immer noch zählen Staatsschutzdelikte und Delikte nach dem Betäubungsmittelgesetz zu
den Anlassstraftaten.
Doch damit nicht genug. Trotz erheblicher Bedenken
reicht es aus, dass der Hang nicht festgestellt, sondern
weiter nur wahrscheinlich sein muss. Aber auch damit
nicht genug: Trotz erheblicher Kritik an der Europarechtskonformität wurde die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ausgeweitet mit der Begründung, dies sei
günstig für die Therapie. Wir sind der Auffassung, dass
diese Begründung absurd ist. Mit dem Damoklesschwert
der Sicherungsverwahrung wird jeder Therapieansatz
konterkariert.
({4})
Trotz erheblicher Kritik an der Europarechtskonformität bleibt die Regelung der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Altfälle bestehen. Wir werden also bis
zu 15 Jahre weiter eine nachträgliche Sicherungsverwahrung haben. An dieser Stelle frage ich Sie mit den Worten von Herrn Renzikowski: Wer zahlt eigentlich die
Schadensersatzforderungen, wenn diese Fälle vor dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt werden und die Betroffenen recht bekommen?
Zum Schluss zum Therapieunterbringungsgesetz; das
ist Art. 5 des Gesetzentwurfs. Die vorgeschlagenen Regelungen zum Therapieunterbringungsgesetz wurden von
allen Sachverständigen als problematisch bezeichnet.
Sie wissen, dass die Gesetzgebungskompetenz umstritten ist. Sie etikettieren Menschen um zu psychisch Gestörten, trotz erheblicher europarechtlicher Bedenken.
Das führt zu einer Psychiatrisierung, hilft aber niemandem weiter. Wir haben einen Rechtsanspruch auf Therapie gefordert. Sie haben das nicht aufgegriffen. Deshalb
ist es gut und richtig, dass das Land Brandenburg den
Vermittlungsausschuss in Sachen Sicherungsverwahrung
anrufen wird.
({5})
Für uns ist es unmöglich, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. An dieser Stelle möchte ich eine Bitte an die
Kolleginnen und Kollegen der SPD richten: Überlegen
Sie sich noch einmal, ob Sie diesem Gesetzentwurf
wirklich zustimmen wollen. Manchmal - nicht nur an
dieser Stelle - ist es richtig, auch einmal dagegen zu
sein. Der Rechtsstaat würde es Ihnen danken.
({6})
Der Kollege Jerzy Montag hat nun das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Kollegin Voßhoff, in der gestrigen
Rechtsausschusssitzung haben wir Grünen - auch die
SPD, aber ich rede jetzt von uns - Ihnen diverse, gut begründete Vorschläge unterbreitet, wie man den Gesetzentwurf zur Reform der Sicherungsverwahrung verbessern kann. Die Union war an dieser Stelle die DagegenPartei; denn Sie haben immer dagegen gesprochen. Sie
haben die Vorschläge sogar abgelehnt, als wir darüber
abgestimmt haben.
({0})
Lassen Sie also bitte schön diese Mätzchen, zu denen
Sie sich offensichtlich in dieser Woche verabredet haben. Die Bürgerinnen und Bürger wissen, was das hier
für eine Veranstaltung ist. In einer Demokratie streiten
die Parteien und Fraktionen um die beste Lösung.
({1})
Wenn man die beste Lösung gefunden hat, dann stimmt
man dieser zu. Wenn man aber mit einer schlechten Lösung konfrontiert wird, wie Sie sie uns vortragen, dann
ist man dagegen. Das ist das Wesen der Demokratie und
des Parlamentarismus.
({2})
Lassen Sie also diese gegen uns Grüne gerichteten Mätzchen. Uns schadet das nicht; aber es fällt Ihnen auf die
eigenen Füße.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Koalition aus
CDU/CSU und FDP hat vor über einem Jahr vereinbart
und in der Koalitionsvereinbarung zu Papier gebracht,
die Sicherungsverwahrung grundlegend zu reformieren.
Kaum war die Tinte trocken, entschied der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte im Dezember 2009,
dass die frühere schwarz-gelbe Koalition unter Kohl im
Januar 1998 einen entscheidenden Fehler im Rahmen
der Sicherungsverwahrung gemacht hat und dass dieser
Fehler im Ergebnis ein Verstoß gegen europäische Menschenrechte ist. Es wäre also an der Zeit gewesen, sich
sofort im Dezember 2009 an die Arbeit zu machen, um
Ihren eigenen Reformwillen zu zeigen und um der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nachzukommen.
Was haben Sie aber gemacht? Sie haben eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht, die von vornherein aussichtslos war.
Der Gerichtshof hat sie nicht einmal zur Entscheidung
angenommen. Auf diese Art und Weise haben Sie viele
Monate verstreichen lassen, viele Monate, in denen wir
im Parlament über eine Reform hätten diskutieren können, die uns, den Ländern und der Polizei viele Probleme
erspart hätte, die wir jetzt haben.
({4})
Nun beraten wir abschließend über einen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen. Zuerst zum einzigen
positiven Punkt. Dass Sie schon in Ihrem ersten Vorschlag eine Begrenzung bei den Anlasstaten vorgenommen haben, haben wir gesehen und gewürdigt. Wir alle
- nicht nur die SPD - haben kritisiert, dass der Anlasstatenkatalog zu weit gefasst ist. Dieser ist nun eingeengt
worden; das ist gut. Aber die Vorschriften betreffend den
Staatsschutz, das Drogenstrafrecht und die Kriegsverbrechen - dies sind sicherlich schwere Straftaten - haben
mit der Sicherungsverwahrung nicht das Geringste zu
tun. Es wäre deshalb richtig gewesen, sich, wie es die
Ministerin im Sommer versprochen hat, auf schwerste
Gewalttaten und schwere Sexualstraftaten zu beschränken. Das haben Sie nicht getan. Selbst beim einzigen guten Punkt sind Sie auf halbem Weg stehen geblieben.
({5})
Zu den negativen Punkten. Sie haben gesagt, Sie
wollten die nachträgliche Sicherungsverwahrung abschaffen. Aber Sie haben es nicht getan. Aufgrund falscher Übergangsbestimmungen wird es noch in über
15 Jahren Fälle geben, in denen die nachträgliche Sicherungsverwahrung drohen kann und eventuell verhängt
werden wird. Über 15 Jahre werden wir einen Doppelstandard haben, weil Sie sich nicht entschließen konnten,
eine vernünftige Übergangsregelung zu schaffen. Besonders schlimm ist, dass Sie nicht die Kraft gefunden haben, die nachträgliche Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht - diese halten Sie selbst für falsch abzuschaffen; das wäre notwendig gewesen. Das kritisieren wir. Auch deswegen werden wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({6})
Dass Sie die vorbehaltene Sicherungsverwahrung
ausbauen, ist ein Fehler, meine Damen und Herren von
der Koalition. Sie beziehen die Ersttäter ein und setzen
das Maß der Wahrscheinlichkeit für den Richter so gering an, dass es Hunderte, vielleicht sogar Tausende
Fälle geben wird, in denen der Vorbehalt erklärt wird.
Das führt zu einem Chaos im Strafvollzug; denn diese
Menschen werden ganz anders behandelt als andere.
Des Weiteren stellt das geplante Therapieunterbringungsgesetz keine Lösung für die Zukunft dar. Dieses
Gesetz gilt für einen sehr begrenzten Personenkreis. Von
diesem Personenkreis werden Sie nur einen ganz kleinen
Subkreis erfassen, nämlich diejenigen, bei denen sich ein
Zivilgericht dazu hergibt, sie für psychisch gestört zu erklären. Da die Länder in diesen wenigen Fällen keine
Möglichkeiten haben, die Betroffenen entsprechend unterzubringen, werden sie diese Menschen in psychiatrische Krankenhäuser stecken. Diese Häuser wehren sich
schon heute gegen die Aufnahme solcher Menschen;
denn darunter werden auch solche sein, die weder therapiewillig noch therapiefähig sind.
Die Lösung unter Berücksichtigung des Urteils des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hätte
sein müssen - das haben wir auch gefordert -, diesen
Verstoß gegen die Menschenrechte wiedergutzumachen,
indem man die betroffenen Menschen auf freien Fuß
setzt. Unter dem Strich ist der Gesetzentwurf zu
schlecht, als dass wir ihm zustimmen könnten. Wir werden ihn ablehnen.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Ahrendt für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich unangenehm werde,
Folgendes vorweg: Es waren gute Beratungen. Wir
freuen uns, dass wir nun ein gutes Gesetzeswerk vorlegen und dass es uns gelungen ist, viele gute Vorschläge
der Opposition, insbesondere von der SPD-Fraktion,
aufzunehmen. Aber das, was Sie vorgetragen haben,
Herr Montag, ist eine bodenlose Frechheit. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung, über die Sie sich beklagen,
haben Sie 2004 im Bundestag beschlossen. Nun beklagen Sie, dass wir sie nicht so abschaffen, wie Sie wollen.
Sie hätten diese Regelung erst gar nicht einführen sollen.
Das ist der erste Fehler.
({0})
Damit bin ich auch beim Kernproblem. Das gesamte
Recht der Sicherungsverwahrung ist ein Flickenteppich.
Ich gebe Ihnen recht: Es war ein Fehler, 1998 die
Höchstgrenze von zehn Jahren abzuschaffen - das hat
uns das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dieses Jahr eingebracht -, weil wir damit gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen haben. Aber was
in diesem Jahr gelungen ist, ist Folgendes: Wir haben
mit dem Gesetzentwurf das Recht im Hinblick auf die
Sicherungsverwahrung wieder vom Kopf auf die Füße
gestellt. Deswegen muss man sich an dieser Stelle bei
der Bundesjustizministerin bedanken; denn sie hat den
vielen, relativ forsch vorgetragenen Vorschlägen widerstanden und ist konsequent bei ihrem Gesetzentwurf geblieben. Sie hat einen guten Gesetzentwurf vorgelegt,
den wir bei den Beratungen im Parlament noch weiter
verbessert haben. Deswegen geht mein ganz besonderer
Dank an das Justizministerium.
({1})
Herr Kollege Ahrendt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
({0})
Gerne.
Bitte.
Herr Kollege Ahrendt, wenn Sie die Frau Justizministerin loben,
({0})
dann kann das nicht nur daran liegen, dass sie aus Ihrer
Partei und Fraktion kommt. Sie sollten auch dazu Stellung nehmen, was der Kollege Montag gesagt hat, nämlich dass die Justizministerin nicht nur in einer Veranstaltung, sondern den ganzen Sommer über in der
Diskussion über die Veränderung der Sicherungsverwahrung immer wieder betont hat, dass sie dieses verfassungsrechtlich schwierige und problematische Instrument nur ganz eng bei Gewalttaten und Straftaten gegen
die sexuelle Selbstbestimmung einsetzen will.
Nun legen Sie einen Gesetzentwurf vor - dafür loben
Sie die Bundesministerin auch noch -, der eine Ausweitung auf viele andere Tatbestände wie Diebstahl, Zerstören einer Telefoneinrichtung und Ähnliches vorsieht.
Das passt irgendwie nicht zusammen. Wollen Sie Ihr
Lob nicht ein bisschen einschränken?
Nein, im Gegenteil. Der Gesetzentwurf veranlasst
mich, mein Lob zu verstärken. Denn das Justizministerium und die Koalition haben zusammen mit der SPD
gezeigt, dass es im Gesetzgebungsverfahren möglich ist,
ein Gesetz ein Stück weit zu verbessern. An einer Stelle
gebe ich Ihnen recht. In dem Entwurf stand, dass alle
Straftaten mit einer Strafe über zehn Jahren zu einer Sicherungsverwahrung führen können. Wir haben das, was
Herr Montag in der ersten Lesung kritisiert hat, in den
Beratungen aufgenommen, diese Einwände mit dem Justizministerium abgeklärt und das Gesetz neu gefasst, sodass jetzt die Ultima Ratio im Gesetz steht: nur schwere
Straftaten.
({0})
- Lassen Sie mich ausreden, Herr Kollege. - Deshalb
haben wir gemeingefährliche Straftaten aufgenommen;
denn es ist gefährlich, wenn jemand in Serie Brände legt.
Wenn eine entsprechende Gefährlichkeit des Täters gegeben ist, kann die Sicherungsverwahrung verhängt werden. Wir können uns als Parlament für diese entscheidende Verbesserung, die im Gesetzgebungsverfahren
erfolgt ist, selbst loben.
({1})
Ich möchte an der Stelle die Gelegenheit ergreifen,
die weiteren Punkte auszuführen, die wir bei der Sicherungsverwahrung verbessern. Dadurch, dass wir die
nachträgliche Sicherungsverwahrung abschaffen, was
Herr Montag kritisiert hat, und dafür die vorbehaltene
Sicherungsverwahrung ausbauen, erreichen wir zwei
Dinge: Wir machen die Anwendung des Rechts sowohl
für die Bevölkerung, die wir schützen müssen, als auch
für die Täter, die resozialisiert werden sollen, sicherer.
Wenn die Täter den Vorbehalt auf dem Weg in die Haft
mitbekommen, dann wissen sie, worum sie sich in der
Haft kümmern müssen. Dann können sie aktiv an der
Resozialisierung, an Therapien mitwirken; denn sie wissen: Wenn sie aktiv sind, können sie den Vorbehalt widerlegen. Das ist viel besser, als wenn sie am Ende der
Strafverbüßung erfahren, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung verhängt wird und sie nicht mehr die
Chance haben, in die Freiheit entlassen zu werden. Insofern ist das ein ganz entscheidender Fortschritt, wobei
wir bei der Abwägung darauf achten, dass wir die
Grundrechte der Täter schützen. Wir geben ihnen mit
diesem Instrument die Möglichkeit, in Freiheit zu kommen.
Es ist auch richtig gewesen, dass wir die Frist für die
Rückfallverjährung für Sexualstraftäter auf 15 Jahre verlängert haben; denn das ist ein ganz besonders gefährlicher Täterkreis. Die Beratungen im Rechtsausschuss und
die Beratungen mit den Sachverständigen haben gezeigt,
dass wir ein gutes Stück vorangekommen sind.
Was ein Problem bleibt - das ist eine schwierige Gratwanderung, die das Justizministerium aber erfolgreich
gemeistert hat -, ist das Therapieunterbringungsgesetz.
Auf der einen Seite beschäftigen wir uns mit der Frage:
Sind wir zuständig? Oder ist der Aspekt der Gefahrenabwehr schon so groß, dass eigentlich die Länder zuständig
sind? Auf der anderen Seite haben wir das Problem mit
dem Rückwirkungsverbot, weil die Sicherungsverwahrung vom Bundesverfassungsgericht als Strafe angesehen worden ist und die Zuständigkeit deshalb beim Bund
liegt.
Mit dem Recht, das wir hier geschaffen haben, haben
wir zum einen den Schutz für die Bevölkerung hergestellt, den wir vor dem Hintergrund, dass es jetzt Straftäter gibt, die zu entlassen sind, brauchen. Wir haben aber
zum anderen dafür gesorgt, dass diese Straftäter aus dem
normalen Vollzug herauskommen und in eine gesonderte
Therapie kommen und somit in der Lage sind, sich dort
entsprechend zu resozialisieren.
An dieser Stelle muss man einfach sagen, dass dies
nicht immer im Verantwortungsbereich der Bundesregierung liegt, und zwar aus dem einfachen Grund, weil die
Länder für die Strafvollstreckung zuständig sind. Es
liegt auch an den Ländern, in diesem Bereich besser zu
werden; denn im Urteil des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte steht, über mehrere Seiten deutlich
ausgeführt, dass das, was in der Vergangenheit im Vollzug der Sicherungsverwahrung in den Ländern geleistet
worden ist, nicht ausreicht. Hier sind jetzt die Länder gefordert. Auch das muss an dieser Stelle gesagt werden.
Wir haben heute die Möglichkeit, ein gutes Gesetz zu
verabschieden. Dieses Gesetz verbessert die Situation
der betroffenen Sicherungsverwahrten. Was aber entscheidend ist: Es schützt die Bevölkerung, und darum
geht es uns. Deswegen können wir diesem Gesetz guten
Gewissens zustimmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Montag das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Ahrendt, ich
habe mich noch einmal zu Wort gemeldet, weil Sie mich
in Ihrem Beitrag persönlich angesprochen haben und mir
nicht nur meine sachliche Kritik, sondern eine ungeheuerliche Unverschämtheit meinerseits oder etwas in diesem Sinne vorgeworfen haben.
Herr Kollege, ich will Ihnen sagen: Sie erleben jetzt
die Schwierigkeiten, die man in einer Regierungskoalition hat, wenn man der kleinere Koalitionspartner ist. Ich
hatte nicht die Zeit, in meinen fünf Minuten darüber zu
reden, dass die Frist für die Rückfallverjährung, die bisher - über Jahrzehnte - mit fünf Jahren eine gute Vorlage
für die Justiz in Deutschland in Sicherungsverwahrungsfällen gewesen ist, von der Union auf zehn Jahre angehoben worden ist. In den letzten Beratungen wurde offensichtlich in der Koalition ein Geschäft gemacht; denn
sie wurde sogar auf 15 Jahre angehoben.
Ich wage die Hypothese: Das hat Ihnen und der FDP
nicht gefallen, aber Sie mussten das schlucken. So ähnlich war die Situation bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung im Jahr 2004. Die SPD wollte sie unbedingt,
wir Grüne wollten sie nicht. Deswegen haben wir uns
mit Erfolg dafür eingesetzt, dass sie so rechtsstaatlich
eingeführt wurde, dass in den sechs Jahren seitdem nicht
mehr als 20 Menschen in nachträgliche Sicherungsverwahrung gekommen sind.
Sie kennen unsere grundsätzliche Kritik an der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Deswegen haben wir
viel Gemeinsames und nicht so viel Trennendes; Sie
wollen sie doch auch nicht. Ich habe mir die Freiheit genommen, Sie darauf hinzuweisen, dass Sie sie im Jugendstrafrecht immer noch nicht abgeschafft haben, obwohl Ihr Kollege van Essen in keiner Rede zu diesem
Thema vergisst, zu sagen, dass das auf dem FDP-Zettel
steht. Dennoch schaffen Sie es nicht, in dieser Angelegenheit zu Ihrem Koalitionspartner durchzudringen.
Ich habe mir ferner erlaubt, zu sagen, dass die Übergangsregelung für viele Jahre - bis zu 15 Jahre und
mehr - zu einer Doppelstruktur im Strafvollzug führen
wird. Das sind sachliche Argumente. Die können Sie gut
oder richtig finden, aber Sie dürfen darauf nicht in einer
so persönlichen und emotionalen Art erwidern.
({0})
Herr Kollege Ahrendt, bitte.
Herr Kollege Montag, ich hätte nicht so vehement
reagiert, wenn Sie das, was Sie eben gesagt haben, auch
in Ihrer Rede angesprochen hätten. Sie hatten den Eindruck erweckt, mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung nichts zu tun zu haben. Tatsächlich haben Sie
sie verabschiedet. Es wäre also anständig von Ihnen gewesen, sich so zu äußern, wie ich es gemacht habe. Die
FDP hat damals 1998 zusammen mit der CDU/CSU die
Zehnjahresfrist abgeschafft, das war ein Fehler. Deswegen müssen wir diesen Fehler korrigieren, indem wir das
Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berücksichtigen.
Aber diese Kraft haben Sie nicht aufgebracht. Sie haben hier den Eindruck erweckt, als hätten Sie mit der
nachträglichen Sicherungsverwahrung, die viele Probleme mit sich bringt, die in der Wissenschaft und in der
Praxis nicht gerade mit freundlichen Kommentaren bedacht wird, nichts zu tun. Die Äußerung von Ihnen, dass
dem nicht so ist, hat mir gefehlt.
Es ist natürlich schwierig - das ist der zweite Teil
meiner Antwort -, sich in einer Koalition durchzusetzen. Aber wenn man sich diesen Gesetzentwurf anschaut und sich klarmacht, was die Ministerin dazu beigetragen hat, dann muss man feststellen: Sie hat sich in
dieser Koalition trotz der Kompromisse, die gemacht
worden sind - die Kompromisse sind gut; ich trage sie
mit -, sehr erfolgreich durchgesetzt. Wir haben das
Recht der Sicherungsverwahrung wieder vom Kopf auf
die Füße gestellt. Deswegen freue ich mich, dass wir das
Gesetz heute zusammen mit der CDU/CSU und auch mit
der SPD verabschieden können.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Ansgar Heveling für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wären wir der ideale Gesetzgeber, könnten wir
heute ein perfektes Gesetz zur Reform der Sicherungsverwahrung vorlegen. Doch den idealen Gesetzgeber
gibt es nur in der idealen Welt. Wir leben aber nicht in
einer idealen Welt. Wir leben in einer Welt, in der es
Menschen gibt, die eine Gefahr für andere sind. Wir leben in einer Welt, in der es potenzielle Straf- und auch
Wiederholungstäter gibt, die jederzeit wieder zuschlagen
können.
Wir haben das zu Beginn dieser Woche in Duisburg
erlebt. Ein gerade aus der Sicherungsverwahrung Entlassener
({0})
- nach einem Gutachten, das ist richtig; er wurde als
nicht gefährlich eingestuft 8594
({1})
hat ein kleines Kind angegriffen und gewürgt. Es konnte
sich Gott sei Dank losreißen. So ist sicherlich Schlimmeres verhindert worden.
Wir dürfen als Politiker vor solchen Situationen nicht
die Augen verschließen. Wir müssen deshalb um gesetzliche und rechtsstaatliche Lösungen ringen. Aber was wir
auch tun - darauf müssen wir klar und deutlich hinweisen -:
Wir können keine perfekten gesetzlichen Regelungen
zum Schutz vor gefährlichen Straftätern schaffen. Weil es
keine perfekten Regelungs- und Schutzmechanismen geben kann, wird auch niemals ein hundertprozentiger
Schutz vorhanden sein.
({2})
Aber wir stehen in der Verantwortung, unser Möglichstes zu tun, diesem Risiko mit rechtsstaatlichen Mitteln
zu begegnen. Das ist ohne Zweifel nicht einfach, geht es
doch um unterschiedliche, teils widerstreitende Rechtspositionen. Es sind im Wesentlichen drei Faktoren, die
dieses Spannungsfeld, in dem wir unsere gesetzgeberische Entscheidung zu treffen haben, ausmachen:
Erstens. Der Staat hat einen Schutzauftrag gegenüber
den Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere den
Schwächsten gegenüber. Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten, ist die existenzielle Aufgabe auch und gerade des Rechtsstaats.
Zweitens. Ohne Zweifel, auch die persönliche Freiheit ist ein hohes Gut. Freiheitsentziehungen sind daher
zu Recht nur in engen Grenzen zulässig.
Drittens. Freiheitsentziehung als Strafe knüpft an bereits begangenes Unrecht, damit an Schuld und damit an
einen objektivierbaren Faktor an.
Freiheitsentziehung aufgrund von vermuteter Gefährlichkeit ist demgegenüber von einer Prognoseentscheidung abhängig und damit durch Unwägbarkeiten
gekennzeichnet. Es können immer falsche Prognoseentscheidungen getroffen werden, in jeglicher Richtung. Es
können Gefährliche als nicht gefährlich und Nichtgefährliche als gefährlich begutachtet werden. Prognoseentscheidungen können sich als falsch erweisen; so
war es in Duisburg.
Wir müssen versuchen, dieses Spannungsverhältnis
aufzulösen, und zwar rechtsstaatlich aufzulösen. Ich
glaube, wir haben es uns dabei alle miteinander - genauer gesagt: weitgehend alle - nicht leicht gemacht.
Denn nicht nur das oben skizzierte Spannungsfeld hat
die Reformdiskussion beherrscht, sondern auch der
durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte ausgelöste Regelungsdruck hat uns
unter Zug- und Entscheidungszwang gesetzt.
({3})
Mit dem Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung verfolgen wir das Ziel, dafür zu
sorgen, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung in
Zukunft nicht mehr gebraucht wird. Wir konsolidieren
die primäre Sicherungsverwahrung. Wir weiten - das ist
das Kernstück der Reform - die vorbehaltene Sicherungsverwahrung aus. Mit dieser Neujustierung wird es
auch zukünftig möglich sein, die Bürgerinnen und Bürger vor gefährlichen Straftätern auch nach dem Verbüßen der Strafe zu schützen.
Gleichzeitig werden die engen rechtsstaatlichen
Grenzen für eine Freiheitsentziehung auf Grundlage einer prognostischen Beurteilung beachtet, es wird der Ultima-Ratio-Grundsatz eingehalten. Dem wird insbesondere dadurch Rechnung getragen, dass als Anlasstaten
für die Sicherungsverwahrung zukünftig nur noch
schwerste Gewalt- und Sexualstraftaten, schwerste Verbrechen, in Betracht kommen.
Trotz des immensen Entscheidungsdrucks und trotz
des eng gesteckten Beratungszeitraums haben wir die
Meinung von Experten nicht nur gehört, sondern ihren
Rat auch in die weiteren Überlegungen mit einbezogen,
sodass es im Verfahren und nach der Anhörung noch
substanzielle Änderungen gegeben hat.
Trotz des eng gesteckten Zeitrahmens hat es auch
nach der Anhörung im weiteren Verfahren Gespräche
unter Einbeziehung aller Fraktionen gegeben. Ich darf
mich an dieser Stelle insbesondere bei den Kolleginnen
und Kollegen der SPD bedanken. Sie haben frühzeitig
signalisiert, am Gesetzgebungsverfahren konstruktiv
teilzunehmen. Sie haben nicht nur das getan, sie haben,
obwohl sie im Verfahren weiter gehende Wünsche und
Vorstellungen artikuliert haben, in der Schlussberatung
im Rechtsausschuss dem Gesetzentwurf zugestimmt.
Das ist ein gutes Signal, nicht zuletzt auch mit Blick auf
die Bundesländer.
({4})
Auf diese wird es jetzt in der Umsetzung entscheidend ankommen. Die Sicherungsverwahrung wird in
den Ländern vollzogen. Wir wissen, dass die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sehr intensiv auf die tatsächlichen Bedingungen
der Sicherungsverwahrung abhebt. Hier kommt eine
Menge Arbeit auf die Länder zu - Arbeit, die der Bund
ihnen aufgrund der Kompetenzregelung in unserem Verfassungsgefüge nicht abnehmen kann. Allerdings sind
die Länder auch bereits intensiv mit den Vorbereitungen
zur Umsetzung des neuen Rechts befasst.
Ich bedauere, dass sich die Fraktion von Bündnis 90/
Die Grünen, obwohl ihre Hinweise erkennbar auf fruchtbaren Boden gefallen sind, schlussendlich nicht zu einer
Zustimmung hat durchringen können.
({5})
Natürlich kann man stets unterschiedliche Schlussfolgerungen aus Erkenntnissen ziehen. Natürlich kann man
immer noch mehr regeln. Aber wir haben uns doch erkennbar aufeinander zubewegt. Dann kommt es letztlich
auf das Wollen an. Wenn es daran mangelt, dann reduziert es sich nachher doch auf das Dagegen-Sein.
({6})
Leider ist bei der Fraktion Die Linke nicht einmal im
Ansatz die Bereitschaft zur Problemlösung erkennbar.
Mir fehlt offen gestanden jedes Verständnis für deren
Position.
({7})
Ihre Skepsis gegenüber allem, was mit Rechtsstaat zu
tun hat, mag man vor dem Hintergrund Ihrer Geschichte
noch nachvollziehen können.
({8})
Vielleicht ist es aber auch besser, wenn man erst gar
nicht versucht, eine Fraktion zu verstehen, die in der
Tradition einer Partei steht, die das eigene Volk jahrzehntelang selbst für gefährlich gehalten und weggesperrt hat.
({9})
Herr Kollege, gestatten Sie am Ende Ihrer Redezeit
eine Zwischenfrage der Kollegin Klein-Schmeink?
Nein, ich möchte jetzt zum Schluss kommen. - Wir
schließen heute die Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung ab. Wir haben es uns dabei alle nicht
leicht gemacht. Wir wissen auch um die Schwierigkeiten
im Detail, aber wir stehen den Bürgerinnen und Bürgern
gegenüber in der Verantwortung, um deren Freiheit und
Sicherheit zu gewährleisten. Dieses Gesetz wird dazu einen Beitrag leisten.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4062, den Gesetzentwurf der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3403 in der
Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 17/4066 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer
stimmt für den Änderungsantrag der SPD-Fraktion? Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür hat die SPD-Fraktion gestimmt, dagegen die anderen Fraktionen.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei
Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis
wie bei der zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 7 bis 10 auf:
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Irland unterstützen und Steuerharmonisierung
vorantreiben
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes
über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in
Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/4065 ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Irland unterstützen - Euro stabilisieren
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes
i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 17/4082 ZP 9 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Irland unterstützen und gerechten, wirksamen
Mechanismus zur Bewältigung von Staatsfinanzierungskrisen schaffen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/4014 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Alexander Ulrich, Michael Schlecht, Jan van
Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
zum Antrag der Republik Irland auf finanzielle Unterstützung im Rahmen des Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus
({0})
Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 Absatz 1 des Gesetzes
über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in
Angelegenheiten der Europäischen Union
Profiteure der Krise zur Kasse bitten - Keine
weitere Verstaatlichung fauler Bankkredite bei
Finanzhilfen für Irland
- Drucksache 17/4029 Über den Antrag der Fraktion der SPD und über den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen werden wir
später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Manuel Sarrazin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist Ihnen sicherlich aufgefallen, dass wir
Grüne in dieser Woche als Erste beantragt haben, dass
der Bundestag Verantwortung für Irland übernimmt. Für
die Kredithilfen für Irland sprechen aus unserer Sicht
Solidarität und Rationalität im europäischen Sinn.
({0})
Der Geschichtsphilosoph Alfred Vierkandt sagte einmal:
Solidarität ist das Zusammengehörigkeitsgefühl, das
praktisch werden kann und soll.
Echte Solidarität gibt es also nur dann, wenn man sie am
Ende auf die Wirklichkeit bezogen eintreten lässt. Wir
finden, das gilt auch heute.
({1})
Es ist nicht so, dass wir alles, was die Europäische
Kommission und die irische Regierung ausgehandelt haben, einfach gut finden. Wir finden es falsch und unklug
für Irland, auf dem harten Weg des Sparens nicht auch die
Anhebung des Unternehmensteuersatzes anzupacken.
({2})
Wir finden es falsch, auf dem Sanierungsweg nicht auch
die Vermögen heranzuziehen.
({3})
Wir wollen, dass Europa endlich bei der Harmonisierung
der Unternehmensteuern vorankommt. Wir denken, dass
gerade Irlands Probleme zeigen, dass es jetzt Zeit ist,
hier voranzukommen und zu handeln.
({4})
Jetzt aufgrund der Entscheidungen gegen die Kredithilfen zu stimmen, würde aber nicht dazu führen, dass
das Sparprogramm sozialer oder besser würde; es würde
Irland dem reinen Spiel der Märkte überlassen - nicht
mehr -, und das in einer Situation, in die Irland natürlich
vor allem durch das außergewöhnliche Ereignis der Finanzkrise geraten ist.
Natürlich hat die irische Politik eine zu laxe Aufsicht
über die Finanzmärkte betrieben und die Unternehmensteuern zu niedrig gehalten. Europa hat aber diese Politik
durchgehen lassen und nicht voraussehend mit europäischen Regelungen reagiert. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir auch sagen, dass gerade Deutschland unter dieser
Bundesregierung in Brüssel regelmäßig bei der strengen
Regulierung der Finanzmärkte bremst.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
es reicht aus unserer Sicht nicht aus, den Iren vorzuwerfen, dass sie eine schlechte Regierung haben, zumal Sie
zu Hause nicht gegen die Neoliberalen gewinnen.
({5})
Es steckt ein tieferer Sinn hinter unserem Antrag.
({6})
Bei der Tat der Solidarität geht es uns nicht einfach nur
darum, Europa zu bewahren, sondern wir wollen Europa
weiterentwickeln. Diese Tat fordert auch politisch ein:
Geht endlich die Koordination der nationalen Wirtschaftspolitiken an! Geht endlich die Steuerharmonisierung an und geht endlich den Abbau der wirtschaftlichen
Ungleichgewichte in der Europäischen Union an!
Denn - um es mit Robert Schuman zu sagen, der
diese Erkenntnis schon 1950 hatte; ich zitiere -: Europa
„wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst
eine Solidarität der Tat schaffen“. Wer also will, dass Europa mehr wird, als es 1950 war und als es heute ist, der
sollte aus unserer Sicht heute für die Solidarität der Tat
stimmen.
({7})
Meine Damen und Herren, dass wir mit unserem Antrag eine Stellungnahme nach Art. 23 des Grundgesetzes
einfordern, liegt daran, dass wir möchten, dass der Bundestag zeigt, dass er seine Verantwortung übernimmt, zu
sagen, dass die Parlamente beteiligt werden müssen,
wenn wir wollen, dass Europa gelingt. Das ist notwendig, um die irische Hilfe verfassungsgerichtsfest zu machen.
Die Beschlussvorlage der Kommission liegt uns noch
nicht vor. Das Finanzministerium hat uns heute den Entwurf für die Beschlussvorlage zur Verfügung gestellt.
Wir denken deshalb, dass eigentlich den Rechten des
Parlamentes auf Stellungnahme gemäß Art. 23 GG nicht
Genüge getan worden ist. Wir geben mit dieser Stellungnahme aber ideell unsere Zustimmung dazu, dass die
Bundesregierung im Ecofin für die Kredithilfen für Irland stimmt. Wir wahren trotzdem unser Recht auf StelManuel Sarrazin
lungnahme, die wir erst dann abgeben können, wenn wir
auch die endgültigen Beschlussvorlagen kennen und
richtig bewerten können. Wir kennen den Inhalt durch
die Information im Ausschuss aber relativ gut. Deshalb
ist das sachlich möglich und auch geboten. Das bedeutet
aber nicht, dass wir auf unsere Rechte verzichten. Darauf
werden wir auch weiterhin pochen.
Vielen Dank.
({8})
Der nächste Redner ist der Kollege Norbert Barthle
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren heute über ein 85-MilliardenEuro-Paket, das zwischen der Europäischen Kommission, dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank verabredet wurde. Es soll dazu
dienen, die Zahlungsfähigkeit Irlands wiederherzustellen
und gleichzeitig auch die Finanzstabilität der Euro-Zone
sicherzustellen.
Dieses Paket beinhaltet verschiedene Teile, für die
auch verschiedene Beteiligungen gelten. Da ist zunächst
einmal der EFSF-Teil, also die Europäische Finanzstabilitätsfazilität. Für diesen Teil ist das Einvernehmen mit
dem Haushaltsausschuss herzustellen. Ich möchte feststellen, dass dieses Einvernehmen eindeutig hergestellt
wurde. Ich will an dieser Stelle auch dem Bundesfinanzminister ganz herzlich danken, der uns aktuell und laufend über die jeweiligen Beratungen informiert hat, zuletzt noch am Sonntag über Telefonkonferenzen, mit
einer umfassenden Unterrichtung am Montag im Haushaltsausschuss und erneut unter dem entsprechenden Tagesordnungspunkt am Mittwoch.
({0})
Dieses Einvernehmen wurde mit den Stimmen der
Koalition, mit den Stimmen der SPD und mit den Stimmen der Grünen hergestellt. Dafür ein ganz herzliches
Dankeschön. Das zeigt, dass an dieser Stelle doch ein
Verantwortungsbewusstsein besteht. Ich möchte aber
nochmals betonen, dass wir im Haushaltsausschuss auch
- entgegen anderslautender Agenturmeldungen von gestern - eine eigenständige Mehrheit hatten. Wir hatten
eine eigene Mehrheit von 14 : 11, daran gibt es nichts zu
rütteln.
({1})
Damit sind diese Bedingungen für den Rettungsschirm
erfüllt.
Es geht heute aber eigentlich um den zweiten Teil.
Das ist - EFSM genannt - der Europäische Finanzstabilisierungsmechanismus. Hierfür ist die Beteiligung des
Parlaments, des Deutschen Bundestages, vorgesehen.
Diese erfolgt hier und heute und damit auch rechtzeitig
vor der Tagung der Ecofin am Dienstag, dem 7. Dezember 2010, und der Tagung des Europäischen Rates am
16. und 17. Dezember 2010.
Inzwischen liegen auch der Antrag unserer Koalition
zu diesem Thema und auch der Entwurf - der Kollege
Sarrazin hat darauf hingewiesen - der Europäischen
Kommission für den Beschluss des Rates vor. Dieser
Entwurf enthält drei Hauptelemente: erstens eine Strategie für den Finanzsektor, zweitens eine ehrgeizige Strategie zur Haushaltskonsolidierung und drittens eine
Strukturreformstrategie zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation und zur Stärkung des wirtschaftlichen
Wachstums. Es ist sicherlich interessant, das genauer zu
beleuchten; darauf werde ich noch zurückkommen.
Über eines sind wir uns alle im Klaren: Irland ist nicht
mit Griechenland vergleichbar. Es handelt sich um ein
vollkommen eigenständiges Phänomen. In Irland überwiegt das Problem des aufgeblähten Bankensektors, obwohl natürlich auch das Staatsdefizit, das trotz der Sparmaßnahmen im kommenden Jahr immer noch bei fast
10 Prozent liegen wird, dazu beiträgt, dass Irland sich
nicht selbst helfen kann. Deshalb ist es notwendig, dass
wir als Europäer Solidarität üben, Irland helfen und
gleichzeitig unsere eigene Währung, unseren Euro,
schützen. Letztendlich geht es nämlich genau darum.
({2})
Ich denke, wir können froh und stolz sein, dass wir
bei uns, so sagt es der Finanzminister, schon im kommenden Jahr die 3-Prozent-Grenze der Maastricht-Kriterien wieder unterschreiten. Wir sollten aber nicht in den
Fehler verfallen, darauf mit Überheblichkeit und zu viel
Stolz zu reagieren.
({3})
Im Gegenteil: Wir sollten den anderen in der Europäischen Union nicht sagen, wie es richtig zu machen ist,
welche Steuern sie erheben sollen, wie sie ihre Wirtschaft gestalten sollen. Da unterscheiden wir uns von Ihnen. Wir wollen umgekehrt aber auch nicht, dass andere
uns sagen, wie hoch unser Körperschaftsteuersatz sein
soll, wie hoch unser Mehrwertsteuersatz sein soll, wie
unsere Wirtschaftspolitik aussehen soll. Ich denke, es ist
gut und richtig, dass die Europäische Union auf die
Stärke ihrer Mitglieder setzt. Es gilt, die Stärke der Mitglieder zu stärken. Deshalb machen wir dies heute.
({4})
Ich will nochmals darauf verweisen, dass wir froh und
stolz sind, dass wir eine so gute industrielle Basis haben,
dass wir eine mittelständische Struktur haben, die sich in
dieser Krise als flexibel und resistent erwiesen hat, dass
unsere Industrie eine Grundstruktur hat, die in der Lage
war, möglichst schnell wieder Impulse aufzunehmen.
Die Marktreaktionen in Irland zeigen allerdings, dass die
Märkte die industriellen Voraussetzungen nicht immer
genau im Visier haben, sondern auch spekuliert wird.
Diesen Spekulationen müssen wir den Boden entziehen.
Dazu dient dieses Paket, das jetzt auf den Weg gebracht
wird.
Lassen Sie mich an dieser Stelle nochmals daran erinnern, dass das Sparpaket, das in Irland jetzt auf den Weg
gebracht wird, zu etwa einem Drittel aus Mehreinnahmen und zu zwei Dritteln aus Ausgabenreduzierungen
besteht, und zwar mit teilweise ernst zu nehmenden
Maßnahmen: Erhöhung des Renteneinstiegsalters auf
68 Jahre,
({5})
Stellenabbau im öffentlichen Dienst, Absenkung der
Mindestlöhne um 1 Euro, Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes. An dieser Stelle empfehle ich vor allem den
Kolleginnen und Kollegen von der linken Seite des Hauses, einmal nachzuschauen, wie die Länder, die quasi gezwungen sind, heftige Sparprogramme aufzulegen, diese
Aufgabe angehen, und eine Analogie zu Deutschland
herzustellen. In diesem Zusammenhang lohnt sich ein
Blick auf unser Zukunftspaket.
({6})
Mit unserem Zukunftspaket machen wir genau dasselbe:
ein Drittel Einnahmeverbesserungen, zwei Drittel Sparen bei den Ausgaben.
({7})
Deshalb lohnt sich ein Blick darauf. Das ist genau dieselbe Grundstruktur.
Sosehr ich es begrüße, dass Grüne und SPD dabei
sind, wenn es um dieses Rettungspaket geht, so sehr
empfehle ich, dass Sie darauf achten, dass Sie nicht, um
außenpolitisch seriös zu erscheinen, innenpolitisch das
Gegenteil tun und gemeinsam mit den Gewerkschaften
die Menschen gegen unsere Zukunftspakete auf die
Straße treiben. Das beißt sich. Das widerspricht sich.
Das ist nicht konsistent.
({8})
Ich begrüße es außerdem, dass auf europäischer
Ebene ernsthaft darüber nachgedacht wird, wie ein Stabilisierungsmechanismus für die Zeit nach Auslaufen
dieser Maßnahmen, also für die Zeit nach 2013 eingerichtet werden kann.
({9})
Dazu gibt es Vorschläge der Van-Rompuy-Gruppe. Ich
begrüße es sehr, dass unsere Position von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble immer wieder vorgetragen wird.
({10})
Wir setzen darauf, dass es gelingt, den Mechanismus
einzuführen, der in unserem Antrag dargelegt ist, mit
dem wir in der Lage sind, zukünftige Krisen zu beherrschen, und zwar auch unter Beteiligung der Gläubiger.
({11})
Das steht in unserem Antrag mit drin. Ich glaube, damit
sind wir auf dem richtigen Weg.
Es geht immer - dessen müssen wir uns stets vergewissern - um die Stabilität unserer Währung. Es geht um
das Vertrauen der Menschen in unsere Währung. Dafür
gilt es sich auch auf europäischer Ebene einzusetzen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat der Kollege Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir Sozialdemokraten stimmen den Hilfen für Irland zu.
({0})
Wir tun dies im Bewusstsein unserer Verantwortung für
ein friedliches Europa. Wir tun dies nicht - entgegen den
gerade wieder vorgetragenen Argumenten - für eine
Rettung des Euro, Kollege Barthle. Es geht nicht um den
Kurs des Euro, der tagtäglich schwankt. Vielmehr geht
es darum, dass, wenn ein Land aus der Währungsunion
aussteigt, der zweite Schritt der Ausstieg aus der Europäischen Union ist. Das ist die Gefahr, vor der wir stehen. Wir wollen eine gemeinsame Europäische Union,
weil nur sie zum Beispiel dafür sorgen kann, dass die Finanzmärkte gezähmt werden. Das geht nur durch eine
gemeinsame Linie innerhalb der Europäischen Union.
({1})
Deswegen muss sie erhalten bleiben. Vor dieser Frage
stehen wir.
Eine politische Union muss aber auch politische Antworten geben. Alles, was bis jetzt verabredet wurde, sind
Geld und Kredite - und das alles sehr kurzfristig. Wir
sind Getriebene der Märkte. Politische Entscheidungen
werden mittlerweile morgens im Kanzleramt mit dem
Blick auf den Ticker bzw. darauf getroffen, wie sich die
Kurse ändern. So werden heute politische Entscheidungen durch Ihre Regierung getroffen. Das ist fatal.
({2})
Das ist nicht das Primat der Politik, Frau Bundeskanzlerin, das Sie vor einer Woche hier gefordert haben, sondern das ist das Gegenteil.
Eine politische Antwort wäre, die Spirale der Spekulation und der Verunsicherung zu durchbrechen. Wir Sozialdemokraten haben in unserem Antrag ganz konkrete
Vorschläge dazu gemacht. Sie als Koalitionsfraktionen
sind nicht mit einer Silbe darauf eingegangen und haben
sie sich nicht zu eigen gemacht. Die Verunsicherung bei
Ihnen ist so stark - ich brauche mir nur die PressemitteiCarsten Schneider ({3})
lungen der FDP vom gestrigen Tag anzuschauen -, dass
es schwer genug ist, diesen Laden zusammenzuhalten,
({4})
geschweige denn für eine gemeinsame Initiative und
eine gemeinsame Aktion aller hier vertretenen Fraktionen zu sorgen. Ich bedauere dies ausdrücklich.
({5})
Es zeigt sich die Abhängigkeit der Politik von den
Märkten. Da Sie uns Irland immer als das Heilsmodell
der ökonomischen Entwicklung gepriesen haben und
weil die Märkte für Sie das Evangelium sind, frage ich
Sie, warum Sie die Märkte dann so treiben lassen. Warum greifen Sie nicht ein, indem Sie klare Regularien
aufstellen? Warum greifen Sie nicht ein, indem Sie unseren Vorschlägen folgen?
Zur Akzeptanz dieses Programms in der deutschen
Bevölkerung gehört, Frau Bundeskanzlerin, auch einmal
klar öffentlich dazu Stellung zu beziehen. Diese klare
Ansage würde aber auch bedeuten zu sagen: Das ist
nicht umsonst. Das wird uns höchstwahrscheinlich etwas
kosten. Die Frage ist dann, wer dafür zahlt. Die Position
der SPD ist da eindeutig: Wir wollen auf europäischer
Ebene, dass diejenigen, die die Krise verursacht haben,
auch zahlen.
({6})
Das bedeutet die Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Dazu ist von Ihnen nichts zu hören.
({7})
Zur Ehrlichkeit und zur Akzeptanz der Stabilisierungsmaßnahmen: Wir erleben Gipfel für Gipfel. Nachdem die EZB gerade keine Entscheidung für eine Ausweitung des Ankaufsprogramms getroffen hat - dies
begrüße ich sehr -, wird darüber spekuliert, dass es vielleicht schon wieder einen Gipfel gibt. Als Nächstes sind
Portugal, Spanien, Belgien und Italien im Fokus. Aber
das alles hilft uns nicht.
Ich hätte erwartet, dass von dem Gipfel am Sonntag in
Brüssel - Stichwort „Ecofin“ - ein klares Signal des
Sich-ehrlich-Machens der Staaten ausgeht, die im Feuer
stehen. Das heißt erstens, deutlich zu machen, wie die
Situation ist, und zweitens, die Rettungsmaßnahmen, die
Hilfsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen und nicht so
lange zu warten, bis es gar nicht mehr anders geht. Das
ist die Bankrotterklärung der Politik.
({8})
Ich will auf einen für uns Sozialdemokraten sehr
wichtigen Punkt zu sprechen kommen, der von Ihnen
wie eine Monstranz vor sich her getragen, aber nicht verwirklicht wird. Das ist die Frage der Gläubigerbeteiligung.
({9})
Es ist vollkommen klar, dass derjenige, der eine Anleihe
zeichnet, einen höheren Zins bekommt, aber auch ein
höheres Risiko trägt und im Zweifel haften muss. Die
Haftung wird jetzt für zwei Jahre komplett ausgesetzt.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben in Deauville nicht nur
alle europäischen Partner mit Ihrer Verhandlungsführung
und dem mit Herrn Sarkozy erzielten Ergebnis vor den
Kopf gestoßen, sondern Sie haben auch die Märkte verunsichert, weil Sie sie im Unklaren lassen. Sie haben gar
kein Konzept, wie die Gläubigerbeteiligung aussehen
soll. Deswegen ist es berechtigt, dass aus den anderen
europäischen Hauptstädten zu hören ist, dass Sie zum
Teil Schuld daran haben, dass es Verunsicherung gibt.
({10})
Das, was verabredet wurde, machen Sie sich jetzt zu
eigen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist beinahe
eine Art Misstrauensvotum gegenüber dem Ergebnis,
das Finanzminister Schäuble erzielt hat. Sie sprechen
sich für automatische Sanktionen aus. Dies haben Sie
aber in Deauville geopfert. Es gibt keine automatischen
Sanktionen; Sie fordern sie lediglich. Sie sprechen sich
dafür aus, dass Gläubiger immer beteiligt werden sollen.
Wir als Sozialdemokraten unterstützen das. Wer ein Risiko eingeht, wer einen höheren Zins bekommt, muss die
Zeche zahlen. Nicht der Steuerzahler muss einspringen,
sondern die Investoren müssen zahlen. Das gehört zur
Marktwirtschaft; sonst wird sie auf den Kopf gestellt.
({11})
Das ist aber nicht verabredet. Man muss sich das genau anschauen. Sie unterscheiden in dem vorgeschlagenen Kompromiss bei der Frage der Gläubigerbeteiligung, ob der betroffene Staat Liquiditätsprobleme oder
Solvenzprobleme hat. Bisher konnte mir niemand erklären, woran dieser Unterschied festgemacht wird.
({12})
Darüber wird eine politische Entscheidung getroffen
werden, auch wenn Sie das ausschließen wollen. Genau
das wird passieren. Deswegen befürchte ich, dass diese
Klausel niemals in Kraft treten wird, dass es niemals zu
einer Gläubigerbeteiligung kommen wird. Sie werden
immer politische Entscheidungen treffen. Das ist ein
Fehler.
({13})
Wir brauchen hier klare Ansagen, klare Regularien
und keine Betrachtung von Fall zu Fall und auch keine
Unterscheidung von Aspekten, die man gar nicht unterscheiden kann. Das Finanzministerium konnte mir gestern im Haushaltsausschuss anhand der beiden Fälle Irland und Griechenland nicht erklären, wer ein
Liquiditäts- und wer ein Solvenzproblem hat. Ich habe
so schon kein Vertrauen in dieses Vorgehen, wie soll es
dann in der Zukunft sein?
({14})
- Diese Frage wurde nicht beantwortet, Herr Kollege
Fricke. - Das führt nur dazu, dass die Verunsicherung
Carsten Schneider ({15})
bestehen bleibt, dass es höhere Risikoaufschläge und
Prämienzinsen geben wird. Aber das, was eine Marktwirtschaft ausmacht, nämlich dass Anleger und nicht der
Steuerzahler für das höhere Risiko zahlen und geradestehen - ich vermute, es wird zu einem Ausfall der Gläubigerbeteiligung kommen -, wird nicht passieren.
Ich wäre froh und dankbar, Sie würden dem dezidierten und sehr konkreten Antrag der SPD-Fraktion zustimmen. Das würde Europa sicherer machen. Das würde zu
einem sozialen Europa führen, in dem nicht immer die
Spekulanten herrschen. Stimmen Sie unserem Antrag zu.
Dann hätten Sie mehr als Herr Sarkozy, der den Spatz in
der Hand hat, wenn diese Rettungsaktionen vorüber
sind. Sie, Frau Merkel, haben nach dem derzeitigen Verhandlungsstand jedenfalls nicht die Taube auf dem
Dach.
Vielen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Oliver Luksic für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
2010 wird als das Jahr der Prüfung unserer Gemeinschaftswährung in die Geschichte der Europäischen
Union eingehen. Nach den schwierigen Entscheidungen
über die Griechenland-Hilfe und den Rettungsschirm
müssen wir jetzt über die Hilfen für Irland entscheiden.
Wir müssen uns vor allem zu den Eckpunkten des robusten Krisenmechanismus nach 2013 positionieren. Das ist
die zentrale Frage, die beantwortet werden muss, damit
der Teufelskreis von Krisen und Rettungspaketen endlich durchbrochen werden kann.
Irland-Hilfen sind notwendig, um den Euro zu schützen. Die nun beschlossenen Grundzüge des künftigen
Mechanismus sind ein guter Kompromiss. Die Bundesregierung hat in Brüssel das realpolitische Maximum herausgeholt.
({0})
Irland hat als erstes Land Hilfen aus dem Rettungsschirm beantragt und wird diese zu Recht erhalten. Es
zeigt sich im Fall Irlands, dass die Konzeption des Rettungsschirms, die Wahrung der strikten Konditionalität
der Hilfen und die aktive Einbindung des IWF, richtig
war und ist.
Die drei Elemente des Hilfspakets sind richtig: die Reform des Bankensektors, die Stabilisierung des irischen
Haushaltes sowie wachstumsorientierten Strukturreformen. Das sind strenge Bedingungen. Diese Maßnahmen
sind in Irland innenpolitisch schwer umzusetzen. Wir
sind aber fest davon überzeugt, dass es nur so eine Hilfe
zur Selbsthilfe geben kann. Deswegen will ich, wie es
auch der Kollege Barthle getan hat, betonen: Griechenland und Irland sind verschiedene Fälle. Sie dürfen nicht
in einen Topf geworfen werden.
({1})
Irland hat aufgrund der Bankenkrise ein temporäres Finanzierungsproblem. Es muss geholfen werden, die Spekulation zu stoppen.
Wichtig ist - das kommt im Antrag der Linken falsch
herüber -: Eine zwingende Beteiligung der Gläubiger ist
nach dem derzeitigen Mechanismus gar nicht vorgesehen. Sie ist für Irland weder rechtlich möglich noch politisch und ökonomisch sinnvoll. Solidarität ist für Sie leider ein Fremdwort. Sie lassen Irland alleine. Ihr Antrag
ist leider ein reiner Showantrag.
({2})
Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich SPD und
Grüne in ihren Anträgen jetzt für Hilfen für Irland aussprechen.
({3})
Sie zeigen damit europapolitische Verantwortung, die Sie
bei den vorherigen Abstimmungen zu Griechenland
bzw. zum Euro-Schirm nicht an den Tag gelegt haben.
({4})
Ihre jetzige Zustimmung zeigt, dass Sie damals falsch
entschieden haben.
({5})
Aber es ist gut, dass Sie diesen Fehler jetzt korrigieren.
Sie reden hier immer von europäischer Solidarität. Gut,
dass Sie Ihren Worten jetzt auch Taten folgen lassen!
({6})
Für die Zukunft müssen neue Lösungen gefunden
werden, um den Euro langfristig zu stabilisieren. Kollege Schneider, Sie haben eben von den Märkten gesprochen. Das eigentliche Problem war, dass die Regeln, die
es in Europa gibt, von Rot-Grün aufgeweicht wurden.
Indem damals der blaue Brief verhindert wurde, wurde
das falsche Zeichen gesetzt, dass jeder ungestraft Schulden machen kann. Wir brauchen jetzt harte Regeln für
einen harten Euro.
({7})
Die Bundesregierung hat in schwierigen Verhandlungen die richtigen Weichen für den zukünftigen Mechanismus gestellt. Der neue Mechanismus wird den derzeitigen Rettungsschirm vollständig ablösen, sowohl was
die bilaterale Hilfe angeht als auch was das Gemeinschaftsinstrument betrifft. Es ist ein besonderer Erfolg
der Bundesregierung, dass sie im Gegensatz zu dem, was
Sie wollen, die Vergemeinschaftung des Zinsrisikos in
Form von Euro-Anleihen abgewendet hat. Das wäre die
Transferunion. Das ist der Unterschied zwischen uns und
Ihnen.
({8})
- Das steht in Ihrem Programm.
({9})
Stattdessen muss auch nach dem neuen Mechanismus
Einstimmigkeit herrschen. Das ist gut. So kann gegen
den Willen Deutschlands nichts beschlossen werden. Die
Bundesregierung hat hier im Interesse Deutschlands und
eines stabilen Euros die richtigen Akzente gesetzt.
Der wichtigste Punkt, den Sie, Herr Schneider, weggelassen haben, ist die Einführung von Umschuldungsklauseln, den sogenannten Collective Action Clauses, ab
2013. Wer hätte vor einem halben Jahr gedacht, dass wir
das hinbekommen?
({10})
Das Thema „Beteiligung privater Gläubiger“ ist nicht
in der Schublade verschwunden, obwohl viele Mitgliedstaaten dagegen waren und es auch vonseiten der Europäischen Kommission und der EZB Widerstand gab. Das
ist ein großer Erfolg. Dass Sie ihn kleinreden, ist in Ordnung. Dennoch ist es ein großer Erfolg, dass wir die Beteiligung privater Gläubiger jetzt durchsetzen.
({11})
Nun muss Sorge dafür getragen werden, dass dies in
der Praxis geschieht. Es ist wichtig, dass wir die Hürden
der politischen Manipulierbarkeit höher legen, damit der
Rettungsschirm nicht zur Geldpumpe wird. Was den präventiven Arm angeht, müssen wir bei Sanktionen eine
weitgehende Automatisierung hinbekommen. Bei der
Gläubigerbeteiligung ist die Schuldentragfähigkeitsanalyse von Europäischer Kommission, EZB und IWF
wichtig. Hier brauchen wir ein Stück Entpolitisierung.
Dabei sind wir auf einem guten Weg.
({12})
Nur so wird sichergestellt, dass die Unterstützung durch
die Staatengemeinschaft erst nach den Anstrengungen
des Schuldnerlandes einsetzt und die Beteiligung der
Gläubiger wirklich das letzte Mittel darstellt.
({13})
Klar muss auch sein: Der zukünftige Schirm darf nicht
zu groß werden. Das wäre ein falsches Signal.
({14})
Im Laufe der Beratungen im Europäischen Rat und in
der Euro-Gruppe werden noch viele Präzisierungen vorgenommen. Das erfordert europapolitischen Mut. Diesen
Mut hat sowohl die FDP als auch die christlich-liberale
Koalition. Mit unserem Antrag stärken wir der Bundesregierung für ihren guten und richtigen Kurs in Brüssel
den Rücken.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat der Kollege Thomas Nord von der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Linke
- das ist bekannt - hat als einzige Fraktion gegen das
Hilfspaket für Griechenland und gegen den Euro-Rettungsschirm gestimmt. Wir stimmen heute gegen die
Hilfsmaßnahmen für Irland; denn auch in diesem Fall
schützt der Euro-Rettungsschirm nicht den Euro, sondern die Banken.
({0})
Diese benötigen unsere Hilfe nicht. Unsere Solidarität,
Herr Sarrazin, Herr Luksic, gilt den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, den Rentnerinnen und Rentnern und
den vielen anderen Menschen, die jetzt die Suppe auslöffeln müssen, die sie nicht bestellt haben.
({1})
Hier wird gesagt, es gebe keine Handhabe gegen Krisenprofiteure und für eine sofortige Regulierung der Finanzmärkte, die EU-Verträge ließen dies nicht zu. Wir sagen,
die Verträge sind in Kernbereichen ohnehin nicht mehr
in Kraft und müssen verändert werden.
({2})
Wer jetzt europaweit den Sozialabbau gegen die Menschen vorantreibt, der hätte auch die Kraft, jetzt Spekulanten zur Kasse zu bitten.
Sie sagen, wer nicht hilft, die Banken zu retten, riskiert die politische Stabilität der Europäischen Union.
Wir sagen, wer Banken rettet, aber Finanzmärkte jetzt
nicht reguliert, der treibt die Europäische Union in eine
existenzielle Krise.
({3})
Die Fakten sprechen für sich. Am 6. Mai wurde hier
das Griechenland-Paket beschlossen. Die Kanzlerin erkannte eine Notsituation. Sicherlich, Griechenland war
in Not. Aber die Ursache war keine Naturkatastrophe.
Die Verträge wurden verletzt, geholfen hat es nicht. Am
19. Mai sagte die Kanzlerin, dass der Euro in Gefahr ist.
In zwei Wochen wurde aus der Griechenland-Krise eine
Euro-Krise. Der Euro-Rettungsfonds wurde installiert.
Die Verträge wurden erneut außer Kraft gesetzt und die
Krise eben nicht gestoppt. Die Folgen für die betroffenen Staaten waren unabsehbar.
Absehbar jedoch sind sie für die Banken. Sie werden
immer auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler saniert. Sie zahlen, wie zum Beispiel die Hypo Real
Estate, weiter satte Gewinne und Boni an ihre Aktionäre
und Manager. Sie können sich ohne Risiko immer auf
Staatshilfen verlassen.
({4})
Ausgeblieben ist die Regulierung der Finanzmärkte.
Die Debatte über einen zukünftigen Mechanismus zur
Krisenbewältigung treibt das Dilemma auf die Spitze.
Bei der Zinsentwicklung für portugiesische und für spanische Staatsanleihen ist das doch zu beobachten. Es
wird behauptet, man komme an die Gewinner der Spekulationen nicht heran. Es sei unmöglich, die irische Regierung zu bewegen, die Dumpingsteuer für Unternehmen anzuheben. Die nationale Souveränität würde eine
Steuerharmonisierung behindern. Wo bleibt dieses Argument beim größten Sozialabbau in Europa seit dem
Zweiten Weltkrieg?
Alle europäischen Mitgliedstaaten, die Hilfe benötigen, werden durch EU und IWF genötigt, die Mehrwertsteuer anzuheben, die Löhne zu senken, den Kündigungsschutz abzubauen, das Renteneintrittsalter zu erhöhen
usw. Alles ist erlaubt. Nichts hindert die EU und den IWF
daran, das durchzusetzen. Wenn aber Profite abgeschöpft
werden sollen und Spekulation verhindert werden soll,
dann geht in der Europäischen Union gar nichts mehr. So
schützt man den Euro nicht vor weiteren Angriffen.
({5})
Die Rettung Irlands ist eben kein unabhängiges Phänomen. Es ist eine Frage der Zeit, bis Portugal fällig wird oder auch Belgien. Portugal soll unter den Schirm, damit
Spanien nicht fällt. Schon wird die Forderung nach einer
Verdoppelung des Umfangs des Rettungsschirms laut.
Nach Spanien kommt Italien, meine Damen und Herren,
und was kommt dann?
Wenn der irische Haushalt am 7. Dezember verabschiedet sein wird, wird die dortige Regierung zerbrechen. Was 2008 als Finanzmarktkrise begonnen hat, ist
2010 eine Krise der europäischen Institutionen.
Was auch immer das heißt, eines ist sicher: Wenn es
nach Ihnen geht, dann sollen weiterhin die Bürgerinnen
und Bürger, diejenigen, die jetzt schon wenig haben, die
Zeche bezahlen. Das wird Europa weiter destabilisieren.
({6})
Wir wollen das nicht. Deshalb lehnt die Linke das Finanzpaket für Irland ab. Deshalb fordern wir die Regulierung der Finanzmärkte, fordern wir, die Profiteure der
Krise zur Verantwortung zu ziehen, fordern wir eine EUweite Mindestbesteuerung, fordern wir eine Komplettrevision der europäischen Verträge.
Danke schön.
({7})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Alois Karl von der CDU/CSU das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir haben uns die Situation, in der
wir heute sind, nicht ausgesucht; wir haben gehofft, dass
sie an uns vorübergeht. Trotzdem musste Irland am
21. November 2010 diesen Antrag auf finanzielle Hilfe
stellen. Das war notwendig, auch wenn wir fast den Eindruck hatten, Irland musste ein wenig gedrängt werden.
Es geht aber nicht nur um Irland, sondern es geht auch
um unsere Währung, um den Euro. Aus diesem Grunde
ist es wichtig, dass es hier in Europa ab dem 21. November 2010 zu einer solidarischen, gemeinschaftlichen Leistung gekommen ist. Ich danke dem Herrn Bundesfinanzminister, dass er mutig, schnell und entschlossen mit den
Kollegen gehandelt hat.
({0})
Wenn es richtig ist, dass die deutsche Sicherheit am
Hindukusch verteidigt wird, wie es ein ehemaliger Verteidigungsminister gesagt hat, dann wird unsere Währung, der Euro, auch in Irland verteidigt. Ansonsten fällt
er. Das können wir uns nicht leisten; das ist jedem klar.
Es ist kurz angedeutet worden: Irland ist nicht Griechenland. Irland hat sein Bruttosozialprodukt in zehn
Jahren verdoppelt. Das Wirtschaftswachstum war enorm
hoch, die Arbeitslosigkeit war gering. Irland ist mit dem
Wirtschaftswunderland Deutschland verglichen worden.
Das hat für die Menschen in Irland außerordentlich viel
gebracht.
Wie Sie von den Linken jetzt fordern können, dass
wir in der jetzigen prekären Situation Irland alleine lassen, ist Ihr Geheimnis. Dämlicher könnte es für die Iren
nicht zugehen, dämlicher könnten Sie sich nicht ausdrücken. Für Irland wäre es eine Katastrophe, wenn wir
heute nicht helfen würden.
({1})
Ich bin sehr dankbar, dass sich die Hilfe für Irland in
Höhe von etwa 85 Milliarden Euro - das ist gesagt worden - auf viele Schultern verteilt. Irland selbst hat sich ja
schon großartig beteiligt. 15 Milliarden Euro sind in den
letzten Jahren für die eigene Konsolidierung schon aufgewendet worden. Jetzt wendet Irland weitere 17,5 Milliarden Euro dadurch auf, dass die Barreserven aufgebraucht werden und die Pensionskasse in Anspruch
genommen wird.
Ich bin sehr dankbar, dass sich der IWF zu einem
Drittel an den restlichen Kosten, also mit 22,5 MilliarAlois Karl
den Euro, beteiligt und dafür Zinsen in Höhe von
3,12 Prozent verlangt. Dadurch wird den Iren in der Tat
geholfen.
({2})
Ich bin dankbar, dass durch die Fazilitäten ebenfalls
mit 22,5 Milliarden Euro unterstützt wird, und es ist ein
Gebot der Korrektheit, dass man sagt: Auch Länder wie
Großbritannien, Schweden und Dänemark, die nicht zur
Euro-Zone gehören, unterstützen diesen Rettungsfonds
mit ihrem Beitrag von etwa 5 Milliarden Euro. Auch das
ist ein großartiger Beitrag im Rahmen der Solidarität in
Europa.
({3})
Ich möchte hier ausdrücklich erwähnen, dass Irland tatsächlich auch Freunde außerhalb der Euro-Zone hat,
auch deshalb, weil Vertrauen darin besteht, dass sich Irland weiterhin anstrengen wird, um aus der jetzigen Situation herauszukommen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben
viel gehört. Irland muss sich anstrengen. Die Steuern
werden erhöht, die Zahl der Mitarbeiter im öffentlichen
Dienst wird um 25 000 gekürzt und die Bediensteten des
öffentlichen Dienstes bekommen zwischen 10 und 30 Prozent weniger Entlohnung.
({4})
Ich habe heute Vormittag mit dem irischen Botschafter in Deutschland gesprochen. Er wird einen gehörigen
Abschlag hinnehmen müssen. Trotzdem steht er dahinter
und sagt: Wir werden das schaffen. Wir werden es auch
deshalb schaffen, weil wir unsere niedrigen Körperschaftsteuersätze halten können. - Das ist die Voraussetzung dafür, dass Irland auch in den nächsten Monaten
und Jahren wieder zu einer blühenden Volkswirtschaft
wird. Gerade dies ist nötig, damit Irland das Geld erwirtschaftet, um die jetzigen Konsolidierungsanstrengungen
in der Tat zu meistern.
Meine Damen und Herren, wir sollten doch nicht
glauben, dass wir von Deutschland aus eine Steuerharmonisierung in Europa jetzt lostreten oder verordnen
könnten. Vor dem Hintergrund, dass es uns schon in
Deutschland nicht gelingt, dass für die Städte und Gemeinden vergleichbare oder gleiche Hebesätze für die
Gewerbesteuer, für die Grundsteuer A und die Grundsteuer B gelten - unsere Städte und Gemeinden haben
also unterschiedliche Steuersätze -, frage ich Sie: Wie
sollten wir uns erdreisten, unseren Freunden in Europa
- und jetzt insbesondere unseren Freunden in Irland - zu
sagen, welche Steuersätze sie anwenden müssten? - Insofern sind die Überlegungen, die Sie jetzt äußern, völlig
verwoben und übersteigert.
({5})
Ich bin optimistisch und zuversichtlich, dass Irland
mit den großen Anstrengungen, die es auf sich genommen hat, in wenigen Jahren wieder auf einem sicheren
Pfad sein wird. Es kommt auf uns an, die richtigen Lehren zu ziehen. Es wird eine Diskussion sein, die wir in
der Tat vor dem Jahr 2013 führen müssen. Es wird darum gehen, dass wir eine Rangfolge werden einhalten
müssen und dass wir sagen, dass sich in allererster Linie
das Schuldnerland wird beteiligen müssen. Diejenigen,
die Gläubiger sind, werden sich in zweiter Linie beteiligen müssen, und dann wird auch die Staatengemeinschaft in Europa ihren Anteil leisten müssen.
Bis dahin, meine sehr geehrten Damen und Herren,
werden wir uns hoffentlich nicht mehr zu häufig zu diesem Thema hier sprechen müssen. Heute ist klar: Wir
müssen an der Seite von Irland stehen. Alles andere wäre
eine Katastrophe für uns, für Europa und für unsere
Währung, den Euro.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir nun zwei na-
mentliche Abstimmungen und zwei einfache Abstim-
mungen im Wechsel durchführen werden. Zu dem An-
trag der Koalitionsfraktionen liegen einige wenige
persönliche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsord-
nung vor, die wir zu Protokoll nehmen.1)
Wir kommen zunächst zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4065 mit
dem Titel „Irland unterstützen und Steuerharmonisie-
rung vorantreiben, hier: Stellungnahme des Deutschen
Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge-
setzes“. Wir stimmen über den Antrag auf Verlangen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
Urnen zu besetzen. - Sind Schriftführerinnen und
Schriftführer an allen Urnen? - Das ist der Fall. Damit
eröffne ich die Abstimmung.
Haben jetzt alle Mitglieder des Hauses ihre Stimm-
karte abgegeben? - Das ist der Fall. Dann schließe ich
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.2)
Ich bitte die Mitglieder der Fraktionen, sich zu ihren
Plätzen zu bewegen, weil wir jetzt eine einfache Abstim-
mung durchführen.
Zusatzpunkt 8: Abstimmung über den Antrag der Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4082
mit dem Titel „Irland unterstützen und den Euro stabilisie-
ren, hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages ge-
mäß Artikel 23 des Grundgesetzes“. Wer stimmt für die-
sen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Antrag ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD und der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Grünen.
Damit kommen wir zum Zusatzpunkt 9: Abstimmung
über den Antrag der Fraktion der SPD auf Druck-
1) Anlage 5
2) Ergebnis Seite 8606 C
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
sache 17/4014 mit dem Titel „Irland unterstützen und
gerechten, wirksamen Mechanismus zur Bewältigung
von Staatsfinanzierungskrisen schaffen, hier: Stellung-
nahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23
Absatz 3 des Grundgesetzes“. Wir stimmen über diesen
Antrag auf Verlangen der Fraktion der SPD namentlich
ab.
Sind die Schriftführerinnen und Schriftführer noch an
ihren Plätzen? - Das ist offenkundig der Fall. Dann bitte
ich, mit der Abstimmung zu beginnen.
Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimmkarte noch
nicht eingeworfen? - Das ist nicht der Fall. Dann
schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen
werden Ihnen später bekannt gegeben.1)
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4029 mit dem
Titel „Profiteure der Krise zur Kasse bitten - Keine wei-
tere Verstaatlichung fauler Bankkredite bei Finanzhilfen
für Irland, hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 2 des Grundgesetzes“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Dann ist der Antrag abgelehnt mit den
Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der
FDP und Bündnis 90/Die Grünen bei Zustimmung der
Fraktion Die Linke.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Vor Cancún - Mit Glaubwürdigkeit zu einem
globalen Klimaschutzabkommen
- Drucksache 17/3998 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas
Jung ({1}), Marie-Luise Dött, Peter
Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und und der Fraktion der
FDP
Die UN-Klimakonferenz in Cancún - Fort-
schritte für den Klimaschutz erreichen
- Drucksache 17/4010 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Thilo Hoppe,
1) Ergebnis Seite 8608 B
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Internationaler Klimaschutz vor Cancún Mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zum
Ziel
- Drucksache 17/4016 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Frank Schwabe von der SPD-Fraktion
das Wort.
({3})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! In den vergangenen Tagen stand in der
Süddeutschen Zeitung ein Bericht, der sich auf den ersten Blick sehr skurril anhört, aber die Dramatik des Themas schildert, über das wir heute reden.
In dem Artikel ist die Rede davon, dass es seit 332 Jahren ein Gebet im schweizerischen Wallis gibt, dass der
Aletschgletscher nicht weiter wachsen soll. Er ist nämlich über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg gewachsen. Immer dann, wenn ein Stück von diesem Gletscher
abgebrochen ist, gab es Überschwemmungen und Erdrutsche.
Mittlerweile wurde die Bitte an den Vatikan gerichtet,
dieses Gebet verändern zu dürfen, und zwar dahin gehend, dass der Gletscher nicht schrumpfen soll. Der Vatikan hat dem zugestimmt. Das macht deutlich, wie weit
der Klimawandel mittlerweile auch in Europa vorangeschritten ist. Wenn man sich den Klimawandel im globalen Maßstab vor Augen führt, dann stellt man fest, dass
es weit dramatischer ist.
Ähnlich ist die Situation in den Anden. In Lima leben
9 Millionen Menschen, die auf eine aus den Anden-Gletschern gespeiste Wasserversorgung angewiesen sind.
Die Menschen sind massiv bedroht, weil demnächst
Trinkwasser nicht mehr in gleichem Umfang wie bisher
zur Verfügung steht. Für Inseln wie Mikronesien und Tuvalu ist der Klimawandel keine ferne Theorie mehr. Die
dort lebenden Menschen planen bereits, ihre Inseln zu
verlassen. Guatemala und Costa Rica wurden in diesem
Jahr von mehreren Tropenstürmen heimgesucht. In El
Salvador findet während der Erntezeit keine Schule statt,
damit die Kinder bei der Ernte helfen können. Da sich
die Zeiten der Einsaat und der Ernte wegen des Klimawandels verschoben haben, gibt es einen neuen Schulkalender, damit man wieder genau weiß, wann auf die Erntezeit Rücksicht zu nehmen ist.
Man sieht also: All die Herausforderungen, über die
wir jetzt diskutieren und in Cancún reden werden, warten nicht. Es geschieht hier und jetzt. Der Klimawandel
wird sich weiter verstärken. Er wird nicht warten, egal
ob wir in Kopenhagen, Cancún oder sonst wo über dieses Thema diskutieren. Wir alle wissen: Ein allumfassendes Abkommen wird es nicht geben, auch nicht in
Cancún. Dennoch formulieren wir Erwartungen. Wir erwarten beispielsweise Fortschritte beim Waldschutz. Darüber müssen wir noch einmal mit unserer Delegationsleitung reden; denn Deutschland ist nicht gerade sehr
progressiv, wenn es um das Thema LULUCF geht. Ich
kann hier nicht näher darauf eingehen. Aber wir sollten
uns das zu Herzen nehmen und noch einmal mit dem
Bundesumweltminister darüber reden.
({0})
Wir wollen in Cancún Verbesserungen und Fortschritte im Bereich der Anpassungsmaßnahmen erzielen,
genauso wie beim Technologietransfer und bei der Finanzierung dieser Maßnahmen. Insofern gibt es durchaus Anforderungen an Cancún. Wir müssen aber aufpassen, dass wir die Anforderungen nicht zu gering
bemessen, vor allen Dingen nicht die an uns selbst. Wir
müssen Schluss mit dem Warten auf den Langsamsten
im internationalen Klimaprozess machen. Der Kollege
Ott, der gleich reden wird, hat das „Klimapolitik der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ genannt. Darum
wird es nun gehen: Was ist fortschrittlich, und welches
ist der Erfolgsweg für die Volkswirtschaften in Europa,
wenn man bedenkt, dass die Ressourcen knapper werden
und dass der Klimawandel in Zukunft dramatischer
wird? Darauf müssen wir uns stärker besinnen. Der Erfolgsweg kann nur darin bestehen, Energie und Rohstoffe deutlich effizienter einzusetzen. Wir sollten diesen
Weg aus eigener Erkenntnis gehen, vollkommen egal,
was andere auf der Welt machen. Das ist das Gebot der
Stunde.
({1})
Wir sollten Allianzen der Fortschrittlichen bilden,
also mit den Teilen der Erde, in denen die Menschen bereit sind, diesen Weg mit uns gemeinsam zu gehen. Ich
glaube, man kann solche Allianzen mit Lateinamerika
beim Schutz des Regenwaldes und mit Südostasien bei
der technologischen Entwicklung schließen. Südkorea,
China und andere asiatische Länder sind bereits auf einem guten Weg. Das bedeutet aber auch, dass wir unsere
Außenpolitik anders ausrichten müssen. Klimaschutz
und Energiesicherheit müssen in Zukunft zentrale Themen unserer Außenpolitik sein.
Jetzt komme ich zum kritischen Teil. Was tun wir in
Deutschland unter Schwarz-Gelb? Mein Eindruck ist,
dass wir in das Mittelmaß zurückgefallen sind. Wenn ich
mir die aktuellen Debatten in diesem Land anschaue,
dann stelle ich fest: Es gibt ein sogenanntes Energiekonzept. Der Umweltbericht 2010 der Bundesregierung,
über den wir gestern bereits diskutiert haben, macht
deutlich, dass das Klimaprogramm von 2007 auf vielfache Weise besser und vor allem zehnmal konkreter war
als Ihr sogenanntes Energiekonzept.
({2})
Wenn ich mir die Situation in Europa anschaue, dann
stelle ich fest, dass wir seit mehreren Jahren über die
Frage reden, ob wir unser Minderungsziel auf 30 Prozent
erhöhen sollen. Herr Umweltminister Röttgen hat das
mehrfach gefordert. Durchsetzen kann er sich in der Regierung aber nicht. Leider findet sich dieses Ziel auch im
Antrag der Koalition nicht wieder. Mir ist nicht klar, wie
Sie das nationale Ziel von 40 Prozent erreichen wollen,
wenn Sie nicht gleichzeitig innerhalb der Europäischen
Union eine Erhöhung des Minderungsziels auf 30 Prozent durchsetzen. Schließlich wird der gesamte Emissionshandel auf europäischer Ebene geregelt. Wenn Sie
Ihr 40-Prozent-Ziel erreichen wollen, müssen wir innerhalb der Europäischen Union das 30-Prozent-Ziel festlegen.
Am schlimmsten ist es allerdings bei dem Thema Finanzierung der Klimaschutzziele. Was glauben Sie eigentlich, wie es die Entwicklungsländer, von denen ich
am Anfang geredet habe, finden, wenn sie sehen, wie Sie
bei der Finanzierung des internationalen Klimaschutzes
tricksen?
({3})
Sie haben 1,26 Milliarden Euro in Kopenhagen zugesagt, am Ende werden es aber nur 10 Prozent dieser
Summe sein, die neu und zusätzlich - das ist das Entscheidende - zur Verfügung gestellt werden. Auch Frau
Staatssekretärin Kopp wird in Cancún sein, wie ich gelesen habe. Frau Staatssekretärin Kopp hat in der letzten
Woche in einem AFP-Gespräch gesagt, diese Mittel
seien insofern zusätzliche Mittel, als sie neu und zusätzlich zu den Leistungen des BMZ in 2009 auf ein bestimmtes Thema bezogen seien, nämlich den Klimaschutz. Ich habe zuerst überhaupt nicht verstanden, was
damit gemeint ist. Das heißt, immer dann, wenn man
Gelder, die schon zugesagt worden sind, umdeklariert
und auf ein anderes Thema bezieht, ist es neues und zusätzliches Geld. So meinen Sie das offenbar in diesem
Zusammenhang. Das heißt, wenn dieselben 1,26 Milliarden Euro demnächst auf irgendeiner Konferenz für
die Malariabekämpfung zugesagt werden, dann ist das
nach Ihrer Interpretation - so muss ich das verstehen neues und zusätzliches Geld.
({4})
Es ist abenteuerlich, was die Bundesregierung macht. Es
ist ein dicker Klotz für die Verhandlungen in Cancún; es
ist ein dicker Klotz, den Sie, Frau Kopp, im Gepäck haben werden.
({5})
Ich kann leider im Einzelnen auf die Anträge nicht
eingehen. Ich möchte nur einen Punkt aufgreifen. Sie
fordern, wenn ich das richtig verstanden habe, eine Ausweitung der CDM-Projekte. Die Europäische Union tut
gerade zum Glück das Gegenteil. Sie diskutiert darüber,
ob man die CDM-Projekte nicht einschränken muss. Ich
war am Montag in einer Schulklasse. Dort haben mich
die Schüler gefragt, ob der Emissionshandel nicht so etwas wie ein Ablasshandel sei. Gerade für den Bereich
des CDM muss ich sagen, dass der Emissionshandel immer mehr zum Ablasshandel verkommen ist. Deswegen
ist nicht eine Ausweitung von CDM das Gebot der
Stunde, sondern eine Reduzierung dieser Maßnahme.
Nichtsdestotrotz, wir werden gemeinsam mit einer
Delegation des Deutschen Bundestages in Cancún sein.
Wir werden uns bemühen, gemeinsam Fortschritte zu erzielen und gemeinsam zu agieren. Worauf sich der Einzelne beruft, ist jedem selbst überlassen, ob es die soziale Verantwortung für die betroffenen Menschen oder
ob es die Ehrfurcht vor der Artenvielfalt bei Tieren und
Pflanzen ist. Man kann es aber auch wie Herr
Dr. Zimmer von der Union formulieren, der gestern in
einer bemerkenswerten Rede zur Einsetzung der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ gesagt hat, dass die christliche Sicht auch zum
Prinzip der Nachhaltigkeit einlädt. Ich glaube, das kann
man unterstützen. In diesem Sinne sollten wir gemeinsam nach Cancún reisen.
Vielen Dank.
({6})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe
ich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen bekannt.
Zunächst zur ersten namentlichen Abstimmung über
den Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin,
Dr. Gerhard Schick und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Irland unterstützen und Steuerharmonisierung vorantreiben“. Abgegebene Stimmen
576. Mit Ja haben gestimmt 195, mit Nein haben gestimmt 378, Enthaltungen 3. Der Antrag ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 576;
davon
ja: 195
nein: 378
enthalten: 3
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({0})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({1})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({2})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({3})
Hubertus Heil ({4})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({5})
Frank Hofmann ({6})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({7})
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange ({8})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({9})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Karin Roth ({10})
Michael Roth ({11})
Marlene Rupprecht
({12})
Axel Schäfer ({13})
Marianne Schieder
({14})
Ulla Schmidt ({15})
Silvia Schmidt ({16})
Carsten Schneider ({17})
Swen Schulz ({18})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({19})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({20})
Volker Beck ({21})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({22})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({23})
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({24})
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({25})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({26})
Manfred Behrens ({27})
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({28})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({29})
Dirk Fischer ({30})
Axel E. Fischer ({31})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({32})
Dr. Michael Fuchs
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({33})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({34})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({35})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({36})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({37})
Nadine Schön ({38})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({39})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Daniela Raab
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({40})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({41})
Anita Schäfer ({42})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({43})
Patrick Schnieder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({44})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({45})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({46})
Stefanie Vogelsang
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({47})
Peter Weiß ({48})
Sabine Weiss ({49})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({50})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({51})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({52})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({53})
Michael Link ({54})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({55})
Dr. Martin Neumann
({56})
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({57})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({58})
DIE LINKE
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({59})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
Enthalten
SPD
Werner Schieder ({60})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Nun zur zweiten namentlichen Abstimmung über den
Antrag der Fraktion der SPD. Abgegebene Stimmen
575. Mit Ja haben gestimmt 197, mit Nein 377, Enthaltungen 1. Auch dieser Antrag ist damit abgelehnt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 575;
davon
ja: 197
nein: 377
enthalten: 1
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({61})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({62})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({63})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({64})
Hubertus Heil ({65})
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({66})
Frank Hofmann ({67})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({68})
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange ({69})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({70})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Karin Roth ({71})
Michael Roth ({72})
Marlene Rupprecht
({73})
Axel Schäfer ({74})
Marianne Schieder
({75})
Werner Schieder ({76})
Ulla Schmidt ({77})
Silvia Schmidt ({78})
Carsten Schneider ({79})
Swen Schulz ({80})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({81})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({82})
Volker Beck ({83})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({84})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({85})
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({86})
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({87})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({88})
Manfred Behrens ({89})
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({90})
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({91})
Dirk Fischer ({92})
Axel E. Fischer ({93})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({94})
Dr. Michael Fuchs
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Michael Glos
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({95})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({96})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({97})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({98})
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({99})
Nadine Schön ({100})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({101})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Daniela Raab
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({102})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({103})
Anita Schäfer ({104})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({105})
Patrick Schnieder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({106})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({107})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({108})
Stefanie Vogelsang
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({109})
Peter Weiß ({110})
Sabine Weiss ({111})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({112})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({113})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({114})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({115})
Michael Link ({116})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({117})
Dr. Martin Neumann
({118})
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({119})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({120})
DIE LINKE
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({121})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Wir kommen jetzt zum Redebeitrag des Kollegen
Andreas Jung von der CDU/CSU-Fraktion.
({122})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist jetzt rund ein Jahr her, dass die Konferenz in Kopenhagen stattgefunden hat. Natürlich haben wir die Enttäuschung über die Konferenz in Kopenhagen miteinander
geteilt. Das Ziel, das wir erreichen wollten, nämlich ein
völkerrechtlich verbindliches Klimaabkommen, das das
2-Grad-Ziel festschreibt, bei dem sich alle Staaten global
verpflichten, beim Klimaschutz mitzumachen, haben wir
nicht erreicht.
Wir haben es trotz des Einsatzes der Bundesrepublik
Deutschland und der Europäischen Union nicht erreicht.
Wir haben gemeinsam mit vielen Partnern auf der Welt
dafür gekämpft, dass wir dieses Ziel erreichen. Wir haben dabei die Vorreiterrolle unterstrichen und fortgeführt, die Deutschland und die Europäische Union über
viele Jahre im Klimaschutz hatten.
Gescheitert ist dieser Gipfel letztlich daran, dass einerseits die USA und andererseits China nicht bereit waren, die von ihnen geforderten Verpflichtungen - Minderungen bzw. Beiträge - zu übernehmen. Das war die
Situation vor einem Jahr. Leider ist die Situation vor
dem Gipfel in Cancún nicht viel anders. Deshalb haben
wir auch nicht die konkrete Erwartung, dass in Cancún
der Durchbruch passieren wird, den wir uns für Kopenhagen erhofft hatten. Nach wie vor sind die USA und
China nicht bereit, diese Verpflichtungen zu übernehmen.
Andererseits wissen wir aber auch, dass der Gipfel
von Cancún kein verlorener Gipfel sein darf. Wir müssen in ganz konkreten Schritten weiterkommen, in
Schritten, zu denen es keine Alternative gibt, auch nicht
zu dem mühsamen Prozess des Einstimmigkeitsprinzips
auf internationaler Ebene. Es geht uns immer viel zu
langsam, aber das ist der einzige Weg, der im internationalen Prozess möglich ist.
Deshalb tritt die Bundesregierung dafür ein, dass es in
Cancún ein ausgewogenes Paket an Entscheidungen
gibt. Dafür hat sie die volle Unterstützung meiner Fraktion, der CDU/CSU. Was wollen wir in Cancún erreichen? Wir wollen, dass die Klimaarchitektur weiter ausgebaut wird, damit auf diesem Grundstein und diesen
Grundmauern im nächsten Jahr in Südafrika tatsächlich
ein Klimaabkommen erreicht werden kann. Wir wollen,
dass das Ziel, ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen zu erreichen, festgeschrieben wird. Ferner wollen
wir, dass offiziell bestätigt wird, was in Kopenhagen zur
Kenntnis genommen wurde, nämlich dass das gemeinsame Ziel dieser Anstrengungen die Festschreibung des
2-Grad-Ziels ist.
Das ist das Mindeste, was wir erreichen wollen. Es
soll sogar ein Überprüfungsmechanismus bei der Frage
vereinbart werden, ob wir nach dem nächsten Bericht
des IPCC im Jahr 2015 darüber möglicherweise hinausgehen müssen. Das wollen wir dort als Mindestziel festschreiben.
Im Übrigen ist dies auch die Grundlage der Klimapolitik der Bundesregierung, national und im europäischen Kontext. Warum haben wir uns als Koalition und
als Deutscher Bundestag zu der unbedingten Verpflichtung bekannt, bis 2040 ein Minus von 40 Prozent an
Treibhausgasen zu erreichen, und zwar egal, was andere
machen? Dieses Ziel leitet sich aus dem 2-Grad-Ziel ab,
das beinhaltet, dass wir den Treibhausgasausstoß weltweit bis Mitte des Jahrhunderts halbieren müssen. Es ist
klar, dass Industriestaaten wie die Bundesrepublik erheblich mehr übernehmen müssen. Kurzfristig gilt bis
2020 das 40-Prozent-Ziel. Bis 2050 gilt das ebenfalls im
Energiekonzept festgeschriebene Ziel einer Minderung
von 80 bis 95 Prozent, das im Energiekonzept selbstverständlich mit ganz konkreten Maßnahmen unterlegt
wird.
Andreas Jung ({0})
Damit nehmen wir die Herausforderung an, die uns
die Wissenschaft mit auf den Weg gibt, und dafür wollen
wir in Cancún verhandeln. Frank Schwabe hat angesprochen, wie unsere Position zu der Festlegung der Europäischen Union ist. Ich denke, dass in dem Antrag auch
eine Offenheit für eine Erhöhung des Klimaziels der Europäischen Union enthalten ist. Wir sagen: Wir wollen
den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates folgen,
die lauten: Wir müssen nach Cancún unsere Ziele überprüfen. Wir müssen prüfen, ob wir von 20 auf 30 Prozent
hinaufgehen. - Wir sagen ferner ganz konkret: Dabei ist
anzustreben, dass die anderen Staaten in Europa und die
Europäische Union ambitionierte Ziele übernehmen, die
mit denen der Bundesrepublik Deutschland vergleichbar
sind.
({1})
Wir wollen erreichen, dass es in Cancún einen Entscheidungstext zu den Fragen von Messungen, Überprüfungen und Verifizierungen gibt; denn wir glauben, dass
dies wichtig ist, um Transparenz und Vertrauen in diesem Prozess zu schaffen. Wir wollen auch die Fragen der
Finanzierung angehen. Wir wollen, dass die wichtigen
und entscheidenden Schritte hin zu einem Klimafonds in
Cancún gegangen werden können. Hier geht es selbstverständlich auch um Finanzierungsfragen. Bei den Themen, bei denen wir weit fortgeschritten sind, erhoffen
wir uns, dass wir zu tatsächlichen Umsetzungsentscheidungen kommen. Das gilt für die Fragen der Technologiekooperation, die Fragen der Anpassung und die Fragen des Waldschutzes.
Wenn es zu einem solchen Klimafonds kommt, dann
- das ist uns klar - führt das zu Verpflichtungen der Bundesrepublik, der Industriestaaten überhaupt, auch der Europäischen Union. Deshalb will ich an dieser Stelle und in
Anwesenheit des Bundesfinanzministers sagen: Einer der
großen Erfolge im Rahmen des Energiekonzepts ist mit
Sicherheit die Festlegung, dass bei einem Aufstocken auf
100 Prozent bei der Auktionierung im Bereich des Emissionshandels das, was zusätzlich eingenommen wird, für
Klimaschutz, für nationalen Klimaschutz, aber auch für
internationalen Klimaschutz, verwendet werden kann.
Das ermöglicht uns, das umzusetzen, für das wir mit diesem Klimafonds die Grundlagen schaffen wollen.
({2})
Ich will ein letztes Wort sagen, und zwar zu dem von
Frank Schwabe angesprochenen CDM, also zu dem flexiblen Mechanismus nach dem Kioto-Protokoll. Wir sehen nach wie vor eine Perspektive für diesen Mechanismus. Wir wollen, dass die Deckelung überprüft wird.
Wir sagen aber gleichzeitig - das haben wir auch in den
Antrag hineingeschrieben -: Es muss als Voraussetzung
die ökologische Integrität dieses Instruments erhöht werden. Es muss klargestellt werden, dass es sich tatsächlich
um zusätzliche Projekte in Entwicklungsländern zur
Reduzierung von Treibhausgasemissionen handelt, die
ohne die Mittel aus dem Emissionshandel nicht durchgeführt worden wären. Das ist uns wichtig.
Wenn das gewährleistet ist, sehen wir darin eines der
Instrumente, die zu einer globalen Klimaschutzarchitektur beitragen können. Es ist ein Instrument, das zeigt:
Was wir in den Industrieländern machen, steht in einem
ganz engen Zusammenhang mit dem, was in den Entwicklungsländern gemacht wird. Nur gemeinsam können wir erfolgreich sein. Das wollen wir in Cancún erreichen.
Ich bitte alle in diesem Haus, daran mitzuarbeiten,
dass dieser Gipfel mit einer starken Position der Bundesregierung tatsächlich ein Erfolg werden kann.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
irrwitzige Kluft macht ratlos. 700 Gigatonnen an Treibhausgasen dürfen wir bis 2050 weltweit noch emittieren;
dann ist die Erwärmung des Klimas um 2 Grad Celsius
erreicht. Bei dem jetzigen Ausstoß wird diese Menge in
zehn Jahren erreicht. Das heißt, es muss sich viel ändern,
damit das 2-Grad-Ziel überhaupt eingehalten werden
kann. Wenn das nicht passiert, wird es zu einer Erwärmung um 4 oder 5 Grad kommen, oder die jährlichen
Einsparziele werden sehr viel schmerzlicher.
Im Wettlauf gegen die Zeit herrscht enormer Gegenwind. Die USA haben sich erneut von ernsthaften Verhandlungen verabschiedet. Im Repräsentantenhaus sitzen
zu viele Klimaleugner und zu viele Industrielobbyisten,
im Übrigen jetzt auch von Bayer und BASF unterstützt.
({0})
Für China und Indien wird es keinen Grund für Zugeständnisse geben. Es drohen also eine gegenseitige Blockade von Interessenblöcken und somit ein erneutes
Scheitern der UN-Klimaverhandlungen.
Was bleibt, ist die dürre Hoffnung, dass von den Regierungschefs in Cancún wenigstens jene Pakete zugeschnürt werden, die von den Ad-hoc-Arbeitsgruppen in
der UN schon weitgehend gepackt wurden. Es geht um
rechtsverbindliche Entscheidungen zu den Themenblöcken Waldschutz, Anpassung, Technologiekooperation.
Die entscheidende Frage „Wer zahlt’s?“ lässt Cancún
jedoch wohl genauso offen wie Kopenhagen. Auch Beschlüsse über konkrete und verbindliche Minderungsziele - eigentlich sollte das das Kerngeschäft der Klimadiplomaten sein - wird man in Mexiko wieder einmal
vermissen.
Umso wichtiger wäre eine Vorreiterrolle Europas. Der
Nachweis, dass mit CO2-armen Technologien Vorteile für
Wirtschaft und Beschäftigung verbunden sind, könnte
eine neue Dynamik in Gang setzen und auch den Falken
bei den Großmächten das Wasser abgraben.
({1})
Doch auch hier ist Optimismus fehl am Platze. Die
EU kann sich nicht durchringen, ihr Minderungsziel für
Treibhausgasemissionen, nämlich 20 Prozent weniger
Emissionen gegenüber 1990, bedingungslos auf 30 Prozent zu verbessern. Auch die Bundesregierung stützt das
leider nicht. Sie tritt ebenso wenig dafür ein, den gewaltigen Überschuss an Emissionszertifikaten stillzulegen,
der EU-weit durch die Wirtschaftskrise 2008/2009 entstanden ist. Wird er aber künftig genutzt, so kann sich
Europa von CO2-Zertifikatepreisen verabschieden, die
eine Lenkungswirkung hin zu einer weniger klimaschädlichen Gesellschaft hätten. Das haben wir auch neulich
erst wieder diskutiert.
Offensichtlich setzt sich die Lobby von Großindustrie
und überkommener Energiewirtschaft auch dabei durch,
die ohnehin schwachen Minderungsziele über den sogenannten Clean Development Mechanism - CDM - weiter
aufzuweichen. Es werden Zertifikate dafür vergeben,
dass in Entwicklungsländern bestimmte Projekte stattfinden. Wenn es die aber nicht gibt, ist es kein zusätzlicher
Klimaschutz, aber sie werden angerechnet. Trotz des
mittlerweile nachgewiesenen Skandals - ich sage es noch
einmal - um die sogenannten HFC-23-Projekte - das ist
ein Abfallprodukt von Kältemitteln, das in den Industrieländern extra dafür produziert wird - zögert die EU genauso wie der CDM-Exekutivrat der UN, wenigstens
diese endgültig vom CO2-Handel auszuschließen. Das
wäre dringend notwendig.
({2})
Auch das ist kein Wunder, haben doch maßgebliche
Teile der Wirtschaft großes Interesse an niedrigen CO2Zertifikatepreisen. Die faulen, aber sehr preiswerten
HFC-23-Zertifikate machen dabei 60 Prozent aus. Wenn
wir es ehrlich meinen, müssen die endlich weg.
({3})
2010 war ein neues Rekordjahr bei den Temperaturen,
aber auch beim CO2-Ausstoß. Es ist dringend notwendig, dass wir Erfolg bei den Verhandlungen haben, dass
die Entwicklungsländer endlich sehen, dass wir, die Industrieländer, es ernst meinen, dass wir ihnen die Hände
reichen und nicht wieder zu etwas drängen, was sie
selbst nicht wollen, sondern dass es wirklich fair zugeht.
Diese Fairness haben wir bis jetzt noch nicht bewiesen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland ist und bleibt Vorreiter beim Klimaschutz. Wir als
christlich-liberale Koalition haben Klimaschutzziele beschlossen, wie sie noch keine Bundesregierung zuvor
beschlossen hat.
({0})
80 bis 95 Prozent bis 2050 - das ist international vorbildlich.
Wir haben mit unserem Energiekonzept auch deutlich
gemacht, dass das kein Wolkenkuckucksheim ist, sondern dass man das realistisch, seriös und fachlich fundiert umsetzen kann. Und wir werden es tun.
Aber klar ist auch: Wir brauchen im internationalen
Klimaschutz Mitstreiter; denn allein national werden wir
nicht die Erfolge erzielen, die wir erzielen müssen.
2 Grad als Perspektive werden wir nur dann schaffen,
wenn wir andere Länder - die großen Emittenten dieser
Welt - ins Boot holen. Wir in Deutschland haben nur gut
3 Prozent, die Europäische Union etwa 15 Prozent Anteil am weltweiten Treibhausgasausstoß. Das macht
deutlich: Wir können noch so gut sein - wenn es uns
nicht gelingt, die anderen ins Boot zu holen, werden wir
erfolglos bleiben. Außerdem müssen wir sehen: Ein internationales Abkommen ist auch deshalb wichtig, damit
es nicht zu Produktionsverlagerungen in Länder kommt,
die es mit Klimaschutz nicht ernst meinen. Das kann
auch nicht im Interesse des internationalen Klimaschutzes sein.
({1})
Deshalb müssen wir auf den internationalen Konferenzen wirklich sinnvoll vorgehen. Es geht nicht nur um
gut Fühlen, sondern es geht um gut Machen.
({2})
Wir haben weiterhin das Ziel, ein globales Klimaschutzabkommen zu erreichen. Dieses Ziel gibt diese
Koalition nicht auf. Wir sehen aber auch die Realitäten
in der Welt. Wir sehen, dass die Vereinigten Staaten gerade nach den Zwischenwahlen völlig unbeweglich sind
und nicht damit zu rechnen ist, dass sich hier eine
schnelle Änderung ergibt.
Der zweite große Emittent China wird häufig in einem Atemzug mit den USA genannt. Ich glaube aber,
hier muss man differenzieren. Ich war Anfang des Monats in China und war überrascht, wie fortschrittlich die
chinesische Regierung in dieser Beziehung ist und wie
sie ihre Positionen ändert. China wird jetzt, mit dem
nächsten Fünfjahresplan, ein nationales, unkonditioniertes Energieeffizienzziel auf den Weg bringen. Momentan
prüft China, ob es einen nationalen Emissionshandel einführt. All das ist noch nicht so viel wie das, was wir machen; aber es sind Schritte in die richtige Richtung.
Wenn es mit den USA nicht gelingt, dann muss man sich
an dieser Stelle gegebenenfalls andere Partner in der
Welt suchen, die mit uns zumindest Stück für Stück vorangehen.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir die Rolle der Außenpolitik in diesem Prozess stärken; alleine mit den
Umweltministerkonferenzen werden wir nicht vorankommen. Insofern ist es ein großer Fortschritt, dass der
Antrag der Koalition die Bundesregierung erstmals dazu
auffordert, „die umweltpolitischen Anstrengungen stärker durch die Außenpolitik zu unterstützen“. Ich bin sehr
froh, dass das Auswärtige Amt signalisiert hat, dass es
diese Rolle übernehmen will. Denn nur im Rahmen eines Interessenausgleichs, der über die Umweltpolitik hinausgeht und beispielsweise die Sicherheitspolitik und
die Handelspolitik einbezieht, wird es dazu kommen,
dass die USA und China erkennen, dass es sich lohnt,
mit uns zu kooperieren, weil wir dann auch an anderen
Stellen der internationalen Politik Leistungen erbringen.
({3})
Wir sehen nicht, dass es unmittelbar ein globales Klimaschutzabkommen geben wird. Deshalb hat die Koalition hier das beantragt, was die Europäische Union in
Bezug auf das Kioto-Protokoll schon vereinbart hat:
Deutschland ist gemeinsam mit der EU bereit, eine
zweite Verpflichtungsperiode einzugehen …
Das bedeutet, dass wir nicht auf die Vereinigten Staaten
warten werden. Die Voraussetzung ist aber, dass wir in
den Vereinigten Staaten zumindest auf nationaler Ebene
Schritte erkennen können und es dort in den nächsten
Jahren zu vergleichbaren Anstrengungen kommt. Wenn
schon kein internationales Abkommen mit den USA zustande kommt, dann erwarten wir aber von den amerikanischen Partnern, dass sie auf nationaler Ebene ihre
Hausaufgaben machen.
({4})
Um zu weiteren Fortschritten in der Klimaschutzpolitik zu kommen, ist es ein ganz wichtiger Schritt, verstärkt
mit unseren Partnern in den Schwellen- und Entwicklungsländern zusammenzuarbeiten. Es ist schon angesprochen
worden: Technologiekooperation, Anpassungsmaßnahmen und Waldschutz sind zentrale Voraussetzungen dafür, dass wir Emissionen in den Ländern mindern können,
die sich gerade entwickeln und industrialisieren.
Man sollte an dieser Stelle das Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ausdrücklich loben.
({5})
Die Einschränkung bei Maßnahmen, die es in früheren
Jahren gegeben hat - Waldschutz wurde hauptsächlich in
Brasilien betrieben -, war nicht ausreichend. Ich finde es
wichtig, dass das BMZ jetzt auch Afrika stärker in den
Blick nimmt und insbesondere zur Kenntnis nimmt, dass
das Kongobecken neben dem Amazonas-Gebiet eine der
grünen Lungen unseres Planeten darstellt. Dirk Niebel
hat sehr deutlich gemacht, dass wir auch in dieser Region den Waldschutz forcieren müssen.
({6})
Es ist richtig: Wir müssen mehr Transparenz schaffen,
wenn es darum geht, welche zusätzlichen Finanzausgaben wir tatsächlich zusagen. Die entsprechende Formulierung im Antrag der SPD ist etwas ausgewogener als
das, was Herr Schwabe gerade vorgetragen hat: Wir
müssen Vertrauen schaffen.
({7})
Es geht darum, klarzustellen: Was ist unsere Zusage?
Wir müssen es schaffen, dass die Entwicklungsländer
unsere Zusage auch so verstehen. Das war in der Vergangenheit leider nicht der Fall. Das müssen wir ändern; ich
glaube, das ist ein gemeinsames Anliegen dieses Hauses.
({8})
Abschließend komme ich zum Clean-DevelopmentMechanismus. Es ist richtig - da muss ich Frau BullingSchröter von den Linken einmal zustimmen -:
({9})
Der Umgang mit den HFC-23-Industriegasen stellt einen
Missbrauch des Clean-Development-Mechanismus dar.
Das ist mit Blick auf die Umwelt im Prinzip ein - ({10})
- Ja. Im Prinzip ist es ein Hintertreiben des Clean-Development-Mechanismus.
Wir sollten aber nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Es gibt gute, glaubwürdige Projekte des CleanDevelopment-Mechanismus. Es ist unser gemeinsames
Interesse, mit dem Geld, das wir investieren, möglichst
viele Treibhausgasemissionen zu verhindern. Dazu trägt
der Clean-Development-Mechanismus bei.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Ott vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe seit 1994 fast alle Klimakonferenzen erlebt, mit ihren Höhen und vor allem auch mit ihren Tiefen. Ja, in
der Rückschau scheint es, als sei die Geschichte der Klimapolitik eine einzige lange Geschichte der Krisen.
Aber es ging immer wieder aufwärts. Das Scheitern der
letzten Konferenz in Kopenhagen ist allerdings nach unserem Eindruck ein Bruch, der mit business as usual
nicht geheilt werden kann. Ein einfaches Weiter-so kann
und darf es deshalb nicht geben.
({0})
Die Gründe dafür sind vielfältig, doch liegen sie vor
allem in der Lähmung der USA begründet. Schon in Kopenhagen war sichtbar geworden, dass der Bewegungsspielraum von Präsident Obama sehr gering war. Nach
den letzten Wahlen, den Midterm Elections, ist jedoch
klar, dass dieses Land, welches historisch den größten
Ausstoß an Treibhausgasen hat, sehr wahrscheinlich in
den nächsten zehn Jahren keinem internationalen Vertrag
zum Schutz des Klimas beitreten wird. Dabei drängt die
Zeit; denn schließlich muss bis spätestens 2020 der globale Treibhausgasausstoß ein Maximum erreichen, wenn
wir unter der wichtigen 2-Grad-Grenze bleiben wollen.
Doch anstatt beherzt das Schicksal in die Hand zu
nehmen, verlieren sich die Verhandlungen im Geschacher der Supermächte. Das Spektakel erinnert an einen
Kampf der Elefanten, die mit großem Getöse aufeinander losgehen. Die Erde bebt, viel Staub wird aufgewirbelt, und die Europäische Union steht dabei und sagt:
Tut uns leid, die konnten sich nicht einigen. Jetzt können
wir auch nichts tun. - Das, meine Damen und Herren,
nennt man Flucht vor der Verantwortung.
({1})
Der erste faule Trick ist, dass sich die Elefanten überhaupt nicht einigen wollen und nur einen Schaukampf
veranstalten. Der zweite faule Trick dabei ist, dass die
EU kein Mäuschen ist, das sich ducken muss, sondern
durchaus eine gewisse Masse aufweist und auf Augenhöhe agieren kann, und es gibt keinen Grund, das nicht
zu tun.
({2})
Natürlich wäre ein Vertrag unter Einbeziehung aller
großen Verursacher die optimale Lösung. Wenn allerdings die optimale Lösung nicht erreichbar ist, dann
muss man die zweitbeste Lösung wählen; ansonsten besteht die Gefahr, dass wir in ein paar Jahren immer noch
mit leeren Händen dastehen, und das können wir uns
einfach nicht leisten.
({3})
Die zweitbeste Lösung ist aus unserer Sicht eine Klimapolitik der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Was
wir brauchen, sind Vorreiter, also Länder und Regionen,
die den Zögerern und Zauderern zeigen, dass Klimaschutz funktioniert und dass Klimaschutz die Arbeitsplätze der Zukunft schafft.
Was ist also in Cancún zu tun? Zunächst müssen
Deutschland und die EU sich vor allem für eine Weitergeltung der Pflichten des Kioto-Protokolls nach 2012
einsetzen, und zwar ohne die Bedingung, Herr Kauch,
dass andere mitziehen. Ein „offener Himmel“, wo alle
Emissionen wieder möglich sind, muss verhindert werden. Die freiwillige Weitergeltung der eigenen Verpflichtungen sollte von Umweltminister Röttgen öffentlich gefordert und in Cancún von der Europäischen
Union einseitig und ohne Vorleistungen erklärt werden.
({4})
Sodann muss die Europäische Union mit den Schwellenländern und mit der großen Mehrheit der Entwicklungsländer Verhandlungen über ein Klimaschutzprotokoll beginnen, ohne auf ein Einlenken der USA zu warten. Für
einen erfolgreichen Fortgang der internationalen Klimaverhandlungen muss die EU, muss aber auch die Bundesregierung in den nächsten Jahren ihre Strategie aufgeben, erst Vorleistungen von anderen zu verlangen, ehe
sie selber etwas tut.
Meine Fraktion ist bereit, eine solche Politik aktiv zu
unterstützen. Frau Staatssekretärin, für die anstehenden
Verhandlungen wünschen wir trotz aller politischen Unterschiede dem Minister und seinem Team viel Erfolg.
Ich danke Ihnen.
({5})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Josef Göppel von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach der Ernüchterung von Kopenhagen flammte die
Diskussion über die Ursachen des Klimawandels wieder
auf. Diese Debatte wird zwar heftig geführt, aber sie ist
müßig. Der haushälterische Umgang mit den Gütern der
Erde ist auch wirtschaftlich vernünftig, und der sparsamere Einsatz von Rohstoffen und Energie bringt wirtschaftliche Vorteile. Das sind Argumente, die die Klimaskeptiker immer für sich beanspruchen. Deshalb ist
dieser Streit müßig.
Das nun schon mehrfach angesprochene Thema der
Position der Europäischen Union in Cancún hängt damit
direkt zusammen. 20 Prozent Minderung der Treibhausgase bis 2020 - das ist unsere größte Schwäche in der
Konferenz, weil die anderen wissen, dass wir 17 Prozent
erreicht haben. Ich schätze das so ein: Wenn die Europäische Union nicht wieder wie in Kopenhagen an den
Rand gedrängt werden will, sondern an den Schlusstagen der Konferenz eine aktive Rolle spielen will, dann
muss sich die Delegation hier bewegen. Gott sei Dank
gibt es einige Anzeichen dafür.
({0})
Ich komme zu einem zweiten Bereich, der ebenfalls
schon mehrfach angesprochen wurde, zum Waldschutz.
Es besteht jetzt die Chance, mit dem Schwung der gelungenen Konferenz zur biologischen Vielfalt den Waldschutz konkret voranzubringen. Waldschutz heißt mehr
Klimaschutz, bedeutet aber auch Sicherung der biologischen Vielfalt, und er trägt zur Armutsbekämpfung bei.
Wir haben in Deutschland eine lange Tradition der nachhaltigen Forstwirtschaft. Jetzt geht es darum, das Wissen
des hochqualifizierten Personals mit anderen zu teilen.
Ich nenne dafür zwei Beispiele.
Erstens. Die Fähigkeit der Wälder, Kohlenstoff zu
speichern, hängt mit ihrer biologischen Vielfalt zusammen. Man muss ganz klar sagen: Pappelkulturen und Eukalyptuswälder - Monokulturen - sind keine echten
Wälder. Sie können die Funktion der Klimaanpassung
nicht wahrnehmen.
Zweitens. Je stärker wir den Wald nutzen, desto stärker sinkt die Speicherfähigkeit. Auch im Zusammenhang mit unserer Waldstrategie in Deutschland ist es
wichtig, die Nutzung so auszubalancieren, dass die Wälder eine Senke bleiben.
({1})
Erfreulich ist, dass sich von den 193 Staaten, die an
der Konferenz teilnehmen, 140 bereit erklärt haben, den
2-Grad-Appell von Kopenhagen mit freiwilligen Verpflichtungen zu unterlegen. Aber die unschöne Seite an
der Sache ist, dass diese Verpflichtungen gerade einmal
ausreichen, um den Anstieg der mittleren Erdtemperatur
auf 4 Grad zu begrenzen. 2 Grad wollen wir erreichen.
Damit wird deutlich: Es muss noch kräftig nachgelegt
werden.
Deutschland ist in der Gruppe der Willigen, in der sogenannten Cartagena-Gruppe. In dieser CartagenaGruppe sind Industrieländer, aber auch Entwicklungsländer und hochbedrohte Inselstaaten. Ich erhoffe mir
von der Mitarbeit in der Cartagena-Gruppe eine abgestimmte Vorgehensweise, die auf der Konferenz in Cancún eine gewisse Dynamik in Gang setzen kann, insbesondere im Hinblick auf unseren Nachbarkontinent
Afrika. Es geht darum, die Lebensbedingungen dort so
zu stabilisieren, dass die Menschen in ihrer Heimat bleiben können. Wir sind uns im Umweltausschuss darin einig, dass wir das ureigene afrikanische Projekt eines großen Pflanzgürtels am Südrand der Sahara unterstützen
wollen.
Damit komme ich abschließend zur Verhandlungsstrategie in Cancún. Ich möchte an dieser Stelle kurz an
unseren verstorbenen Kollegen Hermann Scheer erinnern. Er war der Erste, der in die Niedergeschlagenheit
nach Kopenhagen hinein gesagt hat: Wendet euch konkreten Aktionen zu. Geht die Schritte, die jetzt gegangen
werden können. Dann können die konkreten Aktionen
zu einem Abkommen zusammenwachsen.
Ich wünsche unserem Umweltminister Verhandlungsglück und eine starke Rolle, um an jedem Tag der Verhandlungen deutlich zu machen, dass Deutschland vorangehen will. Ich war in Nagoya. Ich habe miterlebt,
wie glaubwürdig Deutschland neben Norwegen war,
weil wir als einzige konkrete Beiträge erbracht haben.
Diese Glaubwürdigkeit erwarten viele in der Welt von
uns, weil Deutschland in diesem Zusammenhang einen
guten Namen hat. Wir haben aber auch eine große Verantwortung.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3998 und 17/4016 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/4010 mit dem Titel „Die UN-Klimakonferenz in Cancún - Fortschritte für den Klimaschutz erreichen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie
vor der Küste Somalias auf Grundlage des
Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen von 1982 und der Resolutionen 1814
({1}) vom 15. Mai 2008, 1816 ({2}) vom
2. Juni 2008, 1838 ({3}) vom 7. Oktober 2008,
1846 ({4}) vom 2. Dezember 2008, 1897
({5}) vom 30. November 2009 und nachfolgender Resolutionen des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen in Verbindung mit der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP des Rates
der Europäischen Union vom 10. November
2008, dem Beschluss 2009/907/GASP des Rates
der Europäischen Union vom 8. Dezember
2009, dem Beschluss 2010/437/GASP des Rates
der Europäischen Union vom 30. Juli 2010
und dem erwarteten Beschluss des Rates der
Europäischen Union vom 13. Dezember 2010
- Drucksachen 17/3691, 17/4048 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Edelgard Bulmahn
Jan van Aken
Kerstin Müller ({6})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
- Bericht des Haushaltsausschusses ({7})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/4055 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Burkhardt Müller-Sönksen von der
FDP-Fraktion das Wort.
({8})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Zeit, in der die Piraterie ausschließlich als regionales
Problem am Horn von Afrika wahrgenommen wurde, ist
vorbei. Seit knapp anderthalb Wochen läuft der Prozess
gegen zehn somalische Staatsbürger vor dem Landgericht Hamburg und verdeutlicht uns erneut die globale
Tragweite des Problems.
Die Operation Atalanta leistet nicht nur einen Beitrag
im Kampf gegen die Piraterie, sondern sie leistet durch
den Schutz der Hilfsgutlieferungen vor allem direkte
Hilfe für die notleidende Bevölkerung Somalias. Der
Seeweg ist für die humanitäre Hilfe alternativlos. Nur
durch den Einsatz der Marine ist es gelungen, dass in
diesem Jahr alle UN-Hilfslieferungen ihr Ziel unbeschadet erreicht haben.
({0})
Hierin liegen der Schwerpunkt und der Erfolg der Operation Atalanta. Die Entscheidung über die Fortsetzung
des Mandats ist gleichzeitig eine Entscheidung über den
Erfolg dieser notwendigen humanitären Hilfe für die Bevölkerung Somalias.
Aber die militärischen Maßnahmen sind nicht isoliert,
sondern Teil eines umfassenden Konzepts. Neben den
Hilfslieferungen sind die Unterstützung beim politischen
Wiederaufbau und die Ausbildung von Polizeikräften
von zentraler Bedeutung. Nur wenn es gelingt, die Probleme in Somalia zu lösen, entziehen wir der Piraterie
dauerhaft die Grundlage.
({1})
Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich bei den
über 300 vor allem bei der Marine befindlichen Soldatinnen und Soldaten bedanken. Sie leisten hervorragende
Arbeit und einen von den Bündnispartnern hochgeschätzten Beitrag im Rahmen dieser internationalen Mission.
({2})
Ihr großes Engagement, ihr Einsatz und ihre Bereitschaft, persönliche Entbehrungen in Kauf zu nehmen,
verdienen unseren Respekt und unsere Anerkennung.
({3})
Wir müssen aber die fortbestehenden Probleme in aller Offenheit analysieren. Noch immer ist die Zahl der
Angriffe auf Handelsschiffe ausgesprochen hoch. Aber
- und das ist neu - die Anzahl der erfolgreichen Kaperungen und Geiselnahmen nimmt im Verhältnis ab. Es
zeigt sich, dass die militärische Präsenz Wirkung zeigt.
Ausdrücklich möchte ich an dieser Stelle auch die Eigeninitiative der Reeder zum Schutz ihrer Besatzungen
begrüßen. Vorsorgemaßnahmen wie die Einrichtung von
Schutzräumen an Bord, die bewusst deeskalierend wirken, sind ein besonders wichtiger Beitrag, der aus meiner Sicht ausbaufähig ist. Die am Freitag erfolgreich
abgewendete Entführung des deutschen Frachters „Bremen“ ist für mich ein überzeugendes Beispiel für den Erfolg solcher privaten Maßnahmen.
({4})
Heute Abend, zu dieser Stunde, tagt in Hamburg der
Verband Deutscher Reeder mit Hans-Joachim Otto, dem
Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundeswirtschaftsminister. Ich bin mir sicher, dass die privaten
Vorsorgemaßnahmen der Reeder dort Gesprächsthema
sein werden.
Auch der von der Europäischen Union im Februar
letzten Jahres eingerichtete Sicherheitskorridor hat sich
als großer Erfolg herausgestellt. Ich rege an, dass sich
die Bundesregierung mit unseren Partnern in Atalanta
darüber verständigt, wie wir die Bekämpfung der Piraterie über die Begleitung von Schiffen hinaus intensivieren
können. Ich glaube, dass es ein guter Weg ist, neben dem
Mandat Atalanta und den Eigenvorsorgemaßnahmen
weitere Initiativen zusammen mit den Partnern herbeizuführen.
Als Abgeordneter der Freien und Hansestadt Hamburg liegt mir die Bewegungsfreiheit im offenen Meer
besonders am Herzen. Bei dieser Bewegungsfreiheit
geht es nicht nur um die Wahrung der wirtschaftlichen
Interessen der westlichen Länder, sondern sie ist auch
eine zentrale Errungenschaft des zivilisatorischen Fortschritts. Es ist diese Freiheit, die wir im Kampf gegen
die Piraterie verteidigen.
Der Welthandel braucht die internationalen Seehandelswege. Sie sind die Grundlage unserer globalisierten
Weltwirtschaft.
({5})
Über 90 Prozent des Handels weltweit erfolgt über diesen Weg. Diese Zahl - über 90 Prozent des Welthandels verdeutlicht, dass es hierbei nicht um ein egoistisches In8618
teresse einer exportorientierten Nation wie Deutschland
geht, sondern um ein gemeinsames Interesse der Völkergemeinschaft. Das breite Bündnis, das die Maßnahmen
zur Sicherung der Seeverbindungswege trägt, geht weit
über die Europäische Union und die NATO hinaus. Auch
Länder wie China, Indien, Pakistan und Indonesien kooperieren mit uns im gemeinsamen Kampf gegen die Piraterie. Auch die breite Zustimmung für das Mandat hier
im Deutschen Bundestag zeigt die allgemeine Akzeptanz
dieser Operation.
Ich möchte mich hier - dies ist mein letzter Punkt ganz deutlich gegen die Romantisierung des Problems
Piraterie aussprechen. Es handelt sich bei diesen Piraten
nicht um mittellose Fischer, denen die Existenzgrundlage entzogen wurde und die nun in ihrer Verzweiflung
mit ihren Booten Handelsschiffe angreifen. Wer über
500 Seemeilen von Somalia entfernt, vor der indischen
Küste, mit Granatwerfern und modernsten Schnellbooten agiert, ist auf andere Weise motiviert und finanziert.
({6})
Bei dieser Erscheinungsform von Piraterie handelt es
sich um eine der schwersten Formen von Kriminalität;
sie ist ausschließlich von wirtschaftlichen Interessen geleitet. Die Entführung der malaysischen „Albedo“ diesen
Montag, mehr als 1 500 Kilometer von der somalischen
Hauptstadt entfernt, verdeutlicht, dass sich das Problem
keinesfalls auf die somalischen Küstengewässer beschränkt. Deswegen ist es gut und richtig, das Operationsgebiet auszuweiten.
Eines müssen wir uns vor Augen führen: Wenn wir
die Operation Atalanta jetzt einstellten, wie es die Linken immer wieder fordern, würden die Menschen in Somalia wieder Hunger leiden und würde neuer Nährboden
für die Piraterie geschaffen. Ich bitte Sie daher um Unterstützung für dieses Mandat.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Ullrich Meßmer von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Hohe See ist Freiheit. Nach völkerrechtlichen
Grundsätzen bedeutet dies, dass die Hohe See, also das
Meer außerhalb der Küstengewässer, von jeder Staatsangehörigkeit frei ist. Einzelpersonen und Staaten ist das
Meer insgesamt frei zugänglich. Dies wurde zuletzt im
Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von
1982 bestätigt. Von diesem freien Zugang hängen gerade
für Afrika der überlebenswichtige Transport humanitärer
Hilfsgüter, aber auch - mein Vorredner hat es gerade angesprochen - der freie und ungehinderte Verkehr von zivilen Schiffen und damit der Waren- und Güterverkehr
ab.
Insbesondere vor Somalia und im Golf von Aden ist
diese Freiheit nach dem Völkerrecht gefährdet. Zurzeit
befinden sich nach Schätzungen unabhängiger Organisationen 24 Schiffe mit circa 430 Geiseln in der Hand von
Piraten. Ich möchte, weil wir immer über Freiheit und
Handelswege reden, an dieser Stelle sehr deutlich sagen:
Diese ungefähr 430 Menschen haben keine Freiheit. Sie
sind in der Hand von Piraten, und sie werden als Geiseln
benutzt. Ihre Freiheit ist schändlich eingeschränkt. Ich
meine, wir müssen mit dazu beitragen, dass diese Menschen wieder in Freiheit kommen. Ich wünsche mir für
sie wie für andere Geiseln, dass sie Weihnachten mit ihren Familien oder in Kontakt zu ihren Familien feiern
können.
({0})
Wenn ich die Aussage von General Glatz, die heute in
der Presse zu lesen ist, richtig verstanden habe, sind
mittlerweile nahezu 100 Millionen US-Dollar an Lösegeld geflossen. 100 Millionen US-Dollar, das deutet eher
auf organisierte Kriminalität denn auf die Bekämpfung
von Armut hin. Trotzdem bleibt meine Fraktion dabei,
dass die Ursachen dieser Kriminalität dort zu bekämpfen
sind, wo die Menschen keine anderen Perspektiven haben. Die Armut und die Bereitschaft, sich Piratenorganisationen auszuliefern, hängen nicht zuletzt damit zusammen, dass in Somalia und in den Ländern am Horn von
Afrika insgesamt die Lebensperspektiven fehlen. Wir
tun gut daran, innerhalb der EU, aber auch mit eigenen
Mitteln dazu beizutragen, dass die Menschen wieder
Chancen und Perspektiven bekommen und von ihrer
Hände Arbeit leben können, sodass sie sich keinen Piratenorganisationen oder kriminellen Vereinigungen ausliefern müssen.
({1})
Somalia selbst ist nicht in der Lage, gegen die Piraterie vorzugehen. Deshalb hat man sich an die Vereinten
Nationen gewandt. Die Europäische Union hat im Rahmen der Umsetzung der entsprechenden Aufträge der
Vereinten Nationen die Operation Atalanta beschlossen.
Die Operation Atalanta soll erreichen, dass die Piratennetzwerke zerschlagen werden, dass die Piraterie eingedämmt wird und vor allen Dingen dass Personen, die bei
diesem Vorgehen gefangen genommen bzw. festgesetzt
werden, rechtsstaatlichen Verfahren zugeführt werden.
Zugegebenermaßen haben wir hier noch einiges zu tun.
Nachdem Kenia die entsprechenden Abkommen aufgekündigt hat, müssen wir dringend daran interessiert sein,
mit anderen Staaten entsprechende Lösungen zu finden.
Drei Ziele verfolgt diese Operation vorrangig: die Sicherstellung der durch Piratenüberfälle gefährdeten humanitären Hilfe für die notleidende Bevölkerung am
Horn vom Afrika, den Schutz der zivilen Schifffahrt und
die Verhinderung von Geiselnahmen einschließlich der
Geiselbefreiung. Da mein Vorredner schon auf eine entsprechende Aktion hingewiesen hat, erspare ich mir
Ausführungen dazu.
Nun zur freien Handelsschifffahrt und zur Kritik, die
in diesem Zusammenhang gelegentlich geäußert wird.
Wir reden immer davon, dass ein freier Handelsverkehr
unseren Interessen dient. Insgesamt geht es aber um Folgendes: Bei den jährlich etwa 16 000 Schiffen, die den
Golf von Aden passieren, handelt es sich nicht nur um
Schiffe, die Europa verlassen, sondern auch um Schiffe,
die sich aus anderen Ländern, zum Beispiel aus Ländern
Asiens, nach Europa bewegen. Arbeit und Wohlstand in
Deutschland, aufgrund der Globalisierung aber auch in
der Welt insgesamt hängen nicht zuletzt davon ab, ob ein
freier Handelsverkehr gewährleistet ist oder nicht.
({2})
Ich denke, dass wir daran ein großes Interesse haben
müssen, übrigens auch im Sinne der Menschen, die in
Drittländern oder Schwellenländern leben und sich auf
diesem Weg ihre Existenz sichern.
({3})
Ich möchte nicht versäumen, an dieser Stelle den Soldatinnen und Soldaten zu danken, die im Einsatz sind.
Die Bedeutung ihres internationalen Einsatzes zeigt sich
gerade erneut, auch an der Bereitschaft, auf den Schiffen
multinational zu operieren, sogar mit dieser Gruppe, die
bereit ist, Einsätze zum Schutz von Handelsschiffen
durchzuführen.
({4})
Ich möchte darauf hinweisen, dass auch Reeder in der
Verantwortung stehen. Sie müssen zum Schutz ihrer eigenen Schiffe etwas tun. Deshalb finde ich es wichtig
und richtig, dass es Sicherheitsräume gibt. Aber was
nützt auf einem Schiff die beste Sicherheitseinrichtung,
wenn es nicht auch eine Einsatzgruppe gibt, die im
Zweifelsfall bereit ist, sich auf diesem Schiff für die
Mannschaft, die sich in Sicherheit gebracht hat, einzusetzen? Dies ist ein weiteres Argument für unsere Initiative im Rahmen der Operation Atalanta. Die Erfolge
sind messbar. Alle im Auftrag des Welternährungsprogramms durchgeführten Schiffstransporte für Somalia
haben ihre Zielhäfen sicher erreicht. Über 90 000 Tonnen Lebensmittel und weitere wichtige Hilfsgüter gelangten an ihr Ziel und halfen, circa 1,8 Millionen Menschen zu versorgen. Auch Mittel für verschiedene
Projekte der Hilfe zur Selbsthilfe konnten so sicher ihren
Weg finden.
Obwohl die Zahl der Angriffe steigt, ist es seit dem
Beginn der Operation immer mehr möglich geworden,
zivile Schiffe zu schützen. Während 2009 noch 19 - so
heißt es schön in der Formulierung - größere Pirateneinheiten neutralisiert wurden, konnten bis Oktober 2010
bereits 116 Pirateneinheiten neutralisiert und damit Angriffe verhindert werden. Das hat natürlich dazu geführt,
dass die Piraten ihren Einsatzraum ausgeweitet haben;
mein Vorredner hat darauf hingewiesen. Deshalb umfasst das jetzige Mandat auch mehr als nur den Bereich
vor der somalischen Küste. Der Einsatzraum umfasst
mittlerweile Teilgebiete des Indischen Ozeans. Das ist
auch notwendig, um diese Mission erfolgreich zu erfüllen.
Die Verhinderung von Geiselnahmen und die Geiselbefreiungen sind teilweise erfolgreich; aber wir dürfen
uns nicht damit zufriedengeben, solange wir wissen,
dass es dort noch Geiseln gibt, dass Menschen festgehalten werden. Wir müssen uns aber auch klar darüber sein
- darauf lege ich ausdrücklich Wert -, dass wir die
Grundlage dafür schaffen müssen, dass die Menschen in
Afrika von ihrer Hände Arbeit leben können, dass sie
eine Perspektive haben. Das werden wir auch mit noch
so vielen Kriegsschiffen nicht schaffen können, sondern
das ist eine Aufgabe der Politik. Hier zu sparen, wäre
falsch. Wir müssen Somalia in die Lage versetzen, sich
selbst zu helfen.
({5})
Solange das noch nicht der Fall ist, wird es zur Operation Atalanta keine Alternative geben. Wir werden sie
unterstützen müssen. Wir werden diesem Mandat zustimmen im Interesse der Menschen, im Interesse der
freien Handelswege und ganz besonders im Interesse
derjenigen, die in Zukunft eine Perspektive haben wollen, wozu der freie Handel durchaus gehört.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Roderich Kiesewetter
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit
dem 22. November, also seit einer guten Woche, stehen
in Hamburg zehn Somalis, der Piraterie angeklagt, vor
Gericht. Sie sind gewiss die schwächsten Glieder der
Kette. Aber es wird in der Diskussion über das Gerichtsverfahren deutlich, dass viele behaupten, Deutschland,
Europa, die Vereinten Nationen hätten Somalia und die
Region aufgegeben.
Wir zeigen mit unserer heutigen Debatte: Wir haben
die Region nicht aufgegeben, wir kümmern uns um die
Region. Wir setzen uns für die Operation Atalanta ein.
Entscheidend ist nicht, dass wir hier die Mythologie und
eine griechische Jägerin bemühen; aber sie war auf der
Jagd. Wir müssen deutlich machen, dass diejenigen, die
hinter der Piraterie stecken, die organisierte Kriminalität,
ausgehoben werden müssen. Die Piraterie bekämpft das
Recht. Die Piraterie beraubt Menschen der Freiheit. Die
Piraterie verletzt Menschen, und sie tötet sie auch. Das
dürfen wir nicht durchgehen lassen.
({0})
Die organisierte Kriminalität, die dahintersteckt, ist
nicht nur organisiert, sie ist militärisch straff organisiert;
das sind Hightechorganisationen. Das müssen wir aufklären. Damit wird klar: Mit der Operation Atalanta allein werden wir des Problems nur auf See Herr werden.
Die Zahlen sprechen für sich. Die Kollegen Meßmer und
Müller-Sönksen haben das sehr deutlich angesprochen.
Ich bin Ihnen auch sehr dankbar dafür; das war sehr hilfreich. Ich möchte das auch nicht im Einzelnen wiederholen. Aber ich möchte deutlich machen: Wenn wir nichts
unternehmen, schaden wir den 3,5 Millionen Einwohnern Somalias, der internationalen Gemeinschaft, dem
Welternährungsprogramm und nicht zuletzt den Welthandelswegen.
80 Prozent des Welthandels wird über die Meere abgewickelt. Mit der Operation Atalanta, die die Europäische Union im Juli 2010 glücklicherweise ausgeweitet
hat, weil auch die Piraten ihr Einsatzgebiet ausgeweitet
haben, werden wir ein klares Zeichen setzen. Unsere
Fraktion unterstützt deshalb die Operation Atalanta voll
und ganz, und ich werbe auch fraktionsübergreifend um
Zustimmung.
({1})
Über eines müssen wir uns aber auch klar sein: Teile
davon sind aus der Not heraus geboren. Durch Not wird
aber keine Gewalt gerechtfertigt. Wir müssen das grundsätzlich und ganzheitlich angehen.
Ich bin unserem Außenminister sehr dankbar, dass er
auf dem diesjährigen EU-Afrika-Gipfel vor zwei Tagen
deutlich gemacht hat, dass wir AMISOM und die Afrikanische Union unterstützen und dass wir hier auch Zeichen für Afrika setzen und Afrika nicht alleine lassen. Es
geht um vernetzte Sicherheit.
({2})
Wir haben ja etliche Kollegen, die sich in dem Bereich intensiv engagieren. Ich möchte an dieser Stelle
auch dem Kollegen Holger Haibach danken, der für unsere Fraktion einen Kongress zur vernetzten Sicherheit
mit über 300 Teilnehmern organisiert hat, der in dieser
Woche stattfand. Es waren übergreifend - auch parteiübergreifend - Fachleute und Experten eingeladen, und
es wurde klargemacht, dass wir Krisen nur übergreifend
und vernetzt mit einem zivil-militärischen Ansatz bekämpfen können.
Genau das müssen wir auch in Afrika tun. Wir haben
dafür auch den Unterausschuss „Zivile Krisenprävention
und vernetzte Sicherheit“, das heißt, auch unser Parlament stellt sich neu auf und nimmt die neuen Herausforderungen an. Das müssen wir klarmachen. Die Operation Atalanta ist ein Beispiel für vernetzte Sicherheit. Ich
glaube, dass das Außenministerium in dieser Richtung
sehr gut arbeitet, insbesondere auch hinsichtlich der anschließenden Evaluation.
Lassen Sie mich in den letzten zwei Minuten auf den
regionalen Kontext und auf die Perspektive eingehen. Es
ist ganz wichtig, dass wir Somalia nicht isoliert betrachten. Die Bundesregierung kümmert sich auch um die
Einbindung von zum Beispiel Tansania und Kenia und
unterstützt eine Reihe ganzheitlicher Projekte, zum Beispiel den Aufbau des Polizeiausbildungsprogramms und
des Soldatenausbildungsprogramms. Daneben hilft sie
bei der Finanzierung von AMISOM und leistet Unterstützung mit Blick auf Strafverfolgungskapazitäten.
28 Millionen Euro sind seit 2008 für diese zivilen Missionen geflossen. Dadurch wird auch unsere Glaubwürdigkeit erhöht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich zum Schluss noch einen wesentlichen Punkt aufgreifen. Wenn wir vernetzte Sicherheit erreichen wollen,
dann müssen wir uns auch immer darüber klar sein, was
das für ein Gegner ist. Wir haben in diesem Jahr bereits
über 115 Angriffe von Piraten abgewehrt. Im vergangenen Jahr waren es fast 200. Wir haben über 470 000 Tonnen Lebensmittel zu der betroffenen Bevölkerung gebracht. Allein in diesem Jahr waren es 90 000 Tonnen. In
diesem Jahr sind 31 Schiffe mit entsprechenden Nahrungsmitteln, die den Menschen zugutekommen, in die
Region gefahren.
Das kann keine Dauerlösung sein. Die Dauerlösung
liegt darin, dass wir gemeinsam mit der Kontaktgruppe
für eine Stabilisierung in Somalia sorgen. Das erreichen
wir durch Transparenz, durch regionale Ansätze und
durch eine ganzheitliche, klare Politik.
Wir unterstützen den Antrag der Bundesregierung,
und ich werbe für einen breiten Ansatz. Ich hoffe, dass
sich weite Teile des Parlaments anschließen.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Jan van Aken für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
denke, eines ist sicher: So funktioniert es nicht. Wir
brauchen uns die Zahlen doch nur anzuschauen. Vor
zwei Jahren gab es in den ersten neun Monaten des Jahres genau 77 Piratenangriffe. In diesem Jahr waren es
127, Tendenz steigend. Es ist auch logisch, dass das so
nicht funktionieren kann; denn Sie können kein einziges
Problem dadurch lösen, dass Sie nur an den Symptomen
herumdoktern, aber überhaupt nicht an die Ursachen herangehen.
({0})
Die Ursachen liegen an Land, in Somalia. In Somalia
herrscht bitterste Not. 3,2 Millionen Menschen sind auf
Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Das Land schlittert immer weiter in einen Bürgerkrieg hinein. Sie können das
Problem der Piraterie nur mit einer politischen Lösung in
Somalia lösen.
({1})
Das sagen einem nicht nur die Zahlen der letzten zwei
Jahre. Das sagt einem nicht nur der gesunde Menschenverstand. Das sagt auch unser Außenminister, Herr
Westerwelle, der an dieser Stelle vor genau einer Woche
gesagt hat - ich zitiere Sie jetzt, Herr Westerwelle -:
Der Einsatz gegen die Piraterie wird nicht
- „nicht“, Herr Kiesewetter auf der Hohen See gewonnen, sondern nur an Land.
Das ist die Wahrheit. Ich gebe Ihnen recht, Herr
Westerwelle. Allerdings verstehe ich nicht - das müssen
Sie mir hier erklären -, dass Sie hier zwar eine richtige
Analyse vorlegen, aber trotzdem 50 Millionen Euro und
1 400 Soldaten beantragen, um sie auf die Hohe See zu
schicken, obwohl das Problem dort gar nicht zu lösen ist.
Das verstehe ich wirklich gar nicht.
({2})
Wenn Sie so weitermachen, können Sie die ganze Bundesmarine in den Indischen Ozean schicken. Sie können
sie für 30 Jahre dort hinschicken, aber es wird sich nichts
ändern, solange Sie nicht an die Ursachen herangehen.
Da frage ich auch die Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen. Sie machen in Ihrem Antrag genau die gleiche Analyse auf. Sie fragen sogar richtigerweise: Wie
lange soll es denn noch so weitergehen? Wann ist ein
Ende abzusehen? - Aber wie können Sie nach dieser
richtigen Analyse diesem Mandat noch zustimmen? Ich
verstehe es einfach nicht.
Herr Westerwelle hat letztes Mal noch etwas Zweites
gesagt. Er hat behauptet, die Bundesregierung werde
auch den politischen Wiederaufbau in Somalia unterstützen. Das allerdings war schlichtweg gelogen. Wir haben
ihn gestern zweimal im Ausschuss gefragt. Wir haben
uns das Mandat genau durchgelesen, und es gibt sehr genaue Zahlen darüber, was die Bundesregierung in Somalia macht und was sie nicht macht.
Sie liefert Nahrungsmittelhilfe. Wunderbar! Das finde
ich richtig, und diese Hilfe muss auch weiterhin geleistet
werden. Allerdings ist das kein politischer Wiederaufbau. Und sie bildet 2 000 somalische Soldaten aus. Das
ist nicht nur falsch, das ist richtig kontraproduktiv. Denn
wie wollen Sie überhaupt einen politischen Friedensprozess in Somalia anstoßen, wenn Sie eine Seite im Bürgerkrieg mit Militärs ausrüsten? Sie haben doch jeden
Kredit verspielt. Sie sind jetzt Partei. Sie können in Somalia doch überhaupt nicht mehr als Mediator bzw. als
Friedenspartei auftreten. Das heißt, Sie machen das Gegenteil eines politischen Wiederaufbaus.
({3})
Dabei gibt es doch viele gute und konstruktive Ideen.
Beispielsweise haben Amnesty International oder der
Evangelische Entwicklungsdienst in den letzten Tagen
wunderbare Vorschläge gemacht; zum Beispiel hätte
Entwicklungshilfe im Norden in Somaliland oder in
Puntland eine positive Wirkung auf ganz Somalia.
Es gibt ja lokale Autoritäten, die funktionieren. Diese
können Sie unterstützen und einen demokratischen Aufbau von unten fördern. Natürlich können Sie endlich
auch etwas gegen die illegale Fischerei unternehmen.
Denn auch sie ist eine der Ursachen - sie ist keine
Rechtfertigung - der Piraterie in Somalia.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
keine Waffen mehr exportieren sollte. 8 Milliarden Euro
({4})
hat Deutschland im letzten Jahr an Rüstungsexporten
verdient, und ich finde, dass jedes einzelne Sturmgewehr
und jede einzelne Maschinenpistole eine zu viel ist,
wenn sie exportiert wird. Denn über kurz oder lang landen sie alle in Kriegsgebieten - auch in Somalia -, und
wir, die Linke, sind dafür, dass die Waffenexporte endlich aufhören.
Ich danke Ihnen.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Kerstin Müller das Wort.
Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr van
Aken, es kam jetzt nicht wirklich überraschend, dass
Ihre Fraktion den Atalanta-Antrag ablehnen wird.
({0})
Ich finde allerdings: Wenn Sie es hier wieder einmal ablehnen, sollten Sie auch realistische Alternativen benennen.
({1})
- Ich frage mich, wie Ihr Beitrag zu verstehen ist, wenn
Sie sagen, die Ursachen liegen an Land. Das sagen übrigens alle. Niemand behauptet, dass wir mit diesem Einsatz die Ursachen bekämpfen. Es geht um Symptombekämpfung.
({2})
- Ja, natürlich. Sie haben es echt nicht verstanden.
Aber wie ist Ihr Beitrag zu verstehen? Fordern Sie,
dass wir Truppen nach Somalia schicken, weil wir da die
Ursachen bekämpfen müssen und weil es da ein Sicherheitsproblem gibt?
({3})
Kerstin Müller ({4})
Ich jedenfalls sehe hier nur schlechte Alternativen, die
die notwendigen Aufgaben erfüllen könnten.
Da ist zum einen die notwendige humanitäre Versorgung - dazu haben Sie besser nichts gesagt - von immerhin 3,2 Millionen Menschen erforderlich. Sie ist nur
auf dem Seeweg mit dem Welternährungsprogramm
möglich. Die Schiffe des Welternährungsprogramms
fahren inzwischen nur noch mit internationalem Geleitschutz. Die Reeder stellen sonst keine Schiffe mehr zur
Verfügung. Allein in diesem Jahr sind 46 Schiffe begleitet worden. Was ist Ihr Vorschlag, damit die Nahrung bei
den Menschen in Somalia ankommt? Ich habe dazu
nichts gehört.
({5})
Wir haben keine internationale Seepolizei - erst recht
keine so robuste, das wollen wir nach deutschem Recht
schon gar nicht -, die zivile Schiffe und wehrlose Matrosen wirksam schützen könnte. Die Zahl ist schon erwähnt worden: 438 Geiseln sind in der Gewalt somalischer Piraten.
({6})
Wie wollen Sie die befreien? Mit Polizei? Das ist kein
Spaziergang. Deswegen fahnden auch keine Polizisten,
sondern Soldaten nach den Piraten. Ich will klar sagen:
Atalanta ist im Grunde ein quasipolizeilicher Einsatz,
der von Soldaten geführt werden muss.
Hätten wir Atalanta nicht, was wären die Alternativen? Manche sähen zum Beispiel lieber die NATO als
diesen UN-mandatierten und EU-geführten Einsatz. Ich
sage für meine Fraktion sehr deutlich: wir nicht.
({7})
Wir wollen, dass diese Missionen im Wesentlichen von
der UNO geführt werden. Oder es gäbe noch mehr nationale Alleingänge - es gibt einige, die dort mit nationalen
Schiffen herumfahren -, oder - das ist die eigentliche
Gefahr - es würden künftig die Blackwaters dieser Welt
auf den Decks von Containerschiffen und Getreidefrachtern stehen. Wollen Sie das?
({8})
Das wäre eine gefährliche Militarisierung der zivilen
Schifffahrt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das
wollen.
Die Alternative ist ganz einfach. Die Alternative zu
diesem multilateralen Einsatz heißt: entweder Renationalisierung oder Privatisierung des Sicherheitsrisikos. Die große Mehrheit meiner Fraktion will das nicht.
Deswegen werden wir heute diesem vernünftigen Mandat zustimmen.
({9})
Es geht auch nicht nur um das sichere Geleit für die
Schiffe des Welternährungsprogramms, sondern auch
um den Schutz der freien Seewege für alle und deren
friedliche Nutzung. Das ist ein internationales Rechtsgut
und ein anerkanntes Völkerrecht, weil es im Interesse aller ist, die zivile Schifffahrt und wehrlose Matrosen am
Horn von Afrika zu schützen. Das sehen alle UNO-Mitgliedstaaten so. Sie sind doch eigentlich die Völkerrechtspartei. Alle UNO-Mitgliedstaaten sehen das so.
Selbst die Chinesen und Russen haben diesem Mandat
zugestimmt.
Ich will aber auch etwas zu Herrn Minister
Guttenberg sagen, der in dem Zusammenhang von der
militärischen Absicherung nationaler Rohstoffinteressen gesprochen hat. Darum geht es auch nicht, meine
Damen und Herren von der Koalition. Damit suggeriert
man, deutsche Soldaten wollen vor der Küste Somalias
Jagd auf Öl oder seltene Ressourcen machen. Das ist
Unsinn. Darum geht es nicht.
({10})
Es geht um den Schutz der freien Seewege. Das ist ein
internationales Rechtsgut und eine Errungenschaft, weil
die Weltmeere heute nicht mehr zwischen den Großmächten aufgeteilt werden.
Es ist also klar: Atalanta dämmt nur die Symptome
ein. Sie kann die Ursachen der Piraterie nicht beseitigen.
Es muss darum gehen - das ist unsere klare Forderung
an die Bundesregierung und auch an Sie, Herr Außenminister -, dass wir viel stärker den Friedensprozess in
Somalia fördern und Ideen präsentieren. Es muss einen
umfassenden politischen Versöhnungs- und Dialogprozess geben. Man kann nicht allein auf die korrupte Übergangsregierung setzen. Das ist zum Scheitern verurteilt.
Wir müssen auf jeden Fall versuchen, mit verhandlungsbereiten Kräften von al-Schabab und Hisb al-Islam
Dialoge aufzubauen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss. - Ich frage mich, warum wir
nicht Somaliland stärker einbeziehen. Dieses unmittelbare Nachbarland ist völlig stabil mit einer demokratischen Entwicklung. Ich verstehe nicht, warum man das
nicht als gutes Beispiel nutzt.
Politisch muss viel mehr geschehen. Dieses Mandat
beseitigt nicht die Ursachen. Es muss vielmehr ein politisches Gesamtkonzept geben. Das fehlt uns noch. Dazu
sagen wir etwas in unserem Entschließungsantrag. Wir
würden uns freuen, wenn Sie auch dem zustimmen.
Danke schön.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin
Buchholz.
Frau Müller, ich habe zwei Fragen. Die erste Frage
zielt hauptsächlich auf die Versorgung der Menschen in
Somalia mit Nahrungsmitteln ab. Wie können Sie angesichts dessen erklären, dass sich das Mandat bis in den
Indischen Ozean fast vor die Küste des Irans ausgeweitet
hat? Wie passen diese beiden Argumente zusammen?
Meine zweite Frage bezieht sich auf die politische Alternative. Das Mandat Atalanta und die Politik der Bundesregierung sind absolut einseitig auf die Unterstützung
des Transitional Federal Government ausgerichtet. Das
ist eine scharfe Kritik der Nichtregierungsorganisation
Amnesty International. Dieser Ansatz ignoriert komplett, dass in den letzten 19 Jahren versucht wurde, in
Somalia Regierungen aufzubauen, die von den Somalis
nicht akzeptiert werden. Diese Realität können Sie nicht
ignorieren. Wenn Sie dem Mandat zustimmen, stimmen
Sie auch dieser Politik zu. Das widerspricht allerdings
den schönen Worten, die Sie am Ende Ihrer Rede gefunden haben.
({0})
Frau Müller, bitte.
Wenn Sie zugehört haben, dann haben Sie mitbekommen, dass ich von zwei zentralen Zielen dieses Mandats
gesprochen habe.
Das eine Ziel ist der Geleitschutz für die Schiffe des
Welternährungsprogramms. Auch in Ihrer Kurzintervention haben Sie nichts dazu gesagt, was denn Ihr Vorschlag ist, wie 3,2 Millionen Menschen - das ist die
Hälfte der Bevölkerung in Somalia - mit Nahrungsmitteln versorgt werden sollen. Das finde ich für eine Partei,
die einen humanitären Anspruch hat, ziemlich schlecht
und ziemlich wenig.
({0})
Das ist das erste Ziel.
Das zweite Ziel ist der Schutz der Seewege. Der freie
Zugang zur See ist eine Errungenschaft des modernen
Völkerrechts, des UN-Seerechtsübereinkommens von
1982. Ihre Haltung dazu verstehe ich nicht. Sie suggerieren immer, Sie seien die Völkerrechtspartei. Wenn aber
Völkerrecht geschrieben wird und wenn es ein einstimmig gefasstes UN-Mandat gibt, das zur Durchsetzung
dieses Völkerrechts Schiffe auf See schickt, dann sagen
Sie: Wir sind nicht dabei. - Das finde ich nicht sehr
glaubwürdig. Um diese beiden Rechtsgüter geht es.
({1})
Der letzte Punkt: Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen. An dieser Stelle ziehe ich eine Parallele
zur Innenpolitik. Wenn es Kriminalität auf den Straßen
in Deutschland gibt, dann fordert doch selbst die Linke
nicht die Abschaffung der Polizei. Vielmehr haben wir
die Polizei, und wir bekämpfen präventiv Kriminalität.
Genau darum geht es hier auch. Wir schützen die freien
Seewege und brauchen ein umfassendes politisches
Konzept.
In diesem Zusammenhang üben wir natürlich Kritik
an der Bundesregierung. Da läuft viel zu wenig. Ich sage
Ihnen aber auch aus einer zehnjährigen Erfahrung heraus
- ich bin überall in der Region gewesen -: Ganz schnell
wird das keiner aus der Tasche ziehen. Es gibt nicht das
Ei des Kolumbus, um Somalia an einem Tag zu retten.
Es gibt aber noch einige Vorschläge, bei denen die Bundesregierung engagierter sein könnte.
Wir müssen die Ursachen bekämpfen und gleichzeitig
etwas gegen die Kriminalität auf den Seewegen tun.
Deshalb brauchen wir beides.
Es wäre schön, wenn Sie sich damit einmal auseinandersetzen könnten. Man muss die Symptome angehen
und die Ursachen bekämpfen.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ingo
Gädechens für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr van
Aken, Ihre Rede war schwer zu ertragen. Die Kurzintervention, Frau Buchholz, hätten Sie sich sparen können.
Die Antwort von Frau Müller empfand ich aber als sehr
erfrischend.
({0})
Atalanta, eigentlich eine schöne und klangvolle Bezeichnung, die auch Namensgeber für eine friedliebende
Region sein könnte. Atalanta ist aber leider die Bezeichnung einer EU-geführten Operation in einer weniger
friedliebenden Region zur Bekämpfung der Piraterie auf
der Grundlage des Seerechtsübereinkommens und der
entsprechenden Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.
Die multinationale Operation stemmt sich mit einer
konzertierten Kraftanstrengung gegen eine hässliche und
menschenverachtende Fratze einer skrupellosen Piraterie. Selbst diejenigen, die womöglich einer Art SirFrancis-Drake-Romantik hinterherlaufen, müssen erkennen, dass auf den strategisch positionierten Piratenmutterschiffen und Skips Verbrecher der übelsten Sorte an
Bord sind, für die ein fremdes Menschenleben wertlos
ist. Stehen sie erst vor Gericht, so wie aktuell in Hamburg, geben sie sich scheinheilig, demütig und unterwür8624
fig. Sind sie bewaffnet auf See, werden Schiffe mit unbarmherziger Brutalität geentert, wird rücksichtslos auf
Besatzungsmitglieder geschossen. Diese Piraten schrecken weder vor Erpressung noch vor Mord zurück.
({1})
Vor dem Hintergrund eigener staatlicher Machtlosigkeit
hat die somalische Übergangsregierung den Sicherheitsrat um Hilfe gebeten, die nunmehr seit zwei Jahren
- auch mit deutscher Unterstützung - gewährt wird.
Das Engagement und der Einsatz der Einheiten unserer deutschen Marine sowie insbesondere die hohe Flexibilität der Soldatinnen und Soldaten verdienen gerade
von den Mitgliedern des Deutschen Bundestages allerhöchste Wertschätzung.
({2})
Wie nahezu bei allen Einsätzen gelten die deutschen
Schiffe und deren Besatzung als wichtige, erfahrene und
professionell handelnde Einheiten auch in diesem multinationalen Verband. Das internationale Engagement geht
mittlerweile weit über die Einheiten der EU-Mission
Atalanta hinaus. Unilateral operieren Staaten wie - um
nur einige zu nennen - Russland, Saudi-Arabien, Singapur, Thailand, Indien, China und die Vereinigten Arabischen Emirate im Einsatzgebiet.
Neben dem bereits erwähnten Schutz der Hilfsschiffe
des World Food Programme und dem Schutz der African
Union haben Deutschland und die gesamte freie Welt
eine vehementes Interesse an freien Seehandelswegen.
Es geht nicht, wie von den Linken wiederholt behauptet,
um eine Art Kanonenbootpolitik, sondern es geht um legitimiertes internationales Recht auf Hoher See, das allen Staaten ungehinderte Durchfahrt gewährt. So wie
Deutschland in Nord- und Ostsee im Seehoheitsgebiet
und selbstverständlich auf den internationalen Seeschifffahrtsstraßen eine sichere Passage gewährt, erwarten wir
gemeinsam mit den verbündeten Staaten eine ungehinderte Fahrt auf den Weltmeeren.
({3})
Die ungehinderte Fahrt unserer Schiffe, egal ob gechartert oder unter deutscher Flagge fahrend, gilt es, zu
schützen, weil freie Handelswege von elementarer Bedeutung gerade für ein Exportland wie Deutschland sind.
Ich möchte an dieser Stelle keine tiefergehende Analyse über die Entstehung der Piraterie auf einem geschundenen Kontinent, insbesondere in einem armen
und unsicheren Land wie Somalia, machen. Selbstverständlich ist uns allen bewusst, dass Maßnahmen notwendig sind, damit Piraterie erst gar nicht entsteht. Auch
hier setzt die deutsche Außenpolitik an wichtigen Stellen
an, um die unübersichtliche Situation in Somalia und in
der gesamten Region zu verbessern.
({4})
Als größtes Problem für die im Kampf gegen die Piraterie eingesetzten Marineeinheiten erweist sich nach wie
vor die Größe des Operationsgebietes. Weit entfernt von
der Küste gibt es in jüngster Zeit Überfälle. Als Beispiel
nenne ich nur mögliche Erreichbarkeiten. Wenn in einer
Entfernung von lediglich 300 Seemeilen ein Schiff angegriffen wird, benötigt eine Fregatte unter Höchstfahrt
zwölfeinhalb Stunden, um am Ort des Geschehens einzutreffen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Herr Ströbele ist immer herzlich willkommen.
Herr Kollege, Sie selber haben sich gerade auch für
andere Maßnahmen ausgesprochen. Geben Sie mir recht,
dass in den Gewässern vor Somalia und den Nachbarstaaten nach wie vor - so lautet jedenfalls die Auskunft
des Auswärtigen Amtes - große schwimmende Schiffeinheiten etwa aus Italien, Frankreich und anderen europäischen Staaten sowie aus Asien fischen und dass das
Leerfischen dieser ursprünglich sehr fischreichen Gewässer eine der Ursachen ist, warum auch Fischer zu
Piraten geworden sind? Dabei verkenne ich nicht, dass
es sich hier inzwischen um eine international agierende
kriminelle Organisation handelt. Was gedenken Sie vorzuschlagen, um das Leerfischen der Gewässer rund um
Somalia zu beenden?
Ein weiterer Punkt. Ist Ihnen ein Bericht der Kontrollkommission des Weltsicherheitsrates bekannt, wonach
etwa 50 Prozent der Versorgungsgüter des Welternährungsprogramms zwar in Somalia ankommen, dort aber
verloren gehen, weil 30 Prozent so versickern sowie jeweils 10 Prozent an die Transportunternehmen und die
Milizen in den Gebieten gehen, durch die die Güter
durchgeschleust werden? Was soll gemacht werden, um
einen viel größeren Schwund zu verhindern, der bewirkt,
dass die Waren und Nahrungsmittel des Welternährungsprogramms nicht zu den Bedürftigen gelangen? Haben
Sie dazu Vorschläge, statt immer nur vom Militär zu reden?
({0})
Herr Ströbele, ich verkenne nicht das Problem der
Fischtrawler, der großen Fischfangfabrikschiffe, die in
internationalen Gewässern weit vor der Küste Somalias
die Meere leerfischen. Es gibt sicherlich einen Zusammenhang, aber ich sehe keinen direkten Zusammenhang,
weil der somalische Fischer Küstenfischerei betrieben
hat. Ich könnte jetzt einen großen Exkurs über die Probleme, die unsere Ostseefischer und unsere Nordseefischer haben, vortragen. Die sind auch nicht Piraten geworden.
({0})
Aber die Küstenfischerei leidet natürlich darunter, dass
größere Mengen von Fischen in internationalen Gewässern genau von den Schiffen, die Sie eben genannt haben, weggefischt werden. Es muss internationale Verhandlungen geben, damit in internationalen Gewässern
eine vernünftige Regelung getroffen wird.
Ich sage Ihnen noch etwas: Wenn Sie lobend erwähnen, dass die Hilfsgüter in Somalia ankommen, dann
sage ich Ihnen, dass das dem Part geschuldet ist, den
Atalanta übernimmt. Wir bringen die Schiffe des World
Food Programme sicher in die Häfen. Dass auf außenpolitischem Wege etwas getan werden muss, damit die
Hilfsgüter nicht in die falschen Hände geraten, sondern
bei den notleidenden Menschen ankommen, darüber
sind wir uns beide einig. Diese Aktivitäten müssen noch
verstärkt werden.
({1})
Leider ist die Zahl der Überfälle noch gestiegen, aber
die Abwehr ist effektiver geworden. Das kann man als
Erfolg für das neue Sicherheitskonzept der Marine, des
Verbands Deutscher Reeder und der Bundespolizei werten. Die Besatzungen wissen sich besser zu wehren und
melden Vorfälle und Beobachtungen schneller, sodass
auch schneller Hilfs- und Schutzmaßnahmen eingeleitet
werden können. Die enge Verbundenheit beim gemeinsamen Vorgehen gegen die Piraterie können Sie daran
erkennen, dass sich auf der Fregatte „Hamburg“, die zurzeit im Einsatzgebiet ist, ein estnisches Vessel Protection
Detachment Team befindet, das zuvor auch in Deutschland für den Einsatz ausgebildet wurde.
Wir brauchen heute ein klares und deutliches Signal
für die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
EU-Mission Atalanta. Eine breite Zustimmung, um die
ich Sie alle bitte, wäre zugleich ein deutliches Signal für
alle Soldatinnen und Soldaten, die hochmotiviert ihren
oftmals gefährlichen Dienst auf See verrichten.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteili-
gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-
geführten Operation Atalanta zur Bekämpfung der Pira-
terie vor der Küste Somalias. Dazu liegen mehrere per-
sönliche Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 unse-
rer Geschäftsordnung vor.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/4048, den Antrag der Bundes-
regierung auf Drucksache 17/3691 anzunehmen. Über
diese Beschlussempfehlung stimmen wir namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze an den Urnen einzunehmen. Sind
1) Anlagen 6 und 7
alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall.
Dann eröffne ich die Abstimmung.
Sind Kolleginnen oder Kollegen im Saal, die ihre
Stimmkarte noch nicht abgegeben haben? - Das ist nicht
der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.2)
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/4067. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt. Dafür
haben die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, dagegen die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 13:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation „ALTHEA“ zur weiteren Stabilisierung
des Friedensprozesses in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Implementierung der
Annexe 1-A und 2 der Dayton-Friedensvereinbarung sowie an dem NATO-Hauptquartier
Sarajevo und seinen Aufgaben, auf Grundlage
der Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen 1575 ({1}) und Folgeresolutionen
- Drucksachen 17/3692, 17/4049 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rainer Stinner
Sevim Dağdelen
Marieluise Beck ({2})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/4056 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über die Beschlussempfehlung werden wir später na-
mentlich abstimmen.
2) Ergebnis Seite 8629 D
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Interfraktionell wurde vereinbart, eine halbe Stunde
zu debattieren. - Ich höre und sehe keinen Widerspruch.
Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache.
Als erster Redner hat der Kollege Dr. Rainer Stinner
für die FDP-Fraktion das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute vor genau 15 Jahren hat der Deutsche Bundestag
das IFOR-Mandat für Bosnien-Herzegowina verabschiedet. Wenn man diese 15 Jahre Revue passieren lässt,
dann muss man sagen, dass auch dieses Mandat insgesamt sehr erfolgreich gewesen ist. Vor 15 Jahren waren
in diesem Rahmen noch über 50 000 NATO-Soldaten im
Einsatz. Nachdem es in eine EU-Mission umgewandelt
wurde, sind es nunmehr noch 1 900 internationale Soldaten. Dazu zählen zum heutigen Zeitpunkt 126 deutsche
Soldaten.
Das ist ein Entwicklungspfad, der in die richtige
Richtung gegangen ist. Wir haben in Bosnien-Herzegowina in den letzten Jahren deutliche Verbesserungen erreicht. Dafür Dank und Anerkennung allen, die daran
mitgewirkt haben!
({0})
Wir alle wissen, dass in Bosnien-Herzegowina noch
vieles ungelöst ist. Aber eines wissen wir auch: Die Sicherheitslage ist weitestgehend stabil.
({1})
Man kann sagen: Es hat lange genug gedauert, aber immerhin haben wir es erreicht. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, wenn wir uns anschauen, wie es in anderen
Konfliktgebieten nach 15 Jahren internationalem Engagement aussieht, müssen wir feststellen: Wir sind in
Bosnien-Herzegowina besser dran.
Wir wollen ALTHEA weiter reduzieren. Wir möchten
dazu kommen, dass wir diese Mission beenden und in
eine Ausbildungsmission umwandeln. Das werden wir
Schritt für Schritt tun. Der Entwicklungspfad ist vorgezeichnet. Das heißt, wir beenden Mandate. Eine wichtige
Botschaft an die Bevölkerung ist: Wir tun das Richtige
und Wichtige, aber wir hören auf, wenn das nicht mehr
in diesem Umfang notwendig ist.
({2})
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat nochmals die Mandatierung beschlossen und uns beauftragt.
Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat das Land
Bosnien-Herzegowina mitgestimmt, weil BosnienHerzegowina seit Herbst letzten Jahres Mitglied im
Weltsicherheitsrat ist. Das heißt, wir trauen diesem Land
zu, die Welt mit zu regieren. Ich werbe dringend dafür,
dass wir diesem Land auch zutrauen, sich selbst zu regieren.
({3})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen, muss ich auch dafür plädieren, Ihren Antrag abzulehnen. Sie wollen ein weiteres Mal die Hürden für die
Abschaffung des Hohen Repräsentanten erhöhen. Es gibt
schon jetzt hohe Hürden, vielleicht zu hohe. Eine Hürde
ist: nachhaltige Finanzpolitik. Wo gibt es die schon?
({4})
Was die Abschaffung des Büros des Hohen Repräsentanten, OHR, angeht, gibt es bereits fünf Ziele und zwei
Bedingungen. Das ist schon eine ganze Menge. Sie von
den Grünen - ich weiß, wer es geschrieben hat - wollen
diese Hürden nochmals erhöhen, indem Sie formulieren:
Wir müssen das Büro des Hohen Repräsentanten aufrechterhalten, bis es in diesem Land endlich eine Verfassung gibt. - Wir alle wissen, wie wichtig es ist, über
Dayton hinwegzukommen, aber diese Hürde ist zu hoch.
Alle, die sich mit dem Thema näher beschäftigen, wissen, dass die Hohen Repräsentanten der letzten Jahre an
Wirksamkeit verloren haben, auch wenn sie guten Willens waren. Ich darf es so deutlich sagen: Die letzten Hohen Repräsentanten haben einen eher traurigen Eindruck
gemacht, weil sie wussten, dass sie nichts mehr erreichen können. Deshalb ist es hohe Zeit, dass wir damit
Schritt für Schritt Schluss machen.
({5})
Deshalb sagen wir, dass das OHR aufgelöst werden
muss, spätestens dann, wenn das SAA abgeschlossen ist.
Darüber sind wir im besten Einvernehmen mit der Bundesregierung.
Wo stehen wir in Bosnien-Herzegowina, und wo
möchten wir in Zukunft stehen? Ich wiederhole für alle
hier im Raum, aber auch mit Blick nach draußen noch
einmal, dass meine Fraktion unverändert zu dem politischen Commitment von Thessaloniki des Jahres 2003
steht, dass der westliche Balkan und damit auch Bosnien-Herzegowina eines Tages Teil eines geeinten,
freien, demokratischen Europas in der EU sein soll.
({6})
Das ist unser politisches Ziel. Das möchten wir
schrittweise erreichen. Die Hürden sind mannigfaltig,
aber wir müssen daran arbeiten, weil es auch in unserem
eigenen Interesse ist, dass wir das erreichen. Da ist noch
vieles zu tun,
({7})
in Bosnien-Herzegowina insbesondere. Wir müssen Hilfestellung leisten - wir alle wissen das -, und wir versuchen auch, sie zu leisten. Die Probleme sind bekannt: ein
unwilliger Herr Dodik, zu viel Administration in der Föderation. Es gibt 180 Minister. Das wünschen sich vielleicht auch manche bei uns.
({8})
Das ist ein bisschen viel für dieses Land und kaum zu finanzieren. Es gibt keine Verfassung. Es werden Gesetze
nicht zügig genug verabschiedet etc.
Aber, meine Damen und Herren, wir haben erlebt,
dass Bosnien-Herzegowina ans Laufen kommt, wenn
man ein konkretes Ziel vorhält, nämlich die Visabefreiung. Das hat im Lande einen sehr starken Druck hervorgerufen, Reformen einzuleiten. Ich bin froh darüber,
dass unsere Freunde in Bosnien-Herzegowina endlich
das Europa kennenlernen können, in dem das Land eines
Tages aufgehen soll.
({9})
Diesen Weg werden wir weitergehen. Wir werden Bosnien-Herzegowina weiter unterstützen. Wir werden weiter
deutlich sagen: Der Weg nach Europa ist offen, das Tor ist
offen, aber, liebe Leute, ihr müsst selbst - durch eigene
Reformanstrengungen - durch das Tor hindurchgehen.
Wir helfen, ihr müsst auf diese Hilfe antworten, müsst
euer eigenes Schicksal in die Hand nehmen. Ihr seid in
Europa willkommen, wir helfen euch dabei.
Vielen Dank.
({10})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Fritz
Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ALTHEA
ist eine Begrifflichkeit aus der griechischen Sage und beschreibt die Göttin der Gesundheit. Ich bin im vergangenen Jahr auf diese Sage eingegangen. Ich will das nicht
wieder tun, sondern nur so viel sagen: Die Namenswahl
ist ganz gut, weil Bosnien-Herzegowina in der Tat Gesundung braucht. Dieses Land braucht weiterhin Gesundung, und es muss sich etwas bewegen.
Wenn man die letzten zwölf Monate verfolgt hat, ist
das, was sich zum Positiven bewegt hat, relativ leicht
und schnell aufzuzählen. Da sind einmal in der Tat die
für die Befreiung von der Visapflicht für Schengen-Staaten notwendigen Reformen. Sie sind erfolgreich durchgeführt worden, und das ist gut für Bosnien-Herzegowina.
({0})
Was einem auch ein Stück weit Anlass gibt, optimistischer als vielleicht noch vor zwölf Monaten zu sein, ist
das Wahlergebnis am 3. Oktober: Die nicht nationalistisch gesinnten Parteien haben Stimmenzuwächse erzielt. Jetzt ist wirklich Hilfe zu leisten, damit es zu der
Bildung einer Regierung kommt, die die ethnischen
Konflikte überwinden kann.
Wenn wir heute den militärischen Anteil dieses Mandates beschließen - dazu ist schon etwas gesagt worden;
wir haben im Grunde genommen nur noch 120 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und die Obergrenze zum
Glück bei weitem nicht erreicht -, gibt es einen Punkt,
der, glaube ich, zu beachten ist, nämlich dass dieser militärische Anteil, der diese Mandatsdebatte zur Folge hat,
als Ergebnis bringt, dass Bosnien-Herzegowina in der
öffentlichen politischen Debatte in Europa nicht vergessen wird.
({1})
Denn das Schlimmste wäre, wenn es zu einem vergessenen Konflikt käme.
Dass wir diese Konfliktsituation auf dem Balkan
nicht gelöst bekommen kann sich Europa im Grunde genommen nicht leisten. Denn die Konfliktlösung ist auch
für uns wichtig, nicht nur für den Balkan selbst, sondern
für Gesamteuropa.
({2})
Deswegen ist es notwendig, dass wir hier diesem Land
den Weg zu einem vollkommen souveränen Staat ebnen
und da unsere Hilfe leisten.
Meine Damen und Herren, ich habe etwas zur Regierungsbildung gesagt. Zur Regierungsbildung ist es notwendig, eine multiethnische Verfassung in BosnienHerzegowina zu verabschieden, damit wir den Weg für
dieses Land nach Europa öffnen und begradigen.
In diesem Land muss auch die polizeiliche EU-Mission Beachtung finden. Deutschland ist mit einem ganz
wesentlichen Beitrag an der insgesamt 120-köpfigen Polizeimission mit Polizeibeamtinnen und -beamten beteiligt, die dort ihren Dienst insbesondere in der Qualifizierung und in der Ausbildung leisten. Ihnen ist an dieser
Stelle ebenso zu danken wie den Soldatinnen und Soldaten in diesem Bereich.
({3})
Wenn man über die Situation dieses Landes redet,
kommt man an einem nicht vorbei: Wir waren bei der
Bekämpfung der organisierten Kriminalität und der Korruption noch nicht erfolgreich. Ich finde, das muss deutlich gesagt werden: Dieses Land hat nur Erfolg, wenn es
die organisierte Kriminalität und die Korruption erfolgreich bekämpft.
({4})
Wenn diese Bekämpfung nicht erfolgreich ist, wird es
keinen direkten Weg zu einem vollkommen souveränen
Staat mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung geben können. Insofern ist hier unsere Hilfe gefragt und gefordert.
Es ist gut, dass im militärischen Teil der Operation
eine ganze Menge umorganisiert worden ist; eine Ausbildungs- und Beratungskomponente wurde integriert.
Damit beschreiten wir den richtigen Weg.
Es wird immer wieder vergessen, dass die EU auch
auf Kapazitäten der NATO zurückgreift. So wird das
Hauptquartier in Bosnien-Herzegowina in Fragen der
Verteidigungs- und Sicherheitsarchitektur und im Hin8628
blick auf eine euro-atlantische Integration von der
NATO unterstützt, und das ist gut so.
Ich bin sicher: Das Hauptrisiko für Bosnien-Herzegowina liegt nicht so sehr auf militärischer Ebene, sondern
viel stärker auf politischer Ebene, auch in den Bereichen
der Wirtschaft und der inneren Sicherheit; da liegt leider
nach wie vor ein hohes Risiko für die Entwicklung dieses Landes. Insofern ist es nach wie vor richtig, an den
fünf Zielen festzuhalten, die wir gemeinsam vereinbart
haben, nämlich: Aufteilung und nachhaltige Regelung
des Staatsvermögens, Regelung des Vermögens im Verteidigungssektor, Umsetzung des Schiedsspruchs zum
Sonderbezirk Brcko, fiskalische Nachhaltigkeit und Verankerung des Rechtsstaatlichkeitsprinzips in der Verfassung von Bosnien-Herzegowina. Es ist lohnenswert, für
diese Ziele zu kämpfen.
({5})
Meine Damen und Herren, die Konflikte in und um
Bosnien-Herzegowina dürfen nicht vergessen gemacht
werden; sie dürfen auch nicht verdrängt werden. Das ist
ganz wichtig; denn die Verwirklichung von Frieden,
Freiheit und Sicherheit auf dem Balkan, in den Balkanstaaten, ist für Gesamteuropa von existenzieller Bedeutung. Deshalb stimmt meine Fraktion, die SPD-Bundestagsfraktion, dieser Mandatsverlängerung zu.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Beyer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wie brüchig das
gesellschaftliche Gefüge und wie aufgewühlt die Situation in Bosnien und Herzegowina zuweilen auch heute
noch ist, zeigen die Emotionen, die in diesen Wochen im
Zusammenhang mit einem Filmprojekt hochkochen. In
dem Film geht es um eine junge muslimische Frau und
um einen Serben, der diese Frau während des Bürgerkriegs im Flüchtlingslager vergewaltigt hat. Angelina
Jolie, die bekannte US-amerikanische Schauspielerin,
führt bei diesem Filmprojekt Regie. Zugleich ist sie Sonderbotschafterin des UN-Flüchtlingswerks UNHCR und
damit auch für die Opfer des bosnischen Bürgerkrieges
zuständig.
Sie sorgt mit ihrem Filmprojekt in diesen Tagen für
großen Unmut. Sie stößt vor allem bei weiblichen
Kriegsopfern mit ihrem Projekt auf Widerstand. Die
Frauen sehen sich nämlich erneut einem großen mentalen Leid ausgesetzt. Die Drehgenehmigung für das Filmprojekt in Bosnien ist derzeit annulliert, und UNHCR
beschäftigt sich mit dem Fall.
Meine Damen und Herren, warum nenne ich diesen
Fall? Das Beispiel zeigt, dass das schwierige Verhältnis
der gesellschaftlichen Gruppen in Bosnien und Herzegowina zueinander noch sehr fragil und emotional aufgewühlt ist. Das Beispiel zeigt darüber hinaus, dass Menschen, die in einem unerträglichen Maße schutzlos den
Aggressionen und der Gewalt ausgeliefert sind, über sehr
lange Zeiträume unter den traumatischen Erfahrungen zu
leiden haben. Angesichts des Mordens und des Vertreibens, des unvorstellbar großen Leids, das der Bürgerkrieg
in den Jahren zwischen 1992 und 1995 über die Menschen gebracht hat, können wir alle miteinander - außer
vielleicht Herr Gysi mit seiner linken Truppe ({0})
feststellen, dass das, womit wir die Bundeswehr seit
Dayton in Bosnien und Herzegowina beauftragt haben,
richtig und notwendig ist.
({1})
Über diesen weitgehenden Konsens in diesem Haus
freue ich mich ausdrücklich, auch wenn es - jetzt an die
Grünen gerichtet - für die Grünen vielleicht ein langer
Lernprozess gewesen sein mag.
({2})
Heute würdigen Sie in Ihrem Entschließungsantrag ausdrücklich das Engagement der Bundeswehr, und das ist
gut so.
({3})
Es war ein langer Weg dorthin, eine beachtliche Lernkurve, die Sie so gerade noch hinbekommen haben.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. - Nach dem 11. September 2001 haben Sie zunächst für den Einsatz in Afghanistan gestimmt, obwohl
Sie in der Sache dagegen waren. Das nennt man wahrscheinlich grüne Dialektik, meine Damen und Herren.
({0})
Wir werden sehen, wie weit es bei Ihnen mit der außenpolitischen Verantwortung her ist, wie ernst Ihnen dieses
Thema ist, und zwar spätestens dann, wenn wir Anfang
des kommenden Jahres hier im Hohen Hause über die
Verlängerung des ISAF-Mandats für Afghanistan zu entscheiden haben werden. Es stellt sich die Frage, ob Sie
sich dort erneut den Luxus leisten werden, drei Positionen gleichzeitig zu vertreten. Denn seinerzeit haben
35 Ihrer Kollegen sich nicht entschieden - sie konnten
oder wollten nicht -, 8 waren dafür und 21 dagegen. WoPeter Beyer
für, so frage ich, stehen Sie eigentlich? Oder sind Sie
auch in dieser Frage einfach nur dagegen?
({1})
Meine Damen und Herren, der Frieden selbst muss in
Bosnien und Herzegowina von innen heraus wachsen
- Kollege Stinner deutete es schon an -, 15 Jahre nach
Kriegsende, 15 Jahre nach dem Abkommen von Dayton,
ja und auch 15 Jahre nach den Gräueltaten von Srebrenica. Leider ist das Land nach 15 Jahren selbst noch
nicht so weit, dass es von innen heraus in Frieden wachsen kann. Bis heute konnten Hunderttausende Flüchtlinge nicht in ihre Heimatorte zurückkehren. Die Kriegszeit, die ethnischen Säuberungen - ein schlimmes Wort,
wie ich finde -, die Not in den Flüchtlingslagern: All das
ist noch immer sehr präsent.
Und hier kommt ALTHEA ins Spiel, meine sehr geehrten Damen und Herren. ALTHEA ist die bisher
größte EU-geführte Operation im Militärbereich. In diesem Rahmen nehmen unsere Soldaten eine ganze Reihe
wichtiger Aufgaben in Verantwortung wahr. Sie bündeln
vor allem die Anstrengungen für die zivil-militärische
Zusammenarbeit und führen dabei nicht zuletzt Experten
der unterschiedlichsten Disziplinen zusammen.
Das funktioniert in Bosnien und Herzegowina weitaus besser als andernorts. Gerade in dieser Woche, an
diesem Montag, hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
hier im Bundestag einen Kongress zu diesem Thema
veranstaltet, um die zivil-militärische Zusammenarbeit
auch konzeptionell voranzubringen.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, weil ALTHEA,
gemessen an der Aufgabenstellung, erfolgreich ist, weil
sich die militärische Sicherheitslage stabilisiert hat, deshalb konnte die Friedenstruppe in der Vergangenheit
schrittweise reduziert werden. Das ist auch und gerade
ein Erfolg der Europäischen Union.
Da ich von der Europäischen Union spreche, möchte
ich darauf hinweisen, dass zwei der wichtigsten außenund sicherheitspolitischen Aufgaben der Europäischen
Union die dauerhafte Stabilität auf diesem Teil unseres
Kontinents und die Integration der Staaten in die euroatlantischen Strukturen bleiben werden.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang
beobachte ich auch erfreut die mehr und mehr konstruktiv und stabilisierend wirkende Rolle Serbiens.
Die optimistische Einschätzung im vorliegenden Entschließungsantrag der Grünen, wonach Bosnien und
Herzegowina „baldmöglich“ Mitglied der Europäischen
Union werden sollen, teile ich so nicht. Für alle Kandidaten gelten die EU-Beitrittskriterien gleichermaßen.
Niemand sollte zeitlich bevorzugt werden. Einen EUBeitritt gibt es nur bei strikter, vollständiger Erfüllung
aller Kriterien, ansonsten eben nicht. Der Weg nach Europa lohnt sich für die Menschen im Land, in der Region
des Westbalkans und in Europa. In diesem Zusammenhang leistet Deutschland mit der ALTHEA-Mission einen wichtigen Beitrag.
Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich unseren Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz in diesem auch
heute noch nicht einfachen Umfeld. Sie leisten eine hervorragende Arbeit.
Ich danke Ihnen.
({3})
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile,
gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der EU-geführten Operation Atalanta“ bekannt: abgegebene Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt
487, mit Nein 68, Enthaltungen 12. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 567;
davon
ja: 487
nein: 68
enthalten: 12
Ja
CDU/CSU
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Dr. Michael Fuchs
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({11})
Nadine Schön ({12})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({13})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Daniela Raab
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({14})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({15})
Anita Schäfer ({16})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({17})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({18})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({19})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({20})
Stefanie Vogelsang
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({21})
Peter Weiß ({22})
Sabine Weiss ({23})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({24})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({25})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({26})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({27})
Hubertus Heil ({28})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Frank Hofmann ({29})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({30})
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange ({31})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({32})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Karin Roth ({33})
Michael Roth ({34})
Marlene Rupprecht
({35})
Axel Schäfer ({36})
Marianne Schieder
({37})
Werner Schieder ({38})
Ulla Schmidt ({39})
Silvia Schmidt ({40})
Carsten Schneider ({41})
Swen Schulz ({42})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({43})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({44})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({45})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({46})
Michael Link ({47})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({48})
Dr. Martin Neumann
({49})
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({50})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({51})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({52})
Volker Beck ({53})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Priska Hinz ({54})
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Katja Keul
Tom Koenigs
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({55})
Kerstin Müller ({56})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({57})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
SPD
Waltraud Wolff
({58})
DIE LINKE
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Wolfgang Nešković
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({59})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Sven-Christian Kindler
Lisa Paus
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({60})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Katja Dörner
Uwe Kekeritz
Memet Kilic
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Agnes Krumwiede
Agnes Malczak
Beate Müller-Gemmeke
Dorothea Steiner
Dr. Harald Terpe
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Nun setzen wir die Debatte fort. Das Wort hat die
Kollegin Inge Höger für die Fraktion Die Linke.
({61})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit
15 Jahren ist die Bundeswehr in Bosnien-Herzegowina
präsent. Worum geht es bei diesem Einsatz im armen
Vorhof der Europäischen Union? Geht es um Sicherheit
und Frieden? Geht es um den Aufbau eines lebensfähigen, demokratischen Rechtsstaates?
Die EU-Mission ALTHEA ist ein Musterbeispiel dafür, dass Sicherheit und Frieden mit Militär nicht zu erreichen sind.
({0})
Die beiden Landesteile Bosnien und Herzegowina sind
weiterhin tief gespalten. Die Korruption blüht. 30 Prozent der Menschen leben in extremer Armut. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent. Insbesondere junge
Menschen sind von Erwerbslosigkeit betroffen. Das Einzige, was ALTHEA in Bosnien-Herzegowina teilweise
gelingt, ist die Privatisierung öffentlichen Eigentums.
Aber das Verkaufen öffentlichen Eigentums ist kein Rezept zur Bekämpfung von Armut, weder in Bosnien
noch anderswo.
({1})
Die neoliberale europäische Agenda
({2})
löst die Probleme in Bosnien-Herzegowina nicht, sie
verschärft sie noch.
({3})
Menschen in wirtschaftlicher Not sind häufig anfälliger
für nationalistische Feindbilder und Hetze gegen vermeintlich andere. Das gilt für die Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina ebenso wie für die Menschen hier bei
uns in Deutschland.
Die Linke distanziert sich von jeder Form des Rassismus und Nationalismus.
({4})
Solange die Armut in Bosnien-Herzegowina nicht nachhaltig bekämpft wird, bleibt eine Abkehr vom Nationalismus eine Illusion. In vielen osteuropäischen EU-Ländern bringt die gepriesene Freiheit des Kapitals mehr
soziale Spaltung und mehr Armut hervor, und sie führt
leider auch zur Stärkung nationalistischer, rechtsextremistischer Parteien.
({5})
Das ist der Pfad, auf den die ALTHEA-Mission Bosnien-Herzegowina führen will. Die Linke spricht sich
vehement gegen diese gefährliche Entwicklung aus.
({6})
Durch die Präsenz der EU-Truppen wird das Land militärisch, politisch und auch wirtschaftlich kontrolliert.
Der Balkan ist ein Übungsfeld für die neue EU-Militärund Interessenpolitik. Es ist nicht zu übersehen, dass
hierbei alte Traditionen kolonialer Herrschaft wieder
aufleben,
({7})
und die Bundeswehr ist aktiv daran beteiligt.
({8})
Die geschichtliche Kontinuität wird in Bosnien-Herzegowina besonders deutlich mit Blick auf den größten
Truppensteller, auf Österreich. Dieses Land schickt wie
Deutschland nicht nur Soldatinnen und Soldaten, sondern auch Investoren. Seit Jahren konkurriert die Telekom Austria mit der serbischen Telekom um Marktanteile in Bosnien. Nicht nur die Menschen in diesem Land
fühlen sich dabei an die Zeiten des Habsburger Reichs
erinnert.
({9})
Einerseits wird Bosnien-Herzegowina durch die EU
gezwungen, bei Gesundheit und Sozialem massiv zu
sparen. Andererseits wird das Land zu hohen Militärausgaben ermutigt. Um eng mit der NATO kooperieren und
irgendwann NATO-Mitglied werden zu können, gibt das
Land viel zu viel Geld für Militär aus. 4,5 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts fließen in Ausbildung und Ausrüstung des Militärs. Das ist im Verhältnis dreimal so
viel wie in Deutschland. Mit diesem Geld könnten Arbeitsplätze geschaffen, könnte Armut überwunden werden.
({10})
Die Bundeswehr ist in Bosnien-Herzegowina nicht
Teil der Lösung; sie ist Teil des Problems.
({11})
Die 7,7 Millionen Euro, die dieser Einsatz kostet, wären
in sozialen bosnischen Projekten viel besser aufgehoben.
({12})
Die Linke lehnt dieses Mandat ab.
({13})
Das Wort hat die Kollegin Marieluise Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manchmal möchte man sagen: Denn sie wissen nicht,
was sie tun - oder sprechen.
({0})
Ich habe einen Reisevorschlag für Sie, Frau Höger: Fahren Sie doch einfach einmal nach Bosnien. Sprechen Sie
mit den Menschen, und fragen Sie sie einmal, wie ihr
Blick auf diesen Einsatz ist.
({1})
Bevor man den Vorgaben der CDU-Parteizentrale
folgt - jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Beyer - sollte
man einmal in der Geschichte zurückschauen:
({2})
Es war in den Jahren 1990 bis 1994 die kleine Gruppe
der Bürgerrechtler, die hier als Ost-Grüne die GrünenFraktion vertreten haben - wir waren ja auf die Reservebank getreten - und die ganz früh und durchaus nicht
unbedingt zum Gefallen von uns allen in der grünen Partei Position für Bosnien bezogen haben. Damals wurde
in den Debatten die Situation auf dem Balkan verdrängt
- das geht an Sie, Herr Stinner; denn Sie waren damals
mit der CDU an der Regierung - und immer und immer
wieder ein friedenserhaltendes Mandat beschlossen. In
Bosnien gab es aber keinen Frieden mehr zu erhalten,
sondern dort tobte der offene Krieg, und 100 000 Menschen fielen der Verdrängung und dem Selbstbetrug, den
diese Regierung mitgemacht hat, zum Opfer. Hier kommen Sie nicht so einfach davon. Sie sollten sich hüten, in
dieser Frage auf dem hohen Ross zu sitzen. Es steht Ihnen einfach nicht zu.
({3})
Weil es innenpolitisch so stark drängt, dass wir endlich einmal vermelden können: „Jetzt ist ein Mandat
vollständig abgeschlossen“, Herr Stinner, sollten wir
eine Situation, die durchaus prekär und fragil ist, jedoch
nicht schönreden.
Der bosnische Präsident Izetbegovic hat dem Friedensimplementierungsrat vor zwei Tagen sehr deutlich gesagt, in welche Situation sein Land mit Dayton versetzt
wurde: Bei der Verankerung des Entitätenvetos in der als
Übergangsverfassung gedachten Verfassung wurde nämlich noch davon ausgegangen, dass dann, wenn die Waffen schweigen, gemeinsam an einem Staat gebastelt
wird. Jetzt stellt sich die Situation aber ganz anderes dar:
Die eine Entität ist zu einer serbisch-homogenen Entität
geworden, was so nie intendiert war; denn es ist immer
von der Rückkehr der Flüchtlinge ausgegangen worden.
Diese Annahmen sind aber nicht eingetreten. Nun gibt es
eine homogene Republik Srpska und damit ein geteiltes
Land, in dem ein Präsident - bisher Ministerpräsident über ein Entitätenveto immer und immer wieder destruktiv tätig werden kann und den Schlüssel in der Hand hat,
zu verhindern, dass es zu einem funktionsfähigen Gesamtstaat kommt. Dafür trägt die westliche Staatengemeinschaft, die mit Herrn Milosevic und mit Herrn
Karadzic die Bosnier zu dem Vertrag von Dayton gezwungen hat, die Verantwortung.
Wir können uns jetzt nicht vom Acker schleichen,
Herr Stinner, nur weil Sie in Ihren Wahlkreisen sagen
wollen: Das Mandat ist abgeschlossen, auf dem Balkan
ist alles in Ordnung.
({4})
Solange diese Instabilität besteht, muss in Bosnien eine
Feuerwehr vorgehalten werden. Dies gilt, bis es dort
endlich - hoffentlich unter tätiger Mitwirkung des deutschen Außenministers und der europäischen Staaten; wobei ich mir nur wünschen kann, dass diese vereint agieren
und nicht getrennt, wie es bisher der Fall war - eine Verfassung gibt, die diesen Staat lebensfähig macht und den
derzeitigen fragilen Zustand beendet. Wir alle wissen
doch, dass es nur einen Funken braucht, damit es wieder
zu kleineren Konflikten und Krisen kommt, von denen
wir nicht wissen, welche Dynamik sie entwickeln könnten.
Wir müssen also Verantwortung übernehmen, und,
wenn man so will, die Polizei muss vor Ort bleiben, bis
dieses Land eine Verfassung hat, die das friedliche Leben im Staat für alle gemeinsam möglich macht. Das ist
unser Vorschlag.
Schönen Dank.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir Politiker über die Verlängerung eines
Mandats diskutieren, was den weiteren Einsatz deutscher Soldatinnen und Soldaten im Ausland zur Folge
hat, denken die meisten an den Einsatz in Afghanistan.
Leider erleben unsere Streitkräfte in den anderen Ein8634
satzgebieten nicht dieselbe Aufmerksamkeit. Aber auch
sie erledigen ihre Aufgabe hervorragend, oft unter
schwierigen Rahmenbedingungen. Das bedarf ausdrücklich unserer Anerkennung. Ich möchte deshalb die Gelegenheit nutzen, allen Soldatinnen und Soldaten, aber
auch den Polizeikräften, den zivilen Helfern und den Diplomaten im Einsatz für ihren Mut und für ihr Engagement zu danken und ihnen weiterhin Gottes Segen zu
wünschen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Sevim Dağdelen
[DIE LINKE]: Das Einzige, was Ihnen einfällt!
Zu Ihnen, Frau Höger: Die Qualität Ihres Beitrages ist
selbst mit der vorweihnachtlich gebotenen Milde kaum
zu ertragen.
({0})
Schon letztes Jahr in der Debatte über diese Mandatsverlängerung wurden Sie, die Linken, aufgefordert, sich mit
der Geschichte dieser Region, beispielsweise mit dem
Überfall auf die Stadt Vukovar und dem Genozid in Srebrenica zu beschäftigen. Nach Ihrer Einlassung heute,
die uns einmal mehr fassungslos machen muss, wird
deutlich, dass Sie sich weigern, der Geschichte ins Gesicht zu sehen. Wenn ich noch den Blick auf den Tagesspiegel von gestern werfen darf: Gegenüber dieser Zeitung hat sich Ihre Partei nicht einmal davor gescheut,
deutsche Soldaten als Mörder zu bezeichnen. Auch das
finde ich - ich drücke es milde aus - reichlich unangebracht.
({1})
Der westliche Balkan und insbesondere Bosnien und
Herzegowina gehören zu den wichtigsten Betätigungsfeldern der deutschen Diplomatie. Die Region grenzt in
allen Himmelsrichtungen an die EU und hat die EU-Perspektive zudem von uns und unseren Partnern fest zugesagt bekommen. Seit April dieses Jahres nimmt Bosnien
und Herzegowina am Membership Action Plan der
NATO teil. Deutschland hat hohes Interesse daran, dass
die Region mit bi- und multilateraler Hilfe langfristig
und nachhaltig stabilisiert wird, damit sich Zukunftsperspektiven, Wohlstand und Demokratie weiter entwickeln
können. Das ist die Voraussetzung dafür, dass ethnische
Auseinandersetzungen irgendwann hoffentlich für immer der Vergangenheit angehören können.
Die Stabilisierung dieser Region liegt aber auch in
unserem ureigenen deutschen Interesse. Deshalb müssen
wir den Staaten des Westbalkans eine Beitrittsperspektive zur EU geben. Langfristiger Frieden, Stabilität und
Wohlstand sorgen nicht zuletzt dafür, dass es für den internationalen Terrorismus keinen Nährboden in Europa
geben kann. Deutschland war und ist auf dem Balkan ein
wichtiger, verantwortungsvoller und vor allem zuverlässiger Akteur, dem alle Seiten Vertrauen entgegenbringen. Damit das auch in Zukunft so bleibt, müssen wir
dieses Mandat verlängern.
Es ist in der letzten Woche an dieser Stelle, unter anderem vom Kollegen Mißfelder, schon vorgetragen worden: Die Politik in Bosnien und Herzegowina ist vielfach
blockiert. Aus unserer Sicht gibt es zu viel Stagnation
und zu wenig Fortschritt. Die Wahlen in Bosnien und
Herzegowina sind nun fast zwei Monate her. Die Regierungsbildung ist in vollem Gange. Wichtigstes Ziel muss
dabei sein, dass sich die Akteure auf einen breiten Konsens für den europäischen Weg einigen.
({2})
Die neue Regierung muss dann schleunigst die längst
überfälligen Verfassungsreformen angehen. Hier bitte
ich vehement darum, Partikularinteressen hinten anzustellen und die Reformen endlich eigenverantwortlich zu
einem guten Ende zu bringen. Diesen Beitrag erwarten
wir vonseiten Bosniens und Herzegowinas ausdrücklich.
ALTHEA hat dafür gesorgt, dass Bosnien und Herzegowina heutzutage militärisch so gut wie befriedet ist.
Die Lage, die ich dort bei meinem ersten Besuch 2003
vorfand, hat sich seither drastisch verbessert. Doch der
Prozess muss weitergehen und langfristig abgesichert
werden. Deshalb halte ich die beabsichtigte schrittweise
Umwandlung ALTHEAS von einer exekutiven in eine
Ausbildungsmission unter entsprechendem Rückzug aus
der Fläche und vorsichtiger Reduzierung der Mannstärke
in den nächsten Monaten grundsätzlich für richtig. Bosnien und Herzegowina braucht für eine chancenreiche
Zukunft dringend weitere Erfolge. Mit einer Mandatsverlängerung werden wir auch künftig dazu beitragen,
dass das Land diese Erfolge realisieren kann.
Kolleginnen und Kollegen, Bosnien-Herzegowina ist
auch ein Beispiel dafür, wie sich die EU seit Mitte der
90er-Jahre verändert hat. Die EU, damals noch die EG,
stand dem Ausbruch des Bosnien-Krieges noch weitgehend hilflos gegenüber. Ihr fehlten die Foren zur Abstimmung; ihr fehlten auch die entsprechenden außen- und sicherheitspolitischen Instrumente. Heute ist ALTHEA als
einzige Operation gemäß Berlin-Plus-Vereinbarung, unter EU-Führung und mit Rückgriff auf NATO-Fähigkeiten aktiv. Sie hat damit auch Vorbildcharakter. Deshalb
sollte Deutschland durch seine Beteiligung an der Operation, wie von der Regierung vorgeschlagen, weiterhin
konkret mitwirken.
In diesem Sinne bitte ich Sie noch einmal um die Verlängerung des Mandats und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
EU-geführten Operation ALTHEA. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4049, den Antrag der Bundesregierung auf
Drucksache 17/3692 anzunehmen. Über diese Be-
schlussempfehlung stimmen wir nun namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze an den Urnen einzunehmen.
Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der
Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Sind noch Kolleginnen oder Kollegen im Saal, die
ihre Stimmkarte nicht abgegeben haben? - Das ist nicht
der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Das Ergeb-
nis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege-
ben.1)
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/4068. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Wer enthält
sich? - Für den Entschließungsantrag haben gestimmt
die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen. Dagegen haben gestimmt die Koalitionsfraktionen, die SPD-Fraktion und die Fraktion Die
Linke. Enthaltungen gab es keine.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
sowie der Resolutionen 1368 ({1}) und 1373
({2}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
- Drucksachen 17/3690, 17/4050 Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rainer Stinner
Dr. Frithjof Schmidt
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/4057 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler
1) Ergebnis Seite 8636 D
Über die Beschlussempfehlung werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Joachim Spatz für die FDP-Fraktion das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir haben bei den letzten beiden Mandatsdebatten eine breite Mehrheit der - ich sage es einmal so vernünftigen Kräfte dieses Hauses erleben dürfen. Leider zeichnet sich bei diesem Mandat etwas ab,
({0})
was es eigentlich nicht geben sollte, nämlich, dass, an
Formalien aufgehängt, SPD und Grüne angekündigt haben, diesem Mandat nicht zuzustimmen.
Da rentiert sich schon ein Blick auf die rechtliche
Grundlage. Es wurde ja argumentiert, dass mit immer
weiterer zeitlicher Entfernung der terroristischen Angriffe auf New York und Washington im Jahr 2001 die
Legitimation immer schwächer würde. Dazu kann man
nur sagen: Es mag vielleicht eine Argumentationslinie
geben, anhand derer man rechtlich in diese Richtung argumentiert, aber wie bei vielen juristischen Fragen ist
doch auch hier zu klären, wer letztendlich entscheidet,
was gilt. Dabei muss man schon zur Kenntnis nehmen,
dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auch in
diesem Jahr, am 13. Oktober, seine Meinung geäußert
und festgestellt hat, dass die rechtliche Grundlage weiterhin gilt. Ich denke, das ist das entscheidende Gremium bei diesen Fragen.
({1})
Im Übrigen darf darauf hingewiesen werden, dass
sich auch die NATO auf ihrer jüngsten Konferenz in Lissabon ausweislich des Schlussdokumentes unwidersprochen zu diesem Einsatz bekannt hat. Das heißt, zu argumentieren, es gebe keine rechtlichen Grundlagen mehr,
ist nicht einschlägig.
Nichtsdestoweniger sagen wir Ihnen zu, dass wir genauso wie bei OEF daran arbeiten werden, dass dieses
Mandat eine andere Struktur erhält, und zwar aus politischen Gründen, weil zwar nicht rechtlich, aber natürlich
politisch zur Kenntnis zu nehmen ist, dass 9/11 schon einige Zeit her ist. Deshalb werden wir versuchen, dieses
Mandat in ein Standing Defense Program zu überführen.
Die Standing NATO Maritime Groups, die im Mittelmeer operieren, können dafür die Basis sein. Genauso
wie wir das bei OEF eingehalten haben, werden wir das
- davon können Sie ausgehen - auch hier einhalten.
Kollege Groschek, ich finde es schon ein bisschen
mutig, der Regierung vorzuwerfen: Na ja, beim letzten
Mal habt ihr noch ein Jahr für OEF beantragt und es
schon nach einem halben Jahr auslaufen lassen. - Meine
Damen und Herren, ich finde es bemerkenswert und lobenswert, dass man nicht das ganze Jahr gebraucht hat,
um die entsprechenden Maßnahmen umzusetzen, sondern es schneller geschafft hat.
Eines ist doch auch klar: Wir machen das nicht im Alleingang. Als verlässliche Partner innerhalb der NATO
sind wir natürlich gehalten, das in großer Übereinstimmung mit den NATO-Partnern zu machen. Wenn in diesem Jahr beim Summit in Lissabon nicht andere wesentliche Dinge zu diskutieren gewesen wären, sodass die
Rechtsform von Active Endeavour nicht in den absoluten Fokus der Diskussion gerückt werden konnte, wäre
uns das vielleicht schon dieses Mal gelungen. Trauen Sie
es der Regierung ruhig zu - wir tun das jedenfalls -, dass
die entsprechende Überführung in eine ständige Einsatzmission umgesetzt wird, aber eben in großer Übereinstimmung mit den NATO-Partnern.
({2})
So kann man das machen, und so sollten wir das machen.
({3})
Was den Inhalt der Mission angeht, ist im Übrigen
schon festzustellen: Auch das Mittelmeer als eine der
Hauptadern des internationalen Verkehrs - des Seeverkehrs natürlich -, ist einer der Hauptangriffspunkte terroristischer Kräfte. Nur dadurch, dass dort noch nichts
passiert ist, wird natürlich in überhaupt keiner Weise begründet, dass unsere deutsche Marine durch ihre Präsenz
nicht auch einen entsprechenden Beitrag dazu geleistet
hat.
Weil die Mandatsobergrenze von 700 Soldatinnen
und Soldaten kritisiert worden ist, sei einmal darauf hingewiesen, dass wir noch im Mai dieses Jahres 578 Soldaten für die entsprechenden Schiffseinheiten, die dort
eben präsent waren, gebraucht haben. Diese Obergrenze
ist also keinesfalls Teil eines Vorratsbeschlusses, sondern der jetzigen Situation angemessen. Wir wollen
selbstverständlich keine Ausweitung, aber die angemessene und notwendige Obergrenze wollen wir beibehalten.
Zu den Aufgaben: Wenn Sie sich genau ansehen, welche Aufgaben die Bundeswehr innerhalb des Mandats
wahrnimmt, dann sehen Sie, dass diese nicht, wie Sie
apostrophiert haben, einfach nur aus OEF abgeschrieben
wurden. Vielmehr hat die Bundeswehr dort die Aufgabe,
angemessen zu überwachen, Präsenz zu zeigen und ähnliche defensive Dinge zu tun, was eben nichts mit den
Tätigkeiten im Zusammenhang von OEF zu tun hat.
In diesem Sinne wünsche ich mir, dass Sie die Argumente, die Sie das letzte Mal vorgebracht haben, nicht
als Vorwand benutzen - diesem Vorwurf sollten Sie sich
nicht aussetzen -, um sich hier aus der Gemeinschaft derer, die es eigentlich für vernünftig halten, zu verabschieden. Nutzen Sie diesen billigen Vorwand nicht, sondern überlegen Sie noch einmal, ob Sie dem Mandat vor
dem Hintergrund der Aussagen, die ich gemacht habe,
nicht doch zustimmen können.
({4})
Danke schön.
({5})
Ich gebe Ihnen zunächst das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zum Antrag der Bundesregierung auf Drucksache 17/3692: „Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der EU-geführten Operation ‚ALTHEA‘“, bekannt: abgegebene
Stimmen 562. Mit Ja haben gestimmt 498, mit Nein 58.
Es gab 6 Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 562;
davon
ja: 498
nein: 58
enthalten: 6
Ja
CDU/CSU
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Dr. Michael Fuchs
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Peter Götz
Ute Granold
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Nadine Schön ({11})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({12})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Daniela Raab
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({13})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({14})
Anita Schäfer ({15})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({16})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({23})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({24})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({25})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({26})
Hubertus Heil ({27})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Frank Hofmann ({28})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({29})
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Christian Lange ({30})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({31})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Sönke Rix
René Röspel
Karin Roth ({32})
Michael Roth ({33})
Marlene Rupprecht
({34})
Axel Schäfer ({35})
Marianne Schieder
({36})
Werner Schieder ({37})
Ulla Schmidt ({38})
Silvia Schmidt ({39})
Carsten Schneider ({40})
Swen Schulz ({41})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({42})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({43})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({44})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({45})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({46})
Michael Link ({47})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({48})
Dr. Martin Neumann
({49})
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({50})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({51})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({52})
Volker Beck ({53})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({54})
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({55})
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({56})
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({57})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
DIE LINKE
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dagğelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Wolfgang Nešković
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({58})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
Enthalten
SPD
Petra Hinz ({59})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Winfried Hermann
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Jetzt erteile ich dem Kollegen Dr. Rolf Mützenich für
die SPD-Fraktion das Wort.
({60})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Um es vorab klarzustellen: Unter bestimmten
Umständen kann es richtig sein, im Sinne von Aufklärung, Überwachung und Kontrolle im Mittelmer militärisch präsent zu sein. Das war vor dem 11. September
2001 so gewesen, und das wird auch in Zukunft so sein.
Nur, Herr Spatz, genau das ist das Problem: Sie führen diesem Mandat, dieser Aufgabe das Motiv eines
Antiterrorkampfes zu, der im Grunde genommen überhaupt nicht das hergibt, was Sie letztendlich mit diesem
Mandat - ich erwähne beispielsweise die Einheiten, die
Sie zur Verfügung stellen - bezwecken. Damit schaffen
Sie hier ein neues Mandat, Herr Außenminister. Aus
meiner Sicht hätten Sie versuchen sollen, vorher mit der
Opposition darüber zu reden, wie dieses ausgestaltet und
begründet werden könnte. Ich erinnere an die Diskussion, die der Deutsche Bundestag hier vor einigen Jahren
geführt hat. Herr Spatz hat dagegen versucht, konkrete
Aussagen zur Begründung zu umschiffen. Somit muss
ich Ihnen sagen, Herr Bundesaußenminister: Das war
kein gutes Gesellenstück der Bundesregierung. Denn Sie
haben ein neues Mandat geschaffen, und Sie haben die
Opposition wissentlich von der Möglichkeit, an dieser
Mandatierung mitzuwirken, ausgeschlossen.
({0})
Der Widerspruch wird ja schon daran deutlich, dass
Sie für dieses Mandat - und darauf haben Sie im Grunde
genommen gerade auch hingewiesen - offensichtlich gar
nicht die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen.
Sie von der FDP haben jedoch, als wir vor einigen Jahren das Parlamentsbeteiligungsgesetz diskutiert haben,
stets Mandatsklarheit und Mandatswahrheit gefordert.
Beides ist bei diesem Mandat aber nicht gegeben. Sie eröffnen damit eine Diskussion über das Mandat. Das ist
der große Fehler, den die Bundesregierung heute hier zu
verantworten hat.
({1})
Ich glaube, es ist doch ganz offensichtlich, dass die
rechtliche Ableitung fragwürdig ist; es wird ja das wieder aufgenommen, was Sie bei OEF - aus meiner Sicht
zu Recht - kritisiert haben. Der Kollege Hoyer hat im
Jahre 2007, als wir hier im Deutschen Bundestag darüber diskutiert haben, zum Beispiel gesagt: Wir müssen
aufpassen, dass wir in den Mandaten nicht immer das
Selbstverteidigungsrecht anführen. Denn damit machen
wir es wertlos.
({2})
Genau dieses Argument haben Sie aber in die Debatte
eingeführt, und das ist auch einer der Gründe, warum wir
diesem Mandat nicht zustimmen können.
({3})
Ich glaube, das ist sehr realistisch, und ich finde, die Koalitionskoalitionen tragen die Verantwortung dafür, dass
dieses Problem im Rahmen der Debatte, insbesondere
auch gestern im Ausschuss, nicht gelöst worden ist.
Daher muss ich Ihnen sagen: Das ist keine politische
Logik. Denn auf der einen Seite sagen Sie, dass dieses
Selbstverteidigungsrecht, dieser Bündnisfall nicht mehr
für OEF gilt. Auf der anderen Seite bringen Sie es aber
für das neue Mandat OAE in die Debatte wieder ein. Das
halte ich wirklich für leichtfertig. Das ist keine gute Arbeit, die die Bundesregierung hier gezeigt hat.
({4})
Gestern haben wir im Ausschuss - das war, glaube
ich, auch für Sie sehr überraschend, Herr Bundesaußenminister - eine sehr lange Debatte über dieses Mandat
geführt. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie diese Debatte mit uns geführt haben. Es hat mich aber gewundert,
dass Sie plötzlich die Resolution 1943 des Sicherheitsrats wieder so massiv in die Debatte eingeführt haben.
Sie findet sich in Ihrem Antrag sozusagen nur als Randnotiz auf Seite 3 ganz unten, und plötzlich wird sie zur
Legitimationsgrundlage. Sie verschweigen aber, dass die
Resolution des Sicherheitsrates ausdrücklich das ISAFMandat in Afghanistan unterstützt; OEF hat auch einen
afghanischen Teil. Dass Sie diese Unklarheit auch heute
noch in der Debatte zulassen, ist, finde ich, ein großer
Missgriff, was diesem Mandat überhaupt nicht gerecht
wird.
({5})
Kommen wir zu den Aktivitäten. Das haben Sie uns
gestern sehr eindrücklich vor Augen geführt: Seit 2004
ist zwischen dem Mandat für OEF damals und diesem
Mandat, das Sie sozusagen als neues Mandat erfunden
haben, keine Aktivität mehr erfolgt. Sie haben keine Einsätze mehr durchgeführt. Das, was Sie gemacht haben,
waren eher Transitfahrten. Wenn Sie in die Straße von
Gibraltar eingefahren sind, dann haben Sie das Mandat
sozusagen umgewidmet.
Aus der Unterrichtung des Parlaments geht hervor,
dass die 16 Aktionen in letzter Zeit eben nicht mit deutscher Beteiligung erfolgt sind. Insofern können Sie Ihre
Begründung nicht im Deutschen Bundestag vertreten.
Ich finde, Sie haben wissentlich sowohl das Völkerrecht
gedehnt als auch das Parlament nicht mit der notwendigen Mandatswahrheit und -klarheit informiert, wie es
notwendig gewesen wäre.
Kollege Spatz, Sie haben gesagt, es sei kein Problem,
dass ein Personaleinsatz von 700 Soldatinnen und Soldaten gefordert wird; denn es seien schon früher insgesamt
500 eingesetzt worden. Ich finde, so kann man keine
Politik machen. Sie können nicht einfach sagen: OEF
passt nicht mehr. Damals hat die Personalstärke bei beiden Mandaten zusammen 700 betragen, und plötzlich
werden für die Operation Active Endeavour alleine
700 Soldatinnen und Soldaten für notwendig gehalten.
Ich finde es sehr willkürlich, wie Sie dieses Vorgehen in
Ihrem Mandat beschreiben.
Ich glaube, Sie haben einfach nur abgeschrieben. Sie
haben sich keine Mühe gemacht, länger über das Mandat
nachzudenken, und Sie haben die anderen Bundestagsfraktionen, die Sie eigentlich gerne dabei haben wollen,
nicht ausreichend mit einbezogen.
({6})
Für die FDP-Fraktion sehen Sie jetzt einen möglichen
Ausweg darin, demnächst wieder den NATO-Hut aufzusetzen. Warum haben Sie das nicht sofort gemacht?
Dann müssten Sie aber hier sagen, dass Sie es nicht geschafft haben bzw. dass Sie diese Debatte geführt haben,
aber dass Ihnen niemand gefolgt ist. Zur Wahrheit und
Klarheit gehört auch, zuzugeben, dass Sie nicht nur kein
gutes Gesellenstück abgeliefert haben, sondern dass Sie
sich möglicherweise auch in den NATO-Gremien politisch nicht durchgesetzt haben. Ich finde, darüber müssten Sie dem Deutschen Bundestag genauso Rechenschaft
ablegen, wie es auch im Hinblick auf das Völkerrecht
notwendig ist.
({7})
Angesichts der Vielzahl von Unklarheiten und Widersprüchen in dem Mandat und angesichts der mangelnden
völkerrechtlichen Grundlagen müssen wir als SPD-Fraktion dieses Mandat ablehnen. Wir tun das aus Überzeugung und haben das gestern im Auswärtigen Ausschuss
ausführlich begründet.
Herr Bundesaußenminister, ich kann Sie mit Blick auf
zukünftige Mandate nur nachdrücklich darum bitten, die
Opposition früher in diese Mandate einzubinden und mit
uns darüber zu reden, damit Sie den Konsens, den Sie
angeblich mit dem gesamten Deutschen Bundestag erzielen wollen, möglicherweise auch für weitere Mandate
erreichen.
Ganz herzlichen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Götzer
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Man muss vielleicht erst einmal ein paar Punkte
sachlich klarstellen, was dieses Thema angeht. Die Operation Active Endeavour stellt den gemeinsamen Beitrag
des NATO-Bündnisses als Reaktion auf terroristische
Angriffe dar. OAE erfolgt völkerrechtlich auf der Grundlage des Art. 51 der VN-Charta, der das naturgegebene
Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung gegen einen Angriff anerkennt.
Der VN-Sicherheitsrat stellte mit Resolution vom
12. September 2001 fest, dass terroristische Anschläge
wie die vom 11. September 2001 eine Bedrohung des
Weltfriedens und einen Angriff auf die internationale Sicherheit darstellen.
Da der Angriff vom 11. September 2001 von außerhalb der USA erfolgt ist, trat der Bündnisfall nach Art. 5
NATO-Vertrag ein. Daraus resultiert bekanntlich eine
Bündnisverpflichtung der übrigen Bündnispartner. Dieser Verpflichtung dürfen wir uns nicht entziehen.
Dass der Angriff auf die internationale Sicherheit
nicht mit den Anschlägen vom 11. September 2001 beendet war, erleben wir bis heute in trauriger Realität. Besonders deutlich wird uns dies in diesen Tagen angesichts der konkreten Terrorwarnungen bei uns in
Deutschland vor Augen geführt.
Die fortbestehende globale und zeitlich nicht eingrenzbare Bedrohung durch den internationalen Terrorismus erfordert auch weiterhin entsprechende militärische Vorkehrungen. Vor diesem Hintergrund und
angesichts des Charakters der global agierenden Terroristen ist unsere Beteiligung an OAE nach wie vor ein
wichtiger Beitrag zur nationalen Sicherheitsvorsorge
und zur Bündnisverteidigung.
({0})
National fanden sich die Beteiligungen an der Operation Active Endeavour und an der Operation Enduring
Freedom bisher in einem gemeinsamen Bundestagsmandat. Da einerseits die deutsche Beteiligung an OEF beendet wurde, wir andererseits aber eine Fortsetzung des bereits mandatierten OAE-Einsatzes für notwendig halten,
ist nunmehr ein eigenständiges Mandat zu OAE erforderlich. Bei dem vorliegenden und heute zur Abstimmung stehenden Antrag handelt es sich somit um die
Fortschreibung des erstmals im Jahr 2003 erteilten Bundestagsmandats zu OAE.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Rahmenbedingungen der terroristischen Bedrohung und deren Bekämpfung haben sich seit der erstmaligen Verlängerung
im Jahr 2003 nicht grundlegend geändert. Deshalb ist
der Antrag auf Verlängerung von OAE ausreichend und
auch richtig begründet.
Die OAE hat zum Ziel, einen Beitrag dazu zu leisten,
Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen
zu nehmen und vor Gericht zu stellen. Um dies zu ermöglichen, muss Präsenz auf See gezeigt werden. Es
müssen Aufklärung, Überwachung und Lagebilderstellung auf und über See stattfinden sowie ein intensiver
Austausch und Abgleich gewonnener Lagebildinformationen mit weiteren Akteuren im Rahmen des Auftrags
erfolgen. Außerdem ist eine Kontrolle des Seeverkehrs
erforderlich. Dies alles beschreibt sehr genau, worum es
bei der Operation geht.
OAE sieht des Weiteren im Falle einer Lageverschärfung den Schutz ausgewählter Schiffe und Einrichtungen
sowie gegebenenfalls das direkte Vorgehen gegen Terroristen vor. Die deutschen Streitkräfte leisten ihren Beitrag im Rahmen der Lagebilderstellung und nehmen im
Bedarfsfall auch Schutzaufgaben wahr.
Auch nach der Abtrennung der Operation Active Endeavour von der Operation Enduring Freedom sieht der
Aktionsplan nach wie vor exekutive Befugnisse sowie
die Durchsetzung mit militärischer Gewalt vor. Deshalb
stellt die Operation einen bewaffneten Einsatz im Sinne
des Parlamentsbeteiligungsgesetzes dar. Aus diesem
Grunde haben wir heute darüber abzustimmen.
In der jüngsten Vergangenheit konnten Angriffe gegen den Luftverkehr vereitelt werden, da der Luftverkehr einer lückenlosen Überwachung unterliegt. Für den
Bereich des Seeverkehrs im Mittelmeerraum existiert ein
solches Überwachungssystem bisher nicht. Der Kollege
Schwartze hat schon zu Recht ausgeführt, dass der Seeverkehr durch die enorme Menge des Transportraums
und die verhältnismäßig ungeschützten Zugangsmöglichkeiten ein erhebliches Potenzial für terroristische Bedrohung bietet. Das Mittelmeer ist darüber hinaus als
maritimes Tor zwischen Europa, Afrika und Asien für
Deutschland als größte Exportnation von enormer Bedeutung. Außerdem besteht die Gefahr, dass das Mittelmeer als Nachschubverbindung für Terroristen genutzt
wird.
Das alles sind Gründe, die für eine Fortsetzung dieser
Operation sprechen. Dass das Mittelmeer - dieses wird
immer gern als Gegenargument angeführt - bisher nicht
Schauplatz terroristischer Aktivitäten war, spricht nicht
gegen die Richtigkeit von OAE, sondern vielmehr dafür,
dass die Operation erfolgreich ist.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zukünftig wird
allerdings zu prüfen sein, ob die Gewinnung von Informationen in der Region auch mit nichtmilitärischen Mitteln erfolgen kann und die abschreckende Präsenz durch
Kräfte anderer Organisationen gewährleistet werden
kann. Wäre dies der Fall, könnte die Aufrechterhaltung
eines spezifischen Antiterrormandats entbehrlich werden. Im Rahmen einer sich ändernden Sicherheitsstruktur könnte die Bündnisverteidigung im Mittelmeer in einen sogenannten Standing Defense Plan überführt
werden. Überlegungen hierzu und somit auch zu einer
Beendigung der OAE-Mission werden bekanntlich derzeit in der NATO angestellt.
Wesentlich für einen solchen Plan ist aber eine ausreichende Informationsüberlegenheit, die den Grad der Bedrohung kalkulierbar macht. Bis es so weit ist, ist die
Operation Active Endeavour unverzichtbar.
({1})
Deshalb werden wir dem Antrag zustimmen. Ich appelliere an die Opposition, dies auch zu tun.
Vielen Dank.
({2})
Für die Fraktion Die Linke spricht der Kollege Stefan
Liebich.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Vor einem Jahr durfte ich hier in diesem Hause meine
erste Rede halten. Damals ging es um die Operation
Enduring Freedom, einen sogenannten Antiterroreinsatz,
der mit der Operation Active Endeavour verbunden ist.
Über die Fortsetzung dieser Mission stimmen wir heute
ab. Es war damals nicht nur meine erste Rede, sondern
darüber hinaus das erste Mal, dass SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und meine Fraktion, Die Linke, gemeinsam einen Antrag der Bundesregierung, Bundeswehrsoldaten
ins Ausland zu entsenden, abgelehnt haben.
({0})
Damals wie heute ist klar, dass unsere Gründe dafür
sehr unterschiedlich sind. - Der Kollege Nouripour gibt
sich gerade große Mühe, darauf hinzuweisen. - Ja, unsere Gründe dafür sind sehr unterschiedlich; das ist Fakt.
Leider hat es nicht gereicht. CDU/CSU und FDP haben
sich durchgesetzt und erneut ein Mandat verlängert.
Aber unsere unterschiedlichen Argumente sind nicht
ohne Wirkung geblieben. Eine weitere Verlängerung des
OEF-Einsatzes hat die Bundesregierung erst gar nicht
beantragt. Er ist nicht fortgesetzt worden. Damit ist die
Beteiligung Deutschlands an dem durch die von Gerhard
Schröder gestellte Vertrauensfrage herbeigeführten Antiterroreinsatz zu Ende. Das ist doch eine gute Nachricht.
({1})
Man muss sagen: Dieser Einsatz ist fast zu Ende.
Denn wir stimmen nun über die Fortsetzung der damit
verbundenen Operation Active Endeavour ab. Die gleichen Argumente, die gegen OEF gegolten haben, gelten
auch gegen den Bundeswehreinsatz im Mittelmeer. Der
Kollege Mützenich hat bereits darauf hingewiesen, dass
das Argument des Bündnisfalls hier nicht zieht. Ich
finde, wer A sagt, muss auch B sagen und sollte diesen
Einsatz beenden.
({2})
Nun sind für den aufmerksamen Zuhörer durchaus
Unterschiede bei den Koalitionsfraktionen herauszuhören. Das war im Ausschuss noch ein wenig deutlicher.
Der Kollege Stinner hat im Prinzip argumentiert, dass
dieses Mandat unnütz ist. Der Außenminister selbst
würde lieber heute als morgen dieses Mandat beenden.
Wenn das schon bei Ihnen so ist, dann können Sie von
uns, der Opposition, doch nicht im Ernst verlangen, einer Fortsetzung des Mandats zuzustimmen.
({3})
Ich möchte auch in der Sache argumentieren. Wir finden, dass es weiterhin nicht richtig ist, eine Blankovollmacht für den Einsatz von Soldaten wegen eines Terroranschlags von vor neun Jahren zu erteilen. Wir sind
weiterhin der Meinung, dass die Bekämpfung von Terror
bei den Ursachen beginnen muss und dass man Kriminalität mit polizeilichen Mitteln und Strafverfolgungsmitteln beantworten muss, auch international. Dass der
neunjährige Krieg gegen den Terror nicht gewonnen
wurde, erleben wir in diesen Tagen hier im abgesperrten
Reichstag wieder selbst. Deshalb wird meine Fraktion
die Fortsetzung dieses Einsatzes aus diesen Gründen
wieder ablehnen.
({4})
Der Kollege Mißfelder hatte in der ersten Lesung angekündigt, dass er Missverständnisse ausräumen und
Fragen der Opposition beantworten wird. Das ist nicht
gelungen. Die Missverständnisse und Fragen sind eher
größer geworden. Der Kollege Mißfelder hatte sich zudem eine breite Mehrheit für den Regierungsantrag gewünscht. Auch das ist nicht gelungen. Insofern schlage
ich zum Abschluss vor, dass Sie Konsequenzen ziehen
und dass nicht nur die Opposition, sondern auch die
CDU/CSU und die FDP den Antrag der Regierung ablehnen.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege
Liebich, herzlichen Dank dafür, dass Sie mich an etwas
erinnert haben: Ich möchte den Leuten draußen, die uns
bei einem Wetter, bei dem man nicht wirklich gerne hinausgeht, Tag und Nacht beschützen - das ist wirklich
keine angenehme Aufgabe -, herzlich danken. Ich
glaube, das tue ich im Namen aller hier im Hohen
Hause. Sie tun es für uns. Herzlichen Dank dafür.
({0})
Gegen diese Mission, bei der es um die Überwachung
im Mittelmeer geht, kann man eigentlich relativ wenig
sagen. Die NATO ist dort gemeinsam mit Russen und
Georgiern im Einsatz. Das ist eine Konstellation, die
politisch sehr spannend und zu begrüßen ist. Das Problem ist, dass Sie diese Mission komplett vermurksen.
({1})
Deutschland hat demnächst einen Sitz im VN-Sicherheitsrat. Darauf sind wir alle stolz, und darüber sind wir
glücklich.
({2})
Wir wollten schon immer einmal wissen, was Sie eigentlich damit machen. Eine Antwort wäre, dass man dafür
sorgt, eine sichere völkerrechtliche Grundlage für diese
Mission zu erarbeiten. Das ist versäumt worden. Es ist
der Hinweis auf die Resolution 1943 erfolgt. Über diese
Resolution kann man nicht wirklich streiten. Denn auf
der Basis dieser Resolution operiert ISAF, allerdings
5 000 bis 6 000 Kilometer weiter im Osten. Das ist für
unsere Fraktion der ausschlaggebende Grund, warum
wir diesem Mandatstext nicht zustimmen können.
Sie haben es vermurkst, aus zwei Operationen eine zu
machen und zu erklären, dass die Mandatsobergrenze
gesenkt werden kann. Für OEF und die Operation Active
Endeavour zusammen lag die Obergrenze bei 700 Soldaten. Jetzt ist OEF weggefallen, aber die Obergrenze ist
gleich geblieben. Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Die
Erklärung dafür von Staatssekretär Kossendey im Verteidigungsausschuss war - ich sage das jetzt mit den Worten eines Ministers - intellektuell überschaubar. Es geht
auch um die Frage der Exekutivgewalt. Ich sage noch
einmal: Wir reden hier über eine Überwachungsmission.
Alles, was ich von der Koalitionsseite jetzt gehört habe
- Sie sagen, was an der Mission richtig ist -, bezieht sich
auf Überwachungsaufgaben. Sie schreiben aber Maßnahmen in das Mandat, die dafür nicht geeignet sind.
Das ergibt keinen Sinn.
Vermurkst haben Sie es auch - das ist bereits mehrfach gesagt worden -, einen Konsens herzustellen. In der
Debatte zur ersten Lesung gab es Beiträge des Kollegen
Mißfelder, von Herrn Staatssekretär Kossendey und von
Herrn Staatsminister Hoyer, in denen die Herstellung eines Konsenses angedeutet wurde. Gespräche gab es allerdings keine. Es gab in den Ausschüssen nur eine Debatte, in der wir Forderungen gestellt haben und in der
sich die Koalition aber keinen Millimeter bewegt hat.
Kabarettistisch wird es, wenn man sich diesen Mandatstext anschaut. In dem Text steht - das muss man sich
einmal vorstellen -, dass wir an der Marinemission teilnehmen, um Ausbildungslager der Terroristen zu vernichten.
({3})
Ich bin versucht, den Innenminister zu fragen, warum er
uns bisher verschwiegen hat, dass es Ausbildungslager
der al-Qaida gibt, die sich auf dem Grund des Mittelmeers befinden. Das ist völlig absurd.
({4})
Sie haben einfach den Text für das OEF-Mandat abgeschrieben und nicht darüber nachgedacht, was Sie eigentlich tun.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Spatz?
Nein, ich möchte endlich namentlich abstimmen.
({0})
Sie haben einen Text vorgelegt, den man der Öffentlichkeit nicht erklären kann. Sie haben einen Text vorgelegt, der den Soldatinnen und Soldaten keinen Gefallen
tut. Sie haben einen Text vorgelegt, der mit dem Selbstverständnis eines Parlamentes, das tatsächlich über den
Einsatz der Parlamentsarmee entscheiden will, nichts zu
tun hat.
Die Mission ist aus meiner Sicht nicht falsch. Deshalb, Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, bitte
ich Sie: Überlegen Sie doch einmal, ob Sie nicht der eigenen Regierung sagen sollten: Setzt euch auf euren Hosenboden und schreibt einen Mandatstext, der tatsächlich etwas mit der Mission zu tun hat und der vor allem
eine völkerrechtliche Grundlage hat.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Spatz das
Wort.
({0})
Getretener Quark wird breit, nicht stark, Herr Kollege
Nouripour. Auch wenn die allgemeinen Aufgaben so
sind, wie Sie es sagen, sollten Sie dennoch nicht verschweigen, dass die konkreten Aufgaben der Bundeswehr nicht dem entsprechen, wovon Sie reden. Im Antrag ist nämlich von militärischer Präsenz auf See,
Aufklärung und Überwachung, Lagebildherstellung,
Kontrolle des Seeverkehrs, temporärer Führung der
Operation, Lufttransport zur Unterstützung, Nothilfe und
Eigensicherung die Rede. Sie können uns doch nicht
ernsthaft das vorwerfen, was dem allgemeinen Auftrag
zuzurechnen ist und womit die Deutschen nichts zu tun
haben.
({0})
Herr Kollege Nouripour, Sie haben das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Kollege Spatz, Sie
wissen, ich bin ein großer Bewunderer Ihrer poetischen
Künste. Herzlichen Glückwunsch! Von Ihnen möchte ich
gern noch etwas lernen. Was Sie als Parlamentarier aber
auch können sollten, ist lesen. Denn im Antrag heißt es:
Die Operation Active Endeavour hat weiterhin zum
Ziel, einen Beitrag dazu zu leisten, Führungs- und
Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten.
Ich sage noch einmal: Ich bitte den Innenminister, uns zu
erklären, ob unsere U-Boote am Meeresgrund tatsächlich Terrorausbildungslager der al-Qaida suchen.
({0})
Das ist einfach abstrus.
({1})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Jürgen Hardt für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Nouripour, Sie haben es eben selbst vorgelesen:
({0})
Wenn es terroristische Stationen am Meeresgrund des
Mittelmeeres gäbe, können Sie sicher sein, dass die deutschen Minenabwehrkräfte und die deutschen U-Boote
diese finden würden.
Es geht darum, dass die Deutschen einen Beitrag dazu
leisten, das Lagebild zu vervollständigen. Nur so bleibt
uns das Mittelmeer als sicheres und friedliches Meer für
Handel, das es für uns Europäer und für die Nordafrikaner seit 4 000 Jahren ist, erhalten. Diesen Beitrag werden
wir Deutsche selbstverständlich leisten.
Bereits in der letzten Woche haben wir hier sowie
auch in den zuständigen Ausschüssen über den Antrag
diskutiert. Die CDU/CSU-Fraktion wird dem Antrag zustimmen. Er ist personell, räumlich und auftragsmäßig
angemessen ausgestattet. Das gilt auch für das Völkerrecht. Ich füge hinzu: Herr Kollege Mützenich, es geht
relativ weit, wenn Sie von einer mangelnden völkerrechtlichen Grundlage sprechen. Mit einer solchen Formulierung muss man sehr vorsichtig sein. Eine mangelhafte rechtliche Grundlage ist als völkerrechtswidrig zu
verstehen. Diesen Vorwurf werden Sie wohl kaum erheben wollen. Ansonsten lade ich Sie herzlich ein, vor das
Bundesverfassungsgericht zu gehen und dies prüfen zu
lassen. Sie werden dann eine Antwort bekommen, die
Ihnen nicht gefallen wird.
({1})
Der Auftrag des Mandates ist klar definiert. Es geht
darum, den internationalen Terrorismus mit angemessenen Mitteln zu bekämpfen. Wer, wenn nicht wir Europäer, ist dafür zuständig, dies im Mittelmeer zu leisten.
Wir sollten das nicht den Amerikanern überlassen. Die
Tatsache, dass im Mittelmeer derzeit keine akute und
sichtbare terroristische Bedrohung besteht, ist kein Beleg dafür, dass der Einsatz überflüssig ist. Im Gegenteil:
Wollen Sie etwa warten, bis die ersten Terroristen einen
Gastanker gekapert haben und mit diesem nach Haifa,
Marseille oder Neapel fahren? In einem solchen Fall
wäre das Geschrei nämlich groß. Ich bin der Meinung,
dass wir uns auf die bewährten Instrumente der Abschreckung und der Militärpräsenz verlassen sollten. Ich
denke, in diesem Bereich ist das der richtige Weg.
Herr Nouripour, die Mandatsobergrenze ist intellektuell überschaubar. Für Sie rechne ich es noch einmal vor:
({2})
Die Beteiligung der Deutschen Marine an einem NATOEinsatzverband mit einer Fregatte und einem Versorger
erfordert rund 250 Soldaten. Operieren gleichzeitig drei
deutsche Einheiten im Rahmen eines Minenabwehrverbands, so sind weitere 150 Soldaten erforderlich. Wenn
Sie dann noch mit AWACS Luftaufklärung betreiben
und noch ein Schiff von Wilhelmshaven in den Indischen Ozean schicken, kommen Sie ziemlich genau auf
700 Soldaten. Deswegen ist die Mandatsobergrenze völlig angemessen.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Nouripour?
Wenn er es immer noch nicht verstanden hat, dann
bitte.
({0})
Bitte.
Ich mache es kurz, damit wir endlich zur Abstimmung kommen können.
({0})
Herr Kollege Hardt, ist Ihnen bekannt, dass der Einsatztruppenversorger auch unabhängig vom Mandat im Mittelmeer operiert?
Ich selbst habe an Einsätzen von Marineverbänden im
Mittelmeer teilgenommen, auf einer deutschen Fregatte.
Die hatte damals 200 Mann Besatzung. Die Schiffe sind
heute größer, die Besatzung besteht immer noch aus
200 Mann. Dabei ist in der Regel ein Betriebsstofftransporter oder ein ähnliches Fahrzeug, das mit 25 bis 30,
vielleicht auch 40 oder 50 Mann besetzt ist. Das sind die
250 Mann, von denen ich gesprochen habe. Herr
Nouripour, fahren Sie einfach mal mit! Machen Sie eine
kleine Reserveübung!
({0})
Ich möchte noch ganz kurz das Wort an die SPD richten. Ich sehe in der Nichtzustimmung zu dem Mandat einen Teil der asymmetrischen Absetzbewegung der SPD
von den internationalen Aufgaben der Bundesrepublik
Deutschland und der Bundeswehr.
({1})
Die laufenden Mandate werden mit fadenscheinigen Argumenten untergraben, in diesem Fall sogar abgelehnt.
Den Kunduz-Untersuchungsausschuss haben Sie
mittlerweile zu einem Symbol des Misstrauens gegenüber den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz gemacht.
({2})
Seit über einem Jahr führen wir dort endlos lange und
unsinnige Vernehmungen durch. Die Dinge sind für uns
längst klar. Im Grunde müssten wir die Sache jetzt zügig
beenden.
Als wir am vergangenen Dienstag die sechs Aufklärungstornados, die über fast vier Jahre in Afghanistan
wertvolle Arbeit für die ISAF geleistet haben, zusammen mit dem Bundesverteidigungsminister in Jagel wieder in Deutschland begrüßt haben, war kein einziger Abgeordneter der Grünen, der SPD oder der Linken
anwesend.
({3})
- Das kann ich Ihnen sagen. Die Abgeordneten haben
die Tornados dorthin geschickt, und deswegen war es
gut, dass wir gemeinsam mit dem Minister in Jagel gewesen sind und sie begrüßt haben, als sie zurück in
Deutschland waren.
({4})
Ich glaube, dass in diesem Land für eine dritte Neinsager-Partei - so gibt sich die SPD im Augenblick - kein
Platz ist. Ich bin ziemlich fest davon überzeugt, dass die
Bürgerinnen und Bürger von der SPD eine verantwortungsvolle Außen- und Verteidigungspolitik im Stile von
Willy Brandt, Helmut Schmidt, Hans Apel und Schorsch
Leber erwarten und nicht das, was im Augenblick hier
geboten wird.
({5})
Herr Kollege Hardt, der Herr Arnold möchte gern
eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie die?
({0})
- Also keine Zwischenfrage.
Ich komme zum Schluss. Die CDU/CSU wird dem
Antrag zustimmen. Jeder ist herzlich eingeladen, das
auch zu tun - im Interesse der Soldatinnen und Soldaten,
die dort den Einsatz leisten.
Danke schön.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Arnold das
Wort.
({0})
Da gibt es überhaupt nichts zu lachen. Was wir hier
erlebt haben, ist die Aufkündigung des eigentlich vorhandenen Grundkonsenses in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik,
({0})
und das ist für uns ein sehr ernstes Thema. Herr Kollege,
ich begründe das in zwei Punkten:
Erstens. Sie werfen Parlamentariern vor, dass sie
nicht die Tornado-Piloten in Empfang nehmen. Tatsache
ist: Sie haben sie deshalb nicht in Empfang genommen,
weil sie an diesem Dienstag ihre parlamentarischen
Pflichten hier im Deutschen Bundestag zu erfüllen hatten.
({1})
Es stellt sich doch eine ganz andere Frage, nämlich: Will
diese Regierung, dass Parlamentarier an solchen Veranstaltungen in der Breite teilnehmen? Wenn ja, dann muss
sie Termine finden, die nicht mit unserem Geschäft hier
kollidieren. Dann sind wir dabei. Wir lassen uns von Ihnen überhaupt nichts nachsagen. Wir haben unsere Anerkennung für Soldaten an vielen symbolischen Stellen
immer wieder, auch was die Personen angeht, deutlich
gemacht. Was Sie sagen, ist völlig inakzeptabel.
({2})
Zweitens. Sie sagen, Sozialdemokraten verabschiedeten sich von ihrer Verantwortung.
({3})
Das ist falsch. Wenn die Regierung will, dass eine Oppositionspartei sich der Verantwortung stellt und gemäß
dem Grundkonsens in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik handelt - wir haben immer gesagt, dass wir
das tun; Sie merken an der Seriosität unserer Debatten
im Verteidigungsausschuss, dass sich das auch im Alltag
widerspiegelt -, wenn die Regierung dies also bewahren
will, dann lautet die Anforderung, die auch heute wieder
formuliert wurde, dass die Regierung im Vorfeld von
Mandatsentscheidungen den Dialog mit der Opposition
sucht. Das ist wirklich notwendig für den Grundkonsens.
Um es anders zu sagen: Hätte die Regierung diesen
Gesprächsfaden geknüpft, dann hätte sie kein vom Text
her so schlechtes Mandat vorgelegt. Sie wissen doch
selbst, dass die Formulierung des Mandats mies und
schludrig ist. Wir hätten der Regierung geholfen, daraus
etwas Vernünftiges zu machen, und am Ende hätten wir
eine breite Zustimmung erhalten.
({4})
Herr Kollege Hardt, bitte.
Herr Kollege Arnold, ich möchte die Sache nicht unnötig verlängern; sonst bekomme ich Ärger mit Herrn
Nouripour, der schon seit 15 Minuten abstimmen will.
Ich stelle fest: Die Einwände gegen den Mandatstext
halte ich für vorgeschoben.
Es geht Ihnen darum, ein Signal zu setzen, dass Sie
bei der Sache nicht mehr dabei sind. Sie erhoffen sich
davon einen politischen Vorteil. Das werden wir Ihnen
nicht durchgehen lassen.
({0})
Zweitens. Die Verteidigungspolitiker der CDU/CSU und
der FDP haben ihre Arbeitsgruppensitzung eben am
Dienstagabend nach den Fraktionssitzungen abgehalten,
damit sie am Dienstagmorgen dabei sein konnten. Ich
fand das keine unzumutbare oder sehr komplizierte Umstellung des normalen Ablaufplans.
({1})
Wenn Sie allerdings mit Ihrer Wortmeldung deutlich machen wollen, dass Sie in Zukunft auf dem Weg der Besserung sind, was das Verhältnis zwischen SPD und Bundeswehr angeht, bin ich im Interesse der Soldaten froh
darüber.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung des Einsatzes
bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung
der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe
gegen die USA, Operation Active Endeavour im Mittel-
meer.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/4050, den Antrag der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/3690 anzunehmen. Über
diese Beschlussempfehlung stimmen wir namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind an allen Ur-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
nen die Plätze besetzt? - Das ist der Fall. Dann eröffne
ich die Abstimmung.
Sind noch Kolleginnen oder Kollegen im Saal, die
ihre Stimmkarte nicht abgegeben haben? - Das ist nicht
der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, auszuzählen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben.1)
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung des Verbraucherschutzes bei
Vertragsabschlüssen im Internet
- Drucksache 17/2409 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/3588 Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Marianne Schieder ({1})
Halina Wawzyniak
Interfraktionell wurde vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Damit sind Sie einverstanden. Es sind die Reden folgen-
der Kolleginnen und Kollegen: Marco Wanderwitz,
Mechthild Heil, Marianne Schieder, Elvira Drobinski-
Weiß, Stephan Thomae, Dr. Erik Schweickert, Caren
Lay und Ingrid Hönlinger.2)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/3588, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/2409 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
Den Frieden befördern - Politische Gefangene
in Israel freilassen
- Drucksache 17/3545 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind
Sie, wie ich sehe, einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
das Wort die Kollegin Christine Buchholz für die Fraktion Die Linke.
({2})
1) Ergebnis Seite 8648 D
2) Anlage 8
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frieden
in Nahost kann es nur geben, wenn die politische Betätigung der Palästinenserinnen und Palästinenser nicht weiter eingeschränkt wird.
({0})
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation
Addameer befanden sich am 30. September dieses Jahres 6 180 Palästinenser aus politischen Gründen in israelischer Haft. Unter diesen politischen Gefangenen befinden sich 212 Palästinenser in sogenannter Administrativhaft. Diese Gefangenen bleiben ohne Anklage und
ohne Recht auf ein Gerichtsverfahren im Gefängnis. Sie
werden aufgrund angeblicher geheimer Informationen
festgehalten. Das israelische Militär kann palästinensische Zivilistinnen und Zivilisten ohne Begründung für
sechs Monate einsperren; die Gefangennahme kann kurz
vor Ablauf der Frist beliebig oft verlängert werden.
Einer der Betroffenen ist der 37-jährige Reda Khaled.
Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern. Er arbeitet
für das UN-Hilfswerk UNRWA in einem Flüchtlingslager im Westjordanland. Reda Khaled wird seit dem
19. Dezember 2008 ohne Gerichtsverfahren oder Anklage festgehalten. Die Vereinten Nationen haben Israel
zuletzt am 29. Juli 2010 für seine Praxis der Administrativhaft kritisiert, und zwar zu Recht.
({1})
In den letzten Jahren sind vermehrt Aktivisten, die gewaltfrei gegen die Besatzung und speziell gegen den Bau
der Mauer durch ihre Dörfer protestiert haben, verhaftet
worden, zum Beispiel Ibrahim Amireh aus dem Dorf
Ni’lin. Er ist Gründer und Vorsitzender des lokalen Protestkomitees. Er wurde für schuldig befunden, sich in einer militärischen Sperrzone aufgehalten zu haben. Die
von der Armee verhängte Sperrzone beginnt direkt außerhalb des Dorfes und schließt die Olivenhaine mit ein,
von deren Ertrag die Menschen leben.
({2})
Die Bewohner dürfen nichts ernten, nicht ihre Bäume
pflegen. Die Proteste bestehen in wöchentlichen friedlichen Prozessionen der Dorfbewohner zu ihren Bäumen.
Ibrahim Amireh wurde im unterirdischen Trakt eines
israelischen Militärgefängnisses eingesperrt und dort geschlagen. Dann wurde er in ein Freiluftlager in der
Wüste verlegt. Dort wird es tagsüber unerträglich heiß,
nachts unerträglich kalt. Seine Familie muss Geld sammeln, damit er dort Wasser und Nahrung kaufen kann.
Die Armee verweigert ihm Medikamente zur Behandlung seines Herzleidens. Ibrahim Amireh ist nur einer
von über 160 Menschen, die die Armee seit 2008 allein
in diesem Dorf verhaftet hat.
Die Hohe Vertreterin der Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Catherine Ashton, wies kürzlich darauf hin,
dass die Verhaftung politischer Aktivisten dazu diene,
Palästinenser von ihrem legitimen Recht auf Protest abzuhalten.
Die Linke fordert die Freilassung der politischen Gefangenen in Israel, die Aufhebung der militärischen Sondergerichtsbarkeit und die Abschaffung der Administrativhaft.
({3})
Die Linke fordert die israelische Regierung auf, die
Menschenrechte der Gefangenen bis zu ihrer Freilassung
zu respektieren. Das gilt insbesondere für die 691 Gefangenen aus dem Gazastreifen, denen seit Juni 2007 jeglicher Familienbesuch verweigert wird.
({4})
Ich bitte Sie, die Abgeordneten der anderen Fraktionen, unserem Antrag zuzustimmen, um ein Zeichen für
die Wahrung der Menschenrechte zu setzen und damit
einen Beitrag zu Frieden und Gerechtigkeit in Nahost zu
leisten.
({5})
Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Philipp Mißfelder.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Kollegin Buchholz, Ihr Antrag
fügt sich in den Rahmen einer Debatte ein, die wir erst
kürzlich hier erlebt haben, nämlich in die um die Freilassung von Gilad Schalit. Gilad Schalit ist ein junger israelischer Soldat, der im Zuge des Gaza-Konfliktes entführt
worden ist, dessen Eltern diese Woche vom Bundespräsidenten Christian Wulff besucht worden sind und dessen Schicksal in der israelischen Gesellschaft mit großem Bangen verfolgt wird.
Ich erwähne das deshalb, weil in der Debatte damals
Ihr Fraktionsvorsitzender hier theatralisch gesagt hat, er
plädiere für die bedingungslose Freilassung von Gilad
Schalit.
({0})
Ich habe den Eindruck, dass das in Ihrer Fraktion nicht
ganz bedingungslos abgelaufen ist
({1})
und dass Sie deshalb diesen eigenen Antrag eingebracht
haben. Denn ich glaube, dass Sie einen Kuhhandel innerhalb Ihrer Fraktion gemacht haben,
({2})
dass Sie nämlich für die Freilassung Gilad Schalits stimmen, um dann die Stimmen in Ihrer eigenen Fraktion für
diesen Antrag zu bekommen, den Sie quasi aus dem
Nichts eingebracht haben. Anders kann ich mir nicht erklären, warum das Problem aus Ihrer Sicht so dringend
geworden ist. Es kann nur eine interne Kompensation für
den überraschenden Schritt gewesen sein, den Sie beim
letzten Mal gegangen sind.
({3})
Sie haben in Ihrer Rede so getan, als seien alle 6 180
Gefangenen nach der gängigen Definition von politischen Gefangenen, wie wir sie hier auch in anderen
Menschenrechtsdiskussionen anwenden, auch wirklich
politische Gefangene. Das ist nicht so. Von den 6 180
Gefangenen sind viele Terroristen, und von vielen geht
eine akute Gefahr für Israel und für das Existenzrecht Israels aus.
({4})
Sie haben nicht unrecht, dass in Israel in manchen
Fällen nicht nach unseren rechtlichen Maßstäben vorgegangen wird. Das ist uns allen bewusst. Im Übrigen
spielt das in unseren bilateralen Kontakten zu Israel immer eine sehr große Rolle. Aber hier im Deutschen Bundestag so zu tun, als würde es sich bei einem Großteil
der Gefangenen um solche handeln, denen dort - wahrscheinlich sogar auch noch vorsätzlich - Unrecht getan
wird, halte ich doch für falsch. Denn an dieser Stelle
geht es um die Schutzinteressen Israels,
({5})
die durch die Administrativhaft auch durchaus gewährleistet werden. Nun darf man sich doch nicht einbilden,
den rechtlichen Rahmen, den wir uns für Israel und den
gesamten Nahen Osten, im Übrigen auch für die Länder
um Israel herum, wünschen und den wir hier in Deutschland haben, automatisch eins zu eins auf die israelische
Situation übertragen zu können. Wir kämpfen dafür, dass
die Menschenrechte in Israel gewährleistet werden.
({6})
Wir werben dafür. In Gesprächen, in denen wir mit Entscheidungsträgern Israels zusammen sind, ist dies ein
Punkt, der - durchaus auch an unangenehmer Stelle - angesprochen wird. Aber es ist trotzdem so, dass Sie auch
die existenzielle Bedrohung Israels zur Kenntnis nehmen
müssen. Davon haben Sie nichts, aber auch rein gar nichts
hier in Ihrer Rede gesagt.
({7})
Das ist auch der Rahmen, in dem sich diese Diskussion
abspielt.
Vergleichen Sie doch einmal unsere Gesellschaft mit
der israelischen. Es gibt durchaus soziologische Möglichkeiten, das gut miteinander zu vergleichen. Sie müssen sich einmal fragen, wie die Menschenrechtssituation
in unserem Land wäre, wenn Sie diese Gefährdungssituation, wie sie Israel tagtäglich hat, in Deutschland hätten.
({8})
Deshalb werbe ich zwar dafür, die Maßstäbe, die wir
hier bei uns haben, auch für Israel anzulegen - selbstverständlich -,
({9})
aber eine Vorverurteilung Israels und auch Pauschalisierungen lasse ich an dieser Stelle nicht zu, sondern weise
sie entschieden zurück.
({10})
Zum Nahostkonflikt haben Sie nichts gesagt. Wir
wünschen uns Frieden. Dazu gehört einerseits, dass alle
Seiten zu Gesprächen und zu Zugeständnissen bereit
sind,
({11})
und andererseits ein genereller Verzicht auf Terror und
Gewalt. Dazu ist die Hamas, der ein großer Teil der Gefangenen angehört bzw. nahesteht, nicht bereit. Die Hamas ist nicht bereit, der Gewalt abzuschwören, und die
Hamas ist nicht bereit, das Existenzrecht Israels auch nur
im Ansatz anzuerkennen.
({12})
- Nein, das ist kein Grund, Menschenrechte zu ignorieren. Ich weiß nicht, ob Sie persönlich schon einmal in Israel waren, aber ich weiß, dass zumindest Kollegen von
Ihnen schon dort waren. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis,
dass in Israel sehr engagiert über dieses Thema diskutiert
wird. Es ist aber nicht Aufgabe des Deutschen Bundestages, Israel hier im Rahmen einer Debatte an den Pranger zu stellen und so zu tun, als sei die israelische
Gesellschaft per se gegen die Verwirklichung von Menschenrechten. Das ist nicht so.
({13})
Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten. Selbst
wenn sie an dieser Stelle Defizite hat,
({14})
die angesprochen gehören, weigere ich mich, eine Pauschalverurteilung vorzunehmen.
Sie arbeiten mit Doppelstandards. Die Kritikpunkte,
die Sie hier gerade vorgebracht haben, haben in Ihrer
Rede keine Rolle gespielt. Im Zusammenhang mit der
Situation im Gazastreifen oder der Terrorherrschaft der
Hamas haben Sie kein Sterbenswörtchen dazu gesagt.
Deshalb werfe ich Ihnen vor, dass Sie mit doppelten
Standards messen. Einerseits fordern Sie Israel auf, die
Menschenrechte anzuerkennen, andererseits sind diejenigen, für die Sie hier eintreten, kein Garant dafür, dass
die Menschenrechte, auch die der Israelis, gewährleistet
werden. Zum Teil sind das Terroristen. Davon haben Sie
nichts gesagt. Deshalb fordere ich Sie auf, aus dieser Debatte zu lernen, auf Ihrem Weg umzukehren und sich den
wirklich entscheidenden Fragen im Nahen Osten zuzuwenden.
Dazu gehört am Ende auch, dass Gefangene freigelassen werden. Ich bin aber nicht dafür, sich hier für die bedingungslose Freilassung von potenziellen Terroristen
oder sogar von Terroristen einzusetzen. Das würde auch
unser Rechtsstaat im Zweifel nicht hergeben. Deshalb
bin ich an dieser Stelle entschieden dagegen.
({15})
Wenn es um den Nahostkonflikt geht, möchte ich
nochmals - ich habe das schon kurz angeschnitten - die
Reise unseres Bundespräsidenten erwähnen. Ich glaube,
er hat in dieser Woche ein wichtiges Zeichen gesetzt, indem er mit sehr ruhigen Tönen dafür gesorgt hat, dass
die Menschen aufeinander zugehen. Allein durch die Art
und Weise, wie er sich dort eingebracht hat, hat er ein
Zeichen gesetzt. Ohne eine große Rede und ohne große
Verlautbarungen vorher ist er auf die Konfliktparteien
zugegangen und hat gezeigt, dass er sich für das Schicksal der Menschen interessiert, inklusive der Eltern von
Gilad Schalit. Selbst dies ist in der israelischen Gesellschaft nicht immer unumstritten und einfach. Deshalb
war es richtig, dass Christian Wulff sich mit Vertretern
aller gesellschaftlichen Gruppen getroffen hat, auch mit
Kritikern der Regierung in Israel selbst, und damit gezeigt hat, dass Deutschland Anteil am Schicksal Israels
nimmt und sich insbesondere für Israel einsetzt.
Herzlichen Dank.
({16})
Vor dem nächsten Redebeitrag möchte ich Ihnen das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische
Angriffe gegen die USA“ bekannt geben: abgegebene
Stimmen 557, Jastimmen 308, Neinstimmen 249. Enthaltungen gab es keine. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 557;
davon
ja: 308
nein: 249
Ja
CDU/CSU
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({5})
Dr. Michael Fuchs
Alexander Funk
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Peter Götz
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Nadine Schön ({11})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({12})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Christoph Poland
Daniela Raab
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({13})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({14})
Anita Schäfer ({15})
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({16})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({23})
Florian Bernschneider
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Patrick Döring
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Joachim Günther ({24})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({25})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({26})
Michael Link ({27})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({28})
Dr. Martin Neumann
({29})
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({30})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({31})
Nein
CDU/CSU
Wolfgang Börnsen
({32})
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({33})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({34})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({35})
Kerstin Griese
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({36})
Hubertus Heil ({37})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({38})
Frank Hofmann ({39})
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({40})
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange ({41})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({42})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Karin Roth ({43})
Michael Roth ({44})
Marlene Rupprecht
({45})
Axel Schäfer ({46})
Marianne Schieder
({47})
Werner Schieder ({48})
Ulla Schmidt ({49})
Silvia Schmidt ({50})
Carsten Schneider ({51})
Swen Schulz ({52})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({53})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Agnes Alpers
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Wolfgang Nešković
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({54})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({55})
Volker Beck ({56})
Cornelia Behm
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({57})
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Agnes Krumwiede
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({58})
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({59})
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({60})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nun setzen wir die Debatte fort. Der nächste Redner
ist der Kollege Dr. Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion.
({61})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat wird mit dem Antrag ein richtiges Anliegen und ein Punkt angesprochen, mit dem man sich in
demokratischen Rechtsstaaten wird auseinandersetzen
müssen und auch dürfen. Insbesondere ist es wichtig,
dass internationale Organisationen, auch die Vereinten
Nationen, das getan haben. Deswegen fordern auch wir,
die SPD-Bundestagsfraktion, dass die Genfer Konvention beachtet wird, der Zugang des Roten Kreuzes zu
den Gefängnissen gewährleistet wird und die Möglichkeiten, die den Vereinten Nationen in dieser Situation
zur Verfügung stehen, genutzt werden.
Auf der anderen Seite muss ich Ihnen sagen - ich will
versuchen, das ruhig zu tun -, dass ich glaube, dass Ihr
Antrag durchaus auch im Zusammenhang mit Ihrem Abstimmungsverhalten bezüglich der Freilassung von
Schalit steht. Das wissen Sie, und das werden Sie nicht
in Abrede stellen können. In Ihrem Antrag, in dem es um
politische Gefangene geht, zeichnen Sie ein sehr einseitiges Bild von Israel, aber auch von Palästina.
Was Nichtregierungsorganisationen, insbesondere palästinensische Nichtregierungsorganisationen, Ihnen vormachen, ist, dass beide Dinge in den Blick genommen
werden müssen. Dort gibt es zum Beispiel die palästinensische Menschenrechtsorganisation Addameer, die
sich sowohl um die in Israel einsitzenden politischen Gefangenen kümmert, aber gleichzeitig auch über die politischen Gefangenen in Palästina spricht, insbesondere
darüber, was sowohl bei der Hamas als auch bei der Fatah passiert ist, nämlich dass es dort auch politische Gefangene gibt. Wenn man schon versucht, ein solches
Thema für eine politische Debatte aufzubringen, die
sinnvoll ist und mit der versucht wird, auf beiden Seiten
Änderungen zu erreichen - das wollen Sie, das wollen
auch wir -, dann hätte man dieses Thema auch ansprechen sollen. Ich finde, an dieser Stelle haben Sie eine
Chance vertan.
Auch - hierüber sollten Sie noch einmal nachdenken;
ich weiß gar nicht, ob Sie das in Abrede stellen wollen müssen Sie anerkennen, dass Israel in der Region weiterhin ein Rechtsstaat ist. Insbesondere im Verhältnis zu Israel darf es nicht nur Schwarz-Weiß-Malerei geben.
Auch Palästinenser haben vor israelischen Gerichten
recht bekommen. Dieses Recht ist dann unter schwierigen Bedingungen durchgesetzt worden. Auch das gehört
zur Realität dazu. Wenn man sich einer so schwierigen
Debatte um die Rechtsstaatlichkeit und um die Frage des
Völkerrechts stellt, dann müssen auch diese rechtsstaatlichen Institutionen, worauf auch Palästinenser zugehen
könnten, in einer solchen Debatte angesprochen werden.
Sie wissen aus den Diskussionen, die wir im Auswärtigen Ausschuss führen, dass es ein Problem ist, wenn einem Staat die Existenz durch andere abgesprochen wird.
Es kann sogar sein, dass dieser Staat möglicherweise
Handlungen unternimmt, die wir nicht für richtig halten.
Das ist ein großes Problem, was diesen Konflikt in der
Region ausmacht. Deswegen wäre es gut, wenn wir hier
von der Schwarz-Weiß-Malerei absähen und uns den
positiven Aspekten aus den letzten Tagen stellten.
Dann möchte ich noch sagen, dass die arabische Friedensinitiative, die 2001/2002 vom saudi-arabischen König, aber auch von anderen arabischen Regierungschefs
vorgestellt worden ist, möglicherweise wieder eine Substanz in der politischen Diskussion bekommt. Viele nehmen diese arabische Friedensinitiative wieder so ernst,
wie sie es verdient, nämlich dass die arabischen Staaten
Israel Frieden in den Grenzen von 1967 garantieren. Das
ist ein wichtiger Aspekt.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass diese Debatte
sogar innerhalb der Hamas eine Rolle spielt.
({0})
Gestern hat Regierungschef Hanija gesagt, auch die Hamas würde sich einem in einer Volksabstimmung der palästinensischen Bevölkerung erlangten Votum beugen,
wenn diese Volksabstimmung das Existenzrecht Israels
zum Schluss zum Ergebnis habe. Ich finde, diese Debatten werden wir in die europäische Politik, die deutsche
Politik, die deutsche Außenpolitik im Nahen und Mittleren Osten aufnehmen müssen. Deswegen bin ich der
Bundesregierung dankbar dafür, dass sie mit anderen
Partnern innerhalb der Europäischen Union genau das
kritisiert, was von Israel immer wieder als Friedenshindernis in den Weg gestellt wird, nämlich der Siedlungsbau. Genau dieser Punkt gehört mit dazu. Dazu gehört
auch der Mut - darin unterstützen wir Sie -, dass das immer wieder angesprochen wird.
Die Reise des Bundesaußenministers in den Gazastreifen ist richtig gewesen. Dennoch werden wir nicht
umhinkommen, Frau Staatsministerin, dass Sie dem
deutschen Parlament gegenüber zumindest andeuten
müssen, was aus diesem Besuch erfolgt; denn das Problem ist doch, was die Nichtregierungsorganisationen in
ihrem gemeinsamen Bericht über die Situation im Gazastreifen berichtet haben. Die humanitäre Situation ist
weiterhin eine Katastrophe.
({1})
Deswegen muss der Boykott, muss die Blockade gegenüber dem Gazastreifen aufgehoben werden. Genau das
gehört zu einer realistischen Politik, die auch hier eine
Rolle hätte spielen müssen.
({2})
Kollege Mißfelder, der Bundespräsident hat in der Tat
die richtigen Worte gefunden. Ich finde es auch richtig,
dass er die Angehörigen von Schalit besucht hat. Ich
glaube, das war auch in unser aller Namen. Schließlich
haben wir hier im Bundestag gemeinsam einen Antrag
beschlossen, in dem die Freilassung des Soldaten Schalit
gefordert wird. Die Botschaften waren also richtig.
Wir hier im Deutschen Bundestag und, ich glaube,
insbesondere die europäischen Regierungen sind jetzt
stärker gefordert. Nach den Kongresswahlen in den USA
- die Befürchtungen sind offensichtlich Realität geworden - haben der amerikanische Präsident und die amerikanische Außenministerin nicht mehr die Unterstützung
für eine Friedensinitiative für den Nahen und den Mittleren Osten. Möglicherweise müssen sie nun von der
Europäischen Union - auch von der deutschen Außenpolitik - stärker unterstützt werden. Sie hätten die Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion und, ich glaube,
des gesamten Hauses.
Vielen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Stinner
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ohne jeden Zweifel ist die Menschenrechtssituation im
Nahen Osten für uns alle besorgniserregend. Das ist gar
keine Frage. Wir haben uns vor einigen Wochen mit dem
Teilaspekt Gaza beschäftigt. In Gaza ist die Menschenrechtssituation allenthalben unbefriedigend. Ich weise
Sie darauf hin, welche unmenschliche Politik die Hamas
im Gazastreifen fortführt. Auch das gehört zum vollständigen Bild. Hier ist von der Einhaltung der Menschenrechte vonseiten der Hamas nicht die geringste Rede.
({0})
Dort werden tagtäglich Menschenrechtsverletzungen
größeren Ausmaßes begangen.
Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, es fehlt Ihnen an Verständnis - vielleicht sind
Sie persönlich zu wenig in Israel gewesen -: Der Kern
des Denkens jedes einzelnen Israelis ist primär nur von
einem Thema, dem Thema Sicherheit, geprägt. Das ist
verständlich. Noch heute fliegen Raketen auf israelische
Häuser, und Menschen werden verletzt. Jahrelang mussten israelische Bürger fürchten, dass ihr Sitznachbar im
Bus eine Bombe am Leibe trägt.
({1})
Ich erinnere Sie an das - ich sage das jetzt einmal so,
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen - dramatische Erlebnis von Herrn Fischer, in dessen Nähe, als
er in Jerusalem war, eine Bombe hochgegangen ist.
Durch so ein Erlebnis wacht man richtig auf. Ich hatte
ein solches Erlebnis nicht, aber eine Bombe ist dort explodiert, wo ich eine Woche zuvor war. Dieses Urverständnis über die Sicherheit Israels müssen wir immer
im Sinn behalten, wenn wir über Israel richten und rechten.
({2})
Herr Kollege Stinner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?
Nein, ich möchte keine Zwischenfrage zulassen; sonst
gerne, aber zu diesem Zeitpunkt heute Abend nicht
mehr.
Es gibt, wie gesagt, problematische Menschenrechtssituationen. Diese müssen wir an diesem Urverständnis
Israels spiegeln. Ich darf Ihnen sagen, liebe Kollegin von
den Linken: Frau Groth hatte eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Die Regierung hat Ihnen, Frau
Groth, am 4. November dieses Jahres geantwortet und
erklärt, was genau sie tut und dass - das hat auch Herr
Mißfelder gesagt - wir als Bundesregierung, als deutsches Parlament sehr kritisch betrachten, was hinsichtlich der Menschenrechte dort passiert. Jawohl, wir sagen
das auch hier ganz offen: In Israel sind einige Dinge pasDr. Rainer Stinner
siert und passieren noch, die unseren hundertprozentigen
Maßstäben nicht entsprechen. Das sprechen wir deutlich
an.
Ich glaube, wir wollen und werden nicht so weit gehen, wie Sie das in Ihrem Antrag vorschlagen. In diesem
wird kursorisch die Freilassung sämtlicher politischer
Gefangener gefordert. Nun stellt sich die Frage, was
politische Gefangene eigentlich sind. Nach meinem Verständnis sind politische Gefangene solche Gefangene,
die ausschließlich aufgrund ihrer politischen Äußerungen in Haft genommen werden. Viele der Gefangenen,
um die es sich hier handelt, waren politisch aktiv, haben
aber auch andere Dinge getan, die weiß Gott über normale politische Streitigkeiten hinausgehen, zum Beispiel
das Werfen von Steinen. Das mag ja für manche Ausdruck einer bestimmten kulturellen Einstellung sein, für
mich ist es jedenfalls nicht Folklore, sondern durchaus
ein Verbrechen, das entsprechend geahndet werden
sollte.
({0})
Von daher glaube ich, dass wir uns Ihrer pauschalen
Forderung zu Recht nicht anschließen. Sehr wohl weist
die Bundesregierung, weist die Europäische Union auf
problematische Situationen hin. Man arbeitet daran. Der
Dialog wird ständig gesucht. Das wissen wir, und das
wissen auch Sie. Wir haben es Ihnen, falls Sie es noch
nicht wussten, am 4. November durch die Bundesregierung nochmals sehr deutlich bestätigen lassen.
Meine Damen und Herren, die Sicherheitslage in Teilen Israels hat sich zum Glück verbessert. Auch die Sicherheitslage in der Westbank wird Schritt für Schritt etwas besser. Dort geschieht nämlich etwas, das bei uns zu
wenig beachtet wird: Israelische und palästinensische Sicherheitsbehörden arbeiten in der Westbank vertrauensvoll - ich nehme dieses Wort bewusst in den Mund - zusammen, um dafür zu sorgen, dass keine weiteren
Bomben explodieren, keine weiteren Attentate verübt
werden etc. Das ist im Interesse Israels und, wie sich
zeigt, auch im wohlverstandenen Interesse der Palästinenser.
Die Palästinenser, jedenfalls die vernünftigen, wissen
genau, dass sie ihrem Ziel der Eigenstaatlichkeit, das wir
unterstützen, nur näher kommen können, wenn sie selbst
dafür sorgen, dass in ihren Reihen keine Verbrechen begangen und Bombenattentate verfolgt und geahndet und
die Attentäter abgeurteilt werden. Darum geht es.
Wir können Ihrem Antrag nicht zustimmen. Wir betrachten die Situation in Israel durchaus kritisch. Aber
wir wissen, dass Israel in einer Lage ist, in der sich kein
anderes Land der Welt befindet. Es steht immer noch die
Drohung im Raume, dieses Volk, das über 2 000 Jahre
geschunden wurde und gelitten hat, grundsätzlich zu
vernichten. Auf diese Sondersituation wollen wir Rücksicht nehmen.
({1})
- Das mag für Sie dramatisch klingen. Ich sage: Die Situation ist nicht so, wie ich sie gerne hätte. Wenn es Ihnen nicht nahegeht, dass die Hamas Israel mit seiner
Auslöschung bedroht, dann kann ich nur sagen: Armes
Deutschland und arme Linke!
({2})
Diese Drohung steht nach wie vor im Raum.
Wir werden diesen Prozess weiterhin kritisch begleiten, Ihren Antrag heute aber aus voller Überzeugung und
voller Inbrunst ablehnen.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Da wir heute Abend die Gelegenheit haben, über dieses
Thema zu diskutieren, will ich, bevor ich zum Antrag
der Linken komme, kurz auf die aktuellen Entwicklungen in Nahost eingehen. Herr Mützenich hat schon erwähnt: Aktuellen Tickermeldungen zufolge haben die
Palästinenser erklärt, für sie sei der Friedensprozess gestorben, weil es keine Verlängerung des Siedlungsmoratoriums gibt.
Ich will an dieser Stelle sehr deutlich sagen: Es wäre
sehr bedauerlich, wenn es tatsächlich zu einem Ende der
gerade erst begonnenen direkten Gespräche kommen
würde. Ich möchte an beide Seiten appellieren: Setzen
Sie diese Gespräche fort! Sie liegen nicht nur in Ihrem
eigenen Interesse, sondern auch im internationalen Interesse. Meine Bitte und Aufforderung an die israelische
Seite lautet: Eine Verlängerung des Siedlungsmoratoriums muss doch, zumindest solange diese Gespräche andauern, möglich sein. Alles andere wäre im Hinblick auf
den Friedensprozess wirklich hinderlich. Man muss auch
die Position der anderen Seite verstehen. Ich kann mir
nur wünschen, dass es zu einer Fortsetzung dieser Gespräche kommt.
({0})
Der Konflikt im Nahen Osten hat uns in diesem Jahr
schon öfter beschäftigt. Es ist uns im Deutschen Bundestag nicht nur gelungen, konstruktive Debatten über dieses Thema zu führen, sondern wir haben gemeinsam
auch substanzielle Beschlüsse gefasst, sowohl zur Aufhebung der Gaza-Blockade als auch zur Freilassung von
Gilad Schalit. Ich glaube - das entspricht auch den
Rückmeldungen, die wir bekommen -, damit haben wir
als Deutscher Bundestag ein starkes Zeichen gesetzt, sowohl in Richtung internationaler Gemeinschaft als auch
an die Adresse der Konfliktparteien.
Ich bedaure allerdings, dass die entsprechenden Anträge nicht von allen Fraktionen gemeinsam eingebracht
werden konnten; das will ich an dieser Stelle sagen.
Heute zum Beispiel haben wir wieder einmal über einen
interfraktionellen Antrag zur Verbesserung der Men8654
Kerstin Müller ({1})
schenrechtslage im Iran diskutiert. Ich möchte, da bald
Weihnachtspause ist, vor allen Dingen an die CDU/
CSU-Fraktion appellieren: Denken Sie doch einmal darüber nach! Es bringt nichts, die Linke pauschal unter
Quarantäne zu stellen. Es ist doch besser, eine Auseinandersetzung in der Sache zu führen und konkret zu sagen:
Dem stimmen wir zu, dem nicht. - Und wenn wir bei einem außenpolitischen Thema Übereinstimmung erzielt
haben, wäre es ein noch stärkeres Signal, wenn wir bei
entsprechenden Anträgen auch gemeinsam abstimmen
würden. Sie, meine Damen und Herren von den Linken,
haben mit Ihrem Antrag zur Lage der palästinensischen
Gefangenen in Israel ein wichtiges Thema aufgesetzt.
Auch ich meine, wir dürfen die Augen nicht davor verschließen, dass heute über 200 Personen in Israel in dieser sogenannten Administrativhaft einsitzen. Die palästinensische Menschenrechtsorganisation Addameer - Herr
Mützenich hat sie erwähnt - beziffert die Zahl auf 212
im Oktober dieses Jahres.
Administrativhaft - das kritisieren wir auch an anderer Stelle, bei anderen Ländern - heißt, eine Person kann
auf der Basis der vagen Annahme, sie stelle ein Sicherheitsrisiko dar, festgenommen und eingesperrt werden monatelang, ohne Verfahren, ohne dass Verteidiger ausreichend Informationen über den Anklagegrund erhalten.
Ich will zu dieser Frage für meine Fraktion ganz klar
sagen: Das ist mit unseren Vorstellungen von Rechtsstaat
und Menschenrechten nicht vereinbar. Ich sage auch
sehr deutlich: Das muss man kritisieren, ganz besonders,
wenn auch Minderjährige Opfer einer solchen Praxis
werden. Wir tun das; denn Menschenrechte sind unteilbar, und sie sind für alle verbindlich.
Es gibt allerdings einen Unterschied, ob diese Administrativhaft in Israel angewendet wird oder etwa in
China. In Israel haben wir es mit einer Demokratie zu
tun, und zwar mit einer sehr lebendigen, und wir haben
es mit einem gut funktionierenden Rechtsstaat zu tun,
Frau Buchholz. Deshalb meine auch ich, dass Israel solche Verfahren eigentlich nicht nötig hat. Wir jedenfalls
haben die Erwartung, dass diese rechtsstaatlichen Prinzipien auch gegenüber den Palästinensern eingehalten
werden.
({2})
Ich will aber trotzdem zu Ihrem Antrag sagen, dass
der Duktus den Eindruck erweckt, dass sie ihn quasi als
Antwort auf den Beschluss zur Befreiung von Gilad
Schalit hier als Kontrapunkt setzen. Das finde ich völlig
falsch. Denn ich finde, beide Sachen müssen für sich betrachtet werden.
({3})
- Jetzt hören Sie an der Stelle mal zu! ({4})
Ich finde auch nicht, dass wir dann, wenn wir - wie Sie
schreiben - den Frieden fördern wollen, eine aufrechnende Logik des „Auge um Auge“ zugrunde legen sollten: Nur wenn palästinensische Gefangene freigelassen
werden, bin ich auch für eine Freilassung von Gilad
Schalit.
({5})
- Doch, so liest sich Ihr Antrag.
Frau Kollegin, denken Sie an die Redezeit, bitte.
- Da steht: „Ebenso wie … fordern wir die Freilassung der palästinensischen Gefangenen.“ Das führt meiner Meinung nach nicht zum Frieden, das führt nicht
weiter. Gilad Schalit ist kein politischer Gefangener. Wir
fordern seine Freilassung unabhängig davon, ob auch
palästinensische Gefangene freigelassen werden. Deshalb werden wir uns bei Ihrem Antrag enthalten.
({0})
Letzter Redner ist nun der Kollege Michael Frieser
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gerade im Kontext des heutigen Tages mit einer
ganzen Reihe von namentlichen Abstimmungen, die mit
dem Thema „Frieden in der Welt“ und der Frage „Wie
kann unser Beitrag zu einer Befriedung aussehen?“ zu
tun hatten - niemand hier in diesem Haus hat es sich bei
den namentlichen Abstimmungen leicht gemacht -,
kommt Ihr Antrag mit dem sehr problematischen Titel
„Den Frieden befördern“ wie ein Kanonenschlag daher.
Alles andere ist leider Gottes der Fall.
Ich glaube, wir haben schon einiges gehört. Der
größte Fehler, der sich hinter diesem Antrag der Linken
verbirgt, ist sicherlich das Simplifizieren des Sachverhaltes. Es geht immer um das ganz Schräge, um den Versuch, es möglichst irgendwie zu verschleiern.
({0})
Sie scheren höchst unterschiedliche Dinge und absolut
nicht mehr zu vergleichende Einzeltaten einfach über einen - in diesem Zusammenhang leider Gottes - sehr groben Kamm. Das bedeutet am Ende, dass man, glaube
ich, niemandem mehr gerecht wird. Sie werden demjenigen, der wirklich in erster Linie aus politischen Motiven
in Israel inhaftiert wird, nicht gerecht, weil er gleichgestellt wird mit demjenigen, bei dem man, was das Existenzrecht anbetrifft, wirklich Sorge haben muss. Es werden alle über einen Kamm geschoren. Ich glaube, dass
wir anhand dieses Antrags deutlich machen können - er
ist der Beweis -, dass es gar kein wirkliches Interesse
gibt, diesen Frieden in irgendeiner Art und Weise zu befördern.
({1})
Es kommt kein Wort zum Existenzrecht des Staates
Israel vor. Es geht mit keinem Wort um Sicherheitsinteressen.
({2})
Es geht mit keinem Wort um die Tatsache, dass es auch
um die Freilassung von Menschen geht, die nicht zu vernachlässigende Straftaten mit einem vielleicht sogar terroristischen Hintergrund begangen haben. So können wir
dieses Thema sicherlich nicht angehen.
Ich glaube, dass es ein Hohn wäre, wenn wir dem Antrag mit dem Titel „Den Frieden befördern - Politische
Gefangene in Israel freilassen“ zustimmen und damit etwas beantragen würden, wodurch der Frieden in diesem
Landstrich gefährdet würde, nämlich das Freilassen von
Menschen, die am nächsten Tag wieder gegen den Staat
Israel vorgehen könnten.
({3})
Ich glaube, mit diesem Antrag befördern Sie nicht den
Frieden, sondern Sie befördern damit allenfalls die deutsche Außenpolitik ins Abseits. Das ist das Einzige, was
damit erreicht wird. Davon kann WikiLeaks nur träumen. Ich muss aber ehrlich sagen: Dass damit eine solche Katastrophe vorbereitet werden könnte, ist vielleicht
genau die Absicht, die hinter diesem Antrag steht.
({4})
Dieser Verdacht bleibt zumindest bestehen.
Wir haben in unserem Antrag zu den Ereignissen um
die Gaza-Flottille, den wir gemeinschaftlich vorbereitet
haben, darauf hingewiesen, dass es eben auch darum
geht, einen Gefangenenaustausch vorzubereiten. Auch
das ist schon angesprochen worden. Ich glaube, die israelische Regierung steht in dieser Hinsicht mehr als unter Druck.
Geradezu infam ist es natürlich, dass Sie im Andeutungsstil unterstellen - „nach Einschätzung mehrerer
Menschenrechtsorganisationen“ -, dass es zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist, und dass Sie dazu
auffordern, dass Menschenrechtsverletzungen unterbleiben sollen. Hier wird alles über einen Kamm geschoren.
Es wird quasi gesagt, Folter sei an der Tagesordnung,
und es wird suggeriert, dass man in übersteigerter Form
als Mahner auftritt. Ich glaube, auch an dieser Stelle
muss man sagen, dass Israel das einzige nach unseren
Maßstäben vorhandene rechtsstaatliche Prinzip immer
noch tatsächlich durchsetzen kann und dass es die Möglichkeit gibt, dort auch rechtsstaatlich zu arbeiten und
sich zur Wehr zu setzen;
({5})
vielleicht nicht ausreichend in jedem Fall, aber diese
Möglichkeit besteht. Davon könnten sich andere Länder,
die im Fokus stehen, wenn es um diese sicherheitstheoretische und sicherheitspolitische Problematik geht, vielleicht ein Stück abschneiden. Ich glaube aber, auch darum geht es Ihnen in Wahrheit nicht.
Ich kann an dieser Stelle am Ende dieses Tages wirklich nur dazu auffordern, dass die Linke in Deutschland
eine längst überfällige Klärung herbeiführt, und zwar
hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Staate Israel. Diese
Klärung wurde immer noch nicht geleistet. Sie haben
sich immer noch nicht von der fortwährenden Prägung
Ihrer Organisation durch den Antizionismus und den
Antisemitismus der DDR gelöst.
({6})
Von dieser Vergangenheit haben Sie sich immer noch
nicht verabschiedet.
Es ist bekannt, dass die DDR damals als einziger
Staat des Warschauer Paktes keine Beziehungen zu Israel aufgenommen hat. Man wollte sich jahrelang nicht
zur Verantwortung für die Judenvernichtung im NS-Regime bekennen.
({7})
Das muss man aufarbeiten, und es wäre Ihre Pflicht gewesen, genau das an dieser Stelle zu tun.
({8})
Broder hat schon gesagt, dass dieser Antizionismus
ein getarnter Antisemitismus ist. Es geht darum: Dieses
Schüren von Ressentiments - das müssen Sie sich vorhalten lassen - kann letztendlich auch genau in die falsche Richtung führen.
({9})
Ich glaube, es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass
Ihre Äußerungen zum Existenzrecht Israels reine Lippenbekenntnisse sind. Leider Gottes sind Sie nämlich
nicht in der Lage, das zu tun, was man eben tun müsste,
nämlich deutlich zu machen, dass man das Einhalten von
rechtsstaatlichen Prinzipien fordern kann, ohne auf der
anderen Seite antisemitische Ressentiments zu bedienen.
Denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich will deshalb deutlich machen: Vielleicht stand
hinter diesem Antrag nicht unbedingt ein antisemitischer
Gedanke.
({0})
Herr Kollege, denken Sie an die Redezeit.
Ich komme mit meinem letzten Satz zum Ende. - Vielleicht kann und soll damit aber genau das erzeugt werden. Ich kann Sie nur bitten: Werden Sie mit so etwas
nicht zum Katalysator für antisemitische Reaktionen,
egal von welcher Seite, ob von links oder von rechts.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3545 mit dem Titel „Den Frieden befördern - Politische Gefangene in Israel freilassen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit abgelehnt. Die Fraktion Die Linke hat für den Antrag gestimmt, dagegen haben die Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP gestimmt. Enthalten haben sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die SPD-Fraktion.
Wir werden jetzt eine ganze Reihe von Überweisungen und Abstimmungen vornehmen. Dabei handelt es
ich um Tagesordnungspunkte, bei denen die Reden zu
Protokoll gegeben wurden. Es wurde interfraktionell
vereinbart, dass ich die Namen der Redner nicht zu nennen brauche; diese sind dem Protokoll zu entnehmen.
({0})
Wir kommen zunächst zu den Tagesordnungspunkten
17 a und 17 b:1)
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften
- Drucksache 17/3972 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({2}), Dr. Konstantin von Notz, Birgitt
Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung der
eingetragenen Lebenspartnerschaften mit der
Ehe im Bundesbeamtengesetz und in weiteren
Gesetzen
- Drucksache 17/906 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
1) Anlage 9
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/3972 und 17/906 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:2)
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({4}), Birgitt Bender, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz von Patientinnen und Patienten bei der
genetischen Forschung in einem BiobankenGesetz sicherstellen
- Drucksache 17/3790 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Biobanken als Instrument von Wissenschaft
und Forschung ausbauen, Biobanken-Gesetz
prüfen und Missbrauch genetischer Daten und
Proben wirksam verhindern
- Drucksache 17/3868 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Die Vorlagen auf den Drucksachen 17/3790 und 17/3868
sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse überwiesen werden. - Damit sind Sie einver-
standen, wie ich sehe. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:3)
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
2) Anlage 10
3) Anlage 11
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen
- Drucksache 17/3025 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({7})
- Drucksache 17/4052 Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Ingrid Arndt-Brauer
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4052, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3025 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen und einer Enthaltung seitens der FDP-Fraktion
angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der
zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Benachrichtigungswesens in
Nachlasssachen durch Schaffung des Zentralen Testamentsregisters bei der Bundesnotarkammer
- Drucksache 17/2583 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({8})
- Drucksache 17/4063 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Stephan Thomae
Ingrid Hönlinger
Wir beraten heute abschließend über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Einrichtung eines zentralen, elektronisch geführten Testamentsregisters bei der Bundesnotarkammer. Die
Erfahrungen aus der geltenden Benachrichtigungspraxis zeigen, dass dieses System völlig veraltet und nicht
mehr zeitgemäß ist. Die Zielsetzung und das Konzept des
Gesetzentwurfs sind daher zu Recht von Anfang an allgemein begrüßt worden. Derzeit ist die Benachrichtigung in Nachlasssachen dezentral und papiergebunden
organisiert. Die Orte, an denen die erbfolgerelevanten
Urkunden verwahrt werden, sind bei rund 5 200 verschiedenen Stellen auf Karteikarten registriert. Diese
Karteikarten befinden sich, sofern der Erblasser im Inland geboren wurde, bei den Standesämtern am Geburtsort des Erblassers. In allen anderen Fällen sind die
Angaben in der sogenannten Hauptkartei beim Amtsgericht Schöneberg in Berlin registriert.
Es reicht ein Blick auf das derzeitige Verfahren, um
die offensichtlichen Mängel im Benachrichtigungswesen
zu erkennen: Zunächst wird das Standesamt des Sterbeortes, beispielsweise vom Krankenhaus oder vom Pflegeheim, über den Tod des Erblassers informiert. Das
Standesamt am Sterbeort ermittelt sodann die Stelle, bei
der die Verwahrangaben über ein Testament registriert
sein könnten, also beim Standesamt des Geburtsortes
oder beim Amtsgericht Schöneberg, und benachrichtigt
diese Stelle postalisch über den Tod des Erblassers.
Beim Standesamt des Geburtsortes bzw. beim Amtsgericht Schöneberg erfolgt als Nächstes eine manuelle
Prüfung, ob im dortigen Register irgendwelche Verwahrangaben vorhanden sind. Falls ja, wird in einem
nächsten Schritt die Stelle ermittelt, bei der das Testament aktuell verwahrt wird. Dies ist in der Regel das
Amtsgericht im Gerichtsbezirk, in dem der Verstorbene
seinen Wohnsitz hatte. Nachdem die Verwahrstelle vom
Standesamt über den Todesfall informiert wurde, informiert diese wiederum das Nachlassgericht und übersendet das Testament dorthin. Das Nachlassgericht schließlich stellt auf Grundlage des Testaments den Erben
einen Erbschein aus.
Im gesamten Verfahren nehmen dabei weder die
Nachlassgerichte noch die Standesämter die Möglichkeiten moderner Kommunikations- und Speichermedien
wahr. Man mag es kaum glauben, aber noch heute werden alle Angaben über den Verwahrort des Testaments
oder eines Erbvertrages auf Papierkarteikarten erfasst.
Bundesweit, so schätzt man, gibt es hiervon circa
15 Millionen. Neben den bereits beschriebenen komplizierten Meldewegen führen auch veraltete Verwahrdaten
und Kapazitätsgrenzen zu weiteren, nicht unerheblichen
Verzögerungen. Man kann also auf den ersten Blick erkennen, dass dieses System veraltet, langsam und fehleranfällig ist und darüber hinaus zu unnötig hohen
Verwaltungskosten führt. Kurz gesagt, das geltende Benachrichtigungswesen stellt angesichts des technischen
Fortschritts einen verwaltungstechnischen Anachronismus dar, der dringend einer Modernisierung bedarf.
An dieser Stelle setzt das neue Konzept an. Das Gesetz schafft die gesetzlichen Voraussetzungen, damit
künftig bei der Bundesnotarkammer ein elektronisch geführtes, zentrales Register eingerichtet werden kann. In
diesem sollen dann alle erbfolgerelevanten Urkunden
registriert werden. Das Register soll also, so der Plan,
die alten Karteikarten komplett ersetzen. Die Einrichtung und dauerhafte Führung des neuen Registers soll
im Wege der mittelbaren Staatsverwaltung der Bundesnotarkammer als Registerbehörde zugewiesen werden,
die der Rechtsaufsicht des Bundesjustizministeriums unterliegt.
Mit dem neuen Register soll auch das Benachrichtigungswesen deutlich vereinfacht werden: Die Standesämter werden verpflichtet, jeden Sterbefall der neuen
Registerbehörde mitzuteilen. Diese prüft sodann, ob im
zentralen Testamentsregister Verwahrangaben vorliegen
und benachrichtigt dann im Wege der automatisierten
Datenübertragung das Nachlassgericht sowie die verwahrenden Stellen über den Sterbefall und etwaige Verwahrangaben. Damit ist gewährleistet, dass das Nachlassgericht zeitnah von dem Tod und allen für das
Nachlassverfahren erforderlichen Informationen Kenntnis erlangt. Für die Erben ergibt sich somit der Vorteil,
dass ihnen künftig deutlich schneller als bisher ein Erbschein ausgestellt wird. Darüber hinaus wird das Verfahren deutlich weniger fehleranfällig.
Die Bundesnotarkammer steht jetzt vor der großen
technischen Herausforderung, zunächst alle in den Papierkarteikarten registrierten Informationen zu digitalisieren und dann in das neue, elektronische Register zu
überführen. Dies ist in der Tat keine leichte Aufgabe.
Nach den guten Erfahrungen mit dem zentralen Register
für Vorsorgevollmachten können wir aber darauf vertrauen, dass die Bundesnotarkammer auch diese technische Herausforderung meistern und das neue Register
zeitnah an den Start bringen wird. Auch die im Vorfeld
durchgeführten Machbarkeitsstudien zeigen, dass hier
gründlich und sorgfältig geplant und kalkuliert wurde.
Insbesondere mit Blick auf die Anregungen der Experten
im Rahmen eines erweiterten Berichterstattergesprächs
haben wir in den Beratungen im Rechtsausschuss noch
diverse Änderungen eingefügt. Diese sind jedoch allesamt nicht prinzipieller Natur und lassen aus guten
Gründen im Übrigen das Grundkonzept unberührt. Ich
möchte im Folgenden nur die Wichtigsten davon kurz erläutern:
Es ist davon auszugehen, dass nur in etwa 25 bis
30 Prozent der Sterbefälle eine letztwillige Verfügung
vorliegt, wovon wiederum ein Großteil eigenhändige
Testamente sind, die sich nicht in amtlicher Verwahrung
befinden. Bei einem Großteil der Meldungen an die
Nachlassgerichte dürfte es sich folglich um sogenannte
Negativmeldungen handeln, die lediglich den Inhalt haben, dass keine Verwahrangaben registriert sind. Ein
Bedarf für derartige Negativmeldungen besteht an sich
nur in jenen Bundesländern, in denen die Nachlassgerichte nach dem jeweiligen Landesrecht auch beim Fehlen einer verwahrten Verfügung die gesetzlichen Erben
von Amts wegen zur ermitteln haben, also in Bayern und
Baden-Württemberg.
Für die anderen Länder besteht hingegen kein Bedarf, dass auch in besagten Negativfällen eine obligatorische Meldung an die Nachlassgerichte ergeht, da diese
nur auf Antrag der Erben tätig werden. Die anderen
Länder sollen daher durch die geplante Rechtsverordnung, mit der die Details der Umsetzung geregelt werden sollen, die Möglichkeit erhalten, auf die Negativmeldung im Sterbefall dauerhaft zu verzichten. Der
Änderungsvorschlag enthält hierzu eine entsprechende
Konkretisierung der Ermächtigungsgrundlage für den
Erlass der Rechtsverordnung.
Intensiv haben wir uns zudem mit der Frage beschäftigt, ob die Rechtsverordnung der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Wir gehen davon aus, dass die Regelung und Ausgestaltung des Benachrichtigungswesens
nicht unerhebliche Auswirkungen auf die Landesjustizverwaltungen haben wird. Daher sollten die Bundesländer hier stets eingebunden sein. Wir haben uns vor diesem Hintergrund entschieden, dass die Verordnung
zustimmungspflichtig sein soll.
Auch zum Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts enthält die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschuss eine Ergänzung: Es wird klargestellt,
dass die Erhebung und Verwendung der Daten auf das
für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben Erforderliche beschränkt bleibt.
Auf die Regelung eines bereichsspezifischen Auskunftsanspruchs haben wir hingegen bewusst verzichtet,
da dem Erblasser ein solcher Anspruch bereits nach den
allgemeinen Vorschriften des Bundesdatenschutzes zusteht und insofern für eine solche spezielle Regelung
keine Notwendigkeit besteht. Das haben uns auch die
Experten in den Beratungen noch einmal bestätigt. Zudem bestand das Risiko, dass man mit einem solchen bereichsspezifischen Anspruch Wertungswidersprüche
zum Vorsorgeregister geschaffen hätte, für das es eine
solche spezielle Regelung nicht gibt.
Eine weitere und sicherlich auch für die Bürgerinnen
und Bürger zentrale Rolle spielte in den Beratungen die
Höhe der künftigen, von der Bundesnotarkammer für die
Registrierung zu erhebende Gebühr. Die Einrichtung
des Registers sowie die Finanzierung der laufenden
Kosten des Registrierbetriebes sollen durch eine einmalige Registrierungsgebühr in Höhe von circa 15 Euro
gedeckt sein. Das ist ein Betrag, der fair, realistisch und
angesichts der für die Bürgerinnen und Bürger spürbaren Verbesserung auch zumutbar ist.
Unabhängig davon wollen wir bei den Gebühren ein
Höchstmaß an Transparenz und damit auch eine hohe
Akzeptanz für das neue Register erreichen. Die Registerbehörde soll deshalb verpflichtet werden, die Höhe der
Gebühren regelmäßig auf ihre Angemessenheit hin zu
überprüfen, um sie gegebenenfalls anpassen zu können.
Wir erwarten, dass in Zukunft und hier insbesondere
nach erfolgter Refinanzierung der Einrichtungskosten
und Bildung einer betriebswirtschaftlich gebotenen
Rücklage die Gebühr gesenkt werden kann. Das zeigen
auch die positiven Erfahrungen beim ebenfalls von der
Bundesnotarkammer geführten Vorsorgeregister. Nach
der Inbetriebnahme konnten dort die Gebühren erheblich gesenkt werden. Wir gehen davon aus, dass das
Bundesministerium der Justiz im Rahmen seiner Rechtsaufsicht und der Prüfung der Haushaltspläne der Registerbehörde regelmäßig auch die Höhe und Angemessenheit der Gebühren überprüfen und, soweit erforderlich,
Anpassungen herbeiführen wird.
Abschließend und lediglich der Vollständigkeit halber
möchte ich noch einen anderen Punkt erwähnen, der die
Zu Protokoll gegebene Reden
Verlängerung der Hofraumverordnung um weitere fünf
Jahre zum Gegenstand hat. Die Hofraumverordnung
würde ohne eine entsprechende gesetzliche Änderung
zum 31. Dezember dieses Jahres auslaufen. Entgegen
der ursprünglichen Erwartung gibt es in den neuen Ländern jedoch immer noch zahlreiche ungetrennte Hofräume, deren Auflösung noch nicht erfolgt ist. Aus diesem Grund bedarf es einer temporären Verlängerung,
die wir an dieser Stelle regeln wollen.
Wir sind überzeugt, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ein gutes Konzept zu haben. Das Benachrichtigungswesen in Nachlasssachen erfährt jetzt eine längst
überfällige Erneuerung und wird auf den Stand der Zeit
gebracht. Es wird schneller, einfacher und weniger fehleranfällig. Das ist ein großer Fortschritt.
Die Formulierung eines Testaments ist schon schwierig genug; das gilt nicht so sehr für die Form als für den
Inhalt. Im Zweifel kann es der Erblasser nicht allen
recht machen. Das wusste auch schon Goethe, als er
schrieb: „Wenn ich scheid aus diesem Elend und lass
hinter mir ein Testament, so wird daraus nur ein Zank
und weiß mir’s niemand keinen Dank.“ An diesem Problem können wir als Gesetzgeber nichts ändern. Aber
wir können das Verfahren und die Abwicklung zumindest
für alle Beteiligten vereinfachen, beschleunigen und mit
den uns zur Verfügung stehenden Mitteln modernisieren.
Viele Bürgerinnen und Bürger setzen sich frühzeitig
mit dem Sterben auseinander und verfassen ihren letzten
Willen. Viele Millionen hinterlegen diesen rechtzeitig bei
einem Notar oder einem Amtsgericht. Über 15 Millionen
Testamente und Erbverträge werden zurzeit von den öffentlichen Urkundenstellen in ganz Deutschland verwahrt. Stirbt ein Erblasser, setzt dies einen schwerfälligen Benachrichtigungsprozess in Gang. Die Bearbeitung eines Sterbefalls kann sich bei den zuständigen
Stellen unter Umständen über mehrere Monate hinziehen. Grund für diesen langen Zeitraum ist die Tatsache,
dass die Angaben auf den Karteikarten im Laufe der Zeit
mangels regelmäßiger Aktualisierung und Pflege ihre
Richtigkeit verlieren können. Die Recherche des neuen
Verwahrungsorts der Urkunden kostet Zeit, was gleichbedeutend ist mit höheren Personalkosten. Das bisherige Registerwesen ist dezentral-zersplittert, papiergebunden, nicht auf dem neuesten Stand der Technik,
kurzum: nicht mehr zeitgemäß.
Dazu kommt die für den Bürger als auch für die zuständigen Stellen fehlende Transparenz dieses Benachrichtigungssystems. Im Zeitalter der Neuen Medien ist
es notwendig und richtig, dass die Länder auf eine
schnellere und sicherere Bearbeitung in Nachlasssachen
und auf das Austauschen von Informationen durch elektronischen Schriftwechsel setzen wollen.
Das neue Register sichert das Erbrecht des Bürgers
und sorgt für einen Effizienzgewinn. Mit dem Gesetzentwurf wird durch die Schaffung eines elektronischen zentralen Testamentsregisters das Benachrichtigungswesen
in Nachlasssachen modernisiert. Damit sparen sowohl
die Gerichte und Notare als auch die Bürgerinnen und
Bürger Zeit und die Verwaltungen Geld. Ein solches zentrales Testamentsregister wird die Zettelwirtschaft in
den über 5 200 öffentlichen Stellen beenden, Synergien
schaffen und somit die Arbeit der öffentlichen Stellen zugunsten der Erben erleichtern.
Das neue elektronische Register wird bei der Bundesnotarkammer entstehen. Die Bundesnotarkammer verfügt bereits über elektronische Datenbanken zur Verwaltung von Namen und Adressen von Notaren und Amtsgerichten. Sie verfügt auch über Erfahrungen mit der
Handhabung ähnlicher Register, zum Beispiel dem zentralen Vorsorgeregister. Die Notarkammer geht davon
aus, dass die Überführung der Altdaten etwa fünf Jahre
in Anspruch nehmen wird. War vor 10 bis 15 Jahren ein
solches Anliegen technisch noch gar nicht möglich, so
erscheint das Vorhaben nunmehr umsetzbar. Um eine
länger andauernde Zweigleisigkeit des alten und des
neuen Benachrichtigungssystems aber in jedem Fall zu
vermeiden, sieht der nun vorliegende Änderungsantrag
im Gegensatz zum ursprünglichen Gesetzentwurf gleichwohl explizit eine Frist von sechs Jahren vor, innerhalb
der die Überführung der Altdaten abgeschlossen sein
soll. Das begrüße ich.
Mit der Einführung eines neuen elektronischen Registers gehen natürlich auch entsprechende Kosten einher.
Das sind einmalig 12,6 Millionen Euro sowie jährlich
anfallenden Kosten für die Pflege des Systems in Höhe
von 2,8 Millionen Euro. Diese Kosten übernimmt die
Bundesnotarkammer. Die Rückfinanzierung soll über
eine Registergebühr von 15 Euro pro Eintrag und über
Gebühren für Auskünfte laufen. Die Gebühren dienen
nur der Finanzierung der Anlaufkosten, des Unterhalts
und technischer Erneuerungen. Sobald eine Gewinnzone erreicht wird, werden die Gebühren angepasst. Die
Gebühren sind also zweckgebunden. Der Break-even
wird in etwa in zehn Jahren erwartet. Auch hier begrüßen wir es, dass im Sinne einer größeren Transparenz
die Verpflichtung zur regelmäßigen Kontrolle der Gebühren durch die Registerbehörde auf ihre Angemessenheit nun ausdrücklich vorgeschrieben wird, um sie gegebenenfalls anpassen zu können. Die Umsetzung dieser
Pflicht ist Gegenstand der Rechtsaufsicht des Bundesjustizministeriums.
Die Idee eines zentralen elektronischen Testamentsregisters berücksichtigt auch die europäische Entwicklung. Seit 2007 strebt die Europäische Kommission bereits eine Vereinheitlichung des Benachrichtigungssystems in Nachlasssachen an, um das Leben der EUBürger zu erleichtern. Menschen werden innerhalb der
EU immer mobiler. Deshalb haben bereits 19 europäische Staaten ein zentrales Testamentsregister eingeführt. Das elektronische Testamentsregister erleichtert
die europäische Vernetzung. EU-Projekte verschiedener
Länder zur Vernetzung laufen bereits. Es gibt aber keinen Zwang zum Anschluss an diese Projekte. Die Vernetzung müsste noch vertraglich geregelt werden. Entscheidet sich Deutschland ebenfalls für ein solches Register,
wäre aber aus europäischer Sicht bereits ein großer
Schritt Richtung Vereinheitlichung in Nachlasssachen
unternommen. Endlich würden die ersten VoraussetzunZu Protokoll gegebene Reden
gen für ein grenzüberschreitendes Auskunftswesen möglich gemacht.
Bei der Sachverständigenanhörung im Rahmen des
erweiterten Berichterstattergesprächs haben daneben
vor allem Fragen zum Datenschutz eine wichtige Rolle
gespielt; schließlich werden unter dem neuen System
mehr Daten zentral gebündelt als zuvor. Es sei aber
noch einmal klargestellt: Das Register soll und wird
nicht die Urkunden oder deren Inhalt, sondern nur Angaben enthalten, von wem das Testament oder der Erbvertrag stammt und wo diese Urkunden hinterlegt sind.
Für die Bundesnotarkammer als öffentliche Körperschaft gilt außerdem unmittelbar das Bundesdatenschutzgesetz.
Nun kann man darüber streiten, ob die Regelungen
und Formulierungen des Bundesdatenschutzgesetzes an
entsprechenden Stellen auch in den Gesetzentwurf einfließen sollten oder ob eine Verweisung ausreicht. Der
Gesetzentwurf hat sich eher für eine schlanke Lösung
entschieden. So wie die Datenschützer habe ich mich
aber auch dafür eingesetzt, die Datensammlung auf das
Notwendigste zu begrenzen. Auch deshalb unterstützen
wir den Änderungs- und Ergänzungsvorschlag, die Ermächtigungsvorschrift weiter zu konkretisieren.
Insbesondere wird im Sinne des Datenschutzes nun
ergänzt und klargestellt, dass die Erhebung und Verwendung der Daten auf das „Erforderliche“ zu beschränken
ist. Damit soll und kann auch nach den Auffassungen
der Datenschützer im erweiterten Berichterstattergespräch sichergestellt werden, dass lediglich die zum Auffinden des Testaments erforderlichen Verwahrangaben
gespeichert werden. Ansonsten wäre eine Ausweitung
der Datenmenge über die Speicherung zusätzlicher Angaben möglich, die diesem Zweck nicht dienen.
Dem Gebot der Datensparsamkeit soll eine weitere
Regelung Rechnung tragen: Es kann zwar auch Sterbefallmitteilungen mit dem Hinweis geben, dass es keine
Verwahrmitteilung über ein Testament gebe, sodass
überschießende Informationen entstehen könnten, mit
denen die Gerichte nichts anfangen können. Doch das
Gesetz ist hinreichend flexibel. Um Datenfriedhöfe zu
vermeiden, wird die Möglichkeit für eine Ausnahme von
der Benachrichtigungspflicht des Nachlassgerichts
durch Rechtsverordnung geschaffen, sodass die Länder
auf eine automatische „Negativbenachrichtigung“ über
den Sterbefall dauerhaft für die Zukunft verzichten können.
In den Bundesratsausschusssitzungen, aber auch in
den Sitzungen des Bundestages hat der Gesetzentwurf zu
großen Teilen Zustimmung erfahren. Einige Kritikpunkte, die einige Kollegen und ich teilten, konnten
durch die Änderungsvorschläge beseitigt werden. Die
verbliebenen Streitfragen wiegen nicht so schwer, als
dass man dem Gesetzentwurf nicht zustimmen könnte.
Insgesamt ist die Einführung eines zentralen Testamentsregisters positiv zu bewerten - für die Länder, den
Bund, aber auch für die Bürger. Ich hätte mir durchaus
vorstellen können, dass auch privat hinterlegte Testamente registriert werden können. Aber wie bei der Registrierung von Vorsorgevollmachten bleibt es dem Gesetzgeber unbenommen, nach einem erfolgreichen Start
des elektronischen Testamentsregisters diese Frage in
Zukunft noch einmal anzugehen. Insgesamt sprechen
doch gute Gründe dafür, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Wenn Menschen einen letzten Willen schriftlich niedergelegt haben, verlangt es unsere Rechtsordnung,
dass dieser zuverlässig umgesetzt wird. Mit der Schaffung eines Zentralen Testamentsregisters kommen wir
diesem Ziel erheblich näher.
In dem zentralen Testamentsregister werden künftig
alle erforderlich Daten über amtlich verwahrte Testamente und Erbverträge zentral registriert. Ab dem
1. Januar 2012 gelangen diese Daten dann im Zusammenhang mit Sterbefällen an die zuständigen Nachlassgerichte, indem das zuständige Standesamt die Bundesnotarkammer als die zuständige Registerbehörde über
einen Todesfall informiert. Die Bundesnotarkammer
prüft daraufhin, ob im Zentralen Testamentsregister Verwahrangaben über erbfolgerelevante Urkunden - also
zum Beispiel Testamente, Erbverträge oder Ähnliches der verstorbenen Person vorliegen. Falls dies der Fall
ist, informiert die Registerbehörde unverzüglich das zuständige Nachlassgericht und die verwahrenden Stellen.
Die Benachrichtigung erfolgt dabei elektronisch. Der
bislang vorgesehene, umständliche Mitteilungsweg vom
Sterbestandesamt über das Geburtsstandesamt bzw. die
Hauptkartei für Testamente, die die erbrechtlich relevanten Unterlagen verwahrende Stelle bis hin zum
Nachlassgericht, wird damit obsolet. Dieser neue Informationsweg ermöglicht eine wesentlich schnellere Umsetzung von letztwilligen Verfügungen.
Der vorliegende Gesetzentwurf schafft aber auch
weitere Verbesserungen. So bietet ein Zentrales Testamentsregister Notaren die Möglichkeit, zu recherchieren, ob ein Erblasser gegebenenfalls schon früher eine
bindende erbrechtliche Verfügung getroffen und öffentlich hinterlegt hat, an die er sich jetzt nicht mehr erinnert. Auf diesem Weg können Nachfolgeprobleme von
vornherein für den Fall ausgeschlossen werden, dass die
Testierfreiheit durch eine frühere Verfügung eingeschränkt sein sollte.
Darüber hinaus eröffnet ein Zentrales Testamentsregister Deutschland die Gelegenheit, sich an grenzüberschreitenden Informationsaustauschen in Nachlasssachen zu beteiligen. Bislang haben 19 europäische
Staaten zentrale Testamentskarteien erstellt. In Zeiten
immer größerer Mobilität der Bürgerinnen und Bürger
der Europäischen Union muss Deutschland zu diesem
Kreis hinzustoßen. Dies zu ändern ist unter anderem die
Bestrebung des vorliegenden Gesetzentwurfes.
Ein solches Gesetz kann nicht erlassen werden, ohne
dass wir über den Datenschutz sprechen. Auch in diesem
Aspekt findet das Gesetz die volle Zustimmung der FDP.
Der Gesetzentwurf ist von Datenschützern geprüft und
nicht beanstandet worden. So wurde zum Beispiel die
Datenerhebung auf das für den Betrieb des Zentralen
Testamentsregisters unerlässlich erforderliche Maß beZu Protokoll gegebene Reden
grenzt. Dadurch wurde dem Grundsatz der Datensparsamkeit Rechnung getragen. Weiter hat die FDP-Bundestagsfraktion in den Verhandlungen zu dem Gesetz
dafür gesorgt, dass der Anspruch auf Information aus
§ 19 BDSG durch das Gesetz nicht beeinträchtigt wird.
So wird gewährleistet, dass der Erblasser kostenfrei
Auskunft über von ihm selber in Verwahrung gegebene
Testamente, Erbverträge oder ähnliche Dokumente verlangen kann.
Abschließend möchte ich erwähnen, dass die geplante Gesetzesänderung niemanden zwingt, sein Testament zu hinterlegen. Wer sein Testament privat verwalten möchte, kann dies auch in Zukunft tun. Wer seine
letztwillentliche Verfügung aber registrieren lassen will,
muss hierfür eine Gebühr bezahlen. Eine solche Gebührenpflicht ist angemessen und auch erforderlich, da sie
zur Finanzierung des Zentralen Testamentsregisters beiträgt. Dabei müssen die Belastungen für die Bürger aber
so gering wie möglich gehalten werden. Die vorgesehene Gebühr von 15 Euro pro Neuregistrierung muss regelmäßig durch das Bundesministerium der Justiz als
Aufsichtsbehörde auf ihre Angemessenheit überprüft
werden. Wenn die mit der Errichtung eines zentralen
Testamentsregisters verbundenen Kosten refinanziert
sind und eine betriebswirtschaftlich gebotene Rücklage
gebildet wurde, sollten die Gebühren nach Möglichkeit
abgesenkt werden.
Vor diesem Hintergrund unterstützt die FDP-Bundestagsfraktion den vorliegenden Gesetzentwurf.
Die Modernisierung des Benachrichtigungswesens in
Nachlasssachen und die damit verbundene zukünftige
Nutzung der technischen Möglichkeiten ist zu begrüßen.
Die Landesregierungen wollen zu diesem Zweck ein
elektronisch geführtes zentrales Testamentsregister bei
der Bundesnotarkammer einrichten. Diese soll mit der
Benachrichtigung der Nachlassgerichte über den Tod
eines Erblassers und den Verwahrungsort erbfolgerelevanter Urkunden eine bisher von der Justiz erfüllte Aufgabe übernehmen.
Die Registrierung von erbrechtlichen Urkunden bei
den circa 5 200 Geburtsstandesämtern, bei im Inland
registrierter Geburt, auf Karteikarten nach dem Zettelkastenprinzip mutet nicht nur vorsintflutlich an, sondern
bedeutet auch für den die Dienste in Anspruch nehmenden Bürger unnötige bürokratische Hürden. Die komplizierten Meldewege, erhebliche Verzögerungen und die
Kapazitätsgrenzen der Hauptkartei beim Amtsgericht
Schöneberg für Erbfälle mit Auslandsbezug sind ein bürokratischer Zopf aus dem vorigen Jahrhundert, der einer
grundlegenden Revision bedarf. Mit der nunmehr geplanten Einrichtung eines zentralen Registers beschreitet das BMJ den richtigen Weg. Allerdings soll dieses
löbliche Ziel in nicht gänzlich unbeanstandbarer Art
und Weise umgesetzt werden.
Durch die Einrichtung des zentralen Testamentsregisters entstehen voraussichtlich Kosten in Höhe von
12,6 Millionen Euro, wobei die laufenden Kosten mit
jährlich 2,8 Millionen Euro veranschlagt werden. Die
Bundesnotarkammer hat sich bereit erklärt, die Kosten
vorzufinanzieren. An sich haben die Länder die Kosten
dafür zu übernehmen. Die vorfinanzierten und auch die
laufenden Kosten holt sich die Bundesnotarkammer von
den Nutzerinnen und Nutzern zurück.
Es ist nicht auszuschließen, dass hier in absehbarerer
Zeit Gewinn erzielbar ist, für eine Dienstleistung, die
der Staat gegenüber dem Steuerzahler erbringen muss.
Die ins Auge gefasste „moderate“ Registrierungsgebühr von 15 Euro soll nämlich mit einem Einsparpotenzial im Bereich der Justiz- und Innenverwaltung gerechtfertigt werden. Daneben kann die Bundesnotarkammer
Gebühren für Auskünfte aus dem zentralen Testamentsregister und für jede Änderung, die der Erblasser beim
Notar beurkundet, verlangen.
Die Bundesnotarkammer meint, dass die Gebühren
gerade ausreichen, um die Kosten zu decken. Wenn die
Einrichtungskosten nach einigen Jahren eingespielt sind
und eine „Gewinnzone“ erreicht ist, sind die technischen Anlagen angeblich schon wieder veraltet. Der Gewinn soll dann für technische Erneuerungen genutzt
werden. Betrachten wir also die Kehrseite der Medaille,
fällt auf, dass die Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Registrierungsbeitrag letztlich wohl Personalabbau in den
Landesverwaltungen finanzieren werden. Dabei gibt es
viele Bereiche in der Justiz, wo dringend Personal gebraucht wird.
Mir fallen da spontan die überlasteten Sozialgerichte
ein, deren Verfahrenspensum jenseits von Gut und Böse
liegt und denen auch aufgrund der Hartz-IV-Fehlentscheidungen von Schwarz-Gelb eine neue Klagewelle
ins Haus steht. Bereits jetzt fehlen dort nicht nur Richterinnen und Richter, sondern auch Rechtspflegerinnen,
Rechtspfleger und Geschäftsstellenangestellte. Der
elektronische Zugriff der Nachlassgerichte auf die gespeicherten Daten bringt einen enormen Zeitgewinn bei
der Suche, ob überhaupt und wo ein Testament amtlich
verwahrt wird. Das Risiko eines Verlustes von Verwahrungsnachrichten auf dem Postweg bestünde damit nicht
mehr; jedoch ist auch eine vollelektronische Datenbank
nicht vor Fehlern sicher. Es besteht die Gefahr, dass Daten bei der Übersendung und Speicherung durch technisches oder menschliches Versagen verloren gehen; zumal sich die Bundesnotarkammer zur Überführung der
Verwahrungsnachrichten eines oder mehrerer Auftragnehmer bedienen können soll.
Als überaus problematisch sehe ich die unzureichenden datenschutzrechtlichen Vorkehrungen im Gesetz
selbst an. Es reicht nicht aus, konkrete Maßnahmen zur
Gewährleistung von Datenschutz und Datensicherheit
erst in einer Verordnung zu regeln. Nein, entsprechende
Regelungen sollte der parlamentarische Gesetzgeber
vielmehr selbst treffen. Der vorliegende Gesetzentwurf
ist insoweit mangelhaft. Wenigstens hat man die Hinweise unserer Sachverständigen in dem erweiterten Berichterstattergespräch beherzigt. Schön, dass man einen
Schritt in die richtige Richtung gegangen ist, noch schöner wäre es allerdings gewesen, wenn man den richtigen
Weg bis zu Ende gegangen wäre.
Zu Protokoll gegebene Reden
Neben Namen, Geburtstag, Geburtsstandesamt, Tag
der Beurkundung, dem Vorhandensein einer Verfügung
von Todes wegen an sich und dem Verwahrungsort werden auch die Namen der Eltern gespeichert. Durch die
Speicherung dieser besonders schutzwürdigen Daten
sind die Anforderungen an den Datenschutz bereichsspezifisch besonders hoch anzusetzen. Dennoch wird in
diesem Gesetzentwurf die Datensicherheit nicht dem
Maßstab des Bundesdatenschutzgesetzes gerecht. Deshalb würde ich persönlich ein Testament nicht in amtliche Verwahrung geben.
Gestatten Sie mir noch einen letzten Hinweis. Ich befürchte, dass die im Gesetzentwurf vorgesehene Überleitung der Altdaten weder reibungslos noch zeitnah vonstatten gehen wird. Sorgen sie dafür, dass den
Bürgerinnen und Bürgern keine Nachteile entstehen,
wenn die Daten der Standesämter und des Amtsgerichts
Schöneberg durch Einscannen digitalisiert werden. Ob
der eingeschlagene Weg hält, was er verspricht, sollte
kurzfristig evaluiert und im Interesse der Bürgerinnen
und Bürger gegebenenfalls korrigiert werden.
Wir befinden uns heute in der abschließenden Beratung des Gesetzentwurfs zur Schaffung eines zentralen
Testamentsregisters. Ziel des Gesetzes ist es, das Auffinden von Testamenten im Zeitpunkt des Eintritts eines
Erbfalls zu erleichtern. Das ermöglicht eine schnellere
und sicherere Klärung von Erbfällen. Das ist ein Anliegen, das wir ausdrücklich begrüßen.
Im Gesetzentwurf sind verschiedene Auskunftsrechte,
zum Beispiel für Gerichte, geregelt. Im Entwurf ist aber
nicht ausdrücklich festgehalten, dass auch der Erblasser
oder die Erblasserin selbst Auskunft über seine oder ihre
letztwilligen Verfügungen vom Register erhalten kann.
Natürlich kann man sagen: Das ergibt sich implizit aus
der Verweisung aus diesem Gesetz in das Bundesdatenschutzgesetz. Dennoch ist es für den Bürger und die Bürgerin klarer und einfacher, zu erkennen, wenn sein und
ihr Auskunftsanspruch direkt im einschlägigen Gesetz
nachzulesen ist. Wenn wir schon neue Gesetze entwerfen, dann sollten wir sie auch so gestalten, dass nicht der
Bürger vor der Anwendung Rechtsbeistand aufsuchen
muss.
Noch auf ein weiteres Thema möchte ich eingehen. In
dem Gesetz sind verschiedene Regelungen zum elektronischen Rechtsverkehr beinhaltet. Wir alle wissen, dass
der elektronische Rechtsverkehr den bürokratischen
Aufwand erheblich vereinfachen und beschleunigen
kann. Allerdings birgt die elektronische Übermittlung
von Daten auch Risiken. Für uns lauten die zentralen
Fragen: Wie können wir den Datenschutz bei einem so
umfassenden Vorhaben lückenlos gewährleisten? Wie
können wir also das Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung am besten gewährleisten?
Im Gesetzentwurf wird auf den Datenschutz eingegangen. Er ist mittels einer Verweisung auf das Bundesdatenschutzgesetz geregelt. Das verkennen wir nicht.
Wir bezweifeln aber, dass das ausreichend ist. Das Bundesdatenschutzgesetz ist in seiner Anwendung sehr weit;
insbesondere § 9 BDSG und die dazugehörende Anlage
finden eine weite Anwendung auf viele unterschiedliche
Lebenssachverhalte. Aus unserer Sicht wäre es sinnvoller, eine passgenaue Regelung für das zentrale Testamentsregister zu schaffen. Gerade im Hinblick auf die
Größenordnung der Vorhabens - gerechnet wird mit Gesamtkosten in Höhe von 12,6 Millionen Euro und laufenden Kosten für den Registerbetrieb in Höhe von jährlich
2,8 Millionen Euro - sollte der Datenschutz nicht nur
am Rande geregelt werden. Bloße Verweisungen auf das
Bundesdatenschutzgesetz bergen immer Lücken.
Das haben wir auch in dem erweiterten Berichterstattergespräch am 22. November 2010 ausführlich erörtert. Die Experten des Datenschutzes - Herr Holzapfel
vom Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit und Frau Körffer vom Unabhängigen
Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein haben in diesem Gespräch darauf hingewiesen, dass für
die speziellen Bedürfnisse des Testamentsregisters bereichsspezifische Datensicherheitsregelungen geschaffen werden sollten. Das würde mehr Datensicherheit gewährleisten und mehr Klarheit schaffen. Noch eine
weitere Frage stellt sich: Für wen sollen die Überführungsvorschriften und auch die Regelungen zum Datenschutz und zur Datensicherheit konkret gelten?
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass sich die Registerbehörde zur Überführung der Verwahrnachrichten eines
oder mehrerer Auftragnehmer bedienen kann. In dem
bereits erwähnten Expertengespräch mit den Datenschützern am 22. November 2010 kam klar zum Ausdruck, dass bei Unterauftragsverhältnissen erhebliche
Komplikationen mit dem Datenschutz und der Datensicherheit auftreten können. Sie haben daher angeraten,
Unterauftragsverhältnisse auszuschließen. Auch sollte
aus Sicht der Datenschützer das TestamentsverzeichnisÜberführungsgesetz für den Auftragnehmer zur Anwendung kommen. Das ist im Gesetzentwurf nicht geregelt
worden.
Zusammenfassend kann ich sagen: Wir befürworten
die Einführung eines zentralen Testamentsregisters. Jedoch sehen wir den Datenschutz und die Datensicherheit in dem Gesetzentwurf nicht ausreichend gewährleistet. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung
enthalten.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4063, den Gesetzentwurf des Bundesrats auf Drucksache 17/2583 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der
zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({0}) zu dem Antrag der Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Evaluierung der deutschen Beteiligung an
ISAF und des deutschen und internationalen
Engagements für den Wiederaufbau Afghanistans seit 2001
- Drucksachen 17/1964, 17/4051 Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Johannes Pflug
Wolfgang Gehrcke
Die bereits erwähnte Anhörung im Bundestag zur
Lage in Afghanistan und zum Kriterienkatalog der Bundesregierung letzte Woche hat für die Öffentlichkeit
sichtbar gemacht, dass wir Parlamentarier verfügbare
wissenschaftliche Expertisen intensiv in unsere tägliche
Arbeit einbinden. Die CDU/CSU hat zudem vor drei Tagen einen Kongress zur zivil-militärischen Zusammenarbeit veranstaltet. Auch hier haben wir wertvolle Anregungen von den geladenen Experten erhalten.
Es wird deutlich, wie umfassend wir externes Fachwissen in unsere Arbeit einfließen lassen und uns, im
konkreten Fall, mit unserem zivil-militärischen Engagement in Afghanistan befassen. Dieser Rückgriff auf
Experten entlässt uns aber selbstverständlich nicht aus
der Verantwortung für den von uns mandatierten Einsatz. Genau dies wäre aber die Folge einer Evaluierung
durch eine wissenschaftliche Institution, die die Bundesregierung aus der Pflicht nimmt, oder gar einer Kommission mit externen Experten als Substitut für unsere
parlamentarische Arbeit. Dies fordern SPD und Grüne
in ihrem Antrag, den wir deshalb nicht mittragen können. Entscheidend ist, dass wir Parlamentarier unsere
politische Verantwortung wahrnehmen.
Der Kriterienkatalog der Bundesregierung und der
demnächst vorliegende Fortschrittsbericht, der einen
ganzheitlichen, zielführenden Ansatz mit guter Betonung
ziviler Aspekte verspricht, ermöglicht es uns Parlamentariern, den Prozess der Übergabe in Verantwortung,
die sogenannte Transition, in Afghanistan eng zu begleiten. Jetzt gilt es zunächst, die bisher erfolgte Umsetzung der in London und Kabul entschiedenen neuen
Strategie auszuwerten. Dafür brauchen wir einen breiten Ansatz bei der Auswahl der verfügbaren Auswertemittel und -methoden. Die entsprechenden Erkenntnisse
dürfen aber nicht im luftleeren Raum stehen bleiben;
sonst wären sie Wissen ohne Wert. Sie müssen einfließen
in eine möglicherweise notwendige flexible Nachsteuerung unseres militärischen und zivilen Engagements im
Regionalkommando Nord. Das entspricht unserem parlamentarischen Auftrag!
Die CDU/CSU unterstützt alle Vorhaben, die den
Prozess der Übergabe in Verantwortung stärken. Dazu
gehört, dass die Vereinten Nationen über die UNAMA
ihren Einfluss intensiver wahrnehmen und eng verzahnt
mit ISAF die „Transition“ nach gemeinsamen Kriterien
vornehmen. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang
den pragmatischen Ansatz des COMISAF, der uns vergangene Woche im Auswärtigen Ausschuss unterrichtet
hat. Während der Übergabe der Verantwortung wird es
ganz besonders auf Bündniskohäsion ankommen, um die
Wirkkraft unserer Arbeit - zivil und militärisch - zu stärken. Eine Ausweitung des AWACS-Einsatzes zur Unterstützung des zivilen Luftverkehrs in Afghanistan wäre
zwar wünschenswert, ist aber wegen unserer Mandatsgrenze mit einer deutschen Beteiligung nicht möglich.
Bei aller detaillierten Betrachtung der Lage in Afghanistan selbst müssen wir immer auch die Gesamtregion
im Auge behalten. Wir dürfen nicht die politischen Interessen der regionalen Akteure ausblenden, sondern müssen diese vielmehr in unsere Handlungen einbeziehen.
Ohne die Zusammenarbeit mit Pakistan kann es keine
Lösung geben, wofür wiederum eine Entschärfung des
Konflikts mit Indien dienlich wäre. Auch die zentralasiatischen Staaten, etwa Usbekistan und Tadschikistan,
haben größtes Interesse an Stabilität in Afghanistan.
Iran ist bereits eingebunden und leidet unter dem Drogenexport aus seinem Nachbarland, ebenso wie Russland.
Wir begrüßen das russische Engagement zur Drogenbekämpfung in Afghanistan ausdrücklich. Es wird deutlich: Es ist im Interesse deutscher Außenpolitik, regionale Sicherheit durch eine geteilte Verantwortung der
regionalen Akteure im Sinne der Vereinten Nationen zu
schaffen, um langfristige Stabilität zu erreichen.
Für uns bleibt, auch in Anbetracht der anstehenden
Debatte um die Verlängerung des Mandats im Januar,
der afghanische Wille entscheidend: Wir unterstützen
eine Mission der Vereinten Nationen, um die die afghanische Regierung gebeten hat. Unser Einsatz ist kein
Selbstzweck, sondern dient der Stabilisierung Afghanistans, damit des regionalen Umfelds und somit letztlich
unserer eigenen Sicherheit. Für die Übergabe der Verantwortung in Afghanistan ist es entscheidend, realistische Ziele und Zeitkorridore zu benennen. Auch hierzu
wird der Fortschrittsbericht der Bundesregierung einen
wichtigen Beitrag leisten.
In der vergangenen Woche hat der Auswärtige Ausschuss eine öffentliche Anhörung zu unserem Engagement in Afghanistan durchgeführt. Externe Sachverständige haben uns ihre unabhängige Einschätzung der
Lage in Afghanistan gegeben. Anlass für diese Anhö8664
rung war die Vorlage eines Katalogs von Kriterien
durch die Bundesregierung, auf deren Grundlage unter
Federführung des Auswärtigen Amts von nun an halbjährlich ein evaluierender ressortübergreifender Fortschrittsbericht unseres Engagements vorgelegt wird.
Die Regierungsfraktionen hatten dieses Vorgehen den
Kollegen von SPD und Grünen in einem Schreiben Anfang Oktober vorgeschlagen. Herr Erler und Herr
Schmidt hatten für ihre Fraktionen zugestimmt. Es war
gut, dass wir uns in einer öffentlichen Sitzung mit dem
Kriterienkatalog der Bundesregierung und der Lage in
Afghanistan unter Einbeziehung von externen Sachverständigen befasst haben. Wir haben eine ernsthafte und
sehr sachliche Diskussion, die frei von politischer Polemik war, geführt. Das hat dem Bundestag gut angestanden.
Die Abzugsperspektive für unsere Soldaten im Einsatz in Afghanistan, die wir mit dem Anfang des Jahres
beschlossenen Strategiewechsel fest im Auge haben,
muss sich an konkreten Fortschritten vor Ort bemessen.
Dafür müssen wir Kriterien definieren. Deshalb haben
die Regierungsfraktionen bereits im Frühjahr - noch
bevor SPD und Grüne ihren Antrag, den wir heute debattieren, vorgelegt haben - die Bundesregierung dazu
aufgefordert, einen Katalog von Kriterien - neudeutsch
„Benchmarks“ - sowie regelmäßige Fortschrittsberichte vorzulegen. Somit ist gewährleistet, dass wir den
Prozess der Übergabe der Verantwortung in afghanische Hände intensiv parlamentarisch begleiten und bewerten können.
Diese Benchmarks und der Fortschrittsbericht, der
im Dezember nun erstmals von der Bundesregierung
vorgelegt wird, müssen von uns Parlamentariern einer
genauen Überprüfung unterzogen werden, bevor wir im
Januar eine neue Mandatierung unseres Einsatzes diskutieren. Hierzu hat die Anhörung einen wichtigen Beitrag geleistet. Aus unserer Sicht ist der Kriterienkatalog
mit 27 Indikatoren umfassend und zielführend angelegt.
Es ist selbstverständlich, dass wir auch externe Expertise berücksichtigen und hinzuziehen. Dies geschieht
ja ständig. Wir alle lassen die Erfahrung von Nichtregierungsorganisationen oder die Arbeit unserer Stiftungen
oder die wissenschaftliche Analyse von Forschungsinstitutionen und anderer in unsere Arbeit zu Afghanistan einfließen.
Es ist aber bezeichnend, dass die Linke keinen Sachverständigen nominieren konnte. Es wollte sich schlichtweg kein seriöser Experte hergeben für ihren ausschließlich ideologisch getriebenen Populismus bezüglich eines Einsatzes, der seit 2001 von den Vereinten Nationen jedes Jahr einstimmig mandatiert wurde. Es ist
doch kein Zufall, dass sie keinen Wissenschaftler ausfindig machen konnte, der ihre naive und scheinheilige Argumentation teilt, dass sich mit einem sofortigen Abzug
der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan über
Nacht alles zum Besten wendet.
SPD und Grüne fordern nun in ihrem Antrag zweierlei: eine wissenschaftliche Evaluierung durch eine externe Institution sowie eine Begleitung des weiteren Engagements in Afghanistan durch eine Kommission. Wir
haben in den letzten Monaten hierzu verschiedene Gespräche miteinander geführt. Dabei ist klar geworden,
dass beide Seiten, die Regierungsfraktionen sowie SPD
und Grüne, auf Grundlage des von uns eingeforderten
Fortschrittsberichts den Afghanistan-Einsatz einer kontinuierlichen Bewertung unterziehen wollen.
Uns unterscheidet aber, dass wir eine Evaluation
nicht ausschließlich an Externe, etwa wissenschaftliche
Experten, übertragen wollen. Wir sehen hier die Bundesregierung in der Pflicht. Deshalb legt sie jetzt den genannten Fortschrittsbericht vor. Für unsere Bewertung
des Berichts ziehen wir dann selbstverständlich Expertise von außen hinzu; das haben wir ja mit der Anhörung
gezeigt.
Mit einer Kommission, die unser Engagement in Afghanistan bewerten würde, würde eine Arbeit nach außen verlagert, die vor allem wir Parlamentarier leisten
müssen. Wir Abgeordnete, die den Einsatz in Afghanistan mandatiert haben, stehen hier gegenüber unserer
Bevölkerung und den Sodaltinnen und Soldaten im Einsatz in der Pflicht. Ein gleichberechtigtes Stimm- und
Mitentscheidungsrecht für externe Experten in einem zusätzlichen Gremium darf es deshalb nicht geben.
Entscheidend für die CDU/CSU ist, dass die Bundesregierung und wir Parlamentarier - niemand sonst - die
politische Verantwortung für den Einsatz in Afghanistan
haben und weiter intensiv wahrnehmen. Wir wollen
keine Auslagerung unserer Verantwortung. Deshalb lehnen wir ihren Antrag ab.
Bereits vor der Sommerpause hat die SPD-Fraktion
gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen den Antrag zur
Evaluierung des Afghanistan-Einsatzes eingebracht.
Trotz intensiver Bemühungen unsererseits ist es nicht
gelungen, einen fraktionsübergreifenden Antrag mit den
Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP zustande
zu bringen. Uns ging es dabei vor allem darum, neun
Jahre nach Beginn des Afghanistan-Einsatzes einen ungeschminkten Blick auf das Erreichte, aber auch auf die
Defizite unseres Engagements werfen zu lassen, um daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen zu können.
Das internationale Engagement befindet sich in einer
kritischen Phase. 2011 wird von vielen als das Jahr der
Entscheidung über Erfolg oder Misserfolg der Mission
angesehen. Deswegen hätten wir es außerordentlich begrüßt, wenn sich auch die Fraktionen von CDU/CSU
und FDP dazu hätten durchringen können, einer unabhängigen, wissenschaftlichen Evaluation zuzustimmen.
Trotz zunächst positiver Signale hat die Koalition offenbar kalte Füße bekommen und eine unabhängige Evaluation abgelehnt. Das bedauern wir zutiefst. Dabei hat
die öffentliche Anhörung des Auswärtigen Ausschusses
am 23. November gezeigt, wie dringend notwendig eine
solche Evaluation wäre. Alle eingeladenen Expertinnen
und Experten haben dies nicht zuletzt durch den Inhalt
ihrer Ausführungen eindringlich bestätigt.
Nach wie vor wird der Aufbau politischer Institutionen durch Korruption und Nepotismus erheblich behinZu Protokoll gegebene Reden
dert. Sowohl die Präsidentenwahl im vergangenen Jahr
als auch die Parlamentswahlen im September dieses
Jahres waren von gravierenden Missständen begleitet.
Inzwischen wurde 27 Abgeordneten, die im September
vermeintlich gewählt worden waren, wegen erwiesener
Wahlmanipulationen ihr Mandat wieder aberkannt. So
schafft man kein Vertrauen in die politischen Institutionen Afghanistans.
Gerade weil das Jahr 2011 mutmaßlich darüber entscheiden wird, ob der Afghanistan-Einsatz letztendlich
doch noch zu einem erfolgreichen Ende geführt werden
kann oder nicht, wäre eine unabhängige, wissenschaftliche Expertise dringend geboten gewesen. Die Probleme
beschränken sich nicht allein auf die militärische Situation. Wir alle wissen: Letztendlich kann auch ein militärischer Erfolg nur dann dauerhaft von Bestand sein,
wenn er im zivilen Bereich unterfüttert wird. Was nützt
es, wenn in einem Distrikt die Taliban in die Flucht geschlagen werden, sich an den Lebensverhältnissen der
Menschen aber nichts Grundlegendes ändert? Deutschland und die internationale Gemeinschaft haben ihre
Mittel für den zivilen Wiederaufbau mit dem eingeleiteten Strategiewechsel der Londoner Konferenz vom Januar 2010 deutlich erhöht. Das begrüßen wir. Zugleich
müssen wir aber feststellen, dass es offenbar große Probleme beim Mittelabfluss und bei der Umsetzung gibt.
Auch das hätten wir gerne von einer unabhängigen Seite
näher beleuchtet bekommen, um gegebenenfalls noch
gegensteuern zu können.
Aus vielen Berichten und aus eigener Anschauung
weiß ich, dass sich die Umsetzung zahlreicher sinnvoller
Projekte verzögert, weil qualifizierte Fachleute nur
schwer zu finden sind. Häufig bildet sich eine erhebliche
Diskrepanz zwischen dem, was mit der afghanischen
Seite vereinbart wird, und dem, was am Ende tatsächlich
realisiert wird.
Lassen Sie mich das am Beispiel des im Frühjahr
2010 in Anwesenheit von Entwicklungshilfeminister
Niebel feierlich eröffneten Teacher Training Center,
TTC, in Masar-i-Scharif erläutern. Ich hatte Gelegenheit, dieses Projekt im September dieses Jahres zu
besichtigen. Dort wurde mit Hilfe der GTZ ein hervorragend ausgestattetes Ausbildungsgebäude plus anliegendem Wohnheim für die auszubildenden Lehrer errichtet.
Im Vorfeld wurde mit der afghanischen Seite vertraglich
vereinbart, dass sie dafür Sorge zu tragen haben, dass
das Gebäude mit Strom versorgt und die Lehrkräfte regelmäßig bezahlt werden. Leider musste ich bei meinem
Besuch feststellen, dass die afghanische Seite ihren Verpflichtungen bislang gar nicht bzw. nur unzureichend
nachgekommen ist und damit ein sehr sinnvolles Projekt, in das von deutscher Seite bereits viel investiert
wurde, zu scheitern droht, bevor es richtig begonnen
hat, und zwar nicht aufgrund von Talibanangriffen, sondern aufgrund des Unwillens bzw. Unvermögens der offiziellen afghanischen Institutionen. Solche Beispiele
lassen sich zahlreiche finden. Sie sind eine der Ursachen
dafür, warum der zivile Aufbau in Afghanistan nicht so
vorankommt, wie von uns erwartet und wie er für das
Land dringend nötig wäre.
Eine weitere Plage, unter der Afghanistan zu leiden
hat, ist die grassierende Korruption. Die International
Crisis Group, ICG, hat dies in ihrem kürzlich erschienen
Bericht „Reforming Afghanistan’s Broken Judiciary“
eindrucksvoll belegt. Dort heißt es unter anderem: „Die
Einmischung des Präsidentenpalasts ist so intensiv, dass
selbst die von der Regierung zur Korruptionsbekämpfung ernannten Untersuchungsbeamten durchaus von
dem engsten Beraterkreis des Präsidenten unter Druck
gesetzt werden, Fälle gegen Regierungsangestellte oder
politische Kumpel/Gefolgsleute ,cronies‘ fallen zu lassen.“ Wenn dieses Problem nicht ernsthaft angegangen
wird, dann werden die Menschen in Afghanistan das
letzte Stückchen Vertrauen, das sie der Regierung und
ihren Institutionen noch entgegenbringen, auch noch
verlieren. Für die Zukunft Afghanistans verheißt das
nichts Gutes.
Auch im militärischen Bereich gibt es zum Teil sehr
widersprüchliche Meldungen. So ist die Zahl der Bombenanschläge in Afghanistan nach Angaben der Internationalen Schutztruppe ISAF in den vergangenen sechs
Monaten deutlich zurückgegangen. Bombenanschläge
machen inzwischen weniger als 50 Prozent der Angriffe
gegen Soldaten und Zivilisten aus. Auf der anderen Seite
ist 2010 das bislang blutigste Jahr für die NATO-Truppen seit Beginn des Einsatzes in Afghanistan. Seit Januar 2010 verloren mehr als 660 ausländische Soldaten
am Hindukusch ihr Leben, so viel wie in keinem Jahr zuvor.
Inzwischen hören wir, dass die NATO beabsichtigt, im
kommenden Frühjahr mit der Übergabe von drei Provinzen im Norden Afghanistans - Sar-i-Pol, Samangan
und Badakhshan - zu beginnen. Wir wüssten gerne von
der Bundesregierung, ob diese Berichte zutreffen und,
falls ja, welche Konsequenzen das für die Stationierung
der Bundeswehr vor Ort nach sich zieht. Die SPD hat
bereits Anfang dieses Jahres gefordert, die Übergabe
der Sicherheitsverantwortung im Jahr 2011 einzuleiten,
um damit die Voraussetzungen für den Rückzug der Bundeswehr zu schaffen. Wir halten an diesem Fahrplan
fest. Die Bundesregierung hat sich damals zunächst nur
sehr widerwillig auf dieses Datum eingelassen. Inzwischen spricht Außenminister Westerwelle davon, dass
2012 mit dem Rückzug der Bundeswehr begonnen werden soll. Damit steht er jedoch im Widerspruch zu seiner
Regierungserklärung vom 10. Februar 2010, als er feststellte, bereits Ende 2011 mit dem Rückzug beginnen zu
wollen. US-Präsident Obama hat schon im Dezember
2009 in seiner Westpoint-Rede erklärt, mit dem Rückzug
der amerikanischen Truppen Mitte 2011 beginnen zu
wollen. Dies muss auch Richtschnur für den Beginn der
Reduzierung des deutschen ISAF-Kontingents sein. Wir
wollen von der Bundesregierung daher Klarheit darüber
haben, welches Datum für sie jetzt gilt - 2011 oder 2012.
Anfang dieses Jahres lehnte es die Bundesregierung
zunächst entschieden ab, sich auf ein Datum für den Abzug der letzten Kampftruppen festzulegen, als wir den
Korridor 2013 bis 2015 vorgeschlagen haben. Inzwischen ist dieses Datum international längst gesetzt. Der
NATO-Gipfel in Lissabon hat dies gerade erst bestätigt.
Die Bundesregierung konnte daher gar nicht anders, als
Zu Protokoll gegebene Reden
sich diesem Fahrplan anzuschließen. Doch bis dahin ist
es noch ein schwieriger und komplizierter Weg.
Es hätte dieser Bundesregierung gut zu Gesicht gestanden, wenn sie sich auf das Verfahren einer unabhängigen Analyse von dritter Seite eingelassen hätte. Da sie
das nicht getan hat, sehen wir erwartungsvoll dem angekündigten Fortschrittsbericht entgegen, den sie uns in
wenigen Tagen vorlegen will. Was wir erwarten, ist eine
schonungslose Analyse der gegenwärtigen Lage in Afghanistan, in der keine Schönfärberei betrieben wird
und in der Probleme und Herausforderungen, vor denen
die internationale Gemeinschaft nach wie vor steht, offen beim Namen genannt werden. Eine systematische
Evaluation und Wirksamkeitsanalyse des bisherigen
deutschen diplomatischen, militärischen, entwicklungspolitischen und polizeilichen Engagements, so wie wir
sie vorgeschlagen haben, wäre dabei von großem Nutzen
gewesen.
Die Koalition hat sich für einen anderen Weg entschieden. Wir werden daher umso gründlicher prüfen,
ob der von der Bundesregierung vorgelegte Fortschrittsbericht den Kriterien, die ich gerade benannt habe, gerecht wird. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes,
die dem Einsatz in Afghanistan mit wachsender Skepsis
begegnen, haben Anspruch auf eine umfassende Bestandsaufnahme. Sie wollen ein ungeschminktes Bild der
aktuellen Lage, und sie wollen wissen, wann und auf
welche Weise die Bundesregierung gemeinsam mit der
internationalen Gemeinschaft die Verantwortung in afghanische Hände legt, um den Rückzug der internationalen Truppen einzuleiten und in spätestens vier Jahren
zu beenden.
Eines steht außer Frage: Wir als Parlament brauchen
ein realistisches Bild der aktuellen Lage in Afghanistan;
wir brauchen eine verlässliche Einschätzung der Entwicklung des Einsatzes. Was wir heute wiederholt diskutieren ist das Wie, also die Art und Weise, wie wir zu einer realitätstreuen Einschätzung kommen. Und da sehe
ich große Unvollkommenheiten in Ihrem Antrag, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
Viele Ihrer Forderungen sind entweder von der Bundesregierung längst in die Tat umgesetzt oder sie sind
schlichtweg nicht zielführend. Der uns vorliegende Antrag zur Evaluierung des Afghanistan-Einsatzes ist
- und das muss ich ganz zu Anfang klarstellen - längst
überholt. Seit dem Tag, an dem wir hier das erste Mal
über dieses Thema diskutiert haben, hat sich einiges getan - nicht nur im Land Afghanistan selbst, sondern
auch hier im parlamentarischen Umgang mit diesem
wichtigen Thema. Inzwischen hat die Konferenz in Kabul, auf die wir mit Spannung geschaut haben, stattgefunden. Dort wurde ein weiterer wichtiger Schritt getan:
hin zu einem erfolgreichen internationalen Engagement
in Afghanistan. Die Probleme Afghanistans werden
zwar nicht durch eine einzige Konferenz gelöst. Die internationale Gemeinschaft hat aber nach der Konferenz
in Kabul ein gemeinsames, erfolgversprechendes Konzept. Dieses Konzept verdient eine faire Chance.
Wir alle wissen aber auch, dass die Umsetzung nicht
einfach ist. Sie erfordert noch große Anstrengungen und
unser weiteres Engagement. Stress und Eile bei der Umsetzung helfen weder der afghanischen Bevölkerung,
noch können sie die realen regionalen und globalen Sicherheitsgefahren bannen. Die Sicherheit, die Gerichtsbarkeit und auch die Regierungsführung müssen weiter
verbessert werden, damit die Aufständischen wirksam
bekämpft und Bedingungen für eine nachhaltige politische Lösung geschaffen werden können. Auch insofern
bin ich sehr zufrieden mit einem Ergebnis der Kabuler
Konferenz: Die afghanische Regierung wird stärker als
bisher in die Pflicht genommen. Das ist jetzt schon unbedingt nötig.
Ganz besonders wichtig ist - das ist meine Meinung die diplomatische und politische Begleitung des Prozesses. Die Nachbarstaaten in der Region müssen in diesen
Prozess mit eingebunden werden. Auch die in afghanischer Eigenregie durchgeführten Wahlen im September
betrachte ich als einen ersten Erfolg - im Gegensatz zu
einigen anderslautenden Meinungen hier im Hohen
Haus. Immerhin öffneten von circa 6 900 Wahllokalen
5 355 Wahllokale zur Stimmabgabe. Viele Menschen haben sich nicht abschrecken lassen, zu zeigen, dass sie am
demokratischen Prozess im Land teilhaben wollen. Diesen gilt größte Hochachtung. Es ist ein Erfolg, dass
circa 40 Prozent aller Wahlberechtigten an der Wahl
teilgenommen haben. Aber über eins müssen wir uns im
Klaren sein: Es sind noch Wahlen über mehrere Generationen notwendig bis zur Akzeptanz dieses demokratischen Mittels und bis zum fairen Umgang mit dem Wahlrecht.
Auch die Nachbereitung der Wahl lag in afghanischen
Händen. Und auch hier sehe ich Positives: Ich meine
nicht den massiven Betrug, wohl aber die Prüfung der
Eingaben durch die Beschwerdekommission und die tatkräftigen Handlungen. So wurde fast ein Viertel der rund
5,6 Millionen abgegebenen Stimmen für ungültig erklärt,
und des Wahlbetrugs überführten Abgeordneten wurde
ihr vorläufiges Mandat wieder entzogen. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf und ließ mehrere Verdächtige festnehmen.
Wir haben weiterhin ein ambitioniertes Ziel: die
Übernahme der Sicherheitsverantwortung durch Afghanistan im Jahr 2014. Dennoch - und das möchte ich hier
deutlich sagen - werden wir die Afghaninnen und Afghanen auch danach nicht im Stich lassen. Besonders
die Terrorismusnachsorge wird im Fokus unserer Bemühungen liegen.
Auch bei unseren Bemühungen hier im Parlament,
die dortige Situation konkret einzuschätzen, hat sich einiges getan. In wenigen Wochen stellt die Regierung uns
einen Fortschrittsbericht vor. Ein umfassender Fragenkatalog hierzu wurde ressortübergreifend erarbeitet. Ich
bin der Auffassung, dass Ihrer Forderung nach einer
Evaluierung in diesem Bericht Rechnung getragen wird.
Zur Forderung der Opposition nach einer Einbindung unabhängiger Wissenschaftler kann ich Ihnen eins
sagen: Das ist passiert. Am 23. November erst fand zu
dem Fortschrittsbericht eine öffentliche Anhörung statt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dabei waren erstens alle beteiligten Ausschüsse eingebunden und zweitens zahlreiche Wissenschaftler beteiligt. Wir hatten über drei Stunden hinweg die Möglichkeit, über den Fragebogen zur Einsatzeinschätzung zu
diskutieren. Die Einschätzung an sich ist jedoch ganz
klar Aufgabe des Parlaments.
Über die baldige Vorlage des Fortschrittsberichts bin
ich sehr froh. Wir werden darüber im Detail diskutieren.
Das ist unsere Aufgabe und nicht die Aufgabe außenstehender Experten. Die Federführung, und damit auch unsere Verantwortung, in diesem Bereich wird von uns
nicht einfach outgesourct.
Wir wollen ein realistisches Bild der Lage in Afghanistan. Wir wollen sehen, in welchen Bereichen es Verbesserungen gibt und wo wir und die internationale Gemeinschaft noch stärker aktiv werden müssen. Das ist
das, worin wir einer Meinung sind. Denn diese ehrlichen Einschätzungen sind unerlässlich für unser zukünftiges Engagement und das Ergebnis, auf das wir seit Beginn des Einsatzes hinarbeiten: die Übergabe von
Verantwortung in Verantwortung. Wir haben als Koalition klar gesagt: Wir wollen den Einstieg in den Ausstieg. Und wir haben unser Wort gehalten. Bis zum Jahr
2014 soll die Übernahme der Sicherheitsverantwortung
durch Afghanistan abgeschlossen werden. Ich begrüße
aber ausdrücklich, dass Kompetenz und Fachwissen der
unterschiedlichen Wissenschaftler in den Prozess der
parlamentarischen Begleitung des Einsatzes so gut einfließen konnten.
Genau so sehe ich Ihre Forderung nach einer Kommission. Wir alle zusammen - als Parlament - müssen
die Arbeit der Bundesregierung begleiten und nicht irgendeine externe Kommission, wie es in Ihrem Antrag
gefordert wird. Die Ausschüsse bieten genug Spielraum
und Einflussmöglichkeiten, um verantwortungsvoll mit
der Sache umzugehen. Zusätzlich wird das Parlament
vierteljährlich über die Entwicklungen in Afghanistan
sowie wöchentlich über die Einsätze der Deutschen
Bundeswehr unterrichtet. Die Informationslage befindet
sich doch weiterhin auf einem sehr hohen Niveau. Aus
all diesen Gründen wird die FDP-Fraktion Ihrem Antrag nicht zu stimmen.
„Nichts ist gut in Afghanistan“. Mit dieser Feststellung brachte die damalige Vorsitzende des Rates der
Evangelischen Kirchen in Deutschland, Frau Margot
Käßmann, ihre Wahrnehmung auf den Punkt. Nach dieser klaren Feststellung teilte sich die Öffentlichkeit in
viel Zustimmung hier und harschen Widerspruch dort zu
dieser Aussage. Heute wird kaum einer bestreiten können, dass die Aussage von Margot Käßmann richtig war.
„Nichts ist gut in Afghanistan“, das meint nicht, dass
nicht in einzelnen Bereichen Verbesserungen erreicht
worden seien. „Nichts ist gut in Afghanistan“ ist der Widerspruch zu all jenen, die sich verantwortungslos die Lage
schön- und der Öffentlichkeit einreden wollen, alles sei
besser geworden oder zumindest auf dem Wege der Besserung. Solche Propagandamärchen werden jeden Tag
durch Meldungen über die Verschlechterung der Sicherheitslage, durch Nachrichten über Wahlfälschungen und
Korruption, durch Drogenanbauzahlen und Waffenhandel widerlegt. Auch die Polizistinnen und Polizisten
rund um den Deutschen Bundestag, die auch für unsere
Sicherheit dahin beordert worden sind, sind indirekt ein
Ausdruck dafür, dass nichts gut ist in Afghanistan. Der
Krieg gegen den Terror hat nicht den Terror bekämpft,
sondern den Terroristen jeden Tag neue Aktivisten in die
Arme getrieben.
Es ist mehr als befremdlich, dass erst jetzt, fast zehn
Jahre nach dem Beginn des Krieges, eine „Evaluierung
der deutschen Beteiligung an ISAF und des deutschen
Engagements in Afghanistan“ stattfinden soll. Das heißt
doch nichts anderes, als dass Deutschland Krieg am
Hindukusch führt, begonnen unter einer rot-grünen
Bundesregierung, fortgesetzt von einer schwarz-roten
und übernommen von der schwarz-gelben, ohne dass
sich Regierung und Parlament ein einziges Mal nüchtern die Frage vorgelegt hätten: Was hat dieser Krieg
den Menschen in Afghanistan und was hat dieser Krieg
uns gebracht? Eins ist sicher: Er hat vielen Menschen
Leid, Not und Elend gebracht. Er hat Afghaninnen und
Afghanen wie auch dort eingesetzten Soldaten das Leben
geraubt. Nichts ist gut in Afghanistan!
Fast zehn Jahre Krieg ohne eine Bilanz, das ist unverantwortlich. Die Linke will den Abzug der Bundeswehr
aus Afghanistan. Wir hören jetzt aus anderen Fraktionen, sie möchten einen „Abzug in Verantwortung“. Umgekehrt ist es richtig: Verantwortung heißt Abzug, und
das nicht irgendwann und nicht vage, sondern sofort!
Jeder Tag der Fortführung dieses Krieges setzt die Kette
des Unheils fort und erschwert einen Friedensschluss.
Die Bundesregierung hat für den 16. Dezember eine
Regierungserklärung angekündigt. Sie will einen Fortschrittsbericht für Afghanistan vorlegen. Dass dieser
Bericht bis heute nicht vorliegt, hatte ich bereits kritisiert. Ich möchte zumindest, dass er jetzt so rechtzeitig
an alle Abgeordneten des Bundestages geht, dass ihn
eine jede und ein jeder gründlich prüfen und zum Beispiel mit den Berichten der Vereinten Nationen, den Berichten nichtstaatlicher Hilfsorganisationen und den Berichten aus Afghanistan selbst vergleichen kann. Das ist
auch deshalb wichtig, da jede und jeder von uns mit dem
Ja oder Nein zur Truppenentsendung über das Leben
oder den Tod von Menschen entscheidet. Wir sollten uns
fragen: Ist die Gefahr terroristischer Anschläge durch
den Krieg in Afghanistan, durch den „Krieg gegen den
Terror“ kleiner geworden? Jeder wird sofort antworten,
sie ist gewachsen.
Ist mit dem ISAF-Einsatz die Chance für mehr Demokratie für die Menschen in Afghanistan gewachsen oder
nicht? Es sollte ja auch, wie wir immer wieder gehört
haben, ein Krieg für mehr Demokratie und für die Umsetzung von Frauenrechten sein. Jetzt hört man von Kollegen der FDP - übrigens wortidentisch mit den Aussagen des US-Oberbefehlshabers General Petraeus -,
dass niemand vorgehabt hätte, in Afghanistan eine Demokratie nach Schweizer Vorbild einzuführen. Solche
Aussagen empfinde ich nur noch als zynisch. Interessanter hingegen wäre eine Analyse, wie mit WahlfälschunZu Protokoll gegebene Reden
gen und sozialer Unsicherheit umgegangen wird und
wie tatsächlich Frauenrechte gesichert werden können.
Afghanistan braucht keinen Zynismus, sondern wirklich
Hilfe.
Immer wieder wurde gesagt, dass der Krieg in Afghanistan, der „Krieg gegen den Terror“, ein Krieg für Abrüstung sei. Das schien vielen Menschen besonders mit
Blick auf das Nachbarland Afghanistans, Pakistan, das
ein Atomwaffenstaat ist, plausibel. Tatsache jedoch ist,
dass der Krieg den Waffenhandel erst so richtig in
Schwung gebracht hat. Kriege reduzieren Waffen nicht,
sondern Kriege heizen Waffenproduktion und deren Verbreitung an.
Letztlich: Der Krieg in Afghanistan darf jetzt endlich
Krieg genannt werden. Über lange Zeit benutzten die mit
uns konkurrierenden Parteien im Bundestag alle möglichen Umschreibungen für den Begriff. Warum? Man
wusste, dass die Bevölkerung unseres Landes keinen
Krieg will. US-Politiker wie der Verteidigungsminister
Robert Gates bemängeln den in Europa vorhandenen
Pazifismus. Ich bin froh über eine Bevölkerung, die mehrheitlich Nein zu Kriegen sagt. Ich bin gespannt auf die
Bilanz, die die Bundesregierung vorlegen wird, möchte
aber, dass der Bundestag selbst sich an die Arbeit einer
solchen Bilanz macht.
SPD und Grüne schlagen dazu die Bildung einer Evaluierungskommission vor. In einer solchen Kommission
werden wir gern mitarbeiten. Aber im Moment gilt noch
immer: Ich verlasse mich mehr auf Wikileaks als auf Berichte der Bundesregierung.
Wir schließen heute ein langes Verfahren ab. Bereits
im März dieses Jahres haben wir uns zusammen mit der
SPD an die Koalitionsfraktionen gewandt, um eine gemeinsame Initiative zur Evaluierung des AfghanistanEinsatzes zu ergreifen.
Seit März haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Union und FDP, dieses Vorhaben immer wieder verschleppt und verzögert, sich dann doch wieder millimeterweise bewegt, nur um jetzt am Ende den sinnvollen und
notwendigen Schritt zu einer unabhängigen Evaluierung
abzulehnen. Ich finde es sehr schade, dass wir hier nicht
zu einem gemeinsamen Beschluss gekommen sind. Mit
Ihrer Haltung sind Sie Ihrer Verantwortung für Afghanistan und für die sich dort im Einsatz befindenden Soldatinnen und Soldaten und zivilen Kräfte nicht gerecht
geworden.
In unserem Antrag fordern wir die Einsetzung einer
unabhängigen Kommission, die den Afghanistan-Einsatz in seiner ganzen Komplexität und in seiner mittlerweile achtjährigen Dauer auswerten und Lehren daraus
ziehen sollte. Das haben viele unserer Bündnispartner
getan, und das hat, daran habe ich ja bei unserer letzten
Debatte hierzu schon erinnert, auch Ihr Verteidigungsminister noch vor zwei Jahren gefordert.
Die Bundesregierung will uns nun noch im Dezember
erstmals einen Fortschrittsbericht vorlegen. Ich begrüße
das. Sie kommt damit endlich - wenigstens in Bezug auf
Afghanistan - der Verpflichtung aus dem Parlamentsbeteiligungsgesetz nach, einmal jährlich dem Bundestag
bilanzierend über die Einsätze der Bundeswehr und ihr
politisches Umfeld zu berichten. Es war auch gut und
richtig, dass wir in einer Anhörung des Auswärtigen
Ausschusses über die Kriterien eines solchen Fortschrittsberichts beraten haben. Aber bei dieser Anhörung haben mehrere Sachverständige eben auch die Defizite Ihres Vorgehens deutlich gemacht. Die Kriterien
für den Fortschrittsbericht sind zu umfangreich und
vage, und sie stellen zu wenig auf die Wirkung der Maßnahmen ab; vor allem aber evaluiert sich die Bundesregierung hier selber. Das wurde mehrfach, zu Recht, bemängelt, und eine unabhängige Evaluierung, so wie wir
sie in unserem Antrag fordern, wurde angemahnt.
Das Verhalten der Bundesregierung gegenüber unserem Vorschlag hat meinen Eindruck verfestigt, dass es
ihr eben nicht darum geht, eine ehrliche Bestandsaufnahme vorzunehmen, sondern dass sie mit der Praxis
politischer Schönfärberei fortfahren will. Genau das
aber hat uns in Afghanistan in die Sackgasse gebracht.
Viel zu lange wollte man negative Entwicklungen, zum
Beispiel bei der Sicherheitslage in der Region Kunduz,
nicht wahrhaben. Ich befürchte, dass sich genau diese
Schönfärberei auch in der Abzugsdebatte widerspiegelt.
Ich fordere die Bundesregierung auf: Wenn Sie es ernst
meinen mit der Übergabe in Verantwortung bis 2014,
dann legen Sie mit dem neuen Mandat auch einen Abzugsplan vor.
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4051, den Antrag
der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/1964 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD und bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie
- Drucksache 17/3023 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/4047 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzt die Bundesregierung die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 in nationales Recht um. Der damalige Binnenmarkt-KommisPeter Aumer
sar Charlie McCreevy bewertete die Richtlinie im Januar 2010 folgendermaßen: „Diese Richtlinie wird
nicht nur das Zahlungssystem in der EU verbessern,
sondern ebenfalls den Weg für konkrete Vorteile der Verbraucher aus der Integration der Finanzmärkte ebnen.”
Die neue E-Geld-Richtlinie soll den Weg für neue, innovative und sichere E-Geld-Dienstleistungen ebnen,
neuen Unternehmen Zugang zum Markt verschaffen sowie echten und wirkungsvollen Wettbewerb unter den
Marktteilnehmern fördern. Davon sollen Verbraucher,
Unternehmen und die europäische Wirtschaft im Allgemeinen profitieren. Das Hauptziel der Richtlinie besteht
darin, EU-Vorschriften zu elektronischem Geld zu modernisieren und insbesondere die Beaufsichtigung von
E-Geld-Instituten an die im Rahmen der Zahlungsdiensterichtlinie geltenden Aufsichtsregelungen für Zahlungsinstitute anzupassen. Die Zweite E-Geld-Richtlinie
über die Aufnahme, Ausübung und Beaufsichtigung der
Tätigkeit von E-Geld-Instituten wird fristgerecht bis zum
30. April 2011 in deutsches Recht umgesetzt. Von den
Änderungen betroffen sind das Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz, das Geldwäschegesetz, das Handelsgesetzbuch und das Unterlassungsklagengesetz. Die aufsichtsrechtlichen Vorschriften der Zweiten E-Geldrichtlinie sehen für die neue Institutskategorie der E-GeldInstitute ein spezifisches Erlaubnisverfahren und besondere Regelungen für die laufende Aufsicht vor. Diese
werden in das Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz aufgenommen, und im Gegenzug dazu werden E-Geld-Institute aus dem Kreditwesengesetz herausgelöst.
Im Zuge der Umsetzung werden weitere Änderungen
in den genannten Aufsichtsgesetzen vorgenommen, die
Defizite bei den geldwäscherechtlichen Normen beseitigen sollen, um den Wirtschaftsstandort Deutschland
wirksamer vor einem Missbrauch durch Geldwäsche
und Terrorismusfinanzierung zu schützen. Die Umsetzung der Zweiten E-Geld-Richtlinie in den Vertragsstaaten der EU bringt wesentliche Vorteile für unseren Wirtschaftsraum. Sie schafft einen modernen und rechtlich
kohärenten Zahlungsverkehrsraum für die Ausgabe von
elektronischem Geld im europäischen Binnenmarkt. Auf
diese Weise wird der Weg für neue innovative und sichere E-Geld-Dienstleistungen geebnet. Sie fördert faire
Wettbewerbsbedingungen und setzt gleiche Marktzugangskriterien für alle Zahlungsdiensteanbieter, einschließlich der E-Geld-Institute. Sie initiiert einen echten und wirkungsvollen Wettbewerb. Sie schafft einen
einheitlichen aufsichtsrechtlichen Rahmen.
Wie sehen die Änderungen konkret aus? Nach der
Zweiten E-Geld-Richtlinie ist die Kreditinstitutseigenschaft nun nicht mehr zwingende Voraussetzung für das
Betreiben des E-Geld-Geschäfts. Mit der Durchsetzung
des Erlaubnisvorbehaltes, der Zulassung und der laufenden Aufsicht über die E-Geld-Institute wird die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, beauftragt werden. Durch die Modifizierung der bestehenden Regelungen soll bewirkt werden, dass in Deutschland die Nachfrage nach E-Geld-Lizenzen erhöht wird
und dass sich auch deutsche E-Geld-Institute auf dem
europäischen Markt etablieren können. Entscheidend ist
hier, dass diese nun ein erweitertes Tätigkeitsfeld haben
sollen und zusätzliche Dienstleistungen anbieten dürfen.
Zukünftig sollen Internetzahlungen verstärkt mit E-Geld
möglich werden. In dieses Marktsegment sind bereits
ausländische Anbieter wie PayPal vorgestoßen. Die Gesetzesänderung soll nun auch inländischen Unternehmen diesen Markt eröffnen.
Zudem soll die Geldkartenfunktion, über welche viele
inländische EC-Karten-Besitzer die Möglichkeit haben,
ihre Karte an SB-Terminals mit E-Geld aufzuladen, erweitert werden. Damit sollen die Handhabung benutzerfreundlicher gestaltet und auch der Einsatz von E-Geld
vielseitiger und attraktiver gemacht werden. Überdies
beseitigt die Richtlinie Defizite im deutschen Rechtssystem, die die Financial Action Task Force on Money
Laundering, FATF, im „Deutschland-Bericht“ vom 18.
Februar, bei der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung, feststellte.
Gerade in Deutschland sind die Umsetzung der
Richtlinie und die Beseitigung der angesprochenen Defizite besonders wichtig. Im europäischen Vergleich ist
das Angebot qualitativ hochwertiger Finanzdienstleistungen bei uns besonders hoch. Hinzu kommen die zentrale geografische Lage Deutschlands, die engen wirtschaftlichen Beziehungen und die internationale Vernetzung der deutschen Wirtschaft, die eine lückenlose,
genaue und effiziente Implementierung der internationalen Vorgaben gerade in Deutschland besonders wichtig machen. Deutschland ist als Gründungsmitglied der
FATF seit ihrer Bildung 1989 aktiv an der Erarbeitung
und Weiterentwicklung der international anerkannten
Standards zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung beteiligt und hat sich immer zur nationalen Umsetzung der FATF-Empfehlungen bekannt.
Der vorliegende Gesetzentwurf muss begrüßt werden.
Vom früheren US-Präsidenten Thomas Jefferson soll
das Zitat stammen, dass „der Preis der Freiheit beständige Wachsamkeit“ ist. Im Guten wie im Schlechten blicken wir gerne über den Atlantik - wenn es um die Zukunft unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft insgesamt geht. Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten
bildete den Auftakt der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise. Amerika war und ist aber auch ein wichtiger Vorreiter, was technische Fortschritte, gesellschaftliche Trends und ökonomische Innovationen angeht. Das
gilt auch für die Kreditwirtschaft und Neuerungen im
Bereich digitaler Zahlungskonzepte wie dem E-Geld.
Jeffersons geflügeltes Wort sollten wir uns deshalb gut
zu Herzen nehmen, wenn wir heute über eine auch für
Deutschland und Europa bedeutsame Innovation in diesem Sektor beraten: die Umsetzung der zweiten europäischen E-Geld-Richtlinie.
Wenn wir in den vergangenen Jahren eine finanzpolitische Lektion gelernt haben, dann lautet sie: Wo neue
wirtschaftliche Spielräume eröffnet werden, muss auch
der ordnungspolitische Rahmen gestärkt werden. Nur
durch konsequente Aufsicht und Regulierung können wir
drohende Fehlentwicklungen frühzeitig erkennen und
verhindern. Über das Thema E-Geld diskutieren wir auf
Zu Protokoll gegebene Reden
EU-Ebene seit Ende der 1990er-Jahre. Als digital gespeichertes Zahlungsmittel soll es in Zukunft zu einer
dritten tragenden Säule zwischen Bargeld und Buchgeld
werden.
Um den rechtlichen Rahmen zu regeln, wurde im Jahr
2000 die erste europäische E-Geld-Richtlinie verabschiedet. In ihrer Wirkung wurde die Regelung den in sie
gesetzten Erwartungen jedoch nicht gerecht. Eine ernsthafte Belebung des E-Geld-Anbietermarktes blieb aus.
Das sollte mit der 2009 beschlossenen zweiten E-GeldRichtlinie geändert werden, deren Umsetzung einen Teil
des heute diskutierten Gesetzesentwurfs ausmacht. Sie
soll einen einheitlichen Aufsichts- und Rechtsrahmen für
die Anbieter von Dienstleistungen im E-Geld-Sektor
schaffen.
Das ist im Prinzip in Ordnung. Es mag tatsächlich
sinnvoll sein, mehr E-Geld-Anbietern den Zutritt zu diesem Markt zu ermöglichen und den Wettbewerb zu beleben. Denn Konkurrenz erhöht den Innovationsdruck und
schlägt sich tendenziell in günstigeren Konditionen für
die Endverbraucher nieder. Solange durch klare aufsichtsrechtliche Regelungen gewährleistet ist, dass die
angebotenen Dienstleistungen aus Verbrauchersicht seriös und mit hinreichendem Eigenkapital abgesichert
sind, spricht nichts dagegen, entsprechende Freiräume
zu schaffen.
Es deutet einiges darauf hin, dass der anspruchsvolle
Regelungsrahmen des KWG, an den E-Geld-Anbieter
bislang gebunden sind, dafür nicht den notwendigen
Raum lassen. Insofern erscheint der Weg zielführend,
die E-Geld-Institute als eigenen Institutstyp an das Zahlungsdiensteaufsichtsgesetz zu koppeln. Ob sich hieraus
tatsächlich eine ernsthafte Belebung eines eigenständigen E-Geld-Marktes auf nationaler und europäischer
Ebene ergibt, bleibt aber abzuwarten. Meine Einschätzung ist: Würde dies in größerem Stil gelingen, ergäben
sich daraus neuer Regelungsbedarf bei der Überwachung der in E-Geld-Form kursierenden Geldmenge und
eine Reihe anderer Fragestellungen, die auch auf europäischer Ebene noch nicht hinreichend berücksichtigt
worden sind. Einstweilen ist das aber Zukunftsmusik.
Zurück zur Gegenwart: Ginge es bei der Beratung
des vorliegenden Gesetzentwurfs tatsächlich nur um die
aktuelle Ausgestaltung der E-Geld-Thematik, hätten wir
ihm wohl zustimmen können. Doch greift die Bundesregierung darin ein zweites, ebenfalls wichtiges Thema
auf, bei dem Deutschland international am Pranger
steht: die Geldwäscheprävention. Zwar ist es gleichsam
überraschend und erfreulich, dass sich eine Bundesregierung unter FDP-Beteiligung dieses Themas überhaupt annimmt, nicht hinnehmbar ist jedoch, dass der
Entwurf gerade auf diesem zentralen Feld entschieden
zu kurz greift.
Zu den Hintergründen: Im Februar 2010 erschien der
„Deutschland-Bericht“ der Financial Action Task Force
on Money Laundering. Dabei handelt es sich um ein
1989 gegründetes OECD-Gremium, das sich mit dem
Kampf gegen Geldwäsche und der Finanzierung des internationalen Terrors befasst. Das Frühjahrszeugnis für
die Bundesrepublik fiel verheerend aus: In 20 von 49 geprüften Punkten wurden die vereinbarten Empfehlungen
nicht oder nur teilweise eingehalten. Der Handlungsbedarf könnte kaum deutlicher sein. Wohl deshalb hat sich
die Bundesregierung im vorliegenden Gesetzentwurf
wenigstens eines Teils der Kritik angenommen, der sich
mit den aufsichtsrechtlichen Monita der FATF befasst.
Doch keiner der fünf zentralen Mängel, die seitens der
Organisation moniert wurden, greift der Gesetzentwurf
auf. Die noch offenen Punkte berühren vor allem die
ausstehende Umsetzung der FATF-Empfehlungen für
den Bereich der Kammerberufe und den Nichtfinanzsektor. Betroffen sind hiervon vor allem die Bundesländer,
deren laxer Umgang mit dem Thema Geldwäsche in der
Vergangenheit immer wieder Anlass zu heftiger Kritik
war, unter anderem im Juni 2010 in Form eines EU-Vertragsverletzungsverfahrens.
Beim Juweliergewerbe, im Geschäftsalltag landeseigener Spielbanken und privater Kasinos, bei der Vermittlung von Versicherungen oder in der Immobilienmaklerbranche werden seit Jahren massive Defizite in
Sachen Geldwäscheprävention beobachtet. Allzu oft
bleiben die Behörden untätig. Das Bundesministerium
der Finanzen sieht die Ursachen in Streitigkeiten zwischen Innen- und Wirtschaftsministerien der Länder, die
sich nicht einigen können, wem die Aufsicht obliegen
soll. Wir sehen hier den Bund in der Pflicht, im Rahmen
einer Zuständigkeitsbereinigung Klarheit zu schaffen ebenso wie dort, wo die Bundesministerien die Rechtsaufsicht über die Kammern besonders geldwäscheaffiner Berufe innehaben.
In den Vorgesprächen zur Beratung des Gesetzes
wurde seitens der Koalition immer wieder darauf verwiesen, die bislang nicht verfolgten Punkte der FATFKritik würden zeitnah, in einem „großen Wurf“, angegangen. Davon ist bislang jedoch nichts zu sehen. Stattdessen stellt Schwarz-Gelb weitere kleinteilige Änderungsvorschläge in den Raum und verweist auf
Umsetzungsfristen und Länderbeteiligungen, die sich
letztendlich nur aus dem anscheinend bewusst unpraktisch gewählten Zuschnitt der Gesetzespäckchen ergeben. Dieser Eindruck verschärft sich bei einem Blick auf
die so verschnürten Inhalte, beispielsweise wenn die
strafrechtlichen Aspekte der FATF-Kritik mit einer eher
handzahm ausfallenden Neuregelung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung verknüpft
werden sollen. So sieht es jedenfalls der in Umlauf befindliche Referentenentwurf vor, der einen weiteren
Trippelschritt im Kampf gegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung markieren soll.
Die strategische Entscheidung, die bemängelten Defizite häppchenweise anzugehen, zeigt deutlich: Diese
Regierung versucht, das Thema Geldwäsche möglichst
tief zu hängen und sie als süßes Gift zu verwenden, um
der Opposition unsinnige Paketlösungen schmackhaft
zu machen. Das Thema ist zu ernst für solche Spielchen.
Wir Sozialdemokraten werden sie nicht mitmachen. Bei
allen richtigen Ansätzen, die das Gesetz präsentiert,
werden wir uns deshalb enthalten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
verfolgen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zwei
Ziele. Das erste Ziel ist die Schaffung eines modernen
Zahlungsverkehrsraums im Binnenmarkt mit dem
Zweck, den Wettbewerb auch in diesem Bereich zu intensivieren. Diesem Ziel dient die Umsetzung der zweiten
E-Geld-Richtlinie. Hier werden sich für die Unternehmer neue Marktchancen bieten, von deren Nutzung dann
die Verbraucher profitieren werden. Es geht uns jedoch
gerade nicht darum, unnötige Bürokratie zu schaffen.
Deshalb haben wir in den Ausschussberatungen klargestellt, dass Kreditinstitute, die schon die Voraussetzungen des Kreditwesengesetzes erfüllen, im Rahmen ihrer
Vollbankenerlaubnis auch das E-Geld-Geschäft betreiben dürfen. Eine weitere Erlaubnis nach § 8a Abs. 1
ZAG ist für sie nicht erforderlich. In diesem Sinne haben
wir in den Ausschussberatungen noch einige weitere
Klarstellungen getroffen und redaktionelle Korrekturen
am Gesetzentwurf vorgenommen.
Das zweite Ziel, das die christlich-liberale Koalition
mit diesem Gesetzentwurf verfolgt, ist die Bekämpfung
der Geldwäsche. Zum Thema Geldwäsche wurde im Februar der Bericht der Financial Action Task Force on
Money Laundering, der FATF, über die Einhaltung der
FATF-Standards - der sogenannten 40+9 Empfehlungen - in Deutschland veröffentlicht. Deutschland ist verpflichtet, diese Standards in nationales Recht umzusetzen und deren Umsetzung in regelmäßigen Abständen
von der FATF überprüfen zu lassen. Wir haben nun bis
Februar 2012 Zeit, die festgestellten Defizite zu beheben.
Im vorliegenden Gesetzentwurf beseitigen wir aufgrund der Sachnähe zunächst die Defizite, die den Finanzsektor betreffen. Unter anderem wird der Sorgfaltspflichtenmaßstab, den die Institute im Rahmen der
Erfüllung von Hochrisikokategorien bzw. in Fällen eines
niedrigen Risikos anzuwenden haben, vollständig dem
FATF-Standard angepasst. Gleiches gilt für die Anpassung der institutsinternen Sicherungsmaßnahmen gegen
Geldwäsche und des Risikomanagements der Institute.
Eine Revision des Geldwäschegesetzes im Rahmen dieses Gesetzgebungsverfahrens konnte angesichts der kurzen Umsetzungsfrist für die Zweite E-Geld-Richtlinie bis
zum 30. April 2011 nicht erfolgen. Änderungen des
Geldwäschegesetzes wären, anders als der vorliegende
Gesetzentwurf, aufgrund der Zuständigkeiten der Länder nur über eine Gesetzesinitiative aufzugreifen, die
der Zustimmung der Länder bedarf.
Wir werden die Forderungen der FATF also nach und
nach abarbeiten. Bereits jetzt erarbeiten wir auch einen
Gesetzentwurf zur Beseitigung der von der FATF festgestellten Defizite im Strafrecht vor, der voraussichtlich
bereits in der nächsten Woche vom Kabinett beschlossen
wird.
Das Gesetz zur Umsetzung der Zweiten E-GeldRichtlinie soll im Wesentlichen zwei Dinge regeln: Erstens soll dem Gesetzestitel entsprechend eine EU-Richtlinie in nationales Recht umgesetzt werden, die dem
Deutschen Bundestag faktisch kaum Spielraum bei der
Umsetzung lässt. Zweitens sollen Mängel bei der Bekämpfung von Geldwäsche abgestellt werden, die von
einer Expertengruppe der OECD festgestellt wurden.
Bei der Umsetzung der E-Geld-Richtlinie müssen wir
feststellen, dass die bereits zur ersten Lesung von uns
kritisierten Punkte unverändert im Gesetz stehen bleiben sollen. Dabei kritisieren wir vor allem, dass mit der
Herauslösung der E-Geld-Institute aus dem für die Banken ansonsten verbindlichen Kreditwirtschaftsgesetz
eine weniger strenge Aufsicht und deutlich geringere
Anforderungen verbunden sein werden. Das hätte anders geregelt werden können und ergibt sich nicht
zwangsläufig aus der EU-Richtlinie. Dass die Bundesregierung sich dem dennoch verweigert, zeigt aufs Neue,
dass ihr das Wohl der Finanzbranche im Zweifel wichtiger ist, als ein gewisses Schutzniveau im Interesse von
Verbrauchern und Allgemeinheit zu erhalten.
Wäre dies anders, dann würde sie sich in Brüssel
auch gegen den Wahnsinn wehren, dass in immer mehr
Zweigen des deutschen Finanzmarktes - ohne weitere
Prüfung der hiesigen Aufsicht - Anbieter aus anderen
Staaten aktiv werden dürfen. Die einzige Voraussetzung
besteht regelmäßig nur darin, dass sie in ihren Herkunftsländern zugelassen sind. Ob die Zulassungsbedingungen auch nur halbwegs mit den hiesigen vergleichbar sind, ist dabei weitgehend bedeutungslos. Der
Fetisch des totalen Marktes und die Bedienung der Lobbyinteressen gehen dieser lernresistenten Koalition
nach wie vor über alles.
Das, was zur Bekämpfung und Vermeidung der Geldwäschekriminalität in dieses Gesetz aufgenommen
wurde, halten wir weitgehend für unbedenklich. Wenn
die Übermittlung von Verdachtsmeldungen nach rechtsstaatlich einwandfreien Kriterien erfolgt, dann braucht
es auch keinen zusätzlichen Ermessenspielraum der
Banken mehr. Die Schwäche des Gesetzes besteht hier
eher darin, dass nur ein kleiner Teil der angemahnten
Missstände aus der Welt geschafft wird. So wäre es zur
Behebung der Mängel auch notwendig gewesen, die
Bundesländer mit ins Boot zu holen, wie etwa bei den Sicherheitslücken der landeseigenen Spielbanken. Doch
wurde die Problemlösung einfach vertagt. Insofern dürfen wir gespannt sein, ob die angekündigte Novellierung
des Geldwäschegesetzes die angezeigten Mängel in zufriedenstellender Weise beheben wird.
„Zufriedenstellend“ heißt für uns dabei aber auch,
dass die Unschuldsvermutung nicht durch den Generalverdacht abgeschafft wird. Wenn etwa ein Bericht des
Finanzministeriums darauf verweist, dass es zur Behebung der Beanstandungen auch nötig wäre, die Verdachtsschwelle so weit abzusenken, dass dies einer Entkoppelung vom strafprozessualen Anfangsverdacht
gleichkäme, dann ist hier besondere Vorsicht geboten.
Gleichfalls wird auch sehr genau zu prüfen sein, ob eine
besondere Zuverlässigkeitsprüfung einfacher Bankangestellter mit deren Persönlichkeitsrechten überhaupt in
Übereinstimmung gebracht werden kann.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das vorliegende Gesetz umfasst zwei Themen: Die
Umsetzung der E-Geld-Richtlinie und - viel wichtiger Bestimmungen zum Kampf gegen Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung. Der Gesetzesvorschlag reagiert
damit zumindest teilweise auf die Kritik der Financial
Action Task Force, FATF. Sie hatte im Februar 2010 einen
Katalog vorgelegt, in dem anhand von 49 Kriterien die
Rechtslage in Deutschland begutachtet wurde. Das Ergebnis war nicht überzeugend. Lediglich in fünf Punkten
war die FATF vollständig zufrieden, in 19 Punkten hingegen sind die Kriterien ganz oder größtenteils nicht erfüllt. Für ein Land, das zu den Gründungsmitgliedern
der FATF gehört und das sich den Kampf gegen Geldwäsche und Terrorfinanzierung auf die Fahnen geschrieben hat, ist das ein beschämendes Ergebnis.
Das vorliegende Gesetz soll nun laut Bundesregierung ein erster Baustein sein, um die bestehenden Mängel zu beseitigen. Es ist höchstens ein Steinchen, mehr
nicht. Es geht lediglich die Mängel im Finanzsektor an.
Kernstück der Kritik ist aber der Nichtfinanzsektor. Entscheidend ist, dass die Bundesregierung keinen klaren
Fahrplan vorlegt, bis wann und wie sie die Kritikpunkte
der FATF beseitigen will. Bisher ist lediglich bekannt,
dass sie zwei Gesetzentwürfe vorlegen will. Bleibt es dabei bei dem, was bislang im Referentenentwurf zur Bekämpfung der Geldwäsche und Steuerhinterziehung
steht, wird aber die geplante Gesetzgebung bei Weitem
nicht alle Kritikpunkte ausräumen können. Im Gegenteil: Er geht lediglich einen kleinen Teil an; es geht dabei um Vortaten des Geldwäschetatbestandes. Es sollen
bestimmte Delikte in einen Vortatenkatalog aufgenommen werden. Eine überzeugende Antwort auf die heftige
Kritik der FATF sieht anders aus. Das Bundesfinanzministerium weist aber in seiner eigenen Stellungnahme
darauf hin, dass „der Löwenanteil der von der FATF geäußerten Monita … nur durch die Änderung des Geldwäschegesetzes beseitigt werden“ kann, und schiebt anschließend die Verantwortung auf das federführende
Bundesinnenministerium ab.
Nun muss man fairerweise sagen, dass die Ansprüche
der FATF teilweise nur schwer und mit hohem Aufwand
mit dem deutschen Rechtssystem vereinbar sind. Die
Transparenz bei juristischen Personen - und hier vor allem
Treuhandkonstruktionen - wäre nur zu erhöhen, wenn
das öffentliche Registerwesen umgestellt würde. Das
rechtfertigt aber nicht, dass an anderer Stelle die Bundesregierung nicht forsch genug voran geht. Beispielsweise versucht sie die mangelnde Umsetzung der Regelungen dadurch zu rechtfertigen, dass vieles auf
Länderebene zu regeln sei und sie da nichts machen
könne. Klar ist aber auch, dass der Bund gemäß Art. 84
Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes die zuständige Landesbehörde benennen könnte.
Besondere Schwächen sieht die FATF beim Nichtbankensektor. Hier sind Geldwäsche und Terrorfinanzierung nach wie vor Tür und Tor weit geöffnet. Es gibt
keine systematische Umsetzung von Auflagen zur Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung durch Immobilienmakler, Trust- und Unternehmensdienstleister sowie
Edelsteinhändler. Die Aufsicht über diese Berufsgruppen ist nicht effektiv. Bei Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern erschwert eine weite Auslegung des Berufsgeheimnisses die Zusammenarbeit mit den Behörden
und führt dazu, dass nur wenige verdächtige Transaktionen gemeldet werden. Darüber hinaus sind Rechtsanwälte und Notare nicht verpflichtet, verdächtige Transaktionen bei Immobiliengeschäften zu melden. Im
vorliegenden Gesetzentwurf fehlen Sanktionsmöglichkeiten gegen Delikte aus dem Geldwäschebereich. Warum hat die Bundesregierung nicht die Möglichkeit einer
Gewinnabschöpfung eingeführt?
Wir werden vom Ausland zu Recht für unsere schlechten Vorschriften gerügt. Wir brauchen gerade im Nichtfinanzsektor stärkere Sanktionsmöglichkeiten. Die verbleibenden Monita der FATF müssen rasch beseitigt
werden. Die Bundesregierung muss dazu mehr vorlegen,
als sie es bisher getan hat bzw. beabsichtigt. Weil der
Gesetzentwurf erste Schritte in die richtige Richtung
zeigt, können wir uns in der Abstimmung enthalten. Wir
erwarten, dass die Bundesregierung 2011 ehrgeizige
Schritte unternimmt, um der FATF-Kritik zu begegnen.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4047, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3023 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
und Enthaltung der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/
Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei
der zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Becker, Rolf Hempelmann, Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Oliver Krischer, Hans-Josef
Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Am Ausbau der hocheffizienten KraftWärme-Kopplung festhalten
- Drucksache 17/3999 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Wir beraten heute über einen Antrag der Opposition,
der sich mit der Bedeutung der Kraft-Wärme-Kopplung
für unsere Energieversorgung befasst. KWK fristet keineswegs ein Schattendasein bei der deutschen Energieversorgung. Gegenwärtig macht in Deutschland der Anteil von KWK rund 12 Prozent am Strommix aus. Das ist
nicht wenig.
Wir finden KWK wichtig und richtig. Genau aus diesem Grund kommt der KWK in zahlreichen Regelungen
eine besondere Bedeutung zu, auf die ich gleich noch näher eingehen werde. Denn wir halten diese Technologie
für einen intelligenten Weg, effizient mit Energiequellen
umzugehen. Zum einen ermöglicht KWK eine doppelte
Dividende: Sie fängt die bei der Erzeugung von Elektrizität entstehende Wärme ab und führt diese einer weiteren Nutzung in Wohnimmobilien und Industriebetrieben
zu. Die Novelle des KWK-Gesetzes - seit dem 1. Januar
2009 in Kraft - soll dazu beitragen, den KWK-Stromanteil auf 25 Prozent bis 2020 anzuheben.
Ich möchte Ihnen aber in aller Offenheit sagen: Nach
meiner Einschätzung ist dieses Ziel nach derzeitigem
Stand nicht zu schaffen. Ich bedaure das sehr, weil ich
der Überzeugung bin, dass die Technologie gut und richtig ist. KWK hat einen hohen Wirkungsgrad. Während in
konventionellen Kraftwerken zwischen 45 und 70 Prozent der Energie, die für die Stromerzeugung eingesetzt
wird, als Abwärme verloren gehen, schaffen moderne
KWK-Technologien Nutzungsgrade von bis zu 90 Prozent. Die abgefangene Wärme versorgt Wohnimmobilien
und Industrie effizient und umweltschonend mit Strom
und Wärme. Bei einer Stromerzeugung kann die anfallende Abwärme also nahezu vollständig für die Wärmerzeugung genutzt werden. Ziel ist es daher, die Stromerzeugung so zu gestalten, dass in vorhandenen oder zu
erschließenden Wärmesenken die Abwärme aus der
Stromerzeugung genutzt werden kann. Dies gilt auch für
die Nutzung erneuerbarer Energien.
Deshalb lassen Sie mich gleich auf Ihren Antrag eingehen: Die Äußerungen in Ihrem Antrag finde ich absurd. Wir planen keinen Verzicht auf KWK, und die ständige Kernkraft-Rhetorik, die Sie zelebrieren, hilft uns
auch nicht weiter. Ganz im Gegenteil: Dass wir das
Thema KWK ernst nehmen, zeigt sich darin, dass wir die
KWK über viele Instrumente und in zahlreichen Regelungen fördern. Als Beispiel nenne ich das ErneuerbareEnergien-Gesetz. Durch den KWK-Bonus von 3 Cent/
kWh erfolgt im EEG eine zusätzliche Förderung für
Strom aus Biomasse und Geothermie, soweit er in einer
KWK-Anlage erzeugt wird. Hier wollen wir im ersten
Halbjahr 2011 prüfen, ob und - wenn ja - inwieweit eine
verpflichtende KWK-Nutzung im Vergleich zur reinen
Stromerzeugung eingeführt werden kann.
Kommen wir zum Beispiel Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz: Auch das KWKG fördert KWK-Strom, regelt
seine vorrangige Einspeisung ins Stromnetz und sieht
außerdem den Aus- und Aufbau von Fernwärmenetzen
vor. Auch hier werden wir im nächsten Jahr, im Rahmen
des Zwischenberichts für das KWKG, die Wirksamkeit
überprüfen und nachsteuern, wenn es nötig ist. Als weiteres Beispiel nenne ich das Erneuerbare-EnergienWärme-Gesetz: Das EEWärmeG fördert bei Neubauten
seit dem 1. Januar 2009 auch die Deckung des Wärmeenergiebedarfs aus KWK, beispielsweise wenn die
Wärme aus Biogas über KWK erzeugt wird. Und
schließlich zum Beispiel Marktanreizprogramm: Das
Programm fördert KWK-Biomasse- und Geothermieanlagen mit zinsgünstigen Darlehen und Tilgungszuschüssen. Zusammen mit der Förderung der dazugehörigen
Wärmenetze und Wärmespeicher können so gute Gesamtkonzepte zur effizienten Wärmeversorgung von Gebäuden umgesetzt werden. Im Rahmen des KfW-Anteils
des Marktanreizprogramms wurden in 2009 und 2010
rund 4 000 Darlehen für Investitionsvorhaben mit einer
Darlehenssumme von über 600 Millionen Euro zugesagt.
Darüber hinaus hat das Bundesumweltministerium
gemeinsam mit der Deutschen-Energie-Agentur GmbH,
der dena, und Branchenakteuren ein Dokumentationssystem, das „Biogasregister Deutschland“, eingerichtet,
das bei der dena angesiedelt ist. Dieses Register erleichtert Marktakteuren den Handel mit Biomethan. Außerdem leistet es Hilfestellung beim Transport über das
Erdgasnetz und der Vergütung über das EEG. Das Biogasregister steht der Branche seit diesem Monat zur Verfügung. Es wird die Nachfrage von Biogas im Strom-/
KWK-Sektor verbessern. Es ist deshalb nur richtig, dem
Thema KWK eine hohe Priorität einzuräumen und die
Erreichung von 25 Prozent Stromerzeugung aus KWK
im Auge zu behalten. Wir müssen aber auch die aktuellen Herausforderungen zur Kenntnis nehmen und die
KWK-Ziele verstärkt in einem Gesamtkontext betrachten.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf zwei Probleme mit der KWK hinweisen, die meist unerwähnt
bleiben. Zwar ist die KWK energetisch überlegen. Aber
dies macht sie nicht automatisch unantastbar. Erstens.
Die KWK konkurriert immer mit anderen Effizienzstrategien im Bereich energieoptimierten Bauens. Exemplarisch für diese Entwicklung verweise ich auf die Niedrig- bzw. Null-Energie-Häuser. Hier ist festzustellen,
dass im Gebäudebereich eine zunehmend bessere Wärmedämmung erreicht wird. Diese dämpft den Energieverbrauch und erhöht Einsparpotenziale. Das ist gut
und richtig. Wenn aber der Energiebedarf von vielen
modernen Gebäuden gegen null strebt, dann steht aber
doch die Frage im Raum, wie viel sinnvoller Spielraum
dann noch für eine möglichst umfassende Abschöpfung
der Wärme durch KWK-Technologie übrig bleibt. Dies
ist einer der großen Herausforderungen, die wir berücksichtigen müssen.
Dies führt mich zu einem zweiten Problem mit KWK,
das mit der Verteilung der Wärme zu tun hat. Selten sind
ausreichend Wärmeverbraucher am Standort von KWKAnlagen. Die fehlende direkte Abnahmemöglichkeit von
effizient erzeugter Wärme führt nun zu Effizienzproblemen ganz anderer Art. Sinnvoll ist die Nutzung von KWK
dort, wo ein hoher Wärmebedarf über das ganze Jahr
kalkulierbar ist. Denn Wärme ist massegebunden und
daher nicht wie Strom über größere Strecken effizient zu
transportieren. Muss überschüssige Wärme über länZu Protokoll gegebene Reden
gere Wege geleitet werden, beispielsweise von einem abseits liegenden Aussiedlerhof zu weiter entfernten Versorgungsobjekten, fallen relativ hohe Transport- und
Übertragungskosten an. Insofern sollte darauf geachtet
werden, die Stromerzeugungsanlagen möglichst nah der
Wärmesenken anzusiedeln.
Im Grunde ist es paradox: „Besonders effizient“ produzierter Strom und Wärme fährt im Weg zum Verbraucher oft hohe Effizienzverluste ein. Diese Überlegung
findet in der rot-grünen Gedankenwelt wohl wenig Beachtung. Sie wirft jedoch die Frage auf, welche Rolle
große KWK-Anlagen für die Wärmeerzeugung tatsächlich spielen können. Diese Aspekte sollte jeder im Hinterkopf haben, der mit dem Gedanken spielt, die KWKFörderung weiter zu stärken, um der Umwelt uneingeschränkt etwas Gutes zu tun.
Ich möchte die KWK nicht schlechtreden, aber wir
müssen pragmatisch prüfen, welche konkreten Ziele für
den KWK-Ausbau vor dem Hintergrund der angesprochenen Probleme angemessen und sinnvoll sind. In Ihrem Antrag nennen Sie eine Reihe von Maßnahmen, wie
der KWK verstärkt unter die Arme gegriffen werden
sollte, beispielsweise mit einer Überprüfung des Förderdeckels oder dem Abbau bürokratischer Hemmnisse bei
der Modernisierung von KWK-Anlagen.
Ich will Ihnen ganz offen sagen: Was die Überprüfung
der KWK-Instrumente betrifft, kann ich mir durchaus einiges vorstellen. In der Zielsetzung sind wir gar nicht so
weit voneinander entfernt, wie Sie vielleicht meinen.
Ebenso wie Sie stelle ich die grundsätzliche Sinnhaftigkeit von KWK als einen intelligenten Weg effizienter
Energienutzung überhaupt nicht infrage. Ich möchte Ihnen aber auch sagen: Die Opposition lässt keine Gelegenheit ungenutzt, um unsere energiepolitischen Maßnahmen anzuprangern. Aber im Unterschied zu Ihnen
haben wir seit nunmehr 20 Jahren ein energiepolitisches
Konzept aus einem Guss vorgelegt. Zum ersten Mal wird
ein Ziel verbindlich. Dieses besteht darin, dass wir am
Industriestandort Deutschland die effizienteste, klimaverträglichste und wettbewerbsfähigste Energieversorgung realisieren werden, die es weltweit gibt. Insgesamt
planen wir über 60 Maßnahmen. Dabei ist die KWK einer von vielen Faktoren, um unsere Energieversorgung
umzustellen: von fossiler Energie und Kernenergie auf
regenerative Energien. Aber Ihnen fehlt eine solche
energiepolitische Strategie. Deshalb ist es einfach, diese
und jene Stellschraube zu kritisieren. Anspruchsvoller
hingegen, eine Langfriststrategie umzusetzen.
Ich bin überzeugt, die KWK-Frage sinnvollerweise
nur vor einem langfristigen Horizont entscheiden zu
können. Unser Energiekonzept lebt von seinem Ziel. Was
ist dieses Ziel? Bis 2050 unsere Energieversorgung nahezu vollständig auf erneuerbare Energien umzustellen und dabei das Prinzip der Wirtschaftlichkeit nicht aus
den Augen zu verlieren. Deshalb ist es auch ein Gebot
von Verantwortlichkeit, nicht hier und dort isoliert nachzusteuern, sondern die Förderung von KWK in der gesamten Beziehung unserer energiepolitischen Ziele anzugehen. Für die KWK bedeutet das mittelfristig: In der
ersten Jahreshälfte 2011 werden wir über die Wirksamkeit der KWK-Förderinstrumente entscheiden und gegebenenfalls dort nachbessern, wo es langfristig sinnvoll
erscheint - auf Grundlage des Zwischenberichts zum
KWKG und des Erfahrungsberichts zum EEG. Dabei
werden wir uns leiten lassen von einer Orientierung, die
gesellschaftlich gewollt und volkswirtschaftlich sinnvoll
ist. Dabei zeigt uns das Energiekonzept einen guten Weg,
wie wir die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sichern
und gleichzeitig das Herzstück unseres Industriestandorts, eine zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung, langfristig gestalten können.
Mit dem Integrierten Energie- und Klimaprogramm
2007 und der Novelle des Kraft-Wärme-Kopplungsgesetzes im Jahr 2008 hat sich die damalige schwarz-rote
Bundesregierung dazu verpflichtet, den Anteil des
Stroms aus hocheffizienter Kraft-Wärme-Kopplung, KWK,
auf 25 Prozent der Stromerzeugung zu erhöhen. Die
KWK sollte mit einer Reduktion von rund 20 Millionen
Tonnen CO2-Emissionen im Jahr 2020 zur Erreichung
des Klimaziels von minus 40 Prozent CO2 beitragen.
Davon findet sich im Energiekonzept der schwarzgelben Bundesregierung nichts mehr. Zwar verfolgt man
noch immer ambitionierte Klimaziele, doch vertraut
man bei der Erreichung der Ziele in erster Linie auf die
Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken. Von
KWK und deren Anteil ist dagegen kaum noch die Rede.
Der „Zusatznutzen“ und die „Zusatzkosten“ der KWKFörderung sollen überprüft werden, und beim Trostpflaster für die Stadtwerke aufgrund deren Benachteiligung durch die Laufzeitverlängerung sollen auch ein
paar Cent für die KWK abfallen. Mehr steht nicht im
Energiekonzept zur KWK.
Sie haben sich vom 25-Prozent-Ziel für die KWK verabschiedet und trauen sich nicht, dies wenigstens deutlich zu sagen. In Ihrer Euphorie über die Laufzeitverlängerung, die nun langsam in Katerstimmung umschlägt,
haben Sie einige Dinge übersehen: Der Weiterbetrieb
alter, ineffizienter und risikobeladener Atomkraftwerke
führt zum Investitionsattentismus beim Neubau und bei
der Modernisierung von alternativen Stromerzeugungsanlagen wie zum Beispiel KWK-Anlagen. Ohne den Ausbau der KWK können Sie Ihre Ziele zur Steigerung der
Energieeffizienz vergessen. Kein konventionelles fossil
oder nuklear betriebenes Kraftwerk kann mit dem Wirkungsgrad einer KWK-Anlage konkurrieren. Damit verpassen Sie auch Ihr Klimaschutzziel von minus 40 Prozent
CO2-Emissionen bis 2020 - oder die Emissionsminderung muss sehr teuer erkauft werden.
Da KWK auch mit erneuerbaren Energien betrieben
werden kann, legen Sie ein wichtiges Instrument für den
klimaschonenden Umbau des Wärmemarktes aus der
Hand. Der ganz überwiegende Teil der mit dem KWKAusbau verbundenen Wertschöpfung findet in Deutschland statt. Es werden dadurch Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen und gesichert. Doch Sie verzichten
- das ist Ihnen aber bewusst - auf Wettbewerb und dezentrale Erzeugungsstrukturen auf dem Strommarkt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Erst vor kurzem haben Sie der Fernwärme noch einen
Schlag versetzt, als Sie in einer Hauruck-Aktion die Begünstigung für die Fernwärme bei der Energiesteuer gestrichen haben. Neben der Benachteiligung der Fernwärme im europäischen Emissionshandel in den Jahren
nach 2012 wird die Fernwärme mit diesem Schritt doppelt gegenüber ineffizienten und dem Emissionshandel
nicht unterworfenen Einzelfeuerungsanlagen benachteiligt.
SPD und Grüne bieten Ihnen mit diesem Antrag nun
ihre Hilfe an, um einen Fehler zu korrigieren bevor er
gemacht wird. Es besteht ein großes Potenzial für KWK
in Deutschland - sowohl im Wärmemarkt als auch im
Strommarkt. Halten Sie daher zumindest am 25-ProzentZiel fest. Dadurch kann unsere Volkswirtschaft ihre Importabhängigkeit bei fossilen Primärenergieträgern reduzieren. Die Modernisierung unseres Kraftwerkparks
auf Basis der KWK wirkt wie ein Konjunkturprogramm
für den Mittelstand. Es werden hier Arbeitsplätze geschaffen und gesichert. Der Maschinenbau und das
Handwerk würden es Ihnen danken.
In den vergangenen Jahren haben neue Energieanbieter und vor allem Stadtwerke in die Erneuerung und
Verjüngung des Kraftwerksparks investiert. Durch Ihre
Atompolitik verkommen nun viele Investitionen zu
„stranded investments“. Planungen mit einem Milliardenvolumen werden auf Eis gelegt. Am besten beerdigen
Sie die Laufzeitverlängerung, denn dann wird auch wieder in den Strommarkt Deutschland investiert.
Um das 25-Prozent-Ziel zu erreichen, müssen wir
aber auch die bisherigen Instrumente, insbesondere das
KWKG, auf ihre Wirksamkeit überprüfen. Das Gesetz
muss einem Monitoring unterzogen werden. Was muss am
Gesetz verändert werden, damit es wirkt? Auf jeden Fall
muss der Anmeldezeitraum für Anlagenbau und -modernisierung über das Jahr 2016 hinaus verlängert werden.
Reichen aber die Vergütungsklassen und die Höhe der
Vergütung? Wirkt sich der jährliche Deckel in Höhe von
750 Millionen Euro als Investitionshindernis aus? Kann
mit der Struktur des Gesetzes das Potenzial bei der industriellen KWK gehoben werden?
Öffnen Sie für die kleinere und mittlere KWK den
Markt für Regel- und Ausgleichsenergie. Insbesondere
die gasbetriebene KWK ist die eigentliche Brücke ins
Zeitalter der erneuerbaren Energien. Führen Sie das Impulsprogramm für Mini-KWK wieder ein. Die MiniKWK bietet nicht nur eine sinnvolle und wirtschaftliche
Lösung im Bereich von kleineren Mehrfamilienhäusern,
die weder an ein Fernwärmenetz angeschlossen werden
können noch ausreichend Potenzial für die Nutzung von
erneuerbaren Energien bieten. Sie stärkt auch die deutsche und regionale Wirtschaft. 93 Prozent der bisher in
Deutschland geförderten Anlagen stammen aus heimischer Produktion; der Handwerker vor Ort installiert
die Anlage im Keller.
Bauen Sie Hemmnisse und Benachteiligungen ab. In
unserem Antrag listen wir Ihnen einen ganzen Katalog
von geeigneten Maßnahmen dazu auf. Arbeiten Sie in
Zusammenarbeit mit Ländern und Kommunen daran,
dass Kommunen klare und individuell geschneiderte
Energiekonzepte entwickeln können. Denn ab einer gewissen Größe und einer gewissen Bevölkerungsdichte
bietet sich für Kommunen ein Stromerzeugungs- und
Wärmekonzept an, dass in erster Linie auf KWK basiert.
Städte und Gemeinden sollen autonom festlegen können,
wo zum Beispiel ein Nahwärmenetz sinnvoller ist als
Einzelfeuerungsanlagen mit anteiliger Nutzung von erneuerbaren Energien.
Nehmen Sie sich ein Beispiel an Nordrhein-Westfalen.
Dort hat die neue Landesregierung im Koalitionsvertrag
zwischen SPD und Grünen eine klare und mit anderen
Maßnahmen der Energiepolitik abgestimmte Politik pro
KWK vereinbart. Dort wird versucht, mit einer eigenen
Förder- und Anreizpolitik sowie mit dem konsequenten
Abbau von Hemmnissen den KWK-Anteil an der Stromerzeugung auf über 25 Prozent zu erhöhen.
Seien Sie nicht atomfixiert. Glauben Sie nicht an die
Märchen der Atomlobby. Schlagen Sie den richtigen
Weg ein in Richtung der klimapolitisch gebotenen Ziele.
Unterstützen Sie diesen Antrag. Beenden Sie den Irrweg
der Atomenergie und setzen Sie auf den idealen Partner
der erneuerbaren Energien.
Die Grünen und die SPD wollen uns heute mit ihrem
Antrag weismachen, wir vernachlässigten die KraftWärme-Kopplung als effiziente Ressourcen- und Klimaschutzoption, stellten sie sogar zugunsten anderer kürzlich verlängerter Energieformen zurück. Ich sage dazu
Folgendes: Indem sie die Situation hierzulande mit der
in anderen Ländern vergleichen, machen sie die Fortschritte der deutschen Industrie und mittelständischen
Energieversorger in der KWK madig. Sie vergleichen
die Bundesrepublik mit flächenmäßig weitaus kleineren
Ländern wie Dänemark und den Niederlanden. Dort ist
die Größe eines Fernwärmenetzes doch beinahe vergleichbar mit unseren Nahwärmenetzen. Da ist es kein
Kunststück, auf einen so hohen KWK-Anteil zu kommen.
Wir sind auf dem Weg, den Anteil von KWK-Strom
auszubauen. Seit der letzten Änderung des KWK-Gesetzes
Anfang 2009 sind über 6 000 Anträge zur Förderung von
KWK-Anlagen beim BAFA eingegangen. Die Anzahl der
Anträge zum Wärmenetzausbau lag bei über 600. Davon
sind bis zum Ende des dritten Quartals dieses Jahres
rund 5 600 Zulassungen für Anlagen und 230 Zulassungen für Wärmenetzinvestitionen erteilt worden. Auch der
diese Woche von der Bundesnetzagentur vorgestellte
Monitoringbericht widerlegt Ihre These, dass keine
KWK-Anlagen in Deutschland mehr errichtet werden.
KWK ist nicht tot! Mehr als 5 200 Megawatt KWKStromkapazitäten gehen allein im Zeitraum von 2010 bis
2012 an das Netz. Das entspricht mehr als einem Drittel
der Gesamtstromerzeuger, die in diesem Zeitraum mit
der Einspeisung beginnen. Dass dem wieder aufgegebene Investitionen gegenüberstehen, ist gängige Praxis
im Rahmen solcher Projekte. Entsprechend interessant
ist ein Blick in die Zukunft. Dort sieht es ganz gut aus:
Mehr als 700 Megawatt sind bereits genehmigt, über
800 Megawatt im Bau. Ob wir damit das Ziel einer Verdoppelung des KWK-Anteils an der Stromerzeugung erZu Protokoll gegebene Reden
reichen, wird die Zwischenüberprüfung im nächsten
Jahr zeigen. Ich bin zuversichtlich!
Sie, Grüne und SPD, beklagen ferner in Ihrem Antrag, dass die Weiterführung des Impulsprogramms für
Mini- und Mikro-KWK-Anlagen unsicher ist. Mir ist bekannt, dass sie gerne Geld ausgeben, das sie nicht haben. Ich finde die Idee mit dem Schwarmstrom ebenso
vielversprechend wie die Antragsteller. Dazu braucht es
aber intelligente Netze. Bis sie flächendeckend in
Deutschland vorhanden sind, sind die Anlagen, die
heute beim Verbraucher zu Hause stehen, schon nicht
mehr up to date. Das bedeutet, wir müssten schon wieder neue Anreize setzen, um nicht einen ganzen Investitionszyklus abwarten zu müssen, und das ist ganz einfach Quatsch!
Tun Sie mir bitte einen Gefallen: Hören Sie endlich
mit Ihren Lügen auf! Ihre Anträge zur Energiepolitik
sind voll davon. Die Bundesregierung würde auf den
Ausbau der KWK weitestgehend verzichten, um in den
Netzen Platz für den zusätzlichen Strom aus der Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke zu machen. Bloßes
Wiederholen macht einen Sachverhalt lange noch nicht
wahr. Lesen Sie die Netzstudie II der dena! Marktwirtschaftlich gesehen hat ganz einfach immer der Strom im
Netz zu sein, der zu genau diesem Zeitpunkt am kostengünstigsten produziert wird. Das ist nach den Erneuerbaren nun einmal der Strom aus den deutschen
Kernkraftanlagen, wenn wir einmal vom Import von Erneuerbaren absehen.
Die Bundesregierung gibt sich allenthalben Mühe,
sinnvolle Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz nicht in Betracht zu ziehen. Das konnte man bei
den Beratungen zum Gesetz für Endenergieeffizienz gut
beobachten, und das manifestiert sich auch in ihrem
Energiekonzept.
Energieverschwendung können wir uns nicht leisten.
Was bei der energetischen Umwandlung von der Primär- zur Nutzenergie tagtäglich an Ressourcen vergeudet wird, ist unbegreiflich. Allein die Abwärme, die ständig aus Kraftwerken in die Umwelt verpufft, reicht aus,
den Wärmebedarf des gesamten Gebäudebestandes zu
decken.
Hier gibt es wesentliche Ansatzpunkte, den Energieverbrauch zu minimieren, Ressourcen zu schonen und
die weitere Beschädigung des Weltklimas zumindest einzudämmen. Dass sich Deutschland mit einem Anteil von
nur etwa 15 Prozent Kraft-Wärme-Kopplung im Strommix europaweit im unteren Mittelfeld bewegt, ist ein
Zeichen von eklatanten Versäumnissen und verfehlter
Energiepolitik: Fernwärme beispielweise wird durch
den jüngsten Beschluss des Haushaltsbegleitgesetzes
schlechter gestellt - eine Technologie, die in Finnland
selbst vom größten Stromversorger als die mit Abstand
wirtschaftlichste Variante für die Stromerzeugung bezeichnet wird und dort zu einem großen Boom der KraftWärme-Kopplung geführt hat.
Auf kommunaler Ebene ließe sich gerade die Fernwärme mit sehr positiven Effekten für Energieeinsparung
und für die regionale Wertschöpfung etablieren, würde
man die kommunalen Konzessionsverträge im Sinne der
öffentlichen Hand stricken und würde man Kommunen
Anreize und Fördermöglichkeiten zur Verfügung stellen,
ein eigenes, regionales Energieversorgungsunternehmen
zu gründen. Das bedeutete eine Regionalisierung und
Dezentralisierung von Energieerzeugung und Verbrauch. Das würde die Netze und die Verbraucher entlasten. Das hieße jedoch ein Aufbrechen der Marktvormachtstellung der großen vier Energiekonzerne; aber
genau das will Schwarz-Gelb verhindern. Und die Rahmenbedingungen dahin gehend zu verändern, dass der
Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung fortschreiten kann,
heißt auch, den großen vier Energiekonzernen ordnungsrechtliche Effizienzvorschriften machen. Ob die Bundesregierung da ihrem eigenen Anspruch, den sie in ihrem
Energiekonzept formuliert hat - Energieeffizienz als
Schlüsselrolle zu begreifen -, gerecht wird, wage ich zu
bezweifeln. Denn es gilt bei Schwarz-Gelb und in den
Konzernetagen auch in Zeiten des ökologischen Umbruchs die Kapitallogik - Profite gehen vor, auch vor den
Schutz des Klimas.
Bei allen Effizienzbestrebungen und wünschenswerten Entwicklungen muss aber auch klar sein, dass bei
der Verfeuerung und energetischen Nutzung von Biomasse auch der KWK-Bereich an seine Grenzen stoßen
wird. Nicht alles, was regenerativ heißt, ist auch nachhaltig nutzbar. Es braucht viel Augenmaß, den ökologischen Flächenschutz und die Nahrungsmittelproduktion
nicht gegen die erneuerbaren Energien auszuspielen.
Man muss auch klar feststellen, dass Kraft-WärmeKopplung auf Grundlage fossiler Brennstoffe bereits
jetzt ein Auslaufmodell ist; denn 100 Prozent erneuerbare Energien gibt es damit nicht. Aber es ist ein wichtiger Übergang, ein Schritt auf dem Weg dorthin.
Und da reden wir dann von Brückentechnologie, denn
nur das ist tatsächlich energie- und klimapolitisch sinnvoll. Ein Erdgasblockheizkraftwerk, also Kraft-WärmeKopplung in angewandter Form bei Verbrennung einer
fossilen Ressource, hat eine bessere CO2-Bilanz als ein
Atomkraftwerk. Das deutsche Atomforum und mit ihm
gemeinsam die Bundesregierung verschweigen das geflissentlich und streuen weiter die Lüge vom emissionsfreien Atomstrom.
Wir halten den vorliegenden Antrag von SPD und
Grünen für einen tragfähigen Ansatz, mit einer Novellierung des KWK-Gesetzes unter den Zwängen des freien
Marktes einen Anstoß zum Einsparen von Energie zu geben.
In dem vorliegenden Antrag, den wir gemeinsam mit
der SPD aufgesetzt haben, fordern wir die Bundesregierung auf, an den Ausbauzielen für die hocheffiziente
Kraft-Wärme-Kopplung, KWK, festzuhalten. KWK ist
die gleichzeitige Erzeugung von Strom und Wärme und
damit eine hocheffiziente Technologie mit Wirkungsgraden von bis zu 90 Prozent. Sie führt zu deutlichen EnerZu Protokoll gegebene Reden
gieeinsparungen, sowohl in privaten Haushalten als
auch in der Industrie. Diese innovative und flexible
Technologie stellt darüber hinaus eine ideale Ergänzung
für Strom aus erneuerbaren Energien mit einem fluktuierenden Einspeiseverhalten dar. Doch die schwarz-gelbe
Bundesregierung hat in den vergangenen 14 Monaten
ihrer Regierungszeit alles getan, um den weiteren Ausbau dieser Technologie zu verhindern und der gesamten
Branche mit circa 40 000 Beschäftigten vor den Kopf zu
stoßen. Dies ist der Grund, warum wir uns gemeinsam
mit der SPD zum Handeln gezwungen sehen.
Lassen Sie uns zunächst einen kurzen Blick zurück
werfen: Es ist gerade einmal drei Jahre her, da hat die
damalige Große Koalition unter der Kanzlerin Angela
Merkel ihr Integriertes Energie- und Klimapaket, IEKP,
vorgelegt. In diesem Paket wurde als oberste Maßnahme
das Ziel vereinbart, den Anteil der hocheffizienten KWK
auf 25 Prozent am deutschen Stromverbrauch zu erhöhen. Auch wenn in Deutschland noch deutlich größere
KWK-Potenziale existieren und erschließbar sind, haben wir Grüne es damals begrüßt, dass ein deutlicher
Ausbau der KWK stattfinden soll. Viele Unternehmen in
Deutschland haben in den vergangenen Jahren in diese
Klimaschutztechnologie in dem Vertrauen investiert,
dass die Politik den Ausbau dieser Technologie fördert
und forciert.
Doch schon beim Regierungswechsel vor etwas mehr
als einem Jahr wurde erkennbar, dass die neue schwarzgelbe Bundesregierung ungeachtet des Vertrauens auf
Investitionssicherheit seitens der Branche und vieler
Stadtwerke eine Kehrtwende bei der KWK vollzieht. Mit
keinem Wort wurde die KWK im Koalitionsvertrag erwähnt. Die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke
wurde dagegen im Koalitionsvertrag bereits angekündigt und auch der Neubau von „hocheffizienten Kohlekraftwerken“, bei denen mehr als die Hälfte der Energie
immer noch sinnlos als Abwärme in die Atmosphäre abgegeben wird, sollte ausdrücklich ermöglicht werden.
Schon zu diesem frühen Zeitpunkt zeichnete sich die bevorstehende Klientelpolitik der neuen Bundesregierung
zugunsten der großen Energiekonzerne deutlich ab. Als
Folge dieser Politik stehen viele Stadtwerke - diese investieren hauptsächlich in KWK - nun vor sogenannten
„Stranded Investments“.
Diese Politik gegen die KWK setzte sich in dem zurückliegenden Jahr durchweg fort. So wurde das Impulsprogramm zur Förderung von Mini-KWK-Anlagen
ohne jede Not im März diesen Jahres eingestellt, und
das, obwohl selbst das Bundesumweltministerium in einer Studie nachgewiesen hat, dass jeder Förder-Euro
mindestens 7 Euro Investitionen auslöst und sich das
Programm durch die damit verbundenen Steuereinnahmen von selbst trägt. Dies ist ein wahrer Schildbürgerstreich, den sich die Bundesregierung da geleistet hat.
Ohne das Impulsprogramm wird es die noch junge Technik mit ihrem großen Potenzial, die einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der Klimaschutzziele und zur Dezentralisierung der Stromerzeugung leistet, sehr viel
schwerer haben, den Durchbruch im Markt zu erreichen.
In ihrem Energiekonzept schließlich, welches die
Bundesregierung nach monatelangen Ankündigungen
im September veröffentlicht hat und das nach den Worten der Kanzlerin geradezu eine Revolution darstellt,
hat sich die Bundesregierung endgültig von ihren Ausbauzielen für die KWK verabschiedet. Bitte erzählen Sie
uns jetzt nicht das Märchen, Sie seien damit einer Empfehlung der drei Institute gefolgt, die sich für die Energieszenarien verantwortlich zeichnen. Es ist bekannt,
dass diesen Instituten gewisse Vorgaben gemacht wurden, und ein forcierter Ausbau der KWK war mit Sicherheit nicht Bestandteil dieser Vorgaben; das haben die
Lobbyisten von RWE und Co. erfolgreich verhindert.
Diese Unternehmen wurden im Energiekonzept dagegen
mit einem schönen Geschenk in Form von längeren
Laufzeiten für Atomkraftwerke bedacht. Jetzt gab es nur
ein Problem: Wohin mit dem ganzen Atomstrom? Dass
wir ihn nicht brauchen, um eine angebliche Stromlücke
zu decken, hat man inzwischen sogar bei Union und
FDP begriffen. Sie lösten das Problem, indem sie die
KWK aus ihren Strategiepapieren strichen. Da sie genau
wissen, dass der konsequente Ausbau der erneuerbaren
Energien nicht mehr aufzuhalten ist, entschieden sie sich
für die vergleichsweise unbekannte KWK, aus Angst vor
Protesten.
Aus Gründen des Klimaschutzes und im Interesse einer ganzen Branche fordern wir daher auf, die KWK
nicht, wie im Energiekonzept vorgesehen, den Gewinninteressen der großen vier Oligopolisten im Strommarkt zu
opfern, sondern an den im IEKP und dem Kraft-WärmeKopplungs-Gesetz formulierten Ziel von 25 Prozent
Stromerzeugung aus KWK in Deutschland festzuhalten
und auch die entsprechenden Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels einzuleiten. Wie dies gelingen kann,
können sie in unserem fraktionsübergreifenden Antrag
nachlesen. Wir haben dort alle notwendigen Punkte aufgeführt. Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion
darüber mit Ihnen in den Ausschüssen des Deutschen
Bundestages.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3999 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie,
wie ich sehe, einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Änderungsprotokoll
vom 25. Mai 2010 zum Abkommen vom
17. Oktober 1962 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Irland zur Vermeidung
der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung
der Steuerverkürzung bei den Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuer
- Drucksache 17/3358 8678
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/4061 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding ({1})
Dem Deutschen Bundestag liegt heute der Gesetzentwurf zur Ratifikation des Änderungsprotokolls zum
Doppelbesteuerungsabkommen mit Irland vor. Grundsätzlich dienen Doppelbesteuerungsabkommen dazu,
die doppelte Besteuerung in den Vertragsstaaten für Unternehmen und Privatpersonen zu vermeiden. Damit
kann die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit
verbessert und Investitionshemmnisse können aufgrund
einer doppelten Steuerlast abgebaut werden.
Das bestehende Abkommen mit Irland wird nach dem
heutigen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens an die
bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse angepasst.
Zum Inhalt: Am 17. Oktober 1962 wurde erstmalig ein
Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Irland und der
Bundesrepublik unterzeichnet. Zur damaligen Zeit war
es ein Grundsatz der bundesdeutschen Außensteuerpolitik, Doppelbesteuerungsabkommen mit als Instrument
der bundesdeutschen Hilfe zur wirtschaftlichen Entwicklung zu nutzen, um das ärmere Land zu fördern. So
wurde auf die Dividenden aus Irland in Deutschland
eine fiktive irische Steuer von 18 Prozent angerechnet,
die tatsächlich so nicht angefallen war, sondern nur
fiktiv angenommen wurde. Somit wurden deutsche Investitionen in Entwicklungsländern gefördert, da sich
die Steuerschuld gegenüber dem deutschen Fiskus im
Verhältnis zu wirtschaftsstarken Ländern ohne fiktive
Quellenbesteuerung verringert.
Da die teilweise rasante wirtschaftliche Entwicklung
Irlands dieses Instrument heute nicht mehr erfordert,
war es aufzuheben. Das Änderungsprotokoll vom
25. Mai 2010 enthält die notwendigen Regelungen, die
fiktive Anrechnung von Quellensteuern zu beseitigen.
Mit dem vorliegenden Vertragsgesetz soll das Änderungsprotokoll zu dem geltenden Doppelbesteuerungsabkommen die für die Ratifikation erforderliche Zustimmung durch unser Haus erlangen.
Zur Bewertung: Das geltende Doppelbesteuerungsabkommen ist aufgrund der wirtschaftlichen und steuerrechtlichen Entwicklung in beiden Staaten überholt und
sollte insbesondere an das aktuelle OECD-Musterabkommen angepasst werden. Irland hat bereits vor dem
Abschluss dieses Änderungsprotokolls einer Gesamtrevision des Doppelbesteuerungsabkommens zugestimmt
und somit dem Wunsch der deutschen Seite entsprochen.
Die Aufhebung der fiktiven Quellensteueranrechnung
orientiert sich an den Empfehlungen des Steuerausschusses der OECD aus dem Jahre 1998. Der Bericht
stellt den Nutzen der Gewährung fiktiver Quellensteueranrechnungen insbesondere wegen der Missbrauchsanfälligkeit, der Wirksamkeit als Instrument zur
wirtschaftlichen Entwicklung und der Erosion der Besteuerungsgrundlagen zwischen den Staaten infrage.
Der Steuerausschuss der OECD kam zu dem Schluss,
dass dieses Instrument nur mit solchen Staaten in Betracht gezogen werden sollte, deren wirtschaftlicher
Entwicklungsstand wesentlich unter dem von Mitgliedstaaten der OECD liegt.
Zum Ausblick: Der Parlamentarische Staatssekretär
im Bundesfinanzministerium, Hartmut Koschyk, hat den
Finanzausschuss im Juli dieses Jahres über die Paraphierung eines neuen Doppelbesteuerungsabkommens
mit Irland informiert. Der entsprechende Ratifikationsprozess wird durch unser Haus in den nächsten Monaten
beginnen, nachdem das Bundeskabinett entsprechend
beraten und beschlossen hat. Damit werden wir dann
umfänglicher auf die im Vergleich zu 1962 veränderte
Situation im Bereich der Doppelbesteuerungspolitik mit
Irland eingehen. Nach bisherigem Stand wird dabei der
OECD-Standard umgesetzt, und es werden Neuregelungen unter anderen in den Bereichen Dividenden, Renten
und Informationsaustausch in Steuersachen getroffen.
Dies alles werden wir dann zu gegebener Zeit erörtern.
Für heute steht zunächst nur das Änderungsprotokoll
zur Abstimmung; damit steht die Aufhebung der fiktiven
Quellensteueranrechnung auf der Agenda. Die Unionsfraktion wird dem vorliegenden Gesetzentwurf zustimmen und dankt dem Ausschusssekretariat für die geleistete Arbeit.
Wir verhandeln heute die Überarbeitung des Doppelbesteuerungsabkommens, DBA, zwischen Irland und der
Bundesrepublik Deutschland. Im Kern geht es dabei um
die Aufhebung der fiktiven Quellensteueranrechnung in
Art. XXII des Abkommens. Die SPD-Bundestagsfraktion
unterstützt dieses Verhandlungsergebnis, das die Einnahmeseite des Bundeshaushalts stärken soll und die
Anfälligkeit der Regelungen für Steuergestaltung und
Missbrauch verringert. Mit der Revision wird das bestehende Abkommen an das aktuelle OECD-Musterabkommen, OECD-MA, aus dem Jahr 2008 angepasst.
Die Bundesrepublik bildet damit im Steuerrecht die
Weiterentwicklung der irisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen und die Annäherung im sozioökonomischen
Entwicklungsniveau der beiden Staaten ab. Die irische
Regierung ist Deutschland in den Verhandlungen entgegengekommen und hat die Aufhebung der fiktiven Quellensteueranrechnung schon vor Abschluss des parlamentarischen Verfahrens angekündigt.
Das zur Revision anstehende Doppelbesteuerungsabkommen stammt aus dem Jahr 1962 und reflektiert insbesondere in der Regelung zur Anrechnung einer fiktiven, das heißt in Irland nicht erhobenen und gezahlten
Quellensteuer die ursprünglichen Motive des Vertrags
zwischen Irland und Deutschland. Fiktive Quellensteueranrechnung bedeutet, dass in Irland als gezahlt
geltende Quellensteuer bei der Ermittlung der Steuer in
Deutschland angerechnet wird. Irland erhebt keine Kapitalertragsteuer auf Zahlungen an nichtansässige Personen oder Gesellschaften. Dem Steuerpflichtigen in
Lothar Binding ({0})
Deutschland entsteht also lediglich eine fiktive Steuerlast. Das im bisherigen Abkommen vorgesehene Anrechnungsverfahren gilt für Zins- und Dividendenzahlungen an natürliche Personen, insbesondere allerdings
für Ausschüttungen einer irischen Tochtergesellschaft
an die deutsche Konzernmutter. Bislang konnte sich das
in Deutschland steuerpflichtige Mutterunternehmen
18 Prozent des Nettobetrags dieser empfangenen Dividenden auf seine Steuerschuld anrechnen lassen. Im Ergebnis musste das Unternehmen somit weniger Steuer
abführen, als wenn seine Dividendeneinkünfte aus inländischen Beteiligungen stammen würden - ein steuerlicher Anreiz für ein Engagement im Ausland. Deutschland subventionierte mit dieser Regelung also Investitionen deutscher Unternehmen in Irland.
Der Verzicht auf Steuereinnahmen diente somit als Instrument der Wirtschaftsförderung und entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Es handelte sich um eine
steuerliche Subvention von Investitionen im Ausland, die
von deutscher Seite toleriert wird. Im Regelfall findet
diese Anrechnungsmethode in Abkommen mit Entwicklungsländern oder Staaten in wirtschaftlichen Schwierigkeiten Anwendung. Die steuerliche Unterstützung der
wirtschaftlichen Entwicklung war 1962 für Irland sicherlich eine sinnvolle Überlegung und Regelung. Das
geltende Abkommen ist mittlerweile aufgrund des wirtschaftlichen Aufholprozesses Irlands allerdings überholt. Das Land hat stark von seinem Beitritt zur Europäischen Union und dem dadurch ausgelösten
Modernisierungsschub profitiert, insbesondere von der
Unterstützung aus den verschiedenen EU-Programmen
zur Förderung der wirtschaftlichen, strukturellen und
regionalen Entwicklung.
Inzwischen ist Irland ein starker Standort für Unternehmen, sogar so stark, dass das Land einen der niedrigsten Körperschaftsteuersätze in Europa hat und damit in einen starken Ansiedlungswettbewerb mit anderen
Staaten getreten ist, die einen höheren Steuersatz haben.
Die irische Regierung schreibt in einem Memorandum
zur Wirtschafts- und Finanzpolitik zu ihrem Antrag auf
finanzielle Unterstützung im Rahmen des europäischen
Finanzstabilisierungsmechanismus, „dass Irland weltweit an vorderster Front steht, was die Bereitstellung einer unternehmensfreundlichen Umgebung angeht“. In
dieser Konstellation ist eine steuerliche Förderung über
eine fiktive Quellensteueranrechnung nicht mehr sinnvoll und erforderlich. Deshalb hat die Bundesregierung
im Jahr 2007 Verhandlungen über eine Revision des Abkommens aufgenommen. Die Aufhebung der fiktiven
Steueranrechnung hilft dabei, Steuersubstrat in Deutschland zu sichern. Es handelt sich um ein Ziel, für das die
SPD-Bundestagsfraktion seit langem arbeitet.
Mit Blick auf die angekündigte Sicherung von Steuereinnahmen in Deutschland tritt allerdings ein Widerspruch im Gesetzentwurf der Bundesregierung zutage,
der sich auch in den Beratungen im Finanzausschuss
nicht aufklären ließ: Die Bundesregierung spricht in ihrem Gesetzentwurf davon, dass sich durch die Beseitigung der fiktiven Quellensteueranrechnung „nicht bezifferbare Steuermehreinnahmen“ für die öffentlichen
Haushalte ergeben. Andererseits heißt es zu den Kosten
für die betroffenen Unternehmen: „Die Wirtschaft ist
durch das Gesetz nicht unmittelbar betroffen. Unternehmen, insbesondere mittelständischen Unternehmen, entstehen durch dieses Gesetz keine unmittelbaren direkten
Kosten. Auswirkungen auf Einzelpreise und das Preisniveau, insbesondere das Verbraucherpreisniveau, sind
von dem Gesetz nicht zu erwarten.“
Ich frage mich allerdings, wie die steuerlichen Mehreinnahmen entstehen sollen, wenn bei niemandem die
Steuerbelastung steigt, weder bei den betroffenen Unternehmen noch bei ihren Kunden. Meine Nachfrage im Finanzausschuss konnte diesen Widerspruch zu den
Grundsätzen einer transparenten und seriösen Kostenabschätzung leider nicht auflösen. Die unklaren und
schwer nachvollziehbaren Ausführungen der Bundesregierung verwundern, zumal sie sich von der Revision des
Doppelbesteuerungsabkommens eine Erweiterung der
inländischen Besteuerungsgrundlage und die Stärkung
der Einnahmeseite des Haushalts verspricht. Sie verweist zur Umsetzung dieser Zielsetzungen in der Gesetzesbegründung ausdrücklich auf die entsprechenden
Empfehlungen des Steuerausschusses der OECD, der zu
einer Aufhebung der fiktiven Quellensteueranrechnung
rät.
Das Informationsgefälle zwischen Bundesregierung
und Bundestag ist kein Einzelfall. Der Finanzausschuss,
der federführend die parlamentarischen Beratungen eines DBA betreut, beklagt seit längerem die Schieflage
zwischen Legislative und Exekutive im Zugang zu Informationen und bei der Verhandlungssteuerung. Angesichts der wachsenden Bedeutung eines ausgewogenen
und abgestimmten Netzes von Doppelbesteuerungsabkommen bin ich der Ansicht, dass der Finanzausschuss
mehr und bessere Informationen über die bisherige Anwendung eines Abkommens und seine künftige Ausrichtung benötigt, um seine Aufgabe auf einer ausreichenden Datengrundlage verantwortungsbewusst wahrnehmen zu können. Zu einer besseren Beteiligung des
Gesetzgebers gehören nach meiner Einschätzung etwa
Informationen über die fiskalischen und wirtschaftlichen Wirkungen oder die Zahl der betroffenen Steuerpflichtigen wie auch Gestaltungsbefugnisse in der materiellen Verhandlungsstrategie und bei Anwendung von
Anrechnungs- und/oder Freistellungsmethoden.
Mehr Sorgfalt der schwarz-gelben Bundesregierung an
dieser Stelle hätte den parlamentarischen Beratungen gut
getan. Ich hoffe, dass sich das Denk- und Handlungsmuster von Union und FDP, das sich in der sozialen Schieflage
der sogenannten Sparbeschlüsse, in den Rechentricks bei
der Haushaltsaufstellung des kommenden Jahres oder bei
der Verbuchung nicht vorhandener, vielleicht nie realisierbarer Einnahmen, etwa aus der Finanztransaktionsteuer
oder der Brennelementesteuer, äußert, nicht auch in den
auf Dauer angelegten Verträgen zur Regelung grenzüberschreitender Besteuerungssachverhalte niederschlägt. Die
SPD-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf,
Doppelbesteuerungsabkommen mit ähnlichen Regelungen der Wirtschaftsförderung, die ebenfalls nicht mehr
dem Stand der wirtschaftlichen Entwicklung entsprechen, zu überarbeiten und Verhandlungen über den
Zu Protokoll gegebene Reden
Lothar Binding ({1})
Wechsel zu einem „echten“ Anrechnungsverfahren aufzunehmen.
Leider hatte die Exekutive auch keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage, warum der Bundestag
nicht schon früher auf die alte Regelung der fiktiven
Quellensteueranrechnung hingewiesen wurde; schließlich sind die Rechtfertigungsgründe dafür schon lange
entfallen. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass uns
Irland von Schwarz-Gelb immer als Musterland für die
vermeintlichen Wohltaten von Steuersenkungen und
nachlässiger Finanzaufsicht vorgehalten wurde. Dabei
wurde allerdings übersehen, welcher Schaden für den
Staat bei solcher Unterfinanzierung entstehen würde.
Heute sehen wir das Problem, wenn das finanziell ausgezehrte Irland seine Finanzierungsschwierigkeiten, die
auch mit den umfangreichen Rettungsmaßnahmen für
seinen Bankensektor zusammenhängen, nur noch mithilfe seiner europäischen Partnerländer bewältigen
kann.
Die Aufhebung der fiktiven Quellensteueranrechnung
und der damit verbundene Wegfall der steuerlichen Förderung fallen ausgerechnet in eine Phase, in der es Irland schlecht, sogar sehr schlecht geht. Diese zeitliche
Konstellation ist natürlich unglücklich und von niemandem bewusst herbeigeführt, zumindest was die DBANeuregelung angeht.
Die Finanzierungsschwierigkeiten Irlands spiegeln
allerdings auch die grobe Verhandlungsführung von
Bundeskanzlerin Merkel auf europäischer Ebene wider.
Ihre unausgereiften und unkoordinierten Vorschläge zu
einer Verschärfung des europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakts, SWP, zur Einrichtung eines europäischen Stabilitätsmechanismus zur Bewältigung von
Staatsfinanzierungskrisen sind bei vielen Partnerstaaten
in Europa auf Ablehnung und heftige Kritik gestoßen.
Das außenpolitische Ansehen der Bundesrepublik und
ihr Einfluss in den auf Zusammenarbeit angelegten europäischen Institutionen hat durch das rücksichtslose,
machtorientierte Auftreten der Bundeskanzlerin und ihren fast schon herrischen Verhandlungsstil großen Schaden genommen.
Auch in der irischen Bevölkerung ist der Eindruck
entstanden, die schwarz-gelbe Bundesregierung habe
mit ihrem unkoordinierten Vorgehen und ihren vagen
Andeutungen viel Unsicherheit in die Finanzmärkte hineingetragen und die in den vergangenen Tagen und
Wochen wachsenden Refinanzierungsschwierigkeiten
Irlands mitverschuldet. Die Nachwirkungen des irischen
Antrags auf Unterstützung werden den irischen Staatshaushalt und die Menschen in Irland noch lange beschäftigen. Als Gegenleistung für die europäische und
internationale Unterstützung musste sich Irland wie zuvor schon Griechenland zu schmerzhaften Sparanstrengungen, zu einer tiefgreifenden Reorganisation, zu einer
Rekapitalisierung des Bankensektors und zu einschneidenden Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt und in
den Sozialsystemen verpflichten. Die Beschlüsse, etwa
die Absenkung des Mindestlohns oder die Kürzung von
Sozialleistungen und Gehaltszahlungen im öffentlichen
Sektor, treffen leider ausgerechnet Menschen, die auf die
Unterstützung durch das Sozialsystem angewiesen sind.
Auf dem Gebiet der Finanzmarktregulierung und der
Erschließung von Steuereinnahmen aus dem Unternehmensbereich - ich denke etwa an die Einführung einer
europaweiten Finanztransaktionsteuer oder an die Fortsetzung der Arbeiten an der Umsetzung einer Gemeinsamen Konsolidierte Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer, GKKB, - hört man von der Bundesregierung kaum konstruktive Vorschläge. Eine Verständigung auf einheitliche steuerliche Grundlagen, eine
Angleichung von Steuersätzen bei der Körperschaftsteuer oder die Einführung einer Besteuerung von Finanztransaktionen könnte sicherlich einen wichtigen
Beitrag zur einnahmeseitigen Haushaltskonsolidierung
insbesondere von Staaten leisten, die mit wachsender
Verschuldung und hohen Belastungen aus der Finanzkrise zu kämpfen haben. Die Einnahmen aus einer Bankenabgabe reichen dafür nicht aus. Eine Finanztransaktionsteuer hingegen ist hier besser geeignet. Die SPDBundestagsfraktion hat einen Antrag „Irland unterstützen und wirksamen Mechanismus zur Bewältigung von
Staatsfinanzierungskrisen schaffen“ erarbeitet, der gute
Vorschläge zur Krisenbewältigung in Irland und zur
Wiederherstellung der europäischen Solidarität enthält.
Das derzeitige Doppelbesteuerungsabkommen mit Irland ist auf dem Stand von 1962. Damals wurde Irland
noch als sogenanntes Entwicklungsland eingestuft, was
es heute - unabhängig von den vorhandenen finanziellen Schwierigkeiten - definitiv nicht mehr ist. Als Instrument der deutschen Hilfe zur wirtschaftlichen Entwicklung war vereinbart worden, dass als gezahlt geltende
ausländische Steuern auf deutsche Steuern angerechnet
werden können. Nach dem geltenden Doppelbesteuerungsabkommen mit Irland wird das Instrument der fiktiven Quellensteueranrechnung einseitig auf nach
Deutschland fließende Dividenden angewendet. In diesem Fall können 18 Prozent des Nettobetrages der empfangenen Dividenden auf die deutsche Steuer angerechnet werden, die auf diese Dividenden entfällt. Diese
ursprünglich gewünschte Förderung ist heute nicht
mehr zeitgemäß. Die Regelung soll daher nun durch das
vorliegende Änderungsprotokoll herausgenommen werden. Ich begrüße ausdrücklich, dass Irland hier dem
Wunsch der Bundesrepublik entsprochen hat, die fiktive
Quellensteueranrechnung bereits vor der Revision des
gesamten Abkommens aufzuheben.
Am 25. Mai 2010 wurde ein Änderungsprotokoll zum
geltenden Doppelbesteuerungsabkommen mit Irland unterzeichnet. Die Aufhebung der fiktiven Quellensteueranrechnung orientiert sich an den Empfehlungen des
Steuerausschusses der OECD aus dem Jahre 1998.
Hierbei wird vor allem der Tatsache Rechnung getragen, dass die fiktive Quellensteueranrechnung sehr
missbrauchsanfällig ist. Der Steuerausschuss der
OECD hat festgestellt, dass der Einsatz dieses Instruments nur mit solchen Staaten vereinbart werde solle,
dessen wirtschaftlicher Entwicklungsstand wesentlich
unter dem von OECD-Mitgliedstaaten liegt. Darüber hiZu Protokoll gegebene Reden
naus wird mit dem vorliegenden Änderungsprotokoll die
Gewährung von Vergünstigungen bei Schachteldividenden gemäß der Bestimmungen der europäischen MutterTochter-Richtlinie von 25 Prozent auf 10 Prozent angepasst.
Es ist allerdings zu begrüßen, dass während der Verhandlungen über das Revisionsabkommen im Juni dieses Jahres alle noch offenen Punkte geklärt werden
konnten und das neue Abkommen somit auch bereits paraphiert werden konnte. Struktur und Inhalt entsprechen
im Wesentlichen den anderen deutschen Abkommen dieser Art. So wurde, was das Auskunftsverfahren anbelangt, der umfassende Informationsaustausch entsprechend der OECD-Musterklausel vereinbart. Er erstreckt
sich damit nicht nur auf die Bankenauskünfte, sondern
auch auf Sachverhalte wie Geldwäsche, Korruption und
Terrorismus. Man orientiert sich am aktuellen OECDMusterabkommen. Derzeit werden die Vertragstexte
übersetzt, sodass wir neben dem jetzt vorliegenden Änderungsprotokoll dann das gesamte Abkommen an den
aktuellen Stand der wirtschaftlichen Verflechtungen mit
Irland anpassen können. Bevor wir dieses im nächsten
Jahr beraten werden, sollten wir allerdings bereits heute
den vorliegenden Gesetzentwurf beschließen. Nur so
können wir die fiktive Quellensteueranrechnung bereits
für 2010 außer Kraft setzen und die entsprechenden
Steuermehreinnahmen verbuchen. Wir begrüßen die
Vorlage des Änderungsprotokolls, da es an der Zeit war,
eine Revision des bestehenden Abkommens aus dem
Jahr 1962 der Realität anzupassen.
Es ist unser ausgesprochener politischer Wille, die
Regelung der fiktiven Quellenbesteuerung als Instrument der Entwicklungspolitik durch geeignetere Maßnahmen zu ersetzen, in Entwicklungsländern ebenso wie
innerhalb Europas. Wir freuen uns, dass diese Bundesregierung dies Schritt für Schritt umsetzt.
Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung endlich
die fiktive Anrechnung von Quellensteuern im derzeitigen Doppelbesteuerungsabkommen mit Irland aufheben
will. Diese Änderung ist überfällig. Denn sie war ursprünglich als Instrument zur wirtschaftlichen Entwicklung gedacht. Aber wie wir sehen konnten, hatte Irland
das die letzten Jahre definitiv nicht nötig, und der
OECD-Steuerausschuss empfahl das bereits 1998.
Noch einmal zur Rolle von Doppelbesteuerungsabkommen: Einerseits ist zu verhindern, dass Staatsbürger,
sofern sie in einem anderen Land arbeiten, übermäßig
besteuert werden. Gleichzeitig soll dadurch verhindert
werden, dass jemand Vermögen ins Ausland schafft und
dieses somit der Besteuerung im Ursprungsland entzieht.
Der Knackpunkt zur tatsächlichen Verhinderung von
Steuerumgehung ist der Informationsaustausch zwischen den Steuerbehörden der Länder. Hier steckt der
Teufel wie so oft im Detail. Selbst nach OECD-Musterabkommen erfolgt kein automatischer Informationsaustausch, sondern lediglich ein Austausch auf Ersuchen.
Das heißt, zuerst muss die Steuerverwaltung einen
begründeten Verdacht hegen, um dann im betreffenden
Land nachfragen zu können. Das ist bürokratisch, kostet
Zeit, frisst viele Ressourcen und unterstützt die Steuerumgehung. Deshalb fordert Die Linke seit langem einen
automatischen Informationsaustausch. Zudem fordern
wir, dass Übertragungen von Geldvermögen ins Ausland
ab einem jährlichen Betrag von 100 000 Euro beim Bundeszentralamt für Steuern angemeldet werden müssen.
Die Diskussion mit Liechtenstein und der Schweiz sowie
um die Steuer-CDs und die strafbefreiende Selbstanzeige bräuchten wir nicht zu führen, hätten wir einen automatischen Informationsaustausch.
Die Streichung der fiktiven Quellensteueranrechnung
ist ein guter, aber nur minimaler Schritt, denn es bleibt
überwiegend bei der Freistellungsmethode mit Progressionsvorbehalt. Das heißt: Es wird der Steuersatz ermittelt unter Berücksichtigung der im Ausland erzielten
Einkünfte. Dieser Steuersatz wird dann allerdings auf
die Bemessungsgrundlage im Inland, ohne die Berücksichtigung der ausländischen Einkünfte, angewendet.
Das ist der sogenannte Progressionsvorbehalt. Dies
spielt natürlich denen in die Hände, die Einkünfte im
Ausland mit niedrigeren Steuersätzen erzielen. Denn sie
müssen auf die im Ausland erzielten Einkünfte nicht den
im Inland höheren Steuersatz zahlen.
Um Einkünfte gleich zu behandeln und Steuergestaltung zulasten des Fiskus einzudämmen, ist unserer Meinung nach die Anwendung der Anrechnungsmethode
sinnvoller; denn in diesem Fall werden die Einkünfte bei
der Berechnung der inländischen Steuer in der Bemessungsgrundlage berücksichtigt. Von der im Inland zu
zahlenden Steuer wird dann lediglich die bereits im Ausland gezahlte Steuer abgezogen. Damit entfällt der
Anreiz auf Steuergestaltung, und nur dadurch kann letztendlich garantiert werden, dass Einkünfte von Inländerinnen und Inländern steuerlich gleich behandelt
werden, unabhängig vom Ort der Entstehung dieser Einkünfte. Dies böte eine Chance auf mehr Steuergerechtigkeit, doch diese haben Sie vertan.
Zum wiederholten Male muss ich sagen: Damit die
geltenden Steuergesetze auch vernünftig umgesetzt werden können, brauchen wir eine besser ausgestattete
Finanzverwaltung, damit diese ihre Arbeit erledigen
kann. Hier ein alarmierender Hinweis: Während es derzeit rund 111 000 Planstellen bei den deutschen Finanzämtern gibt, waren es 2004 noch über 119 000. Dabei ist
die Rendite eines solchen Beamten enorm: Rein rechnerisch erbringt jeder Finanzbeamte pro Jahr rund
4,6 Millionen Euro.
Zum Schluss noch kurz zur Irland-Problematik: Die
Folgen der Krise, welche ursächlich den Banken in Irland zugeschrieben werden kann, wollen Sie wie auch in
Griechenland auf die Bevölkerung abladen. Statt die
Spekulationen einzudämmen - Herr Finanzminister
Schäuble sagte doch selbst im Deutschlandfunk: „Wir
haben zu viel Spekulation“ - und die Finanzmärkte
wirklich zu regulieren und nach dem Verursacherprinzip
vorzugehen, belasten Sie die Bevölkerung. Sie knicken
vor der Bankenlobby ein, das ist das Problem.
Zu Protokoll gegebene Reden
So kommt es, dass, ebenfalls wie in Griechenland, in
Irland Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst, eine
Senkung des Mindestlohnes, die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 68 Jahre sowie eine Mehrwertsteuererhöhung auf 21 Prozent als Bedingungen gesetzt werden, damit Irland die finanziellen Hilfen erhält.
Fakt ist: So wie Sie im Moment weitermachen, wird
Irland nicht das letzte Land sein, mit dem wir uns hier
beschäftigen werden müssen.
Zunächst eine klare Aussage: Wir Grünen unterstützen das von den EU-Finanzministern geschnürte Rettungspaket für Irland. Die Lage in Irland hat sich in den
vergangenen Tagen dramatisch zugespitzt. Die akute
Ansteckungsgefahr für andere Euro-Staaten, die von der
angespannten Situation in Irland und den Reaktionen
auf den Finanzmärkten ausgeht, kann nur durch die Inanspruchnahme des Euro-Rettungsschirms verringert
werden.
Das Programm zur Stützung des irischen Staatshaushaltes enthält aber auch harsche Einschnitte für die
Bürger Irlands: Mehrwertsteuererhöhung, Kürzung des
Mindestlohns und Anhebung der Studiengebühren. Immer wieder müssen Bürgerinnen und Bürger die Lasten
der Finanzkrise tragen, die sie selbst nicht verursacht
haben. Nicht zuletzt deshalb müssen wir noch mehr Anstrengungen unternehmen, die Ursachen der Krise zu
bestimmen und zu bekämpfen. Im Falle Irlands liegen
sie in einer laxen Regulierung, die Banken, um sie nach
Irland zu locken, praktisch alles durchgehen ließ. Bei
der Aufsicht der Banken wurde nun mit dem Einsetzen
von drei neuen EU-Finanzmarktaufsichtsbehörden endlich einiges verändert: Riskante Finanzmarktprodukte
können im Krisenfall verboten werden, die neue EU-Finanzmarktaufsicht erhält weitreichende Befugnisse bei
der Rettung maroder Geldinstitute bis hin zum Durchgriffsrecht über nationale Aufseher hinweg. Wir müssen
nun genau beobachten, ob diese Aufsicht funktioniert
und die Regelungen angewendet werden. Auch müssen
wir Sorge dafür tragen, dass die Regelungen zur Kreditsicherung aus Basel III in der EU zügig umgesetzt werden.
Natürlich haben wir auch das Thema der niedrigen
Unternehmensteuern; der Körperschaftsteuersatz liegt
in Irland bei 12,5 Prozent. Nun aber auf eine rapide Erhöhung der Steuern oder auf eine Ausrichtung an einem
europäischen Durchschnittssteuersatz nur in Irland zu
dringen, halte ich für falsch. Richtig ist: Der nicht sinnvolle Steuerwettbewerb in Europa muss beendet werden.
Dies kann mit der Harmonisierung der steuerlichen Bemessungsgrundlage sowie mit der verbindlichen Einigung auf Mindeststeuersätze gelingen. Die Bundesregierung muss sich hierfür verstärkt einsetzen. Ein
gemeinsamer Markt braucht einen stärkeren Regelungsrahmen, und dazu gehört natürlich auch eine Harmonisierung steuerlicher Regelungen.
Nun aber zum Doppelbesteuerungsabkommen. Die
vorliegende Änderung ist noch keine Gesamtrevision
des längst überholten Abkommens von 1962. Die Änderung regelt lediglich die Abschaffung der fiktiven Anrechnung von Quellensteuern. Dies ist als erster Schritt
in die richtige Richtung zu begrüßen. Aber als nächster
Schritt muss dringend eine Anpassung an OECD-Standards erfolgen. Diese OECD-Standards müssen aber in
Hinblick auf einen stärkeren internationalen Ordnungsrahmen weiterentwickelt werden. Dieses betrifft unter
anderem die heute im OECD-Musterabkommen enthaltene Möglichkeit, sowohl das Anrechnungs- als auch das
Freistellungsverfahren in der Besteuerung ausländischer Töchter im Inland vorzusehen. Das Freistellungsverfahren nützt jedoch Unternehmen, die steuerlich motivierte Verlagerungen von Steuersubstrat vornehmen,
etwa in Form von Fremdfinanzierungsmodellen oder
manipulierten Preisen für Transfers innerhalb des Konzerns. Bei einer reinen Anrechungsmethode würde eine
Gewinnverlagerung per se unterbunden, weil in diesem
Fall die Einkünfte trotzdem der höheren Steuer unterliegen. Die Gefahr einer kompletten Verlagerung von Unternehmen sehe ich nicht. Zu schwer wiegen die weiteren
Standortvorteile in Deutschland wie der hohe Schutz von
sogenanntem Intellectual Property. Die Bundesregierung muss deshalb darauf hinwirken, dass in den
OECD-Standards zu Doppelbesteuerungsabkommen allein die Anrechnungsmethode festgeschrieben wird. Bei
der anstehenden Gesamtrevision des Doppelbesteuerungsabkommens mit Irland ist es zudem essenziell, eine
Aktivitätsklausel festzuschreiben. Denn aktuell können
deutsche Unternehmen mit Briefkastenfirmen - das
heißt: ohne tatsächlich Aktivitäten nach Irland zu verlagern, sondern allein durch die Gründung einer Tochtergesellschaft - ihre Gewinne in Irland versteuern.
Doppelbesteuerungsabkommen und der darin beinhaltete Informationsaustausch sind weit mehr als eine
technische Ausgestaltung des Steuerrechts. Sie sind ein
wichtiges Element zur Kontrolle globaler Märkte. Wir
brauchen zur Kontrolle der internationalen Märkte eine
Ordnungspolitik, die Regeln setzt. Deshalb ist es wichtig, dass sich auch das Parlament rechtzeitig in den Prozess einbringen kann und wir im Finanzausschuss und
hier im Plenum über die Strategien der Doppelbesteuerungspolitik debattieren.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4061, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3358 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ist
jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Auch Verletztenrenten von NVA-Angehörigen der DDR anrechnungsfrei auf die
Grundsicherung für Arbeitsuchende stellen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Gregor Gysi, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Auch Verletztenrenten von NVA-Angehörigen der DDR anrechnungsfrei auf die Altersrente stellen
- Drucksachen 17/2326, 17/3217, 17/3734 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb
Ja, die Rechtslage ist hier eindeutig: Verletztenrenten
für Wehrdienstbeschädigte der Nationalen Volksarmee
wurden - analog zum bis dato gültigen DDR-Recht nach der Wende in die gesetzliche Unfallversicherung
überführt. Das heißt, die Schadensfälle wurden und werden als normale Arbeitsunfälle behandelt und mit einer
„Unfallrente“ bedacht. Wehrdienstbeschädigten der
Bundeswehr wird dagegen eine Verletztenrente aus dem
Soldatenversorgungsgesetz gewährt. Eine Auswirkung
dieser unterschiedlichen rechtlichen Einordnung in Unfallversicherung und Soldatenversorgungsgesetz ist,
dass den ehemaligen NVA-Angehörigen ihre Verletztenrente vollständig auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende angerechnet wird - im Gegensatz zu den ehemaligen Bundeswehrangehörigen. Die Fraktion Die Linke
fordert die gesetzliche Gleichbehandlung von ehemaligen NVA- und Bundeswehrangehörigen, indem die Verletztenrenten der NVA-Angehörigen bis zur Höhe der
Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz bei der
Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht angerechnet
werden. Dieses Anliegen - insbesondere aus der Sicht
der einzelnen Betroffenen - teile ich.
Gleiches gilt auch für den zweiten Antrag. Beim Bezug einer Altersrente sollen die Verletztenrenten ehemaliger NVA-Wehrdienstbeschädigter gemäß dem Bundesversorgungsgesetz ebenfalls anrechnungsfrei gestellt
werden.
Die hier tatsächlich bestehende Ungleichbehandlung
kann ich nicht nachvollziehen. Es erscheint mir unschlüssig, dass Wehrdienstleistende, die während ihres
Dienstes bei der Nationalen Volksarmee der DDR zu
Schaden gekommen sind, anders behandelt werden als
ihre Kolleginnen und Kollegen der Bundeswehr. Aufgrund einer Petition in der 16. Wahlperiode hat der Petitionsausschuss in seiner Beschlussempfehlung die Ungleichbehandlung ebenfalls als nicht sachgerecht und
verfassungsrechtlich bedenklich bewertet.
In meiner Fraktion wurde vorgeschlagen, eine belastbare Datenlage zu erarbeiten, um die Rechtslage neu bewerten zu können. Dafür liegt unter anderem eine Anfrage beim Ministerium vom Oktober dieses Jahres vor.
Ich unterstütze dieses Vorhaben ausdrücklich. Möglicherweise könnte eine Korrektur auch in die in dieser
Legislaturperiode anstehende Rentenangleichung Ost/
West integriert werden.
Ich befürworte die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales, da belastbares Datenmaterial fehlt, möchte aber gleichzeitig appellieren,
dass die Diskussion fortgesetzt wird.
Die Linken wollen mit ihren Anträgen auch die Verletztenrenten von NVA-Angehörigen der DDR sowohl
auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende als auch auf
die Altersrente anrechnungsfrei stellen. In der Sache
folgt unsere Fraktion diesem Anliegen, nicht aber in der
Verkürzung der Antragsbegründung. Die Linken
reduzieren einen komplexen und problematischen Sachverhalt auf die „reine Ungerechtigkeit“ und den Gegensatz „privilegierte Bundewehrangehörige/benachteiligte NVA-Angehörige“.
Um zu verdeutlichen, worum es eigentlich geht, stelle
ich noch einmal kurz die Ausgangslage dar - ein Grundproblem, wie es der Vereinigungsprozess häufiger mit
sich gebracht hat -: Im komplexen Prozess der Überführung des nach Berufsgruppen differenzierten Rentenversicherungssystems der DDR in das einkommensbezogene Rentensystem der Bundesrepublik gab es immer
wieder auch Ungereimtheiten. Wie so oft bei der deutschen Einheit ergab sich auch hier die Frage, wie zwei
unterschiedliche Systeme miteinander zu verbinden
sind. Wehrdienstbeschädigungen bei Soldaten der
Bundeswehr und der ehemaligen NVA sind auch in unterschiedlichen Rechtsgrundlagen geregelt. Bundeswehrsoldaten erhalten eine Versorgung nach dem Soldatenversorgungsgesetz. Ehemalige Angehörige der NVA
sind im Rahmen der Rentenüberleitung aber nicht in
diese Versorgung aufgenommen worden. Der Grund:
Unfälle von Wehrpflichtigen der NVA waren in der DDR
Arbeitsunfällen gleichgestellt. Daher überführte der Gesetzgeber im Einigungsprozess ehemalige NVA-Angehörige, die eine Verletztenrente bezogen haben, wie andere
Arbeitnehmer auch in die gesetzliche Unfallversicherung bzw. in den Geltungsbereich des SGB VII. Deshalb
werden Unfälle von Zeit- und Berufssoldaten der ehemaligen NVA über einen Dienstbeschädigungsausgleich
abgewickelt.
Diese unterschiedliche Behandlung hat Konsequenzen. Bei der Einkommensberechnung im Rahmen der
Grundsicherung für Arbeitsuchende sind die Unterschiede erheblich. Die Verletztenrente nach dem Soldatenversorgungsgesetz ist als Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz eingestuft. Sie stellt damit im Fall
der Bundeswehr privilegiertes Einkommen dar, das
nicht angerechnet wird. Die Verletztenrente eines ehemaligen NVA-Wehrpflichtigen dagegen ist als Rente aus
der gesetzlichen Unfallversicherung keine Grundrente
im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes und wird auch
nicht als zweckbestimmte Einnahme eingestuft. Deshalb
Zu Protokoll gegebene Reden
wird sie angerechnet. So entsteht die Situation, dass Verletztenrenten aus nahezu vergleichbaren Sachverhalten
unterschiedlich behandelt werden. Eine gerichtliche Anfechtung der Anrechnung scheiterte bislang; denn es bestehen unterschiedliche Rechtsgrundlagen und damit
scheidet ein Gleichheitsverstoß aus.
Auch das Bundesarbeitsministerium hat entsprechend argumentiert, als es im April 2008 auf eine Handlungsaufforderung des Petitionsausschusses reagierte.
Es sah keinen Anlass, an der bestehenden Rechtslage etwas zu ändern, und stellte sich auf den Standpunkt, auch
nachträglich könne nicht von der in § 220 Abs. 4 Arbeitsgesetzbuch der ehemaligen DDR vorgesehenen
Gleichbehandlung zwischen Wehrdienst- und Arbeitsunfällen abgewichen werden. Das ist heute in der Tat diskussionswürdig. Zwar ist die unterschiedliche Behandlung von Berufssoldaten und Wehrpflichtigen gerichtlich
bestätigt, politisch aber ist sie zu hinterfragen.
Wenn die Linke in diesem Zusammenhang von Gerechtigkeit redet, sollte sie allerdings einen wichtigen
Aspekt eigentlich nicht unterschlagen: Die Wehrpflicht
in der DDR lässt sich mit der Wehrpflicht der Bundesrepublik nicht vergleichen. In der Bundesrepublik gab und
gibt es die Möglichkeit, Zivildienst zu leisten. Der SEDStaat aber achtete rigoros darauf, dass niemand der
Wehrpflicht ausweichen konnte. Wer den Wehrdienst
verweigerte, ging für zwei Jahre ins Gefängnis. Wir sollten die Menschen nicht noch beim ALG-II-Bezug gegenüber Bundeswehr-Wehrpflichtigen benachteiligen.
Wie bereits erwähnt, hat der Petitionsausschuss des
Deutschen Bundestages - auch auf Betreiben der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion - deshalb in der vergangenen
Wahlperiode das Bundesministerium für Arbeit und Soziales aufgefordert, hier eine gerechte Regelung zu erarbeiten. Über die Haltung des Bundesarbeitsministeriums dazu habe ich bereits gesprochen, auch darüber,
dass diese Auffassung rein rechtlich in Ordnung ist. Im
Sinne der Betroffenen und mit dem Ziel der Gleichbehandlung sollten wir hier dennoch zu einer politischen
Lösung kommen, allerdings im größeren Rahmen einer
Angleichung der Renten in West- und Ostdeutschland.
Für eine entsprechende Lösung hat sich die Union im
Koalitionsvertrag ausgesprochen. Die Ost-West-Rentenangleichung ist für uns aber kein Selbstzweck. Entscheidend für die Angleichung ist für uns das konkrete Ergebnis für die Beitragszahler und die Rentner.
Nahezu für alle ostdeutschen Rentner geht die Rentenüberleitung mit einer erheblichen finanziellen Verbesserung einher. Beim Rentenzahlbetrag sind sie heute
im Vergleich zu den Rentnern im Westen im Durchschnitt
besser gestellt. Die monatliche Rente im Osten beträgt
durchschnittlich 1 004 Euro für Männer und 684 Euro
für Frauen. Im Westen sind es dagegen 967 Euro für
Männer und 485 Euro für Frauen.
Das Problem sind allerdings die ungleichen Rentenwerte in West und Ost. Gegen eine vorzeitige Angleichung der Ost- an die Westrenten spricht, dass dann im
Gegenzug auch die Hochwertung der im Osten erzielten
Arbeitsverdienste auf das Westniveau aufgegeben werden müsste. Im Westen musste im Jahr 2006 ein Arbeitnehmer 29 304 Euro im Jahr verdienen, um einen Entgeltpunkt in der Rentenversicherung gutgeschrieben zu
bekommen. Im Osten musste ein Arbeitnehmer lediglich
24 880 Euro verdienen, um ebenfalls einen Entgeltpunkt
gutgeschrieben zu bekommen. Sein Einkommen wurde
nämlich für die Rentenberechnung mit dem Wert 1,19
hochgewertet.
Die Versicherten im Osten sind somit gegenüber denen im Westen objektiv durch diese Höherbewertung
bessergestellt. Wenn wir das beenden, würde den gegenwärtigen Beitragszahlern und künftigen Rentnern im
Osten die Aussicht genommen, bei vergleichbarer Erwerbsbiografie jemals gleichhohe Renten wie im Westen
zu bekommen. Der derzeitige Lohnabstand würde in den
zukünftigen Renten im Osten verfestigt.
Eine grundsätzliche Klärung hier ist erforderlich. Sobald die Ost-West-Rentenangleichung auf der politischen Tagesordnung steht, sollte damit auch die Problematik der NVA-Verletztenrenten angegangen werden.
Wir sind uns bereits im Ausschuss darüber einig gewesen, dass die von den Anträgen angesprochene Problematik angegangen werden muss und die Anträge damit auch ihre Berechtigung haben. Die Gleichstellung
von Verletztenrenten der ehemaligen NVA-Angehörigen
mit Beschädigtenrenten von Bundeswehrangehörigen in
der Anrechnungsfreiheit beim Arbeitslosengeld II und
bei der Altersrente ist eine wichtige Forderung, die wir
unterstützen. Es geht dabei dem Grundsatz nach aber
nicht nur um diese Detailregelung, sondern um die
Frage, welche fortdauernden Ungerechtigkeiten und
Ungleichheiten zwischen Ost- und Westrentnern - nicht
nur Schwerbehinderten, sondern generell - weiterhin
bestehen.
Ich möchte noch einmal betonen: Rentnerinnen und
Rentner haben Anspruch auf die Anerkennung ihrer Arbeitsleistung, unabhängig von dem staatlichen System,
in dem sie gelebt und gearbeitet haben. Auf die Zusatzversorgungssysteme der DDR haben die Menschen in
Ostdeutschland vertraut - und ebenso darauf, dass die
Bundesregierung diese rechtmäßigen Ansprüche erfüllt.
Mit der Rentenüberleitung der Nachwendezeit wurden
nur Teilprobleme gelöst bzw. neue geschaffen. Es bleibt
daher unsere Aufgabe, die rechtmäßigen Ansprüche aus
dem DDR-Recht auch bei allen bisher außen vor gelassenen Berufsgruppen zu realisieren.
Bei den Krankenschwestern macht es oft nur den Unterschied zwischen 700 Euro und 800 Euro Rente aus,
bei den ehemaligen Reichsbahnern geht es um eine einmalige Abfindung durch die Bahn. Diese Ansprüche machen einen bedeutenden Unterschied im Leben dieser
Menschen, denn es geht hier um ohnehin niedrige Einkommen. Wir müssen beachten, dass die Alterseinkommen trotz höheren Rentenniveaus in Ostdeutschland unterhalb der Westeinkommen liegen. Im Osten gab es
keine Betriebsrenten und auch keine Kapitalanlagemöglichkeiten für Arbeitnehmer. Die Auszahlung der berechtigten Ansprüche ist deshalb keine „weitere“ Rentenerhöhung für Ostdeutsche, sondern eine längst überfällige
Zu Protokoll gegebene Reden
Silvia Schmidt ({0})
Maßnahme zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse auf der Basis von Rentengerechtigkeit. Das
dürfen wir nicht vergessen, wenn wir über Gleichbehandlung verschiedenster Gruppen in diesem Hause sprechen.
Das Engagement dieser Bundesregierung für die
Rentengerechtigkeit wird sich auch darin zeigen, ob die
Kanzlerin mit ihrer vollmundigen Versprechung Ernst
macht und den Koalitionsvertrag mit der FDP Ernst
nimmt. Es geht um die Gerechtigkeit für Menschen, die
ihr Leben lang hart gearbeitet haben und mit überwiegend kleinen Renten leben müssen.
Die Anrechnung von Verletztenrenten früherer NVAAngehöriger auf ihre Altersrente bzw. auf die Grundsicherung wird von Betroffenen als ungerecht empfunden. Das kann ich nachvollziehen, und deshalb habe ich
mich mehrfach mit diesem Thema befasst und Gespräche mit Vertretern dieser Gruppe geführt.
Der Sachverhalt ist aber nicht so schlicht, wie uns die
Linken Glauben machen wollen. Das begründet sich
hauptsächlich dadurch, dass die NVA-Verletztenrenten
Anteile eines Schmerzensgeldes und Anteile eines Lohnersatzes in jeweils nicht definierter Höhe enthalten. Die
reine Forderung einer Nichtanrechnung dieser Leistung,
wie es bei einem reinen Schmerzensgeld der Fall wäre,
ist also nicht angemessen. Wollten wir so verfahren, entstünden vergleichbare Ansprüche bei Zivildienstleistenden und anderen Gruppen. Die „gefühlte“ oder tatsächliche Ungerechtigkeit würde also nur verlagert.
In der DDR war der Unfall eines Wehrdienstleistenden einem Arbeitsunfall gleichgestellt. Deshalb hatten
die Betroffenen Anspruch auf eine Unfallrente aus der
allgemeinen Sozialversicherung der DDR und wurden
später in die entsprechenden Zweige der bundesdeutschen Sozialversicherung überführt. Weil dabei ein
Durchschnitts-Jahresarbeitsverdienst zugrunde gelegt
wurde, ergab sich für Geringverdiener sogar ein gewisser Vorteil. Anders war das bei Zeit- und Berufssoldaten.
Sie waren durch das Sonderversorgungssystem der NVA
abgesichert und erhielten im Falle eines Dienstunfalls
eine Dienstbeschädigungsrente. Diese Dienstbeschädigungsvollrenten nach der Versorgungsordnung der NVA wurden mit dem Einigungsvertrag in die gesetzliche Rentenversicherung überführt. Sie gelten als Invalidenrenten
und wurden damit zu Erwerbsunfähigkeitsrenten der gesetzlichen Rentenversicherung, die bei Erreichen der Altersgrenze in Altersrente umzuwandeln ist.
Das heißt, die Dienstbeschädigungen, die bei Wehrpflichtigen zu einer zusätzlichen Unfallrente führten,
blieben bei den Zeit- und Berufssoldaten der NVA zunächst ohne Ausgleich. Deshalb wurde für ehemalige
Angehörige der Sonderversorgungssysteme ein Dienstbeschädigungsausgleich eingeführt, der in Höhe der
Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz gezahlt
wird und ausschließlich den immateriellen Schaden entschädigt.
Damit sehen die gesetzlichen Regelungen - von der
Frage der Anrechnung auf andere Sozialleistungen abgesehen - keine Besserstellung der ehemaligen Berufsund Zeitsoldaten vor. Im Gegenteil: Die Verletztenrente
fällt bei gleichen Verletzungsfolgen im Zweifel höher aus
als der vergleichbare Dienstbeschädigungsausgleich.
Als Bezieher einer Verletztenrente aus der Unfallversicherung hat ein ehemaliger Wehrdienstleistender für
seine durch den Unfall verursachten Leiden zudem neben
der Verletztenrente noch Anspruch auf alle Leistungen
der Unfallversicherung wie zum Beispiel kostenlose
Heilbehandlung sowie medizinische, berufliche und soziale Rehabilitation. Für den ehemaligen Berufs- oder
Zeitsoldaten besteht kein solcher Anspruch über den
Dienstbeschädigungsausgleich hinaus. So muss er zum
Beispiel für die Behandlung seines Leidens die in der gesetzlichen Krankenversicherung geforderten Zuzahlungen selbst erbringen, während der Bezieher einer Unfallrente zuzahlungsfreie Heilbehandlung erhält. Dass bei
der Anrechnung der Verletztenrente auf Arbeitslosengeld II die ehemaligen NVA-Wehrpflichtigen gegenüber
den Berufs- und Zeitsoldaten der NVA anders behandelt
werden, ist der logisch folgende Preis dafür, dass letztere nur Dienstbeschädigungsausgleich erhielten, ihnen
also nur der immaterielle Schaden entgolten wird. Das
klingt alles etwas kompliziert und ist es auch. Das allein
belegt, dass der Gesetzgeber zu keinem Zeitpunkt jemanden benachteiligen wollte.
Hinsichtlich der Anrechnung der Unfallrenten auf Arbeitslosengeld II werden übrigens alle Verletztenrentner
gleich behandelt. Das Bundessozialgericht hat die volle
Anrechnung im Urteil vom 17. März 2009 - gerade in
Bezug auf unfallverletzte NVA-Wehrpflichtige - unter
Gleichbehandlungsgesichtspunkten als verfassungsgemäß bestätigt.
Eine Sonderregelung für NVA-Wehrpflichtige - für
die ich durchaus Sympathie habe - führte zu der Gefahr,
dass die Rückkehr zur teilweisen Anrechnung dann auch
für andere Personengruppen in gleicher Weise angemessen würde. Ich habe mich dennoch immer dafür eingesetzt, dass geprüft wird, ob nicht bei gleichzeitigem Arbeitslosengeld II-Bezug zumindest der Schmerzensgeldanteil der Unfallrente erhalten bleiben kann - so wie bei
der früheren Arbeitslosenhilfe ein Grundrentenanteil
nach dem Bundesverfassungsgericht anrechnungsfrei
blieb. Ich muss die Betroffenen aber um Verständnis dafür bitten, dass sich keine einfache Lösung der Frage
aufdrängt, die nicht zu neuen Ungleichgewichten führen
würde. Allein schon die Recherche der Zahl der Betroffenen ist schwierig, weil sie aus praktischen Gründen
gleichmäßig auf alle Unfallversicherungen verteilt und
nicht zentral erfasst wurden.
Auf den Tag genau vor einem Jahr und fünf Monaten,
am 2. Juli 2009, also in der vorigen Wahlperiode, stand
das Thema unserer heutigen Debatte schon einmal zur
Beratung an. Es geht erneut um die Verletztenrente von
Angehörigen der Nationalen Volksarmee der DDR. Wer
eine solche Rente bezieht und auf Arbeitslosengeld II
angewiesen ist, steht schlecht da, denn die VerletztenZu Protokoll gegebene Reden
rente wird vollständig auf das Arbeitslosengeld II angerechnet - anders bei Bundeswehrangehörigen, die wegen eines erlittenen Unfalls eine Wehrdienstbeschädigtenrente erhalten. Diese Rente gilt bis zur Höhe der
Grundrente nach Bundesversorgungsgesetz als privilegiertes Einkommen und kommt den Betroffenen - sinnvollerweise - zugute.
Die derzeitige augenscheinliche Ungleichbehandlung hat bereits vor mehr als drei Jahren den Petitionsausschuss veranlasst, die Regelung für bei der NVA erlittene Schädigungen „nicht für sachgerecht und für
verfassungsrechtlich bedenklich“ zu bewerten. Eine
Einschätzung, die sich der Bundestag zueigen machte,
als er die entsprechende Petition an die Bundesregierung als Material überwies und den Fraktionen zur
Kenntnis gab. Aufgrund dessen legte meine Fraktion einen
Antrag vor. Wir wollten uns damals - und nun erneut nicht damit abfinden, dass eine Wehrdienstbeschädigung im Osten weniger wert ist als im Westen.
Ein Blick in die damalige Debatte erklärt die Hoffnungen, die sich Betroffene am Ende der 16. Wahlperiode machten: Die Abgeordneten von FDP und Grünen stimmten seinerzeit für unseren Antrag. Kollege
Heinz-Peter Haustein von der FDP stellte fest: „Wer
den Wehrdienst verweigerte, ging für zwei Jahre ins Gefängnis. Somit hatten Wehrpflichtige keine Chance, dem
zu entgehen. Wir sollten die Menschen nicht noch beim
ALG-II-Bezug gegenüber Bundeswehrpflichtigen benachteiligen.“ Kollegin Maria Michalk von der CDU erklärte ihre Bereitschaft, die Verletztenrenten in der kommenden - also in der jetzt laufenden - Wahlperiode
„pragmatisch“ zu beraten. Sie plädierte für eine
„lösungsorientierte Herangehensweise im Sinne der betroffenen ehemaligen NVA-Soldaten“. Mit unserem erneuten Antrag wollten wir das Thema in Erinnerung
bringen. Die Betroffenen haben keine Zeit zu verlieren.
Der zweite vorliegende Antrag meiner Fraktion greift
eine gleichgelagerte Ungerechtigkeit auf. Hierbei geht
es um den gleichzeitigen Bezug von Altersrente und Verletztenrente für frühere NVA-Angehörige. Auch in diesem Falle erfolgt eine Anrechnung, während sie für frühere Bundeswehrangehörige anrechnungsfrei gestellt
wird. Dass ausgerechnet Menschen, die durch erlittene
Schädigungen schon genug leiden und mit Beeinträchtigungen leben mussten, in dieser Weise benachteiligt
werden, ist nicht länger hinnehmbar.
Im federführenden Ausschuss für Arbeit und Soziales
haben alle Oppositionsfraktionen die Bundesregierung
aufgefordert, dieses Problem zu lösen. Auch die Abgeordneten von Union und FDP sehen Handlungsbedarf.
Ich appelliere an Sie: Stehen Sie zu Ihrem Wort und nehmen Sie diese Aufgabe rasch in Angriff.
Wehrdienstbeschädigungen bei Soldaten der Bundeswehr und der ehemaligen NVA sind in unterschiedlichen
Rechtsgrundlagen geregelt. Bundeswehrsoldaten erhalten eine Versorgung nach dem Soldatenversorgungsgesetz. Ehemalige Angehörige der NVA sind im Rahmen
der Rentenüberleitung nicht in die Versorgung nach dem
Soldatenversorgungsgesetz aufgenommen worden. Unfälle von Zeit- und Berufssoldaten der ehemaligen NVA
werden über einen Dienstbeschädigungsausgleich abgewickelt. Unfälle von Wehrpflichtigen waren in der DDR
Arbeitsunfällen gleichgestellt und sind konsequenterweise in die gesetzliche Unfallversicherung übergeleitet
worden. Diese unterschiedliche Behandlung von Berufssoldaten und Wehrpflichtigen ist zwar gerichtlich bestätigt, politisch aber durchaus zu hinterfragen.
Ein Beispiel: Ein Mann erleidet im Rahmen des
Wehrdienstes bei der Nationalen Volksarmee der DDR,
NVA, eine gesundheitliche Schädigung. Zu DDR-Zeiten
erhielt er eine Rente der Staatlichen Versicherung der
DDR. Er ist nun seit mehreren Jahren arbeitslos. Während im Rahmen der Arbeitslosenhilfe zunächst ein Teil
der Rente anrechnungsfrei geblieben ist, ist es mit der
Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu
einer vollen Anrechnung gekommen. Der Mann fühlt
sich hierbei ungerecht behandelt, da Zahlungen nach
dem Soldatenversorgungsgesetz für Schädigungen im
Rahmen des Dienstes bei der Bundeswehr als privilegiertes Einkommen nicht zur Anrechnung kommen - zu
Recht, wie ich finde und wie es im Übrigen auch der
Deutsche Bundestag findet, dessen Petitionsausschuss
bereits vor drei Jahren die Bundesregierung aufgefordert hat, eine gerechte Regelung der vergleichbaren
Sachverhalte zu erarbeiten.
Für die Betroffenen sind die Unterschiede bei der
Einkommensberechnung erheblich. Die Verletztenrente
nach dem Soldatenversorgungsgesetz ist als Grundrente
nach dem Bundesversorgungsgesetz eingestuft und stellt
damit privilegiertes Einkommen dar, das nicht angerechnet wird. Die Verletztenrente eines ehemaligen
NVA-Wehrpflichtigen ist als Rente aus der gesetzlichen
Unfallversicherung keine Grundrente im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes und wird auch nicht als zweckbestimmte Einnahme eingestuft; deshalb wird sie angerechnet. So entsteht die Situation, dass Verletztenrenten
aus nahezu vergleichbaren Sachverhalten unterschiedlich behandelt werden. Eine gerichtliche Anfechtung der
Anrechnung scheiterte bislang an dem Umstand, dass
tatsächlich unterschiedliche Rechtsgrundlagen bestehen
und damit ein Gleichheitsverstoß ausscheidet.
Den möglichen Befürchtungen über eine Ausweitung
der Freistellung auf alle Empfänger von Verletztenrente
durch Schaffung eines Präzedenzfalls möchte ich entgegenhalten, dass die Gruppe der ehemaligen NVA-Wehrpflichtigen während ihrer Dienstzeit, ebenso wie Wehrpflichtige bei der Bundeswehr, in einem besonderen
Dienst- und Treueverhältnis zu ihrem Dienstherrn standen und sich schon deshalb von anderen Gruppen unterscheiden. Zudem ist der Wehrdienst, unabhängig von der
Bewertung zu DDR-Zeiten, nicht als normale Berufstätigkeit einzuordnen. Die Besonderheiten des Dienstverhältnisses bei den Streitkräften sind mit anderen Tätigkeiten
nicht zu vergleichen.
Für meine Fraktion und mich gibt es in der Sozialpolitik und darüber hinaus einen ganz klaren Grundsatz:
Gleiches muss gleich behandelt werden, Ungleiches
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht. Wir müssen also untersuchen, ob hier eine Ungleichbehandlung von früheren Angehörigen der Nationalen Volksarmee, NVA, und der Bundeswehr vorliegt,
die nicht gerechtfertigt ist. Letztlich handelt es sich bei
einer Schädigung im Rahmen des Dienstes bei der NVA
um einen vergleichbaren Sachverhalt wie bei einer
Wehrdienstbeschädigung im Rahmen des Dienstes bei
der Bundeswehr. Allein die Tatsache, dass diese Ansprüche im Rahmen der Sozialunion in die gesetzliche Unfallversicherung überführt wurden, kann eine unterschiedliche Behandlung bei der Anrechnung als
Einkommen im Rahmen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach meiner Überzeugung, im Übrigen auch
der des Petitionsausschusses, nicht rechtfertigen. Der
Petitionsausschuss hat diese Regelung für nicht sachgerecht und für verfassungsrechtlich bedenklich erachtet.
Es liegt also ganz klar auf der Hand, dass es sich dem
Sinne nach auch bei Zahlungen an die ehemaligen NVAAngehörigen um Entschädigungen handelt, genauso wie
es bei der Bundeswehr der Fall ist.
Meine Fraktion plädiert dafür, eine lösungsorientierte Herangehensweise im Sinne der betroffenen ehemaligen NVA-Soldaten zu prüfen. Meines Erachtens
braucht es dafür zunächst eine verlässliche Datengrundlage, aus der hervorgeht, wie viele Bürger betroffen
sind, einschließlich aller Kostenfragen. Auf dieser
Grundlage sollte das Anliegen fundiert beraten werden.
Gleiche Sachverhalte müssen gleich behandelt werden. Die Verletztenrente der ehemaligen NVA-Angehörigen darf genauso wie die Leistungen an Bundeswehrangehörige nach dem Soldatenversorgungsrecht nicht auf
die Grundsicherung nach dem ALG II angerechnet werden. Deshalb plädieren wir für eine lösungsorientierte
Herangehensweise im Sinne der betroffenen ehemaligen
NVA-Soldaten und stimmen dem Antrag der Linken zu.
Wir kommen zur Abstimmung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/3734. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2326.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3217. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie in
der Justiz und zur Änderung weiterer Vorschriften
- Drucksache 17/3356 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/4064 Berichterstattung:
Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker
Mechthild Dyckmans
Ingrid Hönlinger
Das Gesetz zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie in der Justiz und zur Änderung weiterer Vorschriften
sieht Änderungen und Anpassungen in einigen Berufsordnungen - für Rechtsanwälte, Notare und Steuerberater - vor, die in der Praxis teilweise schon lange gefordert wurden. So wird die nun vorgesehene Einführung
einer dreimonatigen Genehmigungsfrist für Berufszulassungen allgemein begrüßt. Dass wir hierbei für den
Fall des Verstreichens der Frist auf eine Genehmigungsfiktion verzichten, trägt aus meiner Sicht den besonderen Erfordernissen an die persönlichen Voraussetzungen
für den Zugang zu den einzelnen Berufsfeldern Rechnung.
Auf Betreiben der Unionsfraktion haben wir ferner in
den Regierungsentwurf eine Neuregelung im Wahlverfahren der Rechtsanwaltskammern aufgenommen. Um
die erheblichen Probleme der Vergangenheit, bei denen
selbst nach bis zu sieben Wahlgängen oft keine komplette Besetzung der Vorstände der Rechtsanwaltskammern erreicht wurde, zu lösen, wird künftig nach § 88
Abs. 3 Satz 3 BRAO ab dem dritten Wahlgang die bis dahin erforderliche einfache Stimmenmehrheit ersetzt:
Künftig ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die
meisten Stimmen erhält. Damit schaffen wir ein effektives Wahlrecht, dass die Arbeits- und Leistungsfähigkeit
der Selbstverwaltungskörperschaften gewährleistet.
Zwei Regelungen, die wir mit dem Gesetz treffen, stehen im Vordergrund: die Neuregelung zum Pfändungsschutzkonto in § 850 k Abs. 8 ZPO und die Verfahrensregelung zur Zulassung von Insolvenzverwaltern aus dem
EU-Ausland in einem neuen Art. 102 a EGInsO.
Die teilweise vorgebrachte Kritik zu diesen beiden
Regelungen war Gegenstand eines erweiterten Berichterstattergesprächs im Deutschen Bundestag in der vergangenen Woche. Dabei konnten die Sachverständigen
der Bundesrechtsanwaltskammer noch einmal ihre Bedenken zur europarechtlich notwendig gewordenen Novelle zur P-Konto-Regelung des § 850 k ZPO deutlich
machen.
Bisher hatte allein die Schufa das Privileg, mit Banken Informationen darüber auszutauschen, ob ein Kunde
bereits ein sogenanntes P-Konto führt und damit nicht
berechtig ist, ein weiteres solches Konto zu eröffnen; es
geht um die sogenannte Schufa-Klausel. Die damit ge8688
schaffene zentrale Stelle hat die Missbrauchskontrolle
dabei klar erleichtert. Europarechtliche und datenschutzrechtliche Vorgaben machen es nun erforderlich,
dass Banken in dieser Frage auch mit allen übrigen Auskunfteien zusammenarbeiten. Da der Gesetzgeber diese
Notwendigkeit bei der letzen Novelle zu § 850 k Abs. 8
ZPO im vergangenen Sommer nicht erkannt hat, ist mit
der nun vorliegenden Neuregelung zu Recht von einer
„Reparaturklausel“ in Hinblick auf die Gleichbehandlung die Rede.
Ob die Einbeziehung der übrigen Auskunfteien jedoch
in der Konsequenz auch zu einer Zersplitterung und damit Erschwerung des effektiven Informationsaustauschs
zwischen Banken und Auskunfteien führt, wie teilweise
befürchtet wird, muss abgewartet werden. Zwar sind tatsächlich praktische Schwierigkeiten denkbar, wenn eine
Bank erst bei einer Vielzahl von Auskunfteien anfragen
muss, um endlich sicher darüber Auskunft zu bekommen,
ob ein Kunde bereits ein Pfändungsschutzkonto führt. Jedoch ist dies angesichts der dominierenden Stellung der
Schufa auf diesem Markt nicht zu erwarten.
Auch schließen wir mit der Novelle ausdrücklich aus,
dass Daten über das Bestehen eines P-Kontos zu anderen Zwecken genutzt werden als zur Überprüfung der
Richtigkeit der Versicherung des Kunden, nach welcher
eben noch kein Pfändungsschutzkonto auf seinen Namen
geführt werde. Auch diese eindeutige Regelung dürfte
dem Wettbewerb um die Information über das Bestehen
eines P-Kontos an Schärfe nehmen und damit der befürchteten zersplitterten Informationslage zu bestehenden P-Konten entgegenwirken.
Sollten sich die Befürchtungen einzelner Sachverständiger allerdings bewahrheiten und sollte den Banken die Missbrauchsbekämpfung dadurch erschwert
werden, dass sie nicht oder nicht rechtzeitig an die
erforderlichen Informationen über das Bestehen von
P-Konten kommen, weil bei der Vielzahl der relevanten
Auskunfteien der richtige Ansprechpartner nicht ersichtlich ist, so werden wir als Gesetzgeber nicht untätig sein
können und eine entsprechende gesetzliche Änderung
vornehmen müssen. Denn eines ist klar: Durch die nun
erforderlich gewordenen Anpassungen darf das Hauptanliegen des § 850 k Abs. 8 ZPO nicht in den Hintergrund geraten: Der Schutz der Marktteilnehmer vor
Missbrauch durch das Führen mehrerer Pfändungsschutzkonten darf nicht an Effektivität verlieren. Ich bin
optimistisch, dass die Neuregelung diesen Praxistest bestehen wird.
Grundsätzliche Schwachstellen im nationalen Recht
werden durch die Änderung des Zugangs zum Insolvenzverwalterberuf für Personen, die die Staatsangehörigkeit eines anderen EU- oder EWR-Staats besitzen, deutlich. Wir schaffen für die genannten Verwalter eine
einheitliche Stelle, an die sie sich bei Interesse für eine
Verwaltertätigkeit wenden können. Diese Stelle leitet ihrerseits die Unterlagen an das zuständige Insolvenzgericht weiter. Auch führen wir für dieses Verfahren eine
dreimonatige Entscheidungsfrist ein.
Die Auswahl der Insolvenzverwalter durch die zuständigen Gerichte in Deutschland ist mehr als nur unzureichend geregelt. Eine differenzierte Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts ändert nichts daran,
dass Auswahllisten der Richter nicht mehr als eine Gedankenstütze, ein Hilfskonstrukt in Ermangelung klarer
gesetzlicher Vorgaben sein können.
Die mit der Dienstleistungsrichtlinie EU-rechtlich
vorgeschriebene einheitliche Stelle als Ansprechpartner
für Verwalter aus EU- und EWR-Raum zur Aufnahme in
eine solche Vorauswahlliste führt Normen in ein wirtschaftliches Betätigungsfeld ein, das in der Bundesrepublik noch weitgehend ungeregelt ist. Dennoch meine ich,
dass die hier getroffenen rudimentären Regelungen für
Sachverhalte mit grenzüberschreitendem Bezug als vorläufig hingenommen werden können. Die Analyse, nach
der den Verwaltern aus dem EU- und EWR-Ausland nun
in Ansätzen ein Zulassungsvorverfahren zur Verfügung
steht, an dem die deutschen Verwalter nicht partizipieren können, ist zutreffend. Vonseiten des BMJ, aber auch
von Praktikern wird allerdings nicht befürchtet, dass
sich dies zu einem Wettbewerbsnachteil der deutschen
Verwalter auswirkt.
Dennoch wirft diese Zulassungsregelung mit begrenztem Anwendungsbereich ein Schlaglicht auf ein
drängendes Anliegen dieser Wahlperiode: Wir müssen
zu klareren Qualifikationsvoraussetzungen und transparenten Auswahlmechanismen kommen, die außerdem
mehr Raum für Gläubigerbeteiligung lassen. Vonseiten
des Bundesministeriums der Justiz ist in den Beratungen
der vergangenen Wochen deutlich gemacht worden, dass
wir mit der Neuregelung des Art. 102 a EGInsO kein
Präjudiz für eine künftige Zulassungsordnung nach nationalem Recht schaffen.
Die „einheitliche Stelle“ leitet Anfragen ausländischer Bewerber, die von Insolvenzgerichten als Insolvenzverwalter benannt werden wollen, lediglich an diese
weiter. Dort entscheiden die Richter unverändert nach
ihren Kriterien, ob sie dem Anliegen etwa mit Aufnahme
in eine Vorauswahlliste entsprechen wollen, oder nicht.
Diese Klarstellung halte ich für ganz entscheidend. Angesichts der zurzeit in Beratung befindlichen mehrstufigen Insolvenzrechtsreform wäre es nicht hinnehmbar,
gewissermaßen beiläufig unter Umsetzung EU-rechtlicher Vorgaben, grundlegende Richtungsentscheidungen
für ein künftiges nationales Zulassungsverfahren zu treffen.
Wir beraten heute die Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie in der Justiz. Durch die Richtlinie 2006/
123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates
sind Rechtsanpassungen im Bereich der Justiz und in
den Verfahren der Berufszulassung zu den rechtsberatenden Berufen erforderlich.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen die zur
Umsetzung der Richtlinie erforderlichen Rechtsänderungen im deutschen Recht vorgenommen werden. Darüber hinaus sollen weitere Anpassungen des Berufs-,
Verfahrens-, Gerichtsverfassungs-, Kosten und Markenrechts erfolgen, um aufgetretene Streitfragen zum
Rechtsweg in verwaltungsrechtlichen Notarsachen, zum
Zu Protokoll gegebene Reden
Mechanismus der Verhinderung von Missbräuchen beim
Pfändungsschutzkonto nach § 850 k Abs. 8 der Zivilprozessordnung und zur Amtsenthebung von Schöffen bei
gröblicher Amtspflichtverletzung zu lösen. Gleiches gilt
für auftretende Streitfragen bei den Gerichtskosten und
Anwaltsgebühren im neuen familienrechtlichen Verfahren.
Wie sie wissen, müssen EU-Richtlinien nach deutschem Recht grundsätzlich durch ein formelles Gesetz in
innerstaatliches Recht transformiert - oder besser gesagt: umgesetzt - werden. Genau das machen wir heute.
Insgesamt betrifft die EU-Richtlinie im Bereich der Justiz relativ geringfügige Rechtsanpassungen sowie Änderungen beispielsweise im Kostenrecht. Sie haben im Wesentlichen nur klarstellende Funktion oder gar nur
redaktionellen Charakter.
Ich möchte dennoch die Gelegenheit zum Anlass nehmen, auf einen Punkt etwas näher einzugehen, der, so
glaube ich, in dieser insgesamt naturgemäß eher formalen Vorlage, für viele Bürgerinnen und Bürger von besonderem Interesse ist. Ich meine den Pfändungsschutz
durch das sogenannte P-Konto. Die SPD hat die Einführung des Pfändungsschutzkontos zum 1. Juli dieses Jahres ausdrücklich begrüßt. Denn es erlaubt Schuldnern,
auch bei Kontopfändung unbürokratisch über das garantierte Existenzminimum zu verfügen.
Mit der heutigen Reform des Pfändungsschutzes, insbesondere durch das Pfändungsschutzkonto, ist es notwendig gewesen, weitere gesetzliche Regelungen zu treffen, die einen Missbrauch verhindern. Durch die
Änderung des § 850 k Abs. 8 Satz 3 und 4 ZPO ist ein
Weg beschritten, der verhindern soll, dass einzelne Personen mehrere Pfändungsschutzkonten bei unterschiedlichen Kreditinstituten unterhalten können. Damit wird
unterbunden, dass diese Personen zum Nachteil der
Gläubiger mehrfachen Kontopfändungsschutz in Anspruch nehmen. Diese Missbrauchskontrolle geschieht
mit einem Informationsaustausch zwischen den Banken,
die ein Pfändungsschutzkonto für ihre Kunden führen,
und Auskunfteien. Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf soll dies optimiert und europäisch harmonisiert
werden.
Allerdings - und das ist aus meiner Sicht wesentlich dürfen diese eingeführten Kontrollmechanismen nicht zu
Abstrichen beim Schutz der Rechte der betroffenen Kontoinhaberinnen und -inhaber führen. Dennoch ist es aus
meiner Sicht richtig und im Interesse der Gläubiger sowie der Schuldner, diese in § 850 k ZPO vorgenommene
gesetzliche Änderung vorzunehmen.
Bei Auskunftsverlangen von Kreditinstituten im Hinblick auf die Bonität potenzieller Vertragspartner wenden sich diese in der Praxis im Regelfall an die Schufa
Holding AG; das ist Schutzgemeinschaft für allgemeine
Kreditsicherung. Mit den in diesem Gesetzentwurf vorgenommenen Änderungen der ZPO werden die Banken
allerdings ermächtigt, nicht nur die Schufa über die Einrichtung eines Pfändungsschutzkontos zu unterrichten.
Denn nach diesem Gesetzentwurf können nunmehr Banken und Sparkassen, die nicht mit der Schufa, sondern
mit anderen Auskunfteien zusammenarbeiten, auch diesen Mitteilungen über die Existenz eines Pfändungskontos geben. Damit wird die - aus meiner Sicht - nicht
haltbare alte Regelung repariert, nach der die Auskunft
nur auf die Schufa Holding AG beschränkt war.
Ganz wesentlich scheint mir an der Stelle allerdings
der Hinweis zu sein, dass die Mitteilung durch das Kreditinstitut auf Freiwilligkeit beruht. Eine Meldepflicht
besteht also nicht. Die Sorge mancher Fachleute, dass
die bei den Auskunfteien vorhandenen Datenbestände
unter Umständen nicht aktuell sein könnten, teile ich
nicht. Jedenfalls ist es aus meiner Sicht nicht notwendig,
eine Meldepflicht, etwa durch eine zusätzliche gesetzliche Regelung, einzuführen, um die Aktualität der Daten
zu gewährleisten. Vielmehr kann dieser Punkt beispielsweise Gegenstand des Vertragsverhältnisses zwischen
den Kreditinstituten und den Auskunfteien sein. Für die
Kreditinstitute kann dann insbesondere die Aktualität
der verfügbaren Datensätze einer Auskunftei ein Qualitätsmerkmal für die Entscheidung einer Zusammenarbeit sein.
Zudem wäre eine Mitteilungspflicht des P-Kontos,
beispielsweise an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht ({0}), mit erheblichem Verwaltungsaufwand der verschiedenen Kreditinstitute verbunden. Gleichzeitig würde eine gesetzlich verankerte
Meldepflicht das Risiko des Gläubigers, sein Pfändungsgesuch nicht befriedigt zu bekommen, nicht wesentlich verringern. Deshalb erscheinen mir die vorgeschlagenen Rechtsänderungen sachlich begründet. Die
SPD-Fraktion stimmt diesem Gesetzentwurf insgesamt
zu.
Mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, setzen
wir die europäische Dienstleistungsrichtlinie aus dem
Jahr 2006 im Bereich der Justiz ins deutsche Recht um.
Die Umsetzungsfrist ist Ende 2009 abgelaufen, das heißt
es handelt sich hier um eine Hinterlassenschaft der früheren Justizministerin, der es binnen drei Jahren nicht
gelungen war, einen Gesetzentwurf zur Richtlinienumsetzung vorzulegen, und das, obwohl in Deutschland
wirklich nur geringe Anpassungen vorzunehmen sind.
Es freut mich daher umso mehr, dass wir dies heute abschließen können, dazu noch im weitgehenden Einvernehmen der Fraktionen. Es zeigt einmal mehr, dass wir
im Justizbereich meist alle an einem Strang ziehen.
Doch nun zu den Änderungen im Einzelnen. Die
Richtlinienumsetzung erfordert vor allem Änderungen in
den Verfahren der Berufszulassung zu den rechtsberatenden Berufen. Mit der Einführung einer 3-MonatsFrist für die Zulassung zum Rechtsanwalts-, Patentanwalts- und Wirtschaftsprüferberuf erhalten Bewerber
eine verlässliche Aussage darüber, wann sie mit ihrer
Aufnahme in den jeweiligen Beruf rechnen können. Dabei haben wir jedoch bewusst von einer Genehmigungsfiktion nach Ablauf der Frist abgesehen, um so die
Rechtssuchenden vor eventuell nicht fachgerechter Beratung zu schützen. Zusätzlich ist es den Kammern in
Ausnahmefällen gestattet, die Frist zu überschreiten,
wenn dies - etwa bei einer komplizierteren Zulassung eiZu Protokoll gegebene Reden
ner neuen Berufsausübungsgesellschaft - erforderlich
ist. Ebenso in den Bereich der Rechtsberatung gehört,
dass künftig auch europäische Hochschullehrerinnen
und Hochschullehrer mit der Befähigung zum deutschen
Richteramt vor Verwaltungs- und Sozialgerichten sowie
dem Bundesverfassungsgericht auftreten können. Ferner erhalten nunmehr europäische Bewerber, die als Insolvenzverwalter in Deutschland tätig werden wollen,
Klarheit darüber, an wen sie sich in diesem Fall wenden
müssen.
Diese Regelung ist notwendig, da auch Insolvenzverwalter unter den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Sie sind Dienstleister in hoheitlichem Auftrag, ohne
dabei selbst hoheitliche Gewalt auszuüben. Daher ist
auf sie die Ausnahmevorschrift des Art. 2 Buchstabe i
der Richtlinie nicht anwendbar. Mit der Einführung des
Art. 102 a EGInsO wird aber weder eine Vorentscheidung für ein noch zu schaffendes deutsches Zulassungsverfahren für Insolvenzverwalter getroffen, noch erfolgt
eine Ungleichbehandlung von deutschen und europäischen Bewerbern. Für die Beauftragung mit einem konkreten Fall ist weiterhin der jeweilige Richter zuständig.
Neben der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie bot
sich dieses Gesetzgebungsverfahren dazu an, noch kleinere notwendige Anpassungen in verschiedenen anderen
Bereichen vorzunehmen.
Ich will nur auf einige davon kurz eingehen. Die erste
Änderung betrifft das Pfändungsschutzkonto - P-Konto -,
das wir in der letzten Legislaturperiode eingeführt haben. Um sicherzustellen, dass jede Person nur ein einziges Pfändungsschutzkonto führt, sieht § 850 k Abs. 8
ZPO vor, dass die Kreditinstitute die Führung eines solchen Kontos der Schufa Holding AG mitteilen dürfen
und diese wiederum ihrerseits Kreditinstituten auf Antrag Auskunft über ein bestehendes Pfändungsschutzkonto des Kunden erteilen darf. Mit der Änderung in
§ 850 k ZPO werden nunmehr alle Auskunfteien gleichberechtigt behandelt. Die Fraktionen waren sich einig,
dass die in der Beratung angesprochene sogenannte
Monatsanfangsproblematik, die bei der Einrichtung des
P-Kontos auftreten kann und seit Einführung des P-Kontos bereits zu Problemen geführt hat, noch einer gesonderten Regelung bedarf. Hier hat das Justizministerium
zugesagt, alsbald einen entsprechenden Änderungsvorschlag vorzulegen.
Schließlich haben wir auf Bitten des Bundesrates einige Anpassungen vorgenommen. So schaffen wir im
Kostenrecht Übergangsvorschriften zur Höhe des Haftkostenbeitrags, die bis zum Erlass entsprechender landesrechtlicher Vorschriften anzuwenden sind. Auch führen wir eine Länderöffnungsklausel für die Regelung der
Zuständigkeit der Oberlandesgerichte in verwaltungsrechtlichen Notarsachen ein.
Außerdem vereinfachen wir das Wahlverfahren zum
Vorstand der Rechtsanwaltskammern, das mit seinen
bisherigen Mehrheitserfordernissen in der Vergangenheit zu Schwierigkeiten geführt hat. Nunmehr wird ab
dem dritten Wahlgang die einfache Stimmenmehrheit
ausreichen. Ich denke, wir haben damit zügig und einvernehmlich ein Gesetz auf den Weg gebracht, das den
europarechtlichen Anforderungen entspricht und in den
verschiedenen Bereichen für mehr Rechtsklarheit und
damit auch Rechtssicherheit sorgt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Richtlinie 2006/123/EG über Dienstleistungen im Binnenmarkt
in deutsches Recht umgesetzt werden. Die Übersetzungen fremdsprachiger Urkunden aus dem europäischen
Ausland sollen damit anerkannt und die Registereinsicht
ausländischer Behörden im Rahmen der europäischen
Verwaltungszusammenarbeit ermöglicht werden.
Die Linksfraktion begrüßt diese Zielstellung. Allerdings hat die Bundesregierung ohne erkennbare Not
sachfremde Regelungen in diesem Gesetzentwurf versteckt. Völlig herausgerissen aus dem Gesamtzusammenhang, der in der Umsetzung der Richtlinie besteht,
taucht eine Neuregelung im Gerichtsverfassungsgesetz
auf, die die Amtsenthebung von Schöffinnen und Schöffen wegen gröblicher Amtspflichtverletzungen vorsieht.
Es ist geplant, § 51 Gerichtsverfassungsgesetz neu zu
besetzen. Damit soll eine Möglichkeit geschaffen werden, eine Schöffin oder einen Schöffen seines Amtes zu
entheben, wenn sie ihre bzw. er seine Amtspflichten
gröblich verletzt. Die Entscheidung darüber trifft ein
Strafsenat des örtlich zuständigen Oberlandesgerichts
auf Antrag einer Richterin oder eines Richters. Ein
Rechtsmittel ist ausdrücklich nicht vorgesehen, was ich
für äußerst fragwürdig halte. Hier wird der Schöffin
oder dem Schöffen jeglicher Rechtsschutz entzogen. Solange über die Amtsenthebung nicht entschieden ist,
kann angeordnet werden, dass die Schöffin oder der
Schöffe von der Sitzungsteilnahme ausgeschlossen wird.
Auch diese Anordnung ist nicht anfechtbar und verwehrt
dem Betroffenen jeglichen Rechtsschutz. Das ist wirklich
ein seltsames Verständnis von Rechtsstaatlichkeit und
gerade für unsere Rechtsordnung, die vom Prinzip des
gesetzlichen Richters geprägt ist, ein geradezu ungewöhnlicher Vorgang.
Nicht nur die ausgeschlossene Rechtsschutzmöglichkeit, sondern auch die Voraussetzungen der Amtsenthebung an sich sind mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
Denn die dehnbare und unbestimmte Formulierung
„gröblich“ ist mit Blick auf den Rechtsstaatsgrundsatz
nicht zu verantworten. Der Gesetzgeber muss bei derartigen Eingriffen die genaue Art der schwerwiegenden
fortgesetzten Verstöße, welche laut Begründung als
gröbliche Amtspflichtverletzung ausreichen sollen, regeln. Aufgrund der Unbestimmtheit und dem daraus folgenden weiten Auslegungsspielraum lassen sich zu viele
unterschiedliche Lebenssachverhalte unter dieses Tatbestandsmerkmal subsumieren, womit einem Missbrauch
Tür und Tor geöffnet wird. Zum Beispiel könnte eine
Schöffin oder ein Schöffe des Amtes enthoben werden,
wenn ihre bzw. seine telefonische und postalische Erreichbarkeit nicht sichergestellt ist.
Wenn Sie mit Ihrer Regelung bezwecken wollen, Mitglieder von verfassungsfeindlichen Parteien aus der
Rechtssprechung zu entfernen, wie es jedenfalls die Begründung der Regelung vermuten lässt, dann schreiben
Zu Protokoll gegebene Reden
Sie es doch auch bitte so konkret in das Gesetz. Auch ein
Verweis auf die Verwendung der Begriffe „gröbliche
Verletzung“ in bereits geltenden Gesetzen begründet
keine Legitimation. Vielmehr belegen sie, dass auch dort
gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Mit der
Neubesetzung des § 51 Gerichtsverfassungsgesetz und
der bereits im Sommer verabschiedeten Änderung von
§ 33 Gerichtsverfassungsgesetz wird faktisch die Möglichkeit geschaffen, sich unliebsamer oder unbequemer
Schöffinnen und Schöffen schnell und einfach, ohne dass
diese eine Möglichkeit zur Verteidigung haben, zu entledigen. Das ist wirklich kein Ruhmesblatt.
Im Gesetzentwurf sich aber auch wichtige Regelungen, zum Beispiel für das Berufszulassungsverfahren zur
Rechtsanwaltschaft. Danach ist die Einführung einer
Dreimonatsfrist zur vollständigen Bearbeitung eines Zulassungsantrages vorgesehen. Somit müssen junge Juristinnen und Juristen nicht mehr über Gebühr auf ihre
Zulassung als Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt warten. Neben verfahrensrechtlichen Regelungen zur Insolvenzverwaltervorauswahl ist eine Gleichstellung von
Rechtslehrerinnen und Rechtslehrern aus dem europäischen Ausland mit Rechtslehrerinnen und Rechtslehrern
an deutschen Hochschulen im Hinblick auf die Prozessführungsbefugnis im deutschen Gerichtsverfahren vorgesehen. Trotz einer Reihe sinnvoller Artikel, die zur
Verbesserung der Rechtslage beitragen, ist aufgrund der
völlig unzureichenden Regelung der Amtsenthebung von
Schöffinnen und Schöffen eine Zustimmung zu diesem
Gesetzentwurf nicht möglich.
Auf der Tagesordnung steht heute der „Gesetzentwurf
zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie in der Justiz und zur Änderung weiterer Vorschriften“. Der Gesetzentwurf umfasst die unterschiedlichsten Regelungen.
Ich möchte mich mit meinen Ausführungen auf nur eines
dieser vielen Themen beschränken - das ist ein Thema,
das mir aus Sicht des einzelnen Bürgers und der einzelnen Bürgerin besonders wichtig erscheint -: das Pfändungsschutzkonto, kurz: P-Konto.
Wir alle wissen: Ein P-Konto ist kein neues Bankkonto. Es ermöglicht dem Verbraucher, mit Banken oder
Sparkassen zu vereinbaren, dass ein bereits bestehendes
Girokonto als Pfändungsschutzkonto geführt wird. Das
Geldinstitut muss dann dafür Sorge tragen, dass der
Pfändungsschutz gewahrt bleibt. Im Falle einer
Zwangsvollstreckung gegen seinen Kunden darf das
Geldinstitut den pfändungsfreien Betrag nicht an den
Gläubiger auskehren.
Die Regelungen zum Pfändungsschutz finden sich in
§ 850 k ZPO. Abs. 8 dieser Vorschrift soll nun neu gefasst werden. Was verbirgt sich nun in § 850 k Abs. 8
ZPO? Durch § 850 k Abs. 8 ZPO soll sichergestellt werden, dass jeder Bürger und jede Bürgerin nur ein einziges und nicht mehrere Pfändungsschutzkonten führt.
Denn natürlich kann jede Schuldnerin und jeder Schuldner den Pfändungsfreibetrag auch nur einmal und nicht
mehrmals in Anspruch nehmen. Bisher ist geregelt, dass
Geldinstitute ausschließlich die Schufa Holding AG
über die Existenz von Pfändungsschutzkonten informieren, die dann ihrerseits anderen Kreditinstituten Auskunft erteilen kann. Mit der Neufassung soll die Einschränkung auf die Schufa aufgehoben werden. Auch
andere Auskunfteien sollen in das Informationssystem
zum Pfändungsschutzkonto einbezogen werden.
Wir Grünen begrüßen und unterstützen diese Neufassung. Insbesondere in ländlichen Gebieten arbeiten einzelne Banken und regionale Sparkassen teilweise nicht
mit der Schufa zusammen, sondern mit anderen Auskunfteien. Diesen Unterschieden wird mit der Neuregelung Raum geschaffen. Auch ist nicht nachvollziehbar,
warum die Schufa gegenüber allen anderen Auskunfteien, seien sie national oder seien sie europäisch tätig,
derart bevorzugt werden soll. Hier ist Ausgewogenheit
wichtig.
Weiter begrüßen wir Folgendes: Derzeit ist es möglich, dass Geldinstitute ihren P-Konto-Kunden die Zustimmung dazu abnötigen, deren Daten für die Beurteilung ihrer Kreditwürdigkeit oder für die Berechnung von
Score-Werten weiterzuverwenden. Das ist eine Nutzung
von Daten über den ursprünglichen Zweck hinaus, die
nicht notwendig ist. Diese Möglichkeit wird mit der
Neufassung des § 850 k Abs. 8 ZPO ausdrücklich ausgeschlossen. Damit wird der ordnungsgemäße Umgang
mit den Daten der betroffenen Bürgerinnen und Bürger
gewährleistet.
Im Zusammenhang mit dem Pfändungsschutzkonto besteht allerdings noch weiterer Handlungsbedarf. Dieser
stellt sich bei der sogenannten Monatsanfangsproblematik. Was verbirgt sich hinter dem Wort „Monatsanfangsproblematik“? Nach Auffassung einiger Finanzinstitute
sind Zahlungen nur in dem Monat vor der Zwangsvollstreckung geschützt, in welchem sie auf das Pfändungsschutzkonto eingehen. Das bedeutet, dass zum Beispiel
Sozialleistungen, die schon am Ende des Vormonats für
den kommenden Monat überwiesen worden sind, nach
Auffassung einiger Banken teilweise nur einen Tag oder
zwei Tage dem Pfändungsschutz unterfallen. Eigentlich
sollte hier der Wortlaut des § 850 k Abs. 1 Satz 2 ZPO
klar sein: Zahlungen, beispielsweise an SGB-II-Empfänger, die bereits Ende November überwiesen worden sind,
jedoch für den Monat Dezember bestimmt sind, sollten
auch bis Ende Dezember vom Pfändungsschutz umfasst
sein. Anscheinend verstehen einzelne Bankinstitute die
Norm anders. Uns erreichen immer wieder Beschwerden
über diese Praxis. Im September dieses Jahres hat das
Justizministerium angekündigt, dieses Problem in Angriff zu nehmen. Wir sind auf die Neuregelung gespannt
und werden die Diskussion darüber gerne mitgestalten.
Zusammenfassend kann ich feststellen: Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie in der Justiz und zur Änderung weiterer Vorschriften werden viele wichtige Teilbereiche zutreffend
geregelt. Wir werden diesem Gesetzentwurf deshalb zustimmen.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4064, den Gesetzent8692
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3356 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Ablehnung der Fraktion Die
Linke.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist angenommen mit dem gleichen Stimmenverhältnis
wie bei der zweiten Beratung.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Lebensmittel-Smiley nach dänischem Vorbild bundesweit einführen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Nicole Maisch, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Smiley-Kennzeichnungssystem bundesweit
verbindlich einführen
- Drucksachen 17/3434, 17/3220, 17/3994 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Bleser
Dr. Erik Schweickert
Ulrike Höfken
Ein Smiley an der Eingangstür als Hinweis darauf,
dass in Küche, Keller und Gastraum alles sauber ist? All
unsere Probleme in diesem Bereich sind gelöst? Nach
dem Weltbild der Grünen und Linken mag das so sein.
Die Welt ist aber nicht schwarz oder weiß, auch Grauzonen müssen wir im Blick behalten und hinterfragen.
Um es direkt auf den Punkt zu bringen: Die Union
sagt Ja zu mehr Transparenz. Restaurantgäste sollen auf
einen Blick erkennen, wie die Gaststätte bei der Lebensmittelkontrolle abgeschnitten hat. Smileys und damit
wertende Modelle lehnen wir allerdings ab.
Eine Bemerkung vorneweg: Lebensmittelüberwachung ist und bleibt in Deutschland Ländersache. Wer
bestellt, bezahlt. Das ist nicht nur im Restaurant oder in
der Kneipe so, sondern es ist auch hier unser Credo.
Ihre Forderungen nach mehr Geld und finanzieller Unterstützung, liebe Kollegen der Grünen, sind deshalb mit
uns nicht zu machen.
Die Länder haben im Rahmen der Verbraucherministerkonferenz ihre Vorstellungen konkretisiert und ihren
Wunsch nach einem Smiley-System bekräftigt: Die Länder wollen eine bundeseinheitliche Kennzeichnung. Hier
haben sie unsere volle Unterstützung. Das Letzte, was
wir gebrauchen können. ist noch ein weiterer föderaler
verbraucherpolitischer Flickenteppich. Wie das Ergebnis der Kontrollen transparent gemacht werden soll,
zum Beispiel durch Kochlöffel oder Kuchenstücke, ist
bisher noch unklar. Die Länderarbeitsgruppen wollen
ihre Ergebnisse in den nächsten Wochen vorlegen. Fest
steht aber schon jetzt, dass alle Lebensmittelbetriebe
diesem System unterworfen werden sollen, allerdings
mit einer stufenweisen Einführung: zunächst die Gastronomie, danach andere Betriebsarten.
Bei aller Unterstützung des Transparenzgedankens
steht für uns fest: Informationen müssen verständlich
und aktuell sein. Eine differenzierte Darstellung - etwa
stufenweise in Anlehnung an das bestehende Beurteilungssystem nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift Rahmen-Überwachung - scheint daher eine gute
Lösung zu sein.
Zentrale Messlatte für den Einsatz ein neues Kennzeichnungssystems bleibt für uns aber die Quantität der
Kontrollen. Das heißt: Nur bei demjenigen darf positiv
wie negativ deklariert werden, bei dem mehrere Kontrollergebnisse erzielt worden sind. Nur so können wir
dem Mangel einer Momentaufnahme begegnen. Das ist
für meine Fraktion der Knackpunkt: Wer gestern noch
negativ gekennzeichnet wurde, sich aber verbessert,
muss zu Recht erwarten können, dass er zeitnah erneut
überprüft und bewertet wird.
Dies können die Berliner Lebensmittelkontrolleure
beispielsweise nicht erfüllen. Im rot-rot regierten Berlin
sind SPD und Linke genau aus diesem Grund kläglich
mit dem Pankower Modell gescheitert. Hier hat sich gezeigt, dass das sogenannte Smiley-System mit dem vorhandenen Personal vor Ort nicht umsetzbar ist. Allein
auf die 2 500 Betriebe in Berlin-Neukölln kommen nur
vier Lebensmittelkontrolleure. Die Konsequenz ist eine
drohende Klagewelle. Kein Wunder also, dass ein flächendeckendes Smiley-System oder „Ekellisten“ für
ganz Berlin in den jeweiligen Stadtbezirken bisher auf
großen Widerstand in den Bezirken stießen.
Kurzum, das Berliner System zeigt genau die große
Gefahr des Systems: Kontrollen in Restaurants sind immer nur eine Momentaufnahme. Regelmäßige und zeitnah sich wiederholende Kontrollen sind unabdingbar,
um verbraucher- und wettbewerbsfreundlich zu sein. Bei
einer Fokussierung auf die Kennzeichnung besteht immer die Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung, weil nicht
alle Betriebe zu einem Stichtag kontrolliert und somit
zertifiziert werden können. Meine Warnung an die Länder lautet deshalb, nur das zu versprechen, was sie in
der Praxis auch einhalten können. Ohne den Ausbau des
Personals der Lebensmittelkontrolleure werden die verheißungsvollen Ansätze der Verbraucherministerkonferenz nicht umsetzbar sein.
Vergessen wir nicht: Die Gesetze im Bereich der Lebensmittelüberwachung und der -kontrollen in Deutschland sind schon jetzt auf einem hohen Standard. Wirten,
die sich nicht an die Regeln halten, drohen Bußgelder,
im schlimmsten Fall die Schließung des Betriebs. Kontrolliert werden schon heute nach einem bestimmten
System verschiedene Aspekte, etwa Sauberkeit, Lagerung der Waren oder Verarbeitung.
Das Regelwerk besteht. Die Transparenz für den Verbraucher gilt es jetzt moderat und umsetzbar auszubauen. Statt sich aber wie die Opposition nur auf die
Kennzeichnungsfrage zu versteifen, sollten wir auch andere Aspekte zur Verbesserung der Lebensmittelsicherheit im Blick behalten. Wir brauchen vor allem einen
Sachkundenachweis für Unternehmensgründer in der
Gastronomie. Jeder kann bis heute ungeprüft einen Betrieb eröffnen. Kontrolle - Fehlanzeige! Die Konsequenz:
Asia-Shops und Grillbuden an jeder Ecke. Hygiene ist
hier oftmals ein Fremdwort. Hier müssen wir ansetzen
und die Standards in der Branche anheben.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzt sich deshalb
dafür ein, dass jeder, bevor er eine Gaststätte oder einen
Betrieb in der Lebensmittelbranche eröffnet, entweder
in Form einer Ausbildung oder durch Seminarbesuche
in den Bereichen Arbeitsrecht, Betriebswirtschaft und
Hygienevorschriften lernen muss. Das würde das Image
der Branche stärken und dem Verbraucher mehr Sicherheit geben, dass Besitzer von Dönerbuden und anderen
Shops wissen, wie unsere Hygienestandards sind.
Die Union sagt mit Blick auf die Verbraucher Ja zu
mehr Transparenz im Lebensmittelbereich, zu moderaten, nicht wertenden und umsetzbaren Kennzeichnungssystemen und zu einem verpflichtenden Sachkundenachweis für Gastronomiebesitzer im Rahmen der
Gewerbeaufsicht. Wir sagen Nein zu wertenden und diffamierenden Kennzeichnungssystemen, solange die
Chance der Betriebe auf zeitnahe Kontrollen nicht gewährleistet ist.
Im April dieses Jahres ergab eine repräsentative Umfrage des Emnid-Institutes, dass 93 Prozent der Bürgerinnen und Bürger eine Smiley-Kennzeichnung für Gaststätten und Lebensmittelbetriebe haben wollen, die sie
einfach, schnell und unkompliziert über den Hygienezustand informiert. Wir meinen: Das ist ihr gutes Recht.
Schließlich zahlen Bürgerinnen und Bürger mit ihren
Steuergeldern die amtlichen Kontrollen. Da sollten sie
auch erfahren dürfen, was dabei herauskam. Die SPD
will Informationen und Kennzeichnungen, die alltagstauglich sind und Verbrauchern wirklich nutzen. Wir
wollen die verpflichtende Smiley-Kennzeichnung nach
dänischem Vorbild für Gastronomie und Lebensmittelbetriebe, die Verbraucher auf einen Blick und vor Ort
über Hygienekontrollergebnisse informiert.
Diese Art von Transparenz nützt nicht nur Verbraucherinnen und Verbrauchern, sondern auch den Lebensmittelbetrieben; denn für die große Mehrheit der sauber
wirtschaftenden Betriebe ist der Positiv-Smiley ein Wettbewerbsvorteil. Verwunderlich ist deshalb, warum sich
der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband gegen die
Einführung des Smiley-Systems wehrt und sich damit
ausgerechnet vor die Minderheit der Schmuddelbetriebe
stellt. Warum vertritt die DEHOGA nicht die Interessen
der großen Mehrheit ihrer Mitglieder, die ordentlich und
korrekt wirtschaften? Warum ist die Angst vor Transparenz so groß?
Die gleichen Fragen muss man an die Kolleginnen
und Kollegen von CDU/CSU und FDP stellen. Es gab
inzwischen mehrere Gelegenheiten, sich auch von hier
aus, aus dem Bundestag heraus, für die Einführung eines Smiley-Systems starkzumachen. Bereits im Juni haben wir unseren Antrag „Verbraucherinformationsgesetz zügig reformieren“ eingebracht, in dem wir die
Smiley-Kennzeichnung fordern. Heute schließen wir
hier die Diskussion über zwei Anträge von Grünen und
Linken ab, die sich ebenfalls für die Smiley-Kennzeichnung aussprechen. Aber Sie von der Regierungskoalition blockieren. Dabei kündigte Ministerin Aigner in den
Medien an, sich für die Smiley-Kennzeichnung einzusetzen.
Inzwischen wurde eine Bund-Länder-Projektgruppe
eingerichtet, die über ein bundesweites System verhandelt. Wir haben uns im Ausschuss darüber berichten lassen. Der Bericht war, wie inzwischen leider immer, sehr
dürftig und ergab nur ein unklares Bild. Denn mit Transparenz hat diese Bundesregierung nicht nur an Gaststätten ein Problem, sondern auch, wenn es um ihre Vorhaben geht. Was wir erfuhren, hört sich nicht gut an. Von
Darstellungen, die frei von Emotionalität gehalten werden sollen, war die Rede. Vom dänischen Smiley-System
bleibt da wenig. Anscheinend gab es auch Überlegungen, das System auf Positiv-Aussagen zu beschränken.
Damit würde das dänische System endgültig ad absurdum geführt.
Doch nicht nur die Bundesregierung, sondern auch
einige Länder scheinen zu mauern. Laut Auskunft der
Bundesregierung auf eine Anfrage von mir wird das dänische Modell wegen der Kosten abgelehnt. Deshalb
habe ich nach der Höhe der Kosten gefragt, und wollte
auch wissen, wie hoch die Ausgaben der öffentlichen
Hand insgesamt für die Lebensmittelüberwachung in
Deutschland sind. Laut Antwort vom 5. November hat
die Bundesregierung gar keine Kenntnisse über die
Höhe der Kosten, weder über die für das Smiley-System
in Dänemark noch die der Lebensmittelüberwachung in
Deutschland. Doch dies hindert sie nicht, mit zu hohen
Kosten zu argumentieren. Zwar liegt die Zuständigkeit
für die Lebensmittelüberwachung bei den Ländern, doch
was läuft denn eigentlich in dieser Bund-Länder-Projektgruppe, wenn man sich dort nicht einmal darüber
austauscht, wie viel man in die Lebensmittelüberwachung investiert oder wie viele Kontrolleure man hat!
Die Praxis spricht eine deutliche Sprache, und zwar
für die Anwendung eines Smiley-Systems, welches sich
am dänischen Modell orientiert. In der letzten Woche
hatten wir Gelegenheit, das Lebensmittelaufsichtsamt
Pankow zu besuchen. Ich danke unserem Ausschussvorsitzenden, dass er diesen Termin organisiert hat. Dort
hat man enorm positive Erfahrungen mit den Smileys
Zu Protokoll gegebene Reden
gemacht. Denn die Veröffentlichung der Hygienezustände hat eine solch abschreckende Wirkung, dass der
Anreiz, sich ordentlich zu verhalten und sauber zu wirtschaften, viel höher geworden ist. Berichtet wurde uns,
dass es im Bezirk vor der Einführung der Smileys in
2008 111 Betriebsschließungen gab. Nach der Einführung in 2009 sank die Zahl der Betriebe, die wegen anhaltend schlechter Hygienezustände geschlossen werden
mussten, auf 71. Ohne Smileys seien früher Bußgelder
für Verstöße einfach aus der Portokasse gezahlt worden,
und dann sei der Betrieb weitergelaufen wie zuvor. Mit
Smileys müssen Schmuddelgastronomen damit rechnen,
dass die Gäste wegbleiben, und das kann sich niemand
leisten.
Die Kosten für die Nachkontrollen bei Schmuddelläden zahlen übrigens derzeit die Steuerzahler. Zwar muss
der Verursacher eine Gebühr entrichten, sie deckt aber
bei weitem nicht die Kosten der Nachkontrolle. Wenn
man es allerdings wie die Dänen regeln würde, könnte
man für diejenigen, die einen Negativ-Smiley haben, die
Möglichkeit schaffen, sich auf eigene Kosten nachkontrollieren zu lassen, um den Negativ-Smiley wieder loszuwerden. Damit käme Geld in die Kassen, mit dem die
Lebensmittelaufsicht besser ausgestattet werden könnte.
Der Leiter der Lebensmittelaufsicht in Pankow konnte
uns an vielen Fällen aus der Praxis verdeutlichen, dass
dem Amt mit der Smiley-Kennzeichnung endlich eine
wirksame Waffe im Kampf gegen Hygiene-Verstöße gegeben ist. All dies hat die Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU aber nicht interessiert. Von ihnen hat niemand die Gelegenheit zum Austausch mit Praktikern genutzt; nicht ein einziger Abgeordneter von CDU oder
CSU hat teilgenommen.
Laut Empfehlung des Verbraucherausschusses sollen
die Anträge von Grünen und Linken zur Einführung von
Smileys abgelehnt werden. Meine Fraktion lehnt die Ausschussempfehlung ab. Die Einführung des Smiley-Systems nach dänischem Vorbild ist uns ein Anliegen. Auch
wenn die Regierungskoalition mit ihrer Mehrheit die Ablehnung der Anträge zur Smiley-Einführung erreicht:
Die Diskussion wird weitergehen. Mit dem Verbraucherinformationsgesetz haben wir die Möglichkeit zur aktiven Verbraucherinformation geschaffen, und einige nutzen sie bereits tatsächlich. Allerdings brauchen wir ein
paar klarstellende Nachbesserungen am VIG. Doch bisher mauert schwarz-gelb.
In Berlin werden ab Juli nächsten Jahres alle Bezirke
ihre Gaststätten mit Smileys kennzeichnen. Es gibt bereits Überlegungen, nicht nur Gaststätten, sondern alle
Lebensmittelbetriebe zu kennzeichnen. Wir gehen davon
aus, dass sich das System durchsetzen wird. Immer mehr
werden einsteigen; denn die Vorteile für die Verbraucher, für die seriösen Unternehmen und für die Lebensmittelüberwachung sind offensichtlich. Wir werden uns
weiterhin für die Smileys und für eine aktive und alltagstaugliche Verbraucherinformation einsetzen.
Wenn jemand Hunger bekommt und sich überlegt,
zum Mittagessen in ein Restaurant zu gehen, dann
möchte er wissen, ob er dies bedenkenlos tun kann. Bislang gibt es für den Verbraucher aber keine Möglichkeit,
die hygienischen Zustände einzuschätzen. Selbst in teuren Restaurants ergibt die Lebensmittelkontrolle nämlich bisweilen ein trauriges Ergebnis.
Das Verbraucherinformationsgesetz ist für eine
schnelle Orientierung ungeeignet. Denn die Verbraucher werden nicht erst eine Anfrage bei einer Behörde
stellen und zwei Monate warten, bis die Antwort bescheinigt, dass in dem gewählten Restaurant ohne Sorgen gegessen werden kann. Hier bringt das stark formalisierte VIG keinen Nutzen.
Der Verbraucher wünscht aber eben eine schnelle
Orientierung, und für diese Orientierung steht der Smiley
als eine äußerst effiziente Form. Nach einer Emnid-Umfrage wären 93 Prozent der befragten Bürgerinnen und
Bürger glücklich über die Einführung des Smiley-Systems.
Das Smiley-System in der Gastronomie schafft auf
eine sympathische Art und Weise positive Anreize für
mehr Transparenz, mehr Hygiene und damit mehr Verbraucherschutz, ohne die Unternehmen an den Pranger
zu stellen. Denn im Wettbewerb werden gerade diejenigen Gastronomen durch den Smiley begünstigt, die eine
gute Leistung und Qualität anbieten. Der Smiley honoriert also Leistung und bestraft mangelnde Hygiene.
Deshalb wird er auch von einer Mehrheit der Gastronomen befürwortet, wie eine Studie der „Hotel- und Gaststättenzeitung“ zeigte.
Es kommt ja deshalb auch nicht von ungefähr, dass in
Dänemark die Zahl der festgestellten Hygienemängel
nach der Einführung des Smileys deutlich reduziert werden konnte. Auch der Berliner Bezirk Pankow hat sehr
gute Erfahrungen mit der Einführung des Smileys an
Gaststätten und einer Veröffentlichung von Negativlisten im Internet gemacht. Die Zahl der Hygienesünder ist
auch dort signifikant zurückgegangen. Vor der Einführung der Negativlisten im Jahr 2008 wurden in Pankow
noch 111 Betriebe wegen grober Verstöße geschlossen,
nach der Einführung im Jahr 2009 nur noch 71 Betriebe.
Darum wollen wir ein Kennzeichnungssystem für
Gaststätten einführen - wenn es nach den Liberalen
geht, am liebsten den Smiley nach dänischem Vorbild.
Auch die Konferenz der Verbraucherminister der Länder
hat dies im September einhellig beschlossen. Um die
Einführung eines Kennzeichnungssystems voranzutreiben, wurde von der Länderarbeitsgemeinschaft eine
Projektgruppe eingesetzt, die nun erarbeitet, wie ein solches Kennzeichnungssystem aussehen sollte und welche
gesetzlichen Grundlagen dafür erforderlich sind. Den
Damen und Herren aus den Oppositionsfraktionen sei
also gesagt, die Bundesregierung arbeitet an einer entsprechenden Regelung.
Dies sage ich vor allem im Hinblick auf die vorliegenden Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und der
Linken: Sie wollen hier drei Schritte vor dem ersten tun.
Die Bundesregierung möchte mit den Ländern zu einer
effizienten und sinnvollen Regelung kommen und keinen
Zu Protokoll gegebene Reden
übereilten Schnellschuss vorlegen. Deshalb gibt es ja
auch die angesprochene Projektgruppe. Außerdem arbeitet die Bundesregierung intensiv an der Novellierung
des Verbraucherinformationsgesetzes, in dessen Rahmen auch eine Regelung zur Kennzeichnung in der Gastronomie diskutiert wird. Beide Bereiche müssen also
zusammen behandelt werden. Denn es ist doch absurd,
dass nach dem derzeitigen VIG zwar die schlecht arbeitenden Gastronomen im Internet veröffentlicht werden
dürfen, jene, bei denen alles vorbildlich ist, aber nicht.
Allerdings stelle ich auch ganz klar fest, dass ich es
für einen Fehler hielte, die Verantwortung für die Umsetzung des Smiley-Systems allein den Ländern zuzuschieben. Es ist zwar richtig, dass die Lebensmittelüberwachung in der Zuständigkeit der Länder liegt. Ebenso
richtig ist es aber auch, dass eine bundeseinheitliche Regelung nur im Zusammenspiel der Bundesregierung mit
den Ländern erfolgen kann. Es darf eben keinen Verschiebebahnhof der Zuständigkeiten zwischen Bund und
Ländern geben, bei dem der effiziente Verbraucherschutz auf der Strecke bleibt.
Voraussetzung für die Umsetzung des Smiley-Systems
ist allerdings die Neuorganisation der Lebensmittelkontrolle. Denn zum einen muss sichergestellt sein, dass
gute Gaststätten zeitnah einen Smiley erhalten, um Wettbewerbsnachteile zu vermeiden. Zum anderen müssen
Gaststätten, bei denen Beanstandungen vorlagen, nach
Beseitigung der Mängel die Chance erhalten, eine Negativbewertung ebenfalls zeitnah wieder loszuwerden.
Darüber hinaus ist darauf zu achten, dass keine Abkehr von der risikoorientierten Kontrolle erfolgt, das
heißt bereits auffällige Gaststätten weiterhin häufiger
kontrolliert werden als unauffällige Betriebe. Auch muss
zwingend vermieden werden, dass durch einen Mangel
an ausreichendem Kontrollpersonal nur noch Gaststätten und keine Zulieferbetriebe - Kühlhäuser etc. - mehr
kontrolliert werden. Denn dem Verbraucher ist nicht geholfen, wenn am Ende zwar die Theken und Küchen der
Gaststätten sauber sind, aber das dort zubereitete
Fleisch gesundheitlich problematisch ist.
Der Smiley in der Gastronomie kann, wenn er gut
eingesetzt ist, einen wirklichen Fortschritt für die Verbraucherinnen und Verbraucher bringen. Er schafft
Transparenz bei wenig Bürokratie und ohne zusätzliche
Kosten für die Betriebe. Allerdings setzt die Umsetzung
des Smiley-Systems voraus, dass eine Neuorganisation
der Lebensmittelkontrolle erfolgt. Hierzu müssen der
Bund und die Länder zu einem klaren Konzept gelangen.
Dies geht nicht von heute auf morgen, ist aber derzeit in
Arbeit. Dabei werden sowohl die rechtlichen als auch
die finanziellen Aspekte eine Rolle spielen; denn wir
brauchen ein funktionales Gesamtkonzept und keine
Schnellschüsse. Den vorliegenden Anträgen werden wir
als christlich-liberale Koalition daher nicht zustimmen.
Wenn Sie wissen wollen, wie sauber in einem Restaurant die Küche ist, werfen Sie einen Blick in die Toilette.
Dieser Hinweis eines bekannten Küchenchefs ist ein guter Rat, aber wenig hilfreich, wenn man die Örtlichkeiten erst nach dem Essen besucht. Nur wer schon am Eingang eines Restaurants, einer Imbissbude oder eines
Lebensmitteldiscounters erfährt, wie es hinter der Theke
zugeht, ist wirklich informiert und hat gut Lachen. Deshalb fordert Die Linke die Einführung des LebensmittelSmileys nach dänischem Vorbild.
Das „Smiley-Modell“ hat drei wichtige Vorteile. Erstens wird die Hygiene in der Gastronomie und in Betrieben, die Lebensmittel anbieten, verbessert, zweitens geht
der Aufwand der Kontrollbehörden mittelfristig zurück,
und drittens schafft es Vertrauen bei den Kundinnen und
Kunden. Das - im besten Fall freundliche oder bei erheblichen Mängeln traurige - Smiley-Symbol informiert
Verbraucherinnen und Verbraucher direkt am Eingang
des Geschäfts leicht erkennbar über die aktuellen Kontrollergebnisse der Lebensmittelbehörden. Hinzu kommen ein Aushang im Betrieb und eine Auflistung im Internet, die im Einzelnen Auskunft über gute oder
schlechte Bewertungen geben.
In Dänemark hat sich der Smiley bereits über viele
Jahre bewährt. Auch in unserer Hauptstadt wird das
Modell Mitte nächsten Jahres durch die Initiative der
Verbraucherschutz-Senatorin der Linken, Katrin
Lompscher, berlinweit starten. Die Verbraucherschutzministerkonferenz der Länder hat sich im September
ebenfalls für ein bundesweit verbindliches Modell zur
Veröffentlichung von Ergebnissen der amtlichen Lebensmittelkontrollen mit einheitlichen Bewertungsmaßstäben ausgesprochen. Einzig die zuständige Bundesministerin, Frau Aigner, kann sich nicht so recht für den
Smiley erwärmen. Damit in der Öffentlichkeit dennoch
ein guter Eindruck entsteht, wendet sie einen Trick an:
Sie schiebt den Ländern die Verantwortung zu - in der
Hoffnung diese mögen recht lange um eine Entscheidung ringen und das Modell verwässern.
Wir erwarten, dass die Bundesregierung handelt, indem sie das Verbraucherinformationsgesetz ändert, statt
nur darüber zu reden. Die derzeitigen gesetzlichen Regelungen bieten keine ausreichende Rechtssicherheit für
die bundesweite Einführung des Smiley-Modells. Die
Linke fordert: Legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der
die verpflichtende Einführung des Smiley-Modells ermöglicht und gleichberechtigt alle Lebensmittelbetriebe
einbindet. Schlecht bewertete Betriebe müssen die
Chance auf rasche Nachkontrolle haben, damit eine negative Veröffentlichung gegebenenfalls beseitigt werden
kann. Machen Sie den Ländern einen Vorschlag, wie die
Kennzeichnung im Einzelnen aussehen soll, um die Verbraucherinnen und Verbraucher über die Kontrollergebnisse der Lebensmittelbörden zu informieren.
Natürlich muss nach den Vorgaben „sehr gut“,
„gut“, „weniger gut“ und „schlecht“ unterschieden
werden. Beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit ist eine Internetplattform einzurichten, auf der die von den Bundesländern übermittelten
Kontrollergebnisse der Lebensmittelüberwachungsbehörden zeitnah veröffentlicht werden.
Frau Ministerin Aigner: Unterstützen Sie die Bundesländer bei der zügigen Einführung des Smiley-Modells
aktiv, statt die Verantwortung auf andere zu schieben,
Zu Protokoll gegebene Reden
und stellen Sie ausreichend Mittel im Bundeshaushalt
bereit. So wird der Smiley eine saubere Sache. Machen
Sie mit, damit alle Beteiligten auf den ersten Blick etwas
zu lachen haben.
Die einstimmige Vereinbarung der Verbraucherministerkonferenz von Bund und Ländern für mehr Transparenz bei der Lebensmittelkontrolle im September ist
als Erfolg zu bezeichnen. Erfolgreicher Vorreiter ist Dänemark, das bereits seit 2001 durch die Einführung des
Smiley-Systems für mehr Schutz der Verbraucherinnen
und Verbraucher durch Transparenz bei der Lebensmittelüberwachung - vom Schlachthof bis zum Supermarkt
und der Imbissstube - gesorgt hat. Seither müssen die
Kontrollergebnisse über ein mehr oder weniger „lächelndes“ Gesicht direkt an den Verkaufsstellen ausgehängt
werden. Der Erfolg: Seit der Smiley-Einführung sank
die Quote der Beanstandungen um 16 Prozent. In
Deutschland hat das Smiley-Modell in Berlin-Pankow
vorgemacht, wie man endlich Verbraucherinnen und
Verbrauchern die Möglichkeit gibt, die schwarzen
Schafe unter den Betrieben zu erkennen.
Mit dem Verbraucherausschuss des Bundestages haben wir letzte Woche das Ordnungsamt - mit Veterinärund Lebensmittelaufsicht - gemeinsam mit dem grünen
Bezirksstadtrat Kirchner, Leiter der Abteilung für Öffentliche Ordnung und Mitinitiator des Smiley-Projekts, Berlin-Pankow besucht. Wir haben die erfreulichen Auswirkungen des Projekts gesehen, aber auch die Defizite
gezeigt bekommen. Diese beruhen hauptsächlich auf einer fehlenden bzw. lückenhaften bundeseinheitlichen
Gesetzeslage.
An dieser Stelle ist Ministerin Aigner bei der Reform
des Verbraucherinformationsgesetzes gefordert, zügig
Rechtssicherheit für die Länder zu schaffen. Nur dann
werden die Länder auch negative Funde veröffentlichen
können, ohne einer ständigen rechtlichen Auseinandersetzung mit den Unternehmen ausgesetzt zu sein. Bei der
Regelung, die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse betrifft, muss sichergestellt werden, dass Betriebe durch
eine Darlegungspflicht nicht mehr in der Lage sind, alles pauschal als Geschäftsgeheimnis zu kennzeichnen.
Darüber hinaus muss die Möglichkeit geschaffen werden, Informationen nach dem Verbraucherinformationsgesetz auch während eines öffentlichen, laufenden Gerichtsverfahrens zu erlangen. Dies verhindert, Verfahren
durch juristische Tricksereien in die Länge zu ziehen,
zum Beispiel um unzureichende Ware in dieser Zeit noch
weiter produzieren zu können und somit unerlaubte Gewinne auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher zu erwirtschaften. Beispielsweise verhinderte ein
Schinkenhersteller über fünf Jahre, für seine unerlaubten Panschereien bestraft zu werden, und produzierte
munter weiter - ein Wettbewerbsvorteil zulasten der
Mitbewerber und Verbraucher. Im Verbraucherinformationsgesetz muss die Frist für die schriftliche Gelegenheit zur Stellungnahme Dritter an die allgemeine Regelung des Verwaltungsverfahrens - 14 Tage - angepasst
werden. Es besteht kein Grund, im Verbraucherinformationsgesetz schärfere Regelungen als im normalen Verwaltungsverfahren aufrechtzuerhalten und damit eine
Verschleppung der Auskunftsansprüche der Verbraucherinnen und Verbraucher zu etablieren. Besonders wichtig ist eine Regelungsergänzung, die eine Bewertung und
Veröffentlichung der Kontrollergebnisse im Internet
oder in sonstiger öffentlich zugänglicher Weise zulässt.
Durch diese Einfügung wird die Möglichkeit geschaffen,
die Verstöße in verschiedene Schweregrade einzuteilen.
Eine solche Veröffentlichung wird in Dänemark praktiziert und hat maßgeblich zu dem Erfolg der Kennzeichnung beigetragen.
Frau Aigner hat vor der Verbraucherministerkonferenz zugesagt, bei Übereinstimmung der Länder das
Smiley-Projekt zu unterstützen, und steht nun in der Verantwortung, das Kennzeichnungssystem zum Erfolg zu
führen. Den gesetzlich zulässigen Handlungsauftrag hat
die Ministerin von den Ländern erhalten. Die Arbeitsgruppe der Länder hat sich nämlich für ein bundeseinheitliches Gesetz ausgesprochen und gegen einen Ermächtigungsrahmen, der für die Verbraucherinnen und
Verbraucher nur verwirrende unterschiedliche Ausgestaltungen in den Ländern hervorrufen würde.
Angebliche Kritik an der Kennzeichnung vonseiten
der Lebensmittelwirtschaft ist vorgeschoben und einseitig. Der Widerstand gegen das Smiley-Projekt ignoriert
die Bedürfnisse der Verbraucher und ignoriert auch die
erwiesene Praxistauglichkeit des Smileys. Der nationale
Smiley in Dänemark und das Smiley-Projekt in BerlinPankow finden nicht nur bei Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern auch immer stärker bei den betroffenen Akteuren aus der Wirtschaft großen Anklang. Der
Smiley wird nicht als diffamierender Angriff auf die
Gastronomie oder Ernährungswirtschaft, sondern als
Chance für einen positiven Wettbewerb der „Guten“ gesehen. Auch der Bundesverband der Deutschen Lebensmittelkontrolleure spricht sich für die Umsetzung und
die Machbarkeit des Smiley-Systems aus.
Das Kennzeichnungssystem effektiviert die Verwaltungsstruktur der Lebensmittelüberwachung. Ein solches System kann bereits jetzt, auch unter dem Aspekt
der Kostenneutralität, besser und billiger als alle nachträglichen Kontrollen die Lebensmittelsicherheit und
den ungetrübten Genuss in Restaurants, Imbissstuben,
aber auch in Handel und Handwerk unterstützen. Aus
diesem Grund akzeptieren wir nicht weiter, dass die
Bundesministerin Aigner das Projekt im Schneckentempo verfolgt - zulasten der Verbraucherinnen und
Verbraucher. Das Land Berlin geht mutig voran und
wird ab Juni 2011 eine Smiley-Kennzeichnung einführen. Das ist ein echtes Leuchtturmprojekt, an dem sich
Ministerin Aigner und die anderen Länder ein Beispiel
nehmen sollten. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, die zum vollen Erfolg nötige unmissverständliche Rechtsgrundlage im Verbraucherinformationsgesetz
zu schaffen und ein verpflichtendes, bundesweites Smiley-System finanziell und organisatorisch zu unterstützen. Dabei darf sich die Smiley-Kennzeichnung nicht
nur auf positive Ergebnisse beschränken. Der von uns
eingebrachte Antrag bietet dafür eine ideale Grundlage.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/3434 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3220 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist
dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Jan van Aken, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Keine großflächige Landnahme und Spekulationen mit Land oder Agrarproduktion in den
Ländern des Südens
- Drucksache 17/3541 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Mit dem neuen strategischen Konzept „Entwicklung
ländlicher Räume und deren Beitrag zur Ernährungssicherung“ des Bundesministeriums für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung will die Regierungskoalition die Potenziale der ländlichen Räume in Entwicklungsländern besser fördern. Dies bedingt den sicheren Zugang zu Land in ländlichen Gebieten. Der
sichere Zugang zu Land ist eine Grundvoraussetzung
zur Erreichung der Millennium Development Goals. Nur
wenn der Zugang zu Land gesichert ist, können Familien
in ländlichen Gebieten die Produktivität auf den zur Verfügung stehenden Flächen steigern und so ihr Einkommen erhöhen. Ein höheres Einkommen trägt zur Verbesserung der Ernährungssicherheit bei und reduziert
Armut.
Land ist eine knapper werdende Ressource; sie steht
in Konkurrenz zu verschiedenen Nutzungsinteressen.
Vor diesem Hintergrund erleben wir seit geraumer Zeit
verstärkt eine Entwicklung, die in internationalen
Schlagzeilen auch als Landnahme oder Land Grabbing
bezeichnet wird: Staatliche Akteure, private Investoren
aus Industrie- und Schwellenländern sowie inländische
private Investoren sichern sich mittels langfristiger
Pacht- oder Kaufverträge große Agrarflächen in Entwicklungsländern. Angebaut werden dann Nahrungsmittel oder Energiepflanzen für den Export. So wird die
knappe Ressource Land zunehmend Spekulationsobjekt.
Die Fraktion Die Linke fordert mit Ihrem Antrag die
Bundesregierung auf, „dafür Sorge zu tragen, dass die
Durchsetzung des Menschenrechts auf Nahrung vor den
Interessen von Investoren Vorrang hat und dass großflächige Landnahme in den Ländern des Südens nicht weiter
eine Gefahr für die Ernährungssouveränität der Menschen dort bleibt“. Verlässliche Zahlen und Fakten zum
globalen Ausmaß großflächiger Landkäufe und -pachten
existieren bislang nicht. Zahlen, die veröffentlicht werden, stammen in der Regel aus Pressemeldungen. Die
Weltbank kommt in ihrer Veröffentlichung „Rising Global Interest in Farmland - Can it yield sustainable and
equitable benefits?“ aus dem September 2010 zu dem
Ergebnis, dass allein in 2009 über rund 42 Millionen
Hektar landwirtschaftliche Fläche im Rahmen von Direktinvestitionen verhandelt wurde.
Grundsätzlich hilft es Entwicklungsländern, wenn
neue Technologien eingeführt werden und die Produktivität steigt. Aber die derzeitige Praxis der Investitionstätigkeiten birgt für die Entwicklungsländer Risiken: die
Verschärfung bestehender Landkonflikte, die Vertreibung lokaler, auch indigener Bevölkerungsgruppen, die
Rodung von Waldbeständen zur Ausdehnung von Anbauflächen oder die negativen Auswirkungen von Monokulturen in Großplantagen. Notwendig sind deshalb Spielregeln, die langfristig sicherstellen, dass das Ziel der
Ernährungssicherheit nicht durch großflächige Landkäufe und -pachten konterkariert wird. Hierfür setzt sich
die Bundesregierung in der bilateralen und multilateralen Entwicklungszusammenarbeit ein. Dazu brauchen
wir den Antrag der Linken nicht. Die Bundesregierung
unterstützt in rund 30 Partnerländern in Afrika, Asien,
Lateinamerika und Südosteuropa ein breites Spektrum
von Maßnahmen zum verbesserten Landmanagement.
Damit beugen wir möglichen negativen Auswirkungen
großflächiger Landkäufe und -pachten vor.
Laos ist ein vorbildliches Beispiel. Im letzten Jahrzehnt wurden dort Tausende Quadratkilometer Land an
Investoren vergeben, ohne dabei Ausmaß und exakte
geografische Position der Konzessionen zu dokumentieren. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt seit Mitte 2008 die laotische Landbehörde bei der
Erstellung einer umfassenden Bestandsaufnahme von
bestehenden Investitionen in Land und beim Kartografieren aller Konzessionen und größeren Landverpachtungen.
Für uns ist Transparenz eine entscheidende Grundlage, Risiken und Chancen von Landakquisition besser
einschätzen zu können. Das BMZ unterstützt maßgeblich
die FAO-Initiative zur Erarbeitung der Voluntary Guidelines on Responsible Governance of Tenure of Land and
other Natural Resources. Diese freiwilligen Leitlinien
der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der
Vereinten Nationen, der FAO, sollen Staaten helfen, Zugangs- und Nutzungsrechte zu Land und anderen natürlichen Ressourcen nachhaltig zu gestalten und entsprechende institutionelle Strukturen aufzubauen. Dies trägt
auch dazu bei, die Korruption im Landsektor einzudämmen. Mit der Verabschiedung ist nach einem intensiven
Konsultationsprozess mit den Mitgliedstaaten, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft im dritten Quartal 2011
zu rechnen.
Weiter bietet die Initiative Principles for Responsible
Agricultural Investment that Respects Rights, Livelihoods and Resources der Weltbank, UNCTAD, IFAD und
der FAO eine Orientierung für Investoren für sozial verantwortliche Investitionen. Die Bundesregierung hat die
Entwürfe der Initiative ressortübergreifend abgestimmt
kommentiert. Sie ist in den Prozess der weiteren Entwicklung eng mit eingebunden. Sie verfolgt vor allem
das Ziel einer engen Abstimmung und Zusammenarbeit
mit anderen Initiativen, wie beispielsweise mit den freiwilligen Leitlinien der FAO. Wie Sie sehen, handelt die
Bundesregierung. Dazu müssen wir sie nicht auffordern.
Noch immer liegt die größte entwicklungspolitische
Herausforderung in der weltweiten Bekämpfung von
Hunger und Armut. Aktuell leiden über 900 Millionen
Menschen an Hunger. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Zum einen führen die stetig wachsende Weltbevölkerung und die veränderten Ernährungsgewohnheiten - vorwiegend der Menschen in den asiatischen Schwellenländern - zu einer Bedarfszunahme von Lebensmitteln.
Zum anderen tragen der vermehrte Anbau von Bioenergieträgern, die durch Erosion und Versalzung unwirtschaftlich gewordenen Flächen für die Landwirtschaft
und die durch den Klimawandel hervorgerufenen Naturkatastrophen zunehmenden Ernteausfälle zu einer Verringerung der fruchtbaren Landflächen und Produktionsmengen von Nahrungsmitteln bei. Die diesjährigen
Ernteausfälle in Russland und Pakistan bestätigen diese
Entwicklung.
Zum einen führen alle diese Faktoren zu einem erhöhten Bedarf an begrenzten Ressourcen wie Lebensmitteln
und pflanzlichen Energieträgern, zum anderen wird
fruchtbares Land zu einem noch kostbareren Gut. Begehrte Güter rufen Spekulanten auf die Tagesordnung,
die versuchen, sich am Bedarf knapper Güter zu bereichern. Leider ist das nicht nur an den Finanzmärkten
der Fall, sondern auch an den zur Ermittlung des Preises für Grundnahrungsmittel zuständigen Warenterminbörsen. Die Nahrungsmittelkrise im Frühjahr 2008 war
ein erster großer Vorbote dessen, was zunehmend bei
der Entwicklung von Nahrungsmittelpreisen und damit
bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln zu beobachten
sein wird. Finanzspekulanten an den Warenterminbörsen, die kein wirkliches Kaufinteresse am Produkt haben, versuchen durch kurzfristige Käufe und Verkäufe
mit der Preisentwicklung von Nahrungsmitteln den großen Reibach zu machen. Das ist verwerflich und ethisch
nicht zu vertreten. Daher haben wir als SPD-Bundestagsfraktion mit einem Antrag - ich meine Drucksache
17/3413 - gegen diese Spekulationen ein Zeichen gesetzt.
Aber es sind nicht nur die unverantwortlichen Spekulationen an den Warenterminbörsen, die es zu kontrollieren und einzudämmen gilt. Gleiches gilt auch für die
Spekulationen mit Land und der großflächigen Landnahme in den Ländern des Südens. Die Welthungerhilfe
stellt in einem Bericht fest: „Bis 2030 müsste die heute
verfügbare landwirtschaftliche Fläche um 515 Millionen Hektar wachsen, um eine ausreichende Produktion
von Agrar-, Energie- und Forsterzeugnissen zu sichern.“
Das entspräche ungefähr der Hälfte der Fläche Europas. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung versuchen
staatliche Akteure, vor allem aber private Investoren aus
Industrie- und Schwellenländern, sich mit langfristigen
Pacht- oder Kaufverträgen große Agrarflächen in Entwicklungsländern zur Eigenversorgung mit Nahrungsmitteln und Energiepflanzen zu sichern. Fast 90 Prozent
der Investitionen im Bereich Land Grabbing wird von
privaten Kaufinteressenten getätigt.
Zwar hat es schon immer ausländische Landpacht
oder Landkäufe gegeben - neu sind jedoch Ausmaß und
Geschwindigkeit dieses Landerwerbs. Laut einer Studie
von FAO/IFAD wurden allein seit 2004 in nur fünf afrikanischen Ländern Vereinbarungen über mehr als
2,5 Millionen Hektar Land abgeschlossen. Schätzungen
des International Food Policy Research Institut, des
IFPRI, gehen davon aus, dass innerhalb der letzten fünf
Jahre Verkäufe und Verpachtungen von 15 bis 20 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbarer Fläche in Entwicklungsländern getätigt wurden. Doch diese Einschätzung erscheint recht konservativ. Aktuell laufende
Studien der Weltbank und anderer Organisationen deuten darauf hin, dass es bereits weit großflächigere Landakquise gibt als angenommen. Die im Oktober 2008 von
der Nichtregierungsorganisation GRAIN veröffentlichte
Liste mit über 100 Fällen von käuflicher Landnahme
dürfte bereits deutlich überholt sein.
Mit ein Grund für diese rasante Entwicklung sind die
auf den Finanzmärkten als Investment getätigten Land
Deals. Die Erwartung steigender Renditen bei Investitionen in Land scheint Anleger zu locken, die auf den
Kaufpreis spekulieren. Schon jetzt werden erste Investmentfonds aufgelegt, die Agrarflächen kaufen und durch
die zunehmende Landverknappung auf die Wertsteigerung der jeweils erworbenen Flächen spekulieren. Es
wird somit auf Kosten von Menschenleben spekuliert.
Denn das perfide dabei ist: Zielländer der Investoren
sind insbesondere die Länder, in denen die Bevölkerung
vorwiegend selbst von der Landwirtschaft lebt, gleichzeitig die Versorgung mit Nahrungsmitteln immer kritischer und aufgrund der Entwicklungen durch den Klimawandel immer schwieriger wird. Länder wie Sudan oder
Äthiopien gehören zu den größten Empfängern des UNWelternährungsprogramms. Gleichzeitig jedoch werden
hier große Teile fruchtbaren Bodens verkauft. Der Großteil der angebauten Produkte ist jedoch für den Export
bestimmt. Auf dem Binnenmarkt finden sich die Produkte nicht wieder und tragen damit auch nicht zur
Wertschöpfung im Ursprungsland bei.
Aber nicht nur der Export der Ware stellt langfristig
ein Problem für die dort lebende Bevölkerung dar. Oftmals werden beim Erwerb der Landflächen Landrechte
der lokalen Bevölkerung missachtet; die Einbindung
oder eine Beteiligung der ansässigen DorfgemeinschafZu Protokoll gegebene Reden
ten oder Kleinbauern findet so gut wie nicht statt. Zum
einen wird dabei durch den Anbau großflächiger Monokulturen unter dem Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden das ursprüngliche Ökosystem aus dem Gleichgewicht gebracht; dadurch ist die Existenz vieler
einheimischer Pflanzen bedroht. Zum anderen werden
vorwiegend Ländereien erworben, bei denen eine Wasserversorgung problemlos möglich ist. Durch den Kauf
oder die Pacht von Land gehen auch die an die Flächen
gebundenen Entnahme- und Nutzungsrechte für Wasser
an die Investoren über, oder die entsprechenden Rechte
werden mitverpachtet. Damit erweitert sich das Problem
der Landverknappung zunehmend auch auf die nutzbaren Wasserbestände.
Das aufgezeigte Szenario verdeutlicht, wie schwierig
es ist, durch die rapide Zunahme von Land Grabbing
Hunger und Armut in der Welt erfolgreich zu bekämpfen.
Dem unkontrollierten Landkauf muss der Riegel vorgeschoben werden. Der vorliegende Antrag stellt daher
nicht zu Unrecht die besondere Bedeutung des Menschenrechts auf Nahrung in den Vordergrund. Das ist
eine richtige und wichtige Forderung, die ich so mittrage. Ebenso verhält es sich mit dem im Antrag enthaltenen Passus bezüglich der Stärkung ländlicher kleinbäuerlicher Strukturen.
Was ich im vorliegenden Papier allerdings schmerzlich vermisse ist die Einbeziehung aller relevanten Dimensionen, die es beim Thema Land Grabbing zu beachten gilt. Neben der menschenrechtlichen Komponente,
sind es vor allem Bedingungen sozialer und umweltpolitischer Natur. Auch die rechtliche Bindung von Investoren an die Einhaltung sozialer und ökologischer Mindeststandards fehlt. Der Kauf von Landflächen muss
umfassender an bestimmte Kriterien geknüpft werden.
Menschenrechte sind dabei die wesentlichen, aber nicht
die einzigen Rechte, die es zu schützen gilt.
Ich sehe das Phänomen Land Grabbing darüber hinaus als ein Puzzleteil im Themenfeld der ländlichen
Entwicklung. Hier gehört es angesiedelt und in ein Konzept integriert, das die Probleme der ländlichen Entwicklung umfassend beleuchtet und versucht, das Problem an der Wurzel zu packen. Nur so haben wir eine
Chance, gegen das menschenverächtliche Vorgehen vieler Investoren erfolgreich anzukämpfen.
Trotz aller negativen Seiten des Landkaufs, muss versucht werden die richtigen Steuerungsinstrumente zur
Verfügung zu stellen, um die positiven Effekte der Investitionen in Land zu nutzen. Uns muss es auf internationaler Ebene gelingen, die Mitspracherechte und Beteiligungen der betroffenen Bevölkerung rechtlich so
auszugestalten, dass vor allem die lokalen Produzenten
von der Zusammenarbeit profitieren. Lösungsansätze
die in diese Richtung gehen, gilt es weiterzuentwickeln.
Land ist eine immer knapper werdende Ressource
und steht im Wettstreit verschiedener Nutzungsinteressen. Anhaltendes Bevölkerungswachstum, Klimawandel
und die damit einhergehende Probleme wie fortschreitende Flächenversiegelung, Erosions- und Desertifikationsprozesse und Urbanisierung erhöhen den Druck auf
die Ressource Land. Gleichzeitig verstärkt sich die Konkurrenz um begrenzt verfügbare landwirtschaftliche
Nutzflächen durch steigende Nachfrage nach Nahrungsund Futtermitteln sowie Biomasse. Vor diesem Hintergrund hat sich ein Trend beschleunigt, der in internationalen Schlagzeilen auch als Landnahme oder Landgrabbing bezeichnet wird: Staatliche Akteure, private
Investoren aus Industrie- und Schwellenländern sowie
inländische private Investoren sichern sich mittels langfristiger Pacht- oder Kaufverträge große Agrarflächen
in Entwicklungsländern, um dort Nahrungsmittel oder
Energiepflanzen für den Export anzubauen.
Land wird außerdem zunehmend zu einem Spekulationsobjekt für Anleger. Das führt zu hohen Schwankungen auf dem Lebensmittelmarkt und trifft vor allem die
Armen, die den allergrößten Teil ihres Einkommens für
Nahrung ausgeben müssen. Allerdings haben dringend
benötigte Investitionen in die Landwirtschaft der Entwicklungsländer jahrzehntelang gefehlt. Daher kann
man die derzeitige Dynamik grundsätzlich als große
Chance begreifen. Kapital- und Technologietransfer
unterstützen die landwirtschaftliche Produktionssteigerung sowie Verbesserungen bei Marktzugang und Infrastruktur. Werden Direktinvestitionen in Land und
Landwirtschaft in Strategien der Armutsreduzierung
eingebunden, können zusätzliche Beschäftigungs- und
Einkommensmöglichkeiten für die Bevölkerung geschaffen werden.
Leider sieht die Realität jedoch anders aus und die
derzeitige Praxis der Investitionstätigkeiten in den Entwicklungsländer birgt eine Reihe von Risiken, etwa eine
Gefährdung der langfristigen Ernährungssouveränität,
die Vertreibung lokaler Bevölkerungsgruppen, die Verschärfung bestehender Landkonflikte, die Rodung von
Waldbeständen zur Ausdehnung von Anbauflächen oder
die negativen Auswirkungen von Monokulturen in Großplantagen.
Was muss sich nun tun, damit wir das ändern können,
damit wir die sich bietenden Chancen nutzen und gleichzeitig die Risiken beherrschen können? Einer der wichtigsten Aspekte ist dabei die gerechte Teilhabe und Partizipation der lokalen Bevölkerung an der gesamten
Wertschöpfungskette. Das muss durchgesetzt werden.
Wir müssen außerdem darauf hinwirken, dass international transparente Vertragsverhandlungen die Regel
werden, bei der alle Interessenvertreter unter Beachtung
der bestehenden - auch non-formalen traditionellen Landnutzungsrechte vertreten sind. Die ökologische
Nachhaltigkeit muss Beachtung finden, und der Vorrang
der lokalen Ernährungssicherheit vor jeder anderen
Verwendung darf nicht in Zweifel gezogen werden.
Der sichere Zugang zu Land in ländlichen Gebieten
in Entwicklungsländern ist eine Grundvoraussetzung
zur Erreichung der Milleniumsziele. Denn nur wenn der
Zugang zu Land gesichert ist, können Familien in ländlichen Gebieten die Produktivität auf der zur Verfügung
stehenden Fläche steigern und so ihr Einkommen erhöhen. Ein höheres Einkommen trägt zur Verbesserung der
Ernährungssicherheit bei und reduziert Armut.
Zu Protokoll gegebene Reden
Frauen in Entwicklungsländern besitzen trotz ihrer
bedeutenden Rolle in der Landwirtschaft und für die
Versorgung der Familien weniger als 2 Prozent der
Landfläche. Sicherer Zugang zu Land verbessert nicht
nur ihre ökonomische Situation, sondern stärkt auch
ihre soziale und politische Stellung in der Gesellschaft.
Ich könnte mir vorstellen, dass gerade die Kreditvergabe
zum Landkauf an Frauen eine gute Strategie in diesem
Zusammenhang ist.
Wir müssen entwicklungspolitische Ansätze entwickeln, um negativen Auswirkungen zu begegnen und um
die Direktinvestitionen in Land nachhaltig zu nutzen.
Wir werden jedoch nicht wie Sie vorhaben, eine Hexenjagd auf Unternehmen zu veranstalten, die im Ausland
investieren wollen.
Menschrechtsverletzungen, die Vertreibungen von
Menschen aus ihrer Heimat, aus ihren Häusern und von
ihren Feldern ist nicht hinnehmbar. Ich persönlich habe
erst vor einigen Wochen mit einem Betroffenen aus Kambodscha gesprochen, dem Gleiches wiederfahren ist.
Die Aussage dieses Mannes hat mich persönlich sehr
berührt und mir das Problem noch einmal ausdrücklich
vor Augen geführt.
Wir wollen, dass deutsche Firmen im Süden investieren, dort Aufbauhilfe leisten und ihr Know-how in die
Länder transferieren. Es gibt unzählige Beispiele die belegen, dass das funktionieren kann. Auch in den ärmsten
Ländern unserer Welt. Daher werden wir den Dialog mit
Partnerregierungen, Investorenländern, Banken/Fonds
und Firmen intensivieren. Wir werden die Zivilgesellschaft in ihrer Kontrollfunktion und Beteiligung bei Aushandlungsprozessen zu Vertragsvereinbarungen stärken
und eine belastbare Informationsgrundlage und Transparenz über Umfang, Konditionen und Wirkungen ausländischer Direktinvestitionen in Land in den beteiligten
und betroffenen Ländern schaffen. Wir werden die nationalen Landpolitiken und die entsprechende Gesetzgebung inklusive des Aufbaus von Institutionen stärken
und unterstützen.
Man kann Länder nicht von außen entwickeln; sie
müssen sich mit unserer Unterstützung nachhaltig aus
sich heraus entwickeln. Legen wir unseren Firmen
Steine bei Investitionen im Süden in den Weg, kommen
andere, autoritäre Regime mit mehr Geld, die im Gegensatz zur Bundesregierung die Einhaltung der Menschenrechte nicht in den Vordergrund stellen.
Das BMZ unterstützt maßgeblich die FAO-Initiative
zur Erarbeitung der „Voluntary Guidelines on Responsible Governance of Tenure of Land and other Natural
Resources“. Diese freiwilligen Leitlinien sollen Staaten
darin unterstützen, Zugangs- und Nutzungsrechte zu
Land und anderen natürlichen Ressourcen nachhaltig zu
gestalten, entsprechende institutionelle Strukturen aufzubauen und damit auch die Korruption im Landsektor
einzudämmen.
Mit der Verabschiedung dieser Initiative ist nach einer intensiven Konsultation mit den Mitgliedstaaten, der
Wirtschaft und der Zivilgesellschaft im dritten Quartal
2011 zu rechnen. Des Weiteren bietet die Initiative
„Principles for Responsible Agricultural Investment
that Respects Rights, Livelihoods and Resources“ der
Weltbank, UNCTAD, IFAD und der FAO eine Orientierung für Investoren für sozialverantwortliche Investitionen. Die Bundesregierung hat die Entwürfe der Initiative ressortübergreifend abgestimmt kommentiert und ist
in den Prozess der weiteren Entwicklung eng mit eingebunden. Dabei verfolgt sie vor allem das Ziel einer engen Abstimmung und Zusammenarbeit mit anderen Initiativen, beispielsweise mit den freiwilligen Leitlinien
der FAO.
Die Bundesregierung unterstützt in rund 30 Partnerländern in Afrika, Asien, Lateinamerika und Südosteuropa ein breites Spektrum von Maßnahmen zum
verbesserten Landmanagement und beugt damit möglichen negativen Auswirkungen großflächiger Landkäufe
und -pachten vor. Ein vorbildliches Beispiel stellen die
Maßnahmen in Laos dar: Dort wurden im letzten Jahrzehnt Tausende Quadratkilometer Land an Investoren
vergeben, häufig zu unklaren Konditionen und mit negativen Auswirkungen auf Umwelt und die lokale Bevölkerung. Ausmaß und exakte geografische Position der
Konzessionen wurden dabei kaum dokumentiert. Die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit unterstützt seit
Mitte 2008 die laotische Landbehörde bei der Erstellung
einer umfassenden Bestandsaufnahme von bestehenden
Investitionen in Land und beim Kartografieren aller
Konzessionen und größeren Landverpachtungen. Die
Schaffung von Transparenz ist eine entscheidende
Grundlage dafür, Risiken und Chancen von Landakquisition besser einschätzen zu können.
Die Politik, die Unternehmen und die Menschen und
Regierungen in den betroffenen Ländern müssen gemeinsam mit unserer Unterstützung den Gedanken einer
gerechten Landverteilung mittragen!
Die Auswirkungen von Land Grabbing oder zu
Deutsch „Landnahme“ in den Ländern des globalen Südens sind gravierend: Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, Fischer und Nomaden werden durch die Landkäufe
ausländischer Unternehmen und Staaten teilweise gewaltsam von ihrem Land vertrieben. Ihre Landrechte
sind oft ungesichert, und ihr politisches Gewicht ist verglichen mit den Investoren gering.
Angesichts der über 900 Millionen hungernden Menschen weltweit ist das Land Grabbing eines der derzeit
drängendsten Probleme der Entwicklungsländer. Alleine
in Afrika wurden laut dem International Food Policy Research Institute bereits 20 Millionen Hektar Land entweder verkauft oder für einen Zeitraum von 30 bis 100 Jahren verpachtet. Die ausländischen Käufer nutzen die
erworbenen Flächen, um Pflanzen für Biokraftstoffe anzubauen, um mit dem „Offshore Farmland“ die Lebensmittelversorgung ihrer Heimatländer sicherzustellen
oder schlicht um damit zu spekulieren. Statt die Ernährungssituation im Erzeugerland zu verbessern, wird in
großflächigen Monokulturen für den Export produziert.
Die fatalen Konsequenzen für die lokale Bevölkerung
sind Armut, Elend und Hunger. Davon konnte ich mir bei
Zu Protokoll gegebene Reden
einem Besuch in Madagaskar Anfang November selbst
ein Bild machen. In Madagaskar trat 2008 ein Gesetz in
Kraft, welches es ausländischen Investoren erstmals erlaubt, auch riesige Landflächen für bis zu 99 Jahre zu
pachten. Obwohl der Inselstaat heute schon in großem
Umfang Nahrungsmittel importieren muss, hat sich die
südkoreanische Firma Daewoo die Rechte an 1,3 Millionen Hektar Land gesichert. Dies entspricht rund der
Hälfte der fruchtbaren Agrarfläche Madagaskars. Die
allgemeine Entwicklung zeigt die Absurdität dieses Falles: Die Ausgaben der afrikanischen Länder für Getreideimporte sind seit 2008 insgesamt um ganze
130 Prozent gestiegen. Daewoo will in Madagaskar
ausschließlich für den südkoreanischen Markt produzieren, obwohl es vor Ort massive Unterernährung gibt.
Sollte dieser Deal tatsächlich in die Tat umgesetzt werden - derzeit liegt er auf Eis -, werden noch mehr Menschen dort hungern müssen. Das ist Kolonialismus im
neuen Gewand: mittels Kauf- und Pachtverträgen und
wie immer auf Kosten der Armen.
Die Liberalisierung der Landmärkte und die Abschaffung von Restriktionen für ausländische Investoren
sind wichtige Grundlagen vieler ähnlicher Land-Grabbing-Deals. Die internationale Entwicklungszusammenarbeit hat nicht zuletzt selbst die Weichen für diese katastrophalen Entwicklungen gestellt. Auch die deutsche
Entwicklungszusammenarbeit fördert durch ihre einseitige Ausrichtung der Landpolitik auf technische und administrative Themen die beschriebenen Tendenzen. Ein
Beispiel dafür ist das Engagement der deutschen Durchführungsorganisation GTZ in Kambodscha. Dort unterstützt die GTZ zwar die Vergabe von Landtiteln. Besteht
aber Interesse an einem bestimmten Gebiet seitens zahlungskräftiger Investoren oder lokaler Eliten, werden
häufig gar keine Landtitel vergeben. Weder GTZ noch
BMZ widersprechen dieser Praxis, obwohl die lokale
Bevölkerung genau in diesen Fällen besonders von Vertreibungen bedroht ist.
Bereits 1968 hat sich Deutschland durch die Unterzeichnung des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte dazu verpflichtet, das Menschenrecht auf Nahrung durch
nationale und internationale Zusammenarbeit durchzusetzen. Dies bedeutet besonders, vorhandenen Zugang
zu Land und Wasser zu schützen, aktiv zur Verbesserung
des Zugangs zu Land für Kleinbäuerinnen und Kleinbauern und Landlose beizutragen und traditionelle
Landnutzungen zu respektieren. Das aktuelle Land
Grabbing und die ihm zugrunde liegende Landpolitik
aber verschärft die Konflikte um Land und führt zu einer
weiteren Konzentration von Land in den Händen einiger
weniger.
Die G 8 haben sich beim Gipfel in Hokkaido 2008 für
internationale Verhaltensregeln zusammen mit der Weltbank stark gemacht. Doch freiwillige Verhaltenskodizes
stellen keine Lösung dar. Zum einen haben sie in der
Vergangenheit in den seltensten Fällen Menschenrechtsverletzungen verhindert, zum anderen stellen sie die
Entwicklung nicht grundsätzlich in Frage. Der Erstellung freiwilliger Verhaltenskodizes steht die Aufstockung der Gelder für das Agrobusiness von 3 Milliarden
US-Dollar auf 4 Milliarden US-Dollar durch die Weltbank gegenüber. Ein grundlegendes Umsteuern in Richtung einer nachhaltigen, kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die von Hunger betroffene Gruppen ins Zentrum
stellt, ist damit in weite Ferne gerückt.
Damit Deutschland seiner Verantwortung für die Erreichung des Ziels der Ernährungssouveränität zukünftig gerecht wird, fordert die Fraktion Die Linke in ihrem
Antrag ein Verbot von großflächiger Landnahme und
Spekulationen mit Land oder Agrarproduktion in den
Ländern des Südens. Denn auch deutsche Unternehmen
wie die Deutsche Bank mischen munter beim Land
Grabbing mit. Angesichts der Finanzkrise suchen sie
nach neuen Finanzprodukten und haben erkannt, dass
neben Erdöl auch Agrarland und Wasser knappe Ressourcen sind. Investitionen in die Landwirtschaft gewinnen für sie zunehmend an Lukrativität. Nach dem „peak
oil“, dem Gipfel der Ausbeutung von Öl, droht inzwischen auch der „peak soil“, die grenzenlose Ausbeutung
des Bodens. Daher gilt: Nur wenn wir Auslandsdirektinvestitionen internationaler und deutscher Unternehmen
und Finanzinstitutionen in großflächigen Landkauf oder
Landpacht unterbinden, hat das Menschenrecht auf
Nahrung zukünftig Vorrang vor den Interessen von Investoren.
Angesichts fast einer Milliarde Hungernder steht es
für uns außer Frage, dass das Ziel der Ernährungssouveränität über den wirtschaftlichen Interessen von Unternehmen stehen muss. Landpolitik muss sich primär an
den Bedürfnissen der marginalisierten ländlichen Gruppen ausrichten. Großflächige Landnahmen konterkarieren dies und gefährden somit direkt Menschenleben.
Die grüne Bundestagsfraktion hat frühzeitig erkannt,
dass das Thema Land Grabbing eine Riesenherausforderung für viele Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika, aber natürlich auch für uns Entwicklungspolitiker
darstellt. Wir begrüßen, dass - nachdem wir in der letzten Legislaturperiode einen Antrag zu diesem Thema
eingebracht haben - nun auch die Linke einen Antrag
vorlegt und das Thema auf die Agenda des Bundestages
setzt.
Beim Land Grabbing geht es um eine der essenziellsten Ressourcen überhaupt, nämlich um die Ressource
Boden, von der unser aller Existenz abhängt. Und der
große Run auf die Böden hat längst begonnen - mit zum
Teil schweren ökologischen und sozialen Folgen. Die
Leidtragenden sind vor allem diejenigen, die schon jetzt
in höchst schwierigen Umständen leben. Indem sie
Ackerland unter ihre Kontrolle bringen, verschärfen
Großinvestoren die Machtasymmetrie zwischen bäuerlichen Betrieben und Agrarkonzernen. Viele Kleinbauern
und Kleinbäuerinnen sind in den letzten Jahren ihren
Boden losgeworden. Die kleinbäuerliche und bäuerliche
Landwirtschaft wird weiter geschwächt und damit die
Existenzgrundlage von Milliarden Menschen zerstört.
Ich möchte an dieser Stelle nur eine Zahl nennen, die
verdeutlicht, um welche Dimensionen es sich dabei handelt: Laut Weltbank gingen allein im Jahr 2009 circa
Zu Protokoll gegebene Reden
45 Millionen Hektar Land an private Investoren, also an
private Unternehmen. Das ist eine Fläche, die so groß
ist wie Deutschland und Österreich zusammen.
Vor drei Wochen hat die grüne Bundestagsfraktion
gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung hier in den
Räumen des Bundestages eine große zweitägige Konferenz mit dem Titel „BodenLos: Wem gehört das Land?
Wer hat Zugang? Wie schützen wir es vor Spekulanten?“
veranstaltet. Etwa 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmer
haben sich mit der Land-Grabbing-Problematik - übrigens nicht nur in den Entwicklungs- und Schwellenländern, sondern auch hier bei uns in Deutschland und Europa - näher auseinandergesetzt. Wir haben mit Experten wie Olivier De Schutter, Sonderberichterstatter
für das Menschenrecht auf Nahrung bei den Vereinten
Nationen, und Alexander Müller, Vizedirektor der Welternährungsorganisation, der FAO, sowie mit Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft und der Bundesregierung diskutiert, welche Maßnahmen notwendig
sind, um das Problem in den Griff zu bekommen. Sie sind
herzlich eingeladen, die Ergebnisse in unserer ausführlichen Internetdokumentation nachzulesen.
Im Parlament haben wir das Thema Land Grabbing
bereits in der vergangenen Legislaturperiode mit unserem grünen Antrag „Landrechte stärken - Land Grabbing in den Entwicklungsländern verhindern“ auf die
Tagesordnung gesetzt. Der Antrag wurde am 13. Mai
2009 im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung beraten - übrigens bei Abwesenheit
der Linken - und von der damaligen Großen Koalition
mit der Begründung abgelehnt, dass beim Thema Land
Grabbing für die „deutsche Entwicklungszusammenarbeit nur die Option bleibe, darauf zu vertrauen, dass alle
Maßnahmen, die in Richtung gute Regierungsführung
unternommen würden, erfolgreich sein werden“. Das
reicht sicherlich nicht aus, um diese gefährliche Entwicklung in den Griff zu bekommen. Die schwarz-gelbe
Koalition scheint die Thematik immerhin etwas ernster
zu nehmen, vonseiten der Bundesregierung wurde den
Mitgliedern des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zugesichert, dass Land
Grabbing in das neue BMZ-Konzept zur Entwicklung
der ländlichen Räume, das zurzeit vom BMZ finalisiert
wird, noch aufgenommen wird.
Wir haben in unserem Antrag klare Forderungen gestellt, die immer noch hochaktuell sind und sich zum Teil
auch in dem jetzigen Antrag der Linken wiederfinden.
Hierzu zählt beispielsweise die Aufforderung an die
Bundesregierung, den Prozess und die Ausarbeitung der
„Voluntary Guidelines on Responsible Governance of
Tenure of Land and other Natural Resources“ der FAO
aktiv zu unterstützen. Dazu gehört auch die Aufforderung an die Bundesregierung, im Rahmen von bi- und
multilateralen Verhandlungen mit betroffenen Partnerländern Land Grabbing zu thematisieren und mit den
Regierungen dieser Partnerländer auf die Ausarbeitung
umfassender Bodenpolitiken und Landnutzungspläne
sowie redistributive Agrarreformen hinzuarbeiten. Auch
stimmen wir mit der Linken darüber überein, dass öffentliche und private Investitionen, die mit deutscher Beteiligung in Entwicklungsländern getätigt werden, im
Einklang mit den relevanten Menschenrechtsprinzipien
und -instrumenten stehen müssen.
Wir begrüßen, dass die Linken in ihrem Antrag ausführlich auf das in der Praxis oft bestehende Missverhältnis zwischen den Interessen der Investoren einerseits
und der Durchsetzung des Menschenrechts auf Nahrung
andererseits eingehen. Interessant und prüfenswert finden wir auch den Vorschlag der Linken, eine Kommission einzusetzen, die ein alternatives deutsches Modell
für Investitionsabkommen ausarbeiten soll; auch verdient der Ansatz Unterstützung, langfristig ein internationales Investitionsregime für zukunftsfähige Entwicklung im Rahmen der Vereinten Nationen aufzubauen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3541 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothea Steiner, Cornelia Behm, Ulrike Höfken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Blockade beim Bodenschutz aufgeben - EU
Bodenschutzrahmenrichtlinien voranbringen
- Drucksache 17/3855 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Der Boden ist eine für die Menschheit lebenswichtige
Ressource mit unverzichtbaren Funktionen als Nährstofflieferant in der Land- und Forstwirtschaft, als Lebensraum unzähliger Organismen, als Wasserspeicher
und, was uns immer mehr ins Bewusstsein rückt, als
größter CO2-Speicher der Erde. In Erkenntnis dieser
Bedeutung des Bodens hat sich die Bundesregierung
früh entschlossen, den Boden als Schutzgut anzuerkennen, und es ist richtig, wenn in dem heute zu beratenden
Antrag festgestellt wird, dass wir in der Bundesrepublik
mit dem deutschen Bodenschutzrecht Vorreiter in Europa sind. In der Kleinen Anfrage von Bündnis 90/Die
Grünen zu Zielen und Maßnahmen des Bodenschutzes
wird auch richtig zitiert, dass die Regierung Kohl bereits
die Initiative ergriffen hat, das Bodenschutzrecht in einem europäischen Rahmen zu verankern. Daraus entwickelte sich eine thematische Strategie für den Bodenschutz, die wiederum die Grundlage für erste Entwürfe
für eine Bodenschutzrahmenrichtlinie bildete.
Ja, Boden bedarf tatsächlich eines besonderen Schutzes. Erosion, Austrocknung, Kontamination und Flächennutzung sind oftmals oder nur mit großem Aufwand
behebbare Schädigungen, die die ökologischen, wirtschaftlichen, sozialen, wissenschaftlichen und kulturellen
Funktionen des Bodens einschränken. Am sichtbarsten ist
natürlich der Bodenverbrauch durch die zunehmende
Flächennutzung für Siedlungs- und Verkehrsflächen.
Noch in den Jahren um 2000 wurden jeden Tag mehr als
120 Hektar am Tag in Siedlungs- und Verkehrsflächen
umgewandelt, in Flächen, die insbesondere der Landund Forstwirtschaft entzogen wurden. Seit 2006 ist dieser Flächenverbrauch deutlich im Sinken begriffen. Im
Jahr 2009 waren es noch ganze 78 Hektar, die pro Tag
dem Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsflächen zum
Opfer fielen, wobei Siedlungs- und Verkehrsflächen keinesfalls mit versiegelten Flächen gleichgesetzt werden
dürfen. Ein erheblicher Anteil davon sind die unbebauten und nicht versiegelten Flächen, wie Grünflächen
und Sportflächen, die unter dem Begriff der Erholungsflächen zusammengefasst werden. Im Jahr 2008 machten diese Erholungsflächen 43 Prozent des Flächenverbrauchs aus. Hochgerechnet auf dieses Jahr wären wir
2009, bei Herausrechnung dieser oftmals ökologisch
wertvollen Flächen aus den 78 Hektar Flächenverbrauch, unserem Ziel, den Flächenverbrauch bis zum
Jahr 2020 auf 30 Hektar am Tag zu reduzieren, ein wesentliches Stück näher gekommen.
Gerade mit der Erreichung dieses Zieles könnte
Deutschland weiterhin seine Vorreiterposition im Bodenschutz untermauern. Wir brauchen keine Sorge zu
haben, beim Vergleich des Bodenschutzes in den europäischen Ländern in Zukunft schlechter abzuschneiden.
Alle Schwarzmalerei ist gerade auf diesem Gebiet fehl
am Platze. Die Bundesrepublik hat also überhaupt keinen Grund, eine europäische Regelung, die sich nach
dem nachgewiesenermaßen effektiven deutschen Bodenschutzrecht ausrichtet, zu fürchten, sondern die deutsche
Wirtschaft wäre durchaus Nutznießer, wenn endlich alle
nach gleich strengen deutschen Maßstäben wirtschaften
müssten. Doch ein Blick in den Entwurf der Bodenschutzrahmenrichtlinie, die vom EU-Parlament verabschiedet wurde, reicht, um die Vorurteile und Sorgen vieler unserer Bürger vor Regelungen aus Brüssel bestätigt
zu sehen: Neue, andersartige Berichtspflichten, neue,
andersartige Grundsätze und Kontrollen sowie Definitionen und Regelungen, die mit anderen Richtlinien
nicht oder nur ungenügend kompatibel sind, finden sich
hier wieder.
Es ist schon bedenklich, wenn für die Umsetzung der
Richtlinie eine zusätzliche jährliche Kostenbelastung für
Bund, Länder und Kommunen in der Größenordnung eines dreistelligen Millionenbetrages prognostiziert wird.
Unsere Bundesländer haben funktionierende Bodenbeobachtungssysteme. So werden zum Beispiel in Sachsen-Anhalt an 70 Dauerbeobachtungsstellen durch vier
Behörden zyklische Untersuchungen zur Erfassung umfangreicher Daten durchgeführt. Diesen Datenpool
durch Veränderungen in der Erfassung wertlos zu machen, wäre genauso sinnlos wie dessen deutliche Ausweitung.
Wenn einige südeuropäische Länder mit großen Bodendegradationsproblemen es sich nicht zutrauen, in ihren Ländern eigenständige Bodenschutzregelungen zu
beschließen, und die EU als Sündenbock für kostenintensive Umweltmaßnahmen aufbauen wollen, finde ich
das unredlich. Selbstverständlich kann es auch nicht
sein, dass europäische Staaten ihre Verantwortung für
ihre Böden bei der EU abgeben und erwarten, dass eine
Sanierung von Altlasten auf Kosten der Gemeinschaft
durchgeführt wird. So etwas könnte den Umwelt- und
Agrarhaushalt weiter aufblähen. Hier ist Subsidiarität
gefragt.
Es stellt sich bei all den Regelungen der Richtlinie
schon die Frage, ob sich die damalige Bundesregierung
nach 1998, in einer Zeit, in der die thematische Strategie
und damit die Grundlage der Richtlinie entwickelt
wurde, genügend für die Orientierung am erfolgreichen
und bahnbrechenden deutschen Bodenrecht eingesetzt
hat? Wenn ja, wie konnte dann eine so vom deutschen
Vorbild abweichende und an vielen Stellen deutlich darüber hinausgehende Regelung entstehen? Hat es da
eventuell Versuche gegeben, grüne Wunschträume in
Deutschland über Brüssel zu verwirklichen?
Dass die Richtlinie dann auch nur sehr strittig vom
EU-Parlament verabschiedet wurde und in der Kommission keine ausreichende Mehrheit fand, war nach den
vorhergehenden Diskussionen kaum verwunderlich,
auch wenn ich das persönlich bedauert habe. Aber die
Kritik war nur allzu verständlich. Fehlende Subsidiarität, zu weit gehende Einzelregelungen, in denen die Unterschiede in den Boden- und Klimaverhältnissen in den
Mitgliedstaaten nicht berücksichtigt werden, fehlende
Abstimmung mit bestehenden Regelungen auf dem Gebiet der Landwirtschaft und des Wasserrechtes bei vorhandenen Überschneidungen waren die wichtigsten Kritikpunkte. So war die Befürchtung, dass die zehn
unterschiedlichen Bodengefährdungen, zum Beispiel bei
der Flächenkontamination, einer zusätzlichen Bürokratie Tür und Tor öffnen, nicht von der Hand zu weisen.
In der Zwischenzeit hat es einen portugiesischen, einen tschechischen und einen französischen Kompromissvorschlag gegeben. All diese Vorschläge liegen noch auf
dem Verhandlungstisch der Kommission. Andere Länder
würden es bevorzugen, wenn nur die thematische Strategie zum Bodenschutz weiterentwickelt würde. Wer einen
Eindruck von den verstrickten Verhandlungen benötigt,
dem empfehle ich, einmal das Protokoll der Ratsarbeitsgruppe Umwelt vom 21. Januar 2010, aus dem jedem die
Uneinigkeit direkt anspringt, nachzulesen. Auch die
Kommissionskonferenz zu diesem Thema am 23./24. September in diesem Jahr hat keine mir ersichtlichen Fortschritte gebracht. Die Behauptung, Deutschland spiele
bei diesem Thema den Bremser, ist nach diesen Protokollen aus der Luft gegriffen. Eine strikte Orientierung an
dem fortschrittlichsten Bodenrecht in der EU, dem deutschen, wie es die Grünen in ihrem Antrag selbst formulieren, und vernünftige subsidiäre Regelungen könnte
eine positive Wendung bringen; doch dazu ist die Zeit in
Brüssel scheinbar noch nicht reif genug.
Die unterschwellige Forderung des Antrages nach einer deutschen Führung in den Verhandlungen ist zurückzuweisen, da damit die Verhandlungen eher verkompliziert würden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das deutsche Bodenschutzrecht ist im europäischen
Vergleich der Vorreiter im aktiven Schutz des Bodens
und der darin befindlichen Ressourcen. Unternehmen
und Betriebe, Landwirte und Privatleute und alle anderen, die mit dem Boden zu tun haben, müssen die strengen Vorgaben achten. Dazu gehört auch, dass es umfangreiche Dokumentations- und Kartierungspflichten
gibt, die ein hohes Maß an Bürokratie und Verwaltung
erfordern und sehr schnell zu übertriebenen Sanktionierungen führen.
Wir haben hier im Parlament schon vor drei Jahren
heftig um den Punkt einer europäischen Bodenschutzrahmenrichtlinie diskutiert, und wir haben die damaligen Pläne der Europäischen Kommission abgelehnt. Die
damals genutzten Argumente haben weiterhin ihre Gültigkeit. Aus meiner Sicht besteht keine Notwendigkeit für
eine über die europäische Bodenschutzstrategie hinausgehende detaillierte europäische Regelung. Anders als
bei Luft und Wasser gibt es innerhalb der EU beim Boden eine sehr große Vielfalt, beispielsweise hinsichtlich
der Bodenarten, Bodenverhältnisse und der Lage und
Bewirtschaftung der Böden. Man sieht folglich, dass die
Probleme auf dem Gebiet des Bodenschutzes vor allem
durch regionale geografische und geologische Besonderheiten bedingt sind. Ich möchte noch einmal betonen,
dass mehr als 300 verschiedene Bodenarten europaweit
zu finden sind. Dies dokumentiert eindringlich, dass der
Schutz des Bodens primär eine nationale Aufgabe ist, da
vor Ort das Wissen über die regional unterschiedlichen
Strukturen existiert. Hier nun eine „europäische Schablone“ anzulegen, halte ich für sehr ineffizient und auch
nicht für zielführend. Denn zentral von Brüssel organisierte und gesteuerte Schutzsysteme bergen die große
Gefahr, entweder am Bedarf vorbeizugehen oder beliebig zu werden.
Ein zweiter sehr wichtiger Punkt ist - besonders für
den deutschen Staat und die Wirtschaft - die zu erwartende Kostenbelastung und zusätzliche Bürokratie, die
zwar in der Sache nichts bringen würde, aber ein weiterer Hemmschuh für den Wirtschaftsstandort darstellen
würde. Wir alle wissen, dass schon zahlreiche Vorschriften auf europäischer Ebene existieren, die besonders für
die Landwirtschaft schon längst ins deutsche Recht eingearbeitet sind und Wirkung erzielen.
An dieser Stelle möchte ich deshalb das Thema Landwirtschaft und Bodenschutz besonders betonen. Die bereits vorhandenen Regelungen zur guten fachlichen Praxis
im Bodenschutzrecht, des landwirtschaftlichen Fachrechts sowie von „Cross Compliance“ stellten einen
nachhaltigen Schutz landwirtschaftlicher Böden sicher.
Dies ist auch von der Landwirtschaft so gewollt, denn
die Landwirtschaft hat ein ureigenes Interesse am Erhalt
und der Steigerung der Bodenfruchtbarkeit.
Das Bundesbodenschutzgesetz ist international vorbildlich. Nach wie vor ist allerdings das größte Problem
des Bodenschutzes, dass ein unverändert hoher Flächenverbrauch durch Siedlungs- und Verkehrsmaßnahmen stattfindet. Hier hätten wir im vergangenen Jahr bei
der Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes wirklich etwas erreichen können, indem wir Ackerland im Gesetz
besonders unter Schutz gestellt und damit mit Grünland
und dem Wald gleichgestellt hätten. Darüber hinaus hätten wir durch verbesserte Eingriffs- und Ausgleichsregelungen effektiv Bodenschutz betreiben können. Aber da
ist ja mit den Grünen nicht zu reden. Da wird - wie zum
Beispiel beim Artenschutz - eher gesetzlich eine weitere
Verschärfung, die über EU-Vorgaben hinausgeht, gefordert, anstatt einer Flexibilisierung zuzustimmen. Das
wäre praktizierter Bodenschutz gewesen, anstatt sich
jetzt mit Anträgen dafür einzusetzen, europäische Gesetzesvorschläge aus der „Mottenkiste“ zu holen.
Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass
ich es grundsätzlich unterstütze, wenn man sich in Brüssel für einen europaweiten Bodenschutz einsetzt und dies
besonders in den Nationalstaaten tut, die ein nicht annähernd so ausgeprägtes Bodenschutzregime haben wie
wir in Deutschland. Mittel zum Zweck muss dann aber
eine europäische Bodenschutzstrategie und darf keine
Rahmenrichtlinie sein. Ich lehne es kategorisch ab, ordnungspolitische Instrumente anzuwenden, die substanziell keine Verbesserung der aktuellen Situation bei uns
bedeuten würden. Wir haben einen nationalen Rechtsrahmen, der ein sehr hohes Schutzniveau garantiert.
Daran können sich andere Nationen gerne orientieren
und unsere Vorschriften und Gesetze adaptieren. Daher
lehnen wir den vorgelegten Antrag ab.
In Deutschland ist der Grund und Boden, auf dem wir
leben und arbeiten, ja vielfach auch mythisch verklärt.
In manchen Abschnitten unserer Geschichte wurde dieser Mythos von den falschen politischen Kräften missbraucht. Das sollte uns aber nicht daran hindern, das
grundsätzlich positive Verhältnis der Deutschen zum Boden für seinen Schutz zu nutzen. Ich bin sicher, eine
große Mehrheit erkennt die Notwendigkeit eines konsequenten Bodenschutzes nicht nur an, sie unterstützt den
Bodenschutz auch.
Es ist ja auch eine Menge Bedenkliches, was wir dem
Boden antun: Erosion, Verringerung der organischen
Substanz, Kontamination, Verdichtung, Reduzierung der
biologischen Vielfalt und Versiegelung. Die Bodenschutzrichtlinie geht diese Themen an. Deshalb ist sie
grundsätzlich richtig. Sie tut es allerdings auf eine äußerst bürokratische Weise. Da wird beispielsweise gefordert, eine Liste mit Tätigkeiten anzufertigen, die Bodenverschmutzungspotenzial aufweisen können. Man kann
natürlich endlose Aufstellungen dieser Art produzieren,
aber ein Zusatznutzen ergibt sich daraus nicht. Gelegentlich läuft die Richtlinie auch dem Subsidiaritätsprinzip zuwider. Aus diesen Gründen haben frühere Regierungen sich nicht in der Lage gesehen, ihr zuzustimmen.
Das allerdings darf zweifellos kein Dauerzustand
bleiben - auch deshalb nicht, weil Deutschland beim
Bodenschutz durch das Bundes-Bodenschutzgesetz im
Vergleich zu vielen europäischen Nachbarn schon recht
weit ist. Viele Länder haben noch gar kein eigenständiges Bodenschutzrecht. Entsprechend unterschiedlich
Zu Protokoll gegebene Reden
sind die Erfolge auf dem Weg zu einer nachhaltigen Bodennutzung. Es muss ja, auch aus Wettbewerbsgründen,
unser Interesse sein, dass überall in Europa ähnlich
hohe Schutzstandards gelten wie bei uns. Abgesehen
vom Wettbewerb gibt es auch aus umweltpolitischen
Gründen ein Erfordernis der Einigung. Denn die Schädigung der Böden außerhalb unserer Grenzen betrifft
uns angesichts der Tatsache, dass Böden beispielsweise
Kohlenstoff binden oder den Wasserhaushalt aufrechterhalten. Das sind alles keine Probleme, die an Ländergrenzen halt machen. Ein europäischer Rechtsrahmen
für den Bodenschutz ist deshalb notwendig.
Es geht hier also nicht um das Ob, sondern um das
Wie. Dabei müssen wir auch berücksichtigen, dass der
Bundesrat schon früher deutliche Kritik an der Richtlinie geäußert hat. Ich teile diese Kritik inhaltlich nicht,
aber wir müssen mit den Ländern in einen neuen Dialog
dazu kommen. Wir dürfen das Thema nicht liegenlassen,
sondern müssen an der Richtlinie arbeiten. Wir müssen
die Subsidiarität stärken und die bürokratischen Auswüchse der Vorlage zurückschneiden. Selbstverständlich sind alle Regelungen, die über das deutsche Recht
hinausgehen, zu prüfen. Aber das alles ist machbar. Es
gibt keinen Grund, die Richtlinie in Bausch und Bogen
abzulehnen.
Deshalb muss auch die Bundesregierung wegkommen
von der plumpen Ablehnung der Richtlinie und sich
stattdessen beim Feintuning der Richtlinie einbringen.
Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Bundeskanzlerin aufhört, auf dem Bauerntag, so wie sie es 2009 getan hat, aus durchsichtigen politischen Gründen gegen
die Richtlinie zu polemisieren. Da erwarte ich mir mehr
Konstruktives und weniger Klientelpolitik.
Die Schaffung eines europäischen Ordnungsrahmens
für den Bodenschutz wird seit längerem kontrovers diskutiert. Einen ersten Richtlinienentwurf gab es bereits
2006. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte sich in der
letzten Legislaturperiode dafür ausgesprochen, die EUBodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitzugestalten. Trotz
fraktionsübergreifender Arbeitsgruppe ist es damals leider nicht zu einem interfraktionellen Antrag gekommen.
Den Antrag der FDP-Bundestagsfraktion auf Bundestagsdrucksache 16/4736 mit dem Titel „Bodenschutzrahmenrichtlinie aktiv mitgestalten - Subsidiarität sichern, Verhältnismäßigkeit wahren“ hatten dann alle
anderen Fraktionen - auch die der Grünen - im Plenum
des Deutschen Bundestages abgelehnt. Damit hatte sich
Deutschland letztlich nicht inhaltlich gegenüber der
EU-Kommission zum Richtlinienvorschlag geäußert.
Auch wenn es bisher keine weiteren Vorstöße von EUSeite gab, sollten wir uns in dieser Wahlperiode eine
neue Meinung auf Grundlage der aktuellen Fakten bilden.
Deutschland selbst ist bereits sehr vorbildlich, was
den Bodenschutz betrifft. Andere Länder haben noch
Nachholbedarf. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass man eine EU-weite Initiative braucht. Dafür
spricht, dass sich die negativen Effekte der Überbelastung der Ressource Boden grenzüberschreitend auswirken können und ein EU-einheitliches Vorgehen im Interesse jedes Mitgliedstaates liegt. Eine europäische
Richtlinie eröffnet grundsätzlich die Möglichkeit, den
Standard des Bodenschutzes europaweit anzuheben und
die Bodenschutzpolitik in manch anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union so zu verbessern.
Aber warum soll sich Deutschland einem neuen Bürokratiemonster aus Brüssel aussetzen? Deutschland
selbst hat schon strenge Standards - Cross Compliance
und die Regelung der „guten fachlichen Praxis“ sind
nur zwei Beispiele. Der Antrag der Grünen fordert diese
hohen deutschen Standards als EU-Mindestnorm, außerdem verbindliche Zielvorgaben und Bodenschutzstandards für alle Mitgliedstaaten. Die Frage ist aber,
ob die deutschen Standards auf andere Länder angewandt werden dürfen. Deutschland ist ein wohlhabender
Industriestaat. Ob und inwieweit solche Standards übertragbar sind, ist fraglich. Für andere Länder können die
für Deutschland passenden Standards unter Umständen
gar nicht sinnvoll oder zu teuer sein.
Wenn es eine europäische Bodenschutzrichtlinie geben soll, dann bitte nur eine Rahmenregelung. Sie darf
für unsere Kommunen aber keine Zusatzkosten verursachen. Denn die EU-Regelung - so wie sie mit dem bisherigen Richtlinienentwurf vorgeschlagen wird - ist nicht
zum Nulltarif zu haben: Ein Ende 2009 vorgelegtes Gutachten des BMELV zeigt, dass mit einer neuen EU-Bodenschutzrichtlinie erhebliche Kosten verbunden wären.
Die auf allen staatlichen Hierarchiestufen jährlich wiederkehrenden Kosten werden für unser Land auf
320 Millionen Euro geschätzt, von denen rund 270 Millionen Euro allein auf die Kommunen zukämen. Allein
diese Summen sollten uns vorsichtig werden lassen.
Viel wichtiger als immer mehr und immer strengere
EU-Regelungen zu erlassen, ist gerade im Umweltbereich, für eine bessere Umsetzung und Kontrolle bestehender EU-Regelungen in anderen Staaten einzutreten.
Sonst produzieren wir weiterhin reine Papiermonster,
die der Umwelt nichts nützen, aber die Kassen belasten.
Die Linke teilt das Anliegen des Antrags der Grünen,
den Bodenschutz politisch zu stärken. Boden ist eine der
wesentlichen, existenziellen Grundlagen der Menschheit. Das Eigentum an Boden und die Verfügbarkeit darüber war in allen menschlichen Gesellschaften eine der
sensibelsten Fragen. Wir dürfen nicht vergessen: Boden
ist, zumindest in den Industriestaaten, nicht vermehrbar.
Im globalen Süden gehen traditionelle, regional angepasste Nutzungs- und Bewässerungssysteme verloren,
Boden fällt in Kriegsgebieten oder wegen fehlender
technischer Ressourcen brach. Durch den Klimawandel
beginnt diese Situation, sich zu verschärfen. Es gibt dramatische Ausweitungstendenzen der Wüsten. Die „Ausbeute“ aus der Bodennutzung, die Ernte, ist zwar steigerbar, wie die Industriestaaten in den vergangenen
Jahrzehnten gezeigt haben, es stellt sich aber immer
drängender die Frage: zu welchem Preis?
Zu Protokoll gegebene Reden
Verglichen mit dieser zentralen Bedeutung des Bodens und der Problemlage gehen wir immer noch recht
sorglos mit dem Boden um. Das zu ändern, ist auch eine
Frage der Generationengerechtigkeit. Bodenschutz
muss ein elementarer Politikbereich sein. Es gibt also
gute Gründe, für eine Bodenschutzrahmenrichtlinie auf
EU-Ebene.
Dass in Deutschland, formal gesehen, auf diesem Gebiet schon viel erreicht wurde, ändert daran nichts.
Richtig ist, dass sich das deutsche Bodenschutzrecht im
internationalen Vergleich durchaus sehen lassen kann.
Unter den politischen Kriterien für Nachhaltigkeit hat
der Schutz der Böden einen besonderen Wert. Doch wie
sieht die Realität als konkretes Ergebnis der Bodenschutzpolitik aus? Es ist alles andere als eine heile Welt.
Auch in Deutschland sind wir weit davon entfernt, die
gesteckten Ziele im Bodenschutz zu erreichen.
Ich möchte aus der Vielzahl von Problemen ein sehr
zentrales Thema herausgreifen. Der Flächenverbrauch
für Siedlungs- und Straßenbau ist in Deutschland nach
wie vor skandalös hoch. Laut „Indikatorenbericht
2010“ zur Nachhaltigkeit des Statistischen Bundesamts
beträgt er 104 Hektar pro Tag. Das sind 100 Fußballfelder täglich, und das, obwohl die Bevölkerung schrumpft.
Der Beirat zum Bodenschutz im Umweltbundesamt hat
vor kurzem angesichts dieser Sachlage drastische Forderungen gestellt: eine schnelle Reduzierung des Flächenverbrauchs auf 30 Hektar, mittel- und langfristig
auf 0 Hektar pro Tag. Wir diskutieren über solche Forderungen schon sehr lange. Es muss endlich etwas passieren. Aus Sicht der Linken können wir nur noch über den
Weg dorthin diskutieren, aber nicht mehr über das Ziel.
Mit rund der Hälfte der Fläche Deutschlands ist die
Landwirtschaft ein wichtiger Bodennutzer. Damit hat
die Landwirtschaft hohe Mitverantwortung. Bodenschutz in der direkten landwirtschaftlichen Erzeugung
ist dabei relativ einfach und im Grunde unumstritten.
Keine Bäuerin und kein Bauer kann Interesse daran haben, dass es in der Bewirtschaftung von Böden zu Erosion und zur Minderung der Bodenfruchtbarkeit kommt.
Auch die Steigerung des Humusgehalts im Boden ist im
ureigenen Interesse der nachhaltigen landwirtschaftlichen Erzeugung und dient dabei sogar noch dem Klimaschutz. Zumindest bei bäuerlicher Bewirtschaftung ist
dieses Verständnis weit verbreitet, wenn auch die Rahmenbedingungen eines marktradikalen Agrarleitbildes
ihnen die Spielräume zum Handeln immer mehr verengt.
Umso mehr muss aber gelten: kein Bauernland in Spekulantenhände! Sonst wird die Durchsetzung des Bodenschutzes noch schwieriger.
Die politischen Ziele sind klar; über die Mittel kann
man sicherlich diskutieren. Die Landwirtschaft ist einerseits Opfer des hohen Flächenverbrauchs; aber sie trägt
auch kräftig dazu bei. Die Frage ist durchaus berechtigt: Müssen Neubauten für Ställe, Silos oder Biogasanlagen auf noch unversiegelten Flächen im Außenbereich
gebaut werden? Wir haben in Deutschland bereits Stallkapazitäten für rund 13 Millionen Rinder, 27 Millionen
Schweine und knapp 130 Millionen Stück Geflügel. Nahezu überall deckt die Erzeugung mehr als den einheimischen Bedarf. Zudem konzentriert sich die Tierhaltung immer mehr in bestimmten Regionen, zum Beispiel
in Niedersachsen oder NRW. Verstärkt werden dort Flächen für Stallneubauten beansprucht, und zusätzlich
wird Boden durch hohes regionales Gülleaufkommen
belastet. In Ostdeutschland dagegen decken die Viehdichten oft nicht den regionalen Bedarf an Wirtschaftsdünger. Standortgerechte Tierhaltungsdichten gehören
also zu einem Bodenschutzmanagement.
Manchmal wird heute auf dem Altar des Weltmarktes
allzu leichtfertig das landwirtschaftliche Privileg des
Bauens im Außenbereich überstrapaziert. Dabei stehen
die vielen geplanten Großanlagen für Millionen Hähnchen, Hunderttausende Schweine oder Tausende Ziegen
zu Recht besonders in der Kritik. Kein Wunder, dass unterdessen die Privilegierung der Landwirtschaft nach
§ 35 Baugesetzbuch infrage gestellt wird. Wir Linke sind
zwar nach wie vor der Meinung, dass das Problem anders als über das Baurecht geregelt werden muss, aber
am Ende verspielt die Agrarwirtschaft selbst dieses Privileg durch überzogene, in der Gesellschaft nicht akzeptierte Vorhaben. Wer das Thema Bodenschutz ernst
nimmt, muss jetzt radikal umdenken. Das heißt, bei jeder
Umnutzung landwirtschaftlicher Flächen ist die Notwendigkeit konsequent zu hinterfragen und sind alternativ Entsiegelungsoptionen ernsthaft zu prüfen. Natürlich
müssen veraltete Stallanlagen irgendwann ersetzt werden, aber warum immer als Neubau auf unversiegelten
Flächen?
Fazit: der Flächenverbrauch muss radikal reduziert
werden. Bodenschutz geht uns alle an. Neben der politischen Stärkung auf europäischer Ebene ist eine konsequente Umsetzung des Bodenschutzes im eigenen Land
vonnöten.
Die europäische Umweltpolitik weist in den letzten
Jahren manchen Erfolg auf: Der Schutz der Umweltmedien Luft und Wasser beispielsweise ist europaweit umfassend und einheitlich geregelt. Davon profitieren wir
alle. Es gibt aber ein Umweltmedium, bei dem alle Versuche einer europaweiten Regelung bisher gescheitert
sind: den Boden. Daran ist die deutsche Bundesregierung nicht unschuldig. Die Kanzlerin der Großen Koalition, Dr. Angela Merkel, trägt die Verantwortung dafür,
sie hat Seit’ an Seit’ mit Präsident Sarkozy die fast fertige Bodenschutzrichtlinie 2007 scheitern lassen.
Der Schutz von Europas Böden ist umwelt-, klimaund nicht zuletzt wirtschaftspolitisch von hoher Bedeutung. Ihre vielfältigen Funktionen sind elementar für
Mensch und Umwelt. Am Sonntag begehen wir zum
neunten Mal den Internationalen Tag des Bodens; aber
bedauerlicherweise gibt es nicht viel zu feiern. Die Zustände der europäischen Böden verschlechtern sich kontinuierlich und die Flächenversiegelung nimmt stetig zu,
in Deutschland derzeit um circa 90 Hektar am Tag.
Schadstoffbelastungen, Bodenverdichtung, Erosionen
durch Wind- und Wasser, abnehmender Humusgehalt,
keines dieser Probleme haben wir bisher erfolgreich angegangen. Wir brauchen hier endlich Erfolge. Dazu
Zu Protokoll gegebene Reden
möchten wir mit unserem heutigen Antrag einen Anstoß
geben. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich zu
handeln und sich für ein umfassendes europäisches Bodenschutzrecht einzusetzen.
Aus Reihen der CDU und FDP hört man häufig, eine
europäische Regelung habe keine positiven Auswirkungen. In Deutschland habe man doch schon ein umfassendes Bodenschutzrecht. Da kann ich nur sagen: Wer immer noch in Grenzen von Nationalstaaten Umweltpolitik
betreibt, scheint die letzten Jahre geschlafen zu haben.
Zerstörte Böden in unseren Nachbarländern wirken sich
negativ auf Klima, Artenvielfalt und den Wasserhaushalt
aus, und das grenzüberschreitend. Aber wenn schon die
Umweltschutzargumente ihnen nicht einleuchten, dann
vielleicht die wirtschaftspolitischen. Für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen kann es doch
nur von Vorteil sein, wenn der deutsche Bodenschutzstandard europaweit gilt und ein Umweltdumping verhindert wird.
Die Abgeordneten der CDU/CSU mögen unseren Antrag ablehnen; aber dass sie ihn schon vor der Einbringung in der Presse kommentieren, zeigt ja, wie auch ihnen das Thema unter den Nägeln brennt. Nur leider,
Herr Götz, scheinen Sie den Antrag nicht sehr genau gelesen zu haben. Mir jedenfalls ist bis heute unklar, wie
Sie zu der Behauptung kommen, dass mit unserem Antrag die deutschen Kommunen um 273 Millionen Euro
jährlich belastet würden. Ich habe dazu ja bei Ihnen angefragt; aber Ihre Antwort half mir auch nicht weiter.
Sie verwiesen auf ein Gutachten zu den Kosten des
EU-Vorschlages für eine Bodenschutzrichtlinie von
2006. Dieses Gutachten habe ich mir dann - auch wenn
der Antrag alles fordert, nur nicht die sofortige Umsetzung des Kommissionsvorschlags von 2006 - natürlich
einmal angeschaut. Ich war doch enttäuscht über die
Undifferenziertheit der Analyse. Ihre angebliche Kostenabschätzung ist wirklich sehr zweifelhaft. Die Autoren selbst geben zu, es sei eine grobe Schätzung, die realen Kosten würden nicht einmal ansatzweise abgebildet. Dass die wirklichen Kosten massiv von der Ausgestaltung der nationalen Umsetzung abhängen, räumen
Sie selbst ein. Meine Schlussfolgerung: Was Sie mit Ihren öffentlichen Äußerungen betreiben, ist billige Polemik, aber keine ernsthafte politische Auseinandersetzung. Ich vermute, Sie haben unseren Antrag nicht einmal vollständig gelesen, behaupten aber ohne jede Faktenbasis, er sei unsinnig und teuer.
Damit man sich nicht auf Grundlage der irrenführenden Einschätzungen des Herrn Götz eine Meinung bilden muss, lese ich die Forderungen in unserem Antrag
noch einmal vor: „Wir fordern die Bundesregierung auf,
ihre Blockadehaltung bei der Schaffung eines umfassenden europäischen Bodenschutzrechtes aufzugeben und
sich innerhalb der europäischen Union für eine sofortige Wiederaufnahme der Verhandlungen zur Bodenschutzrahmenrichtlinie einzusetzen; Wir fordern Frau
Merkel auf, sich innerhalb weiterer Verhandlungen für
eine EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie dafür einzusetzen, dass der deutsche Standard im Bodenschutzrecht
auch als Mindeststandard auf der Ebene der Europäischen Union eingeführt wird; und wir verlangen, dass
sich die Bundesregierung innerhalb weiterer Verhandlungen für eine EU-Bodenschutzrahmenrichtlinie dafür
einsetzt, dass endlich verbindliche Ziele und klare Bodenschutzstandards festgelegt werden.“
Um ihre Bedenken ernst zu nehmen, Herr Götz, sollte
man vielleicht noch hinzufügen, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzen sollte, dass auf europäischer
Ebene über den deutschen Standard hinausgegangen
wird. Dann brächte die Richtlinie auch Verbesserungen
für den deutschen Bodenschutz. Wir sind gerne dabei,
wenn sie einen entsprechenden Änderungsantrag stellen. Natürlich unterstützen wir sie auch darin, die Bundesregierung aufzufordern, bei den Verhandlungen auf
EU-Ebene sicherzustellen, dass die Kommunen nicht
einseitig belastet werden. Ich hoffe, vor diesem Hintergrund können auch Sie, Herr Götz, noch einmal über
Ihre Einschätzung unseres Antrages nachdenken und
sich gemeinsam mit uns für mehr Bodenschutz in Europa
einsetzen. Diesen nämlich brauchen wir dringend.
Auch hier wird interfraktionell die Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 17/3855 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich
sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich bedanke mich sehr herzlich, dass Sie so
lange ausgeharrt haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, 3. Dezember 2010, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und schließe
die Sitzung.