Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Zu Beginn dieser Sitzung habe ich die hochvergnügliche Aufgabe, dem Kollegen Heinz Riesenhuber zu
seinem heutigen 75. Geburtstag zu gratulieren.
({0})
Ich wünsche Ihnen im Namen des Hauses alles Gute.
Natürlich wünschen wir uns alle, dass Sie uns weiterhin
so interessante und vergnügliche Reden halten; das ist in
diesem Hause wahrlich nicht selbstverständlich.
({1})
Zur Tagesordnung: Interfraktionell wurde vereinbart,
die heutige Tagesordnung um den Zusatzpunkt 1 zu erweitern:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Sabine Leidig, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsetzung einer Enquete-Kommission
„Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt“
- Drucksache 17/3990 Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des
Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksachen 17/3958, 17/3982 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Kollege Beck meldet sich zur Geschäftsordnung.
Bitte schön, Kollege Beck.
Ich bitte, den Bundeswirtschaftsminister für den
nächsten Tagesordnungspunkt herbeizuzitieren. Dass die
Regierungsbank ganz leer und die Bundesregierung
überhaupt nicht zugegen ist, wenn wir nachher über
Wachstumspolitik und darüber, welches Wachstum wir
wollen, ob wir Wachstum brauchen, oder ob wir Ressourcenverbrauch und Wachstum entkoppeln können, reden, ist einfach nicht hinzunehmen.
({0})
Kollege Koppelin, bitte schön.
Kollege Beck, das ist ein interessanter Antrag; ich
kann Ihr Anliegen auch verstehen. Ich denke allerdings,
wir müssen noch einmal darüber beraten. Deswegen
bitte ich um Unterbrechung der Sitzung für eine Fraktionssitzung der FDP-Fraktion.
Herr Kollege Altmaier.
({0})
Ich will die Anmerkung machen, dass ich es für ungewöhnlich halte, dass zu Beginn unserer Debatte, in der
wir ein wirklich wichtiges Thema behandeln, kein Vertreter der Bundesregierung anwesend ist. - Gerade in
diesem Moment ist jemand eingetroffen; aber zu dem
Redetext
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Zeitpunkt, als sich Herr Beck geäußert hat, konnte er zu
Recht darauf hinweisen, dass die Regierungsbank leer
ist.
({1})
Das ist - darüber sind wir uns ja einig - ungehörig.
({2})
Der Antrag der Fraktion der FDP gilt also. Wie lange
wünschen Sie eine Unterbrechung?
({3})
- 20 Minuten. Dann ist die Sitzung für 20 Minuten unterbrochen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Herr Kollege Koppelin möchte einen Antrag zur Geschäftsordnung stellen.
Herr Präsident! Wir haben in der FDP-Fraktion über
den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beraten. Wir
sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir den Antrag
ablehnen.
({0})
Herr Kollege Beck, bestehen Sie auf Ihrem Antrag?
({0})
Also: Der Kollege Beck hat für seine Fraktion den
Antrag gestellt, den Herrn Wirtschaftsminister Brüderle
zur folgenden Debatte herbeizurufen. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
abgelehnt.
({1})
Wir fahren nun mit Tagesordnungspunkt 1, der ersten
Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten
Gesetzentwurfes zur Ermittlung von Regelbedarfen und
zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, fort.
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen
daher gleich zur Überweisung.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf den Drucksachen 17/3958 und 17/3982 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 und den Zusatzpunkt 1 auf:
2 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu
nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“
- Drucksache 17/3853 ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Sabine Leidig, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu
nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt“
- Drucksache 17/3990 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Georg Nüßlein von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen! Meine
Herren! Enquete-Kommissionen haben manchmal die
Eigenschaft, dass sie Schubladen füllen und beschweren.
Ich kann Ihnen schon heute an dieser Stelle sagen, dass
das diesmal anders wird, und zwar deshalb, weil der
erste Erfolg der Enquete-Kommission, die wir heute einsetzen wollen, eigentlich schon erzielt ist.
Er ist deshalb erzielt, weil CDU/CSU, FDP, SPD und
Grüne sich gemeinsam auf die Formulierung im Titel
„Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ einigen konnten. Ich betone das deshalb so, weil damit ein
klarer Rahmen abgesteckt ist; denn es geht darum, diese
Wege innerhalb eines Systems der sozialen Marktwirtschaft zu suchen.
Ich sage denjenigen, die dem Thema kritisch gegenüberstehen, dass der Ursprungsantrag von SPD und Grünen, über den wir gemeinsam diskutiert und den wir
dann geändert haben, schon deshalb falsch war, weil ihn
jetzt die Linken wortwörtlich übernommen haben. Deshalb war es nach meiner Auffassung gut, meine Damen
und Herren, den Antrag in dieser Form zu ändern.
({0})
- Wenn Sie den Einwand bringen, das sei ein Superargument, dann müssen Sie vielleicht noch einmal darüber
nachdenken, ob diese Argumentation für Sie, Herr
Steinmeier, nicht bedeuten würde, sich wirtschaftspolitisch auf eine Stufe mit den Linken zu stellen.
({1})
Es ist damit klar, dass die Enquete-Kommission zwei
Dinge nicht tun soll. Sie soll zum einen nicht systemkritisch an der sozialen Marktwirtschaft herumkritteln, wie
das viele, insbesondere in der vergangenen Wirtschaftskrise, getan haben. Das ist nicht ihr Auftrag. Es ist nach
meiner Meinung auch nicht ihr Auftrag, Krisen- und Rohstoffendlichkeitsszenarien zu entwerfen, die am Ende eh
falsch sind und nur Ökoapokalyptikern die Chance geben, daran anzuknüpfen und politisch daraus Kapital zu
schlagen.
({2})
Damit bin ich bei der Frage: Was soll und was kann
eine solche Enquete-Kommission? Zunächst einmal soll
sie - und das kann sie vermutlich auch - den Stellenwert
von Wachstum und Wirtschaft in unserer Gesellschaft
ausloten. Das ist unstrittig ein spannendes Thema, vor
allem unter dem Eindruck des demografischen Wandels.
Das Thema ist interessant, wäre aber noch spannender,
wenn wir es aus den Perspektiven „vor der Krise“, „während der Krise“ und „nach der Krise“ betrachten könnten. Man kann ja jetzt schon, auch in der Berichterstattung der Medien, feststellen, wie sich das Bild vom
Wachstum in diesen Zeiten verändert hat. Insofern wird
sich da auch im Laufe der drei Jahre, in denen wir uns
mit diesem Thema beschäftigen werden, einiges tun.
Ich wünsche mir, dass wir dieses Thema nicht mit allzu
viel Pessimismus angehen, insbesondere nicht mit Pessimismus gegenüber dem technischen Fortschritt. Ich stelle
nämlich fest, meine Damen und Herren, dass viele von
uns immer wieder einer Fehleinschätzung aufsitzen und
die Frage stellen: Wann kommt denn das Ende dieses
Fortschritts? Die krasseste Fehleinschätzung hat 1899
Charles Duell, seinerzeit Chef des US-Patentamtes, formuliert, als er sagte: „Alles, was man erfinden kann, ist
schon erfunden.“ Sie werden mir recht geben: Seit dieser
Zeit hat sich einiges entwickelt. Man sollte aus dieser
krassen Fehleinschätzung seine Lehren ziehen und die
Themen Technologie und Fortschritt mit einem gewissen
Optimismus behandeln, die „German Angst“ - der Begriff ist mittlerweile weltweit bekannt -, die uns prägt, etwas in den Hintergrund rücken und stattdessen daran
glauben, dass sich technisch noch einiges tut.
({3})
Wenn man über Technologie spricht, dann wird es
auch um die Frage gehen: Sind wir in der Lage, Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln? Auch da bin ich sehr optimistisch. Unsere Wirtschaft ist hier auf Grundlage hoher politisch gesetzter
Standards seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, auf einem
guten Weg. Es muss in einer solchen Kommission darum
gehen, die Fortsetzung dieses Weges sinnvoll zu beschreiben, und es muss auch darum gehen, auszuloten,
wo an dieser Stelle die Grenzen nationaler Politik sein
können. Wir sind keine Ökoinsel Deutschland, die die
Welt retten kann. Wir müssen diese Dinge, eingebunden
in internationale Politik, vorantreiben.
({4})
Die Entkopplung des Wachstums vom Ressourcenverbrauch ist für mich persönlich das Feld, von dem ich
mir die größten Implikationen für die Politik verspreche.
Ich formuliere das explizit so, weil ich nicht zu denen
gehöre, die meinen, wir sollten hier Wirtschaftsphilosophie betreiben, sondern ich meine, wir sollten uns als
Mitglieder des Deutschen Bundestages insbesondere
überlegen, was dieses Thema für unser politisches Handeln bedeuten kann.
Wir haben im Antrag auch den Anspruch formuliert,
dass wir einen ganzheitlichen Wohlstands- und Fortschrittsindikator entwickeln wollen. Das ist ein - das
sage ich jetzt als Ökonom - hehres und großes Ziel. Das
Bruttoinlandsprodukt ist eine Zahl. Damit wird also logischerweise nur Zählbares gemessen. Alles, was qualitativ zu bewerten ist, also die Wohlstandsverteilung, die
Zufriedenheit und ähnliche Dinge, ist damit nur andeutungsweise und indirekt abzubilden; viele sagen auch,
diese qualitativen Aspekte seien überhaupt nicht erfassbar. Deshalb macht es Sinn, sich darüber Gedanken zu
machen.
Das tun im Übrigen auch andere. Sarkozy hat eine
Kommission eingesetzt, die einen ähnlichen Indikator
entwickeln soll. Dieser gehören immerhin fünf Nobelpreisträger an. Insofern wird das für unser 17-köpfiges
Expertenteam ein spannender Wettbewerb. Ich bin gespannt, wer hier am Ende die Nase vorne hat. Notfalls
- das meine ich jetzt im Unterschied zu dem, was ich
bisher gesagt habe, nicht ernst - können wir uns eine
Anleihe bei dem ehemaligen König von Bhutan nehmen,
der das Glück seines Volkes messen und sozusagen ein
Bruttonationalglück ermitteln möchte. Wir können gespannt darauf sein, wie er das machen will.
({5})
- Wir haben in Bayern auf jeden Fall ein hohes Maß an
Zufriedenheit, an Wohlstand und auch an Wachstum.
Darauf sind wir stolz. Die auf der linken Seite des Hauses erwarten jetzt natürlich, dass ich sage: Das liegt an
der CSU.
({6})
Das tue ich jetzt nicht. Es ist so offenkundig, dass man es
nicht explizit betonen muss. Das liegt natürlich auch an
den Bayern, die fleißig arbeiten und unser Land schon
seit vielen Jahren voranbringen.
Was ich kritisch sehe und worüber man im Rahmen
unserer Arbeit dann auch diskutieren wird, sind all die
Ansätze, bei denen es darum geht, die Menschen zu ändern. Im Antrag wird ja an der einen oder anderen Stelle
die Frage gestellt: Wie ändern wir die Menschen? Ich
bin etwas skeptisch, ob die Politik wirklich in der Lage
ist, so etwas zu tun. Ich sage ganz offen: Ich kann belegen, dass das viele Jahre lang nicht gelungen ist.
Ein Verzichtsumweltschutz, der in die Richtung
weist, verzichten zu müssen, ist selbst bei uns, wo Verzicht aufgrund des Wohlstandsniveaus bei dem einen
oder anderen noch möglich wäre, aus meiner Sicht ganz
klar gescheitert. Er ist auch ausgesprochen arrogant gegenüber denjenigen, die in Schwellen- und Entwicklungsländern den Anspruch haben, etwas Wohlstand
dazuzugewinnen. Deshalb sollten wir uns einem Hightechumweltschutz widmen, der stärker die Frage berücksichtigt, wie wir ökonomisch vorankommen. Schließlich
geht es um Wirtschaft und Gesellschaft.
In diesem Sinne wünsche ich der Enquete-Kommission ein erfolgreiches und gutes Arbeiten, damit wir am
Ende in der Lage sind, essenzielle Ergebnisse zu liefern.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Frank-Walter Steinmeier für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Nüßlein, man muss vor einer solchen Diskussion keine Angst haben. Wir müssen sie auch nicht
damit beginnen, dass wir erst einmal erklären, was wir in
einer Enquete-Kommission alles nicht prüfen, untersuchen und diskutieren werden.
({0})
Denn die Erkenntnis, dass wir so etwas brauchen, ist relativ alt. Robert Kennedy hat schon 1968 gesagt: Das
Bruttoinlandsprodukt misst alles, nur nicht das, was das
Leben lebenswert macht.
({1})
Wir haben uns dennoch aus guten Gründen in der Vergangenheit daran ausgerichtet - darin unterscheiden wir
uns nicht von Ihnen - und wollen das für die Zukunft ändern. Das ist zunächst einmal eine Riesenaufgabe, die
wir der Enquete-Kommission aufbürden. Mein Respekt
gilt all denjenigen, die das in der nächsten Zeit vor sich
haben.
Ich bin froh darüber, dass wir mit einer Initiative in
diese Debatte gestartet sind, und ich sage ganz offen: Ich
freue mich darüber, dass sich die Regierungsfraktionen
dem Vorhaben angeschlossen haben. Es ist gut und richtig, dass Sie von hier aus sagen: Wir wollen uns darum
kümmern, dass die soziale Marktwirtschaft und ihre Zukunft in dieser Enquete-Kommission untersucht wird.
Denn das Soziale mit der Marktwirtschaft zu verbinden,
ist das, was auch uns in den vergangenen Jahren angetrieben hat.
Aber - das sage ich mit Blick auf die aktuellen Ereignisse, die uns zurzeit abends beim Fernsehen beschäftigen - es hat sich etwas verändert. Es ist messbar Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft verschwunden, und
zwar, wie Sie wissen, ganz rapide und drastisch nach
dem Ausbruch der Krise auf den internationalen Finanzmärkten im letzten Quartal des Jahres 2008. Ich darf die
Vermutung äußern, dass nicht nur das Vertrauen in die
soziale Marktwirtschaft, sondern auch das Vertrauen in
die Leistungsfähigkeit unserer Demokratie und der demokratischen Institutionen geschwunden ist.
Die Fernsehbilder aus Stuttgart in den letzten Wochen
zeigen - der Bundestag wird in dieser Woche noch über
dieses Thema diskutieren -, dass das kein Protest ist, der
irgendwoher von den Rändern kommt, sondern es ist
Bürgerprotest aus der Mitte der Gesellschaft. Deshalb
sage ich Ihnen: Auch Sie müssen ein Interesse daran haben, den Ursachen dieser Unzufriedenheit nachzugehen
und die Warnzeichen, die sich daraus ergeben, ernst zu
nehmen.
Für mich ergibt sich jetzt schon ein Schluss aus all
dem: Wenn wir unsere Verantwortung, die wir auf unterschiedliche Art und Weise tragen - in der Regierung auf
der einen Seite und in der Opposition auf der anderen
Seite -, ernst nehmen, dann müssen wir über die taktischen Spielereien hinaus, die wir uns gelegentlich leisten, die tiefer liegenden Probleme unserer Zeit angehen
und vor allen Dingen Antworten geben, die über die
Wahlperiode hinausreichen.
({2})
Mein Eindruck ist jedenfalls, dass vielleicht nicht alle
Menschen nachempfinden und erklären können, was in
dieser Doppelkrise, in der wir uns befinden, passiert
- die ökologische Krise auf der einen Seite und die soziale Krise auf der anderen Seite, also das Nebeneinander von Klimawandel und Finanzkrise -, aber dass sie
ein sicheres Gespür dafür haben, dass etwas in Unordnung gerät und in Staaten und Gesellschaften etwas auseinanderfällt. Wir nennen es Spaltung. Sie nennen es
Auseinanderdriften.
Es gibt die, wie ich finde, berechtigte Sorge, dass unser Wirtschaftsmodell doch zu sehr auf Kosten der Zukunft lebt und deshalb allein nicht tragfähig ist. Meine
Bitte - das ist der Aufruf an uns selbst, wenn Sie so wollen - ist, dass wir in der Fortschritts-Enquete, die wir
heute einsetzen, das aufgreifen, was täglich an Vertrauensverlust und Zukunftsangst sichtbar wird, und nach
neuen Orientierungspunkten suchen. Das bedeutet nicht
mehr, aber eben auch nicht weniger, als dass wir uns auf
die Suche nach einem neuen Navigationssystem begeben
müssen und dass wir in dieses Navigationssystem - das
kann nicht mehr allein nur das BIP beinhalten - neben
den Wachstumszahlen neue Ziele einprogrammieren.
Dazu gehören ebenjene Dinge, die das Leben aus unseDr. Frank-Walter Steinmeier
rer Sicht lebenswert machen: freie Zeit, gesunde Arbeit,
saubere Luft und echte Teilhabe.
Das wirft einige Fragen auf, mit denen sich die Kommission beschäftigen wird: Wie viel Teilhabe am Wohlstand ist möglich? Gibt es in der Gesellschaft einen fairen Lastenausgleich? Wer trägt die Kosten aufgrund
knapper Ressourcen und steigender Energiepreise? Damit verbinden wir die soziale Frage mit der ökologischen
Frage.
Ich habe gesagt: Um Lebensqualität und Wohlstand
zu messen, reicht das Bruttoinlandsprodukt nicht aus im Gegenteil, man könnte noch eins draufsetzen: Das
Bruttoinlandsprodukt suggeriert manchmal sogar dann
wachsenden Wohlstand, wenn sich die Lebensverhältnisse, das Wohlbefinden der Menschen ins Gegenteil
verkehren. Die spekulativen Finanzgeschäfte der Vergangenheit, die uns heute belasten, haben, wenn man das
BIP als Maßstab nimmt, zu Wachstum geführt. Wenn im
Golf von Mexiko eine Ölplattform sinkt und Reparaturkosten in Milliardenhöhe fällig werden, dann steigt das
Bruttoinlandsprodukt. Diese zwei Beispiele zeigen, dass
solche Indikatoren, die es bisher gibt, keinen klaren
Blick für eine bessere Zukunft liefern.
In der Tat brauchen wir einen neuen Fortschrittsindikator, der auch die Qualität von Arbeit, die Einkommensverteilung, Bildung, Gesundheit und Umwelt einbezieht. Wenn wir das tun, dann darf das nicht zur
statistischen Fummelei werden, sondern wir brauchen
einen Indikator, der wertvolles Wachstum, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit misst und auf diese Weise manchen Blindflug in der Politik zu verhindern hilft. Das
kann, wenn die Enquete-Kommission zu guten Ergebnissen kommt, ein Navigationsinstrument für Politik von
morgen werden.
Ich freue mich darüber, dass wir bei der Einrichtung
der Enquete-Kommission ganz offenbar in der Lage
sind, eine breite politische Mehrheit in diesem Hause zu
finden. Die Arbeit dieser Kommission ist wichtig für uns
alle; denn bei guten Ergebnissen kann daraus auch ein
neuer Konsens in der Demokratie entstehen, der uns verloren gegangen ist. Deshalb haben nicht nur wir ein Interesse daran, dass diese Arbeit gelingt.
Ich glaube, die Mitglieder der Enquete-Kommission
freuen sich auf eine gute Zusammenarbeit. Ich wünsche
im Interesse des ganzen Hauses, dass die Kommission
zu guten Ergebnissen kommt.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Hermann Otto Solms für die FDPFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten
von Amerika findet sich unter den unveräußerlichen
Rechten der Menschen, gleich nach dem Recht auf Leben und Freiheit, das Recht auf Streben nach Glück Pursuit of Happiness. Man sieht: Die Frage nach geeigneten Glücksindikatoren hat eine lange Geschichte.
Auch heute stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Glück und dem Streben nach materiellem
Wohlstand. Darum ist es richtig und wichtig, dass sich
auch der Deutsche Bundestag in einer Enquete-Kommission mit den Fragen von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität befasst. Dabei wird es darauf ankommen,
zentrale Aspekte auszuloten und möglichst belastbare
Ergebnisse zu erreichen. Das ist eine ehrgeizige Aufgabe. Ich wünsche dazu der Kommission viel Erfolg,
weil es darum geht, qualitative Elemente in mathematische Rechengrundlagen einzuarbeiten. Jeder, der sich
mit so etwas schon einmal befasst hat, weiß, wie schwierig das ist.
Aus Sicht der FDP ist dafür der Rahmen der sozialen
Marktwirtschaft grundlegend. Wie greifen im Rahmen
der sozialen Marktwirtschaft die verschiedenen Dimensionen nachhaltigen Wirtschaftens ineinander? Wie können wir Wohlstand und Lebensqualität schaffen und
gleichzeitig unserer Verantwortung für unsere natürliche
Umwelt und für die nachfolgenden Generationen gerecht
werden?
Ein Zweites ist wichtig. Die FDP begrüßt diese
Enquete-Kommission nicht etwa, weil wir uns ebenfalls
in die Reihe der Wachstums- und Fortschrittsskeptiker
begeben hätten. Im Gegenteil, diese Enquete-Kommission kann dazu beitragen, weitverbreitete Irrtümer über
den Wachstumsbegriff aufzuklären und der um sich greifenden Wachstumsskepsis zu begegnen.
({0})
Gerade in den wohlhabenden Industriestaaten sind
viele Menschen verunsichert und fragen sich, ob die Entwicklung der Wirtschaft, des Arbeitsmarktes oder der
Finanzmärkte im globalen Zusammenhang einfach so
weitergehen kann. Dahinter steht die Sorge, ob Wachstum zur Lösung der globalen Probleme etwas beitragen
kann oder ob es nicht vielmehr selber das Problem darstellt und Verzicht angezeigt wäre. Dabei wird Wachstum häufig mit der Vorstellung „ganz einfach mehr“
gleichgesetzt: mehr Autos, mehr Steaks, mehr Bohrmaschinen usw. und gleichzeitig mehr Öl, mehr Erze, mehr
Rohstoffe, mehr Ressourcenverbrauch. Es ist unbestreitbar: Die Erde ist und bleibt ein begrenzter Lebensraum.
Auch wenn wir immer wieder neue Rohstoffvorkommen
entdecken: Ein rein quantitativ und materiell ausgerichtetes Wachstum taugt nicht als Leitbild für die Zukunft.
({1})
Die Wachstumskritiker übersehen dabei allerdings
Folgendes: Das, was die Statistiker mit dem realen Bruttoinlandsprodukt messen, ist keineswegs immer mehr
von dem ewig Gleichen. Das reale Bruttoinlandsprodukt
ist per definitionem eine qualitative Größe. Wachstum
bedeutet einfach Schaffung von mehr Werten. Es geht
nicht um „mehr“, sondern um „besser“. Wachstum der
Wirtschaft bedeutet vor allem Wachstum des Wissens.
Wachstum in diesem Sinne kennt keine natürlichen
Grenzen. Es muss nicht zwangsläufig mit einem steigenden Ressourcenverbrauch einhergehen. Es muss nicht im
Widerspruch zur Nachhaltigkeit stehen.
({2})
Allerdings erfordert Nachhaltigkeit eine Wirtschaftsordnung, in der wettbewerbsfähige Unternehmen Arbeitsplätze schaffen und Wohlstand sichern und in der
gleichzeitig der Raubbau an den natürlichen Ressourcen
und zulasten zukünftiger Generationen verhindert wird.
Nachhaltigkeit erreichen wir nicht, indem wir nur Messgrößen hinterfragen oder, wo nötig, verändern. Vielmehr
müssen wir die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so
gestalten, dass es zu einer besseren Abbildung sogenannter externer Effekte in den Preisen kommt.
Noch ein Wort zur sozialen Dimension des Wachstums. Es ist nicht zu bestreiten: Wirtschaftliches Wachstum geht einher mit sozialen Ungleichheiten. Nebenbei
bemerkt: Die sozialen Defizite wirtschaftlichen Stillstands sind aber weitaus gravierender als die des Wachstums. Bei aller berechtigten Kritik dürfen wir die grundlegende soziale Funktion von Wachstum nicht
vergessen. Höheres wirtschaftliches Wachstum bringt
eine höhere Verteilungsmasse. Je mehr erwirtschaftet
wird, desto mehr kann verteilt werden und desto mehr
Mittel stehen zur Verfügung, um gesellschaftliche Probleme zu lösen und auch internationale Verantwortung
wahrzunehmen.
({3})
Eine stagnierende Wirtschaft bedeutet dagegen gesellschaftliche Erstarrung und eskalierende Verteilungskämpfe.
Deutschland braucht mehr Wachstum, Wachstum, das
mehr Lebensqualität ermöglicht, Wachstum, das zugleich knapper werdende Ressourcen schont, das substanziell zur Konsolidierung der öffentlichen Haushalte
und zur Bewältigung der Staatsschuldenkrise beiträgt.
Bei all dem ist aus Sicht der FDP ein dritter Aspekt
von zentraler Bedeutung: Wie immer sich nachhaltiges
Wirtschaften in Zukunft abspielen wird, wie immer die
Konzepte aussehen mögen, Grundlage kann immer nur
der eigenverantwortlich handelnde Bürger sein und nicht
das bevormundete Objekt politischer Steuerung.
({4})
Auch dies wussten die amerikanischen Gründerväter
schon. Als Aufgabe des Staates sahen sie keineswegs an,
dass der Staat sich des Glücks seiner Bürger anzunehmen habe. Aufgabe des Staates ist es lediglich - und das
ist schon anspruchsvoll genug, finde ich -, dass er das
unveräußerliche Recht jedes einzelnen Menschen sichert, selbst nach seiner persönlichen Vorstellung von
Glück zu streben.
Ich wünsche der Kommission bei ihrer Arbeit viel Erfolg und hoffe tatsächlich auf konkrete Ergebnisse.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Sabine Leidig für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ja,
wir brauchen neue Maßstäbe für die gute Entwicklung
unserer Gesellschaften; denn das kapitalistische Wachstum - so blind, wie es nun einmal ist - führt in verschiedene Sackgassen. Vor diesem Problem stehen wir.
({0})
Die erste Sackgasse ist, dass Reichtum und Armut zugleich wachsen. Das gilt weltweit; auf der einen Seite
wird auf den Finanzmärkten mit gigantischen Summen
spekuliert, während auf der anderen Seite täglich Tausende Kinder verhungern. Das gilt aber auch hierzulande, wo große private Geldvermögen angehäuft sind,
inzwischen in Höhe von insgesamt 4 768 Milliarden
Euro. Im vergangenen Vierteljahr sind 36 Milliarden
Euro dazugekommen. Zugleich werden immer mehr
Leute mit Niedriglöhnen abgespeist, die Altersarmut
breitet sich aus - das war bereits Thema hier im Hause -,
und an öffentlicher Kultur, Bildung usw. wird gespart.
Ich finde, damit kann sich eine demokratische Gesellschaft nicht abfinden.
({1})
Wir wissen - das ist die zweite Sackgasse -, dass unsere natürlichen Lebensgrundlagen und Rohstoffe zerstört und verbraucht werden. Man sieht es schon jetzt daran, dass Konzerne wie BP, Shell und wie sie alle heißen
immer waghalsiger werden. Wenn das Öl knapp wird,
heißt das nicht, dass man spart. Vielmehr wird es teurer,
und die Konzerne unternehmen immer mehr, um das Öl
zu fördern. Dann kommt es zu solch katastrophalen Ereignissen wie Explosionen von Ölplattformen durch
Tiefseebohrungen. Daran wird sich nichts ändern, wenn
man nicht regelnd eingreift und diesem ausbeuterischen
Handeln Grenzen setzt.
({2})
Die dritte Sackgasse ist - darüber wurde schon gesprochen -, dass mit dem Bruttosozialprodukt der Erfolg
der Marktwirtschaft gemessen wird. Die Höhe des Bruttosozialprodukts gibt den Grad des Wachstums an. In das
Bruttosozialprodukt fließt die Beseitigung von Umweltkatastrophen genauso ein wie der Bau und der Verkauf
von Waffen. Solche Aktivitäten werden also positiv gewertet. Sie werden von den wirtschaftlich Handelnden,
den Wirtschaftspolitikern und den politisch Verantwortlichen als Erfolg verkauft. Es ist aber kein Erfolg, wenn
ein Hedgefonds eine Firma aufkauft, sie in Teile zerlegt,
die Beschäftigten entlässt und damit das Bruttosozialprodukt steigert, während auf der anderen Seite die Tatsache, dass sich Eltern um ihre Kinder kümmern, dass
Kranke gepflegt werden, dass sich Jugendliche ehrenSabine Leidig
amtlich engagieren, dass gespielt und musiziert wird
- alles Dinge, die glücklich machen -, völlig ausgeblendet wird. Auch die Bedingungen, unter denen Menschen
hier leben und ihr privates Glück finden können, werden
völlig ausgeblendet. Weil es uns aber um Lebensqualität
geht - Ihnen sicher auch -, brauchen wir andere Maßstäbe und nicht einfach eine kleine Korrektur an den bisherigen Maßstäben.
({3})
Inzwischen wollen 90 Prozent unserer Bevölkerung
nicht mehr Wachstum um jeden Preis. Ich bin sicher,
dass viele der Protestbewegungen und Bürgerinitiativen,
die sich gegen Großprojekte wenden, aus diesem berechtigten Unbehagen und Zweifel entstehen. Dass viele
Milliarden investiert werden, bedeutet eben nicht, dass
es nachher mehr Lebensqualität gibt. Es bedeutet schon
gar nicht, dass es für unsere Kinder und Enkel mehr Zukunftsperspektiven gibt. Deshalb ist es richtig und notwendig, dass sich der Bundestag ganz grundlegend mit
der Frage beschäftigt, wie unser Wirtschaften neu ausgerichtet werden kann. Aus meiner Sicht, auch aus Sicht
der Linken, sind dabei bestimmte Fragen ganz besonders
wichtig. Diese möchte ich formulieren.
Die erste wichtige Frage betrifft die Verteilung. Wer
soll künftig mehr bekommen, und wer muss verzichten?
Wo sind die Obergrenzen des Reichtums? Brauchen wir
neben einem Mindesteinkommen und einer Mindestsozialsicherung auch Obergrenzen für den Verbrauch
von Ressourcen? Wenn wir nicht über den gewaltigen
Reichtum reden, der vor allem auf den Finanzmärkten
zum Einsatz kommt, dann wird das Problem der Armut
nicht gelöst werden können. Es sind zwei Seiten einer
Medaille.
({4})
Die zweite Frage ist die Frage der Arbeit. Es geht
nicht nur darum, unter welchen Bedingungen gearbeitet
wird - natürlich ist es ein ganz wichtiger Punkt -, es geht
auch darum, was der Gegenstand der Arbeit ist. Was
wird hergestellt? Was wird produziert? Darüber können
die Menschen, die arbeiten, überhaupt nicht mitreden.
Daran muss etwas geändert werden. Wir wollen darüber
mitbestimmen, wie die Gestaltung unserer materiellen
Wirklichkeit konkret aussieht.
Es gibt auf der einen Seite Bereiche in der Gesellschaft, die schrumpfen werden, so oder so. Es werden
nicht mehr so viele Autos und Flugzeuge produziert werden. Auf der anderen Seite gibt es Bereiche, die wachsen
müssen. Wir haben viel zu wenige Menschen, die soziale
Dienstleistungen erbringen, viel zu wenige Lehrerinnen
und Lehrer und viel zu wenige, die sich um die kulturellen Bedürfnisse von Kindern und alten Menschen kümmern. Um diesen Prozess zu organisieren, braucht es
politisches Handeln. Wir brauchen eine Gestaltung dieses notwendigen gesellschaftlichen Umbaus. Das können wir nicht einfach den Märkten überlassen, weil dann
die Beschäftigten auf der Strecke bleiben. Damit sind
wir nicht einverstanden.
({5})
Wir wollen, dass unser Wirtschaften solidarisch ist, und
zwar solidarisch in Bezug auf den großen restlichen Teil
der Weltbevölkerung.
Da ich nicht mehr viel Zeit habe,
Gar keine mehr.
- möchte ich am Schluss noch sagen, dass wir als Antrag den ursprünglichen Text von SPD und Grünen eingebracht haben, weil er viel besser ist, weil er die grundlegenden Fragen in den Mittelpunkt stellt und sich nicht
in das Korsett der Marktwirtschaft, der Standortkonkurrenz
Frau Kollegin, bitte.
- und des Wettbewerbs einpressen lässt, sondern offen die Frage aufwirft, wie man besser und menschenwürdiger wirtschaften kann: für uns und auch für die Bevölkerung in den anderen Teilen der Welt.
({0})
Das Wort hat nun Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin froh, dass wir die Enquete-Kommission heute einsetzen. Denn es ist die Aufgabe des Parlaments, jenseits der
normalen Debatten grundsätzliche Punkte zu hinterfragen, die unser Gemeinwesen ausmachen. Dazu gehört,
dass wir uns in der Politik über Jahrzehnte an einen ungeheuren Wachstumsmythos gekoppelt haben. Wenn Sie
sich eine durchschnittliche Rede von Wirtschaftsminister Brüderle anhören - deswegen wollten wir ihn heute
herbeizitieren -, dann wissen Sie, was ich meine. Diesen
Mythos zu hinterfragen, ist eine Aufgabe des Parlaments, wenn es Zukunftsfähigkeit herstellen will.
({0})
Das machen nicht nur die Miegels und die Biedenkopfs und wer auch immer, sondern das machen auch
kluge Leute auf der ganzen Welt, die wissen, dass wir
nicht davon ausgehen können, die Probleme der Länder
dadurch zu lösen, dass es automatisch immer mehr
Wachstum gibt und dass damit alles geregelt wäre. Das
geht nicht wegen der ökologischen Grenzen, die wir untersuchen müssen. Es geht auch deswegen nicht, weil
Wachstum in Zukunft nicht automatisch ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit bedeutet.
({1})
Wer das glaubt, Herr Nüßlein - Sie waren in Ihrer Rede
sozusagen auf diesem Trip -, der glaubt, dass wir noch
in der Zeit von Ludwig Erhard und Konrad Adenauer leben. Das tun wir aber nicht. Ich behaupte, dass wir in
den letzten Jahren in der Bundesrepublik Deutschland,
was den sozialen Zusammenhalt und die soziale Gerechtigkeit angeht, trotz steigenden Wirtschaftswachstums
nichts hinzugewonnen haben.
Sie haben gesagt: In die Enquete-Kommission gehört
die soziale Marktwirtschaft. Wir haben uns dem gebeugt; aber eines müssen Sie jetzt beweisen, nämlich
dass wir noch eine soziale Marktwirtschaft sind. Sie
müssen vor allem auch erklären, wie es um das Soziale
in Deutschland bestellt ist, wenn die Wirtschaft gerade
einmal nicht wächst. Das ist ein wichtiger Punkt. Bedeutet unsere politische Verfassung, dass das Soziale nur bei
Wachstum gesichert ist?
({2})
Oder schaffen wir eine soziale Mindestsicherung für
alle, die auch dann greift, wenn die Wirtschaft gerade
einmal nicht im quantitativen Sinne wächst?
({3})
Das sind hochspannende Fragen, die eine zukunftsfähige
Politik beantworten muss.
Das Wachstum, das durch das Bruttoinlandsprodukt
wiedergegeben wird, sagt nicht viel über den Wohlstand
aus. Wenn wir zwei, Herr Kollege, uns prügeln und Sie
ins Krankenhaus müssen, steigt das Bruttosozialprodukt,
aber nicht der Wohlstand der Gesellschaft, und Ihrer
schon gar nicht.
({4})
Dieses einfache Beispiel zeigt, dass wir uns auf solche
Indikatoren nicht verlassen können, Herr Nüßlein.
({5})
Spannend ist, ob wir es schaffen, das Problem der
ökologischen Knappheit und der Ressourcenknappheit
durch den Glauben an mehr Ressourcenproduktivität
und -effizienz zu lösen. Da macht man sich sehr schnell
Hoffnungen; aber die Zahlen geben dazu nicht immer
Anlass. Ich verweise auf eine Zahl aus dem aktuellen
Umweltbericht der Bundesregierung: Zwischen 2000
und 2008 und damit in einem Zeitraum, in dem das
Wachstum 12 Prozent betrug, ist die Abfallmenge in
Deutschland um 15 Prozent zurückgegangen. Jetzt könnte
man sagen: Toll, die Effizienz siegt! Aber wird es in den
nächsten acht Jahren auch so sein? Oder frisst das
Wachstum, das wir in diesen acht Jahren haben, wenn alles gut geht, diesen Erfolg bei der Abfallreduktion oder
der Ressourcenproduktivität wieder auf? Das heißt, wir
brauchen sehr radikale Effizienzrevolutionen, wenn wir
tatsächlich etwas erreichen wollen, wenn wir mehr
Wachstum im Sinne des Bruttoinlandsproduktes mit
deutlich weniger Ressourcenverbrauch, als es heute der
Fall ist, wollen.
({6})
Es sind schwierige und wichtige Fragen, die wir zu klären haben. Deswegen ist es gut, dass wir die EnqueteKommission heute einberufen.
Am Schluss meiner Rede möchte ich etwas zur Linken sagen. Sicherlich ist ein rot-grüner Antrag immer
besser, als wenn die Schwarzen und die Gelben ebenfalls
daran beteiligt sind; davon können Sie ausgehen, Frau
Kollegin. Wir sind trotzdem so vorgegangen, weil wir sicherstellen wollen, dass auch Sie zwei Vertreter in diese
Enquete-Kommission entsenden können. Das wäre nämlich nicht der Fall gewesen, wenn wir anders vorgegangen wären. Ich appelliere an die CDU, den Firlefanz, mit
den Linken nicht zu reden, eines Tages zu überwinden,
Herr Altmaier. Denn sie haben das gleiche Mandat vom
Volk wie jeder von uns.
({7})
Deswegen wäre es ganz gut, wenigstens bei solchen Sachen mit ihnen zu reden.
({8})
Das Wort hat nun Bernhard Kaster für die CDU/CSUFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Der Einsetzungsbeschluss für diese neue
Enquete-Kommission kann sich sehen lassen. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass es gelungen ist, in angenehmen und konstruktiven Gesprächen zwischen den einbringenden Fraktionen sehr schnell Einvernehmen über
die Problembeschreibung und auch die Aufgabenstellung zu erzielen.
({0})
Das ist nicht selbstverständlich. Aber es ist gut, dass gerade diese Enquete-Kommission auf einer breiten parlamentarischen Basis steht.
Die großen Herausforderungen der Zukunft, die vielfältigen Fragestellungen und das Ziel, vor allem Handlungsempfehlungen über so umfangreiche Sachkomplexe
zu erarbeiten, bieten für uns als Parlament die Chance
- da stimme ich Herrn Kollegen Steinmeier zu -, den
Bürgern gegenüber deutlich zu machen, dass man Fragen der Zeit, die über die Legislaturperiode hinausgehen,
jenseits der Tagespolitik hier im Bundestag behandelt.
Aber - da stimme ich meinem Kollegen Dr. Nüßlein ausdrücklich zu - dabei müssen am Ende Ergebnisse herauskommen.
Wir, die Union, stehen bei diesem Thema mittendrin,
und deswegen laden wir Sie gerne ein, mit uns diese
Themen zu diskutieren: Wie definieren wir Wohlstand?
Wie nehmen wir Verantwortung für unsere Schöpfung
wahr? Wie viel und welches Wachstum wollen wir? In
unserem Grundsatzprogramm heißt es:
Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist fester Bestandteil
christlich-demokratischer Politik: Wir wollen unseren Nachkommen eine Welt bewahren und hinterlassen, die auch morgen noch lebenswert ist. Die
nachfolgenden Generationen haben ein Recht auf
wirtschaftliche Entwicklung, sozialen Wohlstand
und eine intakte Umwelt.
Deshalb hat sich die christlich-liberale Koalition in ihrem Koalitionsvertrag zur sozialen Marktwirtschaft als
der zentralen wirtschaftspolitischen Leitlinie bekannt.
({1})
Dieses Erfolgsmodell hat uns über Jahrzehnte wirtschaftlichen Erfolg, Wohlstand und auch soziale Sicherheit gebracht. Das Wirtschafts- und Sozialmodell der sozialen Marktwirtschaft ist nicht von ungefähr gerade in
den letzten Jahren ein Exportschlager geworden. Deshalb bildet dieses Erfolgsmodell die Leitplanken für die
Arbeit in dieser Enquete-Kommission. Das muss so sein.
Wirtschaft, Marktwirtschaft und soziale Marktwirtschaft brauchen Regeln, und das besonders in einer
Weltwirtschaft, in der sowohl riesige Absatzmärkte wie
auch neue Marktteilnehmer - teils mit Standorten, an denen billig produziert wird - hinzugekommen sind. Es ist
richtig: Wir stehen insgesamt vor großen Herausforderungen: die allgemeine Wirtschaftsentwicklung, die
Finanzmärkte, die demografische Entwicklung, die Staatsverschuldung und auch die Auswirkungen des Klimawandels. Herausforderungen sind aber dazu da, sich ihnen zu stellen, und das nicht mit Ängstlichkeit und auch
nicht mit ideologischen Scheuklappen.
({2})
Der Einsetzungsauftrag der Enquete-Kommission stellt
die richtigen Fragen: Wie definieren wir Wachstum,
Wohlstand, Wohlstandsperspektiven? Wie muss die
Wettbewerbsposition unserer deutschen Unternehmen
auf den Weltmärkten in der Zukunft sein? Wie entkoppeln wir wirtschaftliches Wachstum mittels technischen
Fortschritts vom Ressourcenverbrauch?
Wir, die Union, definieren Wachstum längst nicht
mehr quantitativ. Es geht nicht um Produktmengen, es
geht um Qualität und ihren Wert. Wir werden gerade mit
Blick auf die junge Generation weiterhin ein qualitatives
Wachstum brauchen. Wer daran zweifelt, der soll sich
nur zwei Herausforderungen stellen, nämlich der demografischen Entwicklung und der Staatsverschuldung. Daran wird deutlich, dass wir weiterhin qualitatives Wachstum brauchen.
({3})
Wir brauchen Wachstum; ein wirtschaftliches Wachstum, das Beschäftigung fördert, ein wirtschaftliches
Wachstum, das den Sozialstaat sichert und finanziert,
und ein wirtschaftliches Wachstum, das unsere Schöpfung bewahrt. Gerade Letzteres ist für uns eine sehr hohe
politische Verpflichtung. Unser ambitioniertes Energiekonzept bis 2050 ist ein Beispiel dafür. Bei allem Streit,
den wir über energiepolitische Fragen führen, bleibt der
Fakt, dass in den letzten 20 Jahren bereits eine Entkopplung zwischen Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch eingetreten ist. Diese Entwicklung muss und
wird sich in den nächsten Jahren noch gravierend verbessern.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die großen Herausforderungen sind beschrieben: die Wirtschaftsentwicklung, die Finanzmärkte, die demografische Entwicklung, das Thema Klimawandel und viele soziale
Fragen. Die Enquete-Kommission sollte ihren Auftrag
auch dazu nutzen, deutlich zu machen, dass die Menschen keinen Anlass haben, ängstlich in die Zukunft zu
blicken. Wir sollten einen optimistischen Blick nach
vorn haben. Unser Land Deutschland ist stark, und wir
können mit unseren Partnern in Europa und in der Welt
diese großen Aufgaben mit Optimismus angehen.
Wir, die Union, stehen für Wohlstand, nachhaltiges
Wirtschaften, gesellschaftlichen Fortschritt und Bewahrung der Schöpfung; und all dies auf den Grundlagen der
sozialen Marktwirtschaft. In diesem Sinne wünschen wir
der Enquete-Kommission viel Erfolg. Schon jetzt richte
ich ein Wort des Dankes und des Respekts an all diejenigen, die sich in dieser Enquete-Kommission mit viel Zeit
und Engagement einsetzen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Peter Friedrich für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, der Zeitpunkt, zu dem sich der Bundestag entschließt, eine solche Enquete-Kommission einzurichten, ist mit Sicherheit kein Zufall. Wir diskutieren zu
einem Zeitpunkt über Wachstum, an dem wir zwar eine
konjunkturelle Erholung feststellen, gleichzeitig aber
auch feststellen, dass die Krisen der letzten Jahre tiefe
Spuren hinterlassen haben. Es herrscht eine Vertrauenskrise in Bezug auf unsere Demokratie. Wir alle können
dies als Politiker und als Abgeordnete tagtäglich in unseren Wahlkreisen beobachten und nachvollziehen.
Es herrscht aber auch eine massive Vertrauenskrise in
Bezug auf unsere Wirtschaft und auf unsere volkswirtschaftlichen Entscheidungswege, die Art und Weise, wie
Entscheidungen zustande kommen, und welche Auswirkungen sie zeitigen.
Es herrscht im Übrigen auch - auch das gehört zu den
Themen einer Enquete-Kommission - ein Vertrauensverlust gegenüber der Wissenschaft. Es ist nicht nur einmal
über die Prognosefähigkeit unserer Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft gesprochen worden. Deshalb muss in der Enquete-Kommission auch die Frage
eine Rolle spielen, welche Instrumente neben dem BIP
und welche Wege zur Erkenntnis wir in der Frage haben,
wie sich Wachstum vollzieht und wie wir diese Form
von Wachstum, die wir wollen, nämlich ein wertvolles
Wachstum und solidarischen Fortschritt, bewertet und
auch vermittelt bekommen.
Wir können also feststellen: Wir tun dies zu einem
Zeitpunkt, wo es, bezogen auf unser bestehendes Wirtschafts- und Wohlstandsmodell, einen tiefgreifenden
Vertrauensbruch gibt. Über zwei Drittel der Deutschen
haben Zweifel daran, dass ihre Lebensqualität steigt,
wenn die Wirtschaft wächst.
Wenn wir das verändern wollen, wenn wir verhindern
wollen, dass unsere Wirtschafts- und Lebensweise ihren
Kredit in der Bevölkerung verspielt, wenn wir es also
hinbekommen wollen, dass Wachstum und Fortschritt,
also unsere Volkswirtschaft insgesamt, auch wieder mit
dem Volk versöhnt werden, dann brauchen wir eine Debatte darüber, wie wir dieses Modell gemeinsam neu definieren können. Es darf nicht nur um die Ausrichtung
auf Gewinnmaximierung gehen, sondern es muss auch
darum gehen, wie Lebensqualität, Zufriedenheit, auch
Glück, Herr Solms, Umwelt- und Ressourcenschutz sowie soziale Sicherheit gleichberechtigt eine Rolle spielen können. Die Frage ist also, welche Wege des Wirtschaftens wir beschreiten wollen.
Wir haben vor und in der Finanzkrise erlebt, dass
manches, was uns als Wachstum gefreut hat, sich in
Wahrheit als Luftschloss herausgestellt hat. Wir mussten
feststellen: Auch wenn das BIP wuchs, wuchsen keineswegs die Sicherheit und die Zufriedenheit der Menschen. Wir haben ein Wachstum erlebt, das von Gier und
Egoismus, anstatt von den Werten unserer Gesellschaft
und übrigens auch unserer Verfassung, unseres Grundgesetzes, getrieben war.
Dem wollen wir als SPD das Ziel eines wertvollen
Wachstums entgegensetzen. Es wurde schon viel darüber gesprochen: Nicht immer dann, wenn das BIP
steigt, ist damit auch wirklich Fortschritt verbunden.
Nicht jede Renditesteigerung bedeutet tatsächlich auch
Wohlstandssteigerung. Deswegen werden gerade wir als
SPD uns intensiv mit der Frage beschäftigen, welche
Perspektive Arbeit und Teilhabe haben, wenn wir über
andere Formen und neue Wege des Wachstums sprechen. Wir wollen dafür streiten, dass es Löhne gibt, von
denen man leben kann, dass es Arbeit gibt, die nicht
krank macht, dass es familienfreundliche Arbeitsbedingungen gibt sowie gleiche Löhne für Frauen und Männer. Es muss Schluss sein mit der Ausbeutung der Jüngeren, der Heranwachsenden auf dem Arbeitsmarkt. Es
muss Ausbildungs- sowie Arbeitsplätze für Ältere geben. Das alles brauchen wir - der demografische Wandel
ist schon angesprochen worden -, wenn Wachstum, über
das wir in der Enquete-Kommission reden werden, bei
den Menschen ankommen soll. Es gilt also, nicht nur die
Arbeit wertzuschätzen, sondern auch die Personen, die
Menschen selbst, die diese Arbeit verrichten.
Wenn wir uns anschauen, welche Zustände es in
Niedriglohnsektoren zum Teil gibt, wenn wir erkennen,
dass mancher ökonomische Fortschritt, manche Innovation zur Verschlechterung von Arbeits- und Lebensbedingungen derjenigen führt, die Teil dieses Prozesses
sind, am unteren Ende der Wertschöpfungskette sozusagen, dann stellen wir fest: Wachstum, das mit einer Verrohung auf dem Arbeitsmarkt verbunden wird, ist nicht
zukunftsfähig.
Für uns Sozialdemokraten war Arbeit ein Faktor bei
der Gründung unserer Partei. Sie ist elementarer Teil unseres Selbstverständnisses. Aber Arbeit ist trotzdem
nicht alles. Sie ist Teil eines größeren Ganzen. Dazu gehören auch die Familie, das Leben allgemein, Hobbys,
Freizeit und Ehrenamt. Es geht also auch darum, zu klären: Wie können wir Wachstum erreichen und gleichzeitig die Arbeit mit den Freiheiten, die die Menschen für
sich wollen, mit den Lebensstilen, die sie wählen, miteinander in Einklang bringen?
Es schadet Mensch und Umwelt, wenn wir einen Status nur darüber definieren, welches Maß an Ressourcenverbrauch wir uns leisten können. Es schadet dem Zusammenhalt von Familie und Gesellschaft, wenn Arbeit
nur darüber definiert, wie viel Zeit in Leistung umgesetzt wird. Beides ist kein Zukunftsmodell.
Deswegen geht es in dieser Enquete-Kommission um
eine Debatte um Lebensstile und Lebensziele. Es geht
darum, wie wir wirtschaftliches Wachstum, ökologische
Nachhaltigkeit sowie Lebensziele und Lebenszwecke
miteinander verbinden können, sodass sich die Menschen dem Wachstum gewachsen fühlen.
Eine der zentralen Fragen, die wir dabei berücksichtigen müssen, ist übrigens - sie ist bisher nur knapp angesprochen worden, nämlich von Frank-Walter Steinmeier die Frage der Demokratie. Es muss uns gelingen, in dieser Enquete-Kommission auch darüber zu diskutieren,
welche Wege wir in der Politik finden, neue Wachstumspfade in der Bevölkerung zu verankern und die Bevölkerung auf diesem Weg mitzunehmen.
Wir haben nicht nur Ökologie und Ökonomie miteinander zu versöhnen und dem Ganzen auch eine soziale
Dimension zu geben. Vielmehr geht es auch um die
Frage der Demokratie und den Kampf um das Primat der
Politik, damit die Politik in einem demokratischen Verfahren die entscheidenden Faktoren bei der Entwicklung
von Ökonomie mitbestimmen kann. Wenn es uns nicht
gelingt, die Frage des Primats der Politik im Rahmen der
Demokratie ins Zentrum der Debatte um neues Wachstum zu stellen, dann werden wir vielleicht über Zukunftsmärkte reden; aber wir werden keine Zukunftsfähigkeit für die Menschen in diesem Land erreichen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, der Kollege Friedrich überdehnt den Auftrag der
Enquete-Kommission. Wenn man meint, alle Probleme
dieses Landes in der Enquete-Kommission diskutieren
zu können, dann wird diese Kommission nie zu einem
Ende kommen.
Wenn es um nachhaltiges Wirtschaften geht, müssen
wir uns auf das konzentrieren, was der Nachhaltigkeitsbegriff im Besonderen umfasst, nämlich das Thema Generationengerechtigkeit. Ja, da geht es um Umwelt und
Klima; es geht aber auch um Bildung und Forschung,
um die Schuldenkrise in Europa und in Deutschland, um
Fehlanreize im Finanzsystem, die wir alle erlebt haben,
und ebenso um die Krise der Sozialversicherungssysteme, die im Rahmen des Umlagesystems insbesondere
diejenigen unterstützt haben, die hier die größten Veränderungen anmahnen.
Wir brauchen ökologische Leitplanken für das Wirtschaften. Sie sind notwendig, insbesondere bei den natürlichen Ressourcen, die nicht erneuerbar sind. Arten,
die ausgestorben sind, werden nie wiederkommen. Aber
wir müssen auch sehen, dass es ökologische Fragen gibt,
bei denen es um den optimalen Weg geht, um den Ausgleich zwischen ökologischen und ökonomischen Zielen. Es geht um die Lebensbedingungen der Kinder- und
Enkelgeneration. Da sind wir uns, glaube ich, einig.
Aber ich muss als Liberaler die Frage stellen: Wer entscheidet eigentlich was? Ich denke, wenn es um verantwortliches Wachstum geht, dann ist zunächst einmal der
Einzelne gefragt, und das gilt auch für die Selbstverantwortung der Wirtschaft. Diese taucht in Ihren Modellen
kaum auf. Dahinter folgen ökonomische Anreize des
Staates, und erst ganz am Schluss können wir über Gebote und Verbote des Staates für dann immer noch ungelöste Probleme reden, aber nicht anders herum.
({0})
Nachhaltiger Konsum ist ein wichtiges gesellschaftliches Thema. Aber ich bestehe darauf, dass es eben ein
gesellschaftliches Thema ist. Der Staat ist nicht Vormund der Bürger, auch nicht im Auftrag der Nachhaltigkeit.
({1})
Ich möchte Ihnen zwei Beispiele geben: Ich habe
mich entschieden, kein Auto zu haben. Ich fahre im
Wahlkreis mit Bus und Bahn. Aber ich weiß, dass es
Menschen gibt, die nicht in der Großstadt, sondern auf
dem Land wohnen, wo die Bedingungen anders sind. Ich
weiß, dass es auch Menschen gibt, die anders leben wollen. Ich möchte nicht ihnen allen vorschreiben, dass sie
ebenfalls ihr Auto abschaffen.
({2})
Schon gar nicht möchte ich, dass der Staat versucht, sie
auf diese Weise zu beeinflussen.
Das zweite Beispiel: Ich kaufe gerne Biotomaten und
Biokäse. Aber auch hier - einmal abgesehen davon, dass
das für mich keine Glaubensfrage ist - möchte ich anderen Menschen nichts vorschreiben, in diesem Fall, dass
sie nur von Ökolandbau leben dürfen. Das ist, glaube
ich, der entscheidende Unterschied, auch zu den Grünen:
Sie wollen nämlich, dass am Ende alle so leben, wie Sie
es für richtig halten.
({3})
Ich möchte, dass jeder und jede so leben kann, wie er
oder sie es für richtig hält, und dass wir gemeinsam in einen Dialog über den richtigen Weg für dieses Land eintreten.
({4})
Der Kollege Friedrich hat von Lebenszielen und Lebenszwecken gesprochen und gleich danach gesagt: Wir
brauchen das Primat der Politik. - Nein, ich möchte
kein Primat der Politik über Lebensziele und Lebenszwecke von Menschen. Da ist die ureigene, persönliche
Entscheidung von Menschen gefragt. Hier ist die Trennlinie zwischen den vermeintlich Liberalen, die sich nur
so nennen, und den tatsächlich Liberalen. Es geht nämlich um die Freiheit des einzelnen Menschen.
({5})
Meine Damen und Herren, Innovation und Technik,
das sind die wirklichen Schlüssel zu einer Effizienzrevolution in diesem Land. Nur mit einer Effizienzrevolution werden wir es schaffen, wirtschaftliches Wachstum und Ressourcenverbrauch noch weiter zu
entkoppeln. Die Industrie hat hier in den letzten Jahren
erhebliche Erfolge erzielt, durch die Einführung der
Kreislaufwirtschaft und durch Energieeinsparungen.
Wir, die christlich-liberale Koalition, gehen mit unserem
Energiekonzept bei der Steigerung der Energieeffizienz
und beim Ausbau der erneuerbaren Energien weiter als
jede Bundesregierung zuvor.
({6})
Chancen durch Effizienz, nicht durch Verzicht: Das
ist ein Punkt, der uns erneut von den Grünen unterscheidet. Sie sind immer skeptisch, wenn es um neue Technologien geht; wir nutzen die Chancen und Hoffnungen,
die mit diesen Technologien verbunden sind.
({7})
Wohlstandsindikatoren neben dem Bruttoinlandsprodukt sind wichtig: Wir brauchen qualitative Indikato8424
ren, die unsere Wachstumssicht beeinflussen. Diese
neuen Indikatoren können den Indikator des Bruttoinlandsprodukts ergänzen, aber nicht ersetzen. Denn alle
qualitativen Indikatoren sind anfällig für politische Willkür: Wer legt die Kriterien fest? Wer gewichtet sie? Wer
misst sie? - Ich erinnere deshalb daran: Im Zusammenhang mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie wurde
bereits ein Indikatorensystem entwickelt. Ich würde
mich freuen, wenn die Enquete-Kommission diese Arbeit, die in diesem Land bereits geleistet worden ist, in
ihre Arbeit einfließen lassen würde.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
jedem Jahr wird verkündet, zu welchem Zeitpunkt keine
erneuerbaren Rohstoffe mehr zur Verfügung stehen, weil
die Menge, die ein Planet in jedem Jahr zur Verfügung
stellen kann, bereits verwendet worden ist. Das entsprechende Datum wird vom Global Footprint Network ermittelt. In diesem Jahr treiben wir schon seit dem
21. August Raubbau an der Erde.
Aus diesem Grund unterstützt auch die Linke ausdrücklich die Einsetzung einer Enquete-Kommission
zum Thema Wachstum. Es muss aber klar sein - ich
möchte hier warnen -: Die Nachhaltigkeits- und
Wachstumsdebatte ist im Kern ökologisch; denn es
geht - das wurde schon gesagt - um die Grenzen unseres
Umweltraumes. Diese Grenzen werden permanent überschritten, sei es durch die Belastung mit Treibhausgasen
oder den Verbrauch von nicht erneuerbaren Ressourcen.
Deshalb ist es eine zentrale Frage, ob es qualitatives
Wachstum - also Wachstum ohne zusätzlichen Ressourcenverbrauch - tatsächlich dauerhaft geben kann oder ob
dies nur eine gefährliche Illusion ist.
({0})
Ich sage Ihnen: Ich tendiere eher zu Letzterem. Denn ich
glaube, es ist notwendig, den Verbrauch von Ressourcen
auf 20 Prozent des heutigen Verbrauchs zu reduzieren.
({1})
Ich glaube deshalb nicht, dass wir den Problemen gerecht werden, wenn wir uns in erster Linie um einen
neuen Wohlstandsindikator oder um eine neue Unternehmenskultur kümmern. Ich befürchte, dass uns solche Debatten nutzlos Zeit kosten werden, Zeit, die uns fehlen
wird, um an den wirklichen ökologischen, sozialen und
ökonomischen Herausforderungen bei diesem Problem
zu arbeiten.
Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass das Modell
einer Wachstumsgesellschaft, die global - auch in diesem Land - ohnehin Wohlstand nur für wenige bringt,
dafür aber Armut und Abhängigkeit für viele, aus ökologischen Gründen am Ende ist, dann stellen sich jede
Menge unbequemer Fragen, nicht nur an Systemgläubige, sondern auch an Grüne, Linke oder Gewerkschaften: Ist der Kapitalismus überhaupt in der Lage, auf
Wachstum zu verzichten,
({2})
oder braucht er das Wachstum? Ist der Drang nach Profitmaximierung nicht der Motor und Schmierstoff des
Wachstums? Wie drosselt man einen solchen Motor?
Sollten wir ihn drosseln können und wollen? Wie wären
die sozialen Auswirkungen zu stemmen?
({3})
Schließlich wären gravierende Strukturbrüche zu erwarten.
Diese Strukturbrüche erfordern eine mutige Politik
der Verteilung von oben nach unten,
({4})
höchstwahrscheinlich in einem Ausmaß, das wir uns
heute gar nicht vorstellen können. Einen zarten Vorgeschmack auf das Ausmaß der Strukturbrüche bekommt
man beim Thema energetische Gebäudesanierung. Sie
ist ökologisch unverzichtbar, aber zunächst ziemlich
teuer. Die Bundesregierung will die Kosten für die energetische Gebäudesanierung auf die Menschen abwälzen,
sodass Warmmieten unter Umständen drastisch steigen
könnten; aber das wollen die Leute natürlich nicht. Das
ist übrigens ein Grund, warum der Entwurf eines Klimaschutzgesetzes in Berlin gerade gescheitert ist.
Zudem steht die Frage im Raum, wie sich Beschäftigung künftig organisieren lässt, wenn die Produktivität
steigt, das Wachstum aber ausbleibt. Das geht wahrscheinlich nur über eine drastische Umverteilung von
Arbeit und Einkommen, und zwar in einer Dimension,
die dieses profitorientierte Gesellschaftssystem eindeutig überfordern wird.
Es gibt also genügend Fragen. Aus diesem Grund haben wir einen Antrag eingebracht. Wir fanden eigentlich
auch den ursprünglichen Antrag von SPD und Grünen
gut, aber wir finden es schade, dass Sie nicht den Mut
hatten, mit uns gemeinsam einen Antrag einzubringen.
Wieder einmal haben Sie von SPD und Grünen sich mit
CDU/CSU und FDP quasi zu einer Großen Koalition zusammengetan. Das tut uns leid.
Das wird eine spannende Debatte. Es gibt viel zu
streiten. Packen wir es an!
({5})
Das Wort hat nun Bärbel Höhn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
wollen heute eine Enquete-Kommission „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität“ initiieren. Herr Kauch, das
Wort „Enquete“ steht für Befragung. Es geht darum, Fragen zu stellen. Es geht nicht darum, die ideologischen
Sprüche, die wir immer hören, hier hinauszuposaunen,
({0})
sondern darum, uns selbst und unsere Positionen infrage
zu stellen und offen zu sein für die Fragen und Positionen der anderen.
Ich finde es spannend, dass wir die Begriffe Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität genommen haben
und den Begriff Wachstum an den Anfang gesetzt haben. Ich finde es gut, dass die Kollegen Solms und
Kaster sehr intensiv auf den Begriff Wachstum eingegangen sind. Für mich scheint dieser Begriff der entscheidende und der spannende zu sein. Unabhängig davon, dass man natürlich nicht immer alle Positionen
teilen muss, ist es interessant, zu sehen, dass wir momentan intensiv über die Notwendigkeit von Wachstum,
aber durchaus auch über die Grenzen von Wachstum diskutieren. Zwischen diesen Punkten müssen wir einen
Spagat hinbekommen. Das macht diese Enquete-Kommission so spannend.
Der Begriff Wachstum ist gerade in der jetzigen Phase
ein sehr aktueller Begriff. Wenn wir uns die Finanzkrise
anschauen, stellen wir fest, dass das Streben nach mehr
Profit und mehr Wachstum die gesamte Weltwirtschaft
an die Grenze des Abgrunds gebracht hat. Das müssen
wir uns klarmachen. So kann das nicht bleiben. Da muss
sich etwas ändern.
Oder nehmen Sie zum Beispiel die Klimakrise: Die
Klimakrise kann unsere Lebensgrundlage vernichten.
Sie kann all das vernichten, was wir brauchen, um überhaupt leben zu können. Auch hierzu sage ich: Ein
Wachstum um des Wachstums willen darf es nicht geben.
({1})
Sehen wir uns zum Beispiel die Ressourcenverknappung an: Wir haben eben von den Tiefseeölbohrungen
gehört. Man dringt in immer tiefere Tiefen vor, um überhaupt noch an Öl zu kommen. Bestimmte Produkte erzielen aufgrund der Ressourcenverknappung inzwischen
sehr hohe Preise. Das macht doch deutlich: Auf einer begrenzten Erde kann es kein unbegrenztes Wachstum geben. Deshalb müssen wir zu einer ganz anderen Diskussion kommen.
({2})
Es gibt also gute Gründe, Wachstumsversprechen und
Wachstumsziele kritisch zu hinterfragen. Eine der Fragen der Enquete-Kommission wird sein: Wie viel und
welches Wachstum können wir uns leisten? Diese Frage
müssen wir beantworten.
Auf der anderen Seite gibt es das bestehende Gesellschaftssystem, aus dem immer wieder die Notwendigkeit des Wachstums für den Staatshaushalt und die Sozialsysteme abgeleitet wird. Da herrscht praktisch ein
Wachstumszwang. Die Kanzlerin Angela Merkel hat das
vor ungefähr einem Jahr mit den Worten beschrieben:
Ohne Wachstum ist alles nichts.
Aus diesem Wachstumszwang müssen wir uns lösen;
denn was heißt das für eine Gesellschaft, die eine demografische Entwicklung wie die unsere hat, für eine Gesellschaft, in der die Zahl der Menschen sinkt? Was heißt
das für die Sozialsysteme? Es geht doch gerade darum,
Lösungen zu finden, mit denen auch ohne Wachstumszwang die Sozialsysteme in diesem Land sicher sind.
Auch darum geht es bei dieser Enquete-Kommission.
({3})
Die Entkoppelung der ökologischen Seite, der Ressourcen vom Wachstum ist natürlich ganz wichtig. Auch
da müssen wir fragen: Werden die Effizienzgewinne
nicht wieder aufgebraucht? Natürlich sind wir effizienter
geworden, zum Beispiel bei der Stromproduktion, aber
diese Effizienzgewinne werden ganz häufig durch mehr
Begehrlichkeiten aufgefressen. Der neue Kühlschrank
wird in die Küche gestellt und der alte Kühlschrank läuft
im Keller weiter. Das führt am Ende zu mehr Stromverbrauch. Es geht also auch darum, zu fragen: Können wir
eine Entkopplung vom Wirtschaftswachstum erreichen,
und wie können wir dies schaffen?
Müssen wir nicht zum Beispiel auch Fragen nach der
Lebensqualität, dem Lebensstil und den Konsummustern stellen? Das heißt, wir müssen Wohlstand definieren. Wir müssen danach fragen, wie wir Lebensqualität
für die Menschen definieren können, wenn wir Ökologie
vom Wachstum abkoppeln. Wir haben also viele Fragen
an diese Enquete.
Ich möchte zum Schluss meiner Rede an eine Enquete
erinnern: die Enquete „Schutz der Erdatmosphäre“. Sie
hat in diesem Bundestag Großes geleistet. Sie hat Ergebnisse erzielt, durch die national wie international viel
verändert wurde. Ich wünsche dieser neuen Enquete,
dass ihre Mitglieder ähnlich viel Weitsicht und Weisheit
haben und dass sie genauso erfolgreich sein wird. Wir
als Grüne werden versuchen, unseren Beitrag dazu zu
leisten.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat Matthias Heider für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Höhn, es gibt in
der Tat einen kritischen Ansatz für die Untersuchung,
die wir durchführen wollen. Ich habe aber das Gefühl,
dass wir unserem Ziel nicht näherkommen, wenn wir
aufgrund der jüngsten Erfahrungen auf den Finanzmärkten in einen allgemeinen Marktpessimismus verfallen.
Wir würden damit gleichzeitig auch all diejenigen
Marktteilnehmer, zum Beispiel Mittelständler und Familienunternehmer, in Mithaft nehmen, die nicht zu diesen
Verwerfungen auf den Finanzmärkten beigetragen haben. Deshalb fände ich es sehr gut, wenn wir uns in dieser Diskussion um eine große Differenzierung bemühen.
Grundsätzlich ist es erfreulich, dass wir zu einem fast
fraktionsübergreifenden Antrag gekommen sind. Es geht
um ein wichtiges Thema. Es liegt an uns, Schrittmacher
in diesem Diskurs abseits der parlamentarischen Tagesarbeit zu sein. Die Konferenz von Rio im Jahr 1992 hat
den Impuls für die gemeinsame weltweite Anstrengung
zur nachhaltigen Entwicklung gegeben. Weitere internationale Konferenzen sind ihr gefolgt. Sie alle hatten eigene Schwerpunkte, etwa Stadtentwicklung, Ernährung
und Demografie; das sind nur einige Beispiele.
In der Zwischenzeit haben sich auch die Grundlagen
unseres EU-Vertrages verändert. Sie sind fortgeschrieben worden. In Art. 3 des EU-Vertrages wird die Wirtschaftsverfassung des Binnenmarktes in der Europäischen Union beschrieben. Darin enthalten sind die Ziele:
nachhaltige Entwicklung Europas, ein ausgewogenes
Wirtschaftswachstum, Preisstabilität, eine wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung und
sozialer Fortschritt, ein hohes Maß an Umweltschutz,
Verbesserung der Umweltqualität, die Förderung des
wissenschaftlichen und technischen Fortschritts.
Sie sehen: Dies ist eine umfassende Beschreibung all
der Themen, die auch in unserem Antrag genannt sind.
Im Mittelpunkt der Beschreibung, die ich gerade genannt habe, steht die soziale Marktwirtschaft. Ich bin
sehr froh, dass wir in der Europäischen Union diese Errungenschaft ausdrücklich - im Übrigen über den Text
unseres Grundgesetzes hinaus - in den Verfassungstext
aufgenommen haben. Soziale Marktwirtschaft beinhaltet
Freiheit, Verantwortung, Eigentum, aber auch sozialen
Ausgleich. Mit der sozialen Marktwirtschaft haben wir
den idealen Ordnungsrahmen, um den im Antrag genannten Aufgabenkatalog zu bewältigen. Es gilt, um es
mit den Worten von Alfred Müller-Armack zu sagen, das
Prinzip der Freiheit mit dem des sozialen Ausgleiches zu
verbinden. Die Herausforderungen unseres politischen
Handelns in den Jahren vor der nächsten Rio-Konferenz,
die ja 2012 stattfinden wird - Rio-20-plus ist das Schlagwort -, sind eher größer und die Entscheidungen noch
dringlicher geworden. Ressourcenverbrauch, demografischer Wandel, Klimawandel, Staatsverschuldung, Finanzmarktreformen und Biodiversität - all diese Punkte
berühren unsere Lebensgrundlagen. Sie berühren aber
auch die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns.
({0})
Wachstum und Wohlstand sind tragende Bestandteile unserer wirtschaftlichen Ordnung. Es kann dieser
Enquete-Kommission deshalb nicht darum gehen, das
bewährte Modell der sozialen Marktwirtschaft zur Disposition zu stellen. Ebenso wenig erscheint es mir sinnvoll, hier kleinteilige staatliche Mechanismen zu entwerfen oder gar einfach Leitplanken des Wohlbefindens
aufzustellen. Es gilt einfach, Wachstum, Wohlstand und
Lebensqualität in einen aktuellen Beziehungsrahmen zu
setzen.
({1})
Ziel muss es sein, meine Damen und Herren, die Ansätze eines nachhaltigen Wirtschaftens im Rahmen der
sozialen Marktwirtschaft zu stärken. Dazu gehört insbesondere die Betrachtung des Ressourcenverbrauches als
Grenze und des technischen Fortschritts als Triebfeder
für Wachstum und Wohlstand. Diese Zusammenhänge
zu beschreiben, ist in der Tat nicht einfach. Ich finde,
Aufgabe der Enquete muss es deshalb sein, diese Fragen
zu stellen. Das heißt: Wie bewerten wir die Entwicklung
von Produkten, die Produktion und den Konsum unter
Lebenszyklusbetrachtungen? Wie wirkt sich der Ressourcenverbrauch auf die soziale Sicherung und auch auf
die Lebensqualität aus? Wie können wir unseren Emissionsfußabdruck verkleinern? Wie erhalten wir Entscheidungsspielräume auch für die nächste Generation,
für unsere Kinder? Der Kollege Kaster hat es schon angesprochen: Wie bewahren wir die Schöpfung? Wie tragen wir zur Bewahrung der Schöpfung bei?
({2})
Mit all diesen Fragen wird an unsere sozialen und wirtschaftlichen Kompetenzen, unsere technischen Fähigkeiten und unser ökologisches Bewusstsein appelliert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist - ich sage
das am Schluss dieser kurzen Betrachtung - ein sehr ambitioniertes Programm. Unsere Geschäftsordnung sieht
vor, dass wir eine solche Kommission zur Vorbereitung
von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutende
Sachkonflikte einsetzen. Dem haben wir mit dem Text
des Einsetzungsantrags vielleicht schon mal Rechnung
getragen; aber der Erfolg wird sich letztendlich daran
messen lassen, was wir aus dieser so umfassenden Bandbreite an aufgeworfenen Themen als greifbare und belastbare Ergebnisse tatsächlich mitnehmen.
Ich freue mich deshalb mit Ihnen zusammen auf eine
intensive und gute Beratung und wünsche uns allen dabei eine gute Zusammenarbeit und vor allen Dingen
nachhaltige Erkenntnisse.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kollegen und Kolleginnen! In
Deutschland und vielen anderen Industriestaaten haben
wir mittlerweile ein beachtliches Maß an LebensqualiDaniela Kolbe ({0})
tät - durch technologischen Fortschritt, Wirtschaftswachstum und die Arbeit von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern - erreicht.
({1})
Immer mehr Menschen zweifeln jedoch daran, dass ein
Mehr an Wirtschaftswachstum auch ganz automatisch zu
einem Mehr an Lebensqualität für sie und ihre Mitmenschen führt. Nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung sehen 61 Prozent der Befragten diesen Zusammenhang nicht mehr, und zwar nicht zuletzt wegen der
Erfahrungen aus dem Aufschwung direkt vor der Wirtschafts- und Finanzkrise, der bei den Menschen viel zu
wenig ankam, und wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise selbst. Damit nicht genug: Auch die drohende Klimakatastrophe stellt die reine Fixierung auf numerisches
Wachstum infrage. Das BIP eines Landes wächst, wenn
die Menschen im Stau stehen und der Motor läuft. Dabei
wird Benzin verbrannt. Es wächst auch, wenn Milliarden
dafür ausgegeben werden, um Umweltkatastrophen wie
nach der Explosion der „Deepwater Horizon“ einzudämmen.
Einen Wohlstand, der durch Umweltschädigung oder
hohe Staatsverschuldung erkauft wird, lehnen jedoch
mehr als 80 Prozent der Bevölkerung ab. Ich wiederhole:
mehr als 80 Prozent.
({2})
Daran, dass die Steigerung des BIP die alleinige
Richtschnur des politischen Handelns sein sollte, zweifeln viele Menschen zu Recht. Dem BIP einen zweiten
Indikator für solidarischen Fortschritt zur Seite zu stellen, das ist ein Ziel der Enquete-Kommission, die wir
heute gemeinsam einsetzen wollen. Das BIP reicht nicht
mehr aus, um Wohlstand und Lebensqualität angemessen darzustellen. Es greift zu kurz. Was ist mit sozialer
Teilhabe, Bildung, Gesundheit, Sicherheit, Umwelt und
guter Arbeit? Auch diese Faktoren bilden das Wohlstandsniveau einer Gesellschaft ab.
({3})
Wir stehen mit der Diskussion, die wir heute führen,
nicht allein. In der OECD und der EU, aber auch in Nationalstaaten wie in Frankreich und den USA, überall
wird umfassend geforscht und hochkarätig politisch diskutiert. Es ist unabdingbar, dass auch wir im Deutschen
Bundestag uns diesem Thema zumindest für den Rest
dieser Legislaturperiode widmen. Die Frage nach einem
neuen, wertvollen Wachstum für mehr Lebensqualität zu
beantworten, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Sie ist kein Nischenprojekt für einen akademischen Zirkel oder eine einzelne Partei. Sie ist die wesentliche
Frage, die wir uns als politische Akteure jeden Tag neu
stellen sollten.
({4})
Nur dann, wenn wir gemeinsam zeitgemäße Maßstäbe entwickeln, was wir unter einem solchen Wachstum und unter solidarischem Fortschritt verstehen und
wie wir ihn messen wollen, können wir erfolgreich sein.
Denn die Vereinbarungen darüber, wie unsere Art des
Wirtschaftens aussehen soll und an welchen Erfolgsmaßstäben wir unsere Wirtschaftspolitik in Zukunft
messen wollen, können wir nicht alle vier Jahre über den
Haufen werfen. Die Arbeit dieser Enquete-Kommission
muss also langfristig Bestand haben.
({5})
Ich erhoffe mir von dieser Enquete-Kommission eine
konstruktive und sachorientierte Arbeit, die in tragfähigen Ergebnissen mündet. Die bisherigen Beiträge und
der prominente Platz dieser Debatte stimmen mich positiv und lassen mich auf eine engagierte und auch durchaus kontroverse Debatte hoffen. Die Ergebnisse, die wir
erzielen können, sind weit mehr als nur ein akademisches Lehrwerk. Wir haben das Potenzial, Leitfäden für
die Gestaltung der Wirtschafts-, Umwelt- und Sozialpolitik zu erarbeiten, um den Herausforderungen der Industriegesellschaft des 21. Jahrhunderts, das heißt in
Zeiten von Globalisierung und Klimawandel, gerecht zu
werden.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Neue Kennzahlen zu entwerfen, entbindet uns nicht von der Pflicht,
die klassischen Herausforderungen der Wirtschaftspolitik zu bewältigen. Eine ökonomische Depression kann
man nicht mit einem neuen Indikator schönrechnen. Den
Aufwuchs des Bruttoinlandsproduktes aber um jeden
Preis zur alleinigen Leitschnur erfolgreicher Politik zu
machen, davon müssen wir endlich wegkommen, sehr
verehrte Damen und Herren.
({6})
Zur Unzulänglichkeit des BIP haben meine Vorredner
bereits jede Menge gesagt. Schon aufgrund der Unzulänglichkeit des BIP macht es Sinn, diesen Indikator um
einen weiteren zu ergänzen. Folglich ist es auch mitnichten so, dass wir uns vom Ziel des Wachstums entfernen
würden. Wir Sozialdemokraten werden weiter für
Wachstum arbeiten, aber für ein Wirtschaftswachstum,
das ökologisch nachhaltig ist, das global verantwortbar
ist und das bei den Menschen wirklich ankommt. Wir
wollen nicht länger dabei zusehen, dass die Statistiker
Wachstumsrekorde verkünden und die Menschen den
Aufschwung erfolglos in ihrer Lohntüte suchen.
({7})
Ob und vor allem wie unser Wohlstand aufwächst,
das ist eine zutiefst soziale Frage. Zu gesellschaftlichem
Fortschritt gehört für uns, dass alle daran teilhaben
können. Auch in Zukunft kann es also nicht darum gehen, dass die Abwesenheit von Wirtschaftswachstum als
Erfolg verbucht wird. Wir wollen allerdings ein Wachstum, das die natürlichen Grundlagen unserer Umwelt
schont und bei gleichem oder steigendem Wohlstand weniger Ressourcen verbraucht. Wir haben nur diese eine
Erde, und unsere Ressourcen sind endlich; viele sind
nicht regenerierbar. Deshalb müssen wir es ermöglichen,
mehr Beschäftigung und Wohlstand zu schaffen und
gleichzeitig weniger Rohstoffe zu verbrauchen.
Daniela Kolbe ({8})
({9})
Diese Ziele können wir nicht allein durch eine Veränderung des individuellen Konsums und des individuellen
Lebensstils erreichen, sondern dafür brauchen wir auch
den technischen Fortschritt. Ich erwarte, dass wir in
den kommenden drei Jahren der Beantwortung dieser
brennenden Fragen ein ganzes Stück näherkommen, und
freue mich wirklich sehr auf die Debatte mit Ihnen.
Vielen Dank.
({10})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
Kollegen Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Vielleicht wird“, so Theodor Adorno in seiner Minima Moralia, „die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, statt
unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen“.
Ein solcher Verzicht auf die Entwicklung technischer
Möglichkeiten, auf Wachstum, auf Fortschritt ist das
Thema vieler Utopien, von Platon über Thomas Morus
bis in die Utopien der Aufklärung hinein. Aber Utopien
sind statische Gesellschaften. Dies sind wir nicht. Wir
sind dem Wandel der Veränderung unterworfen, sei es
aus Freiheit, sei es aus den Imperativen einer technischen Gesellschaft.
Fortschritt buchstabieren wir heute nicht mehr so optimistisch wie noch vor wenigen Jahrzehnten. Die Idee
des Fortschritts ist seltsam gebrochen, seltsam eingedunkelt. Etwas verschämt spricht der Antrag von gesellschaftlichem Fortschritt, ganz so, als könne dieser mit
Blick auf die Geschichte empirisch konstatiert werden.
Ich halte das für problematisch.
Auch das Wachstum, auf das, wie es der Antrag formuliert, unser Wirtschaftswachstum ausgerichtet ist, ist uns
längst nicht selbstverständlich. Wir hinterfragen kritisch,
und viele Kollegen haben das ja auch getan: Was ist das
Kriterium für Wachstum? Ich finde es richtig, darüber
nachzudenken, ob lediglich die Kennzahl der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts ein sinnvoller Bezugspunkt ist. Ich glaube nicht, dass es unserer Lebenswirklichkeit gerecht wird, lediglich das Bruttoinlandsprodukt
hier heranzuziehen. Ich glaube auch nicht, dass das gesellschaftliche Ziel das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl, in harter materieller Verteilung gemessen, da sinnvoll ist; denn zur Lebensqualität gehört
meines Erachtens die Möglichkeit des authentischen, des
gelingenden, des guten Lebens jenseits des Konsums.
Diese reflektierende Herangehensweise ist ein Gewinn, und das Thema der Enquete-Kommission ist ein
großes, über den Tag hinausreichendes. Dabei geht es
um nicht weniger als die Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch, Technik und Natur. Längst gehört
zum Alltagswissen die Durchdringung unseres Lebens
durch technische Kategorien. Ob wir die Technik, dieses
eherne Gehäuse der Hörigkeit, jemals werden beherrschen können, wissen wir nicht. Technikphilosophen wie
Ulrich Teusch bezweifeln das.
Zu sehr hat das technische Denken auch von uns Besitz ergriffen. „Wahr ist, was der Mensch machen kann“,
so hat Benedikt XVI. diese Haltung einmal beschrieben.
Die Machbarkeit der Sachen macht auch vor der Möglichkeit einer zweiten Schöpfung und der endgültigen
Verfügbarkeit des Menschen keinen Halt. Die instrumentelle Rationalität des technischen Denkens zersetzt
die Grundlagen unseres Bildes vom Menschen und unserer Idee des guten Lebens.
Das Aufbrechen der Natur durch die Technik - Frau
Höhn hat es erwähnt - wirft die Frage auf: Wie steht es
um das Verhältnis von Mensch und Natur? Auch hier setzt
die Fragestellung der Kommission an: Wie verhindern
wir die Erschöpfung der Ressourcen durch ein bedingungsloses Wachstum? Wie entknüpfen wir den Zusammenhang von Wachstum und dem Verbrauch von Ressourcen, Umwelt- und Biokapital? Aus christlicher Sicht
sind wir allein da schon wegen des Prinzips der Nachhaltigkeit angehalten, das Ausdruck der Gerechtigkeit zwischen den Generationen ist. Wie ordnen wir in einer als
sozial und nachhaltig sich verstehenden Marktwirtschaft
diese Zielvorgaben, ohne unsere Wettbewerbsfähigkeit
fahrlässig zu gefährden?
Für mich persönlich interessant sind im Zusammenhang mit dem Auftrag an die Kommission Fragen der Arbeitsbeziehungen und der Arbeitsorganisation. Wie
sieht ein künftiger Arbeitsbegriff aus, der der Realität einer Wissensgesellschaft gerecht zu werden vermag? Wie
überwinden wir den traditionellen Konflikt von Arbeit
und Kapital? Sind hier Modelle der Mitarbeiterbeteiligung vielleicht zeitgemäßer, weil dieser Konflikt durch
sie transzendiert wird? Leben wir in dem Konfliktmodell
von Arbeit und Kapital nicht zu sehr im 19. und zu wenig
im 21. Jahrhundert? Werden durch den gesellschaftlichen
Zusammenhalt, den wir ja auch im Titel des Koalitionsvertrags beschwören, nicht auch neue Formen gemeinschaftlicher Arbeitsorganisation gefordert?
Durch die Globalisierung werden uns viele Fragen in
zugespitzter Form gestellt und wird auch auf die Notwendigkeit verwiesen, uns unseres Menschenbildes und
des Instrumentariums unserer ordnungspolitischen Vorstellungen neu zu vergewissern. Das betrifft zum einen
die Frage von Rüdiger Safranski, wie viel Globalisierung der Mensch verträgt, wo er beheimatet ist, zum anderen aber auch die sehr spannende und brennende
Frage, wie wir ordnungspolitisch auf das Phänomen reagieren, dass Prozesse im Einzelnen rational, im Ganzen
aber unvernünftig sind. Die Finanzkrise bietet reichhaltiges Anschauungsmaterial.
Meine Damen und Herren, mit der Enquete-Kommission wird die Gelegenheit eröffnet, über diese Fragen
nachzudenken und uns Auskunft darüber zu geben, wohin wir wollen und was uns als Gesellschaft wichtig ist.
Durch den Antrag werden wir aber auch aufgefordert,
nicht nur im Reich der Ideen zu verweilen, sondern auch
konkrete Fragen zu beantworten, sodass wir als Gesetzgeber diese Dinge dann praktisch angehen können.
Ich wünsche mir, dass wir den Mut haben, erste
Schritte zu unternehmen, das Verständnis von Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität konkret und neu zu
definieren oder gegeneinander zu justieren. Ich wünsche
mir, dass wir den Begriff der sozialen Marktwirtschaft
qualitativ anreichern, und ich wünsche mir, dass wir auf
die großen Fragen, die zu beantworten uns aufgegeben
ist, große Antworten finden mögen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/3853 zur Einsetzung einer
Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Enthaltung der Fraktion der Linken mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3990 zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Fraktionen der SPD und der Grünen abgelehnt.
Damit ist die Enquete-Kommission auf Grundlage
des Antrages der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3853 eingesetzt.
({0})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der gestrigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Umweltbericht 2010.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit, Norbert Röttgen. Bitte schön, Herr
Minister.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, Ihnen einige Aspekte des Umweltberichtes 2010, in dem die letzten Jahre bilanziert werden, in der Breite darlegen zu dürfen.
Es zeigt sich natürlich ein vielschichtiges Bild. Ich
möchte Ihnen hauptsächlich durch Zahlen und Ergebnisse, die ermittelt worden sind, eine repräsentative Auswahl dieser Vielschichtigkeit vorstellen und natürlich
auch auf Handlungsbedarfe hinweisen.
In diesem Umweltbericht 2010 werden Handlungsbedarfe genannt, etwa, indem darauf hingewiesen wird,
dass lediglich 10 Prozent aller Fließgewässer in Deutschland einen sehr guten oder guten ökologischen Zustand
aufweisen. Das heißt, bezogen auf die Wasserqualität besteht Handlungsbedarf.
Der gemessene tägliche Flächenverbrauch beträgt
94 Hektar. Jeden Tag wird eine Fläche von 94 Fußballfeldern versiegelt bzw. verbraucht. Das ist viel zu viel.
Unser Ziel sind 30 Hektar pro Tag.
Wir haben im Verkehrsbereich eine enorme Entwicklung zu verzeichnen. Der Güterverkehr hat zwischen
1991 und 2008 um 67 Prozent und der Personenverkehr
um 25 Prozent zugenommen. Das heißt, der Verkehrsbereich hat inzwischen einen Anteil von knapp 20 Prozent
an den klimarelevanten CO2-Emissionen in Deutschland. Das zeigt, wie notwendig und wichtig die Elektromobilität und ihre Entwicklung in Deutschland sind.
Aber genauso gibt es auch erfreuliche Entwicklungen.
In Cancún haben schon die internationalen Klimaverhandlungen begonnen. Ich werde nächste Woche mit einer Delegation des Bundestages hinreisen. Das deutsche
Ziel in der CO2-Reduktion sind 21 Prozent bis 2012. Wir
hatten im letzten Jahr bereits eine CO2-Reduktion von
über 25 Prozent zu verzeichnen. Das heißt, das nationale
Ziel ist übererfüllt.
Aber damit können wir uns nicht zufrieden zurücklehnen. Wir brauchen vielmehr ein globales Abkommen,
und wir arbeiten jetzt daran, dass in Cancún ein Paket
konkreter Entscheidungen geschnürt wird. Deutschland
ist Teil der europäischen Verhandlungsstrategie. Es gibt
keine relevante nationale, sondern nur eine europäische
Verhandlungsstrategie. Wir glauben, dass wir konkrete
Fortschritte erreichen können und damit wieder ein Prozess an Optimismus und Zuversicht gewinnt, der vor einem Jahr in Kopenhagen - mit einer Enttäuschung im
Rücken - begonnen hat und in Südafrika in einem Jahr
und auf dem Erdgipfel in Rio im Frühjahr 2012 sicherlich noch weiter vorankommen kann.
Beim Thema biologische Vielfalt, Artenschutz und
Naturschutz ist es erfreulich, dass das nationale Naturerbe als gesamtstaatlich repräsentative Naturschutzfläche des Bundes inzwischen 100 000 Hektar beträgt und
das Natura-2000-Netzwerk mehr als 15 Prozent der
deutschen Landesfläche umfasst. Erfreulich ist in diesem
Zusammenhang die internationale Entwicklung. Die Artenschutzkonferenz im japanischen Nagoya war auf der
ganzen Linie ein Erfolg. Ich glaube, darüber können wir
uns alle sehr freuen.
Ich will ein weiteres Kapitel aufgreifen: die Ressourceneffizienz. Wir haben in der Abfallwirtschaft eine Si8430
tuation erreicht, die wir auf andere Bereiche übertragen
müssen; dabei geht es um die Ablösung der Abfallproduktion vom Wirtschaftswachstum. Wir hatten in den
letzten zehn Jahren wirtschaftliches Wachstum, aber weniger Abfall. Wir haben hohe Recyclingquoten und werden wegen unseres technologisch-wirtschaftlichen Erfolges - die Europäische Union zieht jetzt mit der Richtlinie
nach - mit dem sich in der regierungsinternen Abstimmung befindlichen Kreislaufwirtschaftsgesetz weiter in
Richtung Kreislaufwirtschaft gehen und die Vorstellung,
dass Abfallpolitik sekundär Rohstoffpolitik ist, konsequent weiter voranbringen. Das ist ein Beispiel dafür, was
unser Grundverständnis ist.
Ich möchte zum Schluss einige wirtschaftliche Zahlen
aus dem Umweltbericht referieren. Denn die Entwicklung, Umwelt und Arten zu erhalten, Naturschutz zu betreiben und CO2-sparsam zu wirtschaften und zu leben,
ist unbestreitbar eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte.
Darum ist es auch wirtschaftlich geboten, unser Naturkapital zu erhalten, statt es zu verbrauchen.
Wir haben im boomenden Weltmarkt der Umwelttechnologien mit 16 Prozent die Spitzenreiterposition. Das
macht 224 Milliarden Euro aus. In den Jahren 2005 bis
2008 sind knapp 10 Prozent des gesamten Industrieproduktionszuwachses auf Umweltschutzgüter zurückzuführen. Wir haben inzwischen 1,8 Millionen Greenjobs in
Deutschland, 340 000 im Bereich der erneuerbaren Energien und 850 000 in den Umwelttechnikdienstleistungen.
Wir glauben, dass sich die Zahlen in den nächsten zehn
Jahren verdoppeln werden.
Wir sind Technologieführer, was sich auch in den Patentanmeldungen beim Europäischen Patentamt ausdrückt. Jedes vierte Patent in diesem Bereich, das vom
Europäischen Patentamt gewährt wird, stammt von einem deutschen Patentanmelder. Das ist Ausdruck der
technologischen Führung, die wir auf diesem Gebiet haben. Ich möchte das noch einmal unterstreichen. Ich
glaube, dass das ein entscheidender Ansatz ist, der durch
den Umweltbericht und die ermittelten Zahlen belegt
worden ist. Dass es keinen Widerspruch zwischen Ökologie und Ökonomie gibt, sondern dass die Verfolgung
des Ziels der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen im ökonomischen Interesse des Landes ist und sich
in ökonomischen Erfolgen für unser Land ausdrückt, ist
nicht nur ein nationaler Prozess, sondern ein globaler
Wettbewerbsprozess. Wir liegen sehr gut in diesem Prozess, wie auch die Direktorin der Europäischen Energieagentur, Jacqueline McGlade, am heutigen Tag bekundet
und anerkannt hat. Aber dieser Prozess ist kein Selbstläufer, sondern das Zusammenspiel von anspruchsvoller
staatlicher und europäischer Rahmensetzung und Entfaltung von innovativen Kräften in Wirtschaft und Gesellschaft. Das ist das Erfolgsmuster, das wir auch in der Zukunft fortsetzen müssen. Darüber werden wir streiten,
aber, ich glaube, im Kern gibt es in dieser wichtigen Entwicklungsfrage unseres Landes einen Konsens.
Herzlichen Dank. - Zur ersten Frage hat sich Kollege
Matthias Miersch gemeldet.
Herr Bundesumweltminister, der Bericht nimmt an
vielen Stellen auf die internationale Umweltschutzpolitik
Bezug. Insofern möchte ich Sie mit einem Vorgang aus
der heutigen Umweltausschusssitzung konfrontieren, in
der es um internationalen Umweltschutz ging, nämlich
um die Frage, inwieweit der durch die Bundesregierung
veranlasste Transport der Brennelemente nach Majak unmittelbar bevorsteht oder nicht. Ihre Staatssekretärin
Reiche hat uns gesagt, dass Sie noch offene Fragen zu
klären und deswegen das Verfahren bislang gestoppt hätten. Der Sprecher des Bundesumweltministeriums - so
habe ich jetzt erfahren - hat das dementiert. Da man selten die Möglichkeit hat, den Chef des Hauses zu fragen,
frage ich Sie jetzt: Wie steht es denn nun? Wie ist der aktuelle Stand? Welche Zweifel haben Sie? Und, wenn ja:
Wie beabsichtigen Sie diese auszuräumen?
Ich glaube zwar, dass wir ungefähr wöchentlich die
Gelegenheit haben, uns hier auszutauschen; wir können
aber auch diese Gelegenheit nutzen. Es geht bei dieser
Frage um die Anwendung eines amerikanisch-russischen
Vertrags über die Nichtverbreitung von atomwaffenfähigem Material. Das ist das Thema, um das es bei der von
Sachsen beantragten Lieferung von Brennelementen aus
dem Forschungsreaktor Rossendorf in der ehemaligen
DDR, die aus sowjetischer Produktion stammen, geht.
Die Verbringung in das Produktionsland, das heutige
Russland, hängt davon ab, ob angenommen werden
kann, dass eine schadlose Verwertung, wie sie im deutschen Atomgesetz vorgesehen ist, dort gewährleistet ist.
Das ist das rechtliche Kriterium, das erfüllt sein muss,
damit diese Verbringung erfolgen kann. Diese Frage
muss darum geprüft werden und wird auch von mir geprüft. Diese Prüfung ist noch nicht abgeschlossen, aber
das ist das rechtliche und auch verantwortliche Kriterium, von dem die Genehmigung abhängt. Die Prüfung
erfolgt sorgfältig. Sie ist an die Anforderung geknüpft,
dass die Überzeugung vorhanden sein muss, dass eine sichere Verwertung am Verbringungsort stattfindet. Das ist
der Sachstand.
Die nächste Frage stellt Kollegin Dorothea Steiner.
Herr Minister Röttgen, Sie - Ihr Haus und die Bundesregierung - haben gestern einander dafür gelobt, dass
Deutschland im Umwelt- und Klimaschutz weltweit führend sei. Nicht nur die Grünen im Bundestag, sondern
auch die EU-Kommission sieht es anders. Sie kommt
2010 in der Bewertung der Umweltpolitik der Mitgliedsländer zu einem ganz anderen Schluss und sieht
Deutschland nicht einmal unter den ersten drei.
Ich möchte bezüglich Abfallpolitik und Ressourcenschutz nachfragen. Sie haben den Entwurf Ihres eigenen
Abfallgesetzes sehr gelobt, in dem Sie für Hausmüllrecycling 65 Prozent für Papier, Metall usw. bis 2020 festschreiben. Wir müssen feststellen, dass bereits 2007
deutsche Haushalte 63 Prozent ihrer Wertstoffe recycelt
haben; das sind 2 Prozent Unterschied. Die auf Baustoffrecycling bezogenen Zahlen, die Sie als ambitioniertes
Ziel für 2020 angeben, wurden 2007 bereits übererfüllt.
Vor dem Hintergrund und angesichts der Bedeutung insbesondere der Ressourcenverwertung und des Ressourcenschutzes würde ich von Ihnen gern wissen: Wie will
sich denn die Bundesregierung zukünftig für mehr Rohstoffrecycling in der Abfallwirtschaft einsetzen, wenn
entsprechende Zielsetzungen auf Bundesebene vollständig fehlen? In Verbindung damit: Wann werden Sie als
Bundesregierung bzw. als Bundesumweltministerium
Kriterien für zu bevorzugende hochwertige Recyclingverfahren erarbeiten, um zu erreichen, dass die anhaltende sinnlose Verbrennung wertvoller Rohstoffe in Verbrennungsanlagen minimiert wird?
Ich sehe, Frau Kollegin, den Erfolg bzw. den Nachweis des Erfolgs vor allen Dingen darin, dass wir mit
dem Kreislaufwirtschaftsgesetz auf dem Gebiet der Ressourcenpolitik führend in Europa sind. Das drückt sich
darin aus, dass die europäische Richtlinie, die erlassen
worden ist, im Grunde darauf abzielt, die deutsche
Rechtslage und rechtliche Struktur in der Europäischen
Union zu etablieren und auszuweiten. Wir sind dort in
positivem Sinn Vorreiter. Inzwischen sind es 26 Länder,
die unser System übernommen haben. Das ist auch Ausdruck des Erfolges, den wir mit unserem Programm haben.
Wir werden uns aber auf diesem Erfolg nicht ausruhen, sondern mit der von mir gerade erwähnten Novelle
zum Kreislaufwirtschaftsgesetz diesen Weg konsequent
fortsetzen, und zwar mit einer von drei auf fünf Stufen
erweiterten und ausdifferenzierten Abfallhierarchie - die
Bedeutung von Abfallvermeidung und -recycling wird
weiter hervorgehoben - und mit zusätzlichen, deutlich
über die neuen europäischen Recyclingquoten hinausgehenden nationalen Quoten, die noch einmal angehoben
werden. Das heißt, wir werden die Ambitionen auf diesem Gebiet weiter ausdehnen. Wir können das auch. Wir
werden einen substanziellen Schritt in der Abfallpolitik
gehen, und zwar weg vom Wegwerfen hin zu einem Verständnis von Abfall als Sekundärrohstoff. Das wird zunehmend deutlicher werden. Wir entwickeln durch dieses vernünftige Zusammenspiel von anspruchsvollen
Rahmensetzungen, Quoten, Standards und Technologie
die Führungsrolle weiter, die wir bislang innehaben. Wir
streben also eine vernünftige, anspruchsvolle Fortentwicklung an, die sich in höheren Quoten und insbesondere in einer stärkeren Ausdifferenzierung ausdrückt.
Darüber werden wir in der Debatte über den Gesetzentwurf, der bald eingebracht wird, ausführlich diskutieren
können.
({0})
So etwas kommt vor. - Nun hat das Wort die Kollegin
Undine Kurth.
Herr Minister, ich habe eine Frage zum Naturschutz,
den Sie schon angesprochen haben. Sie haben gesagt, es
sei sehr erfreulich, dass wir bei Natura 2000 und dem
Nationalen Naturerbe vorangekommen sind. Das ist
ohne Zweifel richtig. Gleichwohl ist das erklärte Ziel,
den Biodiversitätsverlust zu stoppen, bei weitem nicht
erreicht. Wir stehen vor einem sehr großen Problem.
Nun soll das Bundesprogramm „Biologische Vielfalt“
aufgelegt werden. Wenn ich richtig gelesen habe, steht in
Kapitel III, auf Seite 120, des Umweltberichts 2010,
dass es dazu einen offenen Diskurs mit verschiedenen
gesellschaftlichen Partnern geben soll. Wir hatten am
5. November im Rahmen einer schriftlichen Anfrage
nach dem Stand dieses Programms gefragt. Im nächsten
Jahr sind dafür 15 Millionen Euro vorgesehen. Wir finden zwar, dass das nicht genug ist. Trotzdem ist das erfreulich. Aber wie soll das Programm ausgestaltet sein?
Im Dezember noch nicht zu wissen, wie es nächstes Jahr
weitergehen soll, ist angesichts eines solchen Programms sicherlich mutig. Meine Frage lautet daher:
Wann werden wir erfahren, wie dieses Programm ausgestaltet wird?
Ich stimme Ihnen in der - absolut richtigen - Feststellung zu, dass wir, die Staatengemeinschaft, die Biodiversitätsziele im Rahmen der CBD nicht erreicht haben.
2010 ist das Internationale Jahr der biologischen Vielfalt. Aber das ist kein Jahr zum Feiern; denn wir haben
die Ziele auf ganzer Linie nicht erreicht. Gerade deshalb
war es so wichtig, dass wir in Nagoya erfolgreich waren.
Dieser Erfolg muss nun auch auf nationaler Ebene seinen Niederschlag finden und umgesetzt werden. Wir haben in der letzten Sitzungswoche etwa über die Relevanz
der veränderten und reformierten gemeinschaftlichen
Agrarpolitik als eines der wichtigsten Anwendungsfelder und als Ausdruck eines neuen Verständnisses gesprochen. Landwirtschaftspolitik, Umweltpolitik und Wirtschaftspolitik müssen zu Veränderungen kommen.
Ein anderes Instrument ist das Bundesprogramm „Biologische Vielfalt“. Ich stimme Ihnen zu, dass dafür
15 Millionen Euro zur Verfügung stehen und 30 Millionen Euro besser gewesen wären. Aber wenn ein völlig
neues, finanziertes Instrument eingeführt wird, das nicht
eingeführt wurde, als die Kassenlage noch viel besser
war, nämlich in der Zeit früherer Regierungen, ist das
wiederum ein Grund, sich gemeinsam zu freuen. Wir
sollten uns darüber freuen, dass es das Instrument überhaupt gibt, das mit 15 Millionen Euro ausgestattet ist
und in einem gesellschaftlichen Diskussionsprozess entwickelt wird. Es hat dazu einen Jugendkongress und andere Veranstaltungen gegeben, auf denen das Programm
zusammen mit den Akteuren entwickelt wurde. Das wird
nach und nach im nächsten Jahr umgesetzt werden. Ich
kann Ihnen jetzt keinen Termin nennen, wann die erste
finanzierte Aktion stattfinden wird. Das wird sich über
das Jahr hinweg erstrecken; denn das ist nicht nur eine
Aktion, sondern es handelt sich um ein breites Anwendungsfeld. Das geht von der Landschaftspflege bis hin
zum landwirtschaftlichen Naturschutz. Das nächste Jahr
wird das Anwendungs- und Ausgabejahr für dieses Programm sein, und zwar auf der Basis gesellschaftlich entwickelter Konzepte.
({0})
Nein, im Augenblick nicht, weil zunächst einmal die
gemeldeten Fragesteller in der Reihenfolge, in der sie
hier notiert worden sind, zu Wort kommen sollen.
Die nächste Frage hat der Kollege Frank Schwabe.
Herr Minister, es ist spannend, was in Ihrem Bericht
steht, es ist aber auch spannend, was nicht darin steht.
Sie widmen zum Beispiel dem Thema des internationalen Klimaschutzes und der Finanzierung eine ganze
Seite. Die Begriffe „neu“ und „zusätzlich“ kommen darin allerdings nicht vor. Das betrifft aber die zentrale Debatte, die wir vor der Konferenz in Cancún führen.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt heute:
„Regierung lobt sich für Umweltschutz.“ In der Tat ist
der Umweltbericht beeindruckend. Ich muss allerdings
sagen, dass er sich auf eine Zeit bezieht, in der Sie keine
Verantwortung getragen haben; es war vielmehr die Zeit,
als Bundesminister Gabriel Verantwortung getragen hat.
Insofern ist der Bericht ein Zeugnis über diese Politik.
Es ist ganz interessant, dass in diesem Umweltbericht
die Maßnahmen des Integrierten Energie- und Klimaprogramms sehr positiv bewertet werden. Ich zitiere:
Das Integrierte Energie- und Klimaprogramm …
trägt entscheidend zur Erreichung des deutschen
Klimaschutzziels bei. … Ein Großteil der Eckpunkte konnte innerhalb kürzester Zeit in Maßnahmen umgesetzt werden.
Sie haben gesagt, Ihr vor kurzem dargelegtes Energiekonzept sei ein Konzept gewesen, dass es vor 20,
30 Jahren - da gab es unterschiedliche Zahlen - in dieser
Dimension nicht gegeben habe. Sie haben allerdings zu
dem von Ihnen sehr positiv bewerteten Integrierten
Energie- und Klimaprogramm im Koalitionsvertrag geschrieben - ich zitiere -:
Wir werden die Maßnahmen im Integrierten Energie- und Klimaprogramm 2010 auf ihre Wirksamkeit überprüfen und ggf. nachsteuern.
Das haben Sie bisher nicht getan. Im Umweltbericht
steht jetzt:
Der erste Monitoring-Bericht soll noch 2010 eingeleitet werden.
Die Zeit ist also vertan worden, Zeit, die man hätte nutzen können, um das Konzept, das Sie als sehr gut beschreiben, zu evaluieren und um zu neuen Maßnahmen
zu kommen.
Meine konkrete Frage lautet: Wann wird die Überprüfung des Integrierten Energie- und Klimaprogramms Ergebnisse zeitigen?
Es gibt als Fortführung dieses erfolgreichen, aber begrenzten Programms ein Energie- und Klimakonzept.
Dieses breite Gesamtkonzept, das wir vorgelegt haben,
hat es in 20 Jahren nicht gegeben. Es beinhaltet die entscheidenden Weichenstellungen. In dem Rahmen werden jetzt vorhandene Instrumente bewertet und angepasst; denn ein Instrument, das einmal gut war, muss
nicht auf Dauer in Stein gemeißelt bleiben, sondern man
muss es immer wieder anpassen. Das gilt für das EEG,
aber auch für das IEKP. Das wird im nächsten Jahr erfolgen.
Wir haben jetzt eine klare Orientierung durch das
Energiekonzept, was erreicht werden soll: 80 Prozent
der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien, CO2Reduzierung von mindestens 80 Prozent, Halbierung des
Primärenergieverbrauchs. Die Maßnahmen und Instrumente müssen angepasst werden, damit wir diese Ziele
erreichen. Dazu gehört das IEKP ebenso wie das EEG.
Das wird im nächsten Jahr erfolgen.
Frau Bulling-Schröter, bitte.
Danke schön. - Herr Minister, in Ihrem Bericht über
die Klimaschutzinitiative heben Sie das Projekt „StromsparCheck einkommensschwache Haushalte“ hervor. Ich
habe gehört, dass es sehr positiv war. Sie sprechen über
die Evaluierung.
Wie ich gehört habe, liegt dieser Evaluierungsbericht
dem BMU seit August dieses Jahres vor. Ich möchte
wissen, wann wir diesen Evaluierungsbericht erhalten
werden; denn wie ich per Buschtrommeln gehört habe,
gibt es einige sehr positive Beispiele und auch einige negative. Wir wären gut beraten, wenn wir diese Beispiele
gemeinsam besprechen und sagen könnten: Hier ist es
sehr effektiv, hier machen wir weiter; an anderer Stelle
müssen wir uns etwas anderes überlegen.
Genauso ist es. - Sie fragen, wann er zugeleitet wird.
Ich kann Ihnen nicht genau sagen, wann das geschehen
wird; aber dieser Bericht wird Ihnen selbstverständlich
zugeleitet, damit genau diese Diskussion mit dem Parlament stattfinden kann.
Der Kollege Hofreiter hat die nächste Frage.
Sehr geehrter Herr Minister, in Ihrem Umweltbericht
loben Sie insbesondere das CO2-Gebäudesanierungsprogramm und das Marktanreizprogramm. Sie schreiben
zum Beispiel, dass das Marktanreizprogramm mit
423 Millionen Euro Investitionen von rund 3 Milliarden
Euro ausgelöst hat. Wie kommt es dann dazu, dass ausgerechnet das Marktanreizprogramm zeitweise komplett
gestoppt wurde und jetzt stark gekürzt worden ist und
dass auch das Gebäudesanierungsprogramm extrem gekürzt worden ist? Wie kommt es dazu, und wieso findet
das in dem Bericht keine Erwähnung?
Das muss man differenzieren. Erstens. Das Marktanreizprogramm wurde schon immer durch die Erlöse aus
dem CO2-Zertifikatehandel finanziert; das ist seine Finanzgrundlage. Das können Sie gerne noch einmal nachprüfen. Wegen der Wirtschaftsrezession ist der CO2-Zertifikatepreis in den Keller gegangen und deutlich
niedriger geworden. Dadurch haben sich die Erlöse aus
dem CO2-Zertifikatehandel verringert, sodass entsprechend weniger Mittel zur Verfügung stehen, um das
Marktanreizprogramm zu finanzieren.
Gerade weil es ein solch großer Erfolg ist, haben wir
dafür gesorgt, dass wir im Rahmen des Energiekonzeptes - außerhalb dieser jährlichen Verteilungskämpfe mit
ihrer Gefahr von Stop and Go - nunmehr ein gesetzliches Sondervermögen mit einem Numerus clausus von
Förderzwecken zur Verfügung haben - wozu auch das
Marktanreizprogramm zählt -, um eine verlässliche und
gut finanzierte Grundlage für ein stetiges Marktanreizprogramm zu haben. Das Programm wird im nächsten
Jahr um, ich glaube, 40 Millionen Euro erhöht. Die wirklich gute Finanzausstattung des Energie- und Klimafonds wird sich ab 2013 ergeben, wenn alle Zusatzerlöse
aus dem Zertifikatehandel in diesen Fonds einfließen.
Das bedeutet eine verlässliche Finanzierungsgrundlage,
die ab 2013 beim heutigen CO2-Preis ungefähr 3 Milliarden Euro pro Jahr ausmachen wird. Das macht den Unterschied deutlich. Die Finanzierungsschwankung, die es
gegeben hat, führt zu Stop and Go. Es ist nun einmal so,
dass Ausgaben an Einnahmen geknüpft sind. Genau diesen Schwankungen vorzubeugen, ist der strukturelle
Vorteil des Energie- und Klimafonds.
Zum Gebäudesanierungsprogramm. Das war insbesondere als ein Konjunkturprogramm vorgesehen und
hat sich als solches absolut bewährt. Es war aber befristet bis Ende 2009 und sollte dann nicht fortgesetzt werden, weil es als Konjunkturprogramm verstanden wurde.
Wir verstetigen das Gebäudesanierungsprogramm, weil
wir der Überzeugung sind, dass hier wirkliche Energieeffizienzpotenziale schlummern. Darum wird dieses Programm ein Dauerinstrument der Effizienzgewinnung,
der Energieeinsparung und der Modernisierung in unserem Gebäudebestand, das ebenfalls dauerhaft und verlässlich aus dem Energiefonds durch einen eigenen
Energieeffizienzfonds finanziert wird.
Da wir inzwischen mehr als die Hälfte der für die Befragung vorgesehenen Zeit verbraucht haben, aber noch
mehr als die Hälfte der Fragesteller nicht zu Wort gekommen ist, erlaube ich mir die Anregung, dass wir es
vielleicht mit etwas knapperen Fragen und ähnlich kurzen Antworten versuchen sollten.
Die nächste Frage hat der Kollege Lenkert.
Herr Minister, Sie sprachen vorhin davon, dass pro
Tag immer noch 94 Hektar versiegelt werden. Sie möchten, dass dieser Wert auf 30 Hektar sinkt. Mich interessiert, welche konkreten Maßnahmen die Bundesregierung plant, um dieses Ziel zu erreichen. Unsere
Bevölkerungszahl ist rückläufig; trotzdem versiegeln wir
immer mehr Flächen. Planen Sie spezielle Förderprogramme, um Verkehrs- und Industriebrachen zu renaturisieren, also der Natur wieder zur Verfügung zu stellen?
Was die Versiegelung angeht: Das ist viel zu viel. Es
war aber auch schon mehr: Zu früheren Zeiten wurden
pro Tag 110 Hektar Flächen neu verbraucht. Jetzt sind
wir bei 94 Hektar angekommen. Wir planen selbstverständlich Maßnahmen und haben auch konkrete Zielvorgaben, um zu einer Reduzierung des täglichen
Flächenverbrauchs zu kommen. Dabei spielt das Bundesprogramm Wiedervernetzung eine Rolle. Hinzu
kommt die Ausweisung von Naturschutzflächen, die für
eine Versiegelung natürlich nicht zur Verfügung stehen.
Es gibt also ein Bündel von Maßnahmen.
Es ist absolut richtig, zu sagen: Das ist eine schwierige Aufgabe, die nicht in einem einzigen Ressort zu
leisten ist. Es ist vielmehr eine Querschnittsaufgabe von
Regierungen, also nicht nur eine Aufgabe der Bundesregierung, sondern auch von Landesregierungen. Sehr viel
hängt zusammen mit Flächennutzungen durch Länder
und Kommunen; Verkehrsplanungen sind bei weitem
nicht allein Sache des Bundes. Es ist also ein vielschichtiges Problem.
Hans-Josef Fell stellt die nächste Frage.
Herr Minister Röttgen, gestatten Sie mir, bevor ich zu
meiner Frage zur KWK komme, eine kleine Korrektur:
Das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien
wurde aus der Kompensation der Besteuerung des Ökostroms finanziert. Das hat es nämlich viel früher gegeben
als die CO2-Zertifikatserlöse, und es konnte deswegen
nicht daraus finanziert werden.
Zu meiner Frage zur Kraft-Wärme-Kopplung. Deren
umweltpolitischer Nutzen ist allseits anerkannt, auch im
Umweltbericht der Bundesregierung. Jetzt hat die Bundesregierung das Impulsprogramm für Mini- und MikroKWK eingestellt. Es wird weder im Energiekonzept
noch im Koalitionsvertrag an relevanter Stelle genannt.
Auch die Steuervergünstigungen für Fernwärme wurden
zusammengestrichen. Vor diesem Hintergrund frage ich
Sie: Von welchem Wachstum des Bereichs KraftWärme-Kopplung im kommenden Jahr geht die Bundesregierung aus?
Erst einmal: Wir beide überprüfen das. Der Zertifikatehandel war die Finanzgrundlage für das Marktanreizprogramm. Der Preis ist gesunken. Vielleicht können
Ihnen das Ihre Fraktionskollegen aus dem Haushaltsausschuss - ich weiß nicht, ob einer von ihnen da ist - bestätigen. Ich verweise auf die Debatte im Haushaltsausschuss. Wir können es jetzt wahrscheinlich nicht klären.
Wir beide können uns aber vornehmen, das zu recherchieren.
Aus diesem Grund gibt es eine geringere Finanzausstattung. Darum musste eine Priorisierung vorgenommen werden zugunsten anderer Maßnahmen, die noch
wirksamer sind als das wirksame Mini-KWK-Programm. Es ist einfach so: Wenn die Mittel begrenzt sind,
muss man Prioritäten setzen. Die wirksamsten Maßnahmen sind ergriffen worden, und die wirksamen Maßnahmen - ich habe das Mini-KWK-Programm sehr geschätzt - sind der Begrenztheit der finanziellen Mittel
zum Opfer gefallen. Wir wollen das Marktanreizprogramm weiter ausdehnen.
({0})
- Dazu kann ich Ihnen keine Prognose geben.
Dirk Becker, bitte die nächste Frage.
Vielen Dank. - Herr Minister Röttgen, Sie haben bereits eben in der Beantwortung der Frage von Herrn
Schwabe das EEG angesprochen: Im kommenden Jahr
stehe eine Überprüfung an, für 2012 sei eine Novelle geplant. Herr Bareiß aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion - er ist immerhin energiepolitischer Koordinator hat Sie in einem Schreiben quasi aufgefordert, beim
Thema PV bereits zum 1. Januar 2011 eine Veränderung
vorzunehmen. Diese Änderung solle gegebenenfalls
rückwirkend in Kraft gesetzt werden. Mit Blick auf die
weitere Entwicklung sei zu prüfen, ob es gerade beim
Thema PV sinnvoll sei, die jetzt geltende Regelung umzugestalten - weg vom „atmenden Deckel“ hin zum
„festen Deckel“ - und womöglich eine Quote einzuführen. Herr Bareiß stellt den Einspeisevorrang im weiteren
Zusammenhang gerade mit Blick auf die fluktuierenden
Erneuerbaren durchaus infrage. Meine konkrete Frage:
Sagen Sie heute klipp und klar: „Es bleibt beim Fahrplan, Erfahrungsbericht EEG im Frühjahr, eine Novelle
zum 1. Januar 2012; vorher wird es keine weiteren Veränderungen geben, und es bleibt beim Einspeisevorrang“?
Vielleicht darf ich auf die Frage so antworten, dass
wir uns an die Debatte erinnern, als ich den Vorschlag
der Vergütungsabsenkung für die Photovoltaik gemacht
habe. Es gab ein wildes Geschrei in den Fraktionen von
SPD und Grünen. Es hieß, die Branche werde plattgemacht und kaputtgemacht, dies sei der Anschlag auf das
EEG und auf die erneuerbaren Energien und, und, und.
Die Situation heute ist, dass wir mit der gesamten
Branche der erneuerbaren Energien inklusive der Solarwirtschaft ernsthaft und offen darüber reden, dass die
Entwicklung gerade im Bereich der Photovoltaik weiterhin so positiv ist und dass sich die Produktionskapazitäten nicht nur national, sondern insbesondere in China
weiter so dynamisch entwickeln, dass wir im Interesse
des Erhalts des EEG und der sozialen Akzeptanz sowie
der Netzstabilität in ernsten Gesprächen darüber sind,
wie wir in einem zielorientierten, anspruchsvollen, aber
vernünftigen Tempo und an der richtigen Stelle zu einem
Ausbau der erneuerbaren Energien kommen.
Darum noch einmal mein Appell, den ich schon verschiedentlich gemacht habe: Wer die Erneuerbaren will,
der sollte bedenken, dass sie der sozialen Akzeptanz bedürfen. Er muss Differenzkosten unter Kontrolle haben,
und er muss die wirksamen Erneuerbaren fördern. Er
muss auch Förderbetrag und Produktionsbeitrag in Relation zueinander setzen. Er muss Produktionskapazitätsentwicklungen in China sehen, die wir mit dem EEG
- mit dem Geld des deutschen Stromverbrauchers - finanzieren. Daher gibt es - so glaube ich - keine Grundlage für den Ansatz, dass jemand etwas zerstören will;
selbst die Branche sieht das nicht so.
Darum mache ich keine Aussage zu der von Ihnen erfragten Ankündigung, dass ich das von Ihnen Erwähnte
klipp und klar sagen möge. Ich sage Ihnen: Wir sind mit
der Branche im Gespräch, um zu einer vernünftigen
Weiterentwicklung zu kommen. Das möchte ich mit der
Branche machen, weil ich die Erneuerbaren unter Einschluss der Photovoltaik möchte. Ich glaube aber, wir
sollten hier zu einer vernünftigen Weiterentwicklung
kommen, und wir dürfen nicht die Gefahr übersehen,
dass scheinbar guter Wille zu einer echten Gefährdung
des weiteren Ausbaus wird.
Frau Menzner.
Herr Minister, Sie schreiben im Umweltbericht ganz
richtig, dass rund 70 Prozent der in Deutschland genutzten fossilen Energie importiert wird, und führen weiter
aus - ich zitiere das wörtlich -: Die Gefahr sozialer
Spannungen und internationaler Konflikte wächst. - Das
ist also ein Sachverhalt, der weit mehr als nur Umweltoder Energiepolitiker beschäftigen müsste.
Wenn ich das richtig sehe - gerade auch mit Blick auf
Laufzeiten -, gibt es bei Kernbrennstoffen eine 100-prozentige Importquote. Trifft diese außenpolitische EinDorothee Menzner
schätzung aus Ihrer Sicht hier nicht zu? Oder ist diese
doch deutliche Abhängigkeit anders zu werten?
Sie haben völlig recht, wir importieren knapp drei
Viertel unserer Energie: Öl, Kohle - der Anteil der heimischen Steinkohle ist minimal - und eben auch Uran.
Die Strategie, sowohl Energieeffizienz zu forcieren als
auch erneuerbare Energien zu entwickeln, zielt auch darauf ab, die Importabhängigkeit mit all ihren außenpolitischen oder auch sicherheitspolitischen Implikationen
zu reduzieren und auf heimische Wertschöpfung zu setzen. Das ist wirtschaftspolitisch und arbeitsmarktpolitisch sinnvoll, aber es hat auch den Aspekt von Sicherheit, den Sie ansprechen. Dieser bezieht sich auf die
Energiequellen, die ich genannt habe. Darum ist die
Kernenergie im Energiekonzept übrigens auch keine Zukunftsoption, sondern ein Übergang.
Kollegin Höhn.
Herr Minister, ich möchte eine Frage zur Energieeffizienz stellen. Wir haben gerade in der Diskussion über
die Enquete-Kommission festgestellt, dass wir mehr für
die Ressourceneffizienz tun müssen. Wir stellen fest,
dass wir bei der Energieeffizienz nicht gut sind. Die EUVorgaben sind sehr schwer einzuhalten, obwohl man sie
sich noch ehrgeiziger vorstellen könnte. Fakt ist, dass die
EU-Richtlinie schwach umgesetzt worden ist. Das ist offensichtlich auch Ihre Meinung; denn - ich zitiere Sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25. März
dieses Jahres haben Sie gesagt, Sie wollen zu einem späteren Zeitpunkt ein echtes Effizienzgesetz auf den Tisch
legen. Das ist ein Dreivierteljahr her. Von daher frage ich
Sie: Wann können wir damit rechnen, dass Sie uns das
vorlegen?
Sie haben völlig recht. Wir haben gesagt: Wir kommen unserer Umsetzungspflicht nach. Die haben wir
selbstverständlich auch erfüllt. Die Effizienzziele, die
wir uns setzen, werden wir in dem Energiekonzept verankern, und darauf werden wir auch die Maßnahmen
gründen.
Ich habe Ihnen eben das Ziel genannt: bis 2050 Halbierung des Primärenergieverbrauchs. Dazu brauchen
wir eine erhöhte Steigerung der Effizienz: von 1,7 Prozent auf 2,1 Prozent pro Jahr. Auf der Basis des Konzepts, das wir gerade erst beschlossen haben, werden wir
die Instrumente diskutieren und beschließen, die zu dem
Ziel führen. Wir haben eben zum Beispiel über die Gebäudesanierung gesprochen. Die Verstetigung des Gebäudesanierungsprogramms ist eines der Effizienzpotenziale. Aber es gibt solche Potenziale auch in anderen
Bereichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die für die Befragung der Bundesregierung vorgesehene Zeit ist jetzt erschöpft. Ich schlage vor, dass wir wegen der Relevanz
des Themas die bei mir bisher notierten Meldungen - es
handelt sich um sechs Kolleginnen und Kollegen - noch
behandeln und das zulasten des Zeitbudgets der anschließenden Fragestunde geht. Darf ich Ihr Einverständnis voraussetzen? - Gut.
Ich habe die Wortmeldungen der Kollegen Bollmann,
Ostendorff, Ott und Göppel sowie der Kolleginnen
Kurth und Bulling-Schröter notiert und schließe damit
die Liste der Fragesteller. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass sich die Fragen und Antworten sicherlich
ein bisschen straffen lassen.
Kollege Bollmann.
Herr Minister, ich komme zur Kreislaufwirtschaft zurück. In Ihrem Bericht steht:
Inhaltlich wird die Kreislaufwirtschaft an der neuen
fünfstufigen Hierarchie der Abfallrahmenrichtlinie
ausgerichtet …
Das heißt, die stoffliche Verwertung hat eindeutig Vorrang vor der energetischen Verwertung. Nun zu meiner
Frage: Warum ist dann in dem Referentenentwurf, der
demnächst zur Notifizierung nach Brüssel geht, die Rede
von der Gleichstellung von stofflicher und energetischer
Verwertung bei Abfällen mit einem Heizwert oberhalb
von 11 000 Kilojoule?
Es gibt den Vorrang der stofflichen Verwertung. Aber
man muss ein Abgrenzungskriterium finden. Das ist
eben das Abgrenzungskriterium, das dort angewendet
wird.
({0})
Kollege Ostendorff.
Herr Minister, am 18. November hat der neue EUAgrarkommissar Ciolos die Vorschläge dazu vorgelegt,
wie die EU-Agrarpolitik bis 2020 aussehen soll. Wir haben deutlich vernommen, dass es um Ökologisierung
geht, um Greening, wie er es nennt, sowohl der ersten als
auch der zweiten Säule. Wir haben bisher noch keine
Hinweise darauf, wie das Umweltministerium sich dazu
verhält. Wie sehen Sie die einzelnen Bausteine, die uns
als Agrarumweltmaßnahmen in der Agrarpolitik bisher
begleitet haben? Wo werden Sie sich positionieren? Gibt
es von Ihrer Seite schon Aussagen dazu? Natura 2000,
Wasserrahmenrichtlinie, das sind zum Beispiel Punkte,
die der Agrarkommissar ausdrücklich benannt hat. Wo
sehen Sie die zukünftig verankert? Welche Maßnahmen
wollen Sie aus Ihrer Sicht gefördert wissen?
Aus der Sicht des Umweltministeriums, der Umweltpolitik zeigt genau das die Akzentverschiebung, die Sie
angesprochen haben. Es gibt ein neues Kriterium für die
Rechtfertigung von gesellschaftlicher Unterstützung; so
will ich „Beihilfe“ einmal nennen. Ich glaube, dass gesellschaftliche Unterstützung nicht für die Vergangenheit, für vergangene Produktionsanteile und -quoten, sozusagen historisch, zu bemessen ist, sondern danach
bemessen werden muss, welcher gesellschaftliche oder
ökologische Mehrwert durch landwirtschaftliche Produktion geleistet wird. Wenn wir einen besonderen Beitrag zur Landschaftspflege, zum Naturerhalt, mit dem
man über die Erfordernisse reiner Wirtschaftlichkeit hinausgeht, wollen, dann ist es berechtigt, finde ich, dass
der Landwirt, der eine solche zusätzliche Leistung erbringt, von der Gesellschaft eine Gegenleistung dafür erhält. Es geht sozusagen um die Honorierung eines gesellschaftlichen Beitrages und damit um die Abkehr von
einer Prolongierung, der Verlängerung, historischer Produktionsquoten. Das ist der Paradigmenwechsel, der aus
Sicht der Umweltpolitik zu erfolgen hat.
Kollege Ott.
Herr Minister, die Geschichte der Umweltpolitik in
Deutschland ist lang; sie geht zurück bis zum damaligen
Innenminister Genscher. Ebenso lang ist aber die Geschichte der Überschätzung der deutschen Umweltpolitik. Wir werden das in Cancún nächste Woche erleben.
Nach einem internen Bericht der EU-Kommission,
des Commission Staff Working Paper im Environment
Policy Review von 2009, liegt Deutschland innerhalb
der EU 27 praktisch überall nur im Mittelfeld. Es gibt
eine Kategorie, nämlich „Ressourcen und Abfall“, bei
der Deutschland wirklich spitze ist. In allen anderen Kategorien liegt es nur im Mittelfeld. Auffallend ist insbesondere: Bei den durchschnittlichen CO2-Emissionen
der neu zugelassenen Pkw belegt Deutschland den
21. Platz von insgesamt 27. - Was sind Ihre Pläne, um
das zu verbessern? Denn natürlich ist der Autoverkehr
zentral für die Erreichung der Klimaziele.
Nach meinem Eindruck haben Sie sich in dem Jahr
unserer Zusammenarbeit bislang nicht so richtig an der
Überschätzung der gegenwärtigen Umweltpolitik beteiligt; aber das kann sich ja in Zukunft ändern.
({0})
Ich habe den Verkehrsbereich eben bewusst genannt.
In den letzten Jahren hat sich die Optimierung des Verbrennungsmotors beschleunigt. Wir haben bei den Neuzulassungen einen CO2-Ausstoß von, wenn ich es richtig
im Kopf habe, im Schnitt rund 145 Gramm.
({1})
- Nein, bei den Neuzulassungen sind es im Schnitt
145 Gramm. Diese Zahl habe ich jedenfalls im Kopf;
aber nageln Sie mich nicht darauf fest. - Im Zentrum
steht natürlich die Entwicklung von Elektromobilität auf
diesem Gebiet. Ich habe in meinem Eingangsstatement
erwähnt, dass die Elektromobilität aufgrund der wachsenden Bedeutung sowohl des Güterverkehrs als auch
des Personenverkehrs eine ganz besondere klimaschutzpolitische Relevanz erhält.
Kollege Göppel.
Herr Minister, der Haushaltsausschuss hat die Zuweisung der Kyritzer Heide an das nationale Naturerbe beschlossen. Freuen Sie sich über dieses Geschenk, und
sind Sie mit mir der Meinung, dass andere Flächen, die
aus fachlicher ökologischer Sicht in zweijähriger Arbeit
sorgfältig ausgewählt wurden, deshalb nicht zurückstehen dürfen?
Ich denke, bei dieser Entscheidung gibt es noch Diskussionsbedarf. Insbesondere das Land Brandenburg hat
hier andere Vorstellungen. Ich glaube, darüber muss weiter gesprochen werden.
({0})
Frau Kurth.
Herr Minister, ich habe eine Nachfrage zum Bundesprogramm „Biologische Vielfalt“. Damit die Mittel abgerufen werden können, bedarf es einer genauen Definition der Förderkriterien. Wann können wir mit dieser
Definition und der Ausgestaltung des Bundesprogramms
konkret rechnen?
Zunächst einmal muss das Bundesprogramm beschlossen werden. Das haben wir erst in der letzten Sitzungswoche, also vor wenigen Tagen, hier im Deutschen
Bundestag gemacht. Damit stehen jetzt die Mittel bereit.
Der gesellschaftliche Dialog über die Kriterien und die
Mittelverwendung hat schon Mitte dieses Jahres begonBundesminister Dr. Norbert Röttgen
nen. Die Umsetzung wird im Jahre 2011 erfolgen. Wir
haben zwar schon Dezember; aber wir werden dieses
Programm einschließlich Kriterien und Mittelverwendung mit breiter gesellschaftlicher Einbindung umsetzen.
Die letzte Frage hat Frau Bulling-Schröter.
Herr Minister, aufgrund der Krisenjahre 2008 und
2009 konnte überproportional CO2 eingespart werden. In
dem Bericht heißt es „übererfüllt“; das ist positiv. Meine
Frage lautet: Was machen wir mit den überschüssigen
Emissionsrechten? Sie können sie verkaufen oder stilllegen. Wenn Sie sie verkaufen, werden sie wieder relevant. Wenn wir sie stilllegen, können wir unseren Führungsanspruch als Klimanation weiterentwickeln. Was
also wird mit diesen überschüssigen CO2-Zertifikaten
geschehen?
Ich glaube nicht, dass wir überschüssige Zertifikate
haben werden, wenn wir klimaschutzpolitisch erfolgreich sind. 2013 wird eine neue Handelsperiode beginnen. Sie wird sich auf weitere Industriesektoren und die
gesamte Energiebranche erstrecken. Das heißt, hier findet eine konsequente Weiterentwicklung statt. Aber wir
können nicht permanent in das Börsensystem des Handels
mit CO2-Zertifikaten eingreifen. Wenn wir erfolgreich
sind, dann im Rahmen dieses sich fortentwickelnden
Systems. Wir können nicht permanent Preisfestsetzungen vornehmen oder einen Entzug von CO2-Emissionszertifikaten.
({0})
- Es handelt sich, nebenbei bemerkt, um einen europäischen Cap. - Ich glaube, wir brauchen in einem solchen
System Verlässlichkeit; denn man stellt sich darauf ein,
auch auf den Preis.
Übrigens nehme ich mir grundsätzlich nicht vor,
durch eine Wirtschaftsrezession zu einer Reduzierung
der CO2-Emissionen zu kommen. Ich glaube, dass eine
Wirtschaftsrezession andere negative Folgen hat. Es ist
nicht der richtige Ansatz, die Rezession durch Preiserhöhungen bei den CO2-Emissionszertifikaten zu verschärfen. Die niedrigeren CO2-Emissionen sind ein Kollateralnutzen der Wirtschaftsrezession; in Zukunft müssen
wir die Reduzierung der CO2-Emissionen auf andere
Weise erreichen.
Ich schließe damit die Befragung der Bundesregierung zum Bericht aus der heutigen Kabinettssitzung.
Gibt es Fragen zu anderen Themen der Kabinettssitzung? - Das ist offenkundig nicht der Fall. Gibt es jenseits der erfolgten Berichterstattung oder der Kabinettsberatung sonstige Fragen an die Bundesregierung? Auch das ist nicht der Fall.
Dann rufe ich nunmehr Tagesordnungspunkt 4 auf:
Fragestunde ({0})
- Drucksachen 17/3947, 17/3988 Zunächst rufe ich gemäß Nr. 10 Abs. 2 unserer Richtlinien die dringliche Frage auf:
Trifft die Meldung zu, wonach die Europäische Zentralbank, EZB, und eine Mehrheit der Länder der Euro-Zone darauf drängen, dass nach Irland nun auch Portugal binnen kürzester Frist einen Antrag auf Finanzhilfen aus dem EuroRettungsschirm stellt, und wie steht die Bundesregierung zu
einer derartigen Forderung?
Für die Beantwortung steht der Parlamentarische
Staatssekretär Steffen Kampeter zur Verfügung.
Herr Kollege Maurer, der Bundesregierung liegen
diesbezüglich keine Informationen vor. Ich stelle fest,
dass Portugal derzeit mit einem ehrgeizigen Maßnahmenpaket zur Haushaltskonsolidierung bemüht ist, die
Märkte vertrauensbildend zu beruhigen und auf diese
Art und Weise zu einer Stabilisierung der Euro-Zone insgesamt beizutragen.
Zusatzfrage? - Bitte schön, Kollege Maurer.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Tatsache,
dass die Zinsaufschläge, die andere Staaten für Staatsanleihen zu zahlen haben - Griechenland, Portugal, Irland,
Spanien, Italien und Belgien -, nach Installation des Rettungsschirms und nach Zusage eines Rettungspakets für
Irland weiter gestiegen sind? Würden Sie dies als Ausweis der Erfolglosigkeit des Rettungsschirms ansehen,
oder wie erklären Sie sich das?
Herr Kollege Maurer, die Bundesregierung ist der
Auffassung, dass die Verwerfungen auf den internationalen Währungs- und Devisenmärkten ohne die Verwendung des Rettungsschirms sehr viel größer wären und
dass der Einsatz des Euro-Rettungsschirms trotz der - da
teile ich Ihre Auffassung - nicht zufriedenstellenden aktuellen Entwicklung eine richtige Maßnahme war und
bleibt.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie beurteilen Sie die Äußerungen des Wirtschaftsweisen Professor Bofinger? Ich zitiere aus einer aktuellen Reuters-Meldung:
Der Wirtschaftsweise … fordert von Deutschland
mehr Einsatz zur Rettung des Euro.
„Die Risiken für den Euro sind enorm groß“,
warnte Bofinger … „Wo dieser Flächenbrand
stoppt, weiß niemand.“ In Deutschland müsse man
sich fragen, ob man den Euro weiter haben wolle.
… „Will man die Beziehung fortsetzen oder nicht?
Und wenn man sie fortsetzen will, muss man sich
engagieren.“
Teilen Sie die damit verbundene Kritik des Wirtschaftsweisen an der Bundesregierung?
Herr Kollege Maurer, wir schätzen die Hinweise nicht
nur dieses Experten, sondern auch vieler anderer wirtschaftspolitischer Experten. Diese Kritik teilen wir aber
nicht. Ich möchte nur in diesem Maße auf die Äußerungen von Professor Bofinger eingehen.
Die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin persönlich haben sich in den letzten Wochen nicht nur mit
dem deutsch-französischen Gipfel und dem darauf folgenden Beschluss des Europäischen Rates an die Spitze
der Bewegung der Euro-Stabilisierung gesetzt; der Bundesfinanzminister hat bereits im Frühjahr eine umfassende Debatte über Ergänzungen zum Stabilitäts- und
Wachstumspakt und zu den europäischen Verträgen begonnen. Ich glaube deshalb, dass die Bundesregierung
im internationalen Kontext keinen Vergleich scheuen
muss, wenn es um ihren Einsatz für die Stabilität der
Währung geht, mit der wir hier in Deutschland zahlen
und mit der wir einen Großteil unseres Exportes absichern.
Kollege Hunko.
Vielen Dank. - Als der Euro-Rettungsschirm im Mai
dieses Jahres geschaffen wurde, erklärte die Bundeskanzlerin, dass auf diese Weise gewährleistet werde,
dass der Schirm niemals gebraucht würde, da die Spekulation nun beendet sei. Die einfache Formel war: Der
Rettungsschirm ist da, damit er nie benutzt wird. - Jetzt
wird in Europa schon über die Frage diskutiert, was zu
tun ist, wenn die Mittel des Rettungsschirms gänzlich
aufgebraucht sind. Wie erklären Sie sich diese Fehleinschätzung? Halten Sie wie wir die Strategie der Bundesregierung für gescheitert?
Nein, Herr Kollege Hunko, durch die Strategie der
Bundesregierung - das habe ich im Rahmen meiner Antworten auf die vorangegangenen Fragen bereits ausgeführt - wird der Euro insgesamt stabilisiert, obgleich ich
nicht verhehlen möchte, dass wir die aktuellen Entwicklungen in der vergangenen Woche mit Interesse, teilweise auch mit Sorge beobachtet haben. Aber dies entbindet uns nicht von der Pflicht zum Einsatz für weitere
stabilisierende Maßnahmen.
Bitte schön, Herr Kollege Dehm.
Herr Staatssekretär, in einem Fernsehgespräch bei
Maischberger hat Ihr Bundeswirtschaftsminister mir, als
wir über Portugal und Irland sprachen, gesagt, auch die
spekulierenden Gläubigerbanken würden, wenn man
schon die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie
die Rentnerinnen und Rentner zur Sanierung belastet, in
angemessenem Maße herangezogen. Daraufhin haben
ein weiterer Gesprächspartner, ein Börsenmakler, und
ich gesagt, das gehe gar nicht. Wer hatte recht? War das,
was der Bundeswirtschaftsminister gesagt hat, heiße
Luft? Oder war meine Annahme richtig?
Herr Kollege Dehm, leider sieht sich die Bundesregierung außerstande, Gespräche, an denen sie nicht aktiv
teilgenommen hat - in diesem Fall geht es um meine
Person -, zu kommentieren.
Der Sachverhalt ist so: An den aktuellen Stabilisierungsmaßnahmen für Irland können Sie ablesen, dass
nicht nur die irische Regierung durch Einbeziehung des
Pensionsfonds und anderer Rücklagen aus irischen öffentlich-rechtlich verwalteten Geldern einen Beitrag geleistet hat, sondern auch der private Sektor - zum Beispiel die privaten Anleger bei der Anglo Irish Bank einen erheblichen Beitrag zur Stabilisierung der irischen
Volkswirtschaft geleistet hat.
Ich möchte darüber hinaus darauf hinweisen, dass
aufgrund der Initiative der Bundesregierung im internationalen Bereich bis Dezember Vorschläge erarbeitet
werden, die eine umfassendere Beteiligung des privaten
Sektors an den Kosten solcher Ungleichgewichte und
Währungskrisen ermöglichen, als das in dem bisher geltenden Rechtsregime möglich war. Die Diskussion darüber wird unter dem Oberbegriff der kollektiven Handlungsklauseln, der Collective Action Clauses, geführt.
Die Bundesregierung unterstützt und begleitet aktiv die
Forderung nach diesen Collective Action Clauses. Ich
denke, wir werden das Parlament Ende Dezember umfassend über den nächsten Schritt auf diesem Weg unterrichten können.
Vielen Dank. - Weitere Nachfragen dazu liegen nicht
vor.
Nachdem die dringliche Frage aufgerufen und beantwortet ist, rufe ich nun die eingereichten Fragen in der
üblichen Reihenfolge, die Sie der Tagesordnung entnehmen können, auf.
Wir beginnen mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Zur Beantwortung der Fragen
Präsident Dr. Norbert Lammert
steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Max
Stadler zur Verfügung.
Die Frage 1 des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick
wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 2 der Kollegin Ingrid Hönlinger
auf:
Wann ist mit Abschlussberichten bzw. Beschlüssen auf
exekutiver Ebene zur Zukunft des Betreuungsrechts, das heißt
sowohl auf Ebene der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Vorbereitung auf die Justiziministerkonferenz als auch auf Ebene
der interdisziplinären Arbeitsgruppe im Bundesministerium
der Justiz, zu rechnen, und wird die Bundesregierung noch in
dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zur Reform des
Betreuungsrechts in den Deutschen Bundestag einbringen?
Zu der Frage der Kollegin Hönlinger darf ich Folgendes mitteilen: Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter
Beteiligung des Bundesjustizministeriums, die im
Jahr 2006 zur Beobachtung und Analyse der tatsächlichen Entwicklungen im Betreuungsrecht eingesetzt worden ist, hat im Juni 2009 zur Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister ein Bündel von Maßnahmen
empfohlen, mit denen auf der Ebene der Rechtsanwendung, also ohne weitere Gesetzesänderungen, die Qualität der Betreuung verbessert und weitere Kostensteigerungen verhindert werden können. Eine besondere
Bedeutung kommt dabei der Stärkung der ehrenamtlichen Betreuung zu, etwa durch intensivere Unterstützung der Betreuungsvereine, durch flächendeckende
Vernetzung aller Beteiligten und durch ausreichende
Ausstattung der Betreuungsbehörden.
Auf Wunsch der Konferenz der Justizministerinnen
und Justizminister hat das Bundesministerium der Justiz
im Dezember 2009 den Vorsitz einer Arbeitsgruppe zum
Betreuungsrecht übernommen. Ziel dieser interdisziplinären Arbeitsgruppe ist es, im Sinne der Beschlüsse der
JuMiKo aus den vergangenen Jahren zu prüfen, ob und
gegebenenfalls wie das Betreuungsrecht weiterentwickelt und verbessert werden kann.
Diese Arbeitsgruppe hat mittlerweile viermal getagt.
Weitere Termine sind vorgesehen. Ob die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode neben dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Vormundschafts- und
Betreuungsrechts einen Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Betreuungsrechts in den Deutschen Bundestag
einbringen wird, kann heute noch nicht prognostiziert
werden.
Zusatzfrage?
Ich bedanke mich für die Beantwortung. Uns würde
noch interessieren, wer Mitglied der interdisziplinären
Arbeitsgruppe ist und welche Auswahlkriterien angelegt
wurden.
Frau Kollegin Hönlinger, da ich die Besetzungsliste
nicht dabeihabe, schlage ich vor, dass ich diese Frage
schriftlich beantworte.
Danke schön.
Weitere Zusatzfrage?
Ja. - Die UN-Behindertenrechtskonvention spielt im
Zusammenhang mit dem Betreuungsrecht eine große
Rolle. Inwieweit wird in den beiden Arbeitsgruppen, die
bestehen, auf dieser Basis diskutiert?
Selbstverständlich spielen internationale Konventionen eine Rolle. Vorgaben daraus werden in die Arbeit
der Arbeitsgruppe einfließen. Sie haben meinen Ausführungen zu der schriftlich eingereichten Frage schon entnommen, dass derzeit noch unsicher ist, ob es zu einer
Gesetzesinitiative kommt. Die Arbeit konzentriert sich
sehr darauf, Verbesserungen zu entwickeln, die man unterhalb von Gesetzesänderungen vornehmen kann.
Ich rufe Frage 3 der Kollegin Ingrid Hönlinger auf:
Wie begründet die Bundesregierung die geplante Festschreibung der Besuchshäufigkeit im Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts
({0}) vor dem Hintergrund der
Empfehlung aus dem Evaluationsbericht zum Zweiten Betreuungsrechtsänderungsgesetz, wonach die Faktoren zur
Qualität gesetzlicher Betreuung erst noch eruiert werden
müssten, und welche Konsequenzen bezogen auf die pauschalierte Leistungsvergütung hätte eine gesetzlich vorgeschriebene Besuchshäufigkeit?
Zu dieser Frage darf ich Ihnen mitteilen, dass hier
wahrscheinlich ein Missverständnis vorliegt; denn in
dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts auf Drucksache 17/3617 ist
eine Regelung der Besuchshäufigkeit und damit eine
Festschreibung der persönlichen Kontakte des Betreuers
zu seinem Betreuten gar nicht vorgesehen. Das, was in
der Frage angesprochen wird, betrifft die Mündel, aber
nicht die Betreuten.
Weil die Häufigkeit der persönlichen Kontakte bei
Berufsbetreuern rückläufig ist, hat sich allerdings die
Frage gestellt, ob im Betreuungsrecht eine entsprechende Regelung getroffen werden sollte. Diese Frage
wurde von der schon genannten vom BMJ eingesetzten
interdisziplinären Arbeitsgruppe zur Überprüfung des
Betreuungsrechts nach intensiver Diskussion verneint.
Das freut mich, weil wir schon aus verschiedenen
Oberlandesgerichtsbezirken gehört haben, dass die Betreuungen auf 50 gedeckelt werden sollen. Von daher ist
Ihre Antwort sehr interessant.
Ich möchte noch eine Nachfrage stellen. Es gibt einen
Evaluationsbericht des Instituts für Sozialforschung und
Gesellschaftspolitik. Inwieweit fließt dieser in die Arbeit
der Arbeitsgruppe ein?
Auch hier gilt das, was ich vorhin gesagt habe: Erkenntnisse aus der Praxis und der Wissenschaft werden
natürlich in dieser Arbeitsgruppe verwertet. - Derzeit ist
ein Schwerpunktthema der Arbeitsgruppe die Strukturreform des Betreuungsrechts. Dies beinhaltet auch die
Frage, ob Aufgaben, die bisher bei den Betreuungsgerichten angesiedelt sind, auf Betreuungsbehörden übertragen werden sollten. Bei diesem Punkt zeichnet sich
als Mehrheitsmeinung ab, dass man es bei der bisherigen
Rechtslage belassen sollte.
Insgesamt ist zu sagen: Das Betreuungsrecht ist in der
jetzigen Form Anfang der 90er-Jahre geschaffen worden. Es ist also ein relativ junges Rechtsgebiet. Es gab
meines Wissens schon drei größere Novellen. Daran sehen Sie, dass wir laufend beobachten, welchen Verbesserungsbedarf es gibt, und dann im Parlament entsprechende Vorschläge machen.
Ich habe noch eine Nachfrage zu den Stundensätzen.
Diese sind ja immer ein Thema in der Diskussion über
das Betreuungsrecht. Inwiefern wird über eine Anpassung der Stundensätze oder der pauschalierten Stundenzahlen nachgedacht?
Ihre Ausgangsfrage bezog sich ja darauf, ob die Besuchshäufigkeit gesetzlich festgeschrieben wird. Daraus
könnte man Folgerungen auch für die Vergütung ziehen.
Da diese Frage aber zu verneinen war, ergibt sich daraus
keine zwangsläufige Notwendigkeit für Änderungen.
Unabhängig davon hat Ihre Fraktion dazu meines
Wissens eine Kleine Anfrage mit verschiedenen Fragestellungen aus dem Bereich der Vergütung gestellt. Ich
darf auf die Beantwortung, die bevorsteht, verweisen.
Ich rufe die Frage 4 des Kollegen Burkhard Lischka
auf:
Worin bestand die „umfassende Untersuchung“ zur Rolle
des Justizministeriums während der NS-Zeit, und was sind die
wesentlichen Ergebnisse dieser Untersuchung, auf die ein
Sprecher des Bundesministeriums der Justiz in einem Beitrag
zu Forderungen nach der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit
von Bundesministerien gegenüber der tageszeitung ({0}) verwiesen hat, um dann auszuführen, dass
„kein weiterer Handlungsbedarf“ bestehe?
Herr Kollege Lischka, das Bundesministerium der
Justiz hat sich bereits seit den 1980er-Jahren als wohl
erstes Ressort selbstkritisch mit seiner Geschichte auseinandergesetzt, und zwar auch mit personellen Kontinuitäten nach 1945. Ich darf folgende Beispiele nennen:
1984 publizierte das Bundesministerium der Justiz die
kritische Broschüre Justiz im nationalsozialistischen
Deutschland. 1987 förderte das BMJ eine wissenschaftliche Untersuchung zur Rolle des Reichsjustizministeriums im Dritten Reich, und zwar die Abhandlung von
Lothar Gruchmann: Justiz im Dritten Reich, 1933-1940,
Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner. Das
Buch gilt mittlerweile als Standardwerk zu dem Thema.
1989 erstellte das BMJ die Wanderausstellung und den
Katalog Im Namen des Deutschen Volkes - Justiz und
Nationalsozialismus. Diese Ausstellung ist in eigener
Regie des Bundesjustizministeriums entstanden, begleitet durch einen wissenschaftlichen Beirat von Experten.
Ich kann das, glaube ich, etwas abkürzen; denn wir
haben eine längere Liste zusammengetragen. Wissenswert für Sie ist sicherlich noch Folgendes: In der Ausstellung und im Katalog Im Namen des Deutschen Volkes Justiz und Nationalsozialismus nimmt die Zeit nach
1945 knapp ein Drittel des Umfangs ein. Das ist deswegen wichtig, weil dort auch exemplarische Fälle personeller Kontinuitäten im Bundesjustizministerium genannt werden, nämlich Generalbundesanwalt Fränkel
und seine Mitwirkung an Todesurteilen sowie Ministerialrat Maßfeller als Kommentator des „Blutschutzgesetzes“.
Diesen Beispielen können Sie entnehmen, dass das
Bundesministerium der Justiz sich seiner Historie gestellt hat.
Ich sage auch ganz klar zum Ende dieser Antwort:
Sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Justiz und
im Bundesjustizministerium selbst gibt es heute keinerlei Zweifel daran, dass während der NS-Diktatur die Justiz und das damalige Reichsjustizministerium an zahlreichen Verbrechen mitgewirkt haben. Ebenso unstreitig ist
die sogenannte zweite Schuld der bundesdeutschen Justiz, nämlich ihr Versagen bei der juristischen Aufarbeitung und der personellen Erneuerung nach 1945. Das sei
von unserer Seite in aller Klarheit hier festgestellt.
({0})
Zusatzfragen?
Vielen Dank, Herr Staatssekretär Stadler, für diese
Antwort. Mich würde interessieren, ob im Zusammenhang dieser Aufarbeitung und der Studien vor allen Dingen aus den 80er-Jahren, die Sie angesprochen haben,
ermittelt wurde, wie viele Mitarbeiter mit nationalsozialistischer Vergangenheit eigentlich im BMJ weiterbeBurkhard Lischka
schäftigt wurden. Gibt es auch dazu Erkenntnisse? Gibt
es möglicherweise sogar Namenslisten?
Herr Kollege Lischka, das ist mir bei der Vorbereitung nicht präsent gewesen. Ich lasse gerne nachprüfen,
ob es auch hierüber Informationen gibt. Jedenfalls gab es
vielfältige schriftliche historische Auseinandersetzungen
mit der NS-Zeit, übrigens beginnend - das will ich hier
nicht unterschlagen - durch den allseits hochgeschätzten
seinerzeitigen Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel,
den früheren Vorsitzenden der Sozialdemokratischen
Partei. Ob der von Ihnen genannte Inhalt gegebenenfalls
mit bearbeitet worden ist, müsste ich noch prüfen lassen.
Weitere Zusatzfrage?
Herr Staatssekretär, Sie haben angesprochen, dass ein
Großteil der Aufarbeitung in den 80er-Jahren erfolgt ist.
Nun ist in der historischen Forschung ein Zeitraum von
30 Jahren durchaus ein erheblicher Zeitraum, weil auch
neue Quellen und neue Archive zugänglich gemacht
werden. Vor diesem Hintergrund: Halten Sie eine weitere Bearbeitung dieses Themas für erforderlich, gerade
auch deshalb, weil es neue Quellen und Archive gibt, die
auch zu neuen Erkenntnissen führen könnten?
Herr Kollege Lischka, meinen umfangreichen Ausführungen, die ich aus Zeitgründen sogar gekürzt habe,
konnten Sie entnehmen, dass sich das Bundesministerium der Justiz seiner Nazivergangenheit, besser gesagt,
der Tätigkeit des Reichsjustizministeriums in der NSZeit, bereits sehr umfassend gestellt hat. Selbstverständlich sind wir jederzeit bereit, Hinweisen auf weiße Flecken in der Forschung, wenn es diese gibt, nachzugehen.
Im Moment besteht der Eindruck - diese Debatte ist
mittlerweile seit einigen Wochen im Gange -, dass gerade dieses Ministerium betreffend schon eine sehr sorgfältige Aufarbeitung erfolgt ist.
Ich rufe die Frage 5 der Kollegin Christine Lambrecht
auf:
Sieht sich die Bundesregierung unter anderem angesichts
der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6. Oktober 2010
({0}) zur Dauer des Unterhaltsanspruchs von
Frauen, die in der Ehe über Jahre Haushaltsführung und Kindererziehung übernommen haben, zu einer gesetzlichen Klarstellung oder gar Gesetzesänderung im Bereich des Unterhaltsrechts veranlasst?
Ich darf für die Bundesregierung feststellen, dass wir
selbstverständlich die Sorgen und Ängste von lange verheirateten Ehegatten, die eine „traditionelle Ehe“ gelebt
haben, sehr ernst nehmen. Wir beobachten daher genau,
ob die Rechtsprechung den mit der Unterhaltsrechtsreform 2008 verfolgten Zielen auch gerecht wird. Derzeit analysieren wir die Rechtsprechung zur Befristung
und Begrenzung von Unterhaltsansprüchen in den Fällen, in denen die Ehe lange vor Inkrafttreten der Reform
geschlossen worden ist. Hier ist in der Tat zu prüfen, ob
ein Nachjustieren angezeigt ist. Ein Ergebnis dieser Prüfung kann man aber nicht vorwegnehmen.
Herr Staatssekretär, der BGH hat in seiner Entscheidung nicht etwa ehebedingte Nachteile, sondern die
nacheheliche Solidarität zugrunde gelegt. Deswegen
meine Rückfrage: Wird der Schwerpunkt auch bei diesen Erwägungen eher auf die nacheheliche Solidarität
gelegt? Wie sind die Überlegungen hierzu?
In der Tat - da haben Sie völlig recht - gibt es im Unterhaltsrecht zwei tragende Gesichtspunkte, die, zumindest teilweise, in einem Spannungsverhältnis zueinander
stehen: auf der einen Seite den Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit der beiden früheren Ehepartner nach einer Scheidung, auf der anderen Seite den von Ihnen zu
Recht genannten Grundsatz der nachehelichen Solidarität.
Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung,
die freilich keine abschließende ist, weil der konkrete
Fall zur Ermittlung weiterer Umstände des Einzelfalls an
das Oberlandesgericht zurückverwiesen worden ist, den
Gesichtspunkt der nachehelichen Solidarität erkennbar
sehr stark gewichtet. Das ist im Unterhaltsrecht allerdings schon in der Reform der sozialliberalen Koalition
in den 70er-Jahren so angelegt worden. Aus diesem
Grund, glaube ich, bestand bei der Verabschiedung dieser Reform, die seit 2008 gilt, Einigkeit in diesem Haus,
dass man eine Regelung finden muss, die es ermöglicht,
dass die Gerichte möglichst alle Umstände des Einzelfalls einbeziehen: eine lange Ehedauer, die Umstände
und Voraussetzungen, unter denen eine Ehe geschlossen
worden ist, welche Unterhaltsregelungen zu diesem
Zeitpunkt gegolten haben usw. usf.
Unsere Aufgabe besteht jetzt darin, die Rechtsprechung zu beobachten und sie daraufhin zu überprüfen,
ob aufgrund dieser Rechtslage praktikable und dem Willen des Gesetzgebers entsprechende Ergebnisse erzielt
werden. Für eine abschließende Beurteilung ist es aber
noch zu früh, weil die letzte Reform erst kurze Zeit zurückliegt. Wir werden zu gegebener Zeit über unsere
Analyse berichten.
Zu der Formulierung „zu gegebener Zeit“ noch eine
Rückfrage. Die Frau Ministerin hat beim „Forum Unterhaltsrecht“ des DAV angekündigt, dass man die Rechtsprechung zu dieser Fragestellung auswerten und dann
gegebenenfalls Rückschlüsse auf gesetzgeberische Maßnahmen ziehen möchte.
Deswegen meine Frage: Bis wann ungefähr können
wir mit einer solchen Auswertung rechnen?
Es ist genau so, wie Sie es darstellen. Wir streben an,
die Auswertung noch im ersten Halbjahr des nächsten
Jahres vorzulegen. Man kann aber heute nicht vorhersagen, dass wir Ihnen dann Gesetzesänderungen werden
vorschlagen müssen. Möglicherweise reicht der geltende
Gesetzesrahmen - im Sinne der genannten Grundsätze,
die das Unterhaltsrecht prägen - zu den passenden Einzelfallentscheidungen. Auf alle Fälle ist es das Ziel, Sie
nicht mehr allzu lange auf die Auswertung warten zu lassen, sondern sie im ersten Halbjahr 2011 vorzulegen.
Weitere Zusatzfragen sehe ich dazu nicht.
Die Frage 6 der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann wird
schriftlich beantwortet, ebenso die Frage 7 des Kollegen
Volker Beck.
Dann rufe ich die Frage 8 der Kollegin Dr. Eva Högl
auf:
Wann legt die Bundesregierung ihren Vorschlag für eine
neue Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG zur Vorratsdatenspeicherung vor, und welche Kriterien zum Grund und zur
Dauer der Speicherung wird diese voraussichtlich erhalten?
Frau Dr. Högl, wie Sie wissen, ist die Richtlinie 2006/
24/EG gegenwärtig Gegenstand einer Bewertung durch
die Organe der Europäischen Union. Art. 14 dieser
Richtlinie gibt vor, dass die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat eine Bewertung der Anwendung dieser Richtlinie sowie ihrer Auswirkungen
auf die Wirtschaftsbeteiligten und die Verbraucher vorlegt, um festzustellen, ob die Bestimmungen der Richtlinie gegebenenfalls geändert werden müssen. Mit dem
Abschluss dieser Evaluation ist nach jüngsten Informationen aus der Kommission im nächsten Quartal zu rechnen. Im aktuellen Arbeitsprogramm kündigt die Kommission eine Bewertung und Überarbeitung der
Richtlinie an.
Auch wenn diese Evaluierung, über die ich jetzt berichtet habe, die europarechtliche Verpflichtung zur innerstaatlichen Umsetzung der Richtlinie nicht suspendiert, so erscheinen doch angesichts der vor dem
Abschluss stehenden Evaluation und Bewertung der
Richtlinie durch die Europäische Kommission sowohl
Planungen zu einem Zeitrahmen für eine etwaige Neuregelung als auch diesbezügliche inhaltliche Festlegungen
verfrüht. Angaben zum Verfahren und zum Zeitplan für
eine erneute Umsetzung setzen zudem voraus, dass das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010
und die daraus zu ziehenden konkreten Konsequenzen
für das nationale Recht umfassend geprüft sind, um abschätzen zu können, welche Maßnahmen konkret zur Erfüllung der gegebenenfalls zu überarbeitenden Richtlinie
eingeleitet werden müssen.
Diese Prüfung der Entscheidung des Verfassungsgerichts nimmt die Bundesregierung unter besonderer Berücksichtigung der Erfordernisse der Gefahrenabwehr
und der Strafverfolgung derzeit vor. So haben die Bundesministerien der Justiz und des Innern beispielsweise
Ende September 2010 einen gemeinsamen Workshop
zur Klärung praktischer, technischer und finanzieller
Fragen im Zusammenhang mit der Speicherung von
Telekommunikationsverkehrsdaten durchgeführt. Daran
waren zahlreiche Telekommunikationsunternehmen, deren
Verbände, Datenschutzbeauftragte, Vertreter der Wissenschaft und weitere Interessierte beteiligt. Auch dabei
- damit schließe ich die etwas umfängliche Antwort hat sich gezeigt, welch schwierige Probleme etwa technischer Art, zum Beispiel bei der Verschlüsselung der
Daten, eine etwaige Neuumsetzung der Richtlinie aufwirft.
Bitte schön, Frau Dr. Högl.
Herr Staatssekretär, ganz herzlichen Dank für Ihre
Antwort. Ich habe noch eine Nachfrage. Die Problematik, die sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergibt, nämlich dass die gegenwärtige oder bisher praktizierte Vorratsdatenspeicherung unwirksam ist
und gestoppt wurde, ist eine nationale Problematik in
Deutschland. Vielleicht können Sie noch einmal ganz
kurz erläutern, warum Sie dennoch die Evaluierung der
europäischen Richtlinie, die wir, wie Sie gesagt haben,
ohnehin umsetzen müssen, abwarten wollen und welche
Erkenntnisse Sie sich von dieser Evaluierung für die notwendige deutsche Umsetzung versprechen.
Frau Kollegin Dr. Högl, das Parlament hat zur Zeit
der Großen Koalition nur deshalb einen Beschluss zur
Vorratsdatenspeicherung gefasst, weil dies durch eine
Richtlinie der Europäischen Union vorgegeben war. Zuvor hatte sich nämlich nach meiner Erinnerung der gesamte Deutsche Bundestag in einem anderen Beschluss
einstimmig gegen die Einführung der Vorratsdatenspeicherung gewandt, er war dann aber an die Umsetzung
der Richtlinie gebunden.
Nun haben wir die Situation, dass diese Richtlinie
auch innerhalb der Europäischen Union zunehmend kritisch gesehen wird. Die zuständige Kommissarin, Frau
Reding, hat sich im Rechtsausschuss des Deutschen
Bundestages - Sie waren zugegen - als erklärte Gegnerin der Vorratsdatenspeicherung geoutet. Es gibt mehrere
europäische Länder, die die Richtlinie nicht umgesetzt
haben. Manche haben sie umgesetzt, was aber, wie in
Deutschland, von deren eigenem Verfassungsgericht
wieder aufgehoben worden ist. Die Debatte auf europäischer Ebene ist insgesamt also sehr im Fluss.
Ein Punkt kommt hinzu: Inzwischen ist die europäische Grundrechtecharta in Kraft getreten, die nun auch
in die Evaluierung einfließen muss.
Unter diesen veränderten Umständen gegenüber den
Vorgaben, die der Gesetzgeber zur Zeit der Großen Koalition hatte, erscheint es uns zweckmäßig, vor weiteren
nationalen Aktivitäten die Entwicklung in Europa im
Auge zu behalten.
({0})
Herr Staatssekretär, herzlichen Dank auch für diese
Antwort. Ich habe trotzdem noch eine Nachfrage.
Da wir als großes Land nicht irgendein Mitgliedstaat
in der Europäischen Union sind und es für die weitere
Debatte über die europäische Richtlinie vielleicht auch
nicht ganz unwichtig ist, was in Deutschland diskutiert
wird, möchte ich Ihnen die Frage stellen: Was wird die
Bundesregierung in diese Evaluierung einbringen? Wel-
che wesentlichen Gesichtspunkte können Sie uns heute
nennen, von denen Sie sagen: Es ist wichtig, dass
Deutschland sie a) in die Evaluierung der bisherigen Pra-
xis und b) in die Debatte über die Zukunft der Vorratsdatenspeicherung auf europäischer Ebene einbringt?
Die Bundesregierung hat dort über die markante Entscheidung, wenn ich das so formulieren darf, des Bundesverfassungsgerichts vom 2. März 2010 vorgetragen
und wird dies auch weiter tun. Ich kann mich an kaum
einen Fall erinnern, dass das Verfassungsgericht gesagt
hat, eine Maßnahme, die in Grundrechte eingreift, sei
von einer bisher nie gekannten Streubreite und erzeuge
das diffuse Gefühl, ständig beobachtet zu werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns auch aufgegeben, dass wir nicht beliebig Datensammlungen großer
Quantität anlegen können. Wir verweisen in der Debatte
in Europa also auf diese klare Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, durch die gleichwohl, damit das
nicht falsch ankommt, eine Neuregelung nicht gänzlich
ausgeschlossen wird. Die Karlsruher Richter stehen dem
aber offenkundig sehr kritisch gegenüber.
Darüber hinaus tragen wir dort natürlich auch über
die praktischen Erfahrungen vorher, während der Geltung und seither vor.
Die Frage 9 des Kollegen Winfried Hermann wird
schriftlich beantwortet.
Mit Dank an den Kollegen Stadler kommen wir nun
zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Für die Beantwortung der Fragen steht der Kollege Staatssekretär Koschyk zur Verfügung.
Die Frage 10 des Kollegen Dr. Schick und die
Frage 11 des Kollegen Paula werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 12 des Kollegen Ströbele auf:
Warum hat die Bundesregierung bisher nicht die Gewährung von Garantien und Krediten in Milliardenhöhe aus Steuermitteln an Staaten wie jetzt an Irland und vorher an Griechenland oder an Finanzinstitute in Deutschland von Auflagen und
Bedingungen abhängig gemacht, dass die privaten Geldhäuser, die von solchen Hilfen letztlich profitieren, durch Zahlungen oder durch Kreditausfall an der Lösung der Schuldenkrise
beteiligt werden, und welche konkreten Schritte wird die Bundesregierung kurzfristig und zeitnah unternehmen, um der
Forderung der Bundeskanzlerin Rechnung zu tragen, die Finanzindustrie solle beim Lösen der Schuldenkrise Verantwortung übernehmen ({0})?
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege
Ströbele, während der Finanzkrise war die Bundesregierung gefordert, unmittelbar zu reagieren, um die Märkte
schnell zu beruhigen und einzelne systemrelevante Institute zu stabilisieren. Inzwischen hat die Bundesregierung auf der G-20-Ebene, auf europäischer Ebene, aber
auch national eine ganze Reihe von Maßnahmen angestoßen, durchgesetzt und im nationalen Bereich auch
schon umgesetzt, um diese Verantwortung des Finanzsektors für die Bewältigung der Finanzmarktkrise und
ihrer Auswirkungen auf die Realwirtschaft sicherzustellen.
Herr Kollege Ströbele, ich darf nur darauf verweisen,
dass wir den Finanzsektor durch die Einführung der
Bankenabgabe, mit der ein Restrukturierungsfonds finanziert wird, stärker zu den Kosten der Bewältigung
von Bankenschieflagen heranziehen werden. Deutschland hat sich auch auf der G-20-Ebene erfolgreich dafür
eingesetzt. Es ist jetzt in Seoul beim G-20-Gipfel bestätigt worden, dass die Eigenkapitalvorschriften für Banken wesentlich verschärft werden, damit die Banken in
Zukunft mit dem für ihre Transaktionen notwendigen Eigenkapital ausgestattet sind.
Sie fragen auch danach, inwieweit zum Beispiel im
Hinblick auf Griechenland und Irland bei der Lösung,
die jetzt auf europäischer Ebene mit dem IWF vorangebracht worden ist, der Finanzsektor Verantwortung übernimmt. Ich darf Ihnen im Hinblick auf das, was jetzt in
Irland auf den Weg gebracht worden ist, zum Beispiel
mitteilen, dass in Irland der Finanzsektor auch dadurch
beteiligt wird, dass bei der Restrukturierung des Bankensektors die Einbeziehung des Privatsektors bereits gegeben ist. So sind die Aktionäre der Banken in Irland durch
die Hilfe praktisch enteignet worden. Es ist beabsichtigt,
für die Gläubiger nachrangiger Bankanleihen hohe Abschläge zu machen. Bei der schon seit längerem vollständig verstaatlichten Anglo Irish Bank kam es bereits
für einen Teil der nachrangigen Anleihen zu einem Abschlag von 80 Prozent.
Sie wissen, Herr Kollege Ströbele, dass es der Bundesregierung in den vergangenen Monaten auf europäischer Ebene gelungen ist, die europäischen Partner
davon zu überzeugen, dass sich aus dem derzeitigen
europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus aus
EFSM und EFSF - das sind die beiden Instrumente, die
uns jetzt auf europäischer Ebene für die Bewältigung der
Krise im Hinblick auf Griechenland und Irland zur Verfügung stehen - ein auf Dauer angelegter Krisenbewältigungsmechanismus entwickeln soll, um die Gefährdungen für die Finanzstabilität der Euro-Zone insgesamt
auch in Zukunft abwenden zu können. Dabei ist die Beteiligung des Privatsektors als ein wesentliches Element
des permanenten Krisenbewältigungsmechanismus vorgesehen.
Danke, Herr Staatssekretär. Das war schon ein bisschen was.
({0})
Aber ich habe eigentlich auch die deutschen Banken gemeint. Können Sie bestätigen, dass die Bundesregierung
auf dem Arbeitgebertag letzte Woche davon gesprochen
hat, dass es kein „Schlaraffenland für Banker“ geben
dürfe und dass mit „Schlaraffenland für Banker“ die
Bundesrepublik Deutschland gemeint war? Welche Inanspruchnahme deutscher Banken, die gerade von der
beabsichtigten Rettung Irlands aus Steuergeldern profitieren würden, ist vorgesehen? Welchen Anteil an den
riesigen Verlusten, die verschmerzt werden müssen, nehmen die Deutsche Bank, aber auch andere deutsche
Großbanken auf sich, vor allen Dingen angesichts dessen, dass trotz der Finanzkrise oder nach dem Abflauen
der Finanzkrise die deutschen Großbanken wie die Deutsche Bank wieder erhebliche Profite einstreichen können, die zu erheblichen Erhöhungen etwa der Boni bei
den Banken geführt haben? Wann sind die deutschen
Banken dran?
Herr Kollege Ströbele, ich habe davon gesprochen,
dass es der Bundesregierung gelungen ist, auf europäischer Ebene Zustimmung dafür zu finden, dass wir einen
auf Dauer angelegten Krisenbewältigungsmechanismus
entwickeln werden. Das war ein schwieriges Unterfangen, weil es auch bei anderen Mitgliedstaaten starke Bedenken gegeben hat, diesen dauerhaften Krisenbewältigungsmechanismus so auszugestalten, dass in Zukunft
auch der Privatsektor eingezogen wird. Wenn diese
Maßnahmen, die jetzt noch vom Europäischen Rat abschließend gebilligt und in entsprechendes Vertragsrecht
gekleidet werden müssen, greifen, dann werden alle
Banken und Finanzinstitute bei der Bewältigung künftiger Krisen in einem abgestuften Verfahren mit herangezogen und entsprechend in die Verantwortung genommen werden.
Ist es richtig, dass erst ab dem Jahr 2013, also in
knapp drei Jahren, tatsächlich die Chance besteht, dass
beispielsweise die deutschen Großbanken in Anspruch
genommen werden könnten?
Die Rechtslage ist so, dass die gegenwärtig auf europäischer Ebene eingerichteten Instrumente - sowohl
EFSM als auch EFSF, der Rettungsschirm, die Zweckgesellschaft - die Einbeziehung des privaten Sektors nicht
vorsehen. Es war, als im Hinblick auf Griechenland dringend zeitnah gehandelt werden musste, nicht möglich,
dafür Mehrheiten auf europäischer Ebene zu gewinnen,
um bei den bereits vorhandenen Instrumenten den Privatsektor einzubeziehen.
Ich habe Ihnen am Beispiel Irlands deutlich gemacht,
dass das in Irland der Fall ist, auch durch die Art und
Weise, wie irische Banken verstaatlicht worden sind,
und auch dadurch, dass sie in erheblicher Weise zur Bewältigung der Bankenkrise in Irland beitragen müssen.
Selbstverständlich wird die Bundesregierung darauf
bestehen, dass der zukünftige Krisenbewältigungsmechanismus, der ab dem Jahr 2013 die bisherigen Instrumente ablösen wird, nur unter Einbeziehung des Privatsektors zustande kommt. Nach der Einigung, die auf der
Ebene der Finanzminister am vergangenen Wochenende
unter Einbeziehung von Kommission, EZB und des
Ratspräsidenten Van Rompuy erreicht worden ist, bestehen gute Chancen, Herr Kollege Ströbele, dass das auch
das Ergebnis des Europäischen Rates im Dezember sein
wird.
Die Frage 13 des Kollegen Ernst wird schriftlich beantwortet - ({0})
- Sie dürfen, sicher, ich habe sie nur nicht registriert.
Das kann einmal passieren.
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, Sie haben das, was der Kollege
Ströbele gefragt hat, jetzt mit Blick in die Zukunft beantwortet. In seiner Frage war aber auch enthalten, ob wir
die Chance haben, und wenn ja, wann, einmal etwas von
dem, was wir in die Rettung der deutschen Banken, zum
Beispiel HRE oder Commerzbank, gesteckt haben, zurückzubekommen. Wie sieht denn da die Zukunft aus?
Sie wissen, Herr Kollege, dass zum Beispiel das
Engagement des Bundes bei der Commerzbank vorsieht,
dass, wenn die Commerzbank in einer stabileren Situation ist, die Beteiligung des Bundes an der Commerzbank entsprechend verzinst werden muss.
Bei der HRE ist es so, dass der Bund inzwischen Volleigner dieses Instituts ist. Da ist es uns in einer der
schwierigsten Transaktionen der deutschen Finanzgeschichte gelungen, die sogenannten schlechten Assets,
die problematischen Dispositionen in der Bank, in eine
sogenannte Bad Bank auszulagern. Dabei bleibt es das
Bemühen der Bundesregierung, durch ihren Einfluss die
HRE nach Abspaltung der schlechten Assets durch die
Bad Bank wieder in die Gewinnzone zu bringen und sie
dann so früh wie möglich zu veräußern, damit das, was
zur Stabilisierung dieser Bank notwendig war, für den
Steuerzahler zurückgewonnen werden kann.
Die Frage 13 des Kollegen Ernst, die Frage 14 der
Kollegin Schmidt ({0}) sowie die Fragen 15 und 16
der Kollegin Krellmann werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Hans-Josef Fell
auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, die derzeitige Regelung beizubehalten, wonach Biokraftstoffe der sogenannten
ersten Generation ab 1. Januar 2013 in gleicher Höhe besteuert werden wie die Erdölderivate Benzin und Diesel, und, falls
nein, welche konkreten Pläne hat die Bundesregierung, eine
sogenannte Unterkompensation bei der steuerlichen Förderung von Biodiesel und Pflanzenöl zukünftig zu vermeiden?
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Verehrter Herr
Kollege Fell, Biokraftstoffe werden in der Bundesrepublik Deutschland in erster Linie über die Biokraftstoffquote gefördert. Daneben sind für einen Übergangszeitraum auch steuerliche Begünstigungen vorgesehen.
Diese steuerlichen Begünstigungen für konventionelle
Biokraftstoffe, Biodiesel und Pflanzenölkraftstoff laufen
entsprechend der hierzu von der Europäischen Kommission erteilten beihilferechtlichen Genehmigung Ende des
Jahres 2012 weitestgehend aus. Planungen der Bundesregierung, diese steuerlichen Förderungen zu verlängern,
gibt es nicht. Dies entspricht auch den Vorgaben des
Energiekonzepts der Bundesregierung, das eine Fortführung der steuerlichen Förderung von konventionellen Bioreinkraftstoffen nicht vorsieht.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär Koschyk. - Ich
denke, dass dies nicht dem Koalitionsvertrag der
schwarz-gelben Regierung entspricht. Dort steht nämlich, es wird eine Wiederbelebung des Marktes für reine
Biokraftstoffe angestrebt. Genau dieser wurde aber
durch die Besteuerung der reinen Biokraftstoffe zurückgedrängt, mit der Folge vieler Unternehmenskonkurse
und der Freisetzung vieler Arbeitnehmer. Die Besteuerung hat insgesamt zu einem Rückgang der Nutzung der
Biokraftstoffe in Deutschland geführt. Mit der Beimischungsverpflichtung konnte dies nicht aufgefangen
werden. Da das Ziel im Koalitionsvertrag klar artikuliert
ist, möchte ich Sie eindringlich fragen, ob Sie sich damit
von diesem Ziel des Koalitionsvertrages verabschiedet
haben. Denn mit einer vollen Besteuerung würde - auch
entgegen der Vorgabe der EU-Kommission, Unterkompensationen zu vermeiden - dieses Ziel nicht erreicht
werden. Die volle Besteuerung reiner Biokraftstoffe
wird bei einem höheren Kaufpreis des Pflanzenrohöls
für Biodiesel oder reine Pflanzenöle zu einem deutlich
höheren Marktpreis im Vergleich zu besteuertem Diesel
und Benzin an den Tankstellen führen. Dieser Markt ist
dann in Deutschland für immer beendet.
Herr Kollege Fell, die Frage, ob Bioreinkraftstoffe bei
dem geplanten Wegfall der Steuerbegünstigung ab 2013,
wie Sie sagen, unterkompensiert sind, würde sich aus
Sicht der Bundesregierung nur dann stellen, wenn neben
der steuerlichen Förderung keine weiteren Förderinstrumente bestehen würden. Das ist aber bei Biokraftstoffen
aufgrund der Quotenverpflichtung und der daraus folgenden garantierten Nachfrage nach Biokraftstoffen
gerade nicht der Fall. Die steuerliche Förderung von
Bioreinkraftstoffen wurde lediglich für einen Übergangszeitraum beibehalten, um den ursprünglich auf den
Reinkraftstoffmarkt ausgerichteten Anbietern eine Umstellung auf den Beimischungsmarkt zu ermöglichen.
Nach Meinung der Bundesregierung besteht für ein dauerhaftes Nebeneinander unterschiedlicher Fördermaßnahmen kein Bedarf.
Ich denke, dass wir von zwei verschiedenen Dingen
reden. Ein Markt für reine Biokraftstoffe ist kein Beimischungsmarkt. Wenn Sie davon reden, dass der Markt
für reine Biokraftstoffe durch die Quotenregelung befördert werde, dann heißt das, dass er nur durch die Beimischung befördert wird und eben nicht als Markt existent
ist, zu dem reine Biokraftstoffe einen direkten Zugang
über die Tankstellen haben. Insofern widersprechen Sie
sich hier. Es gibt keine Unterstützung für den Markt für
reine Biokraftstoffe. Er ist zum Erliegen gekommen. Die
Tankstellen sind nach und nach geschlossen worden. Es
gibt sie faktisch nicht mehr. Wie gesagt, mit der Quotenregelung kann dies nicht aufgefangen werden. Damit bestätigen Sie letztendlich meine Befürchtung. Es wird
keine Unterstützung durch die Bundesregierung zur
Wiederbelebung des Marktes für reine Biokraftstoffe als
Direktvermarktung an Tankstellen mehr geben.
Ich kann nur die Auffassung der Bundesregierung
wiederholen, dass die steuerliche Förderung von Bioreinkraftstoffen lediglich für einen Übergangszeitraum
beibehalten wurde, um den ursprünglich auf den Reinkraftstoffmarkt ausgerichteten Anbietern eine Umstellung auf den Beimischungsmarkt zu ermöglichen, und
dass die Bundesregierung für eine Parallelität unterschiedlicher Fördermaßnahmen keinen Bedarf sieht.
({0})
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereichs des
Bundesministeriums der Finanzen. Vielen Dank an den
Kollegen Koschyk.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Ernst Burgbacher zur Verfügung.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Da die Kollegin Wicklein nicht da ist, wird die Frage
18 nicht beantwortet. Es wird verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen. Der Kollege Hacker, der die
Frage 19 gestellt hat, hat um schriftliche Beantwortung
gebeten. Das gilt auch für die Fragen 20 und 21 der Kollegin Hiller-Ohm. Die Fragen 22 und 23 des Kollegen
Manfred Nink werden schriftlich beantwortet, genauso
wie die Fragen 24 und 25 des Kollegen Garrelt Duin und
die Frage 26 der Kollegin Doris Barnett.
Ich komme zu Frage 27 des Kollegen Klaus Barthel:
Wie bewertet die Bundesregierung den seit Anfang des
Jahres verstärkten Trend einer weltweiten Verknappung der
Verfügbarkeit von Rohstoffen, insbesondere bei seltenen Erden, und ist die Bundesregierung bereit, sich bezüglich der
chinesischen Ausfuhrbeschränkungen für seltene Erden für
eine Überprüfung vor dem Welthandel-Streitbeilegungsmechanismus einzusetzen?
Herr Staatssekretär Burgbacher, bitte.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr
Kollege Barthel, ich beantworte Ihre Frage nach der Verfügbarkeit von Rohstoffen, insbesondere die der seltenen
Erden, wie folgt: Die Situation auf den internationalen
Rohstoffmärkten ist generell von einer rasant steigenden
Nachfrage und - siehe seltene Erden - einer zumindest
teilweisen Verknappung des Angebots geprägt, einhergehend mit steigenden bzw. stark schwankenden Preisen
und oftmals intransparenten Angebotsstrukturen.
Mit Blick auf die langfristige und zuverlässige Sicherung von Rohstoffbezugsquellen ist es angesichts der hohen Importabhängigkeit Deutschlands von wichtigen Industrierohstoffen mehr denn je erforderlich, dass alle
politischen Ebenen kohärent handeln.
Die am 20. Oktober 2010 vom Bundeskabinett beschlossene Rohstoffstrategie der Bundesregierung trägt
der veränderten Situation auf den Rohstoffmärkten
Rechnung. Zusammen mit europäischen und internationalen Partnern setzt sich die Bundesregierung für eine
Verbesserung der Transparenz und Funktionsfähigkeit
von Rohstoffmärkten ein. Das gilt auch ausdrücklich
hinsichtlich der Finanztransaktionen und der Kontrolle
der physischen Lagerbestände.
Eine Überprüfung der Exportbeschränkungen für seltene Erden durch China im Rahmen eines WTO-Streitbeilegungsverfahrens - danach fragen Sie - ist für die
Bundesregierung eine Option, zu der aber bisher noch
keine Entscheidung gefallen ist. Zuvor müssen die erforderlichen Untersuchungen zur Sach- und Rechtslage
durchgeführt werden, mit denen die für die Handelspolitik zuständige EU-Kommission bereits begonnen hat.
Darüber hinaus sollte nach Auffassung der Bundesregierung ein solches Streitschlichtungsverfahren erst beantragt werden, wenn sich eine Entscheidung im laufenden
Verfahren der EU gegen China zu neuen anderen Rohstoffen abzeichnet.
Bitte schön.
Vielen Dank für die Antwort und dafür, dass zu erkennen ist, dass die Bundesregierung das Problem wahrnimmt. - Auch wir haben Ihre Rohstoffstrategie gelesen
und die Willenserklärung, die darin abgegeben worden
ist, zur Kenntnis genommen. Aber die Frage ist, wie Sie
das jetzt umsetzen. Es ist zum Beispiel, auch in der Presseerklärung des Ministeriums vom 20. Oktober, die Rede
davon, dass diese Problematik in den G-8- und G-20-Prozess eingebracht werden soll, dass die Bundesregierung
ressortübergreifend außenpolitische Initiativen anmahnen will und dass sämtliche Möglichkeiten multilateraler
und bilateraler Art - in diesem Fall also der Dialog mit
China oder anderen betroffenen Ländern - ausgeschöpft
werden müssen. Ihrer Antwort konnte ich jetzt nicht entnehmen, was die Bundesregierung schon konkret getan
hat.
Herr Kollege Barthel, ich habe schon auf die Rohstoffstrategie hingewiesen. Sie wissen, dass wir am
4. Oktober 2010 die Deutsche Rohstoffagentur eröffnet
haben, die für Transparenz sorgen soll und das auch tut.
Das ergibt sich aus der Rückmeldung vieler Betroffener.
Wir können manche Dinge allein tun. So reden wir zum
Beispiel über Rohstoffpartnerschaften. Wir haben ausdrücklich angeboten, diese Rohstoffpartnerschaften zu
unterstützen, allerdings nur dort, wo die Industrie das
nachfragt. Wir werden keine staatliche Rohstoffversorgung einführen, sondern das muss die Wirtschaft selbst
leisten. Wir werden aber die Wirtschaft unterstützen, wo
es notwendig ist. Das betrifft zum Beispiel die seltenen
Erden. Da müssen wir über die Vorkommen reden. Das
werde ich bei der Beantwortung der nächsten Frage tun.
Wir haben die Frage in die Gremien eingebracht. Die
EU-Kommission ist dabei, dies zu erörtern. Es gibt aber,
wie gesagt, ein laufendes Verfahren der EU gegen China.
Das wollen wir abwarten. Wir müssen die Dinge prüfen.
Ich schließe aber nicht aus, dass wir ein Verfahren anstrengen. Wir wissen um die Bedeutung des Themas
Rohstoffe. Das wird übrigens die größte Herausforderung für unsere Wirtschaft sein. Wir wissen, dass der internationale Druck und die Nachfrage enorm zunehmen.
Deshalb müssen wir selbstverständlich gemeinsam mit
der Wirtschaft dafür sorgen, dass die Versorgung mit
Rohstoffen garantiert wird.
Ich rufe die Frage 28 des Kollegen Barthel auf, die
Sie indirekt schon angesprochen haben:
Wie schätzt die Bundesregierung die Situation vieler Unternehmen aus der metallverarbeitenden Industrie ein, die mit
Lieferengpässen und dramatischen Preiserhöhungen bei seltenen
Erden konfrontiert sind, und gedenkt die Bundesregierung angesichts dieser Situation, mit potenziellen Förderländern sogenannte Rohstoffpartnerschaftsabkommen zur Beschaffung
von seltenen Erden abzuschließen?
Diese Frage habe ich schon eben indirekt angesprochen. Wir wissen, dass in letzter Zeit Rohstoffe für
Hochtechnologien im Fokus stehen. Das sind insbesondere die seltenen Erden. Die Volksrepublik China ist
hierbei mit einem Marktanteil von über 95 Prozent der
weltgrößte Produzent und Exporteur. Allerdings ist seit
einigen Jahren die Höhe der Exporte der seltenen Erden
aus China aufgrund des gestiegenen und weiter ansteigenden Energieverbrauchs Chinas und der Exportbeschränkungen rückläufig. Für das Jahr 2011 rechnen wir
mit einer weiteren Reduzierung der Exportquote.
Deshalb ist die internationale Bergbauindustrie bemüht, neue Gewinnungskapazitäten außerhalb Chinas
verfügbar zu machen. Ich habe die Zahl bereits genannt:
Momentan liegt der Marktanteil Chinas bei 95 Prozent.
Wir gehen aber davon aus, dass weniger als 65 Prozent
der Vorkommen in China zu finden sind. Mit der Inbetriebnahme neuer Produktionskapazitäten ist voraussichtlich erst ab dem Jahr 2012 zu rechnen. Das betrifft
insbesondere Australien und die USA, möglicherweise
- allerdings in geringerem Umfang - auch Vietnam und
Indien. Versorgungsengpässe bei seltenen Erden können
daher unter Berücksichtigung dieser Explorations- und
Bergbauaktivitäten in den kommenden Jahren nicht ausgeschlossen werden.
Rohstoffpartnerschaften sind eine Möglichkeit, die
Rohstoffbezugsquellen zu sichern, und zwar unter der
Voraussetzung - ich habe das schon genannt -, dass die
Industrie konkrete rohstoffwirtschaftlich und rohstoffpolitisch bedeutsame Projekte vorschlägt. Dann ist die
Bundesregierung bereit, diese Projekte politisch zu flankieren und mit den Förderländern gezielte bilaterale
Rohstoffabkommen abzuschließen.
Ihre Nachfrage.
Herr Staatssekretär Burgbacher, das ist alles schön
und gut, aber: Wenn Sie mit dem Anspruch antreten,
eine Rohstoffstrategie zu präsentieren, dann sollte diese
Strategie nicht nur Deskription und Beobachtung dessen,
was gerade passiert, beinhalten. Ihre Antworten befassen
sich mit der Beschreibung dessen, was passiert, was wir
schon längst wissen und was bereits niedergeschrieben
steht. Eine Strategie sollte auch aktives Handeln beinhalten.
Ich möchte von Ihnen genauer wissen: Wie weit sind
Sie beispielsweise mit Ihrer Rohstoffagentur vorangekommen? Wie weit sind Sie bei der Frage, die deutschen
Interessen, wie es in der Strategie beschrieben ist, klar zu
benennen und Aktivitäten im Bereich Rohstoffhandel
politisch zu flankieren? Über die Beschreibung dieser
Probleme sind wir uns einig. Mich interessiert, wie weit
Sie in Ihrem aktiven Handeln gekommen sind. Wenn Sie
mir bitte sagen könnten, was das Wirtschaftsministerium
bzw. die Bundesregierung in diesem Bereich konkret
macht.
Herr Kollege Barthel, ich habe schon gesagt, dass wir
die Rohstoffagentur gegründet haben. Sie ist am 4. Oktober 2010 eröffnet worden. Diese Agentur baut das
Rohstoffinformationssystem auf. Das ist sehr wichtig,
weil derzeit auf dem Markt eine völlige Intransparenz
herrscht. Wir sind auch im Wirtschaftsausschuss schon
darauf eingegangen, dass sowohl die Bundeskanzlerin
als auch der Bundeswirtschaftsminister bei Gesprächen
in China diese Probleme angesprochen haben. Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich hier keine Details
nennen kann. Wir sind in der Europäischen Union aktiv.
Wir sind auf die Wirtschaft zugegangen. Bundeswirtschaftsminister Brüderle hat beim BDI-Rohstoffkongress die Strategie vorgestellt. Er hat aber auch klar
gesagt, dass wir nicht vorhaben, als Staat Rohstoffsicherung zu betreiben, sondern dass wir, wie ich das schon
vorhin gesagt habe, die Industrie flankierend unterstützen wollen.
Wir müssen übrigens auch in Deutschland schauen,
wo es bei uns Vorkommen gibt - das wird die Rohstoffagentur ebenfalls leisten; es geht nicht nur um seltene
Erden, es geht auch um andere Rohstoffe - und welche
Einschränkungen es bei der Nutzung gibt. Das betreiben
wir momentan sehr massiv. Wir sind schon ziemlich weit
gekommen.
Eine Zusatzfrage des Kollegen Grund.
Herr Staatssekretär, teilen Sie zum Ersten meine Einschätzung, dass die deutsche Industrie und auch der
deutsche Staat zu lange blauäugig geglaubt haben, man
könne seltene Erden und Rohstoffe zu bezahlbaren Preisen am Weltmarkt kaufen und brauche keine nationale
Strategie zur Sicherung von seltenen Rohstoffen und
dem Zugang zu ihnen?
Zum Zweiten. Sie haben in Ihren Antworten darauf
verwiesen, dass die Volksrepublik China 95 Prozent der
Ausfuhr seltener Erden weltweit zur Verfügung stellt,
und das bei einem Vorkommen von vielleicht 65 Prozent
auf dem Territorium der Volksrepublik China. Ist es richtig, dass Lagerstätten in Australien und in den USA, die
vor Jahrzehnten noch zur Förderung von seltenen Erden
betrieben worden sind, in den letzten Jahrzehnten geschlossen wurden, weil Angebote zu niedrigeren Preisen
vorhanden waren, und dass die Schließung dieser Lagerstätten ursächlich für den jetzigen Lieferengpass ist?
Herr Kollege Grund, ich beantworte beide Fragen
gerne zusammen, weil sie zusammengehören.
Es ist richtig, dass sich nicht nur Deutschland, sondern auch viele andere Länder aus der eigenen Förderung weitgehend zurückgezogen haben. Es ist richtig,
dass etwa die Förderung seltener Erden in den USA aufgegeben wurde. Jetzt wird versucht, diese Förderung
wiederzubeleben. Das dauert aber sehr lange. Man
spricht von Zeiträumen von bis zu zehn Jahren. Außerdem ist es richtig, dass wir alle uns jetzt gewaltig anstrengen müssen, um das Ganze zu beschleunigen.
Die deutsche Wirtschaft hatte sich aus der eigenen
Rohstoffsicherung weitgehend zurückgezogen und darauf vertraut, dass Rohstoffe am Weltmarkt zu kaufen
sind. Wenn wir unsere wirtschaftliche Entwicklung sichern wollen, dann muss das Thema Rohstoffsicherung
ganz oben auf der Agenda stehen. Das tut es bei uns.
Deshalb haben wir diese Strategie vorgestellt.
Ich rufe die Frage 29 der Kollegin Keul auf:
In welchem Umfang hat die gegenwärtige Bundesregierung seit ihrem Amtsantritt die Ausfuhr von Kriegswaffen
und sonstigen Rüstungsgütern genehmigt, und in welchem
Umfang wurden im gleichen Zeitraum Kriegswaffen exportiert?
Sehr geehrte Frau Kollegin Keul, ich beantworte Ihre
Frage wie folgt: In der für die Beantwortung der Frage
zur Verfügung stehenden Zeit ist eine detaillierte Antwort sicher nicht möglich, da die erforderlichen Daten
zunächst im Einzelnen ermittelt werden müssen. Für die
Zuhörer darf man sagen: Das ist in der knappen Woche,
die wir zur Vorbereitung zur Verfügung haben, natürlich
nicht möglich. Das monatliche Genehmigungsvolumen
für die Ausfuhr von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern sowie die monatliche Ausfuhr von Kriegswaffen wird in dem Rüstungsexportbericht statistisch
überhaupt nicht erfasst.
In den politischen Grundsätzen der Bundesregierung
für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern, die seit dem Jahr 2000 unverändert gelten,
ist festgelegt, dass die Bundesregierung dem Deutschen
Bundestag jährlich einen Rüstungsexportbericht vorlegt. Der Bericht für 2009 wird dem Parlament in Kürze
vorgelegt werden.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Antwort, die
ich, ehrlich gesagt, auch befürchtet hatte. - Wie Sie zu
Recht gerade gesagt haben, warten wir immer noch auf
den Rüstungsexportbericht 2009, und es ist jetzt das
Ende des Jahres 2010. Meine Frage daher: Hält die Bundesregierung es im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle für angemessen, dass wir über die Beantwortung
der hier konkret gestellten Fragen voraussichtlich in
zwei Jahren werden diskutieren können? Oder sieht die
Bundesregierung eine Möglichkeit, diese Zahlen zeitnah
vorzulegen?
Frau Kollegin Keul, die Bundesregierung strebt an,
den Rüstungsexportbericht noch vor Weihnachten dem
Deutschen Bundestag zu übersenden.
({0})
Weitere Zusatzfrage?
Keine weitere Zusatzfrage.
Ich rufe die Frage 30, ebenfalls von Frau Keul, auf:
Wie verteilt sich angesichts der schwerwiegenden Behauptung des Bundesministers des Auswärtigen in der Plenardebatte zum Einzelplan 05 - „Jede Waffe, die derzeit ins Ausland exportiert wird, wurde nicht von dieser Regierung
projektiert, sondern im Schnitt in den sieben Jahren von RotGrün“ ({0}) - der Anteil der Waffen, die
seit Amtsantritt der Bundesregierung ins Ausland exportiert
wurden, auf Genehmigungen, die von der rot-grünen,
schwarz-roten und schwarz-gelben Regierung „projektiert“
wurden?
Auch da muss ich Ihnen sagen: Die Bundesregierung
besitzt keine genaue Kenntnis darüber, wann Unternehmen bestimmte Ausfuhren von Rüstungsgütern projektiert haben. Erfahrungsgemäß erfolgt die Planung von
Unternehmen lange Zeit vor der Stellung von Anträgen
auf Ausfuhrgenehmigungen, auch lange Zeit vor Voranfragen, deren Genehmigungen insbesondere vor der tatsächlichen Ausfuhr dieser Güter erfolgen. Deshalb ist
davon auszugehen, dass bei den Gütern, die in diesem
Jahr exportiert wurden, entsprechende Anträge lange
vorher gestellt wurden.
Vielen Dank. - Wenn Sie sagen, dass diese Zahlen der
Bundesregierung gar nicht im Einzelnen vorliegen, dann
stellt sich aber die Frage, wie es sein kann, dass Minister
Westerwelle zu der Aussage „Jede Waffe, die derzeit ins
Ausland exportiert wird, wurde nicht von dieser Regierung projektiert, sondern im Schnitt in den sieben Jahren
von Rot-Grün“ kommt? Wie konnte er zu dieser Aussage kommen, wenn diese Zahlen gar nicht vorliegen?
Das ist ganz einfach zu beantworten. Diese Bundesregierung ist etwas mehr als ein Jahr im Amt. Wie ich Ihnen gesagt habe, zeigen alle Erfahrungen, dass diese
Prozesse viel langfristiger sind und nicht von dieser
Bundesregierung projektiert wurden; insofern stimmt
diese Aussage.
Gut, vielen Dank. - Ich habe eine weitere Rückfrage.
Verstehe ich Sie richtig, dass Ihre Antwort dahin gehend
zu verstehen ist, dass allein durch den Zeitablauf Genehmigungen aus rot-grüner Zeit möglich waren und nicht,
weil Rot-Grün überdurchschnittlich viele Waffenexporte
genehmigt hätte?
Aber meine spezielle Frage aus aktuellem Anlass
wäre ein Bezug auf das Jahr 2008. Ich wüsste gern aufgrund der aktuellen Veröffentlichungen im Spiegel, inwieweit die Bundesregierung Kenntnis davon hat, dass
eine private amerikanische Firma 2008 unter wissentlichem und willentlichem Verstoß gegen das deutsche Exportrecht ohne Genehmigung Hubschrauber über England und die Türkei nach Afghanistan verbracht hat.
Zu Ihrer ersten Frage noch einmal die deutliche Feststellung: Das war keine Wertung, sondern das ergibt sich
eindeutig aus dem Ablauf.
Zur zweiten Frage: Ich bitte um Verständnis, dass ich
das nicht aus der hohlen Hand beantworten kann. Das
können wir aber gern nachliefern.
Vielen Dank. - Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung
steht der Parlamentarische Staatssekretär Fuchtel zur
Verfügung.
Die Frage 31 der Kollegin Doris Barnett, die Frage 32
der Kollegin Katja Dörner und die Frage 33 der Kollegin
Birgitt Bender werden schriftlich beantwortet.
Ich komme zur Frage 34 der Kollegin Müller-Gemmeke:
Wie wird die Bundesregierung dafür Sorge tragen, dass
künftig auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, die
bislang nicht das Kriterium der sogenannten Werkstattfähigkeit nach § 136 Abs. 2 SGB IX erfüllen, gemäß Art. 27 der
UN-Behindertenrechtskonvention das Recht mit anderen auf
Arbeit erhalten, und wie bewertet die Bundesregierung das
Vorgehen der beiden Landschaftsverbände in NordrheinWestfalen, die den Begriff der Werkstattfähigkeit sehr weit
auslegen und somit auch Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf einen Werkstattarbeitsplatz zur Verfügung stellen?
Bitte schön.
Die erste Bemerkung dazu: Die Werkstätten als Einrichtungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Eingliederung in das Arbeitsleben bieten Menschen, denen
dies wegen Art und Schwere ihrer Behinderung nicht
oder noch nicht oder noch nicht wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt möglich ist, eine angemessene berufliche Bildung, um in eine Beschäftigung zu kommen.
Das ist die Funktion der Werkstätten.
Die zweite Bemerkung: Art. 27 der UN-Konvention
über die Rechte von Menschen mit Behinderung stellt
kein absolutes Recht der Personengruppe behinderter
Menschen auf Arbeit fest. Aus der UN-Konvention lässt
sich deshalb kein Anspruch darauf herleiten, dass auch
schwerstbehinderten Menschen unabhängig von ihrer
Leistungsfähigkeit Teilhabe am Arbeitsleben etwa in einer Werkstatt für behinderte Menschen ermöglicht werden muss.
Die dritte Bemerkung: Das Vorliegen von Werkstattfähigkeit als Voraussetzung für eine Aufnahme in eine
Werkstatt für behinderte Menschen bedarf einer einzelfallbezogenen Feststellung. Hierzu gehört auch die Prognose, dass der behinderte Mensch nach der Teilnahme
an der Maßnahme im Berufsbildungsbereich, für deren
Förderung im Rahmen der beruflichen Ersteingliederung
die Bundesagentur für Arbeit zuständig ist, in der Lage
sein wird, eine wirtschaftlich verwertbare Arbeitsleistung zu erbringen. Die Bundesregierung geht davon aus,
dass die verantwortlichen Behörden in Nordrhein-Westfalen dies bei den Entscheidungen über die Aufnahme
behinderter Menschen in Werkstätten berücksichtigt haben.
Ich möchte nachfragen: Sieht die Bundesregierung
die Notwendigkeit einer bundesgesetzlichen Änderung
des § 136 Abs. 2 SGB IX, sodass es künftig nicht mehr
die Sozialhilfeträger sind, die darüber entscheiden, ob
die Menschen werkstattfähig sind oder nicht?
Ich darf hier nochmals betonen: Die Bundesregierung
hält die in § 136 SGB IX gestellten Anforderungen zur
Teilhabe am Arbeitsleben in einer Werkstatt für behinderte Menschen für sinnvoll. Die Bedürfnisse schwerstbehinderter Menschen können die Werkstätten als Einrichtungen der beruflichen Teilhabe und Rehabilitation
mit ihrem primär hierauf ausgerichteten Angebot und
Fachpersonal nicht mit erfüllen.
Zu den Aufgaben der Werkstätten gehört auch, wirtschaftliche Arbeitsergebnisse zu erstreben, um den behinderten Menschen ein Arbeitsentgelt zahlen zu können. Bei Aufnahme der genannten Personengruppe
könnten Werkstätten nicht mehr in der Lage sein, Arbeitsentgelte in der gesetzlich festgelegten Höhe zu zahlen. Daher kann ich Ihrem Anliegen nicht entsprechen.
Vielen Dank. - Ich habe noch eine Nachfrage: Inwiefern war diese Problematik Gegenstand der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Fortentwicklung der Eingliederungshilfen?
Was Sie ansprechen, ist natürlich immer ein Thema.
Ich möchte deshalb noch auf Folgendes hinweisen: Die
hier genannte Personengruppe ist nicht unversorgt. Die
Menschen werden in Einrichtungen, sogenannten Tagesförderstätten, gefördert, die auch unter dem Dach der
Werkstätten angesiedelt sein können. Wir beide wissen
- wir interessieren uns ja für solche Themen -, dass man
in solchen Fällen von „Einrichtungen unter dem verlän8450
gerten Dach der Werkstatt“ spricht. Die Leistungen, die
dort erbracht werden, sind dem Bereich der Leistungen
der Eingliederungshilfe zur Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft zuzuordnen. Dabei geht es um § 55 Sozialgesetzbuch XII, nicht um den Bereich der Leistungen
zur Teilhabe am Arbeitsleben. Diese Differenzierung
hatte in der Vergangenheit Bestand, und sie ist aus unserer Sicht auch für die Zukunft erforderlich.
Weitere Zusatzfrage, Kollege Kurth.
Herr Fuchtel, ich komme aus Nordrhein-Westfalen
und habe schon Arbeitsbereiche für Menschen mit einem
sehr hohen Unterstützungsbedarf gesehen. Ich bin der
Auffassung, dass es einen Unterschied macht, ob man
unter dem „verlängerten Dach einer Werkstatt“ beschäftigt ist oder ob man direkt in den Arbeitsprozess eingebunden ist. Meine Frage lautet: Ist die Bundesregierung
nicht der Ansicht, dass der Begriff der wirtschaftlichen
Leistung so unbestimmt ist, dass bei einer zeitgemäßen
Gesetzesauslegung oder Gesetzesschöpfung nach der
neuen UN-Konvention auf ihn verzichtet werden kann
und der Begriff der Teilhabe in diesem Fall, für diese besondere Personengruppe, in den Vordergrund zu stellen
ist?
Ich möchte nochmals betonen, dass diese Unterscheidung, auch wenn sie schwierig ist, erforderlich ist und
dass es bei der Beurteilung natürlich auf den Einzelfall
ankommt. Ich bin in jüngerer Zeit in Einrichtungen gewesen, in denen selbst Autisten einer Beschäftigung zugeführt werden. Wenn sie einer Beschäftigung zugeführt
werden können, dann muss man im Einzelnen prüfen, ob
es um eine Teilhabe am Arbeitsleben geht. Das wird immer im Einzelfall beurteilt werden müssen. Die generelle Aufgabe der Kriterien planen wir nicht.
Ich rufe die Frage 35 der Kollegin Müller-Gemmeke
auf:
Wird die Bundesregierung zur Umsetzung von Art. 27
Buchstabe c der UN-Behindertenrechtskonvention § 139 SGB IX
sowie die Werkstätten-Mitwirkungsverordnung, WMVO, daraufhin evaluieren, wie echte Mitbestimmungsrechte der Werkstatträte verwirklicht werden können, und wie bewertet die
Bundesregierung den Status des „arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnisses“ nach § 139 SGB IX vor dem Hintergrund der
Konvention?
Hierzu muss ich wieder etwas ausholen. Die in den
Werkstätten beschäftigten Menschen mit Behinderungen
stehen in der Regel nicht in einem abhängigen Arbeitsverhältnis mit den dafür geltenden Rechten und Pflichten, sondern in einem arbeitnehmerähnlichen Arbeitsverhältnis. - Das ist offensichtlich auch Ihnen bekannt;
Sie nicken zustimmend; dann sind wir in dieser Frage
schon einmal einig. - Diesem besonderen Rechtsverhältnis entspricht die Mitwirkung der Menschen mit Behinderungen in diesen Einrichtungen durch die von ihnen
gewählten besonderen Interessenvertretungen. Eine bestimmte Form der Beteiligung kann aus Art. 27 der UNBehindertenrechtskonvention für diese Frage nicht abgeleitet werden. Von daher sind wir der Auffassung, dass
die in der Bundesrepublik bestehende Mitwirkung in
vollem Einklang mit der UN-Konvention, wie sie hier
formuliert ist, steht.
Das arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnis der Werkstattbeschäftigten bedeutet, dass die arbeitsrechtlichen
Schutzvorschriften anzuwenden sind, insbesondere Arbeitszeit, Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Dagegen sind die Verpflichtungen, die üblicherweise zu
einem Arbeitsverhältnis gehören, nicht anwendbar, etwa
die Verpflichtung, in einer bestimmten Zeit eine bestimmte Leistung zu erbringen. Hier handelt es sich um
arbeitnehmerähnliche Rechtsverhältnisse, die den besonderen Schutzinteressen der behinderten Menschen dienen; aber daraus leitet sich auch die Differenzierung bei
der Mitbestimmung ab.
Vielen Dank, Herr Fuchtel. - Auch wenn ich hin und
wieder nicke, wenn ich einen Begriff kenne, heißt das
nicht, dass ich da ganz Ihrer Meinung bin.
Ich möchte nachfragen: Werkstattbeschäftigte fühlen
sich in der Regel als ganz normale Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter, die morgens pünktlich erscheinen, ihre Arbeit verrichten und bis zum Ende ihrer Arbeitszeit bleiben. Was spricht dann dagegen, dass Werkstatträte den
Betriebsräten gleichgestellt werden?
Zunächst einmal kann ich Ihre Beurteilung voll bestätigen, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Werkstätten in ganz besonderer Weise pflichtbewusst
sind. Das kann ich auch bei meinen vielen Begegnungen
mit diesen Menschen feststellen.
Ich habe eben versucht, Ihnen darzustellen, dass es
sich hier um eine arbeitnehmerähnliche Situation handelt, aus der sich für uns diese Differenzierung ergibt.
Das heißt aber nicht, dass diese Arbeit nicht auch Unterstützung finden würde. Ich möchte darauf hinweisen,
dass die Bundesregierung die Werkstattbeschäftigten
beim Aufbau einer überregionalen Struktur auf Bundesund Landesebene unterstützt. Im Oktober dieses Jahres
hat das Deutsche Rote Kreuz unter Beteiligung der Caritas begonnen, in einem Netzwerk die Vorstandsarbeit der
Bundesvereinigungen der Vertretungen zu koordinieren.
Dafür werden derzeit aus Mitteln des Ausgleichsfonds
beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales immerhin 200 000 Euro zur Verfügung gestellt.
Vielen Dank. - Ich habe eine weitere Nachfrage: In
welchem Rechtsverhältnis werden künftig Menschen mit
Behinderungen stehen, die Werkstattleistungen in Form
des Persönlichen Budgets in Anspruch nehmen, um einen Arbeitsplatz auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu
bekommen?
Wir haben auch dafür derzeit noch keine Änderungen
vorgesehen. Diese Fragen, bei denen es um einen Grenzbereich, um die Integration in den allgemeinen Arbeitsmarkt, geht, sind natürlich immer in der Diskussion. Allerdings gilt dieser Status, solange diese Menschen den
Status eines Mitarbeiters der Werkstatt haben, auch bezüglich Mitbestimmungsfragen.
Kollege Kurth hat noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, genau in diesem Grenzbereich sehen wir Probleme. Es handelt sich um Mitarbeiter, die in
einem regulären Betrieb arbeiten, ein sogenanntes Persönliches Budget, in der Regel als Lohnkostenzuschuss,
erhalten und sich gar nicht mehr im Kontext der geschützten Werkstatt befinden. Sie sind also in der Regel
- das ist schon beim Außenarbeitsplatz der Fall - doch
dazu gezwungen, etwa ein bestimmtes Arbeitsergebnis
in einer bestimmten Zeit zu erwirtschaften. Sieht die
Bundesregierung denn nicht zumindest an dieser Stelle,
beim Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt - wenigstens im Falle des Persönlichen Budgets und möglicherweise auch bei den sogenannten Außenarbeitsplätzen -, Handlungsbedarf, die Regelung des Status zu
überdenken und den arbeitnehmerähnlichen Status aufzugeben?
Sie wissen, dass wir gerade an einem Aktionsplan zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention arbeiten. In diesem Zusammenhang werden natürlich alle
Fragestellungen, auch Fragen zu den Schnittstellen,
sorgfältig geprüft. Dem möchte ich in keiner Weise vorgreifen und hier nicht die Linie vertreten, dass Veränderungen zu erwarten sind. Ich kann nur sagen, dass wir
mit dieser Materie sehr sorgfältig umgehen und es viele
Aspekte gibt, die es abzuwägen gilt. Das alles werden
wir, wie ich vorhin schon ausgeführt habe, nicht vernachlässigen.
Ich rufe die Frage 36 des Kollegen Kurth auf:
Welche Rolle spielt nach Ansicht der Bundesregierung das
Neunte Buch Sozialgesetzbuch bei der Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention - insbesondere die Verpflichtung, trägerübergreifend einheitliche und koordinierte Rehabilitation zu gewährleisten -, und wie bewertet die Bundesregierung vor diesem Hintergrund die Vorschläge der Arbeitsund Sozialministerkonferenz zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe, wonach die zentrale Steuerungskompetenz
im Rehabilitationsprozess auf die Sozialhilfeträger übergehen
soll?
Herr Kollege, ich stelle fest, dass die Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention für uns eine wichtige
sozialpolitische Aufgabe ist. Wir werden in dieser Legislaturperiode - ich habe das bereits ausgeführt - einen
entsprechenden Aktionsplan aufstellen. In diesem Zusammenhang werden wir natürlich auch über die Instrumente des Sozialgesetzbuchs IX sprechen, weil sie eine
zentrale Rolle spielen. Hier kann ich Ihnen mitteilen,
dass die Bundesregierung das Bestreben der Arbeitsund Sozialministerkonferenz unterstützt, dass die Träger
der Sozialhilfe in Fällen, in denen die Leistungen der Sozialhilfe im Vordergrund stehen, die leistungsträgerübergreifende Gesamtverantwortung für die Steuerung und
Koordinierung individuell erforderlicher Rehabilitations- und Teilhabeleistungen - von der Bedarfsermittlung
über die Bedarfsfeststellung bis zur Wirkungskontrolle übernehmen.
Ich will dazu noch einen Satz sagen, damit keine Erwartungen aufkommen, die revolutionären Charakter haben könnten: Mit dieser Gesamtsteuerungsverantwortung wäre keine Verlagerung der Zuständigkeiten
anderer Sozialleistungsträger auf die Träger der Sozialhilfe verbunden.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Ich würde gerne die abschließende Klarstellung aufgreifen; auch Herr Bahr aus dem Gesundheitsbereich ist
ja anwesend. Im Beschlussentwurf der Arbeits- und
Sozialminister ist vorgesehen, dass der Träger der Sozialhilfe, der nach Sozialgesetzbuch IX die Gesamtsteuerung übernehmen soll, „bei leistungsträgerübergreifenden Bedarfskonstellationen im Auftrag und im Namen
der anderen Beteiligten - auch vorrangigen - Leistungsträger handeln kann“, also als Beauftragter. Das bedeutet, dass der Sozialhilfeträger in gewisser Weise für andere Rehabilitationsträger, unter anderem für die
gesetzliche Krankenversicherung, Entscheidungen treffen könnte. Im Beschlussentwurf der Arbeits- und Sozialministerkonferenz heißt es weiter:
Alle in Betracht kommenden Leistungsträger sind
zur Teilnahme an der Hilfeplankonferenz verpflichtet.
Wie steht die Bundesregierung zu dieser Position?
Weist sie dies zurück und, wenn ja, warum? Wenn nein,
wie soll dann Verbindlichkeit in der Zusammenarbeit der
verschiedenen Rehabilitationsträger sichergestellt werden?
Auch dazu nehme ich gerne Stellung. Soweit im Einzelfall die Leistungen der Sozialhilfe im Vordergrund
stehen - „im Vordergrund stehen“ will ich unterstreichen -,
soll der Träger der Sozialhilfe bei leistungsträgerübergreifenden Bedarfskonstellationen die Aufgaben einer
Koordinierungsstelle übernehmen und Leistungen für
hilfesuchende Menschen mit Behinderungen wie aus einer Hand erbringen. Die Träger der Sozialhilfe sollen
unter Einbindung der Menschen mit Behinderung im
Auftrag und im Namen der anderen Sozialleistungsträger handeln können, ohne Leistungsentscheidungen an
deren Stelle treffen zu können. Die Rolle des Trägers der
Sozialhilfe wäre vergleichbar mit der Rolle des Beauftragten im Verfahren zur Ausgestaltung trägerübergreifender Persönlicher Budgets entsprechend den einschlägigen Vorschriften der Budgetverordnung.
Näheres ist noch nicht geklärt. Das muss natürlich
noch geklärt werden. In diese Richtung wird zurzeit diskutiert.
Die zweite Nachfrage.
Sieht die Bundesregierung denn nicht das Risiko, dass
der Sozialhilfeträger als beteiligter Kostenträger, also als
beteiligte Partei im Verfahren, seine Steuerungsfunktion
ausnutzt, indem er bei finanzwirksamen Entscheidungen
darauf hinwirkt, dass diese nicht vorrangig ihn, sondern
andere Leistungsträger betreffen? Wäre es insofern nicht
sinnvoller, eine von den Kostenträgern unabhängige
Steuerungsstelle einzurichten, wie das vom Prinzip her
im SGB IX bei den gemeinsamen Servicestellen einmal
angedacht war?
Das Problem ist der Fachwelt natürlich bekannt. Damit muss man umgehen. Deswegen habe ich hier ganz
deutlich ausgeführt, dass diese Funktion ohne Leistungsentscheidung anstelle anderer erfolgen soll. So kann
zwar das, was Sie zu bedenken geben, natürlich weiterbestehen und ist in der Praxis nicht immer auszuschließen. Das ist aber als eine Möglichkeit zu akzeptieren, damit wir hier auf diesem Weg vorankommen. Dass man in
diesem Bereich nicht alle Probleme so wunderbar und
lupenrein beseitigen kann, dass es nicht zu Konflikten
kommt, ist uns allen bekannt. Deshalb müssen wir einen
Weg gehen, der gewährleistet, dass die Probleme, die
entstehen können, nicht auf dem Rücken der betroffenen
Menschen ausgetragen werden. Die Menschen müssen
eine Lösung bekommen, mit der sie leben können.
Ich rufe die Frage 37 des Abgeordneten Kurth auf:
Inwiefern gibt es innerhalb der Bundesregierung Überlegungen, analog zu den Empfehlungen des Deutschen Vereins
vom 8. Dezember 2004 ein einkommens- und vermögensunabhängiges Bundesteilhabegeld für Menschen mit Behinderung einzuführen, das wesentliche Nachteilsausgleiche zusammenfasst, und wie bewertet die Bundesregierung die
nunmehr gehäuft auftretenden Anträge der Sozialhilfeträger
bei den Familienkassen auf Auszahlung des - anteiligen Kindergeldes für volljährige und dauerhaft voll erwerbsgeminderte Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherungsleistungen nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Im ersten Teil der Frage 37 geht es um das sogenannte
Bundesteilhabegeld, das vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge schon länger gefordert
wird. Ich darf Ihnen ganz kurz antworten: Beim Bundesteilhabegeld gibt es aus unserer Sicht nichts wirklich
Neues.
Im zweiten Teil Ihrer Frage geht es um die Abzweigung von Kindergeld zur Deckung der Sozialhilfeaufwendungen. Hierzu gab es in jüngerer Zeit neue Entscheidungen des Bundesfinanzhofs. In Teilen der
Fachwelt entstand so die Befürchtung, dass sich daraus
in der Praxis erhebliche Änderungen ergeben könnten.
Aus unserer Sicht verhält es sich so, dass sich keine
grundsätzliche Rechtsänderung anbahnt. Das stellt auch
derjenige fest, der das Urteil genau liest.
Erste Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär Fuchtel, der Bundesregierung ist
aber bekannt, dass es Sozialhilfeträger gibt, die Hilfeempfänger bzw. deren Angehörige anschreiben und versuchen, das Urteil in diesem Sinne auszulegen?
Ja. Vielleicht trägt die heutige Debatte dazu bei, so etwas zurückzudrängen.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Die zweite Nachfrage betrifft die Idee des Teilhabegeldes. Sie sagen: Da gibt es nichts wirklich Neues. Immerhin böte ein Teilhabegeld in der Form, wie es dem
Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge
vorschwebt, die Möglichkeit einer gewissen finanziellen
Beteiligung des Bundes, die sicherlich auch eine Voraussetzung für eine Einigung bei der Neuordnung der Eingliederungshilfe ist. Sieht die Bundesregierung nicht die
Gefahr, dass dadurch, dass bestehende finanzielle Nachteilsausgleiche zurzeit Stück für Stück gekürzt werden
- GEZ-Gebührenbefreiung, Blindengeld und dergleichen -,
die nötige Manövriermasse, die den Kern eines neuen
Teilhabegeldes bilden könnte, verloren geht?
Ich darf auf das quantitative Element zu sprechen
kommen. Schon im Jahr 2004 hat der Deutsche Verein
für öffentliche und private Fürsorge dargestellt, dass das
Teilhabegeld den Bund 1,38 Milliarden Euro kosten
würde. Das war im Jahr 2004. Angesichts der zwischenzeitlichen Entwicklungen würde eine Einführung dieses
Teilhabegeldes also auf gar keinen Fall weniger kosten,
sondern wir müssten mit höheren Kosten rechnen.
Hierzu muss ich Ihnen sagen: Das wäre eine neue Sozialleistung, die sich nicht am individuellen behindertenspezifischen Bedarf orientiert und zum Beispiel auch finanziell bessergestellten Menschen mit Behinderungen
genauso zugutekäme. Ich kann nicht erkennen, dass es in
unserer Gesellschaft einen Trend gibt, pauschale Zahlungen in neuer Form wiederaufleben zu lassen. Ich kann
mir auch nicht vorstellen, dass man das dem Steuerzahler irgendwie plausibel machen kann.
({0})
Das tut mir leid; es ist Ihnen nicht möglich, hierzu
noch eine Nachfrage zu stellen.
Die Fragen 38 und 39 der Kollegin Pothmer, die Fragen 40 und 41 des Kollegen Sarrazin, die Fragen 42 und
43 der Kollegin Hinz ({0}), die Fragen 44 und 45
der Kollegin Haßelmann, die Frage 46 des Kollegen
Seifert, die Fragen 47 und 48 der Kollegin Andreae sowie die Fragen 49 und 50 der Kollegin Wagner werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe Frage 51 des Kollegen Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn auf:
Welche Zahlen liegen der Bundesregierung vor, wie viele
Menschen von der Heraufsetzung der abschlagsfreien Regelaltersgrenze für Erwerbsminderungsrente und Rente wegen
Schwerbehinderung betroffen sein werden, und wie bewertet
die Bundesregierung den Vorschlag, die Altersgrenze für
diese Personengruppen wieder auf 63 Jahre abzusenken?
Auf Ihre Frage möchte ich Folgendes antworten: Die
Altersgrenze für den abschlagsfreien Beginn der Altersrente für schwerbehinderte Menschen wird ab dem Jahrgang 1952 stufenweise von 63 auf 65 Lebensjahre angehoben. Die Altersgrenze für eine frühestmögliche
Inanspruchnahme wird analog vom 60. auf das 62. Lebensjahr erhöht. Es ist damit zu rechnen, dass im Jahr
2009 - das bezieht sich auf Ihre Frage nach der Anzahl
der Betroffenen - gut 80 000 Personen auf diese Weise
in Rente gegangen sind. Das entspricht hier ungefähr
9,3 Prozent der Versichertenrentenzugänge.
Das Referenzalter für die Berechnung von Abschlägen bei Renten wegen Erwerbsminderung wird ebenfalls
stufenweise vom 63. auf das 65. Lebensjahr angehoben.
Für Rentenzugänge in jüngeren Jahren ergeben sich
keine Veränderungen. Höhere Abschläge als nach bisherigem Recht können sich nur für Versicherte ergeben, die
zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr in Erwerbsminderungsrente gehen. Auch die maximale Abschlagshöhe
von 10,8 Prozent bleibt unverändert. Im Jahr 2009 sind
knapp 175 000 Personen in Erwerbsminderungsrente gegangen. Darunter waren knapp 13 000 Personen - das
sind 7,4 Prozent - im Alter von 60 bis 64 Jahren.
Da das zukünftige individuelle Rentenzugangsverhalten nicht bekannt ist, kann über die Anzahl der von der
geänderten Regelung in Zukunft betroffenen Personen
keine Aussage gemacht werden. Zudem hängt die Anzahl der von der Anhebung des Referenzalters betroffenen Personen davon ab, bei wie vielen Rentenzugängen
ab dem Alter 60 bei der Berechnung der Abschläge das
bisherige Referenzalter von 63 Jahren angelegt wird,
weil 35 bzw. 40 Pflichtjahre - Letzteres gilt ab dem Jahr
2024 - vorliegen.
Eine Rückkehr zu der Altersgrenze von 63 - darauf
bezieht sich Ihre Frage - ist nicht möglich. Die weiter
steigende Lebenserwartung und die gleichzeitig sinkenden Geburtenzahlen - hiermit komme ich zu dem
Thema, das in dieser Woche hier im Parlament noch eine
Rolle spielen wird - machen die stufenweise Anhebung
der Altersgrenze zu einer wichtigen Maßnahme, um die
Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung stabil halten und das Niveau der Rente sichern zu können. Deswegen ist aus unserer Sicht keine Veränderung vorgesehen.
Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass es auch aufgrund
des Arbeitskräftemangels notwendig ist, dass wir diesen
Weg gehen. Die besondere Situation der schwerbehinderten Menschen wird auch künftig besonders berücksichtigt, indem zwar die Altersgrenze für den abschlagsfreien Bezug von Altersrenten grundsätzlich auf
67 Jahre angehoben wird, aber schwerbehinderte Menschen die abschlagsfreie Altersrente schon mit 65 Jahren
beantragen können. Somit wird auch künftig der zweijährige, bisher bekannte Abstand zur Regelaltersgrenze
beibehalten.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Vielen Dank für die Antwort, Herr Fuchtel. - Bei gesunden Menschen kann man ja vortrefflich über die Anhebung der Altersgrenze streiten. Das werden wir dann
morgen hier im Plenum auch tun. Bei der Rente mit 67
sind wir ja durchaus eher beieinander. Ich finde aber, bei
Erwerbsgeminderten und Schwerbehinderten stellt sich
die Situation ganz anders dar.
Erwerbsminderung sucht man sich nicht aus. Und um
dem Fachkräftemangel zu begegnen, auf den Sie verwiesen haben, nützen die Erwerbsgeminderten ja auch relativ wenig. Auch bei Schwerbehinderten handelt es sich
um eine spezielle Gruppe. Sehen Sie es nicht auch so,
dass es nicht zumutbar ist, dass Angehörige dieser
Gruppe länger arbeiten sollen? Die Erwerbsgeminderten
können ja gar nicht länger arbeiten; für diese stellt die
Rente mit 67 tatsächlich eine reine Rentenkürzung dar.
Halten Sie es tatsächlich für vertretbar, bei dieser
Gruppe eine Rentenkürzung vorzunehmen?
Wir haben bisher schon eine spezielle Situation bei
der Bewertung. Ich habe gerade dargestellt, dass sich
diese ganz großteilig auch weiterhin so zeigen wird - nur
allerdings mit einer Verschiebung von zwei Jahren.
Wenn dann eine entsprechend starke Erwerbsunfähigkeit
gegeben ist, wenn beispielsweise eine Beschäftigung unterhalb einer bestimmten Zahl von Stunden am Tage
nicht zumutbar ist, besteht natürlich die Möglichkeit,
eine Erwerbsminderungsrente zu beantragen und auf
diese Weise aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.
Es geht hier nicht nur darum, dass Leute frühestens
mit 60, wie jetzt, bzw. in Zukunft mit 62 ausscheiden
können, sondern auch künftig werden solche Leute zum
Beispiel schon weit vor dem 60. Lebensjahr ausscheiden
können. Es gibt hier Zurechnungszeiten; dann wird eben
eine Rentenbewertung nach speziellen Regelungen
durchgeführt.
Die zweite Nachfrage, bitte.
Sie haben eben selber gesagt: Im Altersbereich zwischen 60 und 65 gibt es Einflüsse. Deswegen dazu - die
Zahlen fand ich sehr interessant - noch eine Nachfrage:
Warum kommen solche Zahlen nicht in dem Bericht vor,
den wir morgen diskutieren? Es wäre doch eigentlich
sehr gut, wenn man tatsächlich die Vor- und Nachteile
der Rente mit 67 bzw. der Anhebung der Regelaltersgrenzen für die verschiedenen Renten ehrlich nennen
würde, um eine offene Debatte führen zu können.
Die offene Debatte wird sicher von uns geführt werden. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie offensiv
wir diese Debatte führen werden. Wir wissen heute, dass
die Menschen länger gesund sind, dass sie in einer anderen körperlichen Verfassung als vor 20 Jahren sind. Da
es immer nicht gesagt wird, sage ich es hier: Der Übergang kommt nicht an einem Tag von null auf hundert,
sondern es ist jetzt ein langer Übergang vorgesehen; es
wird bis zum Jahre 2029 dauern, bis die Endstufe erreicht sein wird.
Überlegen Sie, was vor 20 Jahren war und was heute
ist. Vielleicht machen Sie sich auch einmal Gedanken,
was für Veränderungen in den nächsten 20 Jahren - in
der Frage des Arbeitsprozesses, bei der Form der Ausgestaltung von Arbeit - noch eintreten können. Vor diesem
Hintergrund ist auch zu sehen, dass wir nicht mehr von
der Rente mit 67 reden, sondern dass wir von Arbeit bis
67 sprechen. Wir stellen also von uns aus ganz transparent und plakativ dar, dass wir diesen Prozess auch von
der gesundheitlichen Seite her in ganz neuer Form mitgestalten müssen und auch alle Möglichkeiten prüfen
werden, was man noch tun kann, um sogenannte gute
Arbeit zu sichern und um auf diesem Wege dem Menschen zu helfen, dass er seine Arbeit bei guter Gesundheit verrichten kann.
In der Zwischenzeit haben wir eine Fülle von Programmen auf den Markt gebracht. Es gibt seit 2004 das
BEM; das war die erste Initiative, um das betriebliche
Eingliederungsmanagement neu zu formen. Das gilt es
jetzt umzusetzen. Wir haben das Programm INQA. Eine
Vielzahl von Programmen wird also diesen Prozess begleiten und dann auch die entsprechenden Verbesserungen erbringen.
Wir kommen zur Frage 52 des Kollegen StrengmannKuhn:
Welche Konsequenzen hat die Bundesregierung aus der
Studie zum Stand der Umsetzung des im Jahr 2004 eingeführten Instituts des betrieblichen Eingliederungsmanagements,
BEM, nach § 84 Abs. 2 SGB IX unter der wissenschaftlichen
Projektleitung von Professor Dr. Dr. Mathilde Niehaus aus
dem Jahr 2008 gezogen, und welche Maßnahmen plant die
Bundesregierung in dieser Legislatur, um das dynamische Instrument BEM kontinuierlich weiterzuentwickeln?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Sie haben in dieser Frage ein Thema angesprochen,
das uns sehr bewegt. Wir haben die Erkenntnis gewonnen, dass das betriebliche Eingliederungsmanagement in
Großbetrieben - das Institut BEM habe ich ja schon angesprochen - sehr wohl bereits an der Tagesordnung ist.
Wir mussten aber feststellen, dass in vielen kleinen und
mittleren Betrieben noch erhebliche Aufklärungsarbeit
notwendig ist. Wir sind gerade dabei, dieses zu tun. Eine
Vielzahl von Modellprojekten befindet sich zurzeit mit
allen möglichen Akteuren in Arbeit - nicht in Diskussionen, sondern bereits in Arbeit.
So wurden zum Beispiel Regionalstellen errichtet, um
kleine und mittlere Unternehmen in Fragen des betrieblichen Eingliederungsmanagements zu unterstützen. Ohne
zu viel Werbung für das Berufsförderungswerk Bad
Wildbad zu machen, darf ich darauf hinweisen, dass dieses Berufsförderungswerk ein Projekt gestartet hat, in
dem es darum geht, wie man dies überbetrieblich organisieren kann. Dadurch könnte es dazu kommen, dass das
BEM in Zukunft auch in den anderen 25 Berufsförderungswerken, die es gibt, eine noch größere Rolle spielt,
als es sie ohnehin schon spielt.
Außerdem gibt es das Projekt „GundA“. Hier kommt
es zu einer Kooperation im Hinblick auf die Erfahrungen, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Beratungspraxis machen. Es wird versucht, weitere Mitarbeiter für diese Arbeit aufzubauen.
Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen zurufen:
Bei diesem Thema können wir gemeinsam sicherlich
sehr viel auf den Weg bringen. Das Beste, das die Abgeordneten dieses Parlaments tun können, ist, in die Betriebe zu gehen und dort für dieses Instrument zu werben.
Haben Sie eine Nachfrage? - Sie verzichten.
Die Fragen 53 und 54 des Kollegen Dr. Konstantin
von Notz, die Fragen 55 und 56 der Kollegin Monika
Lazar, die Fragen 57 und 58 der Kollegin Tabea Rößner,
die Fragen 59 und 60 des Kollegen Tom Koenigs, die
Fragen 61 und 62 der Kollegin Anette Kramme, die
Fragen 63 und 64 der Kollegin Bärbel Bas, die
Fragen 65 und 66 der Kollegin Sabine Zimmermann, die
Fragen 67 und 68 des Kollegen Werner Dreibus und die
Frage 69 des Kollegen Klaus Ernst werden schriftlich
beantwortet.
Damit kann ich mich bei Ihnen, Herr Staatssekretär,
bedanken.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Die Fragen 70 und 71 der Kollegin Cornelia Behm
und die Frage 72 der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann
werden schriftlich beantwortet.
Nun kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung.
Die Fragen 73 und 74 des Kollegen Omid Nouripour
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Die Frage 75 der Kollegin Katja Dörner und die
Fragen 76 und 77 der Kollegin Caren Marks werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 78 der Kollegin Daniela Kolbe auf:
Sind der Bundesregierung Organisationen bekannt, die
nachweislich eine den Zielen des Grundgesetzes nicht förderliche Arbeit verrichten und gleichzeitig in der Vergangenheit
aus Mitteln des Bundes, etwa aus dem Programm „Vielfalt tut
gut“ oder dessen Vorgängerprogramm, gefördert wurden, und,
wenn ja, welche sind das?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Hermann Kues zur Verfügung. - Bitte.
Ich beantworte Ihre Frage folgendermaßen: Träger,
die nachweislich eine den Zielen des Grundgesetzes
nicht förderliche Arbeit verrichten, sind von der Förderung grundsätzlich ausgeschlossen. Da sie ausgeschlossen sind, sind der Bundesregierung folglich auch keine
Träger bekannt, die bei Vorliegen entsprechender Erkenntnisse gefördert worden sind. Wenn im Nachgang
zu einer Förderentscheidung Erkenntnisse gewonnen
wurden, dass verantwortliche Personen des geförderten
Trägers Kontakte zu extremistischen Organisationen unterhalten haben, sind Konsequenzen gezogen worden.
Ein Beispiel ist der Träger Muslimische Jugend, der
auch hier schon Gegenstand der Debatte war.
Die Bundesregierung wird ähnliche Vorgänge nach
Vorliegen entsprechender Erkenntnisse auch weiterhin
prüfen und gegebenenfalls Konsequenzen ziehen. Grundsätzlich geht es darum, beteiligte Partner möglichst im
Vorfeld dafür zu sensibilisieren, bei der Wahl von Kooperationspartnern usw. darauf zu achten, dass sich auch
diese der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der
Bundesrepublik Deutschland verpflichtet fühlen. Daher
wird in bestimmten Förderprogrammen auch verlangt,
dass Träger geförderter Maßnahmen eine Bestätigung
abgeben, nach der sie sich zur Grundordnung bekennen
und eine den Zielen des Grundgesetzes förderliche Arbeit leisten. Die Bestätigung soll auch für die Gefahren
sensibilisieren, die sich aus einer Zusammenarbeit mit
extremistischen Strukturen für das Engagement für Toleranz und Demokratie entwickeln können, zumal viele
Träger beklagen, dass extremistische Strukturen versuchen, Organisationen zu unterwandern und für ihre Zwecke zu missbrauchen.
Ich kann Ihnen auf Nachfrage gern solche sowohl aus
dem rechten als auch aus dem linken Spektrum nennen.
Sie verzichten auf Nachfragen.
Dann kommen wir zur Frage 79 der Kollegin Daniela
Kolbe:
Welche Gründe haben die Bundesregierung dazu bewogen, das in dem Schreiben des Parlamentarischen Staatssekretärs bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend, Dr. Hermann Kues, vom 15. November 2010 an
die Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend erwähnte Projekt „Wir fahren nach Berlin - gegen
Linksextremismus“ des Trägers Junge Union als Modellprojekt auszuwählen, und welche Vorbildwirkung verspricht sich
die Bundesregierung von „Wir fahren nach Berlin - gegen
Linksextremismus“?
Die Antwort auf Ihre Frage: Das Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert das
Projekt „Wir fahren nach Berlin - gegen Linksextremismus“ des Bundesverbandes der Jungen Union im Rahmen der Initiative „Demokratie stärken“, die präventiv
gegen islamischen Extremismus und Linksextremismus
vorgeht. Die Initiative „Demokratie stärken“ richtet sich
mit pädagogischen Mitteln an Jugendliche. Auf diese
Weise wollen wir erreichen, dass verfestigte Überzeugungen und Zugehörigkeiten aufseiten der Jugendlichen
und jungen Erwachsenen gar nicht erst entstehen. Die
Maßnahmen sollen das Verständnis für Demokratie,
Menschenwürde und Toleranz stärken und extremistischen Tendenzen entgegenwirken.
Das Projekt der Jungen Union ist dem Themencluster 1 „Bildungsprojekte mit jungen Menschen“ mit
besonderem Fokus auf die Bereiche Kultur, Religion,
Identität, Demokratie und Menschenrechte durch interreligiöses Lernen, Partizipationsprojekte, politische Bildung zu gesellschaftpolitischen Fragen, Projekte zu
Demokratieverständnis und Menschenrechten des Programms der Initiative „Demokratie stärken“ zuzuordnen
und ist eines von zurzeit 26 Projekten, die bereits begonnen haben oder in Kürze beginnen werden. Ziel des Pro8456
jekts der Jungen Union ist es, jungen Menschen, die bereits Multiplikatoren in der Jugendszene darstellen,
Wissen über Linksextremismus zu vermitteln. Dazu gehört zum Beispiel der Besuch der Gedenkstätte Hohenschönhausen.
Ich sage ausdrücklich dazu: Ob und inwieweit die
konkrete Ausgestaltung und Durchführung des Projekts
den der Förderungsentscheidung zugrundeliegenden Antragsunterlagen entspricht, wird derzeit vom Ministerium geprüft.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort, aber Sie
haben aus meiner Sicht noch nicht wirklich auf die Frage
geantwortet, wie die Bundesregierung zu der Erkenntnis
kam, dass der vorgelegte Antrag der Jungen Union „Wir
fahren nach Berlin - gegen Linksextremismus“ dem Anspruch eines Modellprojektes für die Prävention gegen
Linksextremismus entspricht in dem Sinne, dass, wie Sie
es auch gerade geschildert haben, junge Menschen davor
bewahrt werden sollen, in extremistische Strukturen abzugleiten. Wie soll das gewährleistet werden?
Ich frage noch einmal konkreter: Haben Sie die
Sorge, dass die Zielgruppe - Mitglieder der Jungen
Union und Menschen, die mit der Jungen Union nach
Berlin fahren - in der Gefahr steht, in den Bereich des
Linksextremismus abzugleiten?
Vielleicht darf ich zunächst sagen: Wir fördern nicht
nur die Junge Union als politische Jugendgruppe, wenn
sie Anträge stellt und diese ins Konzept passen, sondern
auch andere politische Jugendorganisationen. Die vorgelegten Antragsunterlagen waren Grundlage für die Entscheidung. Wir werden dem aber noch einmal ganz genau nachgehen, weil wir einige Hinweise bekommen
haben, die für uns Anlass sind, das noch einmal im Einzelnen zu überprüfen.
Ihre zweite Nachfrage.
Ich muss noch einmal nachhaken: In Ihrer Förderrichtlinie geht es ja eindeutig darum, wie Sie beschrieben haben, eine bestimmte Zielgruppe, nämlich gefährdete Jugendliche, davor zu bewahren, in ein solches
Spektrum abzurutschen. Ich kenne leider den Antrag der
Jungen Union nicht; vielleicht hat sie das ja plausibel
machen können. Wir reden hier über Modellprojekte und
über relativ viel Geld, nämlich 2 Millionen Euro, die für
einen bestimmten Bereich zur Verfügung gestellt werden. Das sind Steuergelder, und Sie müssen durchaus
rechtfertigen, mit welcher Intention Sie hier Modellprojekte ins Leben rufen. Gerade diese Projekte sollen ja
Modellcharakter für die zukünftige Arbeit haben. Vielleicht können Sie mir noch einmal plausibel erklären,
worin der modellhafte Charakter einer Berlinfahrt der
Jungen Union besteht.
Ich habe gesagt, in diesem Zusammenhang werden
unterschiedliche Projekte gefördert, nämlich insgesamt
26. Hier ging es darum, wie man Jugendlichen Wissen
über Linksextremismus vermitteln kann. Dass es ihn
gibt, ist ja wohl unstrittig, genauso wie unstrittig ist, dass
es einen Islamismus gibt.
Dass sich auch die Junge Union, genauso wie andere
politische Jugendorganisationen, bewerben kann, ist,
glaube ich, völlig eindeutig. Die eingereichten Unterlagen haben den Anforderungen ganz offenkundig entsprochen. Wir gehen jetzt aber noch einmal genau der
Frage nach, ob auch die konkrete Ausgestaltung der
Reise den Antragsunterlagen entsprach. Das tun wir
auch in anderen Fällen, in denen es um Wissensvermittlung im Komplex Extremismus geht. Das werden wir
jetzt auch tun, und danach werden wir sagen können, ob
die ganze Ausgestaltung dem Konzept, das wir zugrunde
gelegt haben, tatsächlich entspricht.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Die übrigen
Fragen werden wie immer schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP
Schlichtungsspruch zum Bahnprojekt Stuttgart 21
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Thomas Strobl für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Schlichtungsverfahren zu Stuttgart 21 war ein demokratiepraktischer Feldversuch mit offenem Ausgang.
({0})
Er wurde von vielen zunächst kritisch beäugt und von
sehr vielen im Fernsehen und im Internet interessiert
verfolgt.
Was ist nun das Ergebnis? - Schön, dass wir darüber
geredet haben? Ein Hornberger Schießen? Nein! Die
Schlichtung war kein Gesprächsplacebo zur Lageberuhigung, sie zeitigt auch keine Gewinner und Verlierer, aber
sie ist ein Erfolg für unsere Demokratie und für die Bürgerinnen und Bürger,
({1})
Thomas Strobl ({2})
und zwar in dem Sinne, dass einige wichtige Lehren daraus zu ziehen sind.
Doch zunächst sei gesagt: Dieser Erfolg ist vor allem
einer Person zu verdanken, die, das möchte ich sagen,
von den Grünen ins Spiel gebracht, von Ministerpräsident Stefan Mappus entschieden vorgeschlagen und von
allen Parteien im Landtag von Baden-Württemberg und
allen Gesprächsbeteiligten akzeptiert wurde: unserem
ehemaligen Kollegen Heiner Geißler, der auch im hohen
Alter noch unermüdlich ist. Aus ganzem Herzen und, ich
vermute, im Namen des ganzen Hauses sage ich: Lieber
Herr Dr. Geißler, Sie haben unseren großen Respekt für
diese Leistung und unseren herzlichen Dank.
({3})
Wir haben aber nicht nur von Heiner Geißler, sondern
wir haben auch aus dem Prozess gelernt:
Erstens. Wir haben verstanden, dass wir insbesondere
bei Großprojekten um die Zustimmung der Bürgerinnen
und Bürger in anderer Art und Weise werben und die
Bürgerinnen und Bürger in anderer Art und Weise mitnehmen müssen. Einen Kommunikations-GAU wie
Stuttgart 21 darf es nie wieder geben.
({4})
Zweitens. Wir haben verstanden: Bei Stuttgart 21
wird es konkrete Nachbesserungen geben. Ministerpräsident Mappus hat heute Vormittag noch einmal klipp und
klar gesagt: Alle Vorschläge werden konsequent und
transparent geprüft und, wo nötig, umgesetzt. - Ich
möchte den S-21-Kritikern Dank sagen, die sich im Verlauf des Verfahrens konstruktiv eingebracht und gute
Vorschläge gemacht haben.
Drittens. Wir haben verstanden: Wir müssen unsere
Planungsverfahren hinsichtlich der Bürgerbeteiligung
kritisch hinterfragen. Dabei muss die Vorgabe klar sein:
beteiligen und beschleunigen. Das ist kein Widerspruch.
Es darf nicht sein, dass ein Verfahren wie Stuttgart 21
15 oder 20 Jahre dauert. Deswegen heißt die klare Vorgabe: beteiligen und beschleunigen.
({5})
- Ich komme gleich zu Ihnen.
Was nun gar nicht geht, ist, dass diejenigen, die als
Erste Heiner Geißler als Schlichter ins Gespräch gebracht haben, nach dem Ende der Schlichtungsveranstaltung sofort an Schlichtung und Schlichter herummäkeln.
Ausgerechnet die, die schon immer mehr Bürgerbeteiligung wollten und Heiner Geißler als Erste ins Gespräch
gebracht haben, sind jetzt gegen Schlichtung und
Schlichter.
({6})
Lackmus hat die Farbe Rot. Der Inkonsistenztest hat die
Farbe Grün. Die Grünen sind die wahrhafte DagegenPartei: jetzt auch gegen Schlichtung und Schlichter.
({7})
Die SPD ist nicht besser. Sie bezeichnet die Schlichtung als Show, als unverständlich und ungeeignet. Die
SPD findet jetzt, dass der Schlichter Heiner Geißler, den
die SPD-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg
noch freudig begrüßte, zu kurz gesprungen ist, und hält
ihn für - man höre und staune - einseitig und unglaubwürdig.
({8})
Das ist dieselbe SPD, die immer mehr Beteiligung will,
die Heiner Geißler gutgeheißen hat und mit ihm völlig
einverstanden war. Das ist die Dafür- und Dagegen-SPD,
nicht Fisch und nicht Fleisch. Sie ist selber unglaubwürdig.
({9})
Kommen Sie mir jetzt nicht mit Volksbefragungen,
meine Damen und Herren. Wenn Sie sich schon jetzt, wo
es im Grunde um ein paar Kilometer Schienen und einen
Bahnhof geht, wie trotzige Kinder verhalten, wie wohl
erst dann, wenn, um den Blick in die reale Abstimmungswelt der von Ihnen oft und gerne zitierten
Schweiz zu richten, das deutsche Volk in einer Volksabstimmung ein Minarettverbot oder eine Ausschaffungsinitiative beschließen würde? Die Ratlosigkeit der SPD
angesichts solcher Volksbefragungen kann ich mir vorstellen. Sie wäre dann sehr schnell wieder so weit: im
Grunde dafür, aber dann doch dagegen. Wer aber sehr
schnell gegen solche Volksbefragungen wäre, ist klar:
unsere grünen Stars. Deshalb Vorsicht an der Bahnsteigkante!
Um es mit den Worten des Großlateiners Heiner
Geißler zu sagen: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem. Was auch immer du tust, tu es klug und bedenke das Ende.
({10})
Beherzigen Sie es, meine Damen und Herren von der
Opposition!
({11})
Danke fürs Zuhören.
Das Wort hat der Kollege Christian Lange für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es ist vollbracht: Der sogenannte Schlichterspruch ist gesprochen. Das Demokratieexperiment hat
funktioniert. Stuttgart 21 kommt, und es wird erweitert.
Christian Lange ({0})
Im Bahnhof selbst wird die Verkehrssicherheit im Interesse von Behinderten, Familien mit Kindern, älteren
und kranken Menschen entscheidend verbessert. Für das
Streckennetz wird die Erweiterung des Tiefbahnhofs um
ein neuntes und zehntes Gleis und zugleich eine zweigleisige Anbindung des Flughafen-Fernbahnhofs an die
Neubaustrecke sowie eine zweigleisige und kreuzungsfrei angebundene Wendlinger Kurve und die Anbindung
der bestehenden Ferngleise von Zuffenhausen an den
neuen Tunnel von Bad Cannstatt zum Hauptbahnhof gefordert.
Aber eines sagt der Schlichter nicht: Wer soll das bezahlen? Die SPD begrüßt diese Verbesserungsvorschläge. Doch wenn diese Aktuelle Stunde einen Sinn
haben soll, dann den, dass CDU/CSU und FDP heute erklären, dass sie bereit sind, die möglichen Mehrkosten,
egal ob 170 Millionen oder gar 500 Millionen Euro und
mehr, im Bundeshaushalt unterzubringen.
({1})
Ich rufe Sie auf: Bekennen Sie sich, meine Damen
und Herren von CDU/CSU und FDP! Denn eines darf
nicht das Ergebnis des gelungenen Demokratieexperiments sein, nämlich dass Sie den sogenannten Stresstest
für den geplanten Bahnknoten bis über den 27. März hinauszögern und nicht sagen, wie Sie die möglichen
Mehrkosten finanzieren wollen. Denn dann würden die
Menschen in Baden-Württemberg erneut getäuscht. Ich
habe berechtigte Gründe, das hier zu sagen.
Im ZDF etwa sagte Herr Mappus - ich zitiere -:
Ich kann im Moment noch nicht erkennen, wo
500 Millionen Mehrkosten notwendig sein sollten.
Es könne auch möglich sein, dass gar keine Mehrkosten
- ich betone: gar keine - entstehen. Frau Gönner sagte
heute Morgen, wenige Stunden nach dem Schlichterspruch:
Das Schweizer Unternehmen, das den Stresstest
durchführen soll, hat bereits gesagt, sie sehen nicht
das neunte und zehnte Gleis als notwendig an.
Wenige Stunden - ich hätte fast gesagt: Minuten nach dem Schlichterspruch hieß es: Die Dauer des
Stresstests ist laut der Landesverkehrsministerin schwer
zu schätzen, es würde aber mehrere Monate dauern.
Weiterhin wurde über eine Äußerung von Herrn Kefer
von der Deutschen Bahn AG berichtet: Die Ergebnisse
des in der Schlichtung vereinbarten Stresstests zur Leistungskapazität des geplanten Bahnknotens werden Kefer
zufolge erst Mitte kommenden Jahres vorliegen.
Sie spielen auf Zeit. Unterlaufen Sie nicht den
Schlichterspruch! Ergebnisse müssen vor der Landtagswahl auf den Tisch, meine sehr geehrten Damen und
Herren.
({2})
Die Bundesregierung in Person von Herrn Ramsauer
lässt die Mehrkosten prüfen, doch es gibt kein Wort über
die Pflicht des Bundes, für diese Kosten einzustehen. Ich
rufe Sie auf: Führen Sie das Schlichterergebnis nicht aus
wahltaktischen Gründen ad absurdum.
({3})
Nicht verschweigen will ich, dass, wenn schon kein
Kompromiss zwischen Tiefbahnhof und K 21 zu erwarten war, wenigstens eine Befriedung möglich gewesen
wäre.
({4})
Deshalb sage ich: Herr Geißler hat eine Chance versäumt, mit einem Volksentscheid eine Brücke für beide
Seiten zu bauen.
({5})
Ich sehe in seiner Ablehnung im konkreten Fall von
Stuttgart 21 einen deutlichen Widerspruch zu seiner Forderung, die Bevölkerung stärker bei Entscheidungen
über Großprojekte einzubeziehen.
({6})
Wenn Geißler tatsächlich die Bürger stärker einbeziehen
will, hätte er dies doch gerade bei einem solchem Konfliktthema wie Stuttgart 21 empfehlen müssen, wie es
ihm Herr Dr. Schmid vorgezeichnet hat. Im Übrigen belegen zwei Rechtsgutachten genau diesen Weg.
Es freut mich, dass sich jetzt auch die baden-württembergische Landtagsfraktion der Grünen für eine Volksabstimmung ausgesprochen hat, nachdem sie sich im
Landtag noch der Stimme enthalten hat.
Ein letztes Wort zum Schlichterspruch. Die SPD teilt
die Auffassung ausdrücklich, dass Stuttgart 21 nur dann
einen Sinn hat, wenn gleichzeitig die Neubaustrecke
Ulm-Wendlingen verwirklicht wird.
({7})
Doch während der Schlichterphase hat Bundesverkehrsminister Ramsauer seinen Bedarfsplan für die Infrastruktur in Deutschland veröffentlicht. Dabei zeigte sich, dass
seine Pläne weit größer sind als seine finanziellen Mittel.
Deshalb sage ich auch an dieser Stelle: Bekennen Sie
sich! Setzen Sie Prioritäten und sagen Sie, was dafür
wegfällt, oder aber erhöhen Sie Ihren Etatansatz!
Auch hier gilt: Alles auf den Tisch und alle an einen
Tisch! Tun Sie dies nicht, steht fest: Am 27. März 2011
werden Ihnen die Bürgerinnen und Bürger dies, da bin
ich mir sicher, nicht durchgehen lassen. Dieser Stresstest, meine Damen und Herren von FDP und CDU, steht
Ihnen noch bevor.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Döring das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem wir schon einige Debatten über dieses Thema
hier, wie ich finde, durchaus verantwortungsbewusst und
konstruktiv geführt haben, muss ich mich doch über die
vorangegangene Rede des Kollegen sehr wundern.
({0})
Ich persönlich glaube, dass es nach diesem erfolgreichen Projekt, nach diesem langwierigen Faktenfindungsverfahren und nach den Ergebnissen, die jetzt auf dem
Tisch sind, klug ist, nicht den Eindruck zu erwecken,
man hätte über Dinge sprechen sollen, die nicht Auftrag
der Schlichtungskommission waren. Es wäre für eine
verantwortungsbewusste Fraktion in diesem Haus auch
klug, sich keine Fantasiezahlen zu eigen zu machen.
({1})
Es wäre vor allen Dingen gut, von einem früheren Kollegen, der in dieser Angelegenheit eine große Leistung
vollbracht hat, nicht zu verlangen, Dinge zu empfehlen,
die rechtlich nicht durchsetzbar sind, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({2})
Es ist einfach unvernünftig und wird der Arbeit und
der Mühe der Gegner von Stuttgart 21 wie auch des
Schlichters nicht gerecht, wenn wenige Minuten nach
dem Schlichterspruch zu weiteren Protesten aufgerufen
und davon ausgegangen wird, dass das alles nichts gebracht hat. Das bringt uns doch in der Sache nicht weiter.
({3})
Ich habe das Gefühl, dass die Beteiligten in diesem
Schlichtungsverfahren mit ihrer Rolle verantwortungsvoller umgehen als die linke Seite dieses Hauses heute.
Ich finde es nicht angemessen, dass schon jetzt, bevor
überhaupt eine einzige Prüfung der Vorschläge stattfinden konnte und bevor entschieden wurde, ob ein oder
zwei Gutachter den Stresstest durchführen, verlangt
wird, alles müsse nun schnellstmöglich und sofort passieren. Ich hätte gerne die Rede des Kollegen Lange hier
gehört, wenn die Bahn schon wüsste, welcher Gutachter
das bis Februar berechnen soll. Dann hätten Sie uns vorgeworfen, wir würden im Schweinsgalopp ein Gefälligkeitsgutachten in Auftrag geben. Das ist doch scheinheilig, was hier passiert.
({4})
Das Gleiche gilt im Hinblick auf die sich in der Diskussion befindlichen Mehrkosten. Die Vorschläge, die
gemacht wurden, werden geprüft und durchgerechnet.
Wenn Sie den Schlichtungsprozess genau verfolgt haben, wissen Sie, dass die Bahn mehrfach darauf hingewiesen hat, dass Reserven in der Finanzierung von Stuttgart 21 eingerechnet sind. Man kann nach wie vor viele
Dinge innerhalb des bestehenden Finanzierungsrahmens
realisieren. Es hat keinen Zweck, jetzt Finanzierungsvereinbarungen für Dinge zu verlangen, die weder konkret
noch berechnet und gezeichnet sind oder für die vielleicht sogar das Planfeststellungsverfahren verändert
werden müsste. All das muss man sich anschauen. Das
tun wir verantwortungsbewusst. Wir erwecken aber
nicht den Eindruck, wir hätten es schon immer gewusst
oder wüssten jetzt, wer das für uns macht. Ich weiß, was
Sie uns dann vorwerfen würden. Wir gehen jedenfalls
verantwortungsbewusst mit dem Ergebnis dieses
Schlichtungsverfahrens um.
({5})
Ich will aber auch nach vorne schauen. Die Politik
kann zwei Lehren aus diesem Verfahren ziehen. Wir alle
haben bemerkt, dass die Planungen beschleunigt werden
müssen; hier besteht Verbesserungsbedarf. Ich glaube,
wir alle in diesem Haus können zusammen mit den Bundesländern für eine deutliche Beschleunigung von Planfeststellungsverfahren sorgen und sie transparenter machen.
Wir sollten dafür werben, zu Beginn großer Infrastrukturprojekte die Bürger zu befragen und sie abstimmen zu lassen, ähnlich wie es in der Schweiz beim Gotthard-Basistunnel erfolgt ist. Es ist ebenfalls vorstellbar,
die Anhörungen im Rahmen der Planfeststellungsverfahren zu Verfahren mit echter Bürgerbeteiligung unter Leitung eines neutralen Moderators weiterzuentwickeln. Ich
finde, man kann aus dem Mediationsverfahren zu Stuttgart 21 lernen. Man darf ganz sicher nicht den Fehler
machen, ein solches Verfahren bei jeder Ortsumgehung
anzuwenden. Aber vor großen infrastrukturpolitischen
Entscheidungen sollten wir die Möglichkeiten, die bei
Stuttgart 21 deutlich geworden sind, nutzen und den
Dialog mit den Bürgern offensiv suchen.
Die Bundesrepublik Deutschland muss sich für ihre
Infrastrukturplanungen nicht schämen und sucht die Beteiligung der betroffenen Menschen. Das ist ein gutes
Ergebnis der jetzt zu Ende gegangenen Schlichtung, wie
ich finde. Wir sollten gemeinsam an der Realisierung
dieses guten und leistungsfähigen Infrastrukturprojekts
Stuttgart 21 arbeiten.
Vielen Dank.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Leidig das Wort.
({0})
Werte Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich
fürchte, dieser Schlichterspruch ist ein Lehrstück der
ganz besonderen Art. Die Bürgerinnen und Bürger haben
nämlich gelernt, dass sie zwar mitreden und mitdiskutieren können, dass sie aber dann, wenn es um Mitbestimmung und Entscheidungen geht, in die Zuschauerrolle
verbannt werden. Ist also der Souverän doch kein
Citoyen, sondern ein TV-Konsument? Ich finde das Ergebnis, das bei diesem Schlichtungsprozess herausgekommen ist, ziemlich bedrückend.
({0})
Ich versichere Ihnen: Die Leute, die in Stuttgart monatelang auf die Straße gegangen sind, fühlen sich beschissen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten über Monate auf
der Straße gestanden, Sie hätten mit all der Kraft Ihrer
Argumente und Ihrer Überzeugung durchgesetzt, dass
nach Jahren endlich ein Prozess der Transparenz angestoßen wird und endlich die Fakten auf den Tisch kommen. Das war mühsam. Zehntausende haben über Monate hinweg diesen Schritt durchgesetzt, erzwungen.
Denn es wurde ihnen nicht angeboten, über dieses Projekt zu diskutieren,
({1})
sondern die Diskussionen wurden durch die Demonstrationen und das bürgerschaftliche Engagement, das die
Leute auf der Straße gezeigt haben, durchgesetzt.
({2})
Was wir bei dieser Schlichtung, die sich über viele
Runden erstreckt hat, zur Kenntnis genommen haben,
waren unheimlich viele neue Tatsachen, die auch dem
Parlament bis dahin unbekannt waren. Ich will Ihnen
noch etwas sagen: Der Schlichterspruch besagt im Kern
auch, dass Stuttgart 21 ein schlechtes, ein unnützes und
ein viel zu teures Projekt ist und dass das Alternativmodell viel sinnvoller wäre. Herr Geißler sagt in seinem
Schlichterspruch, dass er trotzdem dafür ist, dass das
schlechte, unsinnige und milliardenteure Projekt umgesetzt wird, weil die Bahn es erzwingt, indem sie mit einer Klage droht, und weil die Herrschenden nicht bereit
sind, den besseren Argumenten nachzugeben.
({3})
Das ist ein demokratischer Skandal.
({4})
Wenn die Macht immer am längeren Hebel sitzt, dann
ist die Demokratie verloren. Ich sage Ihnen: Wir werden
das nicht zulassen, und die Leute werden es sich nicht
gefallen lassen. Wir werden weiter auf die Straße gehen
und mit allen friedlichen Mitteln für volkswirtschaftliche
Vernunft und dafür eintreten, dass das Volk der Souverän
ist und nicht Herr Geißler, und schon gar nicht die Bahn.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Hermann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU-Fraktion! Sie haben ausdrücklich angesprochen,
wie wir auf den Schlichterspruch von Heiner Geißler reagiert haben. Ich will Ihnen in aller Klarheit sagen: Auch
wir schätzen die Leistung des Schlichters Heiner Geißler
außerordentlich. Das habe ich ihm auch persönlich gesagt. Daran kann kein Zweifel bestehen.
({0})
Allerdings war diese Schlichtung von Anfang an als
Fachschlichtung und nicht als Ergebnisschlichtung gedacht, und es war völlig klar, dass sein Entscheid bzw.
seine Empfehlung am Ende nicht bindend sein kann,
sondern diese höchstens auf der psychologisch-politischen Ebene für eine weitere Entwicklung sorgen kann;
denn er kann keine Entscheidung fällen, deren daraus
entstehenden Kosten andere, beispielsweise der Bund,
bezahlen müssen. Insofern bleibt die Politik gefragt. Die
Politik muss entscheiden.
Wir nehmen den Schlichterspruch von Heiner Geißler
ernst. Wir sind enttäuscht, weil wir etwas anderes erwartet hätten. Auch darüber kann überhaupt kein Zweifel
bestehen. Aber wenn Sie den Text in voller Länge und
genau lesen, dann werden Sie sich wundern. Sie, die für
Stuttgart 21 sind, können mit diesem Text nicht glücklich werden. Heiner Geißler hat nicht gesagt, wir müssten Stuttgart 21 bauen, weil das das bessere Projekt sei,
sondern deshalb, weil es so weit fortgeschritten sei.
Heiner Geißler hat weiterhin gesagt, er könne
Stuttgart 21 nur als Stuttgart-21-plus gutheißen. Zu diesem Plus gehört eine ganze Reihe von bedeutenden Bedingungen. Die erste Bedingung ist: Nur wenn ein
Stresstest bestanden wird und der neue Bahnhof 30 Prozent mehr Leistung in den Spitzenzeiten erbringen kann
als der bisherige Kopfbahnhof, dann kann er dem Projekt zustimmen. Weitere Bedingungen sind: Nur wenn
ein neuntes und ein zehntes Gleis gebaut werden, kann
er zustimmen.
({1})
Nur wenn am Flughafen zweigleisig kreuzungsfrei eingeschleift wird, nur wenn die Gäubahn nicht abgebaut,
sondern erhalten und neu eingeschleift wird, nur wenn
Barrierefreiheit garantiert wird, nur wenn ein besseres
Sicherheitskonzept erarbeitet wird, nur wenn die unterirdischen Sicherheitsstollen barrierefrei sind und man sicher herauskommt, kann er zustimmen. Wenn Sie alle
diese Bedingungen erfüllen wollen, dann müssen Sie
dieses Projekt zu einem erheblichen Teil neu planen, ein
neues Planfeststellungsverfahren beginnen und ganz
neue Rechnungen aufmachen.
({2})
Es ist keine Kleinigkeit, ein neuntes und zehntes Gleis
zu bauen. Alle Experten sagen, dass diese Forderungen
in der Summe mindestens 500 Millionen Euro Mehrkosten ausmachen, wahrscheinlich sogar 1 Milliarde Euro.
({3})
Wenn man das alles ernst nimmt, dann stellt sich natürlich die Frage: Wer soll das bezahlen? Dann stellt sich
auch die Frage: Wird die Bahn, die gesagt hat, dass sie
bei 4,5 Milliarden Euro aussteigt, wirklich aussteigen,
wenn das Projekt 500 Millionen Euro mehr kostet? Dann
reißt sie nämlich die Latte. Wird der Bund bei seiner
Aussage bleiben, dass er nicht mehr als bisher zahlt? Wer soll dann diese Finanzierungslücke schließen?
Kommen wir zur Neubaustrecke. Da sieht es noch
schlimmer aus. Bei der Neubaustrecke ist nicht annähernd so gründlich geprüft worden, aber es ist klar geworden, dass ein hohes Kostenrisiko vorliegt. Das trägt
alleine der Bund. Der Bundesverkehrsminister weiß
ebenso gut wie ich, dass er nicht die 2,8 Milliarden Euro
im Etat hat, die jetzt als Kosten für die Strecke anfallen,
sondern nur 950 Millionen Euro, die sich auf die 2-Milliarden-Euro-Kalkulation gründen. Die anderen 900 Millionen Euro sind, genauso wie sämtliche Mehrkosten,
noch nicht finanziert.
Zusammenfassend muss man sagen: Vieles ist noch
nicht finanziert. Das wirft gravierende neue Fragen auf
und wird neue Debatten auslösen. Wer jetzt sagt „Wir
machen weiter; schön, dass es dieses Schlichtungsgespräch gegeben hat; wir haben gelernt; wir werden es zukünftig anders machen“, der hat eben nicht gelernt. Man
muss jetzt ernsthaft eine neue Wirtschaftlichkeitsberechnung durchführen. Dann wird man mit ziemlicher Sicherheit feststellen müssen, dass dieses Projekt nicht
wirtschaftlich ist. Es ist und bleibt ein politisch durchgedrücktes Projekt, das aber verkehrlich und wirtschaftlich
nicht sinnvoll ist.
({4})
Bei diesem Projekt handelt es sich um ein Kirchturmprojekt in Baden-Württemberg: Es werden Milliarden
eingefordert, ohne dass es für das Gesamtsystem einen
Nutzen hat. Wir Grüne sind als Bahnpartei schon immer
gegen dieses Projekt gewesen.
({5})
- Ja, dagegen, weil wir für eine bessere Bahn sind; dagegen, weil wir für „oben bleiben“ sind; dagegen, weil wir
dieses Konzept für nicht durchführungsfähig halten, weil
es nichts taugt und weil es schlechter ist als der Kopfbahnhof. Das ist der Punkt. Wir sind gegen eine verfehlte Planung und für ein besseres Konzept, nämlich für
K 21.
({6})
- Im Moment schreien Sie dagegen.
({7})
Noch eine Anmerkung zum Demokratieverfahren.
Herr Döring, ich gebe Ihnen in einem Punkt grundsätzlich recht: Es ist völlig aberwitzig, dass wir am Ende eines langen Prozesses solche grundsätzlichen Debatten
führen. Das liegt daran, dass unser Planungsrecht vollkommen falsch gewickelt ist. Zukünftig müssen wir bei
Großprojekten schon zu Beginn eine offene Debatte führen, alle Alternativen offenlegen, durchrechnen und darüber in der Gesellschaft diskutieren. Dann muss es zur
Entscheidung kommen, und dann muss die Finanzierung
abgesichert werden. Wenn sich die Bevölkerung dann
für ein Projekt entscheidet, dann kann man sich an die
Feinplanung begeben und das Planfeststellungsverfahren
im Detail angehen. Das wäre der richtige Weg, das wäre
die Konsequenz.
Wir brauchen ein anderes Planungsrecht, wir brauchen eine andere Planungskultur, damit wir zukünftig zu
einem demokratischen Verfahren bei Groß-, aber auch
bei kleineren Projekten kommen.
Vielen Dank.
({8})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Stefan
Kaufmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestern war
ein guter Tag für Deutschland und für meinen Wahlkreis
Stuttgart I, weil erstens ein wichtiges Infrastruktur- und
Zukunftsprojekt nach einer in dieser Intensität noch nie
dagewesenen Vorabprüfung als sinnvoll und plausibel
bestätigt wurde und weil wir zweitens in Stuttgart ein
völlig neues öffentliches Verfahren mit großem Gewinn
für die Demokratie abgeschlossen haben. Vor diesem
Hintergrund begrüße ich den gestrigen Schlichterspruch
ausdrücklich.
Um es vorwegzunehmen: Die Schlichtung weist am
Ende keine Gewinner und keine Verlierer aus. Alle Seiten haben viel gelernt. Die Schlichtung hat maßgeblich
zu einer Versachlichung und Deeskalation beigetragen.
Vor allem aber wurde verloren gegangenes Vertrauen in
Politik und Projektträger zurückgewonnen.
({0})
Daher war die Schlichtung auch ein Erfolg für die politische Kultur insgesamt. Sie war ein gelungener Versuch,
ein hochkomplexes Thema so aufzuarbeiten, dass Bürgerinnen und Bürger zu einem eigenen Urteil finden können.
Auch das weitere Ziel des Verfahrens wurde erreicht:
Transparenz politischer und planerischer Entscheidungen. Diesen Punkt sollten wir wirklich nicht kleinreden.
In einer von Medien dominierten Welt ist eine gelingende politische Kommunikation die große Herausforderung der Zukunft. Unser Anspruch muss sein, zunehmend komplexe Themen allgemeinverständlich zu
vermitteln und nachvollziehbar zu machen. Auch das ist
eine Erfahrung aus dieser Schlichtung. Neue Formen der
Bürgerbeteiligung und Bürgerinformation sind in der
Diskussion. Das Land Baden-Württemberg hat heute
hierzu im Rahmen eines Sieben-Punkte-Programms die
Einrichtung einer Enquete-Kommission zur modernen
Ausgestaltung der repräsentativen Demokratie angekündigt. Das ist ein guter Weg, wie ich meine.
({1})
Zum Ergebnis der Schlichtung im Einzelnen. Die
Schlichtung hat große Stärken, aber auch kleinere
Schwächen des Projekts zutage gefördert. Insofern gab
es einen hilfreichen Beitrag der K-21-Befürworter in der
Schlichtung. Insgesamt gilt unser aller Lob dem konstruktiven Dialog aller Beteiligten. Ein großes Dankeschön geht an - es wurde gesagt - Heiner Geißler für
seine beispielhafte Gesprächsführung. Heiner Geißler
ließ in seinem Schlichterspruch keinen Zweifel daran,
dass Stuttgart 21 gebaut werden soll und dass ein Umschwenken auf K 21 nicht zu verantworten ist.
Stuttgart 21 soll noch attraktiver, sicherer, familien- und
behindertenfreundlicher werden. Stuttgart 21 soll auch
ein ökologisches Vorzeigeprojekt werden. Insgesamt hat
Heiner Geißler seine Vision von einem optimierten
Stuttgart 21 als „Stuttgart-21-plus“ bezeichnet.
Zentral für die Entwicklung des neuen Stadtquartiers
wird sein, dass die frei werdenden Flächen in eine Stiftung mit eindeutigem Stiftungszweck überführt werden.
Das ist eine sehr gute Lösung, wie ich meine. In Hamburg hat man sehr positive Erfahrungen gemacht. Die
Stadt hat bereits mit einem Stadtentwicklungsprojekt
Rosenstein unter breiter Bürgerbeteiligung begonnen.
Ich darf noch einmal auf die verkehrliche Dimension
eingehen. Der geforderte Stresstest wird von der Bahn
zügig angegangen; das wurde heute schon verlautbart.
Sollte es dabei nicht zu den geforderten 30 Prozent Leistungssteigerungen zur Spitzenlaststunde kommen, dann
- wohlgemerkt, nur dann - sind entsprechende Verbesserungsmaßnahmen vorgesehen. Dies wird von der neutralen SMA und Partner AG im beiderseitigen Einverständnis - das wurde am Schlichtungstisch vereinbart überprüft.
Der Schlichterspruch stellt im Übrigen auch an den
Bund eine Forderung: Die noch offenen Planfeststellungsverfahren müssen zügig fortgeführt werden. In diesem Zusammenhang darf ich daran erinnern, dass die
Projektgegner in den Schlichtungsgesprächen ein Alternativkonzept Bahnhof 21 vorgestellt haben, das ebenfalls eine Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm vorsieht. Wenn Sie von der Dagegen-Partei nicht Ihre
Ablehnung zu Stuttgart 21 aufgeben können, dann bekennen Sie sich doch bitte endlich eindeutig zur vorgesehenen Neubaustrecke, die Ihr Gegenkonzept offensichtlich ebenfalls vorsieht.
({2})
Sinnvoll ist darüber hinaus der Vorschlag von Heiner
Geißler, eine situationsbedingte oder begleitende Bürgerbeteiligung während des Baus von Stuttgart 21 vorzusehen.
Ich darf an die Grünen appellieren, doch noch einzulenken. Herr Hermann, Sie haben die gesamte Schlichtung hier vom Tisch gewischt.
({3})
Sie haben den runden Tisch für die Schlichtung vorgeschlagen. Sie haben Heiner Geißler als Schlichter vorgeschlagen. Sie haben das gewählte Verfahren akzeptiert,
und nun wollen Sie das Ergebnis nicht mittragen.
({4})
Als Ausweg aus Ihrem Dilemma plädieren Sie nun wie
auch die Linke und die SPD für eine Volksabstimmung
und rufen munter zu neuerlichen Protesten und Demonstrationen auf. Durch eine Volksabstimmung und ein
Abwarten bis zur Landtagswahl würde aber rein gar
nichts gewonnen. Sie würden das Projekt, selbst wenn
Sie Regierungspartei würden
({5})
und sich die Mehrheit in einer Volksabstimmung gegen
Stuttgart 21 aussprechen würde, nicht stoppen können.
Das hat Renate Künast hier in der Haushaltsdebatte auf
eine Zwischenfrage des Kollegen Schlecht ausdrücklich
nochmals bestätigt.
({6})
- Ja, Sie, Frau Künast.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen sich
schon positionieren. Eine Flucht in eine Volksabstimmung befreit Sie nicht aus Ihrem Dilemma und im Übrigen
auch keine albernen Kleinen Anfragen an die Bundesregierung zum Vorkommen und Schutz des Juchtenkäfers im Stuttgarter Schlossgarten. Kehren Sie also bitte
zum sachlichen Dialog zurück und kommen Sie aus Ihrem Schmollwinkel.
Mein letztes Wort gilt Ihnen von der SPD. Auch Ihr
fast schon blindes Festhalten an einer zudem unzulässigen Volksabstimmung
({7})
ist spätestens nach der Schlichtung anachronistisch. Bekennen Sie Farbe und sagen Sie endlich, ob Sie für oder
gegen Stuttgart-21-plus sind!
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Kumpf für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich kann es gleich unspannend machen, Herr Kollege
Kaufmann und Herr Kollege Strobl: Die SPD ist für
Stuttgart 21.
({0})
Im Unterschied zu Ihren Vorstellungen wollen wir die
Befriedung über einen Volksentscheid herbeiführen. Das
ist der wesentliche Unterschied.
({1})
Was wir jetzt erleben, ist dies: Die Schlichtung ist
vorbei, aber nicht am Ende. Das zeigt sich auch daran,
wie wir hier miteinander umgehen.
({2})
Wir hätten lernen müssen. Das hat auch Kollege Döring
gesagt. Es war bewundernswert, wie sich die Leute stundenlang vor dem Fernseher aufgehalten und die ganze
Fachdebatte mit verfolgt haben. Ich sage Dank von unserer Seite dafür, wie von Herrn Geißler versucht wurde,
Sachlichkeit hineinzubringen, was mir - auch in Stuttgart - immer ein großes Anliegen war.
({3})
Diese Sachlichkeit verspielen wir mit dieser Debatte
gerade wieder. Ich glaube nicht, dass die Menschen, die
unsere Aktuelle Stunde vor dem Fernseher erleben, sagen, es habe sich gelohnt. Die Schlichtung war gut, aber
das, was Sie hier treiben, ist reine Polemik.
({4})
Eines sage ich in die Richtung der Grünen und der
Linken: Es darf sich keiner wundern, dass der Protest
weitergehen wird, wenn der Schlichterspruch zerredet
wird. Frau Gönner hat dies heute vorgeführt, indem Sie
gesagt hat: Wir machen nichts. Das langt alles, wir brauchen kein neuntes oder zehntes Gleis.
({5})
- Doch, heute Morgen wurde ich fröhlich davon geweckt.
Herr Kefer sagt auch, er braucht ein halbes Jahr. Herr
Döring, wenn Sie im Ausschuss aufgepasst hätten, wüssten Sie, dass das Unternehmen, das dies entsprechend
prüfen soll, schon lange feststeht. Es hat schon erste
Überlegungen angestellt. Die Grünen haben damals
diese Information ins Netz gestellt. Das ist die Firma
SMA. Also, bitte genauso aufpassen - wie die Bürgerinnen oder die Bürger es vor dem Fernseher gemacht haben.
({6})
Ich denke, wir sollten hier für uns mitnehmen, dass
die Schlichtung zu einer größeren Transparenz und auch
Akzeptanz für dieses Projekt geführt hat.
({7})
Wenn Sie aber so weitermachen, dann ist diese Akzeptanz gleich wieder weg. Dann heißt es sofort, es wird alles nicht ernst genommen, was Herr Geißler uns ins
Stammbuch geschrieben und worüber er uns zum Teil
auch die Leviten gelesen hat.
({8})
Es muss allen klar gewesen sein, dass diese Schlichtungsrunde keinen Kompromiss finden konnte. Ein bisschen Bahnhof unten, ein bisschen Bahnhof oben geht
einfach sachlich nicht.
Alle, die an dieser Schlichtungsrunde beteiligt waren,
waren nicht in irgendeiner Form demokratisch legitimiert. Der Kollege Hermann war am Sonnabend auch
dabei. Ich glaube, wir vom Verkehrsausschuss haben Ihnen kein Votum mitgegeben, für den Verkehrsausschuss
zu reden. Es war allen klar: Wenn dieser Spruch in irgendeiner Form verankert werden soll, dann braucht er
eine demokratische Legitimation. Wir sagen, dieser
Schlichtungsspruch muss durch einen Volksentscheid legitimiert werden.
({9})
Ich will jetzt nicht hören, dass das alles nicht geht. Sie
hatten die Gelegenheit, im Landtag einem entsprechenden Antrag der Grünen und der SPD zuzustimmen und
ein Verfahren aufzuzeigen, wie so etwas möglich gemacht wird. Es ist zwar ungewöhnlich, dass man einen
Volksentscheid nach dem ganzen Verfahren durchführt,
aber einiges ist natürlich der CDU-Regierung im Lande
geschuldet, die - was die Planungszeit, die Transparenz
und die richtigen Informationen anbelangt - ein bisschen
geschlampt hat; das sage ich ganz vornehm.
({10})
Auch der Herr Schuster als Oberbürgermeister der Stadt
Stuttgart hat einen Super-Kommunikations-GAU hingelegt, das wissen Sie alle. Deshalb sind wir gezwungen,
im Nachhinein die Zustimmung für dieses Projekt bei
den Leuten abzuholen. Herr Strobl, Sie wollen wahrscheinlich auch nicht, dass die Polizei hier in Stuttgart
zehn Jahre lang dieses Bauprojekt absichern muss?
({11})
Das geht zulasten der Polizisten. Ich glaube, das wollen
Sie ganz bestimmt nicht.
({12})
Wir wollen das auch nicht, von daher muss Frieden in
die Stadt kommen. Das passt auch gut in die Vorweihnachtszeit, damit wir wirklich „Stille Nacht, heilige
Nacht“ singen können.
({13})
Sonst können wir das zu Weihnachten nicht singen und
vielleicht nach Weihnachten auch nicht, weil der Friede
in dieser Stadt nicht hergestellt wird, weil Sie sich diesem Volksentscheid verweigern.
({14})
- Nein, ich mache mir das überhaupt nicht einfach. Ich
habe unter diesem Projekt persönlich sehr gelitten, das
müssen Sie wissen. Ich hätte ganz andere politische Perspektiven gehabt. Mehr sage ich darüber nicht. Deshalb
denke ich, dass der Volksentscheid ein wichtiges Instrument ist, dessen Zulässigkeit Sie wirklich überprüfen
müssen. Wenn Sie es nicht einläuten und einfädeln wollen, dann werden wir uns dieses Mandat für den Volksentscheid eben am 27. März abholen, damit die Leute
sich mit vollem Herzen zu diesem Projekt bekennen
können.
({15})
Schließen Sie sich uns an! Machen Sie mit! Seien Sie
wirklich Demokraten und Demokratinnen und machen
Sie den Weg frei für einen Volksentscheid!
({16})
Der Kollege Simmling hat für die FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! „Der Schlichter geht, der Bahnhof kommt“, so titelt
heute das Handelsblatt. Wenn Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, nach dem Schlichterspruch
von Herrn Dr. Geißler weiterhin den Baustopp und eine
Volksabstimmung fordern, dann ist das, finde ich - so
wurde das heute auch schon bezeichnet -, eine wirklich
unangemessene, ja verantwortungslose Reaktion. Es darf
Ihnen hier nicht nur um machtpolitisches Kalkül gehen.
Unser gemeinsames Bestreben muss von nun an an der
Sache ausgerichtet sein.
({0})
Worum ging es in der Schlichtung? Es ging um die
Beilegung eines Konfliktes zwischen streitenden Parteien durch einen von den Beteiligten vorgeschlagenen
Schlichter. Ziel des einmaligen Stuttgarter Verfahrens
- so sage ich einmal - war, den Graben, der Stuttgart zu
trennen schien, wieder zu überbrücken. Das Ergebnis eines Schlichtungsverfahrens wird normalerweise von den
Parteien akzeptiert. Also richte ich an Sie den Appell:
Akzeptieren Sie auch diesen Schlichterspruch!
CDU und FDP haben sich in Stuttgart auf diese
Schlichtung eingelassen, nicht deshalb, weil sie auf Basis einer Rechtsgrundlage dazu verpflichtet waren, sondern deshalb, weil es der Regierungskoalition um den
gesellschaftlichen Zusammenhalt ging. Stuttgart 21 hat
sich danach insgesamt - das wurde schon betont - als
richtig und tragfähig erwiesen. Ob und, wenn ja, in welchem Umfang an diesem Konzept Ergänzungen erforderlich sind, wird derzeit geprüft.
Was wir jetzt dringend brauchen, ist ein konstruktives
Verhalten.
({1})
Wir alle müssen gemeinsam unseren Auftrag als Volksvertreter wahrnehmen und beispielgebend den Schlichterspruch umsetzen, anstatt zu versuchen, den Konflikt
neu zu befeuern.
({2})
Letztendlich müssen wir die Bürgerinnen und Bürger
mitnehmen. Wir müssen aus dem bisherigen Vorgehen
lernen.
Wie auch Sie wissen, gibt es viele Bürgerinnen und
Bürger - inzwischen ist es sogar die Mehrzahl -, die aus
wirtschaftlichen Gründen für ein modernes, leistungsfähiges und umweltfreundliches Verkehrsinfrastrukturnetz
sowie für den Erhalt und die Schaffung von Tausenden
von Arbeitsplätzen sind.
({3})
Wir wollen Stuttgart die Chance geben, ein neues Quartier und die Erweiterung der Parkanlagen zu realisieren,
damit frühere Fehlplanungen korrigiert werden können.
({4})
Wissenschaftler beider Parteien oder Fraktionen, die
Deutsche Bahn AG und Politiker haben sich in neun
Schlichtungsrunden an einen Tisch gesetzt, externe Experten haben Präsentationen erarbeitet, und das Ganze
hat auch richtig Geld gekostet. Die Beteiligten sind an
ihre Belastungsgrenzen gegangen. Der Schlichter hat
eine Entscheidung verkündet, in der alle Interessen abgewogen worden sind und in der eine machbare und
praktikable Lösung formuliert worden ist. Für das Zustandekommen dieses Schlichtungsspruchs danken wir
Herrn Dr. Geißler ausdrücklich. Er hat - anders als Sie,
Herr Lange, vorhin gesagt haben - keineswegs eine
Chance versäumt.
Die Koalitionsregierungen in Land und Bund leisten
eine konstruktive Arbeit. Es gibt bei diesem Verfahren
keine Gewinner und keine Verlierer. Wenn Sie wollen,
meine Damen und Herren, dass unsere Demokratie als
Gewinner dasteht, weil sie durch den Prozess wieder ein
Stück vitalisiert wurde,
({5})
dann helfen Sie mit, das Projekt Stuttgart 21 umzusetzen! Sie alle sind herzlich dazu eingeladen.
({6})
Der Kollege Beckmeyer hat für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich denke, die Schlichtung hat zu einer Versachlichung der Debatte und der Diskussion geführt. Das
sollten wir einmal festhalten. Der Schlichterspruch ist
eine Empfehlung. Ich kann an dieser Stelle nur die baden-württembergische Landesregierung auffordern, ihn
ernst zu nehmen.
({0})
Werfen wir einen Blick auf die aktuelle Presse. Das
Handelsblatt von heute stellt fest, dass die CDU-Ministerin den Stuttgart-21-Stresstest zur Farce macht.
({1})
Es stellt fest, dass Ministerin Gönner zusätzliche Bahngleise für unnötig hält.
({2})
Es stellt fest, dass ganz bestimmte Punkte des Schlichterspruches wieder zerredet werden ({3})
auch von Ihnen heute, Herr Strobl.
({4})
Der Schlichter sagt:
Ich kann den Bau des Tiefbahnhofes nur befürworten, wenn entscheidende Verbesserungen an dem
ursprünglichen Projekt vorgenommen werden.
({5})
Die entsprechenden Veränderungen und Verbesserungen
dieses Projektes hat er gestern der deutschen Öffentlichkeit erklärt.
({6})
Der Schlichterspruch empfiehlt: Erweiterung des
Tiefbahnhofes; eine zweigleisige westliche Anbindung
des Flughafen-Fernbahnhofs an die Neubaustrecke; eine
zweigleisige, kreuzungsfreie Anbindung der Wendlinger
Kurve; die Anbindung der bestehenden Ferngleise von
Zuffenhausen an den neuen Tunnel von Bad Cannstatt
zum Hauptbahnhof; die Ausrüstung aller Strecken mit
konventioneller Leit- und Sicherungstechnik.
Ich sage an dieser Stelle einmal ganz wertfrei: Wunderbar! Das hat aber Konsequenzen.
({7})
Diese Konsequenzen sind beim Bundesverkehrsministerium und bei der Deutschen Bahn AG zu beurteilen.
({8})
- Hören Sie einmal zu, Herr Strobl! Sie können jetzt etwas lernen. - Wir werden sie dann hoffentlich am 15. Dezember im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung beurteilen können. Dann wird auch von der
Deutschen Bahn erklärt werden müssen, in welcher
Form sich diese auswirken werden, sowohl in finanzieller Hinsicht als auch in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit
des Projektes.
({9})
Wir werden uns das anschauen, und dann werden wir
dieses Projekt, für das wir in den vergangenen Jahren in
den verschiedensten Parlamenten die Hand gehoben haben, unter den neuen Bedingungen bewerten.
({10})
Ich hoffe, das gilt auch für Sie. Sie werden doch keine
Projekte im Deutschen Bundestag befürworten, die am
Ende nicht wirtschaftlich sind, oder?
({11})
- Nein, nicht ein bisschen dagegen, Herr Strobl! Wofür
sind Sie denn? Sind Sie für Projekte, die am Ende unwirtschaftlich sind, oder nicht? Das ist doch die entscheidende Frage, vor der Sie sich momentan drücken.
({12})
Sie sind im Grunde eine parteipolitische Kampfmaschine, die sagt: Egal was es kostet, wir machen das. Diese Position hatten wir schon einmal. Wir werden das
im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
des Deutschen Bundestages verfolgen
({13})
und von der Bundesregierung und auch von der Deutschen Bahn AG endlich Klarheit diesbezüglich bekommen.
Ich habe an dieser Stelle schon häufig darauf hingewiesen: Die Deutsche Bahn AG hat in Bezug sowohl auf
den Aufsichtsrat als auch auf den Vorstand einen Corporate-Governance-Beschluss gefasst, und ich erwarte,
dass der Vorstand sich daran hält. Die Deutsche
Bahn AG ist ein betriebswirtschaftlich agierendes Unternehmen, das genau schauen muss, wie es mit seinen Investitionen umzugehen hat.
({14})
Wir werden uns anhören, was Herr Dr. Kefer dazu ausführen wird.
Als Letztes möchte ich einen Appell an Sie richten:
Im Laufe des Schlichtungsverfahrens ist eine Menge an
Informationen öffentlich geworden, die den Ausschüssen und den Abgeordneten des Deutschen Bundestages
bisher vorenthalten worden sind.
({15})
So geht es nicht weiter.
({16})
Ich kann an dieser Stelle nur alle Beteiligten auffordern
- Ministerium, Bundesregierung und Deutsche Bahn AG -,
uns Abgeordneten in der Zukunft alle Informationen auf
den Tisch zu legen, damit wir sie offen und ehrlich bewerten können.
({17})
- Herr Tiefensee hat keine Papiere unterdrückt. Aber uns
wurden die Papiere, die jetzt offengelegt worden sind,
bisher vorenthalten mit dem Argument, die Deutsche
Bahn AG sei ein eigenständiges wirtschaftliches Unternehmen, das dem Deutschen Bundestag gegenüber keine
Berichtspflicht habe. Das ist falsch.
({18})
Diese Frage wird uns zukünftig bei der Beratung hier im
Deutschen Bundestag beschäftigen müssen. Wenn wir
nämlich den Gedanken der Transparenz unterstützen
- Sie tun das, wir auch - und ihn hier hegen und pflegen
und weiterentwickeln wollen, dann muss das in erster Linie für das deutsche Parlament und seine Ausschüsse gelten.
({19})
Ich komme zum Schluss. Wir werden dafür sorgen,
dass Sie hier zukünftig nicht mehr mit der Streusandbüchse hantieren. Wir wollen in dieser Frage Klarheit,
Effizienz und Sicherheit erreichen. Dann können wir das
Projekt in neuer Form bewerten.
Herzlichen Dank.
({20})
Das Wort hat der Kollege Lange für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zukunft braucht Wege. Stuttgart 21 ist ein Gleis in
die Zukunft. Heiner Geißler hat mit seinem Schlichterspruch die Weichen auf Zukunft gestellt. Es geht um
eine Entscheidung für die kommenden Generationen.
Bahnprojekte dieser Größenordnung waren schon immer
Generationenentscheidungen. Stuttgart-21-plus ist ein
Bahnprojekt mega-plus.
({0})
Wir haben es heute schon ein paarmal gehört: Es gibt
bei dem Schlichterspruch keine Gewinner und Verlierer.
Ich glaube, Heiner Geißler hat hier einen salomonischen
Spruch gesprochen. Ihm gebührt nicht nur dafür der
Dank der Beteiligten, sondern ihm gebührt auch der
Dank unseres Hauses und der jungen Generation dafür,
dass er uns nicht aus dem Auge verloren hat.
({1})
- Danke für diese Einschätzung. So jung bin ich leider
nicht mehr. - Auf dem Weg der neuen Sachlichkeit sind
viele Aufgaben und Verpflichtungen mitgegeben worden. Ich glaube, diese Anstrengungen haben sich gelohnt.
Sie haben vorhin bezweifelt, dass wir das, was aufgegeben wurde, ernst nehmen. Sie können sicher sein, dass
wir das ernst nehmen. Kollege Hermann, erlauben Sie
mir, dass ich Ihren Parteikollegen Boris Palmer zitiere,
der heute auf n-tv gesagt hat, dass er im Rahmen der
Schlichtung Vertrauen zu Herrn Kefer von der DB gefunden hat. Angesichts dieses Vertrauens können Sie
doch jetzt nicht sagen, dass hier etwas nicht ernst genommen wird. Vielmehr sollten Sie, nachdem Sie Heiner
Geißler ins Spiel gebracht haben, das Votum respektieren.
({2})
Ich möchte nochmals Boris Palmer zitieren, der Ihnen in
diesem Interview ausdrücklich widerspricht und sagt:
„Heiner Geißler hat Hervorragendes geleistet.“ Ich appelliere an Sie: Akzeptieren auch Sie diese Leistung.
({3})
Meine Damen und Herren von der SPD, liebe Kollegin Kumpf, mir ist klar, dass Ihre Gemütslage nicht nach
Stille Nacht ist. So hilflos, wie Sie hier agieren, gleicht
Ihre Gemütslage auf dem Abstellgleis vielleicht eher einem Es geht eine Träne auf Reisen.
({4})
Mehr kann ich dazu wirklich nicht sagen.
({5})
Ich muss einen Satz zum Kollegen Hermann sagen.
Sie haben den baden-württembergischen Kirchturm angesprochen. Dazu kann ich nur sagen: Wir in Bayern,
wir in Augsburg und München, freuen uns auf
Stuttgart 21, auf die Magistrale. Der Süden freut sich.
Heiner Geißler, herzlichen Dank für diesen Schlichterspruch.
({6})
- Sie werden es sehen.
Liebe Kollegin von der Linken, Sie bestreiten die demokratische Legitimation und sagen: Die armen Leute
stehen auf der Straße und demonstrieren, aber am Ende
wird gegen das Volk entschieden.
({7})
Schauen Sie sich die Umfragen an: Die Mehrheit in Baden-Württemberg ist für Stuttgart 21, die Mehrheit in
Stuttgart ist für Stuttgart 21.
({8})
Glauben Sie doch nicht, dass nur Ihre Meinung die
Mehrheitsmeinung ist.
({9})
Ich brauche es nicht noch einmal zu wiederholen,
dass es Ihr Verkehrsminister Tiefensee war, Herr
Beckmeyer,
({10})
der viele Jahre lang das Verkehrsministerium innehatte.
Er führte die Unterlagen und hat den Vertrag unterschrieben.
({11})
Stellen Sie sich hier also nicht so hin und sagen Sie
nicht, Sie hätten von all dem nichts gewusst. Sonst muss
ich fragen, wie die Kommunikation in Ihrem eigenen
Haus lief.
Was die Menschen von uns erwarten, ist, dass wir als
Vertreter einer repräsentativen Demokratie den Mut haben, zu entscheiden und die Entscheidungen durchzusetzen, und damit für Verlässlichkeit in unserem Rechtsstaat sorgen.
({12})
Mit Volksbefragungen
({13})
allein lösen Sie so ein Problem nicht. Ich erinnere Sie
nur an Dresden.
({14})
Da ist die Volksbefragung nicht so gelaufen, wie Sie sich
das gedacht haben. Volksbefragungen sind kein Allheilmittel.
Ich kann Ihnen nur sagen: Kommen Sie zum Schlichterspruch zusammen. Wir nehmen ihn ernst. Kommen
Sie auf das Gleis Zukunft. Steigen Sie ein in den Zug
„Stuttgart 21“. Fahren wir gemeinsam auf diesem Gleis
in die Zukunft.
Herzlichen Dank.
({15})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Bilger für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich muss mich in dieser Debatte schon sehr wundern.
({0})
Worum geht es Ihnen eigentlich? Geht es Ihnen darum,
die Wirtschaftlichkeit des Projektes Stuttgart 21
schlechtzurechnen und damit das Projekt zu gefährden?
({1})
Oder geht es um die Verbesserungen, die in den Schlichtungsverhandlungen erzielt wurden? Das, was Sie hier
betreiben, ist doch keine verantwortungsvolle Politik.
({2})
Dass sich die Atmosphäre in den letzten Wochen verändert hat - ich darf daran erinnern, dass wir in der letzten
Aktuellen Stunde zu Stuttgart 21 auch über den Polizeieinsatz diskutiert haben -, ist in der Tat ein Verdienst von
Heiner Geißler und der Schlichtungsgespräche, die wir
sicherlich alle mit Spannung verfolgt haben. Mein Dank
gilt ausdrücklich allen, die sich an diesen Gesprächen beteiligt haben. Bis auf die sogenannten Parkschützer, die
bei der Stuttgarter Bevölkerung nach wochenlangem
Dauercampen mittlerweile eher als Parkverschmutzer bekannt sind, haben auch alle relevanten Vertreter der Gegner teilgenommen.
({3})
- Das können Sie aus Frankfurt alles gut beurteilen, Frau
Leidig.
({4})
Der Erfolg der Schlichtungsgespräche zeigt sich für
uns Befürworter auch daran, dass mittlerweile nicht
mehr diejenigen die öffentliche Meinung bestimmen, die
am lautesten schreien. Jeder interessierte Bürger konnte
sich sein eigenes Bild machen.
({5})
- Ich habe mir sehr wohl ein Bild gemacht.
Auch wenn viele der Gegner, Sie eingeschlossen,
Frau Leidig, immer wieder behauptet haben, sie hätten
die Mehrheit des Volkes hinter sich, zeigt sich doch zum
wiederholten Male - auch jetzt, in den jüngsten Umfragen von Spiegel und ZDF -, dass eine knappe Mehrheit
der Baden-Württemberger für Stuttgart 21 ist.
({6})
Eine deutliche Mehrheit gibt es in der Region Stuttgart,
wo sich die Bürger besonders intensiv mit den Fakten
beschäftigen.
({7})
Im Übrigen kann ich nur dazu raten, sich einmal genau
mit diesen Umfrageergebnissen auseinanderzusetzen.
({8})
Als Baden-Württemberger will ich dies verdeutlichen,
weil auch hier im Bundestag immer wieder - auch heute ein anderer Eindruck vermittelt wurde. Bei der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm ist noch viel eindeutiger, dass
die Mehrheit dafür ist: 41 zu 17 Prozent. Diese Zahlen
sollten sich alle, die von Baustopp und von einer Volksabstimmung in einem halben Jahr reden, ganz genau vor
Augen halten.
Liebe Kollegen von der SPD-Fraktion, auch ich kann
Ihnen nicht ersparen, zu sagen, dass Ihr durchsichtiges
Manöver, mit der Forderung nach einer Volksbefragung
Terrain zu gewinnen, nicht belohnt wurde.
({9})
Nur 5 Prozent der Befragten sehen die SPD als die Partei
an, die bei Stuttgart 21 ihre eigene Meinung am besten
wiedergibt.
({10})
Lieber Christian Lange, es gibt eine Finanzierungsvereinbarung für Stuttgart 21. Diese Finanzierungsvereinbarung beinhaltet einen Puffer. Daher sollten wir hier
jetzt nicht spekulieren, welche Summen zusätzlich aufgebracht werden müssen. Darüber werden wir im Verkehrsausschuss noch sprechen.
Ich möchte Sie von den Sozialdemokraten auffordern:
Stehen Sie zu Ihrer ursprünglichen Position für
Stuttgart 21.
({11})
Viele Sozialdemokraten haben jahrelang überzeugend
für Stuttgart 21 gekämpft. Verwerfen Sie dieses Hirngespinst einer Volksabstimmung.
({12})
Da schon so viel Geld investiert wurde, hat es jetzt,
Jahre zu spät, keinen Sinn, darüber abstimmen zu lassen,
ob Stuttgart 21 gebaut werden soll oder nicht. Auch das
ist ein klares Ergebnis der Schlichtung.
({13})
Noch ein Hinweis von mir als Baden-Württemberger:
Vor allem die Grünen haben immer wieder behauptet,
wegen Stuttgart 21 fehle das Geld für andere Projekte im
Land.
({14})
- Sie nennen das Stichwort. - Sie haben versucht, die
Bürger gegeneinander auszuspielen, im Fall der Rheintalbahn Badener gegen Württemberger. Hier im Plenum
und im Verkehrsausschuss haben wir vielfach über die
Rheintalbahn gesprochen, dieses andere große und von
der Bevölkerung kritisch begleitete Schieneninfrastrukturprojekt in Baden-Württemberg. Eigentlich sind wir
uns alle einig, dass an der Rheintalbahn mehr Lärmschutz benötigt wird. Dazu gehört aber auch das Bekenntnis, dass mehr Lärmschutz mehr Geld kosten wird.
({15})
Das Land Baden-Württemberg hat sich bereit erklärt,
hierbei entstehende Mehrkosten mitzufinanzieren. Alle
Fraktionen des baden-württembergischen Landtags unterstützen diese Position, nur eine ist dagegen: die Fraktion der Grünen.
({16})
Da fragt man sich, was mit den Grünen los ist. Vor
lauter Begeisterung für den Kampf gegen Stuttgart 21
haben die Grünen kundgetan, es sei nicht zulässig, dass
das Land Baden-Württemberg Stuttgart 21 mitfinanziert.
Dabei haben sie völlig übersehen, dass das aber auch für
die Rheintalbahn gelten müsste.
({17})
Das ist ein klassisches Eigentor; so hat es auch die Landespresse kommentiert.
({18})
Einmal mehr sind die Grünen dagegen, diesmal sogar
gegen mehr Lärmschutz. Wer so agiert, sollte aufhören,
von der Regierungsbank zu träumen.
Nachdem der Schlichter gesprochen hat, sollten wir
das Gesagte ernst nehmen. Auch ich bin den Grünen
durchaus dankbar, dass sie Schlichtung und Schlichter
ins Gespräch gebracht haben; das war eine gute Idee.
Aber nach der notwendigen Versachlichung der Debatte
ist es jetzt nötig, den Schlichterspruch anzuerkennen und
umzusetzen. Lassen Sie uns diesen Prozess auch im
Deutschen Bundestag konstruktiv begleiten.
Vielen Dank.
({19})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 2. Dezember
2010, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.