Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Ich begrüße
Sie alle herzlich.
Vor Eintritt in unsere Tagesordnung möchte ich der
Kollegin Inge Höger zu ihrem 60. Geburtstag, den sie
vor einigen Tagen begangen hat, gratulieren und ihr im
Namen des Hauses alles Gute wünschen.
({0})
Es gibt noch einen anderen bedeutenden Geburtstag,
den ich mit wenigen Sätzen würdigen möchte.
Gestern vor 200 Jahren - das ist also ein bisschen länger her -, am 10. November 1810, wurde der große Parlamentarier und Parlamentspräsident Eduard von Simson
geboren. Von Simson, der bereits mit 23 Jahren Professor des Römischen Rechts in Königsberg wurde, war
von seiner Mitgliedschaft in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, deren letzter Präsident er war, bis
zum Ende seiner Amtszeit als Präsident des Deutschen
Reichstages im Jahre 1873 nahezu ununterbrochen Mitglied parlamentarischer Versammlungen. Er war - Sie
werden es glauben oder nicht; auch ich habe es erst nicht
glauben wollen - Präsident von insgesamt sieben Parlamenten
({1})
- ich lege besonderen Wert darauf, dass dieser Zwischenruf des Kollegen Trittin in gebührender Weise im
Protokoll festgehalten wird -,
({2})
bevor er - jetzt warte ich auf den nächsten Zwischenruf 1879 Präsident des Reichsgerichts wurde und bis 1890
blieb. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits 80 Jahre alt.
Von Simson hat sich Zeit seines Lebens für die deutsche Einheit und für die Rechte des Parlaments eingesetzt. Die Schriftführer wird besonders beeindrucken,
dass er seine Karriere in der Frankfurter Paulskirche als
Schriftführer begonnen hat.
({3})
Unsere Verfassung, aber insbesondere auch die Geschäftsordnung deutscher Parlamente bis heute, ist nicht
zuletzt von den Beiträgen geprägt, die er dafür geleistet
hat.
Richard von Weizsäcker hat vor einigen Jahren anlässlich eines damals runden Geburtstages in seiner Festansprache erklärt:
Eduard von Simson gehörte zum Besten, was das
oft geschmähte und doch atemberaubend interessante 19. Jahrhundert unter Deutschen hervorgebracht hat.
Ich denke, wir - nicht nur wir Parlamentarier - haben
allen Grund, in diesen Tagen voller Dank und Hochachtung an Eduard von Simson zu denken.
({4})
Für den verstorbenen Kollegen Dr. Hermann Scheer
hat die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter, die ich
herzlich begrüße, erneut die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Herzlich willkommen!
({5})
Nachfolgerin des am 1. November ausgeschiedenen
Kollegen Dr. Herbert Schui ist die Kollegin Johanna
Voß. - Da sie nicht anwesend ist, muss die Begrüßung
zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.
({6})
- Sehr schön. Das ist eine gute Lösung.
({7})
Ich entnehme der kollegialen Stimmung, dass sich
nach einer turbulenten Woche wieder allgemeiner Frieden eingestellt hat.
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
CDU/CSU, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN:
Demonstrationen und Vorgänge beim Castortransport
({8})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 37
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Tierschutz bei Katzen verbessern
- Drucksache 17/3653 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({9}), Cornelia Behm, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tierschutz stärken - Tierheime entlasten
- Drucksache 17/3543 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({10})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Renate Künast, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über
Rechte der Verbraucher KOM({11})614
endg.; Ratsdok. 14183/08
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Modernes Verbraucherrecht für Europa entwickeln
- Drucksache 17/3675 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({12})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({13})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Tom Koenigs, Markus Kurth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Rechte indigener Völker stärken - ILO-Konvention 169 ratifizieren
- Drucksache 17/3676 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({14})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Meinungsverschiedenheiten innerhalb der
Bundesregierung über die Reform der Kommunalfinanzen
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Kumpf, Wolfgang Tiefensee, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nachhaltige Mobilität fördern - Elektromobilität vorantreiben
- Drucksache 17/3647 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({15})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Marcus Weinberg
({16}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Faire Teilhabechancen von Anfang an - Frühkindliche Betreuung und Bildung fördern
- Drucksache 17/3663 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({17})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 34 wird abgesetzt. Stattdessen soll an diesem Platz der ursprünglich für heute vorgesehene Tagesordnungspunkt 18 aufgerufen werden.
Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte rücken dadurch jeweils einen Platz vor. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne hat der Präsident der Abgeordnetenkammer des
Großherzogtums Luxemburg, Herr Laurent Mosar, mit
seiner Delegation Platz genommen.
({18})
Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages begrüße ich Sie hier ganz herzlich.
Wir hatten schon gestern Gelegenheit, die großartigen
Beziehungen, die es zwischen unseren beiden Ländern
und insbesondere zwischen unseren Parlamenten gibt,
intensiv zu würdigen, verbunden mit der wechselseitigen
Bekräftigung, das auf diesem Niveau fortzusetzen. Wir
freuen uns, dass Sie heute hier sind, und wünschen Ihnen
einen guten und interessanten Aufenthalt in Berlin.
Herzlich willkommen!
({19})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
zum neuen Strategischen Konzept der NATO
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD sowie je zwei Entschließungsanträge der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach
einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Das ist offenkundig
einvernehmlich und damit so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle.
({20})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahrzehnten garantiert die NATO unsere gemeinsame Sicherheit. Auch
diejenigen, die gerne gegen die NATO demonstrieren
- das ist ihr gutes Recht -, dürfen nicht vergessen: Es ist
auch das Ergebnis unserer erfolgreichen Sicherheitspolitik und des Bündnisses der NATO, dass sie diese Demonstrationsfreiheit wahrnehmen können.
({0})
In der nächsten Woche werden wir in den Beratungen
über das Strategische Konzept den Kurs festlegen. Ich
möchte mich zu Beginn meiner Ausführungen beim
NATO-Generalsekretär, Anders Fogh Rasmussen, bedanken. Ich möchte mich bei Madeleine Albright und
ihrem Expertenteam ausdrücklich für die wichtige Vorarbeit bedanken. Unser Eindruck ist - natürlich immer
vorbehaltlich der Entscheidungen in der nächsten Woche
in Lissabon -: Das, was vorgelegt worden ist, bildet eine
sehr gute Grundlage für die weiteren Beratungen. Es berücksichtigt unser Sicherheitsinteresse. Es macht aber
auch klar, dass wir eine Wertegemeinschaft sind: Die
NATO ist nicht zuerst ein Militärbündnis, sondern eine
transatlantische Wertegemeinschaft.
({1})
Ich will zu wenigen Punkten im Einzelnen Stellung
nehmen, ohne die Ergebnisse der Beratungen vorwegnehmen zu wollen. Es handelt sich heute um eine Debatte im Vorgriff. Die Debatte ist verbunden mit dem
Auftrag an uns - diejenigen, die in der nächsten Woche
verhandeln werden -, für die richtige Richtung der Politik zu sorgen. Wir, die Bundesregierung, verfolgen beim
Strategischen Konzept der NATO mehrere Ziele, die wir
in die Verhandlungen einbringen wollen. Ein entscheidendes Ziel ist, dass sich die NATO auch den Themen der
Abrüstung und der Rüstungskontrolle verschreibt. Wir
haben im Frühjahr, bei den Beratungen im April, eine
ganze Reihe von Verbündeten dafür gewinnen können.
Wir alle wissen, dass die Umsetzung der Vision des Präsidenten Obama von einer nuklearwaffenfreien Welt natürlich ein sehr langfristiges Ziel ist; aber es ist ein vernünftiges Ziel. Wir wollen Schritte in diese Richtung
unterstützen. Deswegen ist eine reduzierte Rolle von
Nuklearwaffen zu Recht Teil der Strategie, die wir als
Bundesregierung unterstützen wollen.
({2})
Mit der Debatte in der nächsten Woche in Lissabon
wollen wir die Diskussion nicht beenden. Sie muss natürlich fortgesetzt werden. Die Debatte über Abrüstung
und Rüstungskontrolle ist nicht beendet, sondern wird in
einem Folgeprozess fortgesetzt, der uns dem Ziel einer
Welt ohne Atomwaffen näherbringen soll. Fortschritte
sind unverkennbar. Ich denke nicht nur an den Nuclear
Posture Review der Vereinigten Staaten von Amerika,
sondern ausdrücklich auch an die Konferenz zur Überprüfung des Vertrages über die Nichtverbreitung nuklearer Waffen in diesem Jahr in New York. Sie ist dieses
Mal, anders als vor fünf Jahren, nicht gescheitert, sondern es wurde ein gemeinsames Ergebnis vereinbart. Es
ist richtig, dass sich die NATO als Sicherheitsbündnis
und als politische Werteunion versteht und sich daher
der Abrüstung verschrieben hat. Abrüstung und die
Nichtverbreitung nuklearer Waffen sind zwei Seiten derselben Medaille. Beides gehört zusammen. Es gibt neue
Herausforderungen und neue Gefahren in unserer Zeit.
Je mehr Staaten sich atomar bewaffnen können, umso
größer ist die Gefahr, dass terroristische Gruppen darauf
Zugriff haben. Genau das gilt es im Interesse der Bürgerinnen und Bürger unserer Länder durch vorausschauendes und kluges Agieren zu verhindern.
({3})
Natürlich ist es notwendig, auch die taktischen Atomwaffen in diese Diskussion einzubeziehen. Wir halten
am Ziel des Abzugs fest. Wir sehen darin aber vor allem
einen Katalysator für ein sehr breites Ergebnis. In das
Thema Abrüstung ist Bewegung gekommen. Ich denke
beispielsweise an den neuen START-Vertrag. Wir setzen
darauf, dass dieser START-Vertrag auch mit neuen
Mehrheitsverhältnissen ratifiziert wird, damit er zur Geltung kommen kann.
Zu einem weiteren bemerkenswerten, wie ich finde,
geradezu historischen Vorgang: Das Programm zur
Raketenabwehr, das von Präsident Bush angeregt und
begonnen worden ist, hat mittlerweile eine völlig neue
Richtung bekommen. Während das Projekt Raketenabwehr ursprünglich von den USA mit ein, zwei Verbündeten in Europa durchgeführt werden sollte, ist es mittlerweile ein Projekt, das im gesamten Bündnis angegangen
wird. Was besonders wichtig ist: Russland wird eingeladen, bei dem Projekt Raketenabwehr mitzuwirken. Wir
wollen nicht, dass es in Europa Zonen mit einem unterschiedlichen Sicherheitsgrad gibt. Wir wollen in Europa
beim Thema Sicherheit keine Trennlinien, sondern Gemeinsamkeit. Dass Präsident Medwedew angekündigt
hat, zum NATO-Gipfel nach Lissabon zu reisen, ist eine
große Geste. Wir wollen mit Russland unsere Sicherheit
verbessern und nicht in Konfrontation zu Russland. Das
ist die klare Ansage des Bündnisses.
({4})
Ich glaube, wir alle müssen anerkennen, dass auf diesem Gebiet eine enorme Bewegung stattgefunden hat.
Wenn man sich vor Augen führt, worüber vor 20,
30 Jahren noch diskutiert worden ist, und sieht, dass
Russland jetzt von der NATO eingeladen wird, bei Themen der Raketenabwehr und der Sicherheit mitzumachen, und Russland sich nicht verweigert, sondern sagt:
„Wir sehen uns das an, prüfen das und überlegen, welche
Möglichkeiten wir haben“, dann müssen wir feststellen:
Das ist eine historische Entwicklung, die wir nicht mal
eben so durchwinken sollten. Darüber sollten wir uns
freuen. Das ist die Friedensdividende langjähriger, jahrzehntelanger Bemühungen vieler Vertreterinnen und
Vertreter der Politik in vielen Ländern, übrigens von
Vertretern aller geistigen Richtungen in der Politik.
({5})
Wir haben über dieses Thema unter anderem bei den
Gesprächen im NATO-Russland-Rat, der neu belebt
worden ist, debattiert. Das sind gute und vernünftige
Schritte.
Zum Schluss möchte ich die grundsätzliche Ausrichtung noch einmal klarmachen: Wir werden uns unverändert als Verteidigungsbündnis verstehen. Das heißt,
Art. 5 des Nordatlantikvertrages - das sagen wir ganz
klar insbesondere an die Adresse der sogenannten osteuropäischen Mitgliedstaaten - steht für uns außerhalb
jeder Debatte und jeder Diskussion. Wir kennen die
neuen Herausforderungen, die zum Beispiel Computerattacken darstellen. Wir wissen aber auch, dass es andere
Mechanismen gibt als die in Art. 5 des Nordatlantikvertrages genannten, zum Beispiel die, die in Art. 4 des
Nordatlantikvertrages erwähnt werden: Konsultationsmechanismen und Beratungen, die stattfinden müssen.
Auch das muss man sehen. Deshalb bleibt die strenge
Bindung an das Völkerrecht unser Kompass.
({6})
Wir haben zwei Leitlinien: Wir wollen die internationale Verantwortung wahrnehmen. Gleichzeitig werden
wir aber auch die Politik der militärischen Zurückhaltung fortsetzen.
({7})
Das ist eine klare Ansage für die Bundesregierung insgesamt. Alle anderen Unterstellungen sind abwegig. Wir
werden unsere internationale Verantwortung wahrnehmen, aber es bleibt bei der Kultur der militärischen
Zurückhaltung.
({8})
- Lassen Sie solche Unterstellungen. Wenn Sie etwas anderes von uns behaupten, sind das Diffamierungen, die
mit der Realität nichts zu tun haben.
({9})
Der Deutsche Bundestag wird den Einsatz unserer
Bundeswehr im Blick haben. Ich kann Ihnen für die
Bundesregierung noch einmal versichern: Für uns ist
eine klare Maßgabe, ein klarer Kompass: Die Bundeswehr ist keine Regierungsarmee, sie ist auch keine Armee von irgendwelchen Parteien oder parteipolitischen
Mehrheiten. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee.
Auch das ist unser Kompass bei den Verhandlungen im
Bündnis.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Gernot Erler ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meinen Beitrag muss ich leider mit einer Unmutsäußerung beginnen. Ich finde es nicht angemessen, dass wir
acht Tage vor dem NATO-Gipfel, auf dem das neue Strategische Konzept beschlossen werden soll, hier im Deutschen Bundestag diskutieren, ohne den Wortlaut des
Textentwurfs zu kennen.
({0})
Mehr Offenheit und Transparenz hätten der Diskussion
und damit auch dem Bündnis mehr genutzt als geschadet.
Nach 1991 und 1999 versucht die NATO zum dritten
Mal in 20 Jahren, sich an neue Rahmenbedingungen
und Herausforderungen anzupassen. Es gibt einige internationale Entwicklungen, die uns Sorge machen. Aber
es ist auch nicht zu übersehen, dass gerade in den letzten
zwei Jahren viel passiert ist, was eine besondere Gunstsituation geschaffen hat.
Im Jahr 2007 sah das alles noch ganz anders aus. Ich
entsinne mich noch gut an die berühmte Wutrede des damaligen russischen Präsidenten Wladimir Putin am
10. Februar auf der Münchener Sicherheitskonferenz, an
seine Ankündigung, Russland werde eine weitere Ausnutzung seiner vermeintlichen Schwäche durch den
Westen nicht mehr hinnehmen und dabei jede Konfliktscheu ablegen. Auf diese Worte folgten Taten: Spannungen mit den baltischen Staaten, mit Großbritannien, Widerstand gegen die US-Pläne zur Stationierung von
Raketenabwehr in Polen und der Tschechischen Republik, das Moratorium beim KSE-Vertrag, Versuche, eine
dritte Erweiterungsrunde der NATO mit Georgien und
der Ukraine zu verhindern. Und schließlich führte der
Kaukasus-Krieg im August 2008 Moskau in die politische Isolation.
Heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sich die
Situation vollständig verändert. Die russische Regierung
fühlt sich von Präsident Obama als ebenbürtig akzeptiert. Die Missile-Defense-Pläne wurden auf Eis gelegt,
die nächste NATO-Erweiterung wurde vorerst von der
Tagesordnung genommen. Mit seiner Prager Rede vom
5. April 2009 bekannte sich der neue amerikanische Präsident zum Ziel einer Welt ohne Atomwaffen und öffnete
damit die Tür - auch der Außenminister hat es hier gerade vorgetragen - für das START-Nachfolgeabkommen
zur Reduzierung strategischer Nuklearwaffen mit Russland und für einen Erfolg der Überprüfungskonferenz
zum Nichtverbreitungsvertrag in New York im Mai dieses Jahres.
Die am 6. April beschlossene neue US-Nuklearstrategie schließt einen Einsatz von Nuklearwaffen gegen
Nichtnuklearstaaten aus, wenn sich diese an den Nichtverbreitungsvertrag halten, und reduziert damit im Vergleich zu früher eindeutig die Rolle von Atomwaffen in
der amerikanischen Sicherheitsdoktrin.
Alle diese Schritte haben große Erwartungen und
Hoffnungen geweckt, dass der erfolgreiche Neuanfang
mit Russland - auch „Reset“ genannt - den Weg zu einer
echten globalen Sicherheitspartnerschaft mit Moskau
öffnet und dass der neue START-Abrüstungsvertrag
nicht nur hoffentlich bald ratifiziert und umgesetzt wird,
sondern dass ihm weitere Abrüstungsschritte auch im
konventionellen Bereich folgen.
({1})
Besser und prominenter kann man diese Erwartungen
nicht zum Ausdruck bringen, als dies 34 Elder Statesmen Europas in ihrer Erklärung vom 27. September dieses Jahres - von deutscher Seite mit Unterschriften von
Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, HansDietrich Genscher und Egon Bahr - getan haben. Die
SPD-Fraktion macht sich diese überparteiliche Position
zu eigen und unterstützt die dort formulierten Vorschläge
und Erwartungen.
({2})
Wir wollen, dass die neue NATO-Strategie dieser
Gunstsituation Rechnung trägt, dass sie das Momentum
bei der Abrüstung aufnimmt und verstärkt und dass sie
die konstruktiven Ansätze im Verhältnis zu Russland als
Chance erkennt und ausbaut. Was heißt das konkret? Wir
wollen, dass sich auch die NATO zu einer Eingrenzung
der Rolle von Nuklearwaffen bekennt und nicht der
neuen Einsatzdoktrin hinterherhinkt, die im April dieses
Jahres in Washington beschlossen worden ist. Wir können für die taktischen Atomwaffen, die noch heute in
fünf Ländern auf dem europäischen Kontinent
- Deutschland inklusive - stationiert sind, keine plausible Funktion mehr erkennen. Wir wollen, dass diese
vollständig abgezogen werden.
({3})
Herr Außenminister, wir haben bei Ihren Ankündigungen gehört, dass auch Sie das für ein prioritäres Ziel
halten. Sie haben aber auch diese Debatte leider wieder
nicht genutzt, um uns konkret zu sagen, welche Anstrengungen Sie bisher unternommen haben und welche Erfolgsaussichten diese haben. Sie haben hier nur ein enttäuschendes allgemeines Statement von sich gegeben.
({4})
Wir wollen weiter, dass sich die NATO zu einer intensiven Sicherheitspartnerschaft mit Russland bekennt
und den Dialog mit Moskau ausbaut und erweitert. Dazu
gehört eine andere Nutzung des NATO-Russland-Rates.
Herr Westerwelle, ich bin mit dem, was da bisher passiert ist, nicht einverstanden. Die Möglichkeiten werden
bei weitem nicht ausgeschöpft.
({5})
Es kann doch nicht sein, dass der NATO-Russland-Rat
ausgerechnet in einer Krisensituation wie im August
2008 außer Betrieb gesetzt wird, also dann, wenn man
den Dialog am ehesten gebraucht hätte.
({6})
Damit wurde nebenbei auch noch der fatale Eindruck erweckt, der NATO-Russland-Rat sei eine Art Gunsterweisung, die bei Fehlverhalten des Partners beliebig entzogen werden kann. Nein, das Gegenteil ist der Fall: Wir
haben ein klares Interesse an einem nachhaltigen Funktionieren dieses politischen Scharniers und dieser Dialogplattform. Dazu sollte in der neuen Strategie der
NATO etwas Konkretes stehen.
Schließlich kann es nicht dabei bleiben, dass die
Frage einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur, zu der Präsident Medwedew vor zwei Jahren konkrete Vorschläge vorgelegt hat, lediglich in irgendwelchen Arbeitsgruppen des sogenannten Korfu-Prozesses
erörtert wird. Es wäre wichtig, dass in dem neuen Strategischen Konzept die Bereitschaft, mit der russischen
Führung in einen verbindlichen Dialog zu diesem Thema
einzutreten, erkennbar wird, ein Dialog im Geiste des
Helsinki-Prozesses, ergebnisoffen und ohne Vorfestlegung auf ein bestimmtes Vertragsergebnis.
Nur wenn die neue NATO-Strategie diese besondere
Gunstsituation tatsächlich nutzt und konkrete Fortschritte in den beiden Bereichen macht, die ich exemplarisch herausgehoben habe - Abrüstung und Verhältnis zu
Russland -, wird das Bündnis gestärkt von dem Gipfel in
Lissabon zurückkehren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Internationaler Terrorismus und organisierte Kriminalität
sowie Instabilität, die von scheiternden Staaten ausgeht,
bedrohen die gesamte zivilisierte Welt.
({0})
Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und
Raketen hat unmittelbare Konsequenzen für unsere Sicherheit. Die Folgen des Klimawandels können zu Konflikten um natürliche Ressourcen oder Siedlungsräume
und zu großen Migrationsströmen mit sicherheitspolitischen Auswirkungen für uns führen. Cyberattacken und
mögliche Angriffe auf Handelsrouten und unsere Energieversorgung sind neue Dimensionen der konkreten Bedrohungen für unser Land.
({1})
Kurz gesagt: Wir stehen neuen, durch Asymmetrien
geprägten Herausforderungen gegenüber. Die NATO
hat vor elf Jahren ihre letzte Strategie verabschiedet.
Seither hat sich das Bündnis fast verdoppelt; es hat nun
28 Mitgliedstaaten. Die NATO braucht also neue Klarheit über ihre Ziele und die sich daraus ableitenden Aufgaben.
({2})
Wie unterschiedlich die Vorstellungen hinsichtlich
Sinn und Zweck der Allianz unter den Mitgliedstaaten
sind, wurde zuletzt während der zehnmonatigen Beratungen in der Expertenkommission von Madeleine
Albright deutlich. Das neue Strategische Konzept der
NATO muss deshalb die gemeinsamen Sicherheitsinteressen der Allianz auf einen aktuellen Nenner bringen,
also einen neuen strategischen Konsens der 28 Staaten
begründen.
Es gilt, die Frage zu beantworten, wie das Bündnis
vor dem Hintergrund der beschriebenen Aufgaben seine
Kernaufgabe, unsere Sicherheit und den Schutz des Territoriums, der Bevölkerung und der vitalen Interessen
der Bündnispartner zu gewährleisten, in Zukunft erfüllen
kann.
Herr Erler, es ist für uns Parlamentarier zweifellos unbefriedigend, wenn es um die öffentliche Befassung mit
einem Dokument geht, das einer Geheimeinstufung unterliegt. Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass es
im Zuge der Erarbeitung des Albright-Berichts eine
bislang noch nicht dagewesene öffentliche Diskussion
über die künftige Ausrichtung der Allianz gegeben hat.
Deshalb ist es richtig, dass wir uns auch im Deutschen
Bundestag mit der Frage befassen, warum die NATO ein
neues Strategisches Konzept benötigt.
Die Bundesregierung, die sich im Übrigen nicht über
die Einstufung durch den NATO-Generalsekretär hinwegsetzen kann, hat zumindest dafür gesorgt, dass die
Fachpolitiker der einzelnen Fraktionen Einsicht in den
aktuellen Entwurf nehmen konnten,
({3})
der von den Staats- und Regierungschefs in der nächsten
Woche beim Gipfel in Lissabon verabschiedet wird.
({4})
- Nein. Die Einstufung ist doch nicht durch die Bundesregierung, sondern durch den NATO-Generalsekretär erfolgt; man muss die Fakten einmal benennen. Ich halte
es trotzdem für unbefriedigend, dass wir diese Diskussion so zu führen hatten.
({5})
Meine Damen und Herren, die NATO bleibt ein transatlantisches, also regionales Bündnis, das sich allerdings
mit den genannten neuen Risiken und Bedrohungen einer globalisierten Welt konfrontiert sieht. Die gemeinsame Verteidigung der 900 Millionen Bürger im Bündnisgebiet gemäß Art. 5 des NATO-Vertrages bleibt
ebenso Kern des Bündnisses wie das Prinzip der kollektiven Sicherheit.
Landesverteidigung heißt künftig aber primär Bündnisverteidigung jenseits der äußeren Grenzen des
NATO-Gebietes. Denn Bündnissicherheit bedeutet heute
mehr als die Abwehr eines Angriffs mit konventionellen
militärischen Mitteln. Es kommt deshalb künftig vor allem darauf an, die Entwicklungen in geografisch weiter
entfernten Regionen zu beobachten, zu analysieren und
dann zu handeln, wenn unsere Sicherheit berührt wird.
Dabei bleibt ein zugrunde liegendes Mandat des VNSicherheitsrates zentral.
Für die Allianz bedeutet Art. 4 des NATO-Vertrages
die Grundlage für die notwendigen intensiven Konsultationen innerhalb des Bündnisses zur Bewältigung und
Verhinderung von Krisen. Bei einer unkonventionellen
Gefahr, beispielsweise der fortgeschrittenen Planung eines Terrorangriffs, muss der NATO-Rat aber im Einzelfall entscheiden, ob ein Fall der kollektiven Verteidigung
gemäß Art. 5 des NATO-Vertrages vorliegt.
Internationale Konfliktverhütung und -bewältigung bleiben auf absehbare Zeit die wahrscheinlichsten
Aufgaben der Bundeswehr. Es ist daher richtig, dass die
von Verteidigungsminister zu Guttenberg angestoßene
Neuausrichtung der Bundeswehr der Bündnisfähigkeit
zentrale Bedeutung beimisst und die Zahl der für den
Einsatz im Rahmen multinationaler krisenbewältigender
Maßnahmen zur Verfügung stehenden Kräfte erhöht
wird.
Unser Einsatz in Afghanistan hat zudem gelehrt, dass
die NATO auf die Zusammenarbeit mit internationalen
Organisationen wie den Vereinten Nationen, der EU und
anderen zivilen Organisationen angewiesen ist. Zur Krisenprävention und Konfliktbewältigung ist ein umfassender vernetzter Ansatz erforderlich, der neben militärischen Mitteln vorrangig zivile, also politische,
diplomatische, wirtschaftliche und entwicklungspolitische Mittel einschließt. In Afghanistan haben wir mit
unserem Konzept der zivil-militärischen Wiederaufbauteams, den sogenannten PRTs, ein Beispiel hierfür gegeben. Dieser Ansatz wird von der NATO und ihren Mitgliedstaaten heute insgesamt akzeptiert.
Im Rahmen des neuen Strategischen Konzepts muss
der Beitrag der NATO zu diesem Comprehensive Approach weiterentwickelt und der vernetzte Ansatz als
Prinzip des Krisenmanagements vorgesehen werden.
Der neue Ansatz muss sein, von Beginn einer Operation
an so weit wie möglich eine ressortübergreifende Konfliktbewältigung sicherzustellen. Zudem müssen andere
relevante Organisationen, insbesondere die EU, mit ihrem umfassenden zivilen Instrumentarium frühestmöglich einbezogen werden. Schon mit Blick auf die
Ressourcen ist größtmögliche Komplementarität und Arbeitsteilung mit anderen internationalen Akteuren geboten.
Meine Damen und Herren, in dem neuen Strategischen Konzept ist der Aufbau einer wirksamen Raketenabwehr vorgesehen. Dies hält die CDU/CSU-Fraktion für richtig; denn wir benötigen neue Instrumente,
um einen effektiven Schutz vor der realen Bedrohung
durch Atomwaffen in den Händen von Risikostaaten,
wie Iran oder Nordkorea, gewährleisten zu können.
({6})
Diese Länder lassen sich vielleicht in Zukunft nicht
mehr abschrecken. Somit gilt die Maxime von Präsident
Obama, dass die NATO so lange zur Abschreckung bereit und in der Lage sein muss, wie es Atomwaffen in
dieser Welt gibt.
({7})
Im Umkehrschluss gilt aber auch, dass sich die NATO
der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen verschreiben
wird und sie das Prinzip anerkennen muss, dass sie den
Staaten, die keine Nuklearwaffen haben und die dem
Nichtverbreitungsvertrag beigetreten sind und den entsprechenden Verpflichtungen nachkommen, niemals mit
dem Einsatz von Atomwaffen drohen wird.
Zweifellos muss im neuen Strategischen Konzept
aber die größtmögliche Reduzierung der weltweit vorhandenen nuklearen Arsenale als gemeinsames Ziel der
Allianz festgeschrieben werden.
({8})
Konkret bedeutet dies zum Beispiel, in künftigen Abrüstungsrunden mit Russland die substrategischen Nuklearwaffen einzubeziehen.
Herr Erler, Sie haben dem Außenminister vorgeworfen, er habe hier nur vage gesprochen. Er hat genau das
gesagt: In künftigen Abrüstungsrunden mit Russland
müssen die substrategischen Nuklearwaffen einbezogen
werden. - Das ist sehr konkret. Das ist ein Ziel, das wir
in der NATO insgesamt erreichen wollen.
({9})
Durch den Aufbau einer effektiven Raketenabwehr
könnte die Bedeutung von Nuklearwaffen drastisch verringert und somit ein wesentlicher Beitrag zur weltweiten Abrüstung geliefert werden. Auch das ist nicht vage,
sondern sehr konkret.
Sicherheit in und für Europa lässt sich nur mit und
nicht gegen Russland erreichen. Deswegen haben wir,
so glaube ich, in diesem Hause gemeinsam jedes Interesse an einer möglichst intensiven Zusammenarbeit mit
Russland, etwa bei der Rüstungskontrolle, in Bezug auf
die nukleare Nichtverbreitung, beim Kampf gegen den
internationalen Terrorismus und hinsichtlich eines gemeinsamen Krisenmanagements.
({10})
Herr Erler, Sie können ja kritisieren, dass der NATORussland-Mechanismus im Jahre 2008 ausgesetzt
wurde. Ich gebe sogar zu, dass auch ich das aus heutiger
Sicht für einen Fehler halte. Dass Sie das aber dem Außenminister Westerwelle vorwerfen, obwohl zu diesem
Zeitpunkt der federführende Außenminister Steinmeier
und nicht Westerwelle hieß, ist nun wirklich daneben.
({11})
Dadurch zeigen Sie, dass es Ihnen nicht darum geht, dies
zu kritisieren. Das ist wirklich zu billig. Sie sollten das
nachher vielleicht korrigieren.
({12})
Wenn Sie den Außenminister kritisieren, dann fügen Sie
hinzu, dass im Jahr 2008 nicht Herr Westerwelle, sondern Ihr Fraktionsvorsitzender Steinmeier der deutsche
Außenminister und der in dieser Sache federführende
Minister der Bundesregierung war.
({13})
Ich begrüße es sehr, dass Russland zusammen mit den
USA einen wichtigen Beitrag zur Drogenbekämpfung in
Afghanistan geleistet hat, und ich hoffe, dass die von
Präsident Medwedew in Aussicht gestellte Mitwirkung
an der gemeinsamen Raketenabwehr Realität wird und
zu einer konkreten Zusammenarbeit im gemeinsamen
Sicherheitsinteresse führt.
Meine Damen und Herren, auch nach dem NATOGipfel von Lissabon werden wir die Reform und die
Transformation der NATO parlamentarisch begleiten.
Wenn die NATO im Zeitalter globaler Bedrohungen mithilfe des neuen Strategischen Konzepts den strategischen Konsens innerhalb der Allianz erneuert und wenn
sich die 28 Mitgliedstaaten in Lissabon auf gemeinsame
Ziele und Instrumente zur Aufrechterhaltung der Bündnissicherheit in einer globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts einigen können, dann ist ein erster Schritt gelungen. Die weiteren Schritte werden wir intensiv
begleiten.
Danke.
({14})
Für die Fraktion Die Linke erhält die Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sie, Herr Bundestagspräsident
Lammert, haben in der vergangenen Woche die Bundesregierung wegen der Missachtung des Deutschen Bundestages kritisiert, und ich finde, zu Recht.
({0})
Ja, es ist ein Skandal, wie die Atomlobby die Regierung über den Tisch gezogen hat und wie dann die Regierung das Parlament über den Tisch zog.
({1})
Das Gleiche erleben wir mit dem neuen Strategischen
Konzept der NATO und der Rüstungslobby. Genau das
ist der Zusammenhang, Frau Kollegin Homburger.
({2})
Das NATO-Konzept wird als geheime Verschlusssache behandelt. Wir als Volksvertreter sollen über ein
Konzept beraten, das die meisten in diesem Saal gar
nicht kennen. Nun könnte die Regierung sagen: Sie,
meine Damen und Herren, müssen es auch nicht kennen;
Sie brauchen auch nicht zu entscheiden. - Das ist, finde
ich, der zweite Skandal.
({3})
Die Bundeswehr als Parlamentsarmee wird direkt in
das neue NATO-Konzept einbezogen, und das Parlament
soll das nicht entscheiden dürfen. Was hat das noch mit
Demokratie zu tun?
({4})
In dem Konzept, das den meisten nicht vorgelegt
wurde, muss es nach Ansicht der Linken darum gehen,
wann endlich die amerikanischen Atomwaffen aus
Deutschland abgezogen werden. Ich sage Ihnen ganz
klar: Wir fordern den sofortigen Abzug dieser Atomwaffen.
({5})
Wenn wir nicht darüber entscheiden dürfen, dann ist
das eine unglaubliche Bevormundung des Deutschen
Bundestages. Das dürfen sich selbstbewusste Abgeordnete aus allen Fraktionen nicht bieten lassen.
({6})
Auch die Menschen, die durch die NATO geschützt
werden sollen, werden nicht über das Strategische Konzept informiert und haben kein Mitspracherecht, wenn es
um ihre eigene Sicherheit geht. Stellen Sie sich vor, ein
Autoverkäufer würde auf die Frage eines Kunden nach
der Sicherheit des Autos antworten: Das geht Sie gar
nichts an. - Aus dem Geschäft würde wohl kaum etwas
werden. Man muss den Eindruck haben, dass jeder Autoverkäufer dieser Republik mehr Verstand hat als die Sicherheitsexperten in dieser Regierung.
({7})
Auch die Autoverkäufer wissen, dass ein gutes Sicherheitskonzept eines der wichtigsten Verkaufsargumente
ist.
Wenn die Bundesregierung nun der Meinung ist, dass
sie dieses Konzept nicht öffentlich vorzulegen hat, dann
scheint es dafür zwei Gründe zu geben: Erstens scheint
die Regierung der Auffassung zu sein, dass Sicherheitspolitik außerhalb der demokratischen Verfahren steht.
Dem stellen wir uns entgegen.
({8})
Zweitens kann die Regierung der Auffassung sein,
dass das NATO-Sicherheitskonzept nichts taugt.
({9})
Wir als Linke wollen, dass alle Menschen ein angstfreies Leben führen können. Das ist doch wohl nicht zu
viel verlangt.
({10})
Wenn das die wichtigste Prämisse von Sicherheitspolitik
ist, dann müssen wir uns fragen, ob die NATO bisher ein
angstfreies Leben garantieren konnte. Die Antwort ist
eindeutig Nein.
({11})
Der ewige Krieg gegen die Menschen in Afghanistan
hat eine ganze Region destabilisiert und unzählige Opfer
gefordert. Es ist bis zum heutigen Tag nicht klar, wie die
NATO aus diesem Krieg wieder herauskommen will.
Darum fordern wir auch hier und heute wieder den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan.
({12})
Unsere Freiheit wird nicht am Hindukusch verteidigt,
und die Bundeswehr ist auch nicht die größte Friedensbewegung, wie es einst der damalige Verteidigungsminister Struck behauptet hat.
Wir müssen feststellen, dass mit dem Kampf gegen
den Terror die Welt nicht sicherer, sondern unsicherer
geworden ist. Die NATO hat einen beträchtlichen Anteil
daran, dass der Terror jetzt nach Europa kommt. Das ist
eindeutig das Ergebnis einer falschen Politik. Wir haben
immer gesagt, dass man Terror nicht mit Krieg bekämpfen kann, im Gegenteil: Es entsteht neuer Terror.
({13})
In dieser Situation gibt uns die Bundesregierung und
insbesondere Herr Minister de Maizière den guten Rat,
wachsam zu sein. Ist das alles, was die Bundesregierung
sicherheitspolitisch zu bieten hat? Die NATO und mehrere Bundesregierungen haben uns die Suppe eingebrockt, und jetzt sollen die Menschen diese Suppe auslöffeln. Das ist doch wirklich eine Zumutung.
({14})
Wir müssen uns fragen, ob diese Organisation, die für
den Tod von unzähligen Zivilisten die Verantwortung
trägt und das Leben von Millionen Menschen unsicherer
gemacht hat, in der Lage ist, in Zukunft für unsere Sicherheit zu sorgen.
Wir als Linke sind der Auffassung, dass sich die
NATO nicht reformieren lässt. Sie ist nicht in der Lage,
auf die Fragen der Gegenwart und der Zukunft die richtigen Antworten zu geben.
({15})
Meine Damen und Herren, im Augenblick erleben wir
einen bedrohlichen Währungs- und Handelskrieg zwischen den USA, China und Europa. Die USA befinden
sich in einer schweren wirtschaftlichen Krise und haben
kein ökonomisches Konzept. Was geschähe denn, wenn
die USA versuchen wollten, ihren ökonomischen Niedergang mit militärischen Mitteln zu stoppen? Hat die
NATO darauf eine Antwort? Nein.
({16})
Wir erleben die Zunahme von Naturkatastrophen als
Folge des Klimawandels. Immer mehr Menschen sind
auf der Flucht vor Hunger, Wassermangel, Überschwemmung und Bodenerosionen. Hat die NATO darauf eine
Antwort? Nein. Was können wir mit einem Raketenschutzschirm über Europa anfangen, wenn die Bomben
mit der Luftpost kommen? Hat die NATO darauf eine
Antwort? Nein.
Ich halte fest, dass die NATO mit den Menschheitsfragen des 21. Jahrhunderts komplett überfordert ist.
({17})
Sie gaukelt Sicherheit vor, bringt aber immer mehr Unsicherheit nach Europa.
Wenn nun der Kollege Verteidigungsminister zu
Guttenberg sich hinstellt und erklärt, die NATO und die
Bundeswehr sollen in Zukunft die Handelswege und die
Rohstoffquellen sichern, steht er mit dieser Position
nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Ihn
scheint das nicht zu stören, uns stört es schon.
({18})
Wir sollten uns über eines im Klaren sein: Wenn es
um den Welthandel geht, sind die wirklichen Bedrohungen doch ganz andere. China, Deutschland und Japan
stehen als Exportstaaten international unter Kritik. Immer mehr Staaten wollen sich nicht länger mit den unausgeglichenen Handelsbilanzen abfinden. Die Kanzlerin hat vor dem G-20-Gipfel erklärt, dass sich die
anderen Staaten mehr anstrengen müssen, um mehr exportieren zu können. Das ist ökonomischer Unsinn; das
weiß doch jedes Kind. Wenn alle Staaten nur noch auf
Export setzen würden, dann bräche der internationale
Handel zusammen. Wenn wir also unsere Handelspolitik
nicht freiwillig ändern, dann werden die anderen Staaten
mit Protektionismus antworten, und unsere Exportstrategie wird wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Das können wir doch alle nicht wollen.
({19})
Und hat die NATO darauf eine Antwort? Nein.
Wir sehen, dass die NATO für fast alle Aufgaben ungeeignet ist, bis auf eine: Sie hält die Rüstungsindustrie
am Laufen. Zwei Drittel der weltweiten Militärausgaben
werden von NATO-Staaten getätigt. Allein für den unsinnigen Raketenabwehrschirm wurden schon jetzt
120 Milliarden Euro ausgegeben. Ich habe ebenso wie
viele hier im Saal - ich hoffe, zumindest auf der linken
Seite - bessere Ideen für die Verwendung von 120 Milliarden Euro: für Bildung, für Kultur, für Infrastruktur,
für Zukunft und nicht für die Zerstörung der Zukunft.
({20})
Abschließend noch einige Anmerkungen zu den vorliegenden Anträgen. Der Entschließungsantrag der SPD
enthält einige Forderungen an das Strategische Konzept
der NATO, die auch wir unterstützen können. Einen
Punkt davon hebe ich hier besonders hervor: Die Kollegen der SPD fordern wie auch wir zu Recht, dass die
Konvention über Landminen und Streumunition endlich von allen unterstützt werden soll und dass alle
NATO-Mitglieder dieser Konvention beitreten müssen.
({21})
Diese Streumunition und diese Landminen haben sehr
viel Leid über die Menschheit gebracht. Gerade Kinder
und Jugendliche werden ihrer Zukunft beraubt, wenn sie
noch Jahre nach Kriegsende auf diese Landminen treten
oder von Streumunition verletzt werden können. Dies
sind so menschenverachtende Mittel, dass sie sofort verboten gehören.
({22})
Meine Damen und Herren, unsere Fraktion hat einen
Entschließungsantrag eingebracht, der eine Abstimmung
über das neue Strategische Konzept der NATO hier im
Bundestag fordert. Meines Erachtens muss das eine Forderung aller Abgeordneten sein. Ansonsten, wenn wir
diese Forderung nicht unterstützen, können wir unsere
Rolle als Volksvertreter nicht ernst nehmen.
({23})
In einem zweiten Entschließungsantrag fassen wir einige unserer wichtigsten Forderungen zum neuen Strategischen Konzept der NATO zusammen. Drei davon
nenne ich noch einmal: Erstens. Wir fordern den sofortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan.
({24})
Zweitens. Wir fordern den Abzug aller Atomwaffen aus
Deutschland und weltweit endlich konkrete nukleare
Abrüstungsschritte und nicht nur schöne Deklarationen.
({25})
Drittens. Wir wollen, dass sich die NATO nicht an dem
unsinnigen Raketenabwehrschild beteiligt.
Mit diesen Forderungen vertrete ich, im Gegensatz zu
den Zwischenrufern von der rechten Seite, die Meinung
der Mehrheit der Menschen in diesem Land.
({26})
Wenn Sie unseren Entschließungsanträgen zustimmen, dann sind Sie auf der richtigen Seite; wenn Sie dagegen stimmen, dann wird in der Öffentlichkeit klar,
dass für Sie nicht die Sicherheitsinteressen der Menschen wichtig sind, sondern vor allen Dingen die üppigen Profite der Rüstungsindustrie.
Vielen Dank.
({27})
Frau Kollegin Lötzsch, da Sie mich zu Beginn Ihrer
Rede nicht vollständig zitiert haben, will ich in Erinnerung rufen, dass ich darauf hingewiesen habe, dass nach
meiner Einschätzung der Ablauf der letzten Sitzungswoche für alle Beteiligten im Hause Anlass zu selbstkritischem Nachdenken über die eigene Rolle bietet. Punkt.
Nächster Redner ist nun der Kollege Jürgen Trittin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
NATO ist ein Sicherheitsbündnis, das sich Werten verpflichtet fühlt. Herr Bundesaußenminister, ich hätte mir
schon gewünscht, dass Sie hier festgestellt hätten, dass
es zu einer Wertegemeinschaft eben nicht passt, dass das
zukünftige Konzept dieser Wertegemeinschaft nur in der
Geheimschutzkammer des Deutschen Bundestages einzusehen ist. Das schafft keine Legitimation für diese
Werte, sondern delegitimiert sie.
({0})
In Wahrheit haben wir es seit Jahren mit einer neuen
Sinnsuche der NATO zu tun. Wenn man das in einer
Stellenanzeige ausdrücken wollte, müsste man sagen:
Rüstiger Rentner in Altersteilzeit sucht neue Beschäftigung. - Das ist der Kern der Debatte, um die es hier
geht. Das hat einen Grund - das ist bei Frau Lötzsch
vielleicht noch nicht angekommen -: Der Kalte Krieg ist
vorbei, es gibt die bipolare Welt nicht mehr. Es ist richtig: Wir stehen vor völlig neuen Herausforderungen Ressourcenwettläufen, Klimawandel, globaler Armut,
Verbreitung von Massenvernichtungswaffen
({1})
und Zerfall von Staaten. Die Wahrheit erfahren wir doch
jeden Tag, zum Beispiel in den Auseinandersetzungen
um Somalia, in den Auseinandersetzungen um Afghanistan. All diese Probleme lassen sich mit den klassischen Instrumenten der Abschreckung - das war doch
die wesentliche Funktion der NATO - alleine nicht lösen, im Gegenteil: Im typischen Konflikt, den wir haben,
dem asymmetrischen Konflikt, ist Abschreckung der
Stachel dazu, den Konflikt zu verschärfen. Das sind die
Herausforderungen, vor denen wir stehen.
({2})
Jetzt stellen wir fest, dass eine Suche nach neuen Aufgaben innerhalb der NATO stattfindet. Es ist die Rede
vom Cyberwar. Ja, der Cyberwar ist eine Bedrohung.
Nur, ist diese Bedrohung mit den Instrumenten der
NATO zu lösen? Was wollen Sie denn tun? Google bombardieren? Das kann doch keine ernsthafte Alternative
sein.
({3})
Oder nehmen wir die Debatte über den Terrorismus.
Es wurde uns doch in diesen Tagen hautnah vor Augen
geführt: Ihr Innenministerkollege meint, bei Paketfracht
- wir alle müssen immer unser Kosmetikbeutelchen vorzeigen - reichten Stichproben aus.
({4})
Auch das ist kein militärisches Problem; vielmehr bedarf
es zur Lösung dieses Problems einer integrierten Sicherheitspolitik, in der Fragen polizeilicher Vorsorge im
Vordergrund stehen sollten. Ich finde, das hat nichts in
einer Aufgabenbeschreibung für ein Militärbündnis zu
suchen. Das ist keine Aufgabe für das Militär, und das
muss an dieser Stelle klar gesagt werden.
({5})
Die NATO muss sich, anstatt nach neuen Aufgaben zu
suchen, auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren. Diese
bestehen in der Herstellung kollektiver Sicherheit, und
zwar in Europa zusammen mit den USA. Das ist die
Kernaufgabe, die sie erfüllen kann, die zu erfüllen von ihr
erwartet wird. Wenn es richtig ist, dass das nur mit Russland zusammen geht, wie es von Herrn Schockenhoff und
anderen gesagt wird, dann brauchen wir eine NATO, die
kollektive Sicherheit in Kooperation mit Russland, durch
Öffnung in Richtung Russland und langfristig durch die
Perspektive einer Mitgliedschaft von Russland gewährleistet. Dann haben wir einen Raum gemeinsamer Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok. Das ist die Perspektive: Konzentration auf die Kernaufgabe der NATO als
militärischem Bündnis, das sich durchaus Werten verpflichtet sieht.
({6})
In diesem Konzept spielt die Abrüstung eine zentrale
Rolle. Herr Westerwelle, Sie haben gesagt, Abrüstung
sei der Kern, sozusagen der Schwerpunkt von Außenpolitik. Sonst bekommt man ja von Ihren Schwerpunkten der Außenpolitik nicht so viel mit. Über die neue Architektur zwischen G 8, G 11 und G 20 veröffentlicht der
Finanzminister in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
einen Aufsatz. Das ist eigentlich Ihre Kompetenz, werter
Kollege Westerwelle.
({7})
Sie sprechen von Abrüstung. Die FDP hat im letzten
Jahr hier einen Antrag zur Beendigung der nuklearen
Teilhabe als Relikt des Kalten Krieges eingebracht; so
steht es wörtlich in diesem Antrag. Was ist daraus geworden? Sie sind von Ihrem größeren Koalitionspartner
ausgebremst worden. Dann sagen Sie das doch an dieser
Stelle.
Sie sagen, Sie wollten Abrüstung, weil der nuklearen
Proliferation begegnet werden solle. Wie passt das zu einer Politik, die jetzt wieder darangeht, den Export von
Atomtechnologie, die Wiederaufarbeitung und die Anreicherung mit Hermes-Krediten zu subventionieren?
({8})
Was soll denn das sein? Schafft ein, zwei, viele Iran? Ist
das Abrüstung?
({9})
Es wurde immer gesagt: Afghanistan ist die Herausforderung für die NATO. - Schauen wir uns Afghanistan
an: Die Niederländer sind weg, die Kanadier gehen
nächstes Jahr weg, die Schweden und die Italiener sind
2014 weg, die Polen 2012. Wissen Sie, was das heißt?
Im Jahr 2014 sind im Norden und Osten Afghanistans
keine NATO-Truppen. Und nur noch die Deutschen sind
da? Das glauben Sie doch selber nicht!
Wo ist Ihre Perspektive, Ihre Überführung dieser Mission in eine zivile? Wir wollen ja nicht aus Afghanistan
abziehen, sondern wir wollen das militärische Engagement dort beenden. Was ist Ihr Datum? Sie sagen, Sie
wollen es nicht nennen. Mittlerweile bindet die NATO
die Verhandler der Taliban unter freiem Geleit in Gespräche mit der afghanischen Regierung in Kabul ein.
Wo also ist Ihre Afghanistan-Strategie?
Eigentlich haben wir es mit einer fast unsichtbaren
deutschen Außenpolitik zu tun. Nach außen wahrnehmbar ist und bleibt im Falle von Afghanistan ausschließlich der Verteidigungsminister, die Federführung hat
aber das Außenministerium.
({10})
- Ich muss es an dieser Stelle sagen. Ich weiß es, weil
ich die Kabinettsvorlagen gelesen habe.
({11})
Aber, meine Damen und Herren, was macht der Bundesverteidigungsminister? Der Bundesverteidigungsminister gibt jetzt den Außenminister, und er sagt zu
Wirtschaftskriegen, derzeit finde er das nicht so verwegen, und man solle mit dem Thema Wirtschaftskrieg offen und ohne Verklemmung umgehen. Ganz offen und
ohne Verklemmung: Handels- und Rohstoffkriege sind
durch das Grundgesetz nicht gedeckt.
({12})
Hierzu hätte ich von Ihnen, Herr Westerwelle, eine klare
Ansage erwartet.
Selbstverständlich haben wir Rohstoff- und Energieinteressen. Aber das ist kein Grund für militärisches
Engagement. Um zu zitieren, was der Kollege Polenz in
anderen Zusammenhängen gesagt hat: Selbstverständlich ist das nicht eine Sache, die wir mit einer Art Kanonenpolitik sichern könnten.
Ich hätte von einem deutschen Außenminister, der
sich der Selbstbeschränkung deutscher Außenpolitik
verpflichtet weiß, erwartet, sich von dieser Kanonenpolitik des Verteidigungsministers hier klar zu distanzieren.
({13})
Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege
Dr. Rainer Stinner.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Trittin, man merkte: Sie haben heute nichts
auf der Pfanne. Deshalb mussten Sie Ihre Rede mit einer
Verunglimpfung der Bundesregierung krönen.
({0})
Niemand in dieser Bundesregierung, niemand auf dieser
Seite des Parlaments denkt daran, Wirtschaftskriege zu
führen. Der Terminus technicus „Wirtschaftskriege“ ist
von niemandem gebraucht worden.
({1})
Niemand aus diesem Deutschen Bundestag will und
wird deutsche Soldaten schicken, um Rohstoffinteressen
zu sichern.
({2})
Darum geht es überhaupt nicht. Es geht darum, die Piraterie zu bekämpfen. Aber das hat mit Rohstoffkriegen
überhaupt nichts zu tun. Herr Trittin, ich weise diese
Verunglimpfung im Namen meiner Fraktion ausdrücklich zurück.
({3})
Sie haben einen zweiten Fehler gemacht, Herr Trittin;
denn Sie haben unterstellt, die NATO würde krampfhaft
nach neuen Aufgaben suchen. Das ist falsch, und das
braucht sie auch gar nicht. Wir können mit Stolz und mit
Freude feststellen: Die NATO hat erreicht, dass Hunderte
von Millionen - jetzt sind wir 850 Millionen - 60 Jahre
lang in Frieden und Freiheit gelebt haben. Herr Trittin,
wenn unsere Nachfolger das in 60 Jahren auch noch so
sagen können, nämlich dass die NATO dazu beigetragen
hat, dass 850 Millionen Menschen auf dieser Welt in
Frieden und Freiheit leben können, dann braucht sie
keine weitere Aufgabe, dann ist sie ein erfolgreiches
Bündnis, und dann können wir auf dieses Bündnis stolz
sein.
({4})
Selbstverständlich hat sich seit 1999 die Situation für
die NATO geändert, und das wird in dem neuen Strategischen Konzept reflektiert - völlig richtig -, und es war
hohe Zeit, dass wir das anpassen. Jetzt stellen wir uns
die Frage: Was ist eigentlich neu? Ich finde, es gibt eine
ganze Reihe von neuen Aspekten, die wir würdigen
müssen und die damals, 1999, so nicht formuliert worden sind oder werden konnten.
Das erste Thema - ganz wichtig - ist die Kooperation
mit Russland. Ich glaube, hier haben wir einen ganz wesentlichen Fortschritt erlebt. Ich verhehle nicht, dass die
Bundesregierung und mit ihr der deutsche Außenminister ganz wesentlich dazu beigetragen haben, das Thema
Russland in der Weise zu intonieren, wie es jetzt intoniert wird. Russland wird nämlich nicht nur als Problem
gesehen - es gibt Probleme, die wir alle kennen -, sondern Russland wird zunehmend als Problemlöser, Mitgestalter eingebunden. Auch das ist eine Aufgabe, der sich
die NATO verschrieben hat. Dieser Aufgabe werden wir
uns widmen. Dazu hat deutsche Politik ganz wesentliche
Impulse gegeben.
Das zweite Thema ist die Nuklearfrage. Selbstverständlich wird auch im neuen Strategischen Konzept stehen, dass, solange es auf dieser Welt Nuklearwaffen gibt,
auch die NATO eine nukleare Abschreckungskomponente haben wird. Das halte ich auch für richtig. Dennoch ist hier angesprochen, dass wir die Vision, die
Obama hat, die wir haben, die wir gemeinsam haben, am
Ende Global Zero, schrittweise - schrittweise! - erreichen können.
Meine Damen und Herren, speziell von der SPD, lieber Herr Erler, ich muss Ihnen deutlich sagen: Ich bin
immer wieder erstaunt darüber, wie eine Partei, die elf
Jahre lang durch Bundeskanzler und Außenminister Außenpolitik in Deutschland definiert hat, nach einem Jahr
den Eindruck zu erwecken versucht, als hätte sie damit
überhaupt nichts zu tun. Das kann so nicht weitergehen,
Herr Erler. Sie haben elf Jahre lang Verantwortung gehabt. In Ihrer Zeit ist der NATO-Russland-Rat ausgesetzt
worden. In Ihrer Zeit haben Sie nicht erreicht und auch
keinen Anstoß dazu gegeben, dass aus Deutschland Nuklearwaffen entfernt werden. Jetzt kommen Sie und reden klug daher. Meine Damen und Herren, es ist unerträglich, wie Sie Politik zu machen versuchen; das muss
ich Ihnen ganz ehrlich sagen.
({5})
Es gibt einen weiteren neuen Aspekt in dem NATOKonzept, und das ist Cyberwar; darauf ist hingewiesen
worden. Ich möchte Sie aber bitten, Herr Außenminister,
in der nächsten Woche, vor Verabschiedung des Konzepts, darauf hinzuarbeiten, dass wir jedenfalls nicht einen Automatismus zwischen Cyberbedrohung und Art. 5
NATO-Vertrag bekommen. Ich sehe das sehr kritisch.
({6})
- Ich sage das ja so. Liebe Kollegin, ich sage deutlich, wie
ich es empfinde. Ich sehe es sehr kritisch, dass wir einen
Automatismus zwischen Cyberattacken und Art. 5 herstellen sollen. Hier müssen wir sehr genau hinschauen.
Ich möchte die Verbindung so unverblümt möglichst
nicht in dem Konzept haben.
Ich möchte gern eine weitere kritische Anmerkung
machen, und die bezieht sich auf das Thema Missile Defense. Herr Außenminister, Sie haben zu Recht gesagt,
dass wir jetzt eine völlig neue Perspektive haben. Es
geht von dem alten Bush-Konzept, das unter verschiedenen Gesichtspunkten falsch war - das haben wir immer
gesagt -, hin zu einem neuen Konzept, das aber, wie ich
finde, überhaupt noch nicht richtig definiert wird. Ich
habe mich auch in der Öffentlichkeit gegenüber dem
NATO-Generalsekretär kritisch geäußert, der nämlich in
den Raum stellt, das würde die NATO nur 200 Millionen
Euro kosten. Meine Damen und Herren, lieber Herr Außenminister, das halte ich für eine Vernebelung der Öffentlichkeit. Das können wir so nicht stehen lassen.
({7})
Wir müssen an diesem Missile-Defense-Konzept sehr
genau nacharbeiten. Es muss deutlicher werden, um was
es sich dabei handelt. Die Elemente, die verknüpft werden sollen, sind bisher noch gar nicht vorhanden. Angesichts dessen die Zahl von 200 Millionen Euro in den
Raum zu stellen, halte ich für problematisch; ich will das
so deutlich sagen.
Lassen Sie mich, Herr Präsident, zum Abschluss etwas zu einem Element sagen, das in dem neuen Konzept
verstärkt dargestellt wird, das aber in der Öffentlichkeit
bisher leider zu kurz gekommen ist: Das ist Art. 4. In
Art. 4 geht es um Konsens und Kooperation, um Kooperation und Information innerhalb der NATO. Bundeskanzler Schröder und ein Jahr später Bundeskanzlerin
Merkel haben in München auf der Sicherheitskonferenz
jeweils dasselbe gesagt - für Herrn Schröder hat Herr
Struck kaum verstehbar, verschwurbelt, aber inhaltlich
richtig vorgetragen, und Frau Merkel hat es deutlich gesagt -: Die NATO muss im Zentrum ein politisches, ein sicherheitspolitisches Koordinations- und Kooperationsgremium sein. Deshalb müssen wir, Herr Außenminister - ich
weiß, wir sind da einer Meinung, aber ich will es auch
noch einmal deutlich im Deutschen Bundestag sagen -,
darauf Wert legen, dass insbesondere die Kooperation
und die Information im Rahmen des NATO-Bündnisses
verstärkt werden. Die NATO muss ihrer Rolle diesbezüglich gerecht werden, nämlich als Sicherheitsbündnis für
heute, für morgen und für die Zukunft. So ist die NATO
auf dem richtigen Weg. Dann können wir hoffentlich in
60 Jahren sagen: Jawohl, weitere 60 Jahre hat diese
NATO für Frieden, Freiheit und Sicherheit für 850 Millionen Menschen in dieser Welt gesorgt. Das ist ein Erfolg. - Wir arbeiten daran, dass dieser Erfolg eintritt.
Danke schön.
({8})
Die Kollegin Uta Zapf ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Stinner, immer, wenn Sie so laut sind, kommt
nichts dabei herum. Wenn Sie aber ab und zu leisere
Töne anschlagen, kann man sich schon mit Ihnen auseinandersetzen.
({0})
Vielleicht tun wir das dann auch in den entsprechenden
Ausschüssen.
Dass wir, wie die Linken es fordern, über das neue
Strategische Konzept der NATO im Bundestag abstimmen, ist aus politischen Gründen schlicht und ergreifend
gar nicht möglich; denn hierzu hat das Parlament keine
Handlungsbefugnis.
Ich beklage aber genau wie alle anderen vor mir, dass
dieses Konzept so geheim gehandelt wird, dass es wirklich nur die Obleute sehen durften und nicht die Fachleute, die auch sicherheitsüberprüft sind und normalerweise solche Dinge einsehen können. Noch komischer
ist eigentlich, dass wir hierzu eine Anhörung im Auswärtigen Ausschuss hatten, bei der von den fünf eingeladenen Experten offensichtlich nur einer Einsicht in den
Entwurf dieses Konzeptes hatte. Dieser Herr Kamp vom
NATO Defense College hat mit folgendem Zitat eröffnet
- ich finde, das ist ein schönes Zitat -:
Eine Firma, die nur alle 10 Jahre überprüft, ob ihre
Produkte den Bedürfnissen der Kunden entsprechen, wäre wahrscheinlich nicht mehr im Geschäft.
Jetzt führt die NATO also eine solche Überprüfung
durch, um im Geschäft zu bleiben. Das Ergebnis kennen
wir noch nicht, weil es geheim ist; aber wir wissen, was
wir wollen, und wir wissen auch, was wir nicht wollen.
Jedenfalls haben wir als SPD das in unserem Antrag sehr
deutlich niedergelegt.
Zu einem Teil unserer Vorstellungen hat Kollege Erler
sehr deutlich Stellung genommen. Dabei ging es vor allem um die Frage, wie die NATO mit Russland umgeht.
Ich sehe, dass hier ein relativ breiter Konsens für eine
andere Politik als während des Kalten Krieges und vielleicht auch noch in der Zeit danach besteht. Also, Entspannung ist angesagt.
Wir begrüßen natürlich, dass in diesem Konzept niedergelegt ist, dass das Ziel eine nuklearwaffenfreie Welt
ist. Trotzdem bleibt doch - ich finde, wir müssen das
auch kritisch sehen, Herr Außenminister - ein Mix aus
konventionellen und nuklearen Waffen bestehen; die
Abschreckung bleibt; die nukleare Teilhabe und das
Burden Sharing bleiben, und die Stationierung von USWaffen in Europa wird für den transatlantischen Zusammenhalt weiterhin als notwendig deklariert.
Herr Minister, Sie haben ganz offensichtlich zu Beginn Ihrer Amtszeit den Mund zu voll genommen, als
Sie über den Abzug von substrategischen Waffen sprachen. Wir jedenfalls wollen weiterhin, dass diese aus
Deutschland abgezogen werden.
({1})
In diesem Konzept findet sich allerdings kein Hinweis
darauf, dass so verfahren wird. Im Gegenteil, man hält
an diesem Burden Sharing fest. Wir meinen - Herr
Trittin hat das ähnlich ausgedrückt -, dass ein Bündnis,
das sich als Werte- und Verteidigungsgemeinschaft versteht, keine Nuklearwaffen als Klebstoff für den transatlantischen Zusammenhalt braucht. Hier sind ganz andere
Dinge wichtig, nämlich unsere gemeinsamen Werte und
unser gemeinsames Interesse an Stabilität und Sicherheit.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die
NATO auf nukleare Abrüstung verpflichtet, ist gewiss
positiv. Aber gewiss sind diese Aktivitäten nicht auf den
Außenminister Westerwelle alleine zurückzuführen,
auch wenn Sie es im Auswärtigen Ausschuss so darzu7610
stellen versucht haben. Es gab die sogenannte Viererbande - Kissinger, Shultz, Perry und Nunn -, es gab
Obamas Wahlkampf, und es gab im Jahre 2008 die Rede
von Obama in Prag. Aus Deutschland und Norwegen
gab es eine Initiative von Steinmeier und seinem norwegischen Kollegen, die ein Papier in die NATO eingebracht haben, das besagte, dass Abrüstung wieder größeres Gewicht haben solle.
Natürlich ist die Nuclear Posture Review ein Leitfaden
für das strategische Konzept; darauf muss es reagieren.
Aber Clinton und Obama haben deutlich gesagt - das
wurde hier von Herrn Stinner zitiert -, dass man eine
wirkungsvolle Abschreckung und ein Arsenal von Nuklearwaffen brauche, solange es Nuklearwaffen auf der
Welt gibt. Ich bin da anderer Meinung. Ich weiß, dass
das innerhalb der NATO anders diskutiert wird, und die
Abstimmungsverfahren sprechen dafür, dass man mit einer Nulllösung nicht so recht durchdringen kann.
Hinsichtlich der Fortführung von Abrüstungsmaßnahmen bin ich nicht ganz so optimistisch, wie es hier beim
Außenminister klang, insbesondere nach der Wahl in den
USA, aufgrund derer die Fraktion von Obama sehr an
Kraft verloren hat. Der Stellenwert von Abrüstung wird
bei den USA insgesamt geringer sein. Ob New START
ratifiziert werden wird, weiß ich nicht. Auch die Duma
bereitet sich bereits darauf vor, hier wieder einen Rückzieher zu machen. Eine alternative Kommentierung wird
in der Duma vorbereitet. Es wird in der Duma eben nicht
ratifiziert, weil man sich sagt, wenn man wieder dasselbe
wie bei START II hat, schaut man dumm aus.
Das Nächste ist, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Was wird aus der konventionellen Abrüstung? Ich
weiß nicht, ob in diesem Konzept dazu etwas stehen
wird. In Brüssel wird uns erklärt, als NATO seien wir gar
keine Vertragspartner. Wir wissen, dass es zwei Papiere
gibt, ein Papier aus den USA von Frau Viktoria Nuland
und ein russisches Papier. Darin wird deutlich, dass es
Gespräche gibt. Ich erinnere daran, dass Steinmeier dies
angestoßen hat, indem er in den Jahren 2007 und 2008
zu entsprechenden informellen Gesprächen in die Bundesrepublik geladen hat. Ob wir eine Ratifizierung im
Kongress erwarten können, steht garantiert in den Sternen.
Lassen Sie mich in der wenigen Zeit, die mir noch zur
Verfügung steht, etwas zur Raketenabwehr sagen. Ich
glaube, wir werden gut beraten sein, wenn wir uns in
diesem Hohen Hause sehr genau mit den neuen Plänen
auseinandersetzen. Meine Sicht auf die Dinge ist im Moment, dass das, was in der NATO vorgeschlagen wird
und was Rasmussen als wunderbare Lösung beschreibt,
eigentlich Augenwischerei ist, weil sich dies nur darauf
bezieht, dass alle bisher existierenden Systeme „zusammengeplugt“ werden. Rasmussen macht ein Plugin: Hier
ist NATO, und dann Plugin! Dort sind aber zum Beispiel
die Kosten für Patriots und MEADS in Deutschland
überhaupt nicht mit eingerechnet; dies alles kommt
hinzu.
Frau Kollegin!
Ich erinnere daran, dass wir bei MEADS immer noch
nicht im Reinen sind. Deshalb glaube ich, dass wir auch
sehr gut beraten sind, darauf zu hören, was die Russen in
diesem Moment sagen. Sie werden sich nicht auf ein
Abenteuer einlassen, das keinen Mehrwert bietet; dies
alles muss noch sehr genau geprüft werden.
Ich stimme mit dem überein, was hier von einigen
Kollegen zu Cyber gesagt worden ist; dies kann nicht
nach Art. 5 erfolgen.
Frau Kollegin, Sie müssen jetzt aber zum Schluss
kommen.
Letzter Satz, Herr Präsident. - Wir sollten auch noch
einmal klären, wie es in den Regierungsfraktionen mit
der Frage einer Mandatierung durch den Sicherheitsrat
oder einfach durch den Geist der UN ist. Ich würde dies
gern präzise haben, wie wir es in unserem Antrag niedergelegt haben.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Philipp Mißfelder
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Für die Zuschauer an den Fernsehbildschirmen,
die heute vielleicht zum ersten Mal diese Diskussion
verfolgen, möchte ich zur Klarstellung sagen, dass die
Mitglieder des Deutschen Bundestages sehr wohl Möglichkeiten hatten, sich mit dem Bericht zu beschäftigen.
({0})
Sicherlich war das nicht so tiefgehend möglich, wie es
bei anderen Papieren sonst der Fall ist. Auch Sie, Frau
Zapf, waren doch bei der Unterrichtung durch den
Staatssekretär Born anwesend.
Es ist nicht die Bundesregierung bzw. der Bundesaußenminister, sondern die NATO gewesen, die festgelegt hat, dass es sich um ein Geheimpapier handelt. Ich
möchte an dieser Stelle der Bundesregierung ausdrücklich dafür danken, dass es uns zumindest in einem kleinen Kreis ermöglicht wurde, Fragen zu stellen, und dass
wir über das Papier direkt und ausführlich informiert
wurden. Das ist, so glaube ich, der unter den Geheimschutzregeln einzig gangbare Weg gewesen.
({1})
- Herr Ströbele, bei Ihnen immer gerne.
Wenn ich vielleicht an dieser bilateral vereinbarten
Zwischenfrage wenigstens notariell beteiligt werden
könnte.
({0})
Herr Kollege Ströbele, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Mißfelder, ich durfte als Mitglied des
Auswärtigen Ausschusses diese Papiere nicht einsehen.
Gibt es eine Erklärung, Verfügung oder Ähnliches der
NATO, wo steht, dass zwar Obleute des Auswärtigen
Ausschusses diese Papiere einsehen dürfen, aber stellvertretende Obleute nicht? Das hätte ich gerne einmal
gewusst. Wie käme ansonsten der Außenminister dazu,
zu sagen: „Die Obfrau darf das einsehen, aber ihr Stellvertreter darf auch für den Fall, dass sie krank ist, die Papiere nicht einsehen“? Was Sie gemacht haben, ist doch
reine Willkür.
Nein, Herr Ströbele, da muss ich Sie korrigieren. Wir
haben das Papier nicht einsehen können - das habe ich
schon gesagt -, sondern wir haben die Möglichkeit gehabt, mit dem Staatssekretär, der das Papier kennt, ausführlich darüber zu diskutieren.
({0})
Was Sie richtigerweise gesagt haben - diesen Punkt
wollte ich eigentlich weglassen, um Ihre Fraktion nicht
zu diskreditieren -, ist, dass die Grünen bei dieser Unterredung nicht anwesend waren. Aber jede Fraktion hatte
die Möglichkeit, einen Stellvertreter zu entsenden. Ansonsten wäre Frau Zapf in Vertretung von Herrn
Mützenich nicht dabei gewesen. Sie müssen sich in Ihrer
Fraktion einfach besser abstimmen. Wenn Sie freundlicher zu Frau Müller wären, dann würde sie Sie vielleicht
zukünftig in den Debatten reden lassen und dann müssten Sie sich nicht in Form von Zwischenfragen zu Wort
melden.
({1})
Vielleicht würde sie Sie auch darüber unterrichten, dass
es solche Termine gibt, an denen Sie dann stellvertretend
teilnehmen dürfen. Aber das ist ein Problem der Grünen
und nicht unser Problem.
({2})
Ich will zum eigentlichen Thema kommen. Seit 1990
hat die NATO 97 Prozent ihres Atomwaffenarsenals abgerüstet. Allein das zeigt, in welchem Wandlungsprozess
sich die NATO in den vergangenen Jahrzehnten befunden hat. Politisch hat sich seit 1999, seit der letzten Diskussion über die strategische Konzeption der NATO, Erhebliches geändert. Die Weltwirtschaft ist globaler
geworden. Die Internetwelt hat sich radikal verändert.
Auch unsere sicherheitspolitischen Herausforderungen
haben sich massiv verändert.
Während des Kalten Krieges war Bündnissolidarität
nahezu immer deckungsgleich mit nationalen Sicherheitsinteressen. Das kann man heute für die NATO nicht
mehr zwangsläufig sagen; denn wir stehen heute vor Herausforderungen, die anderer Natur sind und bei denen
Sicherheitsinteressen einzelner Mitgliedsländer in unterschiedlichem Maße betroffen sind. Terrorismus, gescheiterte Staaten, Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sind notwendigerweise nicht für alle Mitgliedsländer
der NATO eine existenzielle Gefahr und werden daher
von Bündnispartnern unterschiedlich wahrgenommen.
Nehmen wir den konkreten Fall Afghanistan. Während
einige Verbündete ihr militärisches Engagement ausdrücklich als Kampf gegen eine unmittelbare Bedrohung
empfinden und deshalb die Akzeptanz für diesen Einsatz
in ihrer Gesellschaft hoch ist, ist dies nicht zwangsläufig
bei allen Mitgliedsländern der Fall. Das zeigt, wie
schwierig mittlerweile Operationen unter dem Dach der
NATO sind. Wir müssen daher darüber diskutieren, wie
es mit der NATO politisch weitergehen soll.
Es zeigte sich schon in dieser Debatte: Uns geht es
nicht darum, die NATO nur als reines Militärbündnis zu
sehen. Wir sehen sie als politische Plattform, die uns die
Möglichkeit gibt, mit anderen Organisationen und Bündnissen, mit NGOs sowie mit anderen Partnern aus dem
asiatischen Bereich, aber insbesondere auch in unserer
unmittelbaren Nachbarschaft - ich denke dabei an Russland - zu diskutieren. Wir stehen in der NATO auf einer
gemeinsamen Wertebasis. Deshalb ist es für uns von
zentraler Bedeutung - es ist mir ganz wichtig, das zu erwähnen -, auf Basis dieser Werte gemeinsam für eine Sicherheitsarchitektur zu werben und dabei nicht nur über
militärische Aspekte zu diskutieren, sondern auch über
politische Perspektiven. Wir müssen die Diskussion über
die Strategie der NATO dazu nutzen, hier Fortschritte zu
machen.
({3})
Wir müssen für eine stärkere Akzeptanz der NATO
werben; das ist unbedingt notwendig. Wir befinden uns
in einer Situation, die vollkommen anders ist als die zur
Zeit des Kalten Krieges. Dazu kann ich nur aus Geschichtsbüchern zitieren und kaum aus eigenem Erleben
berichten. Wir befinden uns heute Gott sei Dank nicht
mehr in einer Situation, in der die unmittelbare Bedrohung für den einzelnen Bürger automatisch in einem persönlichen Zusammenhang zum Bündnis steht, weder im
Osten noch im Westen Deutschlands.
Wir stehen heute vor ganz anderen Herausforderungen. Deshalb finde ich es richtig, dass sich die NATO um
die Frage der Cyberattacken bemüht, selbst wenn das
nur der Beginn einer Diskussion sein kann. Hier gibt es
viele Fragen zu den Fähigkeiten der NATO. Die Frage
ist auch - Rainer Stinner hat sie zu Recht aufgeworfen -:
Wie geht man im Fall des Falles damit um? Wir stellen
uns diesen Fragen in der Diskussion; wir wollen sie weiter in den Blick nehmen.
Die militärische Transformation der NATO muss
fortgesetzt werden. Dies bleibt für uns ein wichtiger
Punkt; denn es ist notwendig, die Soldaten auf die neuen
Herausforderungen vorzubereiten, sowohl im Hinblick
auf ihre Ausrüstung als auch auf die Organisationsstruktur der NATO. Insofern passt sich unsere Bundeswehrreform nahezu nahtlos in die Diskussionen ein, die in den
anderen Mitgliedsländern der NATO intensiv geführt
werden. Wir wollen die Bundeswehr effizienter, schneller und effektiver machen, damit sie den neuen Herausforderungen gerecht wird. Neuen Herausforderungen gerecht zu werden, heißt in erster Linie, unsere eigene
Sicherheit und die Sicherheit unserer Bündnispartner zu
schützen.
Die Diskussion um Rohstoff- und Ressourcensicherheit ist nicht vom Himmel gefallen. Das zeigt sich
darin - Frau Zapf, da möchte ich Sie gerne korrigieren -,
dass wir schon bei der Erstellung des Weißbuchs 2006
- unter Applaus der SPD - kein Problem damit hatten,
auch über sichere Zugänge zu Märkten und über die
Frage der Rohstoffsicherheit zu diskutieren.
({4})
Nichts anderes hat der Minister getan; nichts anderes hat
zuvor der zurückgetretene Bundespräsident getan. Insofern bedeutet die Aufregung an dieser Stelle viel Lärm
um nichts.
({5})
Früher gab es Zeiten, in denen Sie bei diesem Thema applaudiert und tatkräftig daran mitgewirkt hätten.
Ein wichtiger Punkt wurde in dieser Debatte angesprochen: das Verhältnis zu Russland. Sicherlich kann man
darüber streiten, nicht über die Vorschläge der Gruppe um
Frau Albright, aber vielleicht über die Art und Weise, wie
der NATO-Generalsekretär auf Russland zugegangen ist
oder eben nicht. Ich kann das im Einzelnen nicht beurteilen, weil ich keine detaillierten Kenntnisse darüber habe.
Es geht aber nicht nur darum, wie wir die Diskussion hier
bei uns führen, sondern auch darum, wie sie in Russland
aufgenommen wird. Der NATO-Generalsekretär hat vielleicht nicht zu jedem Zeitpunkt in angemessener Weise
wahrgenommen, dass Russland uns, der NATO und der
Europäischen Union die Hand ausgestreckt hat. Das ist
aber eine politische Diskussion, um die es sich zu streiten
lohnt. Ich bin deshalb besonders froh darüber, dass die
Bundeskanzlerin sowie der französische Präsident und
der russische Präsident von Anfang an die Missverständnisse ausgeräumt haben, die im Zuge der Diskussion um
das Strategische Konzept hätten auftreten können. Sie haben die feste Absicht erklärt, Russland mit ins Boot zu holen und gemeinsam mit Russland an einer Sicherheitsarchitektur zu arbeiten. Damit wird die ausgestreckte Hand
Russlands angenommen.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnes Malczak für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Mißfelder, es ist ein unwürdiger Vorgang, dass
nur zehn Parlamentarier das Strategische Konzept einsehen können, sodass man in einer Runde das Ratespiel
betreiben muss: „Steht denn darin, dass …?“ Das ist
auch für eine Organisation unwürdig, die sich Transparenz und Öffentlichkeit groß auf die Fahnen schreibt.
({0})
Herr Außenminister Westerwelle, mangels anderer außenpolitischer Akzente haben Sie vollmundig das sympathieträchtige Thema Abrüstung zu Ihrem persönlichen
Steckenpferd gemacht. Nach den Luftsprüngen wegen
Deutschlands Sitz im UN-Sicherheitsrat hätten Sie nun in
der NATO belegen können, dass Sie internationale Politik
beherrschen und Ihr Eintreten für Abrüstung nicht nur
eine Luftnummer ist. Was zu befürchten war, ist eingetreten: Schwarz-Gelb hat den Abzug der US-Atomwaffen
aus Deutschland im Koalitionsvertrag absichtlich an die
Verhandlungen in der NATO gekoppelt, um danach mit
dem Finger auf andere zu zeigen.
({1})
Herr Westerwelle, der Deutsche Bundestag hat Sie in
großer Einigkeit damit beauftragt, sich in der NATO für
nukleare Abrüstung und den Abzug der US-Atomwaffen
aus Deutschland einzusetzen. Bei der Erfüllung dieses
Auftrags sind Sie gnadenlos gescheitert.
({2})
Mit einem Angebot zum Kuhhandel erschienen Sie in seltener Eintracht mit Ihrem Kabinettskollegen zu Guttenberg
beim Treffen der Außen- und Verteidigungsminister der
NATO-Mitgliedstaaten im Oktober. Ihr plumper Deal
war: Deutschland unterstützt jetzt doch das Raketenabwehrsystem und erhält im Gegenzug Zugeständnisse bei
der nuklearen Abrüstung. - Doch die schallende Ohrfeige
ließ nicht lange auf sich warten. Gleich nach der Konferenz erklärte der amerikanische Verteidigungsminister
Gates, dass Raketenabwehr gar nichts mit Abrüstung zu
tun hat. Eine deutlichere Abfuhr kann man sich nicht holen.
({3})
Das Ergebnis ist: Die US-Atomwaffen bleiben in
Deutschland, und die Bundesregierung vergibt einen
Blankoscheck für ein Raketenabwehrsystem, von dem
niemand weiß, wie teuer es wird, ob es überhaupt funktioniert und wer am Ende die Befugnis für die Entscheidung hat, wann es zum Einsatz kommt.
({4})
Der NATO-Generalsekretär Rasmussen wirbt mit einer Schnäppchenrechnung, nach der das Raketenabwehrsystem nur 200 Millionen Euro kosten würde. Dafür erntet er sogar von den Befürwortern dieses Systems
nur Gelächter. Experten rechnen mit Gesamtkosten in
Milliardenhöhe. Dem Verteidigungsminister, dem das
Sparen sonst so wichtig ist, fiel zu dieser Sache nichts
Besseres ein, als Ja dazu zu sagen und gleichzeitig sein
vorauseilendes Misstrauen gegenüber den Zahlen zum
Ausdruck zu bringen. Das Tragische an dieser Entscheidung ist: Ein solches Raketenabwehrsystem birgt in der
jetzigen Situation, in einer Zeit, in der die globale
Machtverteilung durch aufstrebende Mächte neu bestimmt wird, die Gefahr einer weltweiten Aufrüstungsspirale. Raketenabwehr täuscht in einer hochgerüsteten
Welt über die Notwendigkeit von Abrüstung und Rüstungskontrolle hinweg.
({5})
Wir fordern Sie daher auf: Ziehen Sie Ihre Zustimmung
zum Raketenabwehrsystem auf dem NATO-Gipfel in der
nächsten Woche zurück.
({6})
Auch ich war vorauseilend misstrauisch, was den abrüstungspolitischen Willen dieser Bundesregierung anbelangt. Nach einem Jahr kann ich sagen: völlig zu
Recht. Atomraketen trotz Raketenabwehrsystem, das ist
die Formel für die doppelte Pleite von Schwarz-Gelb in
der Abrüstungspolitik und in der NATO.
Vielen Dank.
({7})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Westerwelle das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin, ich bitte Sie! Ich bin Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Ich will eine Sache zum Ausdruck bringen.
({0})
Frau Kollegin Künast, Sie werden sich wie ich an
Beispiele erinnern, wo nicht nur gemeldete Redner zu
Wort kamen, sondern in Debatten des Deutschen Bundestages zusätzlich fleißig von der Möglichkeit der
Kurzintervention Gebrauch gemacht wurde.
({0})
Frau Kollegin, bei allem Respekt: Noch sind auch Sie
Mitglied dieses Hauses. Sie können sich ja auch zu Wort
melden, wenn Sie es denn möchten.
Ich möchte auf einen Punkt eingehen, weil mir das ein
wichtiges Anliegen ist. Wir können hier gerne inhaltlich
über die Frage der Abrüstung diskutieren. Wir haben
eine sehr viel positivere Sicht auf dieses Thema. Wir
sind der Meinung, dass die Entwicklung auf dem Gebiet
der Abrüstung in dem letzten Jahr, insbesondere in den
letzten Monaten, gut und positiv ist.
Da ich als Parlamentarier viele Jahre lang in der Opposition gearbeitet habe, liegt mir viel daran, Folgendes
zu sagen - deshalb habe ich mich zu Wort gemeldet -:
So viel Transparenz, wie ich als Außenminister bei diesem Strategischen Konzept der NATO dem Deutschen
Bundestag gegenüber ermöglicht habe, habe ich in den
elf Jahren, in denen ich Abgeordneter einer Oppositionsfraktion war, nicht einmal erlebt.
({0})
Wir erinnern uns noch an 1999, als das Strategische Konzept der NATO verabschiedet wurde. Damals bildeten
SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Regierung. Wie oft
wurde den Obleuten Einsicht in die Unterlagen gegeben?
Wir, die Bundesregierung, haben alles erläutert, auch im
persönlichen Gespräch. Wir haben gesagt: Bitte berücksichtigt, dass der NATO-Generalsekretär dies als „Geheim“ eingestuft hat und wir die Unterlage dementsprechend nicht eigenmächtig veröffentlichen können. Es ist
ja wohl völlig selbstverständlich, dass ich als Außenminister mich nicht darüber hinwegsetzen kann.
Ich hätte erwartet, dass Sie diese Transparenz, die Sie
nie - nicht ein einziges Mal in elf Jahren - gewährleistet
haben, heute anerkennen, statt uns dafür zu beschimpfen, dass wir so weit gegangen sind, mit Ihnen eine solche Transparenz zu vereinbaren. So viel Offenheit hat es
in dieser Debatte in diesem Haus bei solchen als vertraulich eingestuften Dokumenten noch nicht ein einziges
Mal gegeben. Darauf lege ich Wert.
({1})
Zu einer kurzen Erwiderung hat Frau Kollegin
Malczak das Wort.
Herr Außenminister, dieses neue Strategische Konzept der NATO ist mit der Ankündigung des NATO-Generalsekretärs verbunden - insofern gibt es schon einen
Zusammenhang; dazu hat auch Kollege Mißfelder am
Schluss seiner Rede aufgefordert -, für mehr Akzeptanz
in der NATO zu werben. Von der Expertengruppe hieß es
ganz klar: Wir sind jetzt transparent; wir diskutieren es
in den einzelnen Mitgliedstaaten vor der Öffentlichkeit.
- Wenn aber jetzt das entscheidende Dokument geheim
und auch für die Parlamentarierinnen und Parlamentarier
nicht einzusehen ist, dann ist das natürlich ein Missstand, den wir auch kritisieren werden.
({0})
Der Kollege Dr. Karl Lamers ist der nächste Redner
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
neue Strategische Konzept wird die Leitlinie der NATO
für die nächsten Jahre sein. Es ist die NATO, die Europa
seit mehr als 60 Jahren Frieden und Freiheit gebracht
hat. Wir haben der NATO viel zu verdanken.
({0})
Immer wieder hat sich das Bündnis den veränderten Sicherheitslagen angepasst, so auch mit diesem neuen
Strategischen Konzept, das auf dem NATO-Gipfel in
Lissabon in wenigen Tagen verabschiedet wird. Die
neue Strategie trägt den Herausforderungen unserer Zeit
Rechnung; denn Zukunft ist nicht nur Verlängerung der
Vergangenheit. Wir müssen neue Antworten finden. Mit
diesem Konzept wird die NATO neue Wege aufzeigen.
Sie, Herr Außenminister, haben die Group of Wise
Men - sinnigerweise unter der Leitung einer Lady, nämlich Madeleine Albright - angesprochen. Ich möchte an
dieser Stelle erwähnen, dass es die Parlamentarische
Versammlung der NATO war, die für das neue Konzept
einen eigenen Beitrag erarbeitet hat.
({1})
Es sind auch Parlamentarier aus diesem Hohen Hause,
aus allen Fraktionen, die als NATO-Parlamentarier ihre
Gedanken und Ideen in unser Papier eingebracht haben.
({2})
Danke dafür.
({3})
Die Beistandsverpflichtung gemäß Art. 5 des NATOVertrages muss zentraler Pfeiler der Allianz bleiben. Die
Sicherheit unseres Bündnisses ist unteilbar. Art. 5 drückt
den Willen, die Bereitschaft, aber auch die Fähigkeit aus,
uns gemeinsam gegen Angriffe zu verteidigen. Dabei
bleibt es.
Bei neuen Bedrohungen denke ich zum Beispiel an
Cyberangriffe. Millionen Angriffe finden täglich statt:
auf Staaten, Sicherungssysteme von Industrieanlagen,
Banken und Pipelines. Das ist eine Gefahr, die uns existenziell bedrohen kann. Cybersicherheit muss, Herr
Trittin, stärker als bisher auch in das Blickfeld der
NATO rücken.
({4})
Da ist es nicht geeignet, hier Witzchen wie „Google
bombardieren“ zu machen. Vielmehr sollte auch für Sie
gelten, dass das ein wichtiges Thema ist, das in einer
politisch-militärischen Institution wie der NATO seriös
erörtert wird.
({5})
Das neue Strategische Konzept wird Bedrohungen
aufgreifen, die nicht an unseren Grenzen haltmachen:
Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Piraterie, gescheiterte Staaten, Energieknappheit und vor allem internationaler Terrorismus. Hier, Frau Lötzsch,
richte ich mich vor allem an Sie, an die Demokratie- und
Friedenswächter der Linken.
({6})
In Afghanistan kämpfen unsere Soldaten gegen Terror.
Ich möchte ihnen, unseren Soldatinnen und Soldaten,
auch an dieser Stelle meinen Dank und meinen höchsten
Respekt dafür bekunden, dass sie tagtäglich bereit sind,
ihre Gesundheit und ihr Leben für unsere Freiheit und
unsere Sicherheit einzusetzen.
({7})
- Frau Lötzsch, hören Sie einmal zu! Dann können Sie
vielleicht noch etwas lernen.
Einigkeit und Geschlossenheit im Bündnis sind der
Schlüssel zum Erfolg. Gerade in einer Zeit knapper werdender Ressourcen wird ein vertrauensvolles Miteinander zwischen NATO und EU immer wichtiger. Wir brauchen eine strategische Partnerschaft. Unsere Kräfte
sinnvoll zu bündeln, ist das Gebot der Stunde. Ein wichtiger Partner für die Allianz ist Russland. Wir brauchen
Russland, aber Russland braucht auch uns bei der Terrorbekämpfung, bei der Raketenabwehr und bei der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen.
Abrüstung und Rüstungskontrolle sind ein zentrales Thema für die NATO der Zukunft. Eine Welt ohne
Nuklearwaffen ist ein Traum, den wir alle teilen. Allerdings dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass es potenziell Staaten oder - ich will es nicht beschwören - nichtstaatliche terroristische Akteure gibt, die unsere
Sicherheit gefährden. Solange diese Gefahr besteht,
muss die NATO abschreckungsfähig bleiben.
In einer globalisierten Welt haben für die NATO Partnerschaften mit Staaten, die unsere Sicherheitsinteressen
teilen, eine zunehmend größere Bedeutung. Zur NATOErweiterung ein Satz: Die Tür muss offen bleiben. Wer
Mitglied wird, entscheidet einzig das Bündnis. Ein Veto
von dritter Seite lehne ich ab.
Um als Bündnis erfolgreich zu sein, brauchen wir den
Rückhalt und die Unterstützung unserer Bevölkerung.
Wir müssen besser als bisher erklären, was die NATO
ist, was sie macht und warum sie für unsere Sicherheit
unerlässlich ist. Dabei ist es wichtig, gerade die junge
Generation zu gewinnen. Sie trägt das Bündnis in die
Zukunft. Ich schlage deshalb die Einführung eines
NATO-Tages vor,
({8})
Dr. Karl A. Lamers ({9})
einen Tag im Jahr, an dem wir ganz besonders über die
Arbeit der NATO informieren, zum Beispiel an Schulen
und Universitäten,
({10})
an dem wir mit den Menschen über die NATO und ihre
Rolle im 21. Jahrhundert sprechen.
({11})
Mit dem neuen Strategischen Konzept wird die
NATO ein zukunftsweisendes Dokument verabschieden.
Jetzt müssen wir alle unseren Beitrag dazu leisten, dass
dieses neue Konzept von den Mitgliedstaaten umgesetzt
wird.
Herr Kollege Lamers, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lenkert?
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Ich habe eine Frage. Sie
möchten einen Tag der NATO einführen, an dem die
NATO über ihre Arbeit informiert. Würden wir dann bei
dieser Gelegenheit auch über die Sicherheitsstrategie der
NATO informiert werden? Wenn das so ist, dann könnte
ich mir vorstellen, dass wir dem sogar zustimmen.
Herr Kollege, ich verstehe den NATO-Tag so wie den
Europa-Tag, den wir eingeführt haben und an dem wir
über Europa und die Bedeutung Europas sprechen. Ich
halte es angesichts der Bedeutung der NATO für wichtig, dass wir alle, Parlamentarier, Diplomaten, Politiker,
Menschen, die von der NATO überzeugt sind, in der Öffentlichkeit verstärkt über Sinn und Zweck sowie die
Rolle der NATO sprechen. Öffentlichkeitsarbeit ist
wichtig; wir müssen uns ihr in Zukunft mehr zuwenden.
({0})
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Ich komme jetzt zum Schluss meiner Rede, Herr Präsident. - Bei der Reform der Struktur der Bundeswehr
werden wir uns an den Anforderungen orientieren, die
die NATO in ihrem Strategischen Konzept stellt.
Deutschland wird auch in Zukunft ein verlässlicher
Bündnispartner sein.
Ich danke Ihnen.
({0})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Gehrcke
das Wort.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Die Rede des
Kollegen Lamers macht das Dilemma, in dem wir stecken, sichtbar. Er hat hier zu allen Punkten des Strategischen Konzepts der NATO Ausführungen gemacht. Ich
weiß gar nicht, ob ich das Folgende sagen darf.
({0})
Es ist ja nicht nur so, dass lediglich 14 Kolleginnen und
Kollegen des Hauses Einsicht nehmen durften, sondern
der Inhalt ist auch geheim. Also niemand - mein Kollege
Schäfer und ich eingeschlossen - könnte hier sagen: Im
Strategischen Konzept der NATO steht das und das.
Das hat für die Politik der Bundesrepublik Deutschland Konsequenzen. Kollege Lamers, ich glaube nicht,
dass Sie sich hier an der Grenze des Geheimnisverrates
bewegt haben. Ich will Ihnen das auch nicht vorhalten;
denn ich bin dafür, dass das Konzept öffentlich gemacht
wird. Ich will nur eines deutlich machen: Es kann sein,
dass die Regierung einigen wenigen Abgeordneten einen
Einblick ermöglicht hat. Ich finde es aber völlig unakzeptabel, mich für etwas bedanken zu müssen, das eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist: dass die Parlamentarier diese Unterlagen erhalten, einsehen und in der
Öffentlichkeit darüber reden können.
({1})
- Eine Erklärung ersetzt nicht eine andere Verhaltensweise. Wenn Sie als Abgeordneter so wenig Selbstbewusstsein haben,
({2})
dass Sie diese Unterlagen nicht kennen, sondern Ihre
Entscheidung lieber an andere delegieren wollen, ist das
Ihr Problem, nicht mein Problem.
({3})
Ich verlange, dass wir alle erfahren, worum es geht, und
dass Sie dafür sorgen, dass wir uns sachkundig machen
können. Das ist die Grundlage.
({4})
Herr Außenminister, merken Sie nicht, wie seltsam es
ist, dass Beamte Abgeordnete darüber aufklären sollen,
was in einem Papier steht? Wieso dürfen Beamte wissen,
was in einem Papier steht, Abgeordnete aber nicht?
Wenn man nachgefragt hat, wo etwas steht, lautete die
Antwort der Staatssekretäre: Das darf ich Ihnen nicht sa7616
gen. - Auf diese Art und Weise können wir nicht über
Zukunftsfragen entscheiden.
Ein letztes Wort, Herr Lamers - das haben Sie selbst
provoziert -: Der von Ihnen vorgeschlagene Kaisertag
für die NATO
({5})
ist eine Propagandaaktion, die wirklich nicht in die Welt
passt. Politische Auseinandersetzungen sind zu bejahen.
Aber für diese Art der Propaganda sind eigentlich sogar
Sie zu gut.
Danke sehr.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter
Bartels für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Debatte bietet eine Gelegenheit, nach Gemeinsamkeiten in der Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland zu suchen. Insofern bin ich
dem Kollegen Lamers dankbar, nicht für den von ihm
angeregten NATO-Tag, sondern dafür, dass er auf etwas
hingewiesen hat, das eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein müsste, in dieser Debatte aber nicht allen ganz
klar war: nämlich dass die NATO in allererster Linie ein
Verteidigungsbündnis ist, basierend auf Art. 5 des
NATO-Vertrages, der Beistandsverpflichtung. Dies ist
ihre erste Aufgabe. Erst dann folgen die Aufgaben, die in
den letzten Jahren hinzugekommen sind, Out-of-AreaEinsätze, um in anderen Teilen der Welt unter dem Dach
der UNO für Sicherheit zu sorgen, wenn die UNO dafür
ihre Legitimation erteilt hat.
Ich weiß nicht, ob der Verteidigungsminister inzwischen wieder hier ist.
({0})
- Gut, irgendwo ist er also. - Es hat Irritationen darüber
gegeben, dass wieder einmal die Frage aufgeworfen
wurde: Wann ist der Einsatz militärischer Mittel eigentlich legitim? Zur Durchsetzung nationaler wirtschaftlicher Interessen, die in Konkurrenz zu den Interessen anderer Länder stehen, ist er natürlich nicht legitim. Zu
diesem Zweck werden militärische Mittel im 21. Jahrhundert nicht mehr eingesetzt. Das ist auch die Räson
unseres Grundgesetzes.
({1})
Ich will dem Verteidigungsminister nicht unterstellen,
dass er Böses meint. Er ist schließlich in der Lage, sich
zu korrigieren, wenn er vielleicht etwas Falsches gesagt
hat. Dann ist er immer stolz und weist darauf hin, dass es
eine Tugend ist, sich korrigieren zu können; vielleicht
können Sie das auch in dieser Frage tun. Wenn Sie meinen, dass Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen
Kraft - weil wir die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt
sind, weil wir die zweitgrößte Exportnation der Welt
sind und weil wir das größte Land in Europa sind - Verantwortung für die Sicherheit in der Welt hat, dann lautet
die richtige Argumentation: Weil wir stark sind, haben
wir Verantwortung und müssen möglicherweise im Rahmen der NATO und unter dem Dach der UNO auch militärische Mittel einsetzen. Andersherum ist die Argumentation aber auf keinen Fall richtig: Wir dürfen nicht
durch den Einsatz militärischer Mittel stark werden wollen.
({2})
Ich möchte auf das NATO-Konzept und die Bundeswehrreform eingehen. Die Debatte, die wir führen, findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern sie ist mit einer Diskussion über die Veränderung der Bundeswehr
verbunden. In den letzten 20 Jahren hat die Bundeswehr
bereits einige Veränderungen erlebt. Die Zahl der Soldaten ist von 500 000 auf 250 000 halbiert worden. Die
Zahl der in Deutschland stationierten Alliierten ist auf
weniger als ein Zehntel reduziert worden. Deutschland
hat eine gewaltige Veränderung hinter sich. Jetzt steht
uns eine weitere Veränderung bevor. Ich würde mir wünschen, dass diese Veränderung in Abstimmung mit unseren europäischen NATO-Partnern vollzogen wird. Es
muss verhindert werden, dass viele Staaten gleiche Fähigkeiten, die wir zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht
gebrauchen könnten, aufgeben. Wir sehen das gerade bei
den Kanadiern, die die Fähigkeiten, die sie aufgegeben
haben, wieder neu entwickeln, weil sie sie bei den Einsätzen brauchen.
Wenn wir also neue Konzepte für unsere Bundeswehr
entwickeln - andere Länder tun das für ihre Streitkräfte
auch -, dann muss das abgestimmt erfolgen. Natürlich
kann man auch beim Militär noch effizienter werden und
möglicherweise auch einen Sparbeitrag leisten. Dies darf
aber nicht gegen die Einsatzfähigkeit und die Sicherheitspolitik gerichtet sein, sondern das muss in Abstimmung mit dem erfolgen, was in der NATO vereinbart
wird und in Europa sinnvoll ist.
({3})
Auch in Zukunft bleibt nach dem Grundgesetz die
erste Aufgabe der Bundeswehr die Landes- und Bündnisverteidigung; das gilt auch für die NATO. Sie ist nicht
nur dann erfolgreich, wenn sie mit möglichst vielen Soldaten im Ausland im Einsatz ist, sondern es kann sein,
dass ihr größter Erfolg darin besteht, dass sie nicht eingesetzt werden muss, dass also zum Beispiel in Europa
nichts mehr passiert, weil der Einsatz auf dem Balkan erfolgreich war. Das ist ein gutes Beispiel für die Erfolge
der NATO und der Bundeswehr: Nachdem wir auf dem
Balkan einen langen Atem hatten und es schrecklich begonnen hatte, ist die Situation dort heute stabil. Wir hoffen, dass wir in wenigen Jahren gar nicht mehr von militärischen Mitteln reden müssen, wenn es um den Balkan
geht, sondern dass es dann nur noch um den zivilen AufDr. Hans-Peter Bartels
bau und die Mitgliedschaft in der Europäischen Union
geht.
Die alte Philosophie, dass man Streitkräfte nicht hat,
um sie überall in der Welt einzusetzen, sondern dass
Streitkräfte kämpfen können müssen, um nicht kämpfen
zu müssen, sie also zu haben, um sie nicht einsetzen zu
müssen, damit kein Vakuum und keine unstabilen Situationen entstehen, bleibt auch für die neue NATO und für
die reformierte Bundeswehr eine Grundkonstante ihrer
Sicherheitspolitik.
Lassen Sie mich abschließend einen Aspekt erwähnen, der hier noch gar nicht angesprochen wurde. Ich
weiß auch nicht, ob das Konzept der NATO ihn enthält.
In dem Papier von Frau Albright und ihrer Kommission
spielt er eine wesentliche Rolle. Es geht um den Übergang zu besonderen neuen Fähigkeiten, zu unbemannten, automatisierten Kampfsystemen - UAVs, Kampfdrohnen -, zum Einsatz von Spezialkräften und zum
immer häufiger festzustellenden Einsatz von Militärfirmen. Was ist Drohnen, Spezialkräften und Militärfirmen
gemeinsam? Die Gemeinsamkeit beim Einsatz solcher
Mittel besteht darin, dass dies in der Regel hinter dem
Schleier der Nichtöffentlichkeit geschieht. Die neue
Strategie der NATO darf nicht darauf abzielen, sich der
Öffentlichkeit zu entziehen und neue Formen militärischer Auseinandersetzung zu finden.
({4})
Wir müssen eine Debatte darüber führen, wie Demokratien den Einsatz militärischer Mittel legitimieren können, wenn er notwendig ist. Das kann nicht dadurch geschehen, dass gesagt wird: Die Diskussion muss gar
nicht mehr stattfinden; Spezialkräfte sind geheim; von
Drohnen bemerkt niemand etwas, und bei den Militärfirmen arbeiten keine Soldaten; sie machen nur ihren Job,
der bezahlt wird. - Das kann nicht die Zukunft der
NATO und übrigens auch nicht die Zukunft der Bundeswehr sein.
Schönen Dank.
({5})
Jetzt erhält Herr Ströbele das Wort zu einer Kurzintervention.
({0})
Herr Präsident, ich habe mich im Anschluss an das
gemeldet, was der Kollege gerade gesagt hat. Der Kollege hat zutreffend darauf hingewiesen, dass wir alle
sehr gespannt darauf sind, was der Bundesverteidigungsminister mit seiner Äußerung tatsächlich hat sagen wollen. Ich bin heute Morgen hierher zu dieser Debatte
gekommen und davon ausgegangen, dass der Bundesverteidigungsminister das Parlament selbstverständlich
darüber informiert, was er mit seiner Erklärung im Interview tatsächlich gemeint hat.
({0})
Ich sage das einmal ganz milde: Diese Erklärung ist relativ interpretationsfähig.
Ich habe mich seinerzeit über die Äußerung des damaligen Bundespräsidenten erheblich aufgeregt und
dazu auch Stellung genommen. Jetzt rege ich mich über
die Interviewäußerungen des Bundesverteidigungsministers genauso auf. Ich habe nicht erwartet, dass der
Bundesverteidigungsminister in dieser Situation hier zunächst auf der Regierungsbank und jetzt unter den Abgeordneten sitzt und zu diesem Thema überhaupt nichts
sagt. Er sollte jetzt einmal unverklemmt sagen, um was
es eigentlich geht.
({1})
Was hat er damit gemeint, dass in Zukunft die NATO
bzw. die Bundeswehr auch zur Sicherung von Handelswegen und Wahrung von Wirtschaftsinteressen eingesetzt werden könnte? Bitte, Herr Verteidigungsminister,
gehen Sie nach vorne.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat sich der Kollege zu
Guttenberg zu Wort gemeldet.
Herr Kollege Ströbele, herzlichen Dank. - Ich werde
Ihrem Wunsch nur bedingt nachkommen, jetzt nach
vorne zu gehen. Ich darf Ihnen von meinem Platz aus im
Rahmen einer Kurzintervention sehr kurz antworten: Lesen und dann verstehen! Es geht um Punkte, die ich seit
einem halben Jahr immer gesagt habe. Offensichtlich haben Sie das ein halbes Jahr lang nicht wahrgenommen.
Jetzt kommt die große Bugwelle der Empörung, die ich
auch wahrnehme.
Wenn Sie nachlesen, was ich gesagt habe, dann verstehen Sie, dass das Punkte widerspiegelt, die bereits im
Weißbuch 2006 enthalten waren. Dazu habe ich von Ihnen keinen Aufschrei der Empörung gehört. Es mag
sein, dass Sie damals nicht so gut aufgepasst haben.
({0})
- Nein, dazu kam von Herrn Ströbele nichts.
({1})
Was wir künftig zu erwarten haben, Herr Trittin, ist:
Sie werden wahrscheinlich demnächst Ihre Mitglieder
dazu aufrufen, in den Häfen das Wasser abzuschöpfen,
damit die Fregatten nicht zur Pirateriebekämpfung auslaufen können. Wir sollten also in der Sache ernst bleiben.
Danke schön.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Ruprecht Polenz für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ströbele, ich verstehe diese Diskussion nicht. Wir
alle gehen von einem erweiterten Sicherheitsbegriff aus.
Wenn sich dann jemand aus Gründen sicherheitspolitischer Vorsorge richtigerweise zu der Sicherheit der Handels- und Wirtschaftswege äußert, dann wird ihm vorgeworfen, mit militärischen Mitteln darauf antworten zu
wollen, obwohl das selbstverständlich zum erweiterten
Begriff der Sicherheitsvorsorge gehört, wie er im Weißbuch niedergelegt wurde. Sie bauen immer einen Pappkameraden auf, um dann auf ihn einschlagen zu können.
In Wirklichkeit sind wir doch alle der Meinung, dass
man heute Sicherheit nicht mehr allein militärisch definieren kann.
({0})
Von daher verstehe ich die gesamte Diskussion nicht.
Welches ist nun die Aufgabe im Rahmen einer neuen
NATO-Strategie, über die wir debattieren? Zum einen
geht es 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges um
die Legitimation der NATO nach außen. Zum anderen
geht es vor allem um die Orientierung nach innen. Bei
28 Mitgliedsländern muss man zu einer gemeinsamen
Sicht der Dinge kommen. Das ist nicht einfach.
Wie die Debatte hier zeigt, stellt sich auch die Frage,
wie wir, die Fraktionen im Deutschen Bundestag, es mit
der NATO halten. Haben wir eine gemeinsame Sicht der
Dinge? Der Auswärtige Ausschuss hat dazu eine Anhörung durchgeführt. Die gute Nachricht war, dass keiner
der Sachverständigen, die die Fraktionen benannt haben,
die NATO als überflüssig bezeichnet hat. Von keinem
wurde empfohlen, die NATO abzuschaffen. Der von den
Grünen benannte Sachverständige Matthias Dembinski
von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung hat gesagt: Die NATO erfüllt erstens die Aufgabe, einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik
entgegenzustehen. Zweitens bildet sie eine transatlantische Klammer. Drittens ist sie eine kostengünstige Versicherungspolice für alle, die ohne diese Police wesentlich
nervöser wären. Sie sind deshalb nicht nervös, weil sie
sich durch Art. 5 des Nordatlantikvertrages, nach dem
ein Angriff auf einen als ein Angriff auf alle bewertet
und entsprechend beantwortet wird, sicher fühlen. Das
ist der Kern des Bündnisses. Hinzu kommen die erweiterte Sicherheit des euroatlantischen Raumes und das
transatlantische Forum für Sicherheitskonsultationen.
Wie sieht es mit der Basis der NATO im Deutschen
Bundestag aus? Wenn ich den Entschließungsantrag der
SPD-Fraktion richtig verstehe, haben wir als Koalitionsfraktionen in der Einschätzung eine große gemeinsame
Basis mit Ihnen. Sie, meine Damen und Herren von der
Linken, fordern nach wie vor die Abschaffung der
NATO, wenn ich Ihre Position richtig interpretiere. Im
Entschließungsantrag der Grünen steht nichts von den
Bedrohungen, denen wir uns im 21. Jahrhundert gegenübersehen. Es steht auch nichts von der Notwendigkeit
des Bündnisses darin. Sie konzentrieren sich auf einen
einzigen Aspekt, und so überschreiben Sie Ihren Antrag
auch: Die NATO muss abrüsten, und zwar einseitig. Von
dieser einseitigen Abrüstung der NATO versprechen Sie
sich sozusagen den Weltfrieden. Ich darf hier aus Ihrem
Antrag zitieren:
Ob die Wende hin in eine Ära der weltweiten Abrüstung gelingt, hängt insbesondere vom zukünftigen Selbstverständnis und Verhalten der NATO ab.
Das erinnert mich an Ihre Begründung des Atomausstiegs: Wenn Deutschland vorangeht, wird die ganze
Welt folgen. - Sie wissen inzwischen, dass das Gegenteil
der Fall ist.
Wo haben wir denn jetzt im Augenblick Rüstungsspiralen? Wir haben sie in Asien, Indien, Pakistan; China
rüstet auf; vor Nordkorea hat man Angst. Es gibt Aufrüstungsspiralen im Nahen Osten. Da geht es in erster
Linie um den Iran und die dortigen Konflikte und Bedrohungen. Wir konstatieren Aufrüstung in Afrika. Ist daran
die NATO schuld? Würde ein Abrüstungsprozess der
NATO dies verändern? Im Grunde genommen leidet
doch die Welt darunter, dass es gerade in Asien, in
Afrika und im Nahen Osten keine solchen Sicherheitsarrangements gibt, wie wir sie im euroatlantischen Raum
mit der NATO haben. Das ist doch das Problem, meine
Damen und Herren von den Grünen.
({1})
Nun dreht uns die Schattenbürgermeisterin von Berlin
gerade den Rücken zu. Aber der Schattenaußenminister
sitzt noch hier vorn. Herr Trittin, wenn Sie jetzt als deutscher Außenminister nach Lissabon fahren müssten,
({2})
dann hätten Sie folgende Probleme: Sie müssten erklären, warum die NATO die Augen vor der Bedrohung unserer Computersysteme verschließen soll, von denen
nicht nur die Krankenhäuser, der Straßenverkehr und die
Elektrizitätsversorgung abhängen. Sie müssten den Franzosen und Briten erklären, warum Sie für eine atomwaffenfreie Zone in Europa sind. Sie müssten vor allen
Dingen allen anderen erklären, warum Sie die Raketenabwehr in Bausch und Bogen ablehnen, für die es einen
breiten Konsens im Bündnis gibt. Mit anderen Worten:
Ein Außenminister Trittin würde Deutschland politisch
in die Isolierung innerhalb der NATO führen. Das muss
man an dieser Stelle klar sagen.
Diese Debatte dient auch dazu, hier im Hause klar
darzustellen: Wer steht hinter diesem Bündnis, hinter
dieser Strategie? Nach meiner Analyse sind das die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Die Linken
lehnen sie ab, und die Grünen wollen sie schrittweise abschaffen, indem sie für eine einseitige Abrüstung der
NATO plädieren. Das ist aus meiner Sicht das Fazit der
heutigen Debatte.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sinn und Zweck der NATO wurden nach dem Ende des
Kalten Krieges vielfach offen infrage gestellt, bis hin zu
Prognosen über den kurz bevorstehenden Zerfall des
nordatlantischen Bündnisses. Die Debatte über das neue
Strategische Konzept der NATO, das im November beschlossen werden soll, zeigt: Keine dieser düsteren Vorhersagen ist eingetreten; die NATO gibt es nach wie vor.
Sie wird eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der
neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts spielen,
so wie sie auch im letzten Jahrhundert eine Schlüsselrolle gespielt hat. Von daher ist es gut, dass das Bündnis
seinen sicherheitspolitischen Kompass an den neuen Bedrohungslagen ausrichtet und sich auch der öffentlichen
Debatte stellt. Im Kern geht es darum, gemeinsame Sicherheitsinteressen zu definieren und die dafür nötigen
Instrumente bereitzustellen.
Die NATO ist und bleibt ein transatlantisches, ein regionales Bündnis. Deswegen wird auch die Beistandsverpflichtung weiterhin ein Wesenskern der NATO sein.
Es geht allerdings nicht mehr um die Frage, ob die
NATO im Rahmen dieser Beistandsverpflichtung innerhalb oder außerhalb des Bündnisgebietes tätig wird.
Vielmehr ist entscheidend, dass die westliche Wertegemeinschaft in der Lage ist, neuen Bedrohungen ihrer
Sicherheit zu begegnen, die mit der Beistandsverpflichtung allein nicht mehr erfasst werden können. Es kennzeichnet die neuen Bedrohungslagen, dass sie vielfach
nicht militärischer Natur sind, von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen und deswegen auch nicht allein mit militärischen Mitteln bewältigt werden können. Dennoch
sind diese neuen Bedrohungen - von Angriffen auf
Computernetze über Proliferation von Massenvernichtungswaffen bis zu Terrornetzwerken - Teil einer weit
gefassten Definition des Sicherheitsbegriffs. Von daher
ist es notwendig, dass die NATO sie in ihr neues Strategisches Konzept aufnimmt.
Zu diesen neuen Herausforderungen gehört es selbstverständlich auch, dass wir die Handelswege und den
Zugang zu Rohstoffen und Energie sichern. Selbstverständlich hat Deutschland als größte Exportnation und
als eine der größten Schifffahrtsnationen ein existenzielles Interesse an der Freiheit der Handelswege. Das ist
eine Selbstverständlichkeit. Wir haben das in das Mandat „Atalanta“ für die Piratenbekämpfung vor Somalia
ausdrücklich hineingeschrieben. Das ist im Weißbuch
der Bundeswehr enthalten. Wir haben das gemeinsam
mit der SPD im Rahmen der Großen Koalition beredet.
Niemand hat infrage gestellt, dass die Bundeswehr - das
steht völlig außer Zweifel - allein auf der Grundlage des
Grundgesetzes, im Einklang mit dem allgemeinen Völkerrecht und im Rahmen der Satzung der Vereinten Nationen tätig wird.
({0})
Deshalb brauchen Sie, Herr Trittin, oder auch Sie, Herr
Ströbele, hier nicht über Handels- oder Rohstoffkriege
zu schwadronieren. Das Wort „Kanonenpolitik“ ist gefallen.
({1})
Herr Trittin, Sie sind tatsächlich verklemmt. Das ist das,
was der Bundesverteidigungsminister gemeint hat. Sie
bemühen sich, sich an ihm abzuarbeiten. Bleiben Sie
einfach locker!
Eine enge Zusammenarbeit mit Russland wird von
zunehmender Bedeutung für die NATO. Russland ist ein
Partner, mit dem wir gemeinsame Interessen haben, zum
Beispiel bei der Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen, der Bekämpfung des Terrorismus und anderen
Fragen. Allerdings gibt es weiterhin eine unterschiedliche Wahrnehmung in Bezug auf Russland innerhalb der
NATO, die unterschiedlichen historischen Erfahrungen
geschuldet ist. Deswegen ist es notwendig, dass wir
Transparenz wahren und vertrauensbildend tätig sind,
auch gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten.
Deutschland ist nicht nur im Westen fest verankert.
Vielmehr haben wir auch eine besondere Rolle in Bezug
auf Russland, wo wir hohe Wertschätzung genießen.
Deswegen ist es richtig, dass wir eine aktive Rolle spielen; das hat die Bundeskanzlerin auch getan. Ich nenne
nur den Vorschlag zur Einrichtung eines politischen und
Sicherheitskomitees auf Ministerebene, den Frau Merkel
und Herr Medwedew im Juni unterbreitet haben, oder
die bevorstehende Teilnahme von Herrn Medwedew am
NATO-Russland-Rat während des Gipfels. Das sind ermutigende Signale. Deswegen ist die Gelegenheit für
eine Annäherung Russlands an die NATO günstig. Allerdings sollte Russland auch im eigenen Interesse diese
Kooperation suchen.
Das Angebot, Russland in die Raketenabwehr einzubinden, steht. Aber es muss klar sein, dass wir der potenziellen Bedrohung, die vor allem von Kurz- und Mittelstreckenraketen ausgeht, dadurch begegnen müssen,
dass wir eine Raketenabwehr errichten, die das gesamte Bündnisgebiet abdeckt. Dabei bleibt die Erkenntnis, dass eine solche Raketenabwehr keinen absoluten
Schutz gewährleisten kann. Daher bleiben andere Formen der Abschreckung und Verteidigung einschließlich
der nuklearen Komponente notwendig, wenngleich diese
durch einen solchen Raketenabwehrschirm substanziell
an Bedeutung verlieren kann. Darin liegt die Herausforderung dieser Raketenabwehr.
Eine Lehre aus dem Einsatz in Afghanistan ist, dass
der Ansatz der vernetzten Sicherheit bei künftigen Ein7620
sätzen von Beginn an zugrunde gelegt und in die Einsatzwirklichkeit übertragen werden muss. Wir müssen
die NATO auch mit zivilen Fähigkeiten ausrüsten. Die
engere Kooperation der Europäischen Union mit der
NATO ist ein weites Feld. Die Europäische Union ist geeignet, die notwendigen zivilen Fähigkeiten in eine Kooperation mit der NATO einzubringen. Hier besteht die
große Herausforderung, die Zusammenarbeit zwischen
der Europäischen Union und den NATO-Mitgliedstaaten
zu vertiefen.
Zusammenfassend: Die NATO bleibt ein zentraler
Pfeiler unserer Sicherheit. Wir tun das Notwendige, um
sie zu stärken. Wir müssen auch die Mittel dafür bereitstellen. Wir sind beim Umbau der Bundeswehr in
Deutschland auf einem guten Weg. Ich glaube, es wird
uns gelingen, sowohl die NATO zu stärken als auch unseren Beitrag zu leisten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab-
stimmung über die Entschließungsanträge.
Zunächst rufe ich den Entschließungsantrag der SPD
auf der Drucksache 17/3677 auf. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich der Stimme? - Damit ist der Entschließungs-
antrag mit Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke auf der Drucksache 17/3678 auf. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich der Stimme? - Damit ist der Entschließungsantrag
mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.
Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke auf der Drucksache 17/3679 auf. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Mit gleicher
Mehrheit ist auch dieser Entschließungsantrag abge-
lehnt.
Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/3680
auf. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich? - Auch dieser Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition abgelehnt.
Schließlich rufe ich den Entschließungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3681
auf. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dage-
gen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dieser Entschlie-
ßungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 4 a
und 4 b:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetzes
- Drucksache 17/3481 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Sahra Wagenknecht, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Beschäftigtenrechte bei Übernahmen und
Fusionen stärken
- Drucksache 17/3540 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst erhält für die
SPD-Fraktion der Kollege Joachim Poß das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem von der SPD-Bundestagsfraktion eingebrachten Gesetzentwurf wollen wir
das geltende Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz
an einer zentralen Stelle ändern. Mit unserer Initiative
wollen wir das deutsche Übernahmerecht an den faktischen europäischen Standard anpassen und die feindliche Übernahme von Unternehmen erheblich erschweren.
({0})
- Herr Kollege Michelbach, Sie werden in zwölf Minuten noch darlegen, was daran nicht stimmt.
Wir wollen das heimliche und feindliche An- und
Einschleichen von Unternehmenserwerbern in das Unternehmen, das sie erwerben wollen, möglichst verhindern. Denn, Kollege Michelbach, alle Erfahrung zeigt:
Dieses Anschleichen bekommt den bisherigen Aktionären des Unternehmens und in der Folge dessen Mitarbeitern regelmäßig nicht gut. Das ist die praktische Erfahrung, die wir haben machen müssen.
({1})
Auch wenn der Fall Hochtief noch einmal ein Beleg
dafür ist, dass diese Novellierung überfällig ist, so geht
es bei diesem Gesetz um faire Wettbewerbsbedingungen
in ganz Europa und nicht um eine Sonderregelung in einem speziellen Fall.
({2})
- Sie schauen so skeptisch, Herr Kuhn. Die Position der
Grünen in diesem Zusammenhang ist für mich unergründlich.
({3})
Gesunde und erfolgreiche Unternehmen in Deutschland
dürfen eben nicht ins Visier von windigen Finanzinvestoren und Wettbewerbern geraten, nur weil sie derzeit an
der Börse unterbewertet sind.
({4})
Das zu verhindern, ist im gemeinsamen Interesse von
Beschäftigten und Aktionären.
Wir wollen es mit der von uns vorgeschlagenen Gesetzesänderung erschweren, dass ein hervorragendes Unternehmen wie zum Beispiel Hochtief von einem hochverschuldeten Unternehmen viel zu günstig und - auch wenn
das dementiert wird - mit dem möglichen Ziel übernommen wird, anschließend zerschlagen und filetiert zu werden, mit allen negativen Konsequenzen für die Beschäftigten. An unserem Standort sind das, glaube ich, noch
10 000. Wenn Ihnen das egal ist, okay. Dann müssen Sie
es aber auch deutlich sagen und sich öffentlich dementsprechend positionieren.
({5})
Wir wollen das nicht. Frank-Walter Steinmeier hat
recht, wenn er sagt: Die Methode „Einkaufen ohne
Geld“ hat die Welt, wie wir doch alle wissen, schon einmal an den Abgrund geführt. Jetzt ist es an der Zeit, konkret zu handeln. - Darum bitten wir Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, und zwar aller Fraktionen in diesem
Haus.
Es ist kein haltbarer Zustand mehr, dass mittlerweile
in den meisten europäischen Staaten Vorkehrungen getroffen worden sind, die das Einschleichen ausschließen
oder zumindest erschweren, aber in Deutschland nicht.
Schauen Sie bitte nach Großbritannien und Frankreich,
nach Italien oder auch nach Österreich! Es gibt keinen
Grund, dass Deutschland zurückbleibt; denn wir haben
in Europa nicht die sogenannte gemeinsame Spielfläche,
die gleichen Wettbewerbsbedingungen. Das ist trotz der
Diskussion, die wir vor nahezu zehn Jahren geführt haben, nicht erreicht worden. Wir müssen uns an den Realitäten in Europa orientieren und dürfen uns, meine Damen und Herren, nicht nur an dem orientieren, was wir
selbst für wünschenswert halten.
Der Gesetzentwurf hat Bedeutung auch über seinen
eigentlichen Inhalt hinaus,
({6})
und zwar deshalb, weil damit versucht wird, im Wirtschaftsgeschehen an einer Stelle wieder Ordnung zu
schaffen. Im Wirtschaftsleben wieder Ordnung herzustellen, das ist eines der zentralen Themen und eine Aufgabe unserer Zeit. Es hat einfach zu viele Krisen gegeben, nicht zuletzt die letzte schwere, als dass man
darüber einfach zur Tagesordnung übergehen könnte.
({7})
Das meint nicht nur, dass der Finanzsektor endlich
umfassend, wirksam und vernünftig reguliert werden
muss. Ich sage vor dem G-20-Gipfel: Was den Bereich
der Regulierung angeht, gibt es immer noch deutlich
mehr Schatten als Licht - das muss man einmal feststellen -, und dass es auch in Europa nicht mehr Licht gibt,
zum Beispiel in Fragen der Beteiligung des Finanzsektors an der Finanzierung der Kosten der Krise, hat etwas
mit der Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung zu
tun.
({8})
Sie war bis in den Mai hinein nicht in der Lage, zum
Beispiel eine Position zur Finanzmarkttransaktionsteuer
zu finden.
({9})
Es ist bis heute so, dass wesentliche Teile der Koalition
damit offenkundig Schwierigkeiten haben.
({10})
Ordnung herstellen meint auch, dass auf den Arbeitsmärkten wieder Ordnung einkehrt und der Ausweitung
von Niedriglohnbereichen entgegengewirkt wird. Das
heißt, vielleicht pathetisch gesprochen: Der Raubtierkapitalismus muss endlich gezähmt werden, auch an dieser
Stelle, die wir heute beraten. Das ist ein Teilstück, ein
Element, um den Raubtierkapitalismus zu zähmen,
meine Damen und Herren.
({11})
Das meint auch eine Initiative wie die heute zu beratende Vorlage. Wenn wir davon reden, in wichtigen wirtschaftlichen Bereichen Ordnung herstellen zu wollen,
dann müssen wir klare Regeln setzen. Wir wollen nicht
im Einzelfall eingreifen; wir wollen klare Regeln haben.
Es gebricht an diesen Regeln. Es kann Wettbewerb nicht
funktionieren, wenn kein klarer Ordnungsrahmen vorhanden ist, und der fehlt.
({12})
Wir sehen uns damit in der Tradition der deutschen
Ordnungspolitik der Mitte des letzten Jahrhunderts, Kollege Wissing. Mit den Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft sollten Sie sich einmal auseinandersetzen.
({13})
Sie scheinen keine tiefere Kenntnis davon zu haben.
({14})
Wir wollen ein Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft.
Wir lehnen die Pervertierung des Begriffs „Ordnungspolitik“ ab, die sich auch hier im Parlament in manchen
Ecken und Reihen breitgemacht und sich, wie jetzt gerade, Gehör verschafft hat. Wir lehnen ab, dass Ordnungspolitik als „Deregulierung“ und „Minimierung des
Staates“ übersetzt und missverstanden wird. Dieses Verständnis ist ohne Tradition. Es ist ein Verständnis, das
schadet und Krisen verschärft, anstatt sie zu verhindern,
wenn es effektive Politik wird.
Weil es sich bei dem, was wir vorgelegt haben, eben
nicht um einen ordnungspolitischen Sündenfall handelt,
müsste ein gemeinsames Handeln im Hause eigentlich
möglich sein. Deshalb bitte ich alle Fraktionen ausdrücklich um Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf in
der Hoffnung, dass Vertreter von Wirtschaftsinteressen,
auch wenn sie vielleicht im Kanzleramt vorstellig geworden sind, doch nicht die Rolle spielen und sich auch
nicht durchsetzen. Es wäre ein Hoffnungszeichen für die
soziale Marktwirtschaft, wenn wir uns auf eine solche
Regelung verständigen könnten.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat nun Kollege Mathias Middelberg für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen! Lieber Herr Poß, wenn es um die Verleihung
des Preises „Märchenonkel des Jahres“ ginge, dann hätten Sie mit Ihrer heutigen Rede gute Chancen, ihn zu gewinnen.
({0})
- Ich greife da schon genau richtig hinein. - Im Übrigen
habe ich den Eindruck, dass Sie am Thema ziemlich vorbeigesprochen haben. Das Horrorgemälde, das Sie hier
gezeichnet haben, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun.
Selbst wenn es dazu käme, dass Hochtief am Ende des
Tages übernommen würde, könnte das durchaus positiv
sein. Das sehen wir daran, dass es in Deutschland viel
mehr positive als negative Beispiele für Fremdübernahmen gibt.
Das Szenario einer Zerschlagung ist doch nun ziemlich unwahrscheinlich,
({1})
weil der Wert von Hochtief doch gerade in der komplexen, weltweiten Aufstellung dieses Unternehmens liegt.
Das ist doch der eigentliche Unternehmenswert. Keiner
würde so dumm sein, dieses Unternehmen tatsächlich zu
zerschlagen. Die Spanier haben sich im Übrigen ausdrücklich entsprechend bekannt und sind bereit, eine Investorenvereinbarung abzuschließen, in der der Unternehmenssitz Essen festgeschrieben wird und in der die
Börsennotierung in Deutschland und auch die Eigenständigkeit des Unternehmens und darüber hinaus sehr viel
mehr festgeschrieben werden kann.
Die Spanier haben gesagt: Hochtief soll deutsch
bleiben, Leighton soll australisch bleiben, Turner und
Flatiron sollen amerikanisch bleiben. Man kann jetzt die
Frage stellen: Wie macht es Hochtief denn mit Leighton
in Australien, bei dem es die Mehrheit hat? Das ist doch
trotzdem ein australisches Unternehmen.
Schauen wir uns auch ruhig einige andere Beispiele
aus Deutschland an: Kamps hat nicht unter der Übernahme durch Barilla gelitten, Varta hat nicht unter der
Übernahme durch Johnson Controls gelitten, und
Mannesmann, von Vodafone übernommen, ist heute
Marktführer in Deutschland, hat seinen Sitz nach wie
vor in Düsseldorf und mehr Beschäftigte in Deutschland
als zu Zeiten der Übernahme.
Es gibt - das will ich ausdrücklich sagen - aus meiner
Sicht keine Lücke im Übernahmerecht, die wir schließen
müssten: nicht wegen dieses Falls und auch nicht wegen
anderer Fälle. Den Blick auf nur eine Vorschrift, nämlich
auf die Pflichtangebotsregelung, zu richten, ist nun ausgesprochen dämlich, um es ganz deutlich zu sagen. Das
ist eine Vorschrift im Rahmen des gesamten Übernahmerechtregimes und auch im Rahmen des gesamten Konzernrechts. Wir haben eine Menge strengerer Vorschriften in Deutschland, etwa was die Preisfindung angeht.
Wir haben strengere Vorschriften in Deutschland bezüglich des Squeeze-out, also der Verdrängung von Minderheitsaktionären,
({2})
und wir haben ein wesentlich strengeres Konzernrecht
mit hervorragenden Rechten für Minderheitsaktionäre.
Das konnten wir an vielen Fällen leibhaftig erleben, insbesondere beim Übernahmeversuch von VW durch
Porsche, wo es um die Stellung der 20-prozentigen Minderheitsbeteiligung des Landes Niedersachsen ging.
Als Minderheitsaktionär können Sie, wenn Sie eine
entsprechende Sperrminorität mobilisieren, eine ganze
Menge in Bewegung setzen und eine ganze Menge verhindern.
({3})
Sie können jede Satzungsänderung verhindern, Sie können eine Kapitalerhöhung verhindern, und Sie können
vor allen Dingen Beherrschungs- und Gewinnabführungsverträge verhindern.
Entscheidend ist aus meiner Sicht etwas ganz anderes,
nämlich die Transparenz am Markt. Ich muss sehen
können, wie sich das Marktgeschehen abspielt. Kauft
sich da einer in mein Unternehmen ein? Nähert sich da
irgendjemand an? Offenheit und Klarheit des Marktes
sind also das Entscheidende. Daran arbeiten wir, und das
setzen wir mit dem Anlegerschutzgesetz um, indem wir
die Meldevorschriften deutlich verschärfen, sodass in
Zukunft Fälle wie Porsche/VW oder Schaeffler/Conti
nicht mehr möglich sind.
({4})
Das ist die entscheidende Änderung im Übernahmerecht,
meine Damen und Herren, auf die es ankommt.
({5})
Sie preisen hier das Recht der anderen Staaten in
Europa. Schauen Sie einmal nach Frankreich: Da hat
sich LVMH, dieser Luxuskonzern, beim Krawattenhersteller Hermès eingekauft. In diesem Zusammenhang ist
dort momentan eine große Diskussion darüber entbrannt,
und man ist zu dem Schluss gekommen, dass die Meldevorschriften nicht ausreichend sind. In Frankreich will
man jetzt genau die gleichen Meldevorschriften einführen, wie wir sie jetzt mit dem Anlegerschutzgesetz einführen. Das heißt, die Franzosen werden demnächst bei
uns abschreiben; denn unser Recht wird deutlich härter
sein als ihres. Wenn, dann muss ich den Blick etwas weiter richten und darf mir nicht eine einzelne Regelung
herauspicken!
Bei Hochtief war der Fall doch ganz anders, da geht
es nicht um Anschleichen und auch nicht um Einschleichen.
({6})
- Quatsch, das hat nichts damit zu tun. - Seit dreieinhalb
Jahren war ACS Aktionär und hat 25 Prozent übernommen. Vorher gab es andere Ankeraktionäre.
({7})
- Er hat gesagt: Wir bleiben Minderheitsaktionär. Das ist
schon richtig.
Dann aber kam folgender Punkt: Hochtief hat gesagt:
Wir glauben euch, dass ihr Minderheitsaktionäre bleibt,
wir vertrauen euch. Da muss man aber doch einmal fragen, ob an diesem Punkt nicht das Hochtief-Management hätte überlegen müssen, ob wenigstens der Fall zu
bedenken sei, dass sich die Spanier das eines Tages anders überlegen.
Jetzt machen die Spanier Folgendes: Anfang 2009
kaufen sie sich weitere fast 5 Prozent und sind jetzt bei
29,9 Prozent. In dieser Situation sagen sie, sie blieben
immer noch Minderheitsaktionär, man brauche sich bei
Hochtief keine Sorgen zu machen. Was will ich aber,
wenn ich 25 Prozent als Sperrminorität habe und mir
dann noch 5 Prozent dazukaufe? Da muss doch bei jedem die rote Lampe angehen. Da hätten doch alle
Alarmglocken läuten müssen.
({8})
Da hätte das Hochtief-Management in Habt-AchtStellung gehen müssen. Sie hätten morgens um fünf aufstehen und sich überlegen müssen,
({9})
wie sie unter Umständen andere Ankeraktionäre hineinbekommen, um gegen ein mögliches Umdenken der
Spanier vorzugehen, wenn sie es denn bekämpfen wollen. Sie hätten sich fragen müssen, ob sie eventuell mehr
eigene Aktien kaufen können, um selber eine Sperrminorität aufzubauen, ob sie von Inhaber- auf Namensaktien umstellen können oder ob sie die Satzung ändern
können, in dem sie die Abwahl des Aufsichtsrats erschweren, also nicht mehr mit der einfachen Mehrheit
zulassen, die ACS mit ihrem 30-Prozent-Anteil möglicherweise hat. Da wahrscheinlich nicht alle Aktionäre
auf die HV gehen, werden sie dort also 50 Prozent haben, und dann wird der Aufsichtsrat mit einfacher Mehrheit abgewählt. Das hätte man aber verhindern können,
indem man die Satzung ändert.
Dies alles haben sie nicht gemacht. Andere Unternehmen haben das gemacht; sie haben eine andere Satzung
bekommen. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von DaxUnternehmen konkret aufzählen, die das schon frühzeitig gemacht haben.
({10})
Das heißt, das Hochtief-Management hätte sich viel
frühzeitiger mit Verteidigungsvorbereitungen befassen
müssen.
({11})
- Nein, die Beschäftigten und Aktionäre sind mir überhaupt nicht egal.
({12})
Ich habe Ihnen eben auseinandergesetzt, dass die Furchtund Horrorszenarien, die Sie hier beschreiben, völlig unberechtigt und unsachgemäß sind. Ich sage es noch einmal, um es zusammenzuführen: Ich glaube, dass unser
Übernahmerecht, wenn man es insgesamt sieht, scharf
genug ist.
Der Fall Hochtief ist ein ganz anders gelagerter Fall.
Wenn Sie eine Frau oder Freundin haben, und dann
kommt Ihr guter Freund vorbei und sagt: Mensch, du
bist immer in Berlin, ich kümmere mich vielleicht einmal zwei Tage in der Woche um deine Frau. Demnächst
sagt er: Ich stocke es jetzt auf und kümmere mich auch
noch einen dritten Tag, weil du immer so häufig weg
bist.
({13})
Irgendwann werden Sie von ihm angerufen und er sagt:
Pass mal auf, ich mache dir jetzt ein Angebot für eine
Komplettübernahme.
({14})
Dann fallen Sie aus allen Wolken und sagen: Damit hätte
ich überhaupt nicht gerechnet, das konnte ich überhaupt
nicht ahnen, das überrascht mich jetzt vollständig. - Ich
erkenne nun eine Schutzlücke im Übernahmerecht, laufe
zum Gesetzgeber und sage ihm, er müsse das jetzt re7624
geln. Ich sage es jetzt ganz deutlich: Wenn ich alles verpennt habe, kann ich nachher nicht zum Gesetzgeber
laufen. So geht es nicht.
({15})
Es ist auch vollständiger Blödsinn, dass irgendwelche
Aktionäre benachteiligt würden. Der Aktienkurs von
Hochtief liegt im Moment bei 64 Euro. Das sind über
200 Prozent mehr als in der Krisenzeit; das ist der beste
Kurs seit über drei Jahren. Wenn Sie Aktionär von
Hochtief sind, können Sie, wenn Sie keine Lust mehr haben, jetzt mit gutem Gewissen verkaufen. Sie können
aber auch in dem Unternehmen engagiert bleiben; Sie
sind in keiner Weise benachteiligt.
Die gesetzliche Änderung, die Sie mit diesen 2-Prozent-Schritten hier vorlegen, wo man dann immer wieder ein neues Pflichtangebot abgeben muss, ist - das
sage ich Ihnen ganz deutlich - eine reine Lex Hochtief,
ausschließlich auf diesen Fall bezogen, und das werden
wir in diesem Verfahren nicht mitmachen.
({16})
- Ich habe Ihnen eben den Fall Frankreich erklärt. Die
Franzosen haben ganz andere Probleme, weil sie sich
nämlich um das Anschleichen nicht kümmern.
({17})
- Ich mache Ihnen jetzt einen Vorschlag dazu. Das, was
Sie vorhaben, ist kein konstruktives Übernahmerecht,
({18})
sondern es ist faktisch ein Übernahmeverhinderungsrecht. Damit gäbe es praktisch keine Übernahmen mehr.
Man muss sich fragen, ob so die Arbeitsplätze in
Deutschland dauerhaft gesichert werden und sich die
Unternehmen beständig weiterentwickeln können.
Wir sind an einem funktionierenden Übernahmerecht
interessiert. Deswegen teilen wir Ihren Vorschlag, der
ein Schnellschuss ist, nicht.
({19})
Wenn die EU im nächsten Jahr ihre Übernahmerichtlinie überarbeitet, werden wir ohnehin unsere gesammelten Erfahrungen einarbeiten.
({20})
Es mag dann Anpassungen unseres Übernahmegesetzes
geben. Eine mögliche Änderung wäre, dass für eine
Übernahme die Zustimmung der Hauptversammlung des
Zielunternehmens erforderlich ist. Das war im Übrigen
ein alter Vorschlag vonseiten der Sozialdemokratie, der
ein aus meiner Sicht vernünftiges Prozedere beinhaltet.
({21})
- Das wird jetzt doch gar nicht vorgeschlagen.
Angesichts Ihres Zwischenrufs will ich kurz auf den
Vorschlag der Linken eingehen. Die Linken schlagen
ein Vetorecht für den Betriebsrat im Fall einer Übernahme vor.
({22})
Dafür müssten wir erst einmal das Grundgesetz ändern
und Art. 14, der das Eigentum, also auch das Eigentumsrecht der Aktionäre betrifft, streichen. Dann könnten wir
uns mit Ihrem Vorschlag ernsthaft befassen. So geht es
aber nicht.
Ich sage abschließend und zusammenfassend: Hochtief ist für mich das Paradebeispiel dafür, dass sich ein
Management rechtzeitig mit der Situation des Unternehmens - wie ist die Beteiligungsstruktur der Aktionäre?
Wie kann man eine Übernahmeverteidigung gestalten? befassen muss. Aber Hochtief ist kein Fall für den Gesetzgeber.
Danke schön.
({23})
Das Wort hat nun Ulla Lötzer für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Durch
unserer Hände und Köpfe Arbeit steht Hochtief heute
glänzend da. Deshalb werden wir es nicht zulassen, dass
verantwortungslose Zocker und tatenlos zusehende Politiker unsere Jobs und die Zukunft unserer Familien gefährden. - So beschreiben die Beschäftigten von Hochtief ihren Kampf gegen die feindliche Übernahme.
({0})
Das unterstützen wir uneingeschränkt.
Unternehmen sind keine Schnäppchen auf dem Basar
für Heuschrecken und Aktionäre. Unternehmen sind
eine gesellschaftliche Veranstaltung, die nützliche Güter
und Dienstleistungen produzieren sollen. Sie genießen
den Schutz der Verfassung und haben eine soziale und
beschäftigungspolitische Verantwortung. Deshalb ist es
Aufgabe der Politik, auch die Beschäftigten wirksam zu
schützen. Ihre Arbeitsplätze, ihre Lebensplanung und die
ihrer Familien sowie ihre Würde dürfen nicht der Gier
von Zockern zum Opfer fallen.
({1})
Die Mitglieder der CDA Essen haben Ihnen und Frau
Merkel Folgendes ins Stammbuch geschrieben:
Feindliche Übernahmen durch marode Konzerne
ziehen unabsehbare Folgen, nicht zuletzt einen erheblichen Personalabbau zu Lasten des gesunden
Unternehmens nach sich.
Weiter heißt es:
Wir wollen, dass Politik und Wirtschaft dem Menschen dienen, nicht umgekehrt. Wir wollen verhindern, dass der Mensch zum Spielball wird.
({2})
Recht haben die Kolleginnen und Kollegen der CDA.
Ihre Politik straft Sie in diesem Fall allerdings seit Wochen Lügen.
Bei ihrem Besuch in Essen ist Frau Merkel nur
20 Meter an den protestierenden Beschäftigten vorbeigegangen. Sie hat sie noch nicht einmal eines Blickes gewürdigt, geschweige denn mit ihnen gesprochen. So geht
man nicht mit den Sorgen und Nöten und dem berechtigten Protest von Beschäftigten um.
({3})
Frau Merkel, Ihr Ruf nach dem rettenden Scheich ist
nur ein Witz. Die Parallele, die Sie zu Holzmann ziehen,
ist völlig unsinnig. Bei Hochtief geht es nicht um ein angeschlagenes Unternehmen. Im Gegenteil: Der Konzern
ist für ACS eben deswegen interessant, weil er erfolgreich ist und weil ACS demgegenüber mit mehr als
10 Milliarden Euro verschuldet ist. Völlig zu Recht befürchten deshalb die IG BAU, die Betriebsräte und der
Konzernvorstand sowie viele Wissenschaftler und Journalisten, dass anschließend die Zerschlagung droht, weil
ACS damit seine Schulden bezahlen will.
Wir kennen auch die Haltbarkeit von Versprechungen, Herr Middelberg. Schauen Sie sich den Fall Mannesmann an: Auch da gab es das Versprechen, dass der
Konzern nicht zerschlagen wird; kurz nach der Übernahme - nach nur wenigen Monaten - wurde der Konzern zerschlagen.
Eine solche Strategie gefährdet wirtschaftliche Entwicklung, Beschäftigung und Demokratie. Es geht um
den Schutz eines wirtschaftlich gesunden Unternehmens
vor einer feindlichen Übernahme durch ein angeschlagenes Unternehmen. Es geht um 11 000 Beschäftigte in
Deutschland und 60 000 Beschäftigte weltweit sowie um
20 000 Arbeitsplätze bei Zulieferern allein in Deutschland. Konzernchef Pérez verweigert bisher jede Antwort
auf die Frage der Betriebsräte nach Beschäftigungssicherung.
Es geht auch um den Erhalt guter Arbeit. Während bei
Hochtief Tariflöhne gezahlt werden, sind bei ACS zu
85 Prozent Leiharbeiter beschäftigt. Das sind genügend
Gründe dafür, dass sich auch ein Wirtschaftsminister Gedanken machen müsste. Konzernbetriebsrat Müller bezeichnet es zu Recht als unerträglich, dass Herr Brüderle
eine Einmischung ablehnt.
({4})
Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass eine
neue Welle von Übernahmen erwartet wird. Sie sind ein
Produkt der Wachstumskrise auf den Binnenmärkten.
Die eigene Position wird nicht durch Investitionen in
Produktionsstätten gestärkt, sondern durch den Zukauf
von Unternehmen. Deutsche Unternehmen gelten weltweit als vielversprechende Schnäppchen, weil ihr Börsenwert unter dem Unternehmenswert gehandelt wird.
Der Spiegel titelt: „Angst vor dem Ausverkauf“. In dem
Artikel heißt es, dass rund ein Dutzend der 100 größten
deutschen Unternehmen von Übernahmen gefährdet ist.
Die Monopolbildung wird verstärkt. Mittelständische
Unternehmen geraten als Zulieferer unter Kostendruck.
Es kommt zu einem Machtzuwachs transnational agierender Konzerne gegenüber Staaten und Regierungen.
Auf der einen Seite stehen hohe gesellschaftliche Folgekosten der Arbeitslosigkeit und Armut. Auf der anderen
Seite stehen Beratungsgewinne der Banken und der Finanzinvestoren, die aus der Zerschlagung auch noch ihren Profit ziehen wollen.
Herr Brüderle hat vergangene Woche ein industriepolitisches Konzept vorgelegt. Eigentlich könnte man
von Ihnen als Liberaler Maßnahmen gegen Konzentration und Monopolbildung erwarten. Davon steht jedoch
nichts in dem Konzept. Insofern hatten die HochtiefBeschäftigten mit ihrer in Berlin plakatierten Kritik
recht: FDP ordnungspolitisch am Boden - und da gehört
sie auch hin.
({5})
Kollege Poß, wir halten die von der SPD vorgeschlagenen Maßnahmen für richtig, aber nicht ausreichend.
Deshalb legen wir mit unserem Antrag weitergehende
Forderungen zur Korrektur des Übernahmerechts vor.
Uns geht es nicht um deutsche oder spanische Mehrheitseigner. Uns geht es darum, dass auch die Beschäftigten sowie ihre Gewerkschaften und Betriebsräte Mitbestimmungsrechte erhalten. Sie müssen sich ein klares
Bild davon machen können, wie ihre Zukunft in einem
neuen Konzern aussehen soll, wie ihre Standards und
ihre gewerkschaftlichen Rechte erhalten werden sollen.
Deshalb fordern wir ein Vetorecht für Betriebsräte und
Gewerkschaften bei Übernahmen.
({6})
Wir treten für das Recht auf Abschluss eines Tarifvertrages ein, der die Fragen der Beschäftigungssicherung,
des Erhalts von Standards und gewerkschaftlicher
Rechte regelt. Beschäftigte schaffen nicht nur den Unternehmenswert, sie haben auch ein Recht auf Mitbestimmung über seine Zukunft. Hier geht es nicht um ein
Schlagen alter Schlachten oder um eine Lex Hochtief.
Vielmehr geht es um die dringend benötigte Erneuerung
sozialer Demokratie.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Poß ist im Augenblick nicht mehr da; es ist
schon toll, was er hier so abliefert. Da heißt es: Die Politik soll den Unternehmen endlich einmal Grenzen aufzeigen. Wenn aber ein Unternehmen in Deutschland im
Wettbewerb Probleme hat,
({0})
dann kommt die SPD wie ein Schoßhündchen an, wackelt mit dem Schwänzchen und bietet staatliche Hilfe
an. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätten Sie General Motors Milliarden Euro deutscher Steuergelder gegeben.
({1})
Diese Bundesregierung hat das verhindert. Sie sollten
sich einmal mit sich selbst beschäftigen.
({2})
Die Vorschläge, die Sie heute machen, bedeuten doch
nichts anderes, als wieder den Unternehmen hinterherzulaufen, die sich bei Ihnen beschweren, weil sie sich im
Wettbewerb nicht zurechtfinden.
({3})
Es ist aber nicht Aufgabe der Politik, in den Wettbewerb
einzugreifen.
({4})
Was Sie uns heute vorlegen, ist ein Anliegen, das bereits in der letzten Woche im Bundesrat mehrheitlich abgelehnt worden ist.
Die Länderkammer hat den SPD-Finanzministern
recht gegeben, die in den elf Jahren ihrer Regierungszeit
ein derart verschärftes Übernahmerecht für unnötig,
wenn nicht sogar schädlich erachtet haben. Sie tun so,
als hätten Sie mit dem gegenwärtigen Übernahmerecht
überhaupt nichts zu tun. Es stammt aus dem Dezember
2001. Als manche Länder in Europa dieses Recht verschärft haben, haben Sie das abgelehnt. Die SPD hat eine
Veränderung gemeinsam mit den Grünen und auch an
der Seite der Union abgelehnt. Dennoch tun Sie heute so,
als wäre das alles völlig falsch. Heute sagen Sie, es
müsste endlich etwas passieren. Warum haben Sie denn
nicht gehandelt, wenn Sie es für richtig gehalten haben?
({5})
Entweder Sie haben das letzte Jahrzehnt in finanzwirtschaftlicher Hinsicht verpennt, oder Sie opfern Ihren
Sachverstand einem billigen Populismus. Die Antwort
auf diese Frage wird die anstehende Evaluation der
Europäischen Kommission zur EU-Übernahmerichtlinie
liefern. Die Ergebnisse werden uns 2011 vorliegen.
Dann werden wir darüber ergebnisoffen diskutieren.
({6})
Das deutsche Übernahmerecht ist, jedenfalls bisher, ein
ausgewogener Kompromiss zwischen den Interessen des
Bieters, der Zielunternehmen und der Aktionäre. Es ist
weder übernahmefreundlich noch übernahmefeindlich.
Genau so muss es auch sein.
({7})
Im Falle des Wechsels besteht das Ziel in der Übernahme der Kontrolle über ein Unternehmen. Den anderen Aktionären wird einmalig die Möglichkeit des
Ausstiegs gegeben. Damit wird den berechtigten Interessen der Anleger, auf Veränderungen bei der Unternehmenskontrolle wertschonend zu reagieren, Rechnung
getragen. Minderheitsaktionäre sollen bei Hauptversammlungen nicht Opfer neuer Mehrheitsverhältnisse
werden. Das ist ein wichtiges Anliegen. Ein derartiges
Interesse besteht aber nicht, wenn ein Mehrheitsaktionär
seine Beteiligung zum Beispiel von 46 auf 48 Prozent
ausweitet. Die Umsetzung des Vorschlags der Sozialdemokraten würde dazu führen, dass Spekulationen auf
immer höhere Übernahmepreise angeheizt werden. Der
Gesetzgeber sollte eine solche Kasinomentalität nicht
befördern. Wir jedenfalls machen das nicht mit.
({8})
Die Integrität der Finanz- und Kapitalmärkte ist
eine wichtige Voraussetzung für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland,
aber auch in Europa insgesamt. Deswegen muss marktschädigendes und manipulatives Verhalten umfassend
gesetzlich sanktioniert werden. Das ist gegenwärtig der
Fall. Der Begriff Marktmanipulation umfasst alle Handlungen, die einen Preis herbeiführen, der nicht einem unbeeinflussten Ausgleich von Angebot und Nachfrage
entspringt.
Manipulationen, die nachweislich auf den Börsenoder Marktpreis eingewirkt haben, sind Straftaten. Sie
werden nach dem Wertpapierhandelsgesetz mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe geahndet.
Dieses Recht wird in der Bundesrepublik Deutschland
konsequent umgesetzt. Besser kann der Schutz eines Anlegers vor derartigem Betrug wohl kaum sein.
Was wir auch brauchen, ist mehr Transparenz, um
verloren gegangenes Vertrauen in die Kapitalmärkte zurückzugewinnen. Die Koalition wird deshalb mit dem
Anlegerschutzgesetz bestehende Regelungslücken
schließen, die es Investoren bisher erlaubt haben, sich
durch die Übernahme von Anteilen an Unternehmen anzuschleichen. Herr Kollege Poß, wir wollen einmal festhalten: Damit schließt diese christlich-liberale Koalition
eine Regelungslücke, die Sozialdemokraten hinterlassen
haben. Es sind Ihre Versäumnisse, die uns jetzt zum
Handeln bringen.
({9})
Sie waren jahrelang untätig. Die daraus folgenden Fehler
werden jetzt berichtigt. Die seit Jahren bestehende
Schutzlücke wird von dieser Koalition geschlossen.
Die Offenheit für ausländische Investitionen in
Deutschland ist eine Grundlage für ein erfolgreiches
Engagement deutscher Unternehmen im Ausland. Mit
rund 800 Milliarden Euro Direktinvestitionen profitiert
die Bundesrepublik Deutschland von dem Vertrauen anderer Länder. Gerade vor dem Hintergrund internationaler Währungsinterventionen muss das Bekenntnis dieses
Landes zu offenen Investitionsmärkten jetzt erneuert
werden, und zwar auch, um das deutsche Engagement
im Ausland abzusichern. Es sind immer unsere Handlungen, an denen die internationalen Partner unsere politischen Absichten messen.
({10})
Angesichts dessen ist es in dieser schwierigen Situation gut für die Bundesrepublik Deutschland, dass nicht
Sie, die Sozialdemokraten, mit Ihrem Populismus, den
sie uns heute darbieten, Verantwortung tragen. Als Sie
Regierungsverantwortung trugen, haben Sie nichts getan. In der Opposition betreiben Sie blanken Populismus.
All das hilft diesem Land in dieser schwierigen Situation
nicht.
({11})
Man braucht eine besonnene Regierung wie die
christlich-liberale, die, Herr Kollege Poß, Schritt für
Schritt die Finanzmarktregulierung angeht, bei Verbriefungen verschärfte Regelungen in Deutschland umsetzt
- die Sozialdemokraten haben sie nicht umgesetzt -, die
in Deutschland eine Bankenabgabe eingeführt hat, wozu
die Sozialdemokraten nicht die Kraft hatten.
({12})
- Sie hätten es ja machen können, haben es aber nicht
getan. - Sie fordern Regulierung. Wenn wir regulieren,
sagen Sie zu allem Nein. Ein Schelm, wer Böses dabei
denkt.
({13})
Es sind immer die gleichen Muster, mit denen Sie hier
antreten. Sie fordern, dass wir Regelungslücken schließen, die Sie hinterlassen haben. Wir tun das, und Sie
sagen dann: Nein, es geht nicht weit genug. Das ist ein
billiges Spiel und ganz bestimmt keine seriöse Finanzpolitik. Sie mögen mit Ihrem Populismus von den eigenen Fehlern der Vergangenheit ablenken. Wir arbeiten
Ihre Versäumnisse konsequent Schritt für Schritt auf und
haben dabei das Interesse unseres Landes fest im Blick.
Wir wollen ein offenes Land bleiben, das für Investoren attraktiv ist. Wir wollen ein verlässlicher Partner im
Bereich der Finanzpolitik werden. Wir werden nicht, wie
Sie es gefordert haben, amerikanischen Konzernen deutsche Steuermilliarden hinterherwerfen.
({14})
Wir haben einen Bundeswirtschaftsminister, der klar gesagt hat, was geht und was nicht geht. Härte muss auch
einmal sein; aber Populismus, so wie Sie ihn betreiben,
ist unverantwortlich.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat nun Kerstin Andreae für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es sitzen Menschen an den Fernsehern, die
Angst um ihren Arbeitsplatz haben. Sie haben Existenzängste. Deswegen sollten wir hier eine sehr ernsthafte,
seriöse und zukunftsgewandte Debatte führen und keinerlei Beispiele über Freundinnen und Frauen bemühen.
Es sollte mehr der Frage nachgegangen werden: Wie
ernst nehmen wir eigentlich diese Existenzängste?
Die Menschen dürfen kein Spielball für Investoren
sein. Hinter jedem Arbeitsplatz stehen ein Mensch, eine
Familie, ein Lebensplan. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass gerade nach dieser Krise - die Menschen haben
jetzt eigentlich wieder Hoffnung, dass die Unsicherheit
vorbei ist - hier neue Unsicherheit und neue Sorgen aufkommen. Die SPD schürt bei den Beschäftigten von
Hochtief Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann. Diese
Debatte ist eine Anlegerschutzdebatte. Dieses Übernahmegesetz schützt die Anleger, die Eigentümer und
nicht die Arbeitsplätze.
({0})
Die Unsicherheit der Menschen verpflichtet uns, dieses Thema seriös zu diskutieren. Wie sichern wir die Arbeitsplätze? Gibt es für die Übernahme eine solide
Finanzierung? Ist der Wettbewerb gesichert? Sind die
Rechte der Aktionäre, insbesondere der Kleinaktionäre,
gesichert?
Ich möchte festhalten: Die Altaktionäre sind doch
nicht schutzlos. Es geht nicht um ein Anschleichen wie
bei der möglichen Fusion von Schaeffler und Conti; da
geht es um ganz andere Sachen. Es geht um ein Einschleichen - es ist erklärt worden -: Dieses Pflichtangebot bei Überschreiten der 30-Prozent-Schwelle sichert
allen Aktionären den Durchschnittspreis der letzten drei
Monate. Die Aktionäre müssen aber nicht verkaufen. Sie
können ihre Aktien auch behalten, wenn sie der Meinung sind, dass sich der Börsenpreis besser entwickelt.
Da gibt es also einen Schutz.
Ich bitte darum, dass wir den Vorschlag, ein zweites
Pflichtangebot zu ermöglichen, zu Ende denken. Was
heißt das eigentlich? Für Aktionäre wird es attraktiver
werden, ihre Aktien zu verkaufen. Die Mittel zur Deckung
der Kosten müssen irgendwie erwirtschaftet werden. Das
heißt, der Sanierungsdruck für das Unternehmen wird
sich erhöhen. Ich plädiere wirklich eindringlich dafür,
dass diese Sache zu Ende gedacht wird. Das gebietet die
Seriosität.
({1})
Mehrere Länder regeln Übernahmen. 2001 hat RotGrün die Übernahmen für Deutschland geregelt, und
zwar mit vielen Modulen. Erstens: Ein Pflichtangebot
muss vorgelegt werden. Zweitens: Die solide Finanzierung muss sichergestellt werden. Drittens: Die Informationspflichten sind ausgeweitet worden, und schließlich
haben wir keine Neutralitätsverpflichtung des Vorstands.
2004 hat man versucht, das Ganze innerhalb von Europa mit weitreichenden Öffnungsklauseln zu harmonisieren. Nationale Spielräume wurden aber unterschiedlich genutzt. Sie sagen, dass wir hier über faire
Wettbewerbsbedingungen reden. Sie sollten dabei allerdings nicht nur einzelne Länder in Europa herausgreifen.
17 EU-Mitgliedstaaten sehen nur ein Pflichtangebot vor.
Nur sechs weitere wollen ein zweites Pflichtangebot.
Spanien - ausgerechnet Spanien - hat diese Regel gerade wieder zurückgenommen.
Ich finde, dass die Neutralitätsverpflichtung für den
Vorstand, die es in Deutschland nicht gibt, ein hohes Gut
ist. Das, was Hochtief jetzt macht, mag uns nerven. Wir
meinen vielleicht, dass die Pressespiegel, die man uns
zuschickt, die Breite der Diskussion nicht ganz widerspiegelt. Aber der Vorstand darf politisch agieren; das ist
gut und richtig so.
Wir sollten uns gut überlegen, ob wir hier einen Systemwechsel wollen und die Neutralitätspflicht aufheben
möchten. Ich möchte damit sagen, dass wir Äpfel und
Birnen nicht miteinander vergleichen können. Die Regeln im Ausland sind zwar anders, aber sie sind keineswegs strenger. Es ist mir wichtig, zu sagen, dass wir in
Deutschland sehr klare Übernahmeregelungen haben.
({2})
Die solide Finanzierung liegt in der Hand der BaFin.
Was hat die BaFin gemacht? Sie hat geprüft, ob das Kapital der Spanier ausreichen würde, wenn alle Aktionäre
das Angebot annehmen würden. Das Ergebnis der Prüfung ist: ACS muss eine Kapitalerhöhung vornehmen.
Das zeigt, dass in Deutschland ein richtiges und gutes
Instrument greift. Die BaFin ist Mediator eines geordneten Übernahmeverfahrens und hat ihren Job gemacht.
Jetzt möchte ich die Debatte aufwerfen, was dieser
Vorschlag eigentlich für Deutschland in Europa bedeutet. Deutsche Unternehmen gehen auf Einkaufstour. Wir
sind auf offene Märkte angewiesen,
({3})
und zwar auch für den Erhalt unserer Arbeitsplätze.
({4})
Protektionismus schadet uns und Europa. Dies muss klar
gesagt werden.
({5})
Dennoch finde ich es richtig, dass wir die Initiative der
SPD positiv aufgreifen. Wir müssen in den Ausschüssen
über den Schutz der Arbeitnehmerrechte reden. Was
passiert im Fall von Fusionen und Übernahmen? Ich
nenne Ihnen drei Punkte, über die wir Grüne mit Ihnen
im Ausschuss diskutieren wollen.
Erstens. Die EU-Übernahmerichtlinie sieht bereits
vor, dass Betriebsrat und Aktionäre gleichermaßen über
die Angebotskonditionen unterrichtet werden. Es gibt
also Informationspflichten. Das umfasst im Übrigen
auch die Absichten des Anbieters in Bezug auf die Arbeitsplatzsicherung. Aber die Frage ist: Reichen diese
Informationspflichten aus? Müssen wir sie vielleicht
ausweiten? Das heißt, wir müssen sie einmal evaluieren.
Das ist der erste Vorschlag, über den wir mit Ihnen diskutieren wollen. Diese Evaluierung wollen wir auf den
Weg bringen.
Zweitens. ACS hat - das ist erwähnt worden - eine
Investorenvereinbarung vorgelegt. Ich möchte, dass wir
ernsthaft darüber diskutieren, ob wir Regelungen schaffen müssen, die besagen, dass ein Pflichtangebot mit einer Investorenvereinbarung verbunden werden muss.
Über diese Investorenvereinbarung wird mit dem Vorstand, aber auch mit dem Betriebsrat diskutiert; er wird
darüber informiert. Dabei geht es um Aspekte wie die
zukünftige Geschäftsverteilung, die Arbeitsplatzentwicklung inklusive einer möglichen Verlagerung und
Konsolidierung. Wir möchten also über frühzeitige Informationen über die zukünftigen Absichten des Investors, über eine Pflicht zur Vorlage einer Investitionsvereinbarung diskutieren.
Drittens. Fusionstarifverträge - diese schlagen Sie
von der Linken vor - können ein richtiges Instrument
sein, wenn sie die Möglichkeit bieten, organisatorische
Entwicklungen aufgrund von Fusionen und Übernahmen
sozialverträglich zu gestalten. Natürlich brauchen wir
das. Die Menschen haben Angst, wenn eine Übernahme
geplant wird. Sie fragen sich, was mit ihrem Arbeitsplatz
passieren wird und ob sich die Arbeitsplatzbedingungen
verändern werden. Wir wollen mit Ihnen im Ausschuss
darüber diskutieren, ob wir Fusionstarifverträge einführen, die genau dies regeln.
({6})
Wir können auch über den Schutz des Anlegers sprechen. In den USA gibt es ein interessantes Verfahren.
Das war übrigens auch einmal ein SPD-Vorschlag. Ich
weiß nicht, warum er - ich glaube, es war 1997 - in der
Versenkung verschwunden ist. Bei dem Verfahren entscheidet die Hauptversammlung - ohne die Stimmen des
Bieters - über Annahme oder Ablehnung des Übernahmeangebots. Es ist ein klassisches Dilemma. Man sitzt in
der Hauptversammlung und fragt sich: Soll ich, oder soll
ich nicht? Ist das jetzt der bessere Preis, oder bin ich
morgen weg vom Fenster? Welche Rechte kann ich den
Aktionären, auch den Kleinaktionären, im Streubesitz
geben, damit sie ihre Entscheidungsgrundlage kennen
und sehen, vor welcher Situation sie stehen? Wir möchten mit Ihnen über den Vorschlag diskutieren, dass die
Hauptversammlung über Annahme oder Ablehnung des
Übernahmeangebots entscheidet.
({7})
Ich möchte jetzt noch etwas Grundsätzliches sagen.
Wir haben in Deutschland sehr bewusst eine Entscheidung für den europäischen Binnenmarkt getroffen. Das
war gut und richtig so. Das bedeutet aber zweierlei:
Erstens muss man den europäischen Prozess begleiten. Die EU-Kommission wird sich Anfang kommenden
Jahres mit den Übernahmeregelungen insgesamt befassen und sie überprüfen. Dann ist der richtige Zeitpunkt,
auch über nationale Übernahmeregelungen zu sprechen.
Jetzt nationale und populistische Schnellschüsse zu wagen, lehnen wir ab.
Zweitens darf man Übernahmen nicht undifferenziert
erschweren, sondern man muss spezifische Interessen
berücksichtigen. Im Klartext der Grünen bedeutet das:
Das Denken in Kategorien nationaler Champions lehnen
wir ab.
Es wird Zeit, dass wir in diesem Parlament zu angemessenen Verfahren zurückfinden. In den letzten Wochen
konnten wir viele Beispiele beobachten - Euro-Rettung,
Atompolitik, Haushaltsbegleitgesetz -, an denen deutlich
wurde, dass Sie Ihre Vorhaben im Hauruckverfahren
durchgesetzt haben, ohne dass wirklich ernsthafte Diskussionen geführt worden waren. Bei diesem Thema darf
nicht das Gleiche passieren. Wir brauchen keine Schnellschüsse, sondern eine solide Gesetzgebung. Das heißt
auch, dass man nicht mit Blick auf einen spezifischen Fall
ein Gesetz ändert, ohne zu wissen, was diese Gesetzesänderung im Hinblick auf andere Fälle bedeutet.
Ich warne sehr davor, Versprechungen zu machen, die
wir nicht halten können, und Erwartungen zu schüren,
die wir nicht bedienen können. Unsere Aufgabe ist es,
Probleme zu lösen. Wir greifen Ihre Initiative auf, um
die Beschäftigten und die Arbeitnehmerrechte zu schützen. Aber wir wehren uns gegen eine Abschottung
Deutschlands.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Hans Michelbach für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zielt grundsätzlich auf den
aktuellen Fall Hochtief. Die Frage, die wir sorgfältig
prüfen sollten, lautet aber, ob ein konkreter Fall wie die
vom spanischen Baukonzern ACS geplante Übernahme
des Bauunternehmens Hochtief als Anlass für eine generelle gesetzliche Regelung taugt. Wir nehmen die Ängste
der Menschen sehr ernst. Die leeren Versprechungen und
Falschinformationen vonseiten der SPD helfen den betroffenen Arbeitnehmern allerdings nicht.
({0})
Dem Populismus der SPD fehlt es an Glaubwürdigkeit.
Es ist immer das Gleiche: Sie können nicht unterscheiden, wer letzten Endes das Primat hat. Das Primat hat
nicht Hochtief, sondern das Primat haben die Politik, das
Parlament, dieses Hohe Haus.
({1})
Ich darf Ihnen deutlich sagen: Das deutsche Übernahmerecht stellt einen ausgewogenen Kompromiss
zwischen den Interessen des Bieters und denen der
Aktionäre des Zielunternehmens dar. Der Vorwurf, dass
eine Schutzlücke oder Benachteiligung besteht, ist unabhängig zu prüfen.
Eines ist allerdings schon heute klar: Mit dem sogenannten Anschleichen hat der Fall Hochtief nichts, aber
auch gar nichts zu tun. Der spanische Konzern ACS hat
sein Vorhaben nie verschwiegen.
({2})
Er hat nicht versucht, geltendes deutsches Recht und
deutsche Richtlinien zu unterwandern. Er war schon
lange an Hochtief beteiligt. Es ist die Aufgabe des Managements von Hochtief, erfolgreich Kurspflege zu betreiben, eventuell einen weißen Ritter zu finden und die
Beteiligungen zu gewichten. Die Protestadresse im Fall
Hochtief ist das Management und nicht die Politik. Das
muss klar sein.
({3})
Es reicht in keinem Falle aus, bei einer solchen gesetzlichen Regelung zum Übernahmerecht nur die Auswirkungen auf einen konkreten Fall zu betrachten. Wir
müssen auch die Auswirkungen auf andere mögliche
Fälle bedenken und danach abwägen, ob bzw. welche
Änderungen des Übernahmerechts sinnvoll oder erforderlich sind.
Die Bundesregierung wird die Regelungen zum sogenannten Anschleichen im Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung des Anlegerschutzes überarbeiten; dabei geht es
insbesondere um Unternehmensübernahmen. Wir wollen
die Transparenzregeln verschärfen, und zwar ohne ideologische Scheuklappen.
Folgende grundsätzliche Aspekte möchte ich vorneweg verdeutlichen:
Deutschland hat ein Interesse daran, dass Investoren
in unserem Land grundsätzlich willkommen sind. Ich
rate dringend dazu, nicht den Eindruck zu erwecken, dass
ausländische Investoren bei der Übernahme von Unternehmen grundsätzlich unerwünscht sind.
({4})
Es gibt in der deutschen Unternehmenslandschaft Beispiele für erfolgreiche Unternehmensübernahmen. Dabei
konnten alle Beteiligten mit einer solchen Übernahme
sehr gut leben. Häufig wird ein Investor geradezu gesucht, insbesondere in Sanierungsfällen. Darauf sind
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem
Land angewiesen. Ich kenne viele Fälle, in denen der
ausländische Investor deutsche Arbeitsplätze gerettet
und gesichert hat.
({5})
Die Abschottung des Marktes ist ein Anschlag auf die
Arbeitsplätze in unserem Land.
({6})
Wir als Exportnation müssen einen offenen Welthandel betreiben; sonst werden wir unter Protektionismus in
dieser Welt zulasten unserer Arbeitsplätze und unseres
breit verteilten Wohlstandes leiden. Das müssen wir erkennen, und wir dürfen uns keine ideologischen Scheuklappen aufsetzen, wie Sie sie uns hier zumuten.
({7})
Bei Hochtief geht es um den umgekehrten Fall. Ich
gebe eine grundsätzliche Überlegung zu bedenken: Auch
deutsche Unternehmen wollen im Ausland investieren,
und auch deutsche Unternehmen übernehmen häufig im
Ausland Unternehmen. Wir müssen mit dieser Problematik auch unter diesem Gesichtspunkt sachlich und
fachlich ausgewogen umgehen.
Es ist richtig, dass das Übernahmerecht in fast allen
europäischen Staaten Regelungen enthält, durch die es
für die Aktionäre transparent wird, wenn jemand
30 Prozent der Stimmrechte erworben hat und sich diese
Beteiligung erhöht. Im Fall Hochtief geht es aber eigentlich nicht um die Transparenz, sondern um erneute Angebote an die Aktionäre. Genau betrachtet geht es also
um den Schutz bisheriger Aktionäre. Frau Andreae hat
es gesagt.
({8})
Das ist ein wichtiges Anliegen. Das will ich keineswegs
geringschätzen. Aber Sie kommen dem mit Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht nach.
In der europäischen Übernahmerichtlinie ist vorgeschrieben, dass die bisherigen Aktionäre geschützt werden müssen. Die Ausgestaltung bleibt zu Recht sämtlichen Mitgliedsländern überlassen. Nach dieser Richtlinie
müssen die Mitgliedsländer für den Fall, dass ein Erwerber die Kontrolle über eine Gesellschaft erlangt, Regelungen zu Pflichtangeboten an die Aktionäre treffen. Im
deutschen Recht haben wir mit der 30-Prozent-Schwelle
eine solche Regelung.
Meines Erachtens muss man sehr sorgfältig prüfen,
ob ein aktuelles Problem durch die Einführung zusätzlicher Schwellen überhaupt gelöst werden kann. Der Wert
von 2 Prozent in dem SPD-Gesetzentwurf ist natürlich
völlig aus der Luft gegriffen. Sie können mir gar nicht
sagen, wie dieser Wert zustande kommt. Auch wenn ich
das Wort „willkürlich“ nicht verwenden will, erscheint
es mir eine aus der Luft gegriffene Zahl zu sein. Gerade
vor dem Hintergrund der beabsichtigten Übernahme von
Hochtief durch ACS warne ich vor einem gesetzgeberischen Schnellschuss mit einer aus der Luft gegriffenen
Zahl. Durch diesen Einzelfall wird belegt, dass es kein
grundsätzliches Transparenzproblem gibt; ich habe es
bereits angesprochen.
Es geht also darum, dass wir mit dem Anlegerschutzgesetz das Problem des Anschleichens in Angriff nehmen, um die Nutzung bisher nicht meldepflichtiger Finanzinstrumente transparent zu machen. Seitens der
Bundesregierung ist vorgesehen, dass unterschiedliche
Stimmrechte zusammengerechnet werden müssen, damit
der Markt umfassend darüber informiert wird, wie viel
Stimmrechtseinfluss auf ein und dasselbe Unternehmen
besteht. Es muss vermieden werden, dass in intransparenter Weise erhebliche Stimmrechtspositionen aufgebaut werden können, ohne dass weder die Bundesanstalt
für Finanzaufsicht noch der Markt oder die Emittenten
frühzeitig darüber in Kenntnis gesetzt werden. Es muss
folglich eine umfassende Meldepflicht für Finanzinstrumente und -praktiken geschaffen werden. Darin sind wir
uns einig. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist.
Die Eingangsschwelle für die Meldepflicht wird bei
5 Prozent der entsprechenden Stimmrechte festzusetzen
sein. Die neuen Meldepflichten werden mit zusätzlichen
Sanktionen verbunden werden. Wir erarbeiten also eine
konkrete Lösung, die genau zur richtigen Zeit kommt
und die Probleme angeht.
Die Zielsetzung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes überschneidet sich daher mit der Zielsetzung des Gesetzentwurfs der SPD, hat
aber die wahren Ursachen der zu lösenden Probleme viel
schärfer im Blick. Wir regeln genau das, was geregelt
werden muss. Das ist etwas ganz anderes als der Populismus und der Protektionismus, die im Gesetzentwurf
der SPD zum Ausdruck kommen.
Ich glaube, es ist wichtig, dass wir auch auf den Antrag der Linken eingehen. Beim Antrag der Linksfraktion geht es faktisch nicht um eine Änderung des Übernahmerechts, sondern um den plumpen Versuch,
({9})
die Mitbestimmung in Deutschland eklatant auszuweiten
und insgesamt weiter an der arbeitsrechtlichen Regulierungsschraube zu drehen.
({10})
Das Ziel ist einzig und allein ein verfassungsrechtlich
höchst problematischer, wenn nicht von vornherein ausgeschlossener Eingriff in die unternehmerische Freiheit.
Ich nenne nur das Stichwort „Vetorecht des Betriebsrats
gegenüber Fusionen und Übernahmen“. Was Sie vorhaben, ist gegen unser Rechtssystem und die soziale
Marktwirtschaft.
({11})
Sie haben die soziale Marktwirtschaft immer noch
nicht begriffen, ebenso wenig wie ihre Vorteile.
({12})
Das ist DDR-Politik, die Sie weg von der sozialen
Marktwirtschaft, in der Eigentumsrechte großgeschrieben werden, hin zum Volkseigentum führt. Sie sollten
nachlesen, wohin die DDR-Wirtschaftspolitik und das
sogenannte Volkseigentum geführt haben.
({13})
Dazu sage ich Ihnen ganz deutlich: So etwas in einem
freiheitlichen Staat mit einer sozialen Marktwirtschaft
vorzutragen, ist bodenlos.
({14})
Es geht hinsichtlich der Auswirkungen solcher Übernahmen auf die Arbeitnehmer letzten Endes darum, die
besseren Lösungen der sozialen Marktwirtschaft anzuwenden. Das Übernahmerecht ist - das gebe ich zu - außerordentlich kompliziert. Es bedarf sorgfältiger Abwägungen statt Schnellschüsse. Protektionismus zugunsten
unserer Unternehmen mag auf den ersten Blick immer
wieder verlockend sein - die SPD fällt grundsätzlich immer darauf hinein -; in einem europäischen Binnenmarkt
sollte allerdings die Diskussion über Unternehmensübernahmen nicht unter dem Stichwort „Nationalisierung“
erfolgen.
({15})
In der Globalisierung darf es keinen Nationalismus und
Protektionismus geben.
({16})
Das ist die entscheidende Wegführung.
Ich lehne es als unabhängiger Abgeordneter ab, die
Frage der Übernahme von Hochtief durch ein anderes
europäisches Unternehmen zu bewerten und mit Nationalismus in diesen Prozess einzugreifen. Ich weiß nicht,
wie dieser Fall ausgeht. Ich finde es auch nicht zielführend, wenn der Staat versuchen will, solche Prozesse
durch gesellschaftliche Schnellregelungen zu steuern.
Das Grundanliegen der SPD-Fraktion ist immer diskutabel; aber wir müssen es vom Einzelfall loslösen.
Vonnöten ist letzten Endes ein Gesetzentwurf, der auf
Lösungen für die richtigen Problemfälle abzielt. Das will
sorgfältiger bedacht sein, als es dieser Gesetzentwurf der
SPD mit herausgegriffenen Zahlen und neuen Schwellenangaben vorsieht.
Ich glaube, dass wir in dieser Frage auf dem richtigen
Weg sind. Es ist ein Signal notwendig, dass freier Welthandel, freie Märkte und Schutz vor Abschottung oberste
Priorität haben, weil wir als Exportnation im Hinblick auf
den Erhalt unserer Arbeitsplätze darauf angewiesen sind.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat nun Petra Hinz für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Michelbach, genau das wollen wir nicht: unseren
Gesetzentwurf, den wir heute eingebracht haben, anhand
eines Einzelfalles diskutieren. Die Fachleute, die Professoren, die Juristen, die Wirtschaftsverbände, das Management in Nordrhein-Westfalen, der Kreis, der sich
dort regelmäßig trifft und uns immer Informationen zukommen lässt, bestätigen uns und damit den Gesetzentwurf, den wir hier heute einbringen. Sie bestätigen, dass
diese Gesetzeslücke auf jeden Fall geschlossen werden
muss.
Machen wir uns nichts vor: Natürlich sind die deutschen Unternehmen Übernahmeattacken fast schutzlos
ausgeliefert.
({0})
Ich rede hier nicht über die Frage des Managements eines Unternehmens. Das haben wir hier gar nicht zu beurteilen und zu bewerten. Vielmehr reden wir hier heute
über das, was wir zu Veränderungen im Rahmen der
Übernahme einbringen. Außerdem ist es wichtig, die Interessen der Kleinaktionäre, der freien Aktionäre zu berücksichtigen. Auch darüber gehen Sie einfach mit dem
Argument hinweg: Die können ja auf der Hauptversammlung anwesend sein.
Angesichts dessen, dass Sie jetzt so locker mit dem
ganzen Thema umgehen, verstehe ich die Gedanken, die
Herr Schauerte 2001 in die Debatte eingebracht hat,
nicht. Ich empfehle Ihnen jedoch, das Protokoll vom
11. Oktober 2001 nachzulesen. Er hat seinen Wortbei7632
Petra Hinz ({1})
trag zu Protokoll gegeben. Es ist durchaus interessant,
wie Sie in so kurzer Zeit Ihre Position verändern und
sehr unsachlich und polemisch werden.
Die Kritiker sprechen von freiem Wettbewerb - ich
habe es auch hier gehört -, von weniger Einmischung
usw. Aber genau darum geht es uns nicht. Es soll kein
Unternehmen protegiert werden. Darum geht es doch
überhaupt gar nicht, Herr Michelbach.
({2})
- Darum geht es in der Tat nicht. Es geht um Wettbewerbsgleichheit, die geschaffen werden soll.
Wenn wir einmal bei aller Polemik, die hier auch zum
Ausdruck kam, tatsächlich alle Informationen additiv sähen, sähen Sie, dass jeder Wortbeitrag verdeutlicht, dass
es tatsächlich Lücken gibt. Wir müssen für jede Lücke,
die wir in unserem Gesetz haben, prüfen, in welcher
Weise wir sie im Rahmen der Harmonisierung auf europäischer Ebene schließen können. Das haben Sie auch in
jedem einzelnen Wortbeitrag bestätigt.
Ich kann nicht nachvollziehen, dass sich Unternehmen, weil es in anderen europäischen Staaten verboten
ist, zum Nachteil Deutschlands hier an unserem Standort
austoben können sollen. Andere Länder haben damit tatsächlich ganz andere Erfahrungen gemacht. In diesem
Zusammenhang zitiere ich Professor Schneider, der die
Beispiele Großbritannien oder Schweiz immer wieder
hervorhebt. Er macht deutlich, welche Chancen für eine
solide Übernahme in Großbritannien bestehen, trotz der
Regelungen, die es in Großbritannien gibt. Dort ist nämlich vorgesehen, dass Aktionäre, die mit mehr als
30 Prozent, aber noch immer unter 50 Prozent an Unternehmen beteiligt sind, ein erneutes Angebot machen
müssen, wenn sie mindestens 2 Prozent der Aktien zukaufen. Wo ist das Problem, wenn es in Großbritannien
kein Problem darstellt? Hier wird es von Ihnen zu einem
Popanz stilisiert. Nein, so sagen Sie, Sie wollen an diesen Bereich nicht herangehen.
Ähnliche Regelungen gibt es in Österreich, Frankreich, Italien, Irland und auch in der Schweiz. In der
Schweiz wird die ganze Sache noch restriktiver gehandhabt. Darüber wollen wir in diesem Fall überhaupt nicht
reden,
({3})
weil nach der Regelung, die die Schweiz im Rahmen ihrer Gesetzgebung auf den Weg gebracht hat, niemand
mehr als 2 bis 5 Prozent der Aktien erwerben darf. Dies
schließt unser Aktiengesetz grundsätzlich aus.
In der Zeit, in der unsere europäischen Nachbarn Derartiges auf den Weg gebracht haben, lamentieren wir, zögern wir, zaudern wir. Wir tun nichts, um diese Gesetzeslücke zu schließen, um dieses Detail im Aktiengesetz
zu korrigieren.
Im Fall von ACS gibt es zumindest einen weiteren
Grund, große Sorge zu haben; es ist hier auch kurz angesprochen worden. Der spanische Konzern ist hoch verschuldet. Eine Zerschlagung der bisherigen Struktur von
Hochtief ist durchaus möglich. Wir wissen genau, dass
all das, was im Zusammenhang mit Übernahmen vertraglich versprochen wird, spätestens nach einem Jahr
keinen Wert mehr hat. Insofern müssten wir aufgrund
unserer Erfahrungen wissen, dass das, was ACS jetzt gerade verspricht, um sich attraktiv zu machen, an den
Haaren herbeigezogen ist.
({4})
Zusammenfassend stelle ich fest: Erstens. Was in anderen europäischen Staaten verboten ist, darf nicht zum
Nachteil von deutschen Unternehmen und zum Nachteil
unseres Industriestandortes Deutschland gereichen. Das
ist sehr wichtig.
Zweitens. Deutschland fördert Industriepolitik und
keine Kapitalspekulation, wie wir es hier bei ACS in diesem Fall tatsächlich vorfinden.
({5})
Drittens. Darüber hinaus geht es um den Schutz der
Kleinaktionäre vor Geringfügigkeitsangeboten. Ich muss
nicht extra auf das Verhalten der Deutschen Bank, der
Deutschen Post und der Postbank hinweisen. Es ging darum, dass Ackermann die Postbank übernehmen wollte.
Ackermann ist so selbstsicher, dass er bereits von Personalabbau redet. Es gibt also genügend Beispiele. Aber
Ackermann schreibt die Gesetzentwürfe für die Regierung und die Redeentwürfe für die entsprechenden Gipfeltreffen.
({6})
Viertens. Wir müssen verhindern, dass die Teilhabe
der Arbeitnehmer an der Vermögensbildung durch Spekulation konterkariert wird. Ich würde mich sehr freuen,
wenn Sie unabhängig von dem Fall, der gerade in der
Öffentlichkeit diskutiert wird, die Protokolle von 2001
noch einmal durchlesen würden, damit wir zu einer gemeinsamen Lösung kommen. Die Lösung besteht darin,
dass Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Frank Schäffler für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das
Thema, über das wir heute diskutieren, hat meiner Ansicht nach zwei Aspekte. Einmal geht es um die Frage,
ob wir in Deutschland das Übernahmerecht im Sinne der
Minderheitsaktionäre ausreichend geregelt haben. Meine
Vorredner haben aus meiner Sicht dazu schon viel Richtiges gesagt.
({0})
- Herr Poß hat viel Richtiges gesagt, vor allem als er gesagt hat, dass es nicht um den Einzelfall geht. Aber die
Redner der SPD beziehen sich auf diesen Einzelfall, und
beide haben ihren Wahlkreis dort, wo das Unternehmen
seinen Sitz hat. ({1})
Sie sollten die Diskussion hier ehrlich führen und nicht
über den Themen schwimmen. Ich glaube, Sie versuchen, dieses Thema zu instrumentalisieren, um vor Ort
Punkte zu machen. Das ist aber zu wenig für diese Diskussion.
({2})
Ich glaube, wir korrigieren mit dem Anlegerschutzgesetz etwas, was für die Kleinaktionäre, aber auch die
Anleger in Deutschland entscheidend ist. Es geht um die
Frage, ob sich jemand mithilfe von Finanzinstrumenten
an ein Unternehmen heranschleichen darf oder nicht und
ob dieses Verhalten im Rahmen der Meldeschwellen berücksichtigt werden muss. Die Korrektur, die Sie im
Jahr 2008 nicht gemacht haben, führen wir jetzt durch.
Ganz viele Kleinanleger in Deutschland hatten erhebliche Vermögensverluste zu verzeichnen. Ich erinnere an
den Versuch von Porsche, VW zu übernehmen. Das hat
am Ende dazu geführt, dass Kleinanleger, die in Aktienfonds, die an den Deutschen Aktienindex gekoppelt waren, investiert hatten, zusätzliche Aktien kaufen mussten, weil die Gewichtung von VW im Deutschen
Aktienindex angestiegen ist. Das hat zu einem massiven
Vermögensverlust gerade der Kleinanleger beigetragen.
Dagegen haben Sie in Ihrer Regierungszeit nichts unternommen. Das korrigieren wir jetzt.
({3})
Das ist aber nur der eine Aspekt. Der andere Aspekt
betrifft die Frage - das ist ganz entscheidend -, ob man
den protektionistischen Reflexen, die man gemeinhin
sehr schnell hat, nachgeben will oder nicht. Da schreibe
ich Ihnen ins Stammbuch: Das, was Sie hier machen, ist
im Kern geschichtslos. Es ist deshalb geschichtslos, weil
Sie aus der Finanzkrise der vergangenen Jahre, Jahrzehnte und vielleicht sogar Jahrhunderte nichts gelernt
haben; denn Krisen haben sich immer dann besonders
verschärft, wenn sich die Länder dieser Welt mit
Abwehrmaßnahmen durch Erhöhung der Zölle, aber
auch bei Regelungen zum Übernahmerecht gegenseitig
hochgeschaukelt haben.
({4})
- Das ist nicht irgendeine Analyse, sondern das ist die
Analyse, mit der Sie sich stärker beschäftigen sollten.
({5})
Kenneth Rogoff - kein Unbekannter - hat dieser Tage
eines, wie ich finde, der bemerkenswertesten Bücher seit
langem mit dem Titel Dieses Mal ist alles anders. Acht
Jahrhunderte Finanzkrisen vorgelegt. Er hat, wie ich
finde, sehr treffend dargestellt, was in Finanzkrisen immer das Problem ist. Er schreibt:
… war der Kollaps des internationalen Handels nur
zum Teil ein Nebenprodukt des steilen Rückgangs
der Wirtschaftsaktivität, der von rund 10 Prozent in
Westeuropa bis rund 30 Prozent in Australien, Kanada, Neuseeland und den USA reichte. Der andere
destruktive Faktor war die weltweite Zunahme des
Protektionismus, sowohl in Form von Handelsbarrieren als auch gezielten Abwertungen der eigenen
Währung zum Schaden anderer Exportländer.
({6})
Genau darum geht es eigentlich in dieser Auseinandersetzung. Sie betreiben jetzt billige Polemik für billige
Münze, aber faktisch geht es um viel mehr. Es geht darum, wie unser Finanzsystem stabilisiert wird und dass
wir uns nicht in eine Protektionismusspirale hineinbegeben, in der wir uns gegenseitig hochschaukeln. Denn
das ist das eigentliche Problem, das wir international haben. Deutschland sollte als Land, das den Freihandel immer befürwortet hat, das die Kapitalverkehrsfreiheit immer obenan gestellt hat, alles tun, um nicht in diese
Interventionsspirale hineinzugeraten. Das ist das Entscheidende in dieser wichtigen Phase.
({7})
Märkte öffnen und nicht Märkte schließen - das ist
die eigentliche Botschaft, die von diesem Parlament ausgehen sollte.
Vielen Dank.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Axel
Troost das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines muss noch einmal ganz deutlich gesagt werden: Das,
was Hochtief droht, hängt wie ein Damoklesschwert
über vielen deutschen Unternehmen. Für ein börsennotiertes Unternehmen ist der Zugang zum Kapitalmarkt
zwar gesichert, wodurch sich die Situation auf den ersten
Blick verbessert. Doch machen wir uns nichts vor: Die
Bedrohung ist nahezu immer vorhanden. Gemeint ist die
Gefahr des Aufkaufs, der feindlichen Übernahme oder
gar der Plünderung, je nach Blickwinkel und Auge des
Betrachters.
Ein wesentliches Problem ist das deutsche Aktienund Kapitalrecht selbst. Es zwingt die börsennotierten
Unternehmen, übernahmeoffen zu sein, und dies um jeden Preis.
Darum geht es, Herr Michelbach. Es geht nicht darum, dass es Sanierungsfälle gibt, in denen es sicherlich
sinnvoll ist, dass Unternehmen einsteigen. Vielmehr geht
es um feindliche Übernahmen, um die Gefahr, dass anschließend filetiert wird, dass Massenentlassungen zur
Erzielung kurzfristiger Profite erfolgen, dass Unternehmensteile stillgelegt werden. Insoweit sind wir in der Tat
der Ansicht, dass die dortigen Belegschaften ein Mitspracherecht haben müssen.
({0})
Das hat nichts mit der DDR zu tun, so wie Sie es hier
darzustellen versucht haben.
({1})
Die Offenlegungspflichten sind bei wesentlichen
Beteiligungen völlig unzulänglich. Das haben wir im
Fall von Continental und im Fall von VW heute schon
mehrfach gehört. Ein solches „heimliches Anschleichen“ wird durch den kürzlich vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Anlegerschutz nicht
wirklich eingeschränkt.
Hierzu möchte ich aus einem Kommentar der BörsenZeitung zitieren, die bekanntlich nicht die Hauspostille
von Belegschaften, Gewerkschaften oder der Linken ist.
Darin steht:
Nur leider, leider ist der Regierungsentwurf für das
Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz
Flickschusterei.
Das ist genau das Problem, mit dem wir hier konfrontiert
sind.
({2})
Eine Politik des Stillhaltens und des Aussitzens spielt
weiter Heuschreckeninvestoren in die Hände. Belegschaften mittelständischer Unternehmen drohen zum
Spielball von Konzernen und Private-Equity-Gesellschaften zu werden. Deswegen muss aus unserer Sicht
gehandelt werden. Wir finden, das, was von der SPD
vorgelegt worden ist, geht in die richtige Richtung, wenn
auch aus unserer Sicht die Frage der Belegschaftsbeteiligungen noch mehr berücksichtigt werden sollte.
({3})
Es ist in der Tat so - das ist hier auch erwähnt worden -,
dass es international auch andere Beispiele gibt, aus denen man lernen kann und die man mit einbeziehen muss.
Es geht nicht um Protektion, so wie das eben von der
FDP dargestellt worden ist.
({4})
Vielmehr geht es darum, eine langfristige und vernünftige Unternehmensentwicklung zu gewährleisten. Dabei
können selbstverständlich auch Übernahmen sinnvoll
sein, aber sie müssen transparent sein. Die Anlegerinnen und Anleger, aber eben auch die Belegschaften müssen vernünftig geschützt werden.
({5})
- Nein, das ist eben kein Einmauern, aber auch keine
völlige Offenheit und kein Nichtwissen darüber, was dabei herauskommt.
Ich möchte noch einmal aus der Börsen-Zeitung zitieren:
({6})
Wir haben dazugelernt. Es ist Zeit, den Störtebekern des Kapitalmarkts entgegenzutreten.
({7})
Es ist Zeit, die Satzungsfreiheit der Aktionäre wieder anzuerkennen. Es ist Zeit, für eine lückenlose
Offenlegungspflicht einzutreten. Flickschusterei
hilft nicht.
Darum geht es.
Hier ist gesagt worden: „Wir haben dazugelernt.“ Ich habe in der Debatte das Gefühl gehabt: Die FDP hat
überhaupt nichts dazugelernt, sondern setzt weiter ausschließlich auf Marktradikalität. Die CDU verspricht,
aber handelt nicht wirklich.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat nun Kollege Ralph Brinkhaus für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist
eine emotionale Debatte. Das ist eine emotionale Debatte für uns, aber auch für die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter von Hochtief, die jetzt sicherlich vor dem
Fernsehschirm sitzen. Wir haben das gemerkt durch die
Briefe, die uns erreicht haben - von den Mitarbeitern
und Mitarbeiterinnen, vom Verband der Bauindustrie,
vom Management -, durch die Demonstrationen und
durch viele persönliche Gespräche. Aber gerade weil es
eine emotionale Debatte ist, macht es Sinn, die Sache
einmal sehr kühl und sachlich anzugehen.
Wenn ich die Sache sehr kühl und sachlich angehe,
stelle ich mir die Frage: Ist es eigentlich ein ungewöhnlicher Vorgang, dass eine Unternehmensgruppe eine andere Unternehmensgruppe mehrheitlich übernimmt?
Schauen wir doch einmal in die Geschichte der Firma
Hochtief! Die Geschichte der Firma Hochtief ist von
Übernahmen geprägt. Da ist zum Beispiel Leighton in
Australien, 1983, ein großer Baukonzern, der wiederum
einen anderen Baukonzern, Holland, und arabische Baukonzerne übernommen hat. Da können wir über die Turner-Gruppe in den USA reden, börsennotiert, auch von
Hochtief übernommen. Da können wir über Lufthansa
Gebäudemanagement reden, hier in Deutschland zusammengekauft, auch übernommen.
Wir können den Blick weiten und uns die Bauindustrie insgesamt anschauen, etwa den zweiten großen Spieler auf dem deutschen Markt: Bilfinger Berger. Die Liste
der Akquisitionen von Bilfinger Berger jetzt zu verlesen,
würde den Rahmen sprengen. Ich sage dazu nur: M + W
Zander, Abbey-Group in Australien und viele weitere
Akquisitionen.
Betrachten wir doch einmal unsere bundeseigenen
Unternehmen oder die Unternehmen, die unter unserem
Einfluss stehen! Die Deutsche Post hat übernommen
Exel in Großbritannien, DHL in den USA,
({0})
Airborne in den USA,
({1})
im Übrigen finanziert durch die Monopolgewinne aus
dem Briefgeschäft, was ordnungspolitisch bedenklich
ist. Wir können uns die Deutsche Bahn anschauen. Die
Deutsche Bahn hat die Stinnes AG übernommen. Die
Deutsche Bahn hat jetzt einen großen englischen Verkehrsdienstleister übernommen. Wir können uns auch
die Telekom anschauen mit Voicestream in den USA
oder OTE in Griechenland und vielen anderen.
Wenn wir uns die Flaggschiffe im DAX anschauen:
Daimler ist aus einer Fusion von Daimler und Benz entstanden. RWE und Eon haben sich durch Übernahmen
und durch Akquisitionen so aufgestellt, wie sie jetzt aufgestellt sind.
({2})
Die Geschichte von Volkswagen, um einmal dieses Unternehmen zu nennen, ist eine Geschichte von Akquisitionen, beginnend von Auto-Union über Skoda und Seat
bis hin zu Porsche.
Also ist es im Grunde genommen ein relativ normaler
Vorgang in der Marktwirtschaft, dass Unternehmen gekauft werden,
({3})
verkauft werden, fusioniert werden oder auch zerschlagen werden. Das ist nichts Ungewöhnliches, in der
Marktwirtschaft wahrscheinlich sogar funktional.
Betrachten wir einmal den Vorgang an sich, den Einzelfall! Der Kollege Middelberg hat eben eindrucksvoll
und auch sehr plastisch geschildert: Es ist nicht eine
wirkliche Überraschung, dass ACS nach der Mehrheit
bei Hochtief greift; das war abzusehen. Insofern kann
ich an diesem Vorgang, abgesehen von einigen Begleiterscheinungen, nichts Ungewöhnliches erkennen.
Jetzt könnte ich eigentlich einen Strich unter die Sache ziehen und sagen: Dann ist ja alles gut, aber das will
ich ausdrücklich nicht machen, weil wir - das gilt auch
für uns als Union - durchaus viele Störgefühle bei diesem Prozess haben.
Das erste Störgefühl ist, dass es ausgerechnet ein spanisches Unternehmen ist, das jetzt einen großen deutschen Konzern übernehmen will. Wir alle erinnern uns
noch an einen Fall vor einigen Jahren. Da wollte die
deutsche Eon Endesa übernehmen, einen großen spanischen Versorger, und die spanische Regierung hat wirklich alles getan, um, auch mit unfairen Mitteln, diese
Transaktion zu verhindern. Insofern bleibt da ein Nachgeschmack. Wir könnten das auch auf Frankreich ausdehnen. Da war es das Unternehmen Siemens, das bei
Alstom einsteigen wollte. Es muss schon gelten: wenn
faire Regeln, dann überall faire Regeln.
({4})
Zweites Unwohlsein. Ich habe meine Zweifel, ob das,
was ACS sagt, dass man einfach nur eine höhere Beteiligung haben wolle, weil man eng kooperieren wolle, so
richtig ist. Man kann sich durchaus darüber unterhalten:
Wird diese Transaktion gemacht, um die Bilanz von
ACS aufzubessern? Wird diese Transaktion gemacht, um
Hochtief nachher zu zerschlagen?
({5})
Ich weiß es nicht. Man kann es erst einmal so stehen lassen.
Zum dritten Punkt, den ich sehr ernst nehme. Die
deutsche Bauindustrie spricht von industriepolitischen
Problemen und sagt: Das Gefüge in Deutschland, das
Netzwerk aus gesunden Mittelständern und großen Unternehmen, die notwendig sind, um große Projekte abzuwickeln, wird durcheinandergebracht. - Das muss man
ernst nehmen.
Vor allen Dingen muss man eine Sache ganz ernst
nehmen: Das ist die emotional sehr individuelle Situation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in einer Tochtergesellschaft
von Hochtief oder wo auch immer.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Das machen wir nachher als Kurzintervention oder
wie auch immer. - Wenn Sie also in einer Tochtergesellschaft von Hochtief oder wo auch immer Ihrem Job
nachgehen, Ihre Arbeit ordentlich machen, sich ein
Netzwerk im Kollegenkreis aufgebaut und Wissen angeeignet haben und sogar Geld für Ihr Unternehmen verdienen, dann erwarten Sie, dass Sie Ihr Gehalt bekommen, und Sie erwarten auch eine gewisse Planungs- und
Arbeitsplatzsicherheit. Ich denke, das ist fair. Dann aber
entscheidet irgendjemand in Madrid am grünen Tisch
und sagt: Das können Sie aus strategischen Gründen alles vergessen. Das interessiert mich nicht mehr. Ihr Firmenteil wird zerschlagen, verkauft oder fusioniert. - Das
ist sehr schwierig. Das bringt auch die Balance zwischen
Arbeitnehmern und Arbeitgebern durcheinander. Das ist
nicht gut. Das muss man einmal so stehen lassen.
({0})
Wenn ich jetzt mir das Spannungsfeld anschaue zwischen der Tatsache, dass Unternehmensakquisitionen
marktwirtschaftlich üblich sind, deutschen und auch
bundeseigenen Unternehmen genützt haben, und den
Bedenken, die ich gerade geschildert habe, stellt sich mir
die Frage: Wie gehe ich damit um bzw. wie gehe ich damit nicht um?
({1})
Ich gehe damit nicht um, indem ich mich auf Betriebsversammlungen stelle und das Blaue vom Himmel verspreche.
({2})
Seit Philipp Holzmann ist das in der deutschen Politik
Mode geworden, insbesondere bei der Sozialdemokratie,
solche Versprechungen zu machen. Der Erfolg war immer äußerst übersichtlich.
({3})
Das trägt auch zum Glaubwürdigkeitsproblem der Politik bei.
Im Übrigen frage ich mich, wo bei dieser wichtigen
Debatte Ihre Protagonisten sind. Wo ist denn Herr
Gabriel? Ich sehe ihn hier heute nicht. Daran sieht man,
wie ernst er dieses Thema nimmt.
({4})
Weiterhin kann man jetzt auch nicht die Regierung
auffordern, sich etwas Kreatives zu überlegen, um zu
verhindern, dass Hochtief übernommen wird. Meine Damen und Herren, wir leben immer noch in einem Rechtsstaat.
({5})
Das bedeutet, dass Regeln verlässlich sein müssen. Kreativität in Übernahmeprozessen mag vielleicht die Politik der spanischen oder der französischen Regierung
sein, aber nicht unsere. Das tun wir nicht. Das machen
wir nicht.
({6})
Schließlich geht es auch nicht an, das Problem darauf
zu verengen, dass man sagt, an dieser Situation sei die
Politik schuld, weil sie es versäumt habe, Lücken im
Übernahmerecht zu schließen. Das ist, meine Damen
und Herren, Quatsch. Das ist Blödsinn. ACS hätte diese
Transaktion auch durchgeführt, wenn wir die von Ihnen
vorgeschlagene Regelung gesetzlich verankert hätten.
({7})
Das ist im Grunde genommen eine unzulässige Verengung dieses Problems. Sie streuen den Menschen Sand
ins Auge. Sie erzählen den Menschen die Unwahrheit.
({8})
Damit komme ich zu dem Punkt, wie man mit so einem Problem umgeht.
Das Erste ist, dass man den Menschen auch in
schwierigen persönlichen Situationen die Wahrheit
sagt. Die Wahrheit lautet: Unternehmen werden gekauft,
verkauft, fusioniert und zerschlagen. Das gehört zur
Marktwirtschaft dazu. Das hat uns oftmals auch genützt.
({9})
Aus der individuellen Perspektive mag das zu negativen
Begleiterscheinungen führen.
({10})
Aber man kann nicht nur die positiven Seiten der Marktwirtschaft mitnehmen und die negativen ausblenden.
Das geht nicht, meine Damen und Herren.
({11})
Ein zweiter Punkt, der sehr wichtig ist: Wenn faire
Regeln gelten, wenn Transparenz auf Kapitalmärkten
gelten soll - darauf ist Deutschland als Wirtschaftsnation
angewiesen, weil wir eine Exportnation sind und viele
Beteiligungen in anderen Ländern haben -, dann müssen
wir dafür sorgen, dass diese Regeln auch in Spanien,
Frankreich und Deutschland gelten. Deshalb kann ich
die Bundesregierung - das gilt auch für die Bundesregierung, die vorher im Amt war, bevor Sie jetzt grinsen,
Herr Heil - nur auffordern, hier mehr zu tun. Wir haben
uns da in der Vergangenheit viel zu viel gefallen lassen.
({12})
Wir sollten energisch darauf drängen, dass gleiche
Regeln für alle gelten.
({13})
Das sollten wir auch einmal der EU-Kommission mitteilen, die hin und wieder einen unterschiedlichen Maßstab
bei Dingen, die in Deutschland passieren, und Dingen,
die im Rest Europas passieren, anlegt.
({14})
Der nächste Punkt, der relativ entscheidend ist - das
wurde oft gefordert -, ist, Industriepolitik zu betreiben,
aber nicht Industriepolitik in dem Sinne, wie Sie sie verstehen. Industriepolitik bedeutet nämlich nicht, Strukturen zu konservieren. Industriepolitik bedeutet nicht - insofern war das ein kluger Beitrag von Ihnen, Frau
Andreae -, nationale Champions heranzuzüchten. Das hat
immer nur dazu geführt, dass die eigene Volkswirtschaft
wie unter einer Käseglocke lebte und schwächer geworden ist. Eine gute Industriepolitik bedeutet, vernünftige
Rahmenbedingungen zu schaffen, das heißt ein vernünftiges Steuerrecht, ein vernünftiges Arbeitsrecht und ein
vernünftiges Klima für Innovationen und Bildung. Das
tun wir, meine Damen und Herren.
({15})
Der letzte entscheidende Punkt - insofern verweise ich
wiederum auf den Vortrag der Kollegin Andreae von den
Grünen, der in weiten Teilen sehr klug war -: Wir müssen
uns überlegen, ob unser Arbeitsrecht, unser Gesellschaftsrecht und unser Wertpapierrecht tatsächlich die
Beteiligten am Transaktionsprozess ausreichend schützen. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich der Meinung, dass wir
im Arbeitsrecht schon sehr weitgehende Schutzvorschriften haben - ich denke hier an § 613 a BGB mit einer sehr
exzessiven Rechtsprechung -; aber man kann darüber reden. Ich bin auch der Meinung, dass wir in Deutschland
beim Schutz der Minderheitsaktionäre im Gesellschaftsrecht sehr vorbildliche und weitreichende Regelungen
haben.
Aber wir müssen uns über das Wertpapierübernahmegesetz unterhalten, was die Regierungsfraktionen im
Übrigen morgen tun werden: Wir werden morgen in erster Lesung ein Gesetz zum Anlegerschutz einbringen.
Dieses Gesetz enthält als einen ganz wichtigen Passus die
Regelungen zum Anschleichen. Der Kollege Middelberg
hat dies bereits erläutert: Anstatt transparent nach einem
anderen Unternehmen zu greifen, macht man es versteckt
über Derivative, und dann wird die ganze Sache zu einer
großen Überraschung. Dies hilft niemandem, weder dem
Markt noch den Arbeitnehmern noch dem Management,
und auch nicht dem Wirtschaftsstandort. Da gehen wir
heran.
Ich lade Sie herzlich ein: Wenn Ihnen dieses Thema
abgesehen vom Einzelfall Hochtief ernst ist, dann beraten Sie mit, dann machen Sie Ihre eigenen Vorschläge,
dann lassen Sie uns im parlamentarischen Prozess darüber reden. Denn ich bin davon überzeugt, dass wir,
wenn wir dieses Gesetz auf den Weg bringen und uns im
nächsten Jahr vernünftig an der Überprüfung der EUÜbernahme-Richtlinie beteiligen werden, eine gute
Chance haben, im nächsten oder übernächsten Jahr, je
nachdem, wie lange es dauert, bessere Regelungen für
Übernahmen, ein transparenteres Regime und auch eine
höhere Rechtssicherheit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu erzielen. Was wir nicht machen sollten, sage ich
ganz ausdrücklich: So wichtig dieses Thema auch ist,
wir dürfen keine Schaudebatten führen, wir dürfen den
Menschen nicht Dinge versprechen, die wir nicht halten
können. Dies tut weder der Politik noch den Menschen
gut.
Danke.
({16})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
Kollegen Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, der Anlass für die
heutige Gesetzesinitiative der SPD-Bundestagsfraktion
ist der Fall Hochtief.
({0})
- Ja, der Anlass. - Zahlreiche Wirtschaftsverbände haben aber sehr deutlich gemacht, dass es notwendig ist,
die Lücke im Übernahmegesetz so zu schließen,
({1})
wie wir es hier vorschlagen, weil es sonst beim Fall
Hochtief nicht bleiben wird. Es fallen Namen wie Infineon, Rheinmetall, MTU Aero Engines usw. Von daher
sage ich: Ja, das ist der Anlass; aber vor allen Dingen
geht es darum, hier gleiches Recht in Europa zu schaffen, damit von dieser Regelungslücke nicht auch noch
ganz andere Unternehmen in Deutschland betroffen sein
werden.
({2})
Weil dies der Anlass ist, lohnt sich auch ein Blick auf
das Unternehmen Hochtief. Was ist das für ein Unternehmen? Es ist einer von zwei verbliebenen großen Baudienstleistern in Deutschland: sehr erfolgreich in Deutschland und in Europa, praktisch schuldenfrei, wirtschaftlich
absolut gesund, mit strategischen Projekten in Deutschland und Europa und darüber hinaus, in Deutschland mit
11 000 Beschäftigten. Selbst der Vorsitzende des Vorstandes des größten Konkurrenten von Hochtief, Herbert
Bodner, Chef von Bilfinger Berger, lobt Hochtief als ei7638
nen Konzern mit einer hervorragenden Vernetzung mit
dem Mittelstand und dem Bauhandwerk;
({3})
ein Verlust dieses Konzerns bedeutete für die gesamte
Branche, dass dieses Netzwerk mit vielen Arbeitsplätzen
auch außerhalb des Unternehmens Hochtief automatisch
gefährdet wäre.
Schauen wir auf ACS, das Unternehmen, das hier die
Übernahme tätigen will. Es ist ein hochverschuldetes
spanisches Unternehmen - die Schulden beziffern sich
auf circa 10 Milliarden Euro -, unter Druck von den kreditgebenden Banken. Deswegen hat man versucht, eine
Anleihe von ACS zu platzieren. Diese Anleiheplatzierung ist geplatzt. Dies alles wissen Sie sehr genau. ACS
benötigt also ganz offensichtlich bei Hochtief vor allen
Dingen eins: die Finanzkraft dieses Unternehmens.
Wie geht ACS vor? Da brauchen wir nur zu schauen,
wie es ACS in der Vergangenheit auf dem spanischen
Markt gemacht hat: Sie kaufen sich zunächst mit einem
kleinen Anteil ein. Anschließend schleichen sie sich an
und erhöhen verdeckt diesen Anteil. Dann unterbreiten
sie ein unattraktives Übernahmeangebot, um über die
Schwelle von 30 Prozent zu kommen. Danach bauen sie
ihren Anteil weiter aus. Schließlich zerschlagen sie das
Unternehmen mit der Folge, dass Arbeitsplätze verloren
gehen.
Wie sieht heute ACS in Spanien aus? ACS hat
85 Prozent Leiharbeitsplätze und 15 Prozent feste Arbeitsplätze. Wer hier davon spricht, dass durch eine solche Übernahme Arbeitsplätze in Deutschland - quasi automatisch - nicht gefährdet seien, der blendet die
Erfahrungen der Vergangenheit bewusst aus.
({4})
- Ich habe Ihnen gerade geschildert, dass dieser Fall der
Anlass für unseren Gesetzentwurf war. Ich habe aber
auch gesagt, dass es noch andere Fälle von Unternehmen
gibt, die nach Ansicht der Fachleute in gleicher Weise
gefährdet sind.
Worum geht es Hochtief? Herr Brüderle sagt: Wir geben kein Geld. - Das zeigt die Reflexe, wie sie auch im
Fall von Opel, Karstadt und Holzmann zu beobachten
waren. Aber genau diese Fälle sind mit Hochtief nicht
vergleichbar. Hochtief geht es eben nicht um Staatsknete; es geht nicht um Geld.
({5})
Es geht vielmehr um einen Lückenschluss im Übernahmegesetz und um die Anpassung dieses Übernahmegesetzes an europäische Standards.
({6})
Hochtief will faire Rahmenbedingungen im Abwehrkampf gegen ein Unternehmen, das sich durch Anschleichen in eine bessere Position bringen möchte.
({7})
Worum geht es der SPD? Der SPD geht es darum, in
diesem Fall rechtzeitig zu handeln, aber auch für andere
Fälle vorzubeugen und dafür zu sorgen, dass solche
Übernahmen, bei denen der Arme sozusagen den Reichen kauft, nicht die Regel werden.
Was sagen die Fachmedien? Was sagt zum Beispiel
der Spiegel?
({8})
Er sagt nicht, dass wir das kopieren sollen, was etwa in
Spanien und Frankreich üblich ist. Herr Zapatero schaltete sich aktiv ein, als Eon sich darum bemühte, Endesa
zu übernehmen. Herr Sarkozy versuchte, die Pläne von
Siemens im Falle von Areva zu durchkreuzen. Das alles
wollen wir, die Öffentlichkeit und die begleitenden Medien nicht. Aber es kann doch nicht sein, dass wir in
Deutschland diejenigen sind, die alle anderen einladen,
billig auf Einkaufstour zu gehen. Der Spiegel spricht
wörtlich von der „Perversion der Marktwirtschaft“. Dort
heißt es weiter:
Belohnt wird nicht der Tüchtige, … sondern der
Trickreiche, der die laschen deutschen Gesetze
nutzt, um seinen Konkurrenten zu einem Spottpreis
zu übernehmen.
Genau darauf zielt unser Gesetzesvorschlag ab.
({9})
Herr Brinkhaus, wenn Sie es mit der Artikulation der
Sorgen wirklich ernst meinen, dann belassen Sie es nicht
dabei, diese Sorgen im Parlament auszudrücken, sondern
dann tun Sie rechtzeitig das Notwendige, indem Sie unserem Vorschlag folgen.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3481 und 17/3540 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 g sowie
Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:
37 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bestätigenden Regelung verschiedener steuerlicher
und verkehrsrechtlicher Vorschriften des
Haushaltsbegleitgesetzes 2004
- Drucksache 17/3632 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Än-
derungsprotokoll vom 25. Mai 2010 zum Ab-
kommen vom 17. Oktober 1962 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Irland zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
Verhinderung der Steuerverkürzung bei den
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
sowie der Gewerbesteuer
- Drucksache 17/3358 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Umwandlungsgesetzes
- Drucksache 17/3122 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Flexibilität und Transparenz bei der
Pandemiebekämpfung
- Drucksache 17/3544 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser
und Sanitärversorgung umsetzen
- Drucksache 17/3652 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie
Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Modellversuche mit Gigalinern beenden Umweltorientierten Aktionsplan Güterverkehr und Logistik auf den Weg bringen
- Drucksache 17/3674 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Akzeptanzprobleme bei der Rheintalbahn
durch offene Planung beseitigen
- Drucksache 17/3659 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Haushaltsausschuss
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Tierschutz bei Katzen verbessern
- Drucksache 17/3653 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({5}), Cornelia Behm, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tierschutz stärken - Tierheime entlasten
- Drucksache 17/3543 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Renate Künast, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über
Rechte der Verbraucher KOM({7})614
endg.; Ratsdok. 14183/08
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Modernes Verbraucherrecht für Europa entwickeln
- Drucksache 17/3675 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({8})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({9})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Tom Koenigs, Markus Kurth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Rechte indigener Völker stärken - ILO-Konvention 169 ratifizieren
- Drucksache 17/3676 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({10})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisungen. Das sind die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 g sowie Zusatzpunkte 2 a, 2 b und 2 d. Interfraktionell wird
vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf
Drucksache 17/3632 - das ist der Tagesordnungspunkt 37 a - soll federführend beim Finanzausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu einer Vorlage, bei der die Federführung strittig ist. Es handelt sich um den Zusatzpunkt 2 c. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3675 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen
der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim
Rechtsausschuss. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung
beim Landwirtschaftsausschuss - abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen CDU/CSU und FDP - Federführung beim
Rechtsausschuss - abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 q auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Zunächst Tagesordnungspunkt 38 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen vom 9. Juni 2006 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten, der Republik Albanien,
Bosnien und Herzegowina, der Republik Bulgarien, der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien, der Republik Island, der Republik Kroatien, der Republik Montenegro,
dem Königreich Norwegen, Rumänien, der
Republik Serbien und der Übergangsverwaltung der Vereinten Nationen in Kosovo zur
Schaffung eines gemeinsamen europäischen
Luftverkehrsraums ({11})
- Drucksache 17/2068 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({12})
- Drucksache 17/3396 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Gottschalck
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/3396, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2068 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthaltung der Linksfraktion mit den Stimmen
der übrigen Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung des Freihafens Hamburg
- Drucksache 17/3353 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({13})
- Drucksache 17/3682 Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Dr. Carsten Sieling
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3682, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3353 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit ebenso einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vereinbarung vom 20. April 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung von Quebec
über Soziale Sicherheit
- Drucksache 17/3120 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({14})
- Drucksache 17/3575 Berichterstattung:
Abgeordneter Josip Juratovic
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3575,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/3120 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 d:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
24. Oktober 2008 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland, der Regierung
des Königreichs Belgien, der Regierung der
Französischen Republik und der Regierung
des Großherzogtums Luxemburg zur Einrichtung und zum Betrieb eines Gemeinsamen
Zentrums der Polizei- und Zollzusammenarbeit im gemeinsamen Grenzgebiet
- Drucksache 17/3117 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({15})
- Drucksache 17/3500 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({16})
Wolfgang Gunkel
Gisela Piltz
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3500, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3117 anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 e:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
9. März 2009 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit im
Luftraum bei Bedrohungen durch zivile Luftfahrzeuge
- Drucksache 17/3125 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({17})
- Drucksache 17/3661 Berichterstattung:
Abgeordnete Florian Hahn
Michael Groschek
Joachim Spatz
Paul Schäfer ({18})
Omid Nouripour
Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3661, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3125
anzunehmen.
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({19}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Anpassung umweltrechtlicher
Verordnungen an die Terminologie der Verordnung ({20}) Nr. 1272/2008
- Drucksachen 17/3476, 17/3578 Nr. 2, 17/3657 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Dr. Matthias Miersch
Dr. Lutz Knopek
Dorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3657, der Verordnung auf
Drucksache 17/3476 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkte 38 g bis 38 q. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 38 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 153 zu Petitionen
- Drucksache 17/3455 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 153 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 154 zu Petitionen
- Drucksache 17/3456 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 154 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 155 zu Petitionen
- Drucksache 17/3457 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 155 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 156 zu Petitionen
- Drucksache 17/3458 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 156 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 157 zu Petitionen
- Drucksache 17/3459 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 157 ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 158 zu Petitionen
- Drucksache 17/3460 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 158 ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der SPD-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 159 zu Petitionen
- Drucksache 17/3461 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 159 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen
der SPD bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 160 zu Petitionen
- Drucksache 17/3462 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 160 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von
Linken und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 161 zu Petitionen
- Drucksache 17/3463 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 161 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen
von SPD und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 162 zu Petitionen
- Drucksache 17/3464 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 162 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von SPD
und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 38 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 163 zu Petitionen
- Drucksache 17/3465 -
Hierzu liegt eine Erklärung gemäß § 31 der Geschäfts-
ordnung des Abgeordneten Ilja Seifert schriftlich vor.1)
1) Anlage 2
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wer stimmt für die Sammelübersicht 163? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 163 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Damit sind wir am Schluss dieser Abstimmungsrunde.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Meinungsverschiedenheiten innerhalb der
Bundesregierung über die Reform der Kommunalfinanzen
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Joachim Poß für die SPD-Fraktion das Wort.
({32})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Steuerpolitik bleibt der zentrale Brandherd in der
schwarz-gelben Koalition. Nur bei einer steuerpolitischen Frage hat es in der schwarz-gelben Regierungskoalition einen inhaltlichen Konsens gegeben, nämlich bei
der Hotelsteuer und den Privilegien für Unternehmen
und Unternehmenserben. Das war der einzige Fall, bei
dem es Übereinstimmung gab. Ansonsten setzt sich auch
bei den kommunalen Steuern der permanente Streit in
der Koalition nahtlos fort. Auch das Gerede von Frau
Merkel vom Neuanfang nach dem Sommer, vom Ende
des stetigen und quälenden Koalitionsstreits - bei einigen hier sieht man, dass es sich schon in den Gesichtern
abbildet, wie anstrengend dieser Streit ist - und der gegenseitigen Angriffe, das war eben nur Gerede und der
Versuch, in der Öffentlichkeit eine etwas bessere Meinung über Schwarz-Gelb zu schaffen. Gelungen ist das
nicht.
({0})
- Was heißt hier „zur Sache“? Gibt es denn eine wichtigere Sache, als dass die deutsche Bevölkerung erwarten
kann, als dass die Wählerinnen und Wähler erwarten
können, dass wir hier von Ihnen eine klare Aussage, eine
klare Linie in der Frage der Kommunalfinanzen bekommen, die mit über die Lebensqualität vor Ort entscheiden? Gibt es denn eine wichtigere Sache, meine Damen
und Herren? Überlegen Sie sich mal solche Zwischenrufe.
({1})
Es bleibt bestehen, was es da an Dissens gibt.
Da hat es der Bundesfinanzminister doch tatsächlich
gewagt, die Gewerbesteuer bis auf Weiteres für unantastbar zu erklären, ohne Herrn Brüderle und Herrn
Westerwelle zu fragen. Die gesamte FDP-Bundestagsfraktion ist hier richtig sauer, von Herrn Schäuble so
schnöde übergangen worden zu sein. Sie hat sogar einen
entsprechenden einstimmigen Beschluss gefasst.
Um es für die SPD ganz deutlich zu sagen: Wir begrüßen diesen Bestandsschutz für die Gewerbesteuer ausdrücklich.
({2})
Wir begrüßen ausdrücklich, dass Herr Schäuble jetzt offensichtlich zu der Einsicht gelangt ist, dass die Gewerbesteuer derzeit weder ausgehöhlt noch abgeschafft werden darf. Persönlich vertritt er übrigens seit Jahrzehnten
eine andere Meinung. Ich hoffe allerdings, dass auf das
Wort des Bundesfinanzministers gegenüber den kommunalen Spitzenverbänden auch tatsächlich Verlass ist und
hier nicht wieder übel getrickst wird.
Auch die Bundeskanzlerin hat gegenüber den Kommunen den Weiterbestand der Gewerbesteuer zugesichert. Aber was gilt das Wort von beiden in der zerstrittenen und unübersichtlichen schwarz-gelben Koalition
überhaupt noch? Die sofortige und geharnischte Ablehnung von Schäubles Gewerbesteuergarantie durch die
FDP bedeutet nicht Gutes. Die FDP will die Gewerbesteuer weg haben, koste es, was es wolle, und koste es
auch in den Kommunen die Einbuße an Lebensqualität
und Infrastruktur für die Bürgerinnen und Bürger.
({3})
Ihnen ist das egal, wenn Sie nur Ihre Klientel- und Lobbypolitik hier im Deutschen Bundestag konsequent umsetzen können.
({4})
Auch in CSU und CDU wird immer noch verlangt,
dass die Unternehmensteuerreform, die wir zum Jahre
2008 gemeinsam gemacht haben, im Interesse der Unternehmen wieder aufgeribbelt wird. Dabei waren wir uns
in der Großen Koalition mit den Finanz- und Kommunalpolitikern der Union und mit Herrn Kauder einig, die
Gewerbesteuer zur eigentlichen Unternehmensteuer zu
machen, weil die Körperschaftsteuer das in der globalisierten Wirtschaftswelt auf Dauer nicht mehr hergibt. Ich
fordere die Spitzen von CDU und CSU auf, sich daran
zu erinnern und diese richtige steuerpolitische Linie weiter zu verfolgen.
Der zweite Vorschlag - das kommunale Zuschlagsrecht auf die Einkommensteuer - führt nicht weiter. Es
gibt dazu Untersuchungen aus über drei Jahrzehnten, die
immer zu dem Ergebnis „untauglich“ kamen. Das ist ein
Spaltervorschlag, mit dem zwischen strukturschwachen
Städten und Gemeinden auf der einen Seite und strukturstarken auf der anderen Seite gespalten wird.
({5})
Das können Sie gleich einpacken, meine Damen und
Herren, und zwar sowohl aus fachlichen als auch aus
politischen Gründen.
Wir müssen sehen, dass wir trotz der aktuellen Erholung der Einnahmen - auch der Einnahmen der Gemeinden - den Level von 2008 noch nicht wieder erreicht
haben und die strukturellen Finanzprobleme der Gemeinden weiterhin bestehen.
Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister
sagen jetzt, dass sie die Kommunen bei den Sozialausgaben finanziell entlasten wollen. Die SPD hat das auf ihrem letzten Parteitag bereits so beschlossen. Deswegen
können wir schon heute in der Bereinigungssitzung des
Haushaltsausschusses und dann im Plenum des Deutschen Bundestages gemeinsam mit den Ankündigungen
Ernst machen
({6})
und die Kommunen zum Beispiel bei den Kosten der
Unterkunft oder bei der Grundsicherung im Alter entlasten.
Wir können mit der Hilfe für die Kommunen auch
Ernst machen, indem wir die schwarz-gelben Kürzungen
bei der Städtebauförderung zurücknehmen. Die Programme im Rahmen der Städtebauförderung sind auch
ein wichtiges Stück Sozialpolitik in den Kommunen. Es
geht nicht nur um Investitionen, sondern auch um den
Zusammenhalt in vielen Stadtteilen, in denen dies nötig
ist.
Wir können den Kommunen also helfen. Dafür brauchen wir aber Ihre Stimmen. Wir werden sehen, ob wir
sie bekommen.
({7})
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär im Finanzministerium Hartmut Koschyk.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Poß, so ist es immer, wenn die SPD im
Deutschen Bundestag Debatten über die Zukunft der finanziellen Situation unserer Kommunen beantragt: Es
gibt nur lautes Getöse und Klamauk, aber es gibt überhaupt nichts an Substanz, das unseren Kommunen zu
mehr Entlastung auf der Ausgabenseite verhilft und ihre
Einnahmesituation stetig und kontinuierlich verbessert.
Sie haben viel Lärm gemacht, aber Sie haben überhaupt
nichts an Substanz geboten.
({0})
Diese Bundesregierung hat eine Regierungskommission eingesetzt, die sowohl die Einnahmesituation der
Kommunen als auch die Ausgabenseite der Kommunen
betrachten soll, die sich aber auch um eine Verbesserung
der Rechtsstellung der Kommunen bemüht. Denn viel zu
oft werden europäische und bundesgesetzliche Vorgaben
auf den Weg gebracht, ohne danach zu fragen, was es die
Kommunen kostet. Darin, lieber Herr Poß, ist Ihre Fraktion gemeinsam mit den Grünen Meister in Deutschland
gewesen, als Sie in Regierungsverantwortung waren. Sie
haben die Grundsicherung im Alter eingeführt, ohne den
Kommunen dafür genug Geld in die Hand zu geben.
({1})
Sie haben bei den Kosten der Unterkunft immer zulasten
der Kommunen gespart. Es war Ihr Minister, Herr
Clement, der im Jahr 2005 den Anteil des Bundes bei
den Kosten der Unterkunft auf null setzen wollte.
({2})
Die SPD trägt die Verantwortung für diese Lasten. Sie
wurden den Kommunen aufgebürdet und nicht durch
entsprechende Mittel aus dem Bundeshaushalt ausgeglichen.
Wir wollen das Problem jetzt grundsätzlich lösen.
Lieber Herr Poß, wiegen Sie die Kommunen nicht in einer falschen Sicherheit bezüglich der Gewerbesteuer.
Bundesminister Schäuble hat bei dem Gespräch mit den
Kommunen, das diese erbeten hatten, auf eines hingewiesen, nämlich darauf, dass wir eine Rechtsprechung
haben, vor der auch Sie die Augen nicht verschließen
können. Ich denke an das BFH-Urteil vom Juni dieses
Jahres. Erweiterte Verrechnungsmöglichkeiten auch ausländischer Verluste zulasten der Gewerbesteuer werden
zunehmend durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs anerkannt.
({3})
Das heißt, die Gewerbesteuer in ihrer gegenwärtigen
Form ist auch im Hinblick auf Tendenzen in der deutschen
Finanzgerichtsrechtsprechung und auf europäische Entwicklungen längst unter Druck. Das gilt insbesondere im
Hinblick auf gewerbesteuerliche Verlustvorträge in beträchtlicher Höhe, die das künftige Gewerbesteueraufkommen gefährden, insbesondere wenn die von mir erwähnte Rechtsprechung anhält und sich verfestigen
sollte. Deshalb muss man grundsätzlich über das Problem sprechen.
({4})
Wir werben dafür, dass wir mit den Kommunen in dieser
Kommission möglichst gemeinsam zu einer Lösung
kommen.
Ich möchte jetzt noch eine andere Frage stellen. Die
Kommunen brauchen doch mehr Autonomie, sowohl auf
der Ausgabenseite als auch auf der Einnahmeseite.
({5})
- Das wollen die Kommunen, lieber Herr Scheelen.
({6})
Ich habe an den beiden Sitzungen der Gemeindereformkommission teilgenommen. Dort haben vor allem die
Kommunen darum gebeten, dass wir ihnen auch im Hinblick auf die Sozialstandards, also bezüglich ihrer SituaParl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
tion auf der Ausgabenseite, größere Spielräume an die
Hand geben.
({7})
Diese Bundesregierung hat gehandelt. Es war der
Bundesfinanzminister,
({8})
der gesagt hat, dass er den Kommunen bei der im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Neuregelung der Regelsätze für SGB-II-Empfänger durch Satzungsrecht die
Möglichkeit an die Hand geben will, bei den Kosten der
Unterkunft größere Spielräume zu bekommen, auch mit
Blick auf die Festlegung einer regional unterschiedlichen Höhe der Regelsätze. Das ist ein erster wichtiger
Schritt.
Die Arbeitsgruppe „Standards“ der Gemeindereformkommission hat fast 100 Vorschläge zusammengetragen,
um die Kommunen auf der Ausgabenseite zu entlasten.
Wir wollen den Kommunen aber auch auf der Einnahmeseite größere Spielräume und mehr Gestaltungshoheit
ermöglichen.
Lieber Herr Poß, dass Sie den Vorschlag, über ein Zuschlagsrecht, ein Gestaltungsrecht, bei der Einkommensteuer nachzudenken, mit einem einzigen Satz abgebügelt haben, zeigt, wie leicht Sie es sich in dieser Sache
machen.
({9})
- Nein, Sie haben nicht darüber nachgedacht.
({10})
Wenn Sie darüber nachgedacht hätten, dann würden Sie
diese Möglichkeit nicht von vornherein zu den Akten legen.
({11})
Bei der Gewerbesteuer haben die Kommunen Gestaltungsmöglichkeiten. Dieser Gewerbesteuerwettbewerb
wirkt sich dämpfend aus. Warum soll es einen solchen
gesunden Wettbewerb, bei dem es um mehr Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen geht, nicht auch bei der
Einkommensteuer geben? Sie sind nicht daran interessiert, weil Sie kommunale Selbstverwaltung mit Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen auf der Einnahmewie der Ausgabenseite in Wahrheit gar nicht wollen.
({12})
Sie wollen, dass die Kommunen auf Dauer Subsidienempfänger sind und ihr Schicksal sowohl auf der
Einnahme- als auch auf der Ausgabenseite nicht selbst in
die Hand nehmen können.
({13})
Wir wollen mit der Politik, die darin besteht, die
Kommunen zu alimentieren und am Tropf zu halten,
Schluss machen.
({14})
Wir wollen mit den Kommunen zu einvernehmlichen
Lösungen kommen. Wir wollen, dass sie mehr Gestaltungsmöglichkeiten auf der Einnahmeseite bekommen,
dass sich ihre Einnahmesituation verbessert und dass sie
nicht von der volatilen Entwicklung bei den Steuereinnahmen abhängig sind.
({15})
Sie sollen aber auch auf der Ausgabenseite mehr Gestaltungsmöglichkeiten bekommen.
Wir werden zu Ergebnissen kommen, die für die
Kommunen eine bessere Zukunft bedeuten. Als Sie in
Deutschland regiert haben, haben Sie das nie geschafft.
Wir allerdings werden für eine bessere Zukunft der
Kommunen sorgen.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat nun Katrin Kunert für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Koschyk, heute ist der 11. November. War das gerade der Einstieg in den Karneval?
({0})
Die Kommunen sind in Not. In vielen Resolutionen,
die unsere Büros erreichen, wird deutlich, dass die Lebensqualität in den Kommunen so nicht aufrechterhalten
werden kann - und die Bundesregierung streitet sich.
Die Kommunen sind in Not, weil beim Kernstück der
kommunalen Selbstverwaltung, den sogenannten freiwilligen Aufgaben, immer mehr gestrichen wird. Kulturund Sportförderung, Seniorenbetreuung, Kinder- und Jugendarbeit, Bibliotheken oder Ausbildungen im öffentli7646
chen Dienst sind vor Ort kaum noch aufrechtzuerhalten.
Das ist die Realität.
Die Koalition sagt, eine vernünftige Reform der
Kommunalfinanzen sei ihr ein wichtiges Anliegen. Die
Bundesregierung hat eine Gemeindefinanzkommission
eingerichtet. Diese Kommission soll Vorschläge zur Lösung der drängenden Probleme des kommunalen Finanzsystems erarbeiten und bewerten. Geprüft werden soll
ein Vorschlag der FDP, die die Gewerbesteuer abschaffen will. Geprüft werden soll auch ein Vorschlag der
Kommunen, die die Gewerbesteuer weiterentwickeln
wollen.
Soweit bekannt ist, hat die Gemeindefinanzkommission ihre Arbeit noch nicht beendet. Bisher hieß es vonseiten der Koalition immer, man müsse erst die Ergebnisse der Arbeit der Kommission abwarten, ehe eine
öffentliche Debatte über die Zukunft der Kommunalfinanzen geführt werden könne. Deshalb lehnten die Koalitionsfraktionen im Finanzausschuss unseren Antrag,
die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer
auszubauen, ab. Gemeindewirtschaftsteuer bedeutet:
Alle, die in einer Gemeinde wirtschaften, sollen sich an
dieser Steuer beteiligen. Wir sagen: Das ist der richtige
Weg.
({1})
Auch hier lautete die Begründung der Ablehnung,
man könne der Kommission doch nicht vorgreifen. Die
Bundesregierung habe diese Kommission gebildet, um
prüfen zu lassen, ob die Gewerbesteuer auch durch andere Steuern ersetzt werden könne.
Doch in der letzten Woche preschte Ihr Finanzminister vor, und er ließ einen Testballon steigen. Er bietet den
Kommunen ein vergiftetes Geschenk an; vergiftet deshalb, weil die Schere zwischen armen und reichen Kommunen durch diesen Wettbewerb weiter geöffnet wird.
Das kann nicht wirklich ihr Ernst sein.
({2})
Da die Kommunen gegen die Abschaffung der Gewerbesteuer sind und die CDU/CSU immer gesagt hat,
sie werde nichts gegen die Kommunen beschließen, will
der Finanzminister die Kommunen nun ködern. Die FDP
lehnt diesen Vorstoß ab und will sich nun am 18. November 2010 im Koalitionsausschuss damit befassen.
Die Gemeindefinanzkommission arbeitet immer hinter verschlossenen Türen. Herr Schäuble und Herr
de Maizière haben sich bisher immer geweigert, die zuständigen Gremien des Bundestages über ihre Arbeit zu
unterrichten.
({3})
Die Linke hat von Anfang an gefordert, die Arbeit dieser
Kommission transparent zu gestalten.
({4})
Die Gremien des Bundestages und die Öffentlichkeit
müssen regelmäßig informiert werden.
({5})
- Deshalb streiten Sie sich auch, Herr Kollege Volk. Schwarz-Gelb bevorzugt aber das stille Kämmerlein und
kommt trotzdem zu keinem guten Ergebnis für die Kommunen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie sind
doch so sehr für Lobbyarbeit. Warum haben die Kommunen in puncto Gewerbesteuer keine Lobby bei Ihnen?
Das frage ich Sie wirklich.
({7})
Bei Ihrem Streit in der Koalition geht derzeit auch
vollkommen unter, dass wir im Bundestag nach wie vor
über Gesetzentwürfe diskutieren und Gesetze beschließen, die zu weiteren Mehrausgaben bei den Kommunen
führen werden. Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen:
In Tagesordnungspunkt 24 geht es heute um den Gesetzentwurf zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts. Für die Betroffenen ist das völlig in Ordnung; der Betreuungsschlüssel wird verbessert, weil er
verkleinert wird. Dies führt aber genau zu einer Verdoppelung der Personalkosten bei den Kommunen. Das vergessen Sie bei diesem Streit völlig.
Die Aufgaben, die von den Kommunen zu erledigen
sind, werden vom Bund immer mehr ausgeweitet. Dabei
denken Sie nicht im Geringsten an eine angemessene Finanzierung. Wenn der Bund all das bezahlen würde, was
hier beschlossen wird, dann wäre den Kommunen die
größte finanzielle Last genommen. Das müsste doch eigentlich der richtige Weg sein.
({8})
Die Linke fordert erstens, die Gewerbesteuer zu einer
Gemeindewirtschaftsteuer weiterzuentwickeln. Im Übrigen ist es sehr bemerkenswert, dass der Landtag in NRW
den Antrag der Linken angenommen hat, die Gewerbesteuer zur Gemeindewirtschaftsteuer weiterzuentwickeln. Ich hoffe, dass Sie im Bundesrat aktiv werden, um
der Gemeindefinanzkommission etwas Unterstützung zu
leisten.
Zweitens wollen wir, dass der Bund die Aufgaben, die
er bestimmt, auch mitfinanziert.
Drittens fordern wir nach wie vor ein verbindliches
Mitwirkungsrecht der Kommunen bei der Gesetzgebung
hier im Bundestag.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing
von der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will zunächst einmal zurückweisen, dass die Gremien
des Bundestages von der Bundesregierung nicht über die
Arbeit dieser Gemeindefinanzkommission unterrichtet
werden.
({0})
Das wissen Sie möglicherweise nicht, Frau Kollegin,
weil Sie den betreffenden Gremien nicht angehören. Der
Staatssekretär unterrichtet im Finanzausschuss regelmäßig über den Fortgang, und uns werden auch entsprechende Dokumente zur Verfügung gestellt. Ich bin mir
sicher, die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion werden sie an Sie weiterleiten. Wenn Sie Interesse daran haben, dann können Sie das nachlesen.
({1})
Ich möchte zur Versachlichung zunächst eines sagen:
Es gibt auf allen Ebenen erhebliche Probleme - auch krisenbedingt -, die in den nächsten Jahren erfreulicherweise geringer werden, weil wir mit Steuermehreinnahmen rechnen können. Wir sind froh, dass wir ein so
gesundes Wirtschaftswachstum in Deutschland haben,
dass die Entscheidungen dieser christlich-liberalen Koalition Früchte tragen und dass wir niedrige Arbeitslosenzahlen haben.
({2})
Fest steht, dass die Kommunen bei den Einnahmen
bereits im Jahr 2012 wieder das Vorkrisenniveau erreichen, während der Bund dieses erst im Jahr 2013 erreicht. Es ist also nicht so, wie der Kollege Poß das immer darzustellen versucht, dass nämlich das größte
Einnahmeproblem auf kommunaler Ebene besteht. Das
muss man einmal festhalten.
Trotzdem hat die christlich-liberale Koalition gesagt:
Wir müssen dauerhaft stabile Einnahmen bei den Kommunen erreichen. Wir wollen eine Reformkommission
einsetzen, die sich um das Problem der Schwäche der
Gewerbesteuer kümmert.
Bei der Gewerbesteuer besteht das Problem, dass sie
in konjunkturellen Schwächephasen wegbricht, während
die Ausgaben der Kommunen konstant bleiben. Das betrifft übrigens nicht alle Kommunen. Ausgerechnet diejenigen, deren Oberbürgermeister in den kommunalen
Spitzenverbänden aktiv sind, haben das Problem nicht.
Deswegen appelliere ich an alle Bürgermeisterinnen und
Bürgermeister, die Probleme mit der Gewerbesteuer haben, sich für Reformen offen zu zeigen; denn diese brauchen wir.
({3})
Man kann wie die SPD die Augen vor dem Problem
verschließen - das haben Sie jahrelang getan -, oder
man kann einen so wenig kreativen Vorschlag bringen
wie die Verstetigung der Gewerbesteuer, wie es die SPD
von morgens bis abends predigt. Für die vielen Zuhörer
am Bildschirm wie auch in diesem Saal will ich erläutern, was „Verstetigung der Gewerbesteuer“ bedeutet:
Wenn die Einnahmen der Unternehmen nicht ausreichen,
um genügend Steuern erwirtschaften zu können, dann
muss man eben auch Steuern auf die Ausgaben der Unternehmen erheben. Das ist der Vorschlag der SPD.
({4})
Das bedeutet, dass die Unternehmen, wenn ihre Gewinne in einer Krise zurückgehen, die Steuern aus ihrer
Substanz bezahlen und daher Arbeitsplätze abbauen
müssen. Das gefährdet den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Dazu sagt die FDP: Das kann kein fairer Weg für
Deutschland sein. Deswegen haben wir die Substanzbesteuerung, die Sie als Scheinlösung auf dem Rücken der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingeführt haben, zum 1. Januar 2010 wieder beseitigt. Das ist eine
der Ursachen, weshalb die Arbeitslosenzahlen in
Deutschland stark rückläufig sind.
({5})
Deswegen können wir auch nicht zu Ihrem falschen Weg
zurückkehren. Wir müssen vielmehr den richtigen Weg
der christlich-liberalen Koalition fortsetzen: Ertragsbesteuerung statt Substanzbesteuerung.
({6})
Damit stehen Sie, Herr Kollege Poß, und Ihre ganze
Fraktion nackt da, weil Ihr vermeintlicher Vorschlag als
Pseudolösung entlarvt ist und Sie nichts anderes anzubieten haben.
({7})
Deswegen ist die Gewerbesteuer ein Problem. Man
kann nicht wie die Kommunen in der Finanzreformkommission sagen: Wir haben ein Problem mit der Gewerbesteuer, aber bevor wir darüber reden, sagen wir gleich,
dass die Gewerbesteuer bleiben muss. - Das akzeptieren
wir nicht. Denn der Kern des Problems liegt in der Volatilität dieser Steuer. Deshalb muss man, wenn man das
Problem nachhaltig lösen will, diese Steuer infrage stellen. Genau das tut die FDP.
({8})
Sie konstruieren jetzt einen Riesenstreit.
({9})
Bei allen Steuerfragen - ob nun unter Rot-Grün oder
Rot-Schwarz - sagt die SPD: Das haben wir nur deshalb
mitgemacht, weil wir dazu gezwungen worden sind.
({10})
Die FDP verhält sich nicht so wie Sie. Wir tragen den
faulen Kompromiss, den die Kommunen der Bundesregierung aufs Auge zu drücken versuchen, nicht mit. Wir
sagen von vornherein Nein. Denn was die Kommunen
wollen, nämlich eine Verstetigung der Gewerbesteuer
und eine Lösung zulasten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer durch Erhöhung der Einkommensteuer,
({11})
ist nicht der Weg, den wir uns vorstellen. Wir wollen
eine substanzielle und nachhaltige Lösung, aber nicht
auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir wollen auch keine Lösung, wie Sie sie vorschlagen, die Arbeitsplätze gefährdet.
({12})
Wir sind froh, dass durch diese Koalition wieder Stabilität am Arbeitsmarkt erreicht werden konnte. Was Sie
vorschlagen, bedeutet die Rückkehr zu den Problemen,
die wir unter Rot-Grün und der Großen Koalition hatten.
Die wird es aber nicht mehr geben.
({13})
Deswegen gibt es das klare Votum der FDP-Fraktion.
Jetzt muss in der Reformkommission ein konstruktiver und nachhaltiger Vorschlag erarbeitet werden, dem
wir uns dann in aller Ruhe und mit aller Sorgfalt widmen
werden.
({14})
Aber erst die Dinge abzunicken, wie Sie es getan haben,
und dann zu sagen, man habe nichts damit zu tun: Das
machen wir nicht.
({15})
Zu einem guten Klima in einer Koalition gehört auch,
dass ein Koalitionspartner sagt: Das ist der Rubikon; den
überschreiten wir nicht. Das ist für uns nicht diskutabel. Das haben wir in dieser Woche getan.
({16})
In konstruktiver Zusammenarbeit mit dem Bundesfinanzministerium muss eine bessere Lösung gefunden
werden. Die werden wir im Interesse der soliden Finanzierung unserer Gemeinden finden.
Sie hatten keine Lösung. Wir werden eine hinkriegen.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Wissing, nur gut, dass Sie nur fünf Minuten Redezeit hatten, sonst wären wir heute nicht über die Sitzung gekommen.
({0})
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Bürgermeisterinnen und Bürgermeister,
die die heutige Debatte am Fernseher verfolgen! Man
hätte fast annehmen können, die Gemeindefinanzkommission wäre ein Projekt, bei dem Schwarz und Gelb die
gleiche Meinung vertreten und gemeinsam zu einem Ergebnis kommen. Der Vorschlag des Bundesfinanzministers, den Kommunen die Beibehaltung der Gewerbesteuer zu garantieren, hatte aber nicht einen Tag Bestand.
Im Gegensatz zur FDP, die dafür eintritt, dass wir auf jeden Fall zu einer Abschaffung der Gewerbesteuer kommen, hat Wolfgang Schäuble in seinem Vorschlag an die
kommunalen Spitzenverbände deutlich gemacht, dass es
bei der Gewerbesteuer bleibt und es ein kommunales Zuschlagsrecht auf die Einkommensteuer geben soll.
Ich halte von diesem Vorschlag nichts und werde auch
gleich sagen, warum. Aber tun Sie bitte nicht so, als
gäbe es eine konsequente Linie von Schwarz-Gelb. Wie
bei allen anderen substanziellen Fragen in diesem Haus
haben Sie keine gemeinsame Linie.
({1})
Es hat noch nicht einmal einen Tag gedauert, bis Ihre
Landesführungen angefangen haben, sich von dem Vorschlag von Wolfgang Schäuble zu distanzieren.
({2})
- Ich weiß das, weil ich Zeitung lese, Herr Michelbach.
({3})
Zum Beispiel hat der niedersächsische Minister Jörg
Bode erklärt, dieser Vorschlag habe keine Substanz.
Selbst Schäuble, der Minister, von dem der Vorschlag
stammt, hat gestern in der Presse erklärt, dass er seinem
Vorschlag nur 50 Prozent Umsetzungschancen gibt. Herr
Wissing, da haben Sie übrigens etwas verwechselt: Es
war nicht der Vorschlag der kommunalen Spitzenverbände. Es war der Vorschlag des Bundesfinanzministers.
({4})
Das erklärt auch die Rede von Koschyk. Herr Koschyk
hat sich nämlich insbesondere mit den Jahren 1999 bis
2004 beschäftigt.
({5})
Das hätte ich an seiner Stelle auch getan. Denn substanziell ist in der Gemeindefinanzkommission noch nichts
geschehen. Da geht man lieber ein paar Jahre zurück und
schaut sich die rot-grüne Zeit an.
({6})
Um Sie zu beruhigen, Herr Koschyk: Die damaligen
Auswirkungen auf die Kommunen fand ich auch nicht in
Ordnung. Die Kapitalertragsteuer war für die Städte und
Gemeinden nicht das Gelbe vom Ei. Das kann man
selbstkritisch zugeben.
Aber das, was Sie hier machen, ist wirklich das Allerletzte: Sie erklären jeden Tag, Sie würden sich um die
Kommunen kümmern, aber dann legt der Bundesfinanzminister einen Vorschlag vor, der überhaupt nicht nachhaltig ist.
({7})
Flankiert wird dieser Vorschlag dann durch Folgendes: Seit Sonntag glaubt man, dass die neue Steuerschätzung besser ausfallen wird. Man musste daher keine drei
Minuten warten, bis der erste FDPler
({8})
oder CDUler erklärt, dass Steuersenkungen das nächste
Thema sein werden. Am Wochenende ging es also schon
wieder um Steuersenkungen. Erklären Sie diese Kombination den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern vor
Ort. Das können Sie selbst Ihrer eigenen Partei - das
sage ich in Richtung CDU - keinesfalls erklären.
({9})
Auch Ihre Leute wissen ganz genau, dass die Menschen
vor Ort keine Steuersenkungen gebrauchen können. Das
zeigt deutlich, dass Sie keinen Bezug zur Realität in den
Städten und Gemeinden, keinerlei Bodenhaftung haben.
({10})
Lassen Sie mich jetzt noch kurz etwas zur kommunalen Einkommensteuer sagen. Warum ist sie so umstritten? Weil sie den ruinösen Wettbewerb der Kommunen
untereinander anheizt.
({11})
Was meinen Sie denn, was demnächst los sein wird? Reden Sie doch nicht nur von kommunaler Selbstverwaltung. Fragen Sie doch einmal Kommunen wie Düsseldorf auf der einen und Kommunen wie Wuppertal,
Remscheid oder Solingen auf der anderen Seite, was es
bedeutet, wenn man die Höhe der Hebesätze demnächst
selbst festlegt. Was macht denn eine notleidende Kommune, die einen Nothaushalt hat und vielleicht noch von
der Kommunalaufsicht aufgefordert wird, die Hebesätze
hochzusetzen? Sie wird sagen: Ihr in Düsseldorf habt es
gut, weil ihr möglichst niedrige Hebesätze festlegen
könnt. - Sie heizen den Wettbewerb in unglaublichem
Maße an. Das ist das Resultat Ihrer Maßnahme zur Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, die Sie so preisen.
Denken Sie außerdem einmal über die Administrierbarkeit nach. Ich habe im Finanzausschuss einige Beispiele gebracht: Ich habe gefragt, was mit dem Kinderfreibetrag bzw. dem Kindergeld ist. Dieses Thema ist
heute schon kompliziert. Das sage ich vor allem an die
Adresse der FDP, die immer so tut, als würde sie Bürokratie abbauen.
({12})
Es wird demnächst zwei Günstigerprüfungen bei der
Frage geben müssen, ob man Kindergeld oder Kinderfreibetrag bekommt.
Diese Probleme setzen sich bei einer kommunalen
Einkommensteuer durch das gesamten Steuerrecht fort.
Von wegen Bürokratieabbau!
({13})
Sie schaffen da ein riesiges Bürokratiemonster! Das wissen diejenigen von Ihnen, die sich auskennen, ganz genau.
({14})
Ich komme zum Schluss. Der Staatssekretär hat die
sozialen Kosten angesprochen. Sagen Sie doch den Leuten, dass Sie Ihren Vorschlag im Vermittlungsausschuss
gestern wieder nicht durchsetzen konnten. Sie tun so, als
wären das alles großartige Maßnahmen, die Sie vorschlagen. Der Vermittlungsausschuss hat mit den Stimmen der B-Länder kein Ergebnis erzielt. Ihr toller Vorschlag, den Bundesanteil an den Kosten der Unterkunft
ständig zu senken und für ein Jahr 25,1 Prozent in Aussicht zu stellen,
({15})
wird auch von Ihren Ländern nicht unterstützt.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Haßelmann.
Selbst in Nordrhein-Westfalen setzt sich die CDU ab.
Sie hat gemeinsam mit Rot-Grün ein riesiges Kommunalprogramm verabschiedet,
({0})
in dem Ansprüche an die Bundesebene angemeldet werden.
({1})
Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Den letzten Anwurf von Ihnen, Frau Haßelmann, fand
ich wirklich ein bisschen dreist. Sie selber wollten 2005
die Beteiligung an den Unterkunftskosten auf null reduzieren.
({0})
Jetzt beschweren Sie sich ausgerechnet über diesen
Punkt. Das ist nun wirklich daneben, um es freundlich
auszudrücken. Das will ich vorwegschicken.
({1})
Eine zweite grundlegende Feststellung ist mir wichtig. Es ist eine kritische Situation für die Kommunen zu
konstatieren. Darüber kann man nicht hinwegsehen.
Aber wir müssen doch auch in aller Sachlichkeit feststellen, dass wir im Moment durch unsere Politik, aufgrund
der soliden Wirtschafts- und vor allem durch eine solide
Haushaltspolitik, den besten Beitrag dazu leisten, dass
sich die finanzielle Lage des Bundes, der Länder, aber
auch der Kommunen stabilisiert, und zwar in einem rasanten Tempo. Wir in Deutschland haben die höchste
Wachstumsrate seit Jahren und die niedrigste Arbeitslosigkeit seit fast 20 Jahren. Die Steuereinnahmen der
Kommunen steigen in einem erheblichen Umfang. Im
Verhältnis zum Vorjahr wachsen sie um 30 Prozent.
({2})
Die Kommunen werden schneller wieder den Stand des
Vorkrisenniveaus erreicht haben als die anderen staatlichen Ebenen Bund und Länder. Auch das gehört zur
Wahrheit. Das sollten wir vorweg feststellen. Die Politik
dieser Koalitionsregierung zahlt sich insbesondere für
die Kommunen aus.
({3})
Für uns gilt der Koalitionsvertrag. Dazu stehen wir.
Wir sehen natürlich auch die Realitäten. Wir sehen auch
die Positionierung der Kommunen bzw. der kommunalen Spitzenverbände. Deshalb gilt für mich, dass wir den
Ersatz der Gewerbesteuer weiter verfolgen. Ich halte es
nach wie vor für richtig, an diesem Ersatzmodell weiter
zu arbeiten. Wir stellen aber auch fest, dass der Bundesfinanzminister und die kommunalen Spitzenverbände in
der letzten Woche erklärt haben, dass die Kommunen die
Auffassung beibehalten, dass es nach wie vor keine tragfähige Alternative zur Gewerbesteuer gibt. Es sind ausdrücklich die Kommunen, die das erklärt haben, nicht
der Bundesfinanzminister.
({4})
- Das war eine gemeinsame Erklärung, aber es steht ausdrücklich drin, dass die Kommunen diese Position haben. - Ich bedaure das ausdrücklich. Der Kollege
Wissing hat eben auf die Unzulänglichkeiten der Gewerbesteuer hingewiesen. Die Verteilung ist ungerecht:
1 Prozent der Betriebe zahlt fast 75 Prozent des gesamten Gewerbesteueraufkommens. Vor allem hat sich die
Hinzurechnung in der Krisensituation, die wir durchgestanden haben, als absoluter Brandbeschleuniger gerade
für den Mittelstand herausgestellt. Es ist doch eine Katastrophe, dass Unternehmen besteuert werden, denen das
Wasser bis zum Hals steht und die um Liquidität ringen.
Wir haben uns doch mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz bemüht, diesen Betrieben wieder zu
Liquidität zu verhelfen. Diese werden nach Ihren Vorstellungen durch die Gewerbesteuerhinzurechnung zusätzlich belastet. Ich finde, das ist eine Katastrophe. Deswegen halte ich die Gewerbesteuer für ausgesprochen
reformbedürftig. Ich würde mir wünschen, wir würden
ein vernünftiges Ersatzmodell finden.
({5})
Das mag schwierig sein aufgrund der Positionierung der
Kommunen. Ich würde mir manchmal wünschen, der
eine oder andere kommunale Vertreter würde vielleicht
einmal kritisch hinterfragen, was seine Leute in den
Spitzenverbänden für ihn vortragen, ob dies wirklich in
seinem Interesse und im Interesse der jeweiligen Kommune ist und ob das gilt, was insbesondere der Städtetag
zum Besten gibt.
({6})
Ich sehe den Vorschlag eines Zuschlags zur Einkommensteuer gar nicht so negativ. Das Band zwischen Bürger und Kommune würde dadurch gestärkt. Dies ist auch
ein Stück Selbstverwaltung, und es mag aus meiner
Sicht ein Schritt sein, um den Einstieg in den Ersatz der
Gewerbesteuer zu erreichen. So könnte man es nämlich
auch betrachten.
Zu den Horrorszenarien über Städte- oder Kommunenwettbewerb und Stadtflucht, die Sie hier gemalt haben, nur zwei Zitate. Der Städte- und Gemeindebund hat
gesagt, Frau Haßelmann, dies sei vollständig wirklichkeitsfremd; sonst hätten unterschiedliche Abfall- und
Abwassergebühren schon längst zu einer Abwanderung
führen müssen.
({7})
Wir sehen auch - darauf hat der Staatssekretär zu
Recht hingewiesen -, dass sich der Gewerbesteuerwettbewerb eben nicht nachteilig auswirkt.
({8})
Auch der Landkreistag spricht von einer guten Grundidee. Deswegen sage ich: Wir sollten jetzt in aller Sachlichkeit und entspannt über diese gute Grundidee sorgfältig reden und miteinander im Gespräch bleiben. Die
ernste Lage der Kommunen fordert von uns eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem Thema, sachlich
und - das sage ich auch - an bestimmten Punkten ohne
parteipolitische Scheuklappen. Wir verfolgen das Ziel
weiter, aber wir sehen auch ganz klar, dass es eine Lösung nicht gegen, sondern nur mit den Kommunen geben kann.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Bernd Scheelen von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf darauf verweisen, wie das Thema dieser
Aktuellen Stunde eigentlich heißt: Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Bundesregierung über die Reform der Kommunalfinanzen. Es wäre schön, wenn wir
von Ihnen etwas dazu gehört hätten.
({0})
Stattdessen hörten wir Drohungen von Herrn Staatssekretär Koschyk, Falschbehauptungen von Herrn
Dr. Wissing und Herrn Middelberg.
({1})
Das, meine Damen und Herren, führt nicht weiter. Heute
geht es darum, festzuhalten, dass Sie mit Ihrer Gemeindefinanzkommission gescheitert sind. Mit dem, was dort
jetzt behandelt wird, stehen Sie vor einem Scherbenhaufen.
({2})
Wie sind Sie denn vor einem Jahr in diese Traumhochzeit von Schwarz und Gelb gestartet?
({3})
Sie haben in Ihren Koalitionsvertrag geschrieben, Sie
wollten die Gemeindefinanzierung auf eine neue Basis
stellen. Damit war ein Heilsversprechen verbunden. Die
Kommunen und die Menschen haben geglaubt, für ihre
schwierige finanzielle Lage sei Hilfe in Sicht. Wenn man
sich jetzt anschaut, was dabei herausgekommen ist, stellt
man fest, dass der Aufschlag in der Realität ziemlich
hart war. Der Bundesfinanzminister hat den Kommunen
in einem Alleingang erklärt, dass er die Abschaffung der
Gewerbesteuer nicht mehr weiterverfolge.
Da sage ich für die SPD-Fraktion - ich vermute, für
die ganze Oppositionsseite -: Bravo, sehr gut! Wenn Sie
das durchhalten können, haben Sie unsere Unterstützung, Herr Minister.
({4})
Nun ist Herr Minister Schäuble ja nicht da.
({5})
- Das ist ja kein Vorwurf. Ich wollte nur sagen: Sie, Herr
Koschyk, werden ihm das sicherlich berichten. - Wir haben ihn vor einem halben Jahr - da hatten Sie die Kommission noch gar nicht eingesetzt - gewarnt und gesagt:
Solche Kommissionen gab es schon. In den Jahren 2002
und 2003 gab es unter Rot-Grün eine solche Kommission, die genau dasselbe untersucht hat und am Ende zu
genau demselben Schluss gekommen ist, den der Minister jetzt für sich persönlich gezogen hat: Es macht keinen
Sinn, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Sie ist vielmehr
die geeignete Steuer für die Kommunen. - Das haben
wir Ihnen vor einem halben Jahr vorhergesagt. Sie hätten
sich die ganze Arbeit in der Kommission sparen können.
({6})
Zweitens sagt der Minister in seinem Vorschlag, er
wolle die Kommunen bei den Sozialausgaben entlasten.
Dazu sagen wir: Ja, das ist der richtige Weg; hier haben
Sie unsere Unterstützung. Das ist auch wichtig, weil wir
in Zukunft möglicherweise die Einzigen sind, die den
Minister in der Frage des Erhalts der Gewerbesteuer und
in der Frage der Entlastung der Kommunen bei den Sozialausgaben unterstützen. Von der FDP ist ja keine Unterstützung zu erwarten, und in der Union gibt es offensichtlich auch unterschiedliche Haltungen.
Den dritten Vorschlag betrachten wir allerdings kritisch. Deswegen sind wir auch gar nicht so sicher, ob es
der Minister wirklich ernst meint. Der dritte Vorschlag,
nämlich den Kommunen ein Zuschlagsrecht zur Einkommensteuer einzuräumen, hat die Qualität eines trojanischen Pferdes. Sie wissen, wie das damals war: Vor
Troja haben die abziehenden Danaer das Pferd hingestellt. Die Troer sind gewarnt worden, dieses in ihre
Stadt zu holen. Wissende haben gesagt: Wir trauen den
Danaern nicht, wenn sie mit Geschenken kommen.
Ich sage dem Minister: Wir trauen Ihnen nicht, wenn
Sie mit Geschenken kommen. - Es ist ein Danaergeschenk, was Sie auf den Tisch legen. Es ist der Versuch, die Gewerbesteuer durch die Hintertür abzuschaffen. Das machen wir nicht mit; da seien Sie mal ganz
sicher.
({7})
Was macht den Vorschlag im Einzelnen genau aus?
Es ist ein Bestandteil von drei Bestandteilen, den Sie eigentlich wollen. FDP und CDU wollen die Gewerbe7652
steuer abschaffen und das sogenannte Prüfmodell installieren. Das muss man für die Zuhörer mit einem Satz
erklären: Die Gewerbesteuer soll entfallen, die Wirtschaft soll entlastet werden; belastet werden sollen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Verbraucher;
({8})
ein bisschen soll noch bei den Unternehmen verbleiben.
Die Belastung der Bürgerinnen und Bürger soll über die
Einkommensteuer erfolgen. Wenn dieses Element jetzt
implementiert wird, ist das der erste Schritt zur Abschaffung der Gewerbesteuer. Dazu sage ich ganz deutlich:
Das machen wir nicht mit.
({9})
Dazu, wie dieser Vorschlag von Herrn Schäuble angekommen ist, will ich ein paar Zitate zur Kenntnis geben.
Ich hätte erwartet, zum Beispiel von Ihnen etwas zu hören, Herr Dr. Wissing. Ihre Reaktion in der Zeitung zu
dem Vorschlag war ja: Das können wir niemals mittragen. - Deswegen haben wir Ihnen heute die Gelegenheit
gegeben, zu sagen, warum nicht. Diese Chance haben
Sie verpasst.
({10})
Frau Homburger hat mit Blick auf den Minister gegenüber Journalisten gesagt: Er tut ja was, aber nicht
das, was wir wollen.
({11})
Herr Brüderle sagt als Retourkutsche für Brüssel: Das
war mit uns nicht abgestimmt. - Das zeigt doch, wie
wichtig diese Aktuelle Stunde ist. Die nächsten Redner
haben noch die Chance, auf dieses Thema endlich einzugehen. Von Ihnen haben wir nichts dazu gehört. Sie hätten die Chance gehabt.
({12})
Ich darf Minister Schäuble selber zitieren. Er sagte im
Hinblick auf die FDP - das finde ich sehr bemerkenswert -: Ich wünschte mir eine ähnliche kommunale Basis wie bei der CDU für die FDP. - Da hat er völlig recht.
Die FDP ist leider völlig abgehoben, hat mit den Kommunen nichts zu tun.
({13})
Deswegen reden Sie von der FDP hier so abgehoben daher. Sie wissen überhaupt nicht, wie die Lage vor Ort ist.
Sie sind hier auf steuerpolitischer Geisterfahrt, und das
kommentiert mittlerweile auch die Presse so. Die Welt
sagt: In der Koalition tobt ein neuer Steuerstreit. Im
Handelsblatt gibt es von Frau Riedel die Überschrift:
Steuerpolitik - das Verliererthema der Koalition. Werner
Sonne sprach vorgestern im Morgenmagazin im Interview mit Herrn Minister Brüderle vom bösen S-Wort.
Damit meinte er das Wort „Steuersenkung“. Das haben
Sie geschafft: „Steuersenkung“ ist mittlerweile ein negativ besetztes Wort. Die Menschen wissen, dass, wenn
von Steuersenkungen gesprochen wird, sie das unter
dem Strich bezahlen müssen: mit geschlossenen Theatern, mit geschlossenen Bädern, mit geschlossenen Büchereien. Das ist keine Politik, die wir mitmachen.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Birgit Reinemund von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Herr Scheelen, Sie haben minutenlang mit Dreistigkeit
versucht, einen Streit innerhalb der Koalition zu konstruieren.
({0})
Es ist Ihnen nicht wirklich gelungen.
({1})
Frau Haßelmann, ja, wir kümmern uns um die Kommunen. Die Koalitionsparteien haben sich bereits im Koalitionsvertrag darauf verständigt, die kommunalen
Finanzen auf eine solide, tragfähige und nachhaltige
Grundlage zu stellen. Dazu haben sie die Regierungskommission eingesetzt, deren Bericht wir bis Ende des
Jahres noch erhalten werden.
Grundlage war und ist - um Sie zu korrigieren, Herr
Scheelen -, die konjunkturanfällige Gewerbesteuer
({2})
durch einen höheren Anteil an der stabilen Umsatzsteuer
und einen kommunalen Zuschlag auf die Einkommenund Körperschaftsteuer mit eigenem Hebesatzrecht zu
ersetzen. Ziel war und ist, eine dauerhafte strukturelle
Einnahmeverbesserung für die Städte und Gemeinden zu
erreichen. Das ist die Vereinbarung im Koalitionsvertrag, das ist Prüfauftrag der Regierungskommission, einberufen von Minister Schäuble, und dahinter stehen wir
alle.
({3})
Natürlich sind Gedankenspiele erlaubt, auch solche
des Bundesfinanzministers und der kommunalen Spitzenverbände.
({4})
Überrascht, erstaunt und vielleicht ein bisschen irritiert
hat allerdings der Zeitpunkt: Einen solchen Vorstoß vor
Abschluss der Arbeit der Kommission hat niemand
wirklich erwartet. Irritation? Ja. Klarstellung? Ja. Streit?
Nein, das ist etwas ganz anderes, Herr Scheelen, zumindest bei uns.
({5})
Wenn die kommunalen Spitzenverbände jetzt keine
strukturelle Verbesserung mehr wollen, hängt dies sicherlich auch damit zusammen, dass die Kommunen den
konjunkturellen Aufschwung sehen und die Wachstumsdynamik der Gewerbesteuer zu schätzen wissen. Die
Steuerschätzung geht davon aus, dass die Kommunen
bereits 2012 ein Plus von 77 Milliarden Euro erzielen
werden und die Steuereinnahmen damit die des Rekordjahrs 2008 übertreffen werden. Beim Bund wird das übrigens erst 2013 passieren.
({6})
Damit verringern sich natürlich auch der Reformdruck
und die Reformbereitschaft.
Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofes vom August
dieses Jahres steht jedoch zu befürchten, dass Verrechnungen von Verlusten von Auslandstöchtern deutscher
Unternehmen auch bei der Gewerbesteuer möglich werden. Dadurch könnte es passieren, dass die Gewerbesteuereinnahmen trotz Aufschwungs wieder einbrechen ein Grund mehr, jetzt über Alternativen zur Gewerbesteuer zu diskutieren und nicht bloß über deren Ausweitung oder Ergänzung durch weitere Steuern.
Überwindung der Krise und Wirtschaftsaufschwung
waren die primären Ziele unserer Politik des letzten Jahres. Dieses Ziel haben wir erreicht.
({7})
Wir haben mit verantwortungsvoller Wirtschafts- und
Finanzpolitik den Rahmen gesetzt. Die Wirtschaft
wächst in einem Maße, um das uns die Welt beneidet:
um 3,7 Prozent dieses Jahr und 2,2 Prozent im nächsten
Jahr. Anfang des Jahres sprachen wir noch von 1,5 Prozent.
({8})
Für die Kommunen bedeutet das wachsende Einnahmen
bei gleichzeitig sinkenden Belastungen bei den Sozialkosten.
Für die Spitzenverbände scheint das Festhalten an einer althergebrachten Steuer, der Gewerbesteuer, mit all
ihren Problemen, die man kennt, augenscheinlich verlockender als die Aussicht auf echte strukturelle Verbesserungen. „Wir wollen mehr Geld“ in Krisenjahren und
„Mitnehmen der Wachstumsdynamik“ im Aufschwung
mag ja aus Sicht der Betroffenen nachvollziehbar sein;
eine dauerhafte Lösung kann das nicht darstellen.
({9})
Was bedeutet denn ein einseitiger Zuschlag auf die Einkommensteuer bei vollständigem Erhalt der Gewerbesteuer anderes als eine Steuererhöhung für die Bürger
zum Stopfen eines Haushaltslochs der Kommunen? Das
kann nicht die Lösung sein, nicht für die Bürger und
nicht für diese Koalition.
({10})
Die katastrophale Lage der Kommunen hängt nicht
nur mit der Wirtschaftskrise und dem Einbruch bei den
Steuereinnahmen zusammen - wir haben das heute
schon mehrfach gehört -, sondern eben auch mit der
Ausgabenseite, indem etwa Kommunen durch Aufgaben
belastet wurden, die ihnen vom Bund übertragen wurden,
({11})
ganz massiv zu Zeiten der rot-grünen Regierung.
({12})
Ich nenne einige Beispiele: Eingliederungshilfe, Grundsicherung im Alter und Tagesbetreuung. Das alles sind
Gesetzesvorgaben aus Zeiten der rot-grünen Regierung,
deren Scherben wir jetzt zusammenkehren müssen.
({13})
Die christlich-liberale Koalition strebt auch auf der
Ausgabenseite Entlastungen an. Auch dies ist ein Auftrag an die Kommission. Was haben Sie dagegen in den
letzten Jahren gemacht? - Nichts.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum
Schluss zwei Zitate von Herrn Koschyk aus der gestrigen Sitzung des Finanzausschusses anführen. Erstens:
Die Aussage unseres Finanzministers stellt keine
Vorwegnahme der Ergebnisse der Kommission zur
Reform der Gemeindefinanzen dar.
Zweitens sagte er, dass es „keine einseitige Belastung
der Bürger und Unternehmen geben wird“. Demnach
kann es also auch keine reine Steuererhöhung anstelle
von strukturellen Verbesserungen geben.
Wir erwarten in Kürze die Berechnungen und Ergebnisse der Kommission
({15})
und freuen uns auf eine konstruktive und offene Diskussion, nicht nur zwischen Finanzminister und Spitzenverbänden.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! In der letzten Zeit war es geradezu auffällig ruhig in
der Koalition. Da haben wir uns schon gefragt, ob dieses
einjährige Hickhack endlich beendet ist und die
Wunschkoalition, die ja mit einem veritablen Ehekrieg
gestartet ist, zu einer Liebesheirat mutierte. Es war aber
offenbar nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Dieser
Streit ist jetzt ausgebrochen, weshalb wir hier jetzt diese
Aktuelle Stunde haben.
Die Gemeindefinanzkommission, die die Bundesregierung eingesetzt hat, brütet noch darüber, wie sie den
Regierungsauftrag, die Gewerbesteuer abzuschaffen, gegen den ausdrücklichen Willen der Kommunen am besten umsetzen kann, da lässt der Minister nach einem Gespräch im kleinen Kreis etwas ganz anderes verlauten.
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der FDP, ich kann
Sie sehr gut verstehen, dass Sie empört sind. Allerdings
muss ich feststellen, dass keiner Ihrer Vorschläge wirklich geeignet ist, die desolate Lage der Kommunen dauerhaft zu verbessern.
({0})
Ich bekomme regelmäßig, fast wöchentlich, aus den
Kommunen meines Wahlkreises - aus den Kommunen,
nicht von den Funktionären der kommunalen Spitzenverbände - Briefe, die sich damit befassen, was die Folgen Ihrer Entscheidungen für die kommunalen Finanzen
bedeuten. Ich nenne nur zwei Beispiele: erstens die Auswirkungen des Atomgesetzes auf die Kommunen und
zweitens die beabsichtigte Änderung im Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz.
Ein Hauptproblem der kommunalen Finanzen - das
ist hier angesprochen worden - sind die sozialen Transferleistungen. Würde sich die Bundesregierung endlich
dazu durchringen, einen Mindestlohn einzuführen, der
auskömmlich ist, könnten die Kommunen hier Milliarden einsparen.
({1})
- Ja, aber sicher doch. - Da die Regierung dies ablehnt,
ist es kein Geschenk, sondern nur konsequent, dass diese
durch Nichthandeln entstehenden Kosten den Kommunen von Ihnen erstattet werden.
Aber es gibt ja weitere Zusatzausgaben. Da vielleicht
nicht alle von Ihnen in kommunalen Parlamenten so verankert sind, wie ich es bin, nenne ich Ihnen ein paar Beispiele, wie es dort aussieht.
Die Bearbeitung des neuen Personalausweises ist wesentlich zeitintensiver als die des alten Personalausweises. Schon in einer Stadt wie Bergen mit 10 000 Einwohnern benötigt man eine zusätzliche halbe Stelle nur für
die Bearbeitung dieser Personalausweise. Eine die Verwaltungskosten deckende Erstattung ist Fehlanzeige;
nichts passiert dort.
Die Kinderbetreuung ist ein weiteres Beispiel. In meiner Heimatgemeinde gibt es eine Grundschule, die keine
Ganztagsbetreuung hat. Die Betreuung wird jetzt von
der Kommune selbst organisiert und weitgehend selbst
finanziert. Täte die Kommune dies nicht, entstünde ein
Betreuungsloch zwischen Ganztagskindergarten und
weiterführender Schule mit allen uns bekannten Konsequenzen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
Standortattraktivität und dergleichen. Kostenpunkt für
eine kleine Grundschule in einer 8 000-Einwohner-Gemeinde: 84 000 Euro im Jahr. Die Ausgaben sind notwendig, können im Prinzip aber nicht den Kommunen
zugemutet werden.
Auf der anderen Seite gibt es irrsinnige Regelungen
mit der Umsatzsteuer. Das Schwimmbad in Stadensen,
einem Ort in meinem Wahlkreis, hätte geschlossen werden müssen, wenn die Kommune den Betrieb nicht einem eigens gegründeten Verein übertragen hätte. Dieser
Verein erhält einen nicht kostendeckenden Betriebskostenzuschuss von der Kommune. Auf diesen Zuschuss
muss aber Umsatzsteuer gezahlt werden. Dadurch reduziert sich dieser Zuschuss deutlich, und Land und Bund
freuen sich über zusätzliche Einnahmen aus dem kommunalen Säckel. Es ist doch hervorragend, wenn man
das so löst.
({2})
Um all diese Löcher zu stopfen, schlägt Herr
Schäuble vor, zusätzlich zur bestehenden Gewerbesteuer
eine kommunale Einkommensteuer einzuführen. Dieser
Vorschlag ist weder neu noch hilfreich. Dieser Vorschlag
lässt Teile der Wirtschaft weiterhin unbelastet und bürdet
die Kosten der arbeitenden Bevölkerung auf.
({3})
Zudem hätte eine kommunale Einkommensteuer unerwünschte Nebenwirkungen. Eben ist von den Vorrednern
schon darüber diskutiert worden, ob es diese Nebenwirkungen gibt oder nicht. Darüber werden wir in den Ausschüssen weiter reden. Wir sind der Meinung, dass wir
zwischen Kernstädten und Umland deutliche Unterschiede haben werden, was wir für nicht sachgerecht
halten. Der Vorschlag von Herrn Schäuble bringt mehr
Verwaltungsaufwand, mehr Spaltung, aber weniger Kontinuität und weniger Rechtssicherheit.
({4})
Dieser Vorschlag ist aber insofern nicht erstaunlich,
als die Bundesregierung konsequent an den Bedürfnissen der Kommunen vorbei regiert. Symptomatisch dafür
ist, wie die Fraktionen von Union und FDP mit der Arbeit des Unterausschusses Kommunales umgehen. Diese
Arbeit wird konsequent verschleppt. Sie wollen sich ofKirsten Lühmann
fenbar nicht übermäßig intensiv mit den Belangen der
Kommunen in diesem Haus beschäftigen.
Abschließend zur Gewerbesteuer: Aus unserer Sicht
gehört sie nicht abgeschafft oder zementiert, sie gehört
ausgebaut und reformiert.
({5})
Sie sichert die Wahrnehmung der kommunalen Aufgaben, und das ist für uns alle wichtig; denn die finanzielle
Autonomie der Kommunen bildet das Fundament demokratischer Selbstorganisation und bürgerlicher Freiheit.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Flosbach von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist erstaunlich, wie die SPD heute in der von ihr beantragten Aktuellen Stunde das Thema verfehlt. Endlich
haben wir eine Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen.
({0})
Endlich sind die Kommunen an dieser Reformkommission beteiligt. Das haben Sie nicht geschafft. Sie haben
die Kommunen immer außen vor gelassen.
({1})
- Herr Poß, zu Ihnen komme ich gleich noch.
Wir alle kennen das Problem der Kommunen, nämlich dass ihre Ausgaben dramatisch gewachsen sind,
weil die Soziallasten sehr stark gestiegen sind. Dazu gehören die Grundsicherung, die Kosten der Unterkunft,
die Eingliederungshilfe und die Kosten für die stationäre
Pflege.
Da Sie, Herr Poß, gerade dazwischengerufen haben:
Schauen Sie sich einmal die Seiten 4780 ff. im Stenografischen Bericht aus dem Jahr 2003 an. Es gab damals
eine große Debatte über die Zukunft der Kommunen.
Die SPD war damals der Meinung, dass die Soziallasten
kein Problem des Bundes, sondern das Problem der
Kommunen sind. Lesen Sie es einmal nach. Dann können Sie erkennen, wie die Regierungspolitik der SPD
und der Grünen im Jahr 2003 gewesen ist.
({2})
Zu Ihrer Zeit ist die Grundsicherung für Menschen mit
einer geringen Rente eingeführt worden. Diese Lasten
sind vom Bund auf die Kommunen übertragen worden.
Sie haben den Kommunen nur geringe finanzielle Unterstützung gegeben. Wir haben das reformiert, indem wir
eine dynamische Anpassung vorgenommen haben.
Frau Lühmann, Sie haben gerade ein paar nette Beispiele genannt. Schauen Sie sich einmal die Seite 1656
des Stenografischen Berichts aus dem Jahr 2003 an. In
der entsprechenden Debatte sagte Frau Hendricks, die
heute leider nicht anwesend ist, dass die Grundsicherung
überhaupt keine Personalkosten zur Folge hat. Das war
damals die Politik von Rot-Grün.
({3})
Herr Koschyk hat schon einige treffende Beispiele genannt. Einer Ihrer ersten Schritte damals war, Frau
Haßelmann, die Gewerbesteuerumlage anzuheben, weil
es den Kommunen anscheinend so gut ging. Das können
wir Ihnen im nächsten Jahr noch vorhalten. Im Jahre
2005 wollten Sie die Kommunen mit 2,5 Milliarden
Euro belasten, indem Sie ihnen keinen Euro Zuschuss
für die Kosten der Unterkunft geben wollten. Das ist rotgrüne Politik gewesen.
({4})
Als wir im Jahr 2005 an die Regierung kamen, haben wir
selbstverständlich als ersten Schritt - das war eine Bedingung für das Zustandekommen der Koalition - die
Gewerbesteuerumlage für die Kommunen gesenkt. Außerdem haben die Kommunen einen Anspruch auf Zuschuss zu den Kosten der Unterkunft erhalten. Das war
Politik der Union im Jahre 2005.
Natürlich wissen wir, dass die Einnahmen sehr
schwankend sind. Gerade die letzten Jahre haben deutlich gezeigt, welche Probleme bei den Kommunen existieren. Entweder entlasten wir die Kommunen von bestimmten Aufgaben, oder sie müssen einen Teil über die
Einnahmen selbst gestalten können.
Die Gewerbesteuer ist nach wie vor das Thema für
die SPD. Aber wir haben niemals von der einseitigen
Abschaffung der Gewerbesteuer gesprochen. Wir haben
immer von einem Ersatz der Gewerbesteuer gesprochen;
denn wir wissen, dass die Kommunen eine wirtschaftsbezogene Steuer brauchen.
({5})
Das Problem ist, dass Firmen und Unternehmen Gewerbesteuer zahlen müssen, auch wenn sie keinen Gewinn
machen. 7 Prozent der Gewerbesteuereinnahmen der
Kommunen ergeben sich aus den sogenannten ertragsunabhängigen Bestandteilen. Wir wollten immer eine gemeinsame Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer
und für die Körperschaftsteuer haben, damit Millionen
Betriebe nicht jedes Jahr eine Gewerbesteuererklärung
abgeben müssen. Es geht also um ein Stück Bürokratieabbau.
({6})
Schauen Sie sich einmal die Situation bei den Personenunternehmen an. Alle diese Unternehmen müssen
eine Gewerbesteuererklärung abgeben. Sie geben das
Geld der Kommune, bezahlen noch den Steuerberater
und holen sich das Geld hinterher vom Finanzamt über
die Anrechnung ihrer Gewerbesteuerzahlung wieder zurück. Die Kommunen sind in der folgenden Situation:
Sie müssen nach wie vor die Gewerbesteuerumlage zahlen; den Rest behalten sie möglicherweise nur zu einem
Teil, weil anschließend die Zuweisungen des Landes gekürzt werden. Das ist doch ein absurdes System; das
müssen wir doch nicht zwingend aufrechterhalten.
({7})
Sie kritisieren den Vorschlag der Einführung eines
Hebesatzes der Kommunen bei der Einkommensteuer,
über den diskutiert wird. Natürlich muss über die Einnahmemöglichkeiten der Kommunen diskutiert werden.
Bei der Gewerbesteuer und bei der Grundsteuer gibt es
schon einen Hebesatz der Kommunen. Das ist doch
zwingend notwendig, um den Kommunen eine eigenverantwortliche Einnahmepolitik zu ermöglichen.
Frau Haßelmann, es ist schon erstaunlich, dass auch
die Grünen dagegen wettern. Bürgerbeteiligung, Einbeziehung der Menschen in die Politik - welch ein Graus
für die Grünen.
({8})
Das ist aber nicht unsere Politik. Wir wollen eigenverantwortliche Kommunen; die Kommunen sollen stark
sein. Wir wollen die Kommunen stärken; denn die kommunale Selbstverwaltung ist eines der höchsten Güter
unserer Demokratie.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Peter Friedrich von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offensichtlich hat der 11.11. - das ist jetzt übrigens keine
Seitenzahl - einigen schon aufs Temperament geschlagen. Ich halte Ihre Behauptung für eine Mär, dass es nur
einige kommunale Spitzenverbände und Oberbürgermeister seien, die hier im Namen der Kommunen eine
irrige Position verträten, während die Kommunen in
Wahrheit geradezu darauf hofften, allen voran durch die
FDP aus der schlechten Situation bei der Gewerbesteuer
gerettet zu werden. Inzwischen beschließen Gemeinderäte und Kreisräte flächendeckend Resolutionen und
Aufforderungen an die Bundesregierung. Sogar die
NRW-CDU ergeht sich auf ihrem Parteitag in tätiger
Reue ob ihrer kommunalpolitischen Vergangenheit, ob
dessen, was die CDU in der Landesregierung angerichtet
hat. So hat die CDU im Landtag der Resolution zugestimmt. Sie stellen sich hier hin und tun so, als gehe es
nur um ein paar kommunale Irrläufer. Dabei wird flächendeckend, unisono die Meinung vertreten, dass ein
eigener Hebesatz bei der Einkommensteuer abzulehnen
ist, vielleicht abgesehen von ein paar Umlandgemeinden, die von einem solchen Hebesatzrecht profitieren
würden, weil sie fast keine Sozialleistungen tragen und
keine Zentralitätsfunktionen übernehmen müssen, dafür
aber viele gut verdienende Einwohner haben. Diese Umlandgemeinden würden von einer solchen Reform profitieren; der komplette Rest ist gegen diese Reformvorschläge, die Sie hier mantraartig herunterbeten.
({0})
Ich bin wie einige Abgeordnete von der CDU/CSU
zugleich Mitglied eines Kreistages, des Kreistages des
Landkreises Konstanz. Dieser Kreistag hat am 25. Oktober eine entsprechende Resolution beschlossen. Alle
Fraktionen mit Ausnahme der FDP-Fraktion waren dafür. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
den Bürgermeistern und Kreistagsfraktionen der Union
müssen doch die Ohren klingeln; sie müssen sich doch
schämen, dass sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
hier von der FDP den Ring durch die Nase ziehen lässt
und auch noch für das, was Herr Schäuble angekündigt
hat, Beifall spendet.
({1})
Er hat natürlich versucht, das Ergebnis der Kommission
vorwegzunehmen, indem er gesagt hat, er wolle nichts
gegen den Willen der kommunalen Spitzenverbände
durchsetzen. Herr Schäuble wird dieses Versprechen
nach dem, was die FDP hier eben aufgeführt hat, nicht
halten können. Damit ist deutlich: Herr Schäuble kann
sich an dieser Stelle überhaupt nicht in der Koalition
durchsetzen. Die Kommunen werden auch von Ihnen im
Stich gelassen.
({2})
Das ist übrigens schwarz-gelbe Tradition: Am
4. Februar dieses Jahres hat die Vorsitzende der Fraktion
der FDP ein bemerkenswertes Interview gegeben, in
dem sie sagte:
Das Gejammer der Kommunen nervt mich.
({3})
- Das hat Frau Homburger gesagt.
({4})
Die Reaktion von Schwarz-Gelb in diesem Jahr war
doch: Allein die Maßnahmen, die Sie mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz beschlossen haben, kosten
jede baden-württembergische Kommune in diesem Jahr
35 Euro pro Einwohner an nicht eintretenden Steuereinnahmen.
({5})
Das ist nur eine Zahl für Baden-Württemberg; aber es ist
flächendeckend so. Baden-Württemberg ist das Land,
das in der Vergangenheit am meisten von hohen Gewerbesteuereinnahmen profitiert hat. 86 von 91 großen
Kreisstädten haben inzwischen eine negative Nettoinvestitionsrate. Das ist auch das Ergebnis Ihrer Politik.
({6})
Wie reagieren die Kommunen darauf? Sie reagieren
mit der Schließung von Einrichtungen und - das wollten
Sie auf keinen Fall - mit Steuererhöhungen. Außerdem
reagieren die Kommunen mit Anpassungen der Gebühren - in der Regel nach oben - für Kindergärten, Bibliotheken und sonstige öffentliche Einrichtungen. Was wir
hier sehen, ist nichts anderes als das Spiegelbild Ihrer
Mehr-Netto-vom-Brutto-Lüge. Sie über-lassen den Kommunen die Aufgabe, bei den kommunalen Steuern und
Abgaben zuzulangen, da Sie ihnen die Butter vom Brot
nehmen.
({7})
Wenn man sich die Aufgaben der Kommunen anschaut, stellt man fest, dass ihre Politik dramatische Folgen hat. Die Kommunen sind dafür zuständig, dass wir
gute Bildungseinrichtungen haben. Die Kommunen sind
inzwischen die wahren Träger der Bildungspolitik. Mit
dem, was Sie bisher getan haben und noch vorhaben
- ich komme gleich auf das zu sprechen, was Sie prüfen
lassen -, nehmen Sie den Kommunen in Wahrheit die
finanzielle Grundlage, die sie benötigen, um Bildungseinrichtungen und andere soziale Einrichtungen zu
finanzieren. Deswegen richtet sich Ihr Vorschlag gegen
Bildung. Aus meiner Sicht ist die FDP daher eine Antibildungspartei.
({8})
Zum Zuschlagsmodell. Die Unterlagen, über die in
der Kommission diskutiert wird, sind doch einsehbar. Es
gibt einen wunderbaren Zwischenbericht des Arbeitskreises Administrierbarkeit für die Sitzung der Arbeitsgruppe Kommunalsteuern am 17. Juni 2010. Diesen Bericht haben Sie. Schauen Sie ihn sich doch einmal an.
Kollegin Haßelmann hat das Thema schon angesprochen. Es geht um die nochmalige Günstigkeitsprüfung,
den Familienleistungsausgleich, an den man noch einmal herangeht, um Abgrenzungsprobleme bei der Verrechnung ausländischer Steuerverpflichtungen, um die
Frage des sogenannten unterjährigen Wohnsitzwechsels
und um die Zuschlagsverwaltung durch die Kommunen.
Seitenlang wird dargelegt, welcher Verwaltungsaufwand
notwendig ist, um dieses kleine Fenster, das Sie anbieten
wollen, überhaupt administrieren zu können. Ich sage Ihnen: Am Ende wird die Soße teurer als der Braten.
({9})
Sie würden eine riesige Bürokratie und eine enorme Verunsicherung aufbauen. Schauen Sie doch einmal in die
Schweiz. In vielen Dingen bin ich ein Fan der Schweiz:
Volksentscheide etc. Aber die Kommunalisierung des
Steuersystems hat in der Schweiz zu einem Steuersenkungswettbewerb geführt und damit zu einer Senkung
der Standards.
({10})
Also, lassen Sie die Finger davon. Gehen Sie mit uns
daran, die Gewerbesteuer auf eine vernünftigere, breitere
Grundlage zu stellen, damit es auch in der Wirtschaft
zwischen den Beteiligten gerecht zugeht. Dann wird ein
Schuh daraus. Lassen Sie die Finger von Ihrem Vorhaben. Zeigen Sie vielleicht ein klein bisschen Reue für
das, was Sie in dieser Woche bei diesem Thema aufgeführt haben. Nach dieser Behandlung des Finanzministers durch Ihren Koalitionspartner würde ich ein bisschen zerknirscht an das Rednerpult treten und weniger
auf diejenigen einprügeln, die in früherer Zeit Regierungsverantwortung innehatten.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Peter Aumer von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich durfte die Debatte jetzt eine Stunde lang verfolgen. Ich habe mich gefragt: Was wollte die SPD mit dieser Aktuellen Stunde erreichen?
({0})
Kam von der Opposition ein konstruktiver Vorschlag,
wie es mit den Kommunalfinanzen in Zukunft weitergehen soll? Nein, der kam nicht. Es kamen Angriffe auf die
Regierung.
({1})
- Ich war mit allen Sinnen anwesend, obwohl heute Faschingsanfang ist. Aber der Faschingsanfang wurde eher
auf der linken Seite des Hauses zelebriert als auf unserer.
Uns geht es um ein konstruktives Arbeiten für
Deutschland. Uns geht es darum, dass die Kommunen
eine gute Zukunft haben. Wir versuchen in der Gemeindefinanzkommission gemeinsam, eine tragfähige und
zukunftsfähige Lösung für unsere Kommunen zu finden.
({2})
Ich glaube, es ist wichtig, dass man in der Sache streitet
und kämpft. Man muss alles andenken; das steht auch in
der heutigen Ausgabe der Zeit. Man muss über den Erhalt der Gewerbesteuer nachdenken, alle Möglichkeiten
überdenken und nach guten Lösungen suchen.
Sie haben heute den nordrhein-westfälischen Landtag
angesprochen. Ich habe in einer Stellungnahme des
Hauptgeschäftsführers des Städte- und Gemeindebundes Nordrhein-Westfalen eine Aussage zu dem Gespräch
mit Bundesfinanzminister Schäuble in der letzten Woche
gefunden. Er hat geschrieben, dass das jüngste Gespräch
mit dem Bundesfinanzminister Dr. Schäuble Anlass zur
Hoffnung gibt, dass die Arbeit der Gemeindefinanzkommission zu übergreifenden Ergebnissen führen wird. Das
ist das, was wir wollen. Wir wollen Ergebnisse für die
Kommunen. Wir wollen zukunftsorientierte Lösungen
im Bereich der Kommunalfinanzen. Wir wollen aber
keine unnötige Diskussion. Wir sind dabei, Lösungen zu
finden. Ich finde es nicht abwegig, dass man sich manchmal streitet. Manche Lösungen lassen sich im Streit gut
erarbeiten. Wir haben die parlamentarische Debatte noch
nicht einmal begonnen. Wenn wir so weit sind, sind
CDU/CSU und FDP sicherlich in der Lage, eine für die
Kommunen gute Lösung zu finden.
({3})
Ich glaube, es war wichtig, dass der Bundesfinanzminister in der letzten Woche gesagt hat, dass es ohne
die Kommunen keine Entscheidung geben wird.
Das war, glaube ich, das Zentrale. Der zweite Punkt war,
dass man ausgaben- und einnahmeseitig Lösungen finden muss. Das ist der wesentliche Punkt, über den wir
heute streiten müssen.
Der Hauptgeschäftsführer hat gesagt, es müssten
greifbare Ergebnisse geliefert werden, nur so könnten
wir wieder Vertrauen schaffen. Wir haben in diesem
Herbst greifbare Ergebnisse auf den Weg gebracht. Die
letzten Wochen haben gezeigt, dass die Koalition entscheidungsfähig ist, dass wir Entscheidungen auf den
Weg bringen, die für die Zukunft unseres Landes wichtig
sind. Das wird auch bei den Kommunalfinanzen so sein.
Der Bundesfinanzminister hat die Gewerbesteuer auf
den Prüfstand gestellt. Wir als CSU haben immer gesagt,
dass es ohne die Zustimmung der Kommunen keine Änderung bei der Gewerbesteuer geben wird. Ich glaube,
dass man sich in der letzten Woche einig war, dass man
nur gemeinsam Lösungen finden kann.
Ein Hebesatz auf die Einkommensteuer ist ein überlegenswerter Ansatz, den es zu prüfen gilt.
({4})
- Das sagen Sie. Ich bin in zwei kommunalen Parlamenten: im Gemeinderat bei mir zu Hause und im Kreistag.
Sich von der SPD vorhalten zu lassen, wir seien fern der
kommunalen Wahrheit, würde ich mir fast schon verbitten.
({5})
Ich glaube, der größte Teil aller hier im Bundestag Vertretenen - auch unserer Fraktion - ist kommunalpolitisch verankert und weiß, um was es geht. Die Kommunen sind ein wesentlicher Bestandteil des deutschen
Staatssystems.
Ich glaube, wir brauchen auch nicht die Linken, um
gute Entscheidungen zu treffen.
({6})
Die Gemeindewirtschaftsteuer ist kein durchdachter
Vorschlag. Rechnen Sie das Modell doch einmal durch,
und legen Sie auch Zahlen für das, was Sie vorschlagen,
auf den Tisch. Dann kann man weiter darüber reden.
({7})
Aber stellen Sie nicht irgendwelche Forderungen, die
nichts bringen, die nicht zukunftsorientiert sind und
keine Lösungen darstellen.
({8})
Mir ist bei der Debatte ein Zitat aus der Heiligen
Schrift eingefallen. Der Heilige Paulus hat einmal gesagt: Prüfet alles, und behaltet das Beste. - Ich glaube,
das ist in dieser Debatte auch sinnvoll. Wir machen uns
Gedanken über das Große und Ganze, darüber, wie man
die Kommunalfinanzen befördern kann. Ich glaube, wesentlich ist, dass wir die Kommunen nicht alleinlassen
und die beste Entscheidung finden. Mir ist nicht bange.
({9})
- Ja, das kann sein. Ich glaube, die Menschen haben uns
ihr Vertrauen geschenkt, weil wir für Deutschland und
für die Kommunen arbeiten, und dass das Beste am Ende
siegen wird.
Vielleicht sollten wir bei den nächsten Aktuellen
Stunden konstruktiv diskutieren, Lösungen auf den
Tisch legen und nicht nur für Unterhaltung sorgen und
einen Keil in die Regierung treiben. Dann ergibt das
Ganze Sinn.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Bernhard Kaster von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Das, was wir uns jetzt von der SPD zum
Thema Kommunalfinanzen haben anhören müssen, war
nichts anderes als politische Schaumschlägerei.
({0})
Ausgerechnet Sie von der SPD sorgen sich heute um
Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung, obwohl Sie genau wissen, dass das Thema KommunalfiBernhard Kaster
nanzen von der Bundesregierung und der Koalition in
Verbindung mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden, die Sie immer außen vor gelassen haben,
in einem Maße angegangen wird, wie es noch nie der
Fall war.
({1})
Es geht außerdem nicht nur um Kommunalfinanzen;
da liegt der Unterschied. Es geht auch um Standards, um
Ausgabenentlastungen und um eine bessere Beteiligung
der Kommunen am Gesetzgebungsverfahren. Wir wollen eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung.
Sie wissen ganz genau, dass wir auf dem Gebiet der
Standards - Staatssekretär Koschyk hat das schon erwähnt - auf einem guten Weg sind; es liegen rund
100 Vorschläge vor.
({2})
Auch beim Gesetzgebungsverfahren kommen wir voran.
Wir hatten in der letzten Sitzungswoche schon Anhörungen im Geschäftsordnungsausschuss. Vieles ist auf einem guten Weg, und am Ende wird ein vielfältiger Pakt
für die Kommunen stehen.
Es ist schon dreist, wie Sie beim Thema Kommunen
heute dicke Backe machen, wo Sie doch in rot-grüner
Zeit - das ist schon angesprochen worden; aber man
kann es nicht oft genug sagen -, als die SPD die Bundesregierung geführt hat, hinsichtlich der Stärkung der
Kommunen jegliche Glaubwürdigkeit verloren haben.
({3})
Man muss immer wieder daran erinnern, dass in den Jahren bis 2005 die kommunalen Defizite auf 8 bzw.
9 Milliarden Euro gestiegen sind; im Schnitt waren es
5 Milliarden Euro. Zu der Zeit hatten wir keine globale
Finanz- und Wirtschaftskrise; das war die rot-grüne
Krise für die Kommunen.
({4})
Die Gewerbesteuerumlage wurde erhöht, und in einer
Nacht-und-Nebel-Aktion - da war die Bundestagswahl
schon gelaufen - wollte man noch den Zuschuss zu den
Kosten der Unterkunft auf null setzen.
({5})
Ich muss sagen: Sie waren wahre Helden.
Unser Finanzminister hat nunmehr sehr diskussionswürdige innovative Vorschläge unterbreitet. Dazu gehört
auch das kommunale Zuschlagsrecht bei der Einkommensteuer. Dieser Vorschlag greift unser Verständnis
von Selbstverwaltung, von Subsidiarität und von Verantwortung vor Ort auf. Bei den Kommunalfinanzen darf es
eben nicht nur darum gehen, dass der Bund gönnerhaft
Geld gibt oder, wie Sie es getan haben, machtvoll
nimmt. Geld und Verantwortung gehören immer zusammen.
({6})
Bei der Finanzierung der Kommunen müssen wir immer drei wichtige Finanzbeziehungen bedenken: die Beziehung zwischen Kommune und Bürger, die Beziehung
zwischen Kommune und Wirtschaft sowie die Beziehung zwischen Kommune und Grund und Boden. In der
Beziehung zwischen Kommune und Wirtschaft haben
wir bereits Gestaltungsmöglichkeiten, nämlich Hebesätze. Wir haben ebenfalls Gestaltungsmöglichkeiten in
der Beziehung zwischen Kommune und Grund und Boden. Dieser Vorschlag ist daher im Hinblick auf Entscheidungsmöglichkeiten vor Ort sehr diskussionswürdig und passt in die Systematik.
Wie waren die Reaktionen seitens der SPD? Man
kann feststellen, dass es auch bei einem solchen Thema
anscheinend nicht möglich ist, auf Grundsätzen basierende Zukunftsentscheidungen innovativ und mutig zu
treffen. Sie reagieren je nach tagespolitischer Stimmung.
Das war auch hier der Fall. Die Rede war von Steuerkrieg und ganz schlimmen Wettbewerbssituationen.
Ausgerechnet der Ministerpräsident von RheinlandPfalz sprach von gigantischen Steuererhöhungen, also
der Ministerpräsident eines Landes, das allein von der
SPD regiert wird und bereits seit Jahren die Kommunen
im Rahmen des Finanzausgleichs plündert.
({7})
Hier ist jetzt von Wanderbewegungen und Steuererhöhungen die Rede. Über was genau sprechen wir bei
einem solchen Zuschlagsrecht? Es geht um einen 15-prozentigen Anteil der Kommunen am Einkommensteueraufkommen. Wenn man den Rahmen von 5 Prozent voll
ausschöpfen würde, würde der kommunale Anteil bei einem mittleren Einkommen - hier geht es um 10 000 Euro
Einkommensteuer - im Jahr bei 75 Euro liegen. Bei guten Einkommen würde dieser Anteil vielleicht 200 bis
300 Euro betragen. Angesichts dessen von Wanderbewegungen zu sprechen, wohl wissend, dass die Unterschiede zwischen den Gemeinden bei Abwasser- und
Abfallgebühren sowie Grundsteuer wesentlich größer
sind, ist einfach Unsinn.
({8})
Die Selbstverwaltung trägt in einem ganz erheblichen
Maße zur Stärke unseres Landes bei. Haben wir Zutrauen in die Bürger vor Ort, die sich für ihre Gemeinde,
ihre Stadt ehrenamtlich engagieren! Es lohnt sich, die
Finanzgrundlagen unserer Kommunen, die Verantwortung vor Ort tragen, nachhaltig und dauerhaft zu sichern.
Für uns, die Union und die Koalition, gilt: Wir müssen
den Kommunen und ihren gewählten Vertretern Vertrauen schenken und ihnen Geld und Verantwortung
überlassen. Wenn es den Gemeinden gut geht, geht es
dem ganzen Land gut.
({9})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a und b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des
Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung ({0})
- Drucksache 17/2413 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in
der gesetzlichen Krankenversicherung ({1})
- Drucksachen 17/3116, 17/3211 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2})
- Drucksache 17/3698 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Hennrich
Ulrike Flach
Birgitt Bender
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Elke Ferner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Effektivere Arzneimittelversorgung
- zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Marlies Volkmer, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Öffentlichen Zugang zu Informationen über
klinische Studien umfassend sicherstellen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verpflichtung zur Registrierung aller klinischen Studien und zur Veröffentlichung aller
Studienergebnisse einführen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Dr. Martina Bunge, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Unabhängige Patientenberatung in Regelangebot überführen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für ein modernes Preisbildungssystem bei
Arzneimitteln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt
Bender, Fritz Kuhn, Maria Anna KleinSchmeink, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Qualität und Sicherheit der Arzneimittelversorgung verbessern - Positivliste einführen - Arzneimittelpreise begrenzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Anna
Klein-Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unabhängige Patientenberatung ausbauen
und in die Regelversorgung überführen
Drucksachen 17/1201, 17/1768, 17/893, 17/2322,
17/2324, 17/1418, 17/1985, 17/3698 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP liegen ein Änderungsantrag und ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor. Über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP sowie über den Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesminister Dr. Philipp Rösler das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordnete! Die Maßnahmen zur Neuordnung
des Arzneimittelmarktes in Deutschland haben drei wesentliche Ziele: erstens auch die Pharmaindustrie in Verantwortung zu nehmen, wenn es darum geht, die finanzielle Lage der gesetzlichen Krankenversicherung zu
konsolidieren; zweitens das bisherige Preismonopol der
Industrie durch die Etablierung eines neuen, wettbewerblichen und damit fairen Preisfindungsverfahrens zu
brechen und drittens den Zugang der Menschen zu den
bestmöglichen Medikamenten sicherzustellen, und dies
bei gleichzeitig besserer Preiskontrolle, als sie bisher
möglich ist. Wenn Sie sich den aktuellen Gesetzentwurf
ansehen, dann können Sie feststellen, dass alle drei Ziele
zu 100 Prozent erreicht worden sind.
({0})
Alleine durch das GKV-Änderungsgesetz und das
Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, dessen Entwurf
Ihnen vorliegt, werden im letzten Quartal 2010 und im
Gesamtjahr 2011 für die Versicherten in Deutschland
Einsparungen in Höhe von 2 Milliarden Euro realisiert.
Nur zur Erinnerung: In Ihrer rot-grünen Regierungszeit
hatten auch Sie angekündigt, die Pharmaindustrie mit
Sparpaketen in Milliardenhöhe zu belasten. Daraus ist
eine Einmalzahlung in Höhe von 400 Millionen Euro geworden. Dieses Zahlenbeispiel zeigt, wie entschlossen
diese Regierungskoalition ist, wenn es darum geht, auch
die Pharmaindustrie im Interesse der Versicherten in
Verantwortung zu nehmen.
({1})
Frau Bender, es war übrigens eine grüne Ministerin, die
diesen Versuch unternommen hat und am Ende gescheitert ist.
Die einseitige Preisfestlegung wird beendet. Künftig
wird die Industrie bei der Einführung eines neuen Produkts immer auch Daten vorlegen müssen, die die Menschen in die Lage versetzen, den Nutzen bzw. den Zusatznutzen zu bewerten. Anders als es manchmal von der
Opposition dargestellt wird, soll diese Nutzenbewertung
ausdrücklich nicht von der Industrie vorgenommen werden, sondern von einem unabhängigen Gremium der
Selbstverwaltung, nämlich vom Gemeinsamen Bundesausschuss, gegebenenfalls unter Hinzuziehung des Instituts
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Dadurch stellen wir sicher, dass es keine überhöhten
Preisforderungen gibt, wie Sie, lieber Herr Kollege
Lauterbach, manchmal zu unterstellen versuchen. Denn
künftig werden nicht mehr die Preiskalkulationen der Industrie, sondern die entsprechenden Nutzenbewertungen
Grundlage der Vertragsverhandlungen sein.
({2})
Erstmalig gibt es also eine wissenschaftliche Grundlage
für die künftige Preisgestaltung.
Medikamente, die im Vergleich zu anderen Medikamenten keinen Zusatznutzen haben, werden übrigens automatisch in die sogenannten Festbetragsgruppen eingeordnet. Mit diesen Medikamenten kann man dann keinen
höheren Preis als mit vergleichbaren Therapeutika mehr
realisieren. Wir halten die Argumentation „kein Zusatznutzen, also auch keine zusätzliche Bezahlung“ ausdrücklich für richtig. Wir jedenfalls wollen die bisher
vorhandenen Anreize für Scheininnovationen, die dazu
führen, dass bei Medikamenten nur der Name, die Farbe
und vielleicht ein paar Molekülgruppen verändert werden, beseitigen. Wir wollen, dass die Menschen in unserem Lande zukünftig nur noch Innovationen erhalten,
auf die sie sich verlassen können und die einen tatsächlichen Nutzen haben.
({3})
Gerade im Hinblick auf die Frage nach dem Nutzen
für die Menschen machen wir uns große Sorgen um die
Opposition. Wir verstehen, dass Polemik zur Rolle der
Opposition gehört. Bei aller Diskussion darf man aber
nicht die Fachlichkeit vergessen. Man darf auch nicht
vergessen, für wen wir solche Gesetze überhaupt machen, nämlich für die Patientinnen und Patienten.
({4})
Ihre Äußerungen gerade zu den seltenen Erkrankungen
finde ich mehr als bedenklich. Ich will ausdrücklich festhalten: Seltene Erkrankungen heißen so, weil sie - Überraschung - selten sind. Es sind also nur wenige Menschen davon betroffen. Leider stellen diese Menschen
eine so kleine Gruppe dar, dass sich die Industrie nicht
die Mühe macht, Medikamente für diese Menschen zu
erforschen, geschweige denn zuzulassen. Für Sie ist die
Gruppe vielleicht so klein, dass Sie sich um diese Menschen nicht kümmern wollen. Diese Regierungskoalition
kümmert sich aber auch um diese Menschen und sorgt
dafür, dass auf der einen Seite der Zugang für Menschen
mit seltenen Krankheiten zu Medikamenten sichergestellt wird und dass auf der anderen Seite diese Regelungen nicht missbraucht werden können, um den Markt
mit ungeprüften Medikamenten zu überschwemmen.
Wir haben die richtige Balance gefunden
({5})
zwischen dem Zugang der Menschen zu den bestmöglichen Innovationen auf der einen Seite und der Kostenkontrolle auf der anderen Seite. Genau das war das Ziel.
Wir als christlich-liberale Koalition wollen es nicht
zulassen, dass die Arzneimittelpreise in Deutschland
deutlich höher sind als im europäischen Ausland; deswegen haben wir diesen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht. Das wird künftig nicht mehr möglich sein. Ich
hoffe, Sie stimmen dem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lauterbach von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Gesetzentwurf, über welchen heute abgestimmt
wird, ist nichts anderes als eine Mogelpackung, um in
der Sprache der Pharmaindustrie zu bleiben. Mehr ist er
nicht. Er ist eine Mogelpackung, weil weder die Kosten
begrenzt werden noch die Qualität verbessert wird. Die
Therapie wird unsicherer gemacht.
({0})
Ich will Ihnen das erläutern. Brauchbar ist ohne Wenn
und Aber die Erhöhung des Zwangsrabattes.
({1})
Selbst das wird aber keine lange Wirkung haben; denn
selbstverständlich werden es die Pharmaunternehmen
schaffen, die Versorgung auf teurere Medikamente umzustellen. Sie haben nichts unternommen, um sicherzu7662
stellen, dass auch die richtigen Medikamente eingesetzt
werden.
({2})
Bedenken Sie: Dieser Gesetzentwurf enthält keinen einzigen Aspekt, bei dem es darum geht, dass die richtigen
Arzneimittel eingesetzt werden.
({3})
Dieser Gesetzentwurf beinhaltet keinen einzigen Aspekt des Verbraucherschutzes.
({4})
In diesem Gesetzentwurf steht nichts, wodurch sichergestellt wird, dass zum Beispiel die Marketingaktivitäten
der Pharmaindustrie verändert werden und dass nach
wissenschaftlich gesicherten Leitlinien behandelt wird.
Das ist ein reines Kostensenkungsgesetz, und diese Kostensenkung wird noch nicht einmal funktionieren.
({5})
Sie haben keinen einzigen Vorschlag gemacht, aus
dem hervorgeht, wie der Patient vor der Verabreichung
von Arzneimitteln geschützt werden kann, die gar keine
Wirkung haben oder überteuert sind.
({6})
Sie haben lediglich Preisverhandlungen eingeführt.
Diese werden auf der Grundlage von Preisvorschlägen
der Pharmaindustrie und auf der Grundlage von Studien
geführt, die die Pharmaindustrie selbst vorlegt. Das ist
nichts anderes als eine Feilscherei auf der Grundlage von
Studien, die von der Industrie einem Gremium vorgelegt
werden, das selbst keine Studien erstellen kann und dem
keine anderen vorliegen.
Hinsichtlich der Kosten-Nutzen-Bewertung haben Sie
sich selbst gelobt und gesagt, es werde etwas eingeführt,
das es bisher nicht gab. Das ist nicht richtig. Die KostenNutzen-Bewertung war nach geltendem Recht schon immer erlaubt und durchführbar. Sie ist aber nicht genutzt
worden. Sie hätten Druck ausüben müssen, damit das bestehende Gesetz genutzt wird, das besser als der Gesetzentwurf ist, den Sie jetzt verabschieden wollen.
({7})
In einigen Bereichen werden Sie die Versorgung verschlechtern, zum Beispiel wenn es um die integrierte
Versorgung geht, die die pharmazeutische Industrie jetzt
erstmalig mit anbieten kann. Es ist erstmalig möglich,
dass die Pharmaunternehmen selbst die integrierte Versorgung anbieten. Das hört sich zunächst einmal gut an:
Der Arzt bekommt dann ein zusätzliches Honorar; die
Kasse erhält einen Rabatt, und das Medikament des
Pharmaunternehmens kommt auf den Markt. Es sieht so
aus, als ob alle profitieren würden. Wer profitiert aber
nicht? Der Patient profitiert nicht, weil er dieses neue
Medikament, das er ohne den neuen Vertrag möglicherweise nie bekommen hätte, gar nicht braucht.
({8})
Herr Rösler, haben Sie über diesen Teil des Gesetzentwurfs jemals mit einem Medizinethiker gesprochen?
Ist Ihnen vielleicht einmal der Gedanke gekommen, sich
zu fragen, weshalb Regeln dieser Art in jedem anderen
europäischen Land nicht erlaubt sind? Weshalb ist das
so? Das ist so, weil man sicherstellen will, dass der Patient nicht als Absatzmarkt der Industrie betrachtet wird,
sondern so behandelt wird, wie er es braucht. Der Krebspatient ist in erster Linie Patient und kein Absatzmarkt,
der durch einen Vertrag bedient werden soll, wie es ihn
in dieser Form in keinem anderen europäischen Land
gibt.
({9})
Ich kenne keinen Ethiker, der ein solches Gesetz befürworten würde.
({10})
Bedenken Sie, was es bedeutet, wenn die Jahreskosten für ein Medikament 100 000 Euro betragen. Wie
groß ist dann der Anreiz, vertraglich zu regeln, dass der
Arzt eine Bonifikation bekommt? Man kann das, was
Sie einführen wollen, auch als legalisierte Form der Korruption bezeichnen, sehr verehrter Herr Minister.
({11})
Sie haben uns vorgeworfen, wir würden uns nicht für
seltene Krankheiten interessieren. Das Gegenteil ist die
Wahrheit. Bei den seltenen Krankheiten ist eine schnelle
Zulassung sinnvoll. Daher werden diese Medikamente
auch länger patentgeschützt. Aber wir wissen, dass diese
Regelung seit Jahren von der Industrie missbraucht wird.
Was aber machen Sie? Statt diesen Missbrauch einzuschränken, bohren Sie ihn auf, indem Sie diese Medikamente zusätzlich von der Kosten-Nutzen-Bewertung
ausnehmen. Damit setzen Sie einen Anreiz, dass mehr
Medikamente für kleine Krankheitsgruppen getestet und
zugelassen werden, obwohl sie dann für viel größere Patientengruppen eingesetzt werden. Dieser Trick, den die
Pharmaindustrie in ganz Europa und insbesondere bei
uns anwendet, wird sich durch Ihr Gesetz wahrscheinlich weiterverbreiten. Somit werden Patienten mit seltenen Krankheiten durch Ihre Politik nicht geschützt. Vielmehr werden Medikamente gegen seltene Krankheiten
von einer notwendigen Nutzenbewertung, die nach Ihrem Gesetz schon schlecht genug ist, ausgenommen.
({12})
Was die von Ihnen vorgesehenen Einsparungen angeht, ist es richtig, dass der Rabatt den Krankenkassen
etwas Geld bringen wird - es sind aber keine 1,5 Milliarden Euro, wie Sie glauben, sondern vielleicht 500 MilDr. Karl Lauterbach
lionen Euro, weil von einer Preissteigerung auszugehen
ist -, aber dafür wird der Patient in der Apotheke zusätzlich zur Kasse gebeten. Sie erhöhen die Zuzahlungen bei
Nachahmerprodukten. Bei nicht rabattierten Medikamenten muss zukünftig der volle Betrag zugezahlt werden. Hier gilt keine Obergrenze.
({13})
Damit holen sich die Pharmafirmen den kleinen Rabatt,
den Sie eingeführt haben, vom Patienten zurück. Das ist
nichts anderes als „linke Tasche, rechte Tasche“.
({14})
Der Versicherte wird minimal entlastet, und die Pharmaunternehmen holen es sich bei Kranken und älteren
Menschen zurück.
Frau Flach, Sie haben gesagt, dass die Medikamente
nicht gekauft werden müssen. Sie wissen doch selbst,
dass ein älterer Mensch, der nicht gerade zufällig eine
Ärztin als Tochter hat, das nicht entscheiden kann. Wir
wollen keine Ausnutzung und Abzockerei von wehrlosen älteren Patienten. Patienten sind keine Kunden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN - Patrick Döring [FDP]: Unglaublich!
Die FDP muss lernen, dass der Patient kein Kunde ist. Er
ist in der Regel kein junger Geschäftsmann, der sich im
Internet bedienen kann. Es sind keine Menschen wie
Herr Rösler, die jung, gesund und gut ausgebildet sind.
Es sind Menschen, die darauf angewiesen sind, dass Sie
sie vor Abzockerei schützen. Aber Sie führen diese ein.
({15})
In der Summe ist der Gesetzentwurf eine Mogelpackung, die im Januar nächsten Jahres geöffnet wird.
Dann werden Sie sehen, dass Ihre ohnedies bescheidenen Zustimmungswerte weiter sinken werden; denn die
Menschen werden in der Apotheke zuzahlen müssen. Sie
werden merken, dass es Ärger mit den Verträgen mit der
Pharmaindustrie gibt. Sie werden sich über die dadurch
bedingten Kostenerhöhungen ärgern. Der Beitragssatz
wird nicht sinken, sondern steigen. Das kommt dabei heraus. Ich habe diesbezüglich kein Mitleid. Aber die Verschlechterung der Versorgungsqualität ist ein Armutszeugnis. Daher ist der Gesetzentwurf es nicht wert, dass
wir ihm zustimmen.
({16})
Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute ist ein guter Tag für 80 Millionen gesetzlich
und privat Krankenversicherte und alle, die in Deutschland auf Heil- und Arzneimittel angewiesen sind.
({0})
Mit der Verabschiedung des Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes wird sichergestellt, dass Patienten in
Deutschland die besten und wirksamsten Arzneimittel
erhalten, die es weltweit gibt. Gleichzeitig zahlen die Patienten im kommenden Jahr 2,4 Milliarden Euro - das
sind 2 400 Millionen Euro - weniger. Der scheinbar unaufhaltsame, endlose, ewige Anstieg der Arzneimittelkosten wird gestoppt.
({1})
Mit einem völlig neuen, innovativen Verfahren sorgen
wir für Transparenz und Klarheit darüber, ob ein Medikament tatsächlich einen zusätzlichen Nutzen für den
Kranken bringt und nicht nur einen zusätzlichen Nutzen
für das Unternehmen hat. Deshalb können alle, die mitgearbeitet haben, zu Recht zufrieden, ja stolz sein, dass
wir dieses Gesetz heute in zweiter und dritter Lesung
verabschieden.
({2})
Wir verabschieden in Gesetzestafeln - damit setzen
wir ein Versprechen um -, was wir zu Beginn des Jahres
als Eckpunkte angekündigt haben.
({3})
Es ist ein Gesetz, das Bestand haben wird. Es wird eine
Umkehrung des genannten, scheinbar unaufhaltsamen
Trends bedeuten. Von 1998 bis 2009 sind die Arzneimittelausgaben von 18 Milliarden Euro auf über 32 Milliarden Euro gestiegen. So konnte es nicht weitergehen.
Jetzt wird nachprüfbar eingespart - hören sie genau zu -:
1,2 Milliarden Euro durch die Erhöhung des gesetzlichen Herstellerrabatts auf 16 Prozent; 200 Millionen
Euro durch Einbeziehung der Arzneimittel aus Krankenhausambulanzen; 200 Millionen Euro durch Übertragung der gesetzlichen Herstellerrabatte auf die private
Krankenversicherung; 200 Millionen Euro durch Anhebung des Apothekenrabatts von 1,70 Euro auf 2,05 Euro
je Packung; 200 Millionen Euro beim Großhandel;
300 Millionen Euro durch Rabattsenkung der Impfstoffpreise auf das Niveau internationaler Vergleichspreise
und 100 Millionen Euro bei Zytostatika. Wer diese Zahlen als schlagenden Beweis für ein Einknicken gegenüber Lobbyismus und der Pharmaindustrie anführen
will, der leidet an Gehirnschwurbel.
({4})
Einsparmaßnahmen sind nicht nur angenehm, sondern sie bedeuten für manche Beteiligte auch Härten.
Deshalb müssen sie mit Vernunft und Augenmaß erfol7664
gen. Wir haben durchgesetzt - der Minister ist bereits
darauf eingegangen -, dass Arzneimittel für seltene
Krankheiten weiterentwickelt werden, dass Patientengruppen mit nur 500 bis 1 000 Betroffenen in Deutschland nicht alleingelassen und vom Fortschritt ausgeschlossen werden.
({5})
Deshalb gibt es eine klare Ausnahmeregelung für seltene
Krankheiten, für die sogenannten Orphan Drugs.
({6})
Aber damit nicht Möglichkeiten für raffinierte Umgehungen eröffnet werden, wird das Umsatzvolumen bei
diesen Arzneimitteln auf 50 Millionen Euro begrenzt.
Wir haben auch erreicht, dass mittelständische pharmazeutische Unternehmen, die oft jahrelangen Forschungsaufwand für nur ein oder zwei Medikamente betreiben, nicht in eine finanzielle Schieflage geraten.
Deshalb können diese Unternehmen mit einem völlig
unbürokratischen Antrag Freistellung von den gesetzlichen Rabatten verlangen. Damit sichern wir Arbeitsplätze bei diesen mittelständischen Unternehmen, um
die es uns auch geht.
({7})
- Gehen Sie doch einmal zu einer Demonstration von
Arbeitnehmern eines solchen Unternehmens mit oft nur
100 bis 200 Arbeitnehmern und sagen Sie ihnen, das sei
Ihnen egal.
({8})
Uns sind diese Arbeitsplätze nicht egal, und deshalb haben wir da einen Sondertatbestand geschaffen.
Wir stehen zu dem selbstständigen Beruf der Apotheker. In einem Paket, mit dem wir allen Leistungserbringern - Arbeitgebern, gesetzlichen Krankenkassen usw. Sparmaßnahmen abverlangen, müssen auch sie einen
Sparbeitrag leisten. Durch eindeutige Formulierungen
haben wir aber sichergestellt, dass sich die Befürchtung
der Apotheker, dass der Sparbeitrag in Höhe von
200 Millionen Euro, den der Pharmagroßhandel erbringen muss, auf die Apotheken abgewälzt werde, nicht bewahrheitet, sondern dass es bei diesem Sparbeitrag
bleibt. Wir werden zudem das Versprechen, das wir im
Koalitionsvertrag gegeben haben, nämlich dass die Pickup-Stellen nicht zugelassen werden, halten.
({9})
Wir wollen Deutschland wieder zur Apotheke zumindest Europas machen. Wo steht geschrieben, dass die
Zeit endgültig vorbei sei, dass von Deutschland Innovationen ausgehen? Wir werden mit dem innovativen Ansatz des Zusatznutzens Standards setzen, und zwar nicht
nur für die Patienten. Das bietet auch Unternehmen eine
Chance, auf dem Leitmarkt Deutschland mit zertifizierten Produkten einen Standard zu setzen, der auch für die
Märkte außerhalb Deutschlands Bedeutung hat.
({10})
Dazu brauchen die Unternehmen, die über Jahre hinweg
investieren, Rechtssicherheit. Deshalb ist es richtig, dass
der Bundesminister durch eine Verordnung die Verfahren regeln will, die den Zusatznutzen feststellen. Damit
wird ein rechtssicheres, faires Verfahren für alle garantiert.
Für uns als Union war es besonders wichtig, Bürokratie abzubauen und den Wettbewerb zu stimulieren.
({11})
Bonus-Malus-Regelung, Zweitmeinung - weg! Wirtschaftlichkeitsprüfung - verschlankt! Therapiehinweise
und Verordnungsausschlüsse - kurz und knapp geregelt!
Es gibt mehr Wettbewerb, weil Verhandlungen zwischen
den Pharmaunternehmen und den Kostenträgern künftig
zwingend vorgeschrieben sind. Ab Januar können die
Preise nicht mehr nach eigenem Ermessen festgelegt
werden. Künftig gilt das Wettbewerbsrecht bei Selektivverträgen, nicht bei Kollektivverträgen.
Wir als Union setzen damit unser Versprechen um, in
Deutschland einen der modernsten Arzneimittelmärkte
zu schaffen. Was die Menschen in Deutschland jetzt
nicht brauchen, sind ewige Berufsnörgler, Berufsschlechtredner, die nichts anderes wollen, als das berühmte Haar in der Suppe zu finden. Nein, die Patienten
in Deutschland brauchen eine Politik, die die neuen
Wege, die wir heute beschreiten, mutig weitergeht.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mich zunächst einmal recht herzlich bei den Abgeordneten der Koalition bedanken, aber nicht für die
Legendenbildung, die der Kollege Singhammer gerade
betrieben hat, sondern dafür, dass wir heute überhaupt
über den Entwurf eines Arzneimittelneuordnungsgesetzes hier im Plenum beraten. Das hatten Sie nämlich ursprünglich gar nicht vor. Es ist vielmehr der Intervention
der Linken zu verdanken, dass wir uns dafür heute zumindest eine Stunde Zeit nehmen.
({0})
Eigentlich hatten Sie vor, dieses wichtige Paket parlamentarischer Initiativen versteckt hinter dem GKVFinanzierungsgesetz morgen, am Freitag, in gerade einKathrin Vogler
mal 90 Minuten abzufrühstücken. Ein solches Durchpeitschen und ein solches Aushebeln der demokratischen
Rechte der Opposition, das Sie schon bei den AKWLaufzeiten praktiziert haben, lassen wir Ihnen nicht
mehr durchgehen.
({1})
In dieser Woche wendeten Sie wieder einen taktischen Trick an, um die Rechte des Parlaments zu beschneiden und die Öffentlichkeit zu täuschen. Erst zur
Ausschusssitzung am Montag dieser Woche haben Sie
einen weiteren Änderungsantrag zu dem GKV-Finanzierungsgesetz gestellt und das Ganze weiter verschlimmbessert. Sie wollen die Einführung der umstrittenen Gesundheitskarte forcieren und die Krankenkassen unter
Androhung empfindlicher Geldstrafen dazu zwingen, innerhalb eines Jahres mindestens 10 Prozent der Versicherten mit dieser Karte auszustatten.
So macht Schwarz-Gelb Politik und Gesetze: am
Montag im Ausschuss, am Freitag schon im Plenum beschlossen, ohne erste Lesung, ohne ausführliche Debatte
im Ausschuss, ohne Anhörung von Expertinnen und Experten.
Sie, Herr Bahr, haben in der Presse behauptet, es handele sich ja nur um eine „abgespeckte Version“ der
Karte.
({2})
Ich wüsste gerne, woher Sie das haben. Im Gesetz steht
das nämlich nicht. Vermutlich war Ihnen klar, dass Sie
auch für dieses Projekt keine Lorbeeren bei den Fachleuten ernten würden.
({3})
Die Bedenken, was den Datenschutz angeht, hätte ich
gerne noch in einer Anhörung debattiert, zumal der elektronische Personalausweis nicht einmal 24 Stunden alt
war, als er bereits gehackt worden ist.
({4})
- Gut. Jetzt komme ich ja zu den Plänen für die Arzneimittelpreise.
({5})
Herr Minister Rösler, erinnern Sie sich noch daran,
dass Sie im Frühjahr groß angekündigt haben, die Pharmaindustrie an die Kandare nehmen zu wollen? Das
wollten Sie uns gerade auch wieder verkaufen. Davon ist
aber leider fast nichts übrig geblieben. Das ist ausgesprochen schade, weil Sie nämlich die Versicherten mit
hohen Kosten und die Kranken mit zweifelhaften Therapien im Regen stehen lassen.
Nur drei Beispiele. Erstens erlauben Sie den Unternehmen weiterhin, den Preis neuer Medikamente im ersten Jahr ganz allein festzusetzen. Erst dann sollen sie mit
den Kassen über einen angemessenen Preis verhandeln.
Das bedeutet doch erst recht Mondpreise im ersten Jahr.
Neue Medikamente werden zunächst einmal teurer.
({6})
Zweitens erlassen Sie den Firmen bei Medikamenten
für die sogenannten seltenen Erkrankungen die Nutzenbewertung. Genauer gesagt: Auch potenziell nutzlose
Mittel müssen die Kassen bezahlen, wenn diese nicht
mehr als 50 Millionen Euro Umsatz pro Jahr machen.
Sie können es selbst nachrechnen: Nur 20 solcher Medikamente auf dem Markt belasten die Kassen mit bis zu
1 Milliarde Euro jährlich. Dabei kommt ganz schnell
mehr zusammen, als uns Herr Singhammer gerade an
Ersparnissen vorgerechnet hat.
({7})
Wir alle wissen doch, wie erfinderisch die Pharmaindustrie ist, wenn es um Profitmaximierung geht. Schon
jetzt schneidet sie Medikamente immer häufiger auf immer kleinere Patientengruppen zu. So wird beispielsweise ein Medikament gegen Darmkrebs - Sie alle kennen den Fall -, das auch bei einer bestimmten Form der
Altersblindheit wirkt, vom Unternehmen für genau diese
Indikation nicht zur Zulassung angemeldet. Stattdessen
wird ein ganz ähnlicher Wirkstoff neu patentiert und
zum 50-fachen Preis in den Markt gedrückt. Für die
25 Millionen Euro, welche die Kassen 2009 für dieses
Medikament für nur 1 500 Patientinnen und Patienten
ausgegeben haben, könnte mit dem ebenso wirksamen
günstigeren Medikament die Sehkraft von mehr als
80 000 Menschen in diesem Land gerettet werden. Das
ist doch ein Skandal, und dagegen müssen wir gemeinsam vorgehen.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von den 36 im letzten Jahr neu eingeführten Medikamenten sind nur 5 mehr
als 10 000-mal verschrieben worden. Sie sehen also:
Hier öffnen Sie ein Schlupfloch groß wie ein Scheunentor, durch das sich die Firmen der Nutzenbewertung entziehen können und werden.
({9})
Drittens erschweren Sie es dem Gemeinsamen Bundesausschuss auch noch, unwirtschaftliche oder nutzlose
Medikamente nachträglich von der Erstattung durch die
Kassen auszuschließen. Im Klartext: Sie fördern teure
Medikamente mit zweifelhaftem Nutzen auf Kosten der
Allgemeinheit.
Es verwundert nicht, dass Sie in den Stellungnahmen
der Sachverständigen von fast allen Seiten verheerende
Kritiken bekommen haben. Nur die Pharmalobby war
erstaunlich leise.
({10})
Denn schließlich haben Sie ja einen Gutteil des Gesetzes
beim Verband Forschender Arzneimittelhersteller abgeschrieben. So machen Sie das überall. Die Hotelketten
und die Atomindustrie dürfen entscheiden, wie viel
Steuern sie zahlen wollen, die Pharmaindustrie wird gefragt, ob sie vielleicht auf den einen oder anderen Euro
verzichten mag, die Ärztinnen und Ärzte freuen sich
über 600 Euro monatlich mehr, die Telematikindustrie
wird auch noch bedient, und die Privatversicherungswirtschaft darf einen ganzen Strauß Wünsche in die gesetzgeberische Feder diktieren.
({11})
Aber haben Sie einmal die Versicherten, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und
Rentner gefragt, was sie davon halten, dass sie künftig
mehr und mehr Beiträge zahlen sollen, nur damit die
Arzthonorare steigen und sich die Pharmafirmen weiter
goldene Nasen verdienen?
({12})
Herr Rösler, in den Zeitungen stand, dass Sie als Tiger gesprungen und als Bettvorleger der Pharmakonzerne gelandet seien. Das halte ich inzwischen für maßlos übertrieben. Sie waren nie ein Tiger; Sie waren
bestenfalls ein Miezekätzchen auf Schmusekurs mit der
Wirtschaft.
({13})
Wenigstens in einem Punkt - da muss ich Sie wieder
loben - haben Sie Ihre übliche Beratungsresistenz überwunden. Bei der Pflicht zur Veröffentlichung von Arzneimittelstudien haben Sie nach der Anhörung nachgebessert und sind der Kritik der Sachverständigen sowie
unseren Anregungen teilweise gefolgt. Aber die Entscheidung darüber, welche Studien überhaupt gemacht
werden, überlassen Sie weiter der Industrie. Was wir
dringend brauchen, sind unabhängige Studien, wie die
Linke sie fordert.
({14})
Ich bleibe bei dem, was ich schon am 9. Juli hier gesagt habe - ich komme jetzt auch zum Schluss -: Wir erheben für unsere Vorschläge kein Copyright. Es ist besser, Sie schreiben von uns ab
({15})
als von der Wirtschaftslobby. Der eine Punkt, in dem Sie
uns gefolgt sind, heilt leider nicht den ganzen Murks,
den Sie in den anderen Punkten zugunsten der Konzerne
und zulasten der Solidargemeinschaft zusammengebastelt haben. Diesem Gesetz können und wollen wir deshalb nicht zustimmen.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Rösler, wenn Sie von Ihrer Vorvorgängerin
Andrea Fischer und von rot-grünen Regierungszeiten reden, dann folgt garantiert der Versuch einer Geschichtsklitterung - das haben wir heute wieder erlebt -, deswegen eine kurze Einheit in Sachen Gemeinschaftskunde
und dazu, wie es damals war.
Rot-Grün hatte keine Mehrheit im Bundesrat und
musste deshalb mit der Union verhandeln. Als wir im
Sommer 2003 am Tisch gesessen haben mit der Union
und mit der FDP - Herr Rösler, fragen Sie Ihren Kollegen Daniel Bahr; der weiß es noch -, hat alsbald die FDP
diesen Konsenstisch verlassen. Warum?
({0})
Da gehe es ja der Pharmaindustrie an den Kragen, und
da wollte man nicht dabei gewesen sein. So war es damals.
({1})
Es war damals die Union - auch das gehört zur Wahrheit dazu -, die den Einstieg in eine echte Kosten-Nutzen-Bewertung verhindert hat. Das durften wir nicht.
Man soll Leute loben, wenn sie dazugelernt haben. Ich
gestehe Ihnen zu: Es hat sich etwas bewegt. - Es ist gut,
dass wir damals mit Müh und Not die Gründung des Instituts, des IQWiG, durchsetzen konnten, das an der Bewertung, die Sie jetzt einführen wollen, Herr Minister,
mitarbeitet. Wenn es das nicht gäbe, hätten Sie viel größere Schwierigkeiten, überhaupt den kleinen Schritt zu
wagen, den Sie jetzt gehen.
({2})
Aber Sie müssen sich vorhalten lassen, dass Ihre anfänglichen Versprechungen und der Gesetzentwurf, der
von Ihnen heute vorliegt, weit auseinanderfallen. Was
haben Sie uns versprochen? Sie wollten erstens das
Preismonopol der Pharmaindustrie brechen.
({3})
Was ist jetzt? Es gibt ein Jahr lang Zeit, einen Preis zu
verhandeln. Wenn er dann endlich verhandelt ist, gilt er
im ambulanten Bereich; in den Krankenhäusern gilt er
nicht. Was wird in der Zeit sein? Die Firmen werden mit
Maximalpreis einsteigen und im Krankenhaus erst recht
abzocken. Was haben wir davon?
Zweites Versprechen. Sie wollten zwischen echten
und Scheininnovationen unterscheiden.
({4})
Warum darf dann der Gemeinsame Bundesausschuss für
ein neues Arzneimittel existierende internationale Evidenz nicht benutzen?
({5})
Sie sagen: Nur die Unterlagen der Pharmaindustrie, die
hier vorgelegt werden, fließen in die Bewertung ein.
Warum hat dann, wenn man Innovationen und Scheininnovationen tatsächlich unterscheiden will, eine solche
Nutzenbewertung keine echte Konsequenz? Bei Ihnen
dient sie nur als Preisfindungsinstrument, während die
Nutzenbewertung, die es schon gibt, ausgehebelt wird;
denn da wird auf einmal die Beweislast umgekehrt. Der
Gemeinsame Bundesausschuss soll beweisen, dass ein
Arzneimittel, das schon auf dem Markt ist, unzweckmäßig ist. Was wir stattdessen brauchen, sind Nutzenbewertungen gerade für Arzneimittel, die schon auf dem Markt
sind. Sie müssten eine solche Bewertung durchlaufen
und in eine Positivliste aufgenommen werden, damit wir
wissen: Hier ist nicht nur ein guter Preis, hier ist auch
Qualität der Arzneimittelversorgung gewährleistet. Andere Länder machen das so. Dahinter bleiben Sie weit
zurück.
({6})
Es ist sogar so, Herr Minister, dass Ihr ursprünglicher
Gesetzentwurf in einigen Ansätzen weiter ging als die
Fassung, die uns heute vorliegt. Es muss wohl ziemlich
windig gewesen sein, und Sie als Bambus, wie Sie sich
ja einmal selbst bezeichnet haben, haben sich da ganz
schön gebogen.
({7})
Die Pharmaindustrie stand zugegebenermaßen unter
Kulturschock. Was kommt jetzt dabei heraus? Ein schönes Angebot an sie. Sie dürfen sich als direkte Vertragspartner an integrierten Versorgungsmodellen beteiligen.
({8})
Das aber öffnet Tür und Tor dafür, dass Missbrauch betrieben wird. Es wird so nämlich ein direkter Zugang zu
Patientendaten eröffnet. Hingegen wäre eine strukturierte Arzneimittelversorgung im Rahmen von vereinbarten Versorgungsmodellen durch die existierenden
Vertragsmöglichkeiten gut möglich.
({9})
Jetzt handelt es sich einfach nur um ein Geschenk, zumindest überflüssig für die Versorgung, wenn nicht sogar schädlich.
({10})
Ein anderes Beispiel: die seltenen Erkrankungen. Sie
haben vorhin etwas von fehlendem Mitgefühl für Menschen mit seltenen Erkrankungen erzählt. Dazu kann ich
nur sagen: Schauen Sie einmal ins Geschichtsbuch, wer
durchgesetzt hat, dass es überhaupt eine Förderung für
diese sogenannten Orphan Drugs gibt.
({11})
Was machen Sie? Sie wollen sie gänzlich von der Nutzenbewertung ausnehmen. Nehmen wir einmal ein Beispiel: Für eine bestimmte Art von Krebserkrankung gibt
es sechs Arzneimittel. Drei davon haben den OrphanDrug-Status, drei nicht; und alle sechs sind noch nie gegeneinander geprüft worden. Wir wissen also nicht, welches Arzneimittel für den Patienten nutzbringender ist.
Sie wollen nun, dass das so bleibt. Da fragt man sich
doch: Wem fehlt hier das Mitgefühl für diejenigen, die
an seltenen Krankheiten leiden? Das sind doch offenbar
Sie.
({12})
Nun haben Sie gemerkt, dass Sie sich verrannt haben.
Dann kommt eine Korrektur: Es wird eine Umsatzgrenze
eingezogen. Dazu muss ich Ihnen sagen: Umsatzgrenze
ist nicht gleich Qualität bzw. Nutzen für die Patienten.
Das erinnert an das, was wir hier auch sonst erlebt haben: Es gab jeden Tag neue Änderungsanträge, Änderungsanträge der Änderungsanträge, einen Austausch
von Änderungsantrag 26 gegen Änderungsantrag XY.
Ich frage mich manchmal, ob die ständigen Nachbesserungen durch das Ministerium von den Abgeordneten
der Koalition überhaupt noch verstanden worden sind.
({13})
Im Ganzen gesehen, liebe Kollegen, kann ich nur sagen: Es handelt sich nicht um eine Neuordnung des Arzneimittelmarktes, sondern so wird noch mehr Unordnung
auf dem Arzneimittelmarkt geschaffen. In Anknüpfung
an Ihr Bild vom Bambus, Herr Minister, kann ich nur sagen: Der Bambus wiegt sich, der Bambus biegt sich. Es
wäre besser gewesen, Sie hätten bei diesem Thema etwas
mehr Standhaftigkeit gezeigt.
Danke.
({14})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine AschenbergDugnus von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der gängigen Fachliteratur der Politikwissenschaft findet man zur Funktion und Rolle der Opposition, sie müsse die Regierung kontrollieren und konkret
Alternativen aufzeigen. Ich musste das hier einmal so
deutlich sagen; denn die Tatsache an sich, dass Sie sich
jetzt beschweren und unser AMNOG kritisieren, entspricht natürlich voll der Rollenverteilung. In dieser
Rolle gefallen Sie sich; darin gehen Sie voll auf: Frau
Bender spricht von kleinen Schritten. Frau Vogler meint,
wir hätten die Pharmaindustrie nicht ausreichend an die
Kandare genommen. Wenn man Herrn Lauterbach zuhört, stellt man fest, dass seine meistgenannten Vokabeln
lauten: hätte, könnte, würde, sollte, möglicherweise. Verkaufen Sie doch die Menschen bitte nicht für dumm!
({0})
Frau Kollegin, darf ich Sie kurz unterbrechen? Frau
Kollegin Vogler möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ich bin gerade so in Schwung, bitte hinterher.
({0})
Sie müssen sich auch die Frage gefallen lassen: Wie
ist es denn zu Ihrer Regierungszeit gelaufen? Da schaue
ich Herrn Lauterbach ganz konkret an. Was haben Sie eigentlich getan, um das Preismonopol der Pharmaindustrie zu brechen? Wie haben Sie es geschafft, die Kosten
in den Griff zu bekommen? Gar nichts haben Sie gemacht. Wenn jetzt an der Legende gestrickt wird, es habe
an der FDP gelegen, kann ich dem nur entgegnen: Entschuldigen Sie bitte, es ist kein Gesetz verabschiedet
worden, es ist nichts gemacht worden.
({1})
Das lag an dem ehemaligen Kanzler Gerhard Schröder,
der in einer seligen Weinrunde für sich alleine beschlossen hatte, die Pharmaindustrie mit einer Einmalzahlung
zu bedenken. Das haben wir Ihnen zu verdanken. Das
war der Beitrag der Sozialdemokratie zur Stabilisierung
der Kosten im Pharmabereich. Herzlichen Dank dafür!
({2})
Meine Damen und Herren, Minister Rösler hat es Ihnen ausführlich erläutert: Im Gegensatz zu Ihnen haben
wir gehandelt. Wir haben konkret ein Gesetz auf den
Weg gebracht, wir haben für die Millionen Versicherten,
für die Patienten gehandelt und die Versorgung mit den
bestmöglichen Arzneimitteln sichergestellt. Außerdem
sparen wir jedes Jahr Milliardenbeträge ein. Sie ärgern
sich doch nur darüber, dass wir in einem Jahr mehr erreicht haben als Sie in zehn Jahren Regierungsbeteiligung vorher.
({3})
Außerdem haben wir im AMNOG die Zukunft der
unabhängigen Patientenberatung gesichert. Die UPD
leistet - darüber sind wir uns hier alle einig - einen unverzichtbaren Beitrag zu Rechtssicherheit und Transparenz im Gesundheitswesen. Das Modellprojekt war gut,
und deshalb überführen wir die Beratung nun in die Regelleistung. Aber nicht nur das: Wir verbessern auch die
Struktur und die Leistung der UPD.
Besonders wichtig war uns die wirkliche Unabhängigkeit der UPD. Wir haben ins Gesetz geschrieben - ich
zitiere -:
Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen darf
auf den Inhalt oder den Umfang der Beratungstätigkeit keinen Einfluss nehmen.
Meine Damen und Herren, das war auch notwendig;
denn Gespräche vor Ort haben ergeben, dass die Kassen
eben doch hier und da einmal versuchten, die Beratung
zu beeinflussen. Das war nicht hinnehmbar. Wir haben
die Neutralität gestärkt; das ist uns wichtig. Denn nur
eine neutrale UPD wird ihrer wichtigen Seismografenfunktion gerecht. Darauf hat Kollege Zöller immer hingewiesen; dafür bin ich ihm sehr dankbar.
({4})
Aber wir haben nicht nur die grundsätzliche Finanzierung sichergestellt, sondern auch die PKV mit ins Boot
geholt, die mit einem Extrabeitrag gewährleistet, dass
Menschen mit Migrationshintergrund nunmehr anständige Beratungsleistungen erhalten können; denn die privaten Kassen zahlen das muttersprachliche Angebot der
UPD. Wir freuen uns über dieses Ergebnis.
Tatsache ist: Wir haben die UPD auf eine solide gesetzliche Grundlage gestellt und ihren Fortbestand gesichert.
({5})
Zudem wird es eine noch bessere UPD sein, als es noch
im Modellversuch der Fall war.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen ein vertrauensvolles Miteinander von Patienten, Ärzten, Kliniken und Kassen. Das Gesundheitswesen braucht dafür
Transparenz und Orientierung über Rechte und Pflichten
aller Beteiligten. Wir wollen eine UPD, die als ehrlicher
Makler zum Wohle der Patienten auftritt. Genau das haben wir mit diesem Gesetz auch umgesetzt.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Kathrin Vogler.
({0})
Danke, Herr Präsident. - Liebe Kollegin AschenbergDugnus, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir
als Opposition sehr wohl unsere Aufgabe erfüllt und Alternativen vorgelegt haben. Wir haben heute hier drei
Anträge allein unserer Fraktion vorliegen, und an den
Drucksachennummern können Sie erkennen, dass sie
sehr frühzeitig, also vor Ihrem AMNOG, vorgelegt worden sind, wir also nicht nur auf Sie reagieren, sondern
sehr wohl in der Lage sind, die Umsetzung unserer eigenen Konzepte zu fordern.
Ich verweise auf den Antrag „Verpflichtung zur Registrierung aller klinischen Studien und zur Veröffentlichung aller Studienergebnisse einführen“ vom 2. März
dieses Jahres und auf den Antrag „Unabhängige Patientenberatung in Regelangebot überführen“ vom 30. Juni
dieses Jahres, wobei wir es, wenn Sie dies damals entsprechend aufgegriffen hätten, geschafft hätten, heute
nicht in der Situation zu sein, dass die qualifizierten Beraterinnen und Berater sich auf andere Stellen bewerben,
weil sie in der Unsicherheit sind, ob ihre Träger noch
einmal den Zuschlag für das Projekt Beratung bekommen. Ich verweise weiter auf den Antrag ebenfalls vom
30. Juni dieses Jahres „Für ein modernes Preisbildungssystem bei Arzneimitteln“ und darauf, dass ich in meinem Redebeitrag darauf eingegangen bin, dass Sie tatsächlich einen Punkt von uns zumindest teilweise
aufgegriffen haben.
Uns hier vorzuwerfen, wir erledigten unsere Oppositionsarbeit nicht richtig oder nur halb, halte ich einfach
für unredlich.
({0})
Zur Erwiderung.
Liebe Frau Kollegin, ich glaube nicht, dass Sie das
eben richtig widerlegen konnten.
({0})
Um bei der UPD zu bleiben: Natürlich laufen jetzt gerade die Ausschreibungen. Aber ich habe ja versucht,
darzulegen, dass wir die UPD gegenüber dem Modellversuch verbessern wollen.
({1})
Wenn Sie jetzt erzählen, es werde alles schlechter werden oder nicht weitergeführt werden, dann stimmt das so
nicht.
({2})
Ich möchte bitte nicht, dass Sie die Menschen vor Ort
verunsichern. Ich erwarte von Ihnen ja nicht, dass Sie sagen, wir hätten ein gutes Gesetz gemacht. Aber es wäre
uns schon sehr geholfen, wenn Sie aufhören würden, die
Menschen vor Ort zu verunsichern.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Marlies Volkmer von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister Rösler, Sie wollen mit diesem Gesetz
heute einen Befreiungsschlag starten.
({0})
Sie wollen von den verheerenden Umfrageergebnissen
weg; das kann ich verstehen. Wenn das Gesetz wirklich
das bieten würde, was Sie heute hier vorgetragen haben,
dann wäre dies vielleicht möglich. Aber so ist es eben
nicht. Ob man das Gesetz nun Mogelpackung oder Etikettenschwindel nennt, ist egal; denn in diesem Gesetz
ist nicht das drin, was draufsteht.
Schauen wir uns einmal die Kosten an. Sie haben gesagt, Sie wollen mit diesem Gesetz 2 Milliarden Euro
einsparen. Das werden Sie niemals erreichen. Denn die
Arzneimittelhersteller können zunächst einmal selbst die
Preise festlegen. Dann lassen sie sich die neuen Preise
mühsam vom GKV-Spitzenverband abhandeln. Man
muss keine große Fantasie haben, um zu sagen, dass die
Arzneimittelhersteller mit einem hohen Preis einsteigen
werden und mit dem Preis ungefähr dort landen, wo wir
heute sind.
Der zweite Grund, warum Sie die Einsparungen, die
Ihnen vorschweben, nicht erreichen werden, ist, dass Sie
den Rabattverträgen alle möglichen Steine in den Weg
legen. Diese Verträge können zwischen Arzneimittelherstellern und den Krankenkassen geschlossen werden. Sie
sagen, es stimme nicht, dass die Rabattverträge abgeschafft würden, weil feste Laufzeiten für die Rabattverträge vereinbart wurden.
Sie setzen darauf, dass die Öffentlichkeit die komplizierten Änderungen des Rechtsweges und der Geltung
kartellrechtlicher Vorschriften nicht nachvollziehen
kann. Wir können das aber und sagen: Diese massive
Beschädigung der Rabattverträge wird die Versicherten
viel Geld kosten. Wenn etwa die AOK ihre Rabattverträge im nächsten Jahr nicht wie vorgesehen umsetzen
kann, stehen Einsparungen von 720 Millionen Euro auf
dem Spiel. Das ist ein Drittel der Summe, die Sie einsparen wollen.
Sie sagen weiterhin - das ist die nächste Überschrift -,
die Versorgungsqualität werde durch die Nutzenbewertung besser. Das trifft nicht zu. Die von Ihnen vorgesehene frühe Nutzenbewertung dient der Preisfindung. Für
Aussagen über den tatsächlichen Nutzen eines Arzneimittels sind ausführliche Nutzenbewertungen zu einem
späteren Zeitpunkt unabdingbar. Diese sind aber nur in
Ausnahmefällen möglich.
Sie wollen auf ausführliche Bewertungen von Arzneimitteln regelhaft immer dann verzichten, wenn es zwischen Arzneimittelherstellern und den Krankenkassen
eine Einigung bei der Preisfindung gegeben hat. Ihnen
geht es nur um eine Regelung für die Preise, aber Sie
wollen nicht, dass die Krankenkassen nur noch solche
Arzneimittel bezahlen, die einen nachgewiesenen Nutzen haben.
({1})
Das zeigt auch Ihr Änderungsantrag, nach dem der Gemeinsame Bundesausschuss die Unzweckmäßigkeit eines Medikamentes beweisen soll. Das funktioniert aber
nicht, was Ihnen Experten in der öffentlichen Anhörung
auch ins Stammbuch geschrieben haben.
({2})
Was bzw. wer Sie antreibt, haben Sie heute deutlich
gemacht. Herr Singhammer hat gegenüber der Presse erklärt, warum nicht die Selbstverwaltung, sondern das
Ministerium selbst die Kriterien für die frühe Nutzenbewertung festlegt. Ich zitiere Herrn Singhammer aus der
Financial Times Deutschland:
Die Politik muss künftig den Daumen auf dem Verfahren haben. Wir wollen, dass der Pharmastandort
Deutschland attraktiv bleibt.
Ich frage Sie: Sollen die Regelungen deshalb vom
Bundesgesundheitsministerium getroffen werden, weil
so pharmaindustriefreundlichere Bestimmungen verankert werden können? Sie verneinen das vehement. Aber
welchen anderen Grund gibt es dann, die fachlich versierte Selbstverwaltung derart zu beschneiden?
({3})
Aber auch an anderer Stelle wird klar, wer Ihnen die
Feder führt. Sie haben ganze Arzneimittelgruppen aus
der Nutzenbewertung herausgenommen, nämlich Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen sowie Arzneimittel, mit denen - was auch immer man sich darunter vorstellen soll - keine hohen Ausgaben verbunden sind.
({4})
Für diese Arzneimittel gilt für alle Zeit ein vom Hersteller definierter Preis.
Hier sind die in letzter Minute durch Sie vorgenommenen Änderungen reine Kosmetik. Wenn Sie den von
den Experten vorgetragenen Argumenten wirklich gefolgt wären, dann hätten Sie generell auf Ausnahmeregelungen verzichtet. Das haben Sie nicht getan.
Dieser Etikettenschwindel geht weiter. Nehmen wir
das Beispiel der Mehrkostenregelung. Sie behaupten
hier, das führe zu einer Verbesserung bei der Wahlfreiheit der Patientinnen und Patienten: Die Patienten hätten
die Freiheit, sich für ein Arzneimittel zu entscheiden, das
nicht rabattiert ist. Der Nutzen liegt allerdings bei den
Pharmaherstellern: Sie werden ihre Marketingmaschinen
anwerfen und Ärzte und Patienten glauben machen wollen, dass zum Beispiel ihr teures Omeprazol unvergleichlich besser wirke als das rabattierte Omeprazol ihres Konkurrenten. Aufgrund geschickter Werbung
werden die Pharmahersteller häufig erfolgreich sein. Der
Patient bleibt auf den Mehrkosten sitzen.
Die Mehrkostenregelung, die Sie jetzt einführen wollen, bedeutet den Einstieg in ein System von Grund- und
Wahlleistungen. Sie wollen die gesetzliche Krankenversicherung so umgestalten, dass sie nur noch die Basisversorgung absichert. Sie haben aber Angst vor der geballten Wut der Öffentlichkeit. Damit es nicht auffällt,
nehmen Sie die Umgestaltung scheibchenweise vor.
({5})
Wir werden Ihnen das aber nicht durchgehen lassen.
({6})
Wir informieren die Öffentlichkeit.
Wir lehnen dieses Gesetz heute ab. Wir haben einen
Entschließungsantrag eingebracht. Dieser Antrag bringt
nicht nur unsere Ablehnung zum Ausdruck, sondern enthält auch unsere Forderungen. Wir legen ferner zwei Anträge sowie einen Änderungsantrag zur Abstimmung
vor.
({7})
Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen Jens Spahn von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Gesetz, über das wir gerade beraten und über das wir
gleich in zweiter und dritter Lesung abstimmen werden,
führt zum stärksten Eingriff in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in den Markt für Arzneimittel
und in die Preisfindung bei Arzneimitteln, die es je gegeben hat. Wir brechen das Preismonopol der Pharmaindustrie: Sie kann nicht mehr einseitig die Preise festlegen. Im Gegenteil: Die Pharmaindustrie kann nur bei
tatsächlich bewiesenem Zusatznutzen höhere Preise verlangen; darüber muss sie mit den Krankenkassen verhandeln.
Sie von der SPD haben seit zehn Jahren darüber geredet. Sie haben in zehn Jahren nichts hinbekommen.
({0})
Das Einzige, was Ihnen jetzt einfällt, ist, hier herumzulamentieren, anstatt einmal anzuerkennen, dass an dieser
Stelle grundsätzlich Wichtiges gelingt.
({1})
Dann kommen Sie mit Änderungsanträgen. Ihnen ist
in den Beratungen seit Juli nicht ein einziger konstruktiver Vorschlag zum Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz eingefallen. Heute, am Tag der abschließenden
Beratungen, legen Sie uns hier die ersten Änderungsanträge vor. Verstehen Sie das unter Oppositionsarbeit? Ist
das die Alternative, die Sie anbieten? Sie legen hier in
letzter Sekunde Vorschläge auf den Tisch, weil Sie merken, dass es peinlich ist, dass Ihnen nicht mehr einfällt
als Worthülsen, um gegen dieses Gesetz vorzugehen.
({2})
Was machen wir denn? Wir führen ein neues Verfahren ein, bei dem der pharmazeutische Hersteller wie
auch in anderen europäischen Ländern - die Schotten
etwa machen es auch nicht anders ({3})
nach Zulassung eines Arzneimittels mit einem Dossier,
das er vorzulegen hat, nachweisen muss, dass sein Arzneimittel tatsächlich besser ist als die Mittel, die bereits
auf dem Markt sind. Dann wird entschieden, ob es einen
Zusatznutzen gibt oder nicht. Falls es keinen gibt, wird
für das Arzneimittel ein Höchstpreis festgesetzt. Falls es
aber einen Nutzen gibt, muss über den Preis verhandelt
werden. Spätestens nach zwölf Monaten gibt es einen
ausgehandelten Preis. Warum sehen wir diese zwölf
Monate vor? An dieser Stelle muss sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ein paar Fragen gefallen
lassen. Uns ist es wichtig, dass neue, innovative Medikamente auch in der gesetzlichen Krankenversicherung direkt erstattungsfähig sind.
({4})
Sie haben recht: Wir sind eines der letzten Länder auf
der Welt, in denen das so ist. Es ist aber zu Recht so;
denn neue Medikamente für die Behandlung von Krebs,
HIV/Aids, Multipler Sklerose und Parkinson sind mit
der großen Hoffnung der Patienten auf Leidminderung,
auf eine höhere Lebensqualität und auf ein längeres Leben verbunden. Deswegen wollen wir, dass neue Medikamente grundsätzlich ab dem ersten Tag nach der
Markteinführung erstattungsfähig und damit für die Patienten zugänglich sind. Das ist ein hohes und wichtiges
Gut, für das wir einstehen.
({5})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Lauterbach?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Spahn, wäre es nicht redlich, wenn Sie unterscheiden würden zwischen dem Zeitpunkt der Marktverfügbarkeit, die auch von uns nicht kritisiert worden ist,
und dem Preis? Wir beklagen nur, dass das Medikament
sofort zum Höchstpreis, den die Industrie vorgibt, angeboten wird. Wir haben kein Interesse daran, dass ein Medikament verzögert auf den Markt kommt. Medikamente
werden mittlerweile in ganz Europa zum gleichen Zeitpunkt eingeführt. Sie lenken ab. Es geht nicht darum,
wann ein Medikament eingeführt wird, sondern nur darum, dass es in Deutschland zu einem viel zu hohen
Preis eingeführt wird. Daran wollen Sie nichts ändern.
Durch dieses Gesetz ändert sich daran überhaupt nichts.
({0})
Sie lenken davon ab, dass es um den Preis und nicht um
den Zeitpunkt der Zulassung geht.
Lieber Herr Kollege Lauterbach, hinter dem Begriff
der „vierten Hürde“ - das ist ein zusätzliches Kriterium
für die Zulassung - verbirgt sich genau diese Frage. Sie
wissen, dass man nicht bereits zum Zeitpunkt der Zulassung über den Zusatznutzen entscheiden kann, weil die
entsprechenden Studien erst vorgelegt und die entsprechenden Verhandlungen durchgeführt werden müssen.
Eine solche Entscheidung ist auf Basis der vorgesehenen
Verfahren nicht möglich. Wir würden hierzu gerne einmal Vorschläge von Ihnen hören. Wir kennen bloß keinen. Wir kennen nur die schönen Überschriften, die Sie
immer wieder produzieren. Es ist also angemessen, diese
Preisbildung über einen begrenzten Zeitraum hinweg zuzulassen.
({0})
Die Preisbildung ist übrigens nicht frei. Wie Sie zu
Recht gesagt haben, haben wir einen europäischen Preisfindungsmechanismus. Der Preis für ein Medikament
kann in Deutschland schon heute nicht dramatisch über
dem Preis in anderen europäischen Ländern liegen; sonst
gäbe es einen massenhaften Import in den deutschen
Markt. Das System ist in sich preisregulierend. Sie wissen so gut wie ich, dass für die Preisbildung Mechanismen erforderlich sind, mit denen der Zusatznutzen bewertet wird.
Was Sie mit der vierten Hürde erreichen wollen, ist,
dafür zu sorgen, dass neue, innovative Medikamente für
die kranken Menschen nicht mehr sofort zugänglich
sind. Das lehnen wir entschieden ab.
({1})
Es ist doch bemerkenswert, dass der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, des IQWiG, Herr Windeler, in verschiedenen Interviews deutlich gemacht hat, wie positiv er das findet,
was wir hier vorlegen. Er sagt, wie wichtig es ist, dass
wir zu mehr Evidenz und zu einer besseren Grundlage
für die Arzneimittelpreisfindung kommen. Da Sie vorhin
gefragt haben, was in der gesetzlichen Krankenversicherung erstattungsfähig bleibt, stelle ich fest: Wir stärken
den Gemeinsamen Bundesausschuss. Wir fordern von
der pharmazeutischen Industrie mehr Studien, die den
Nutzen beweisen. Wir achten aber auf ein faires Verhältnis und auf die Balance, weil wir wollen, dass in
Deutschland geforscht wird.
({2})
Wir wollen Forschung in Deutschland. Das ist im Interesse der Patienten. Mit der Forschung werden viele
Hoffnungen verbunden. Deswegen muss man auf die
Balance achten und nicht die Pharmaindustrie per se verdammen.
({3})
Zu den Orphan Drugs. Das sind Arzneimittel für
Menschen mit seltenen Erkrankungen. An diesen Erkrankungen leiden zum Teil nur 1 oder 2 Personen von
10 000. Sie stehen nicht immer im Mittelpunkt der Forschung der pharmazeutischen Industrie. Deswegen unterstützt die Europäische Union bewusst die pharmazeutischen Unternehmen, die auf diesem Gebiet forschen.
Man will - darauf hat die Kollegin Bender bereits hingewiesen -, dass es auch für diese Patientengruppen innovative Medikamente gibt. Wenn das so ist und die Europäische Union hier - im Übrigen nach Vorprüfung entsprechende Unterstützung leistet, dann wollen auch
wir, dass es diese neuen Medikamente für Menschen mit
seltenen Erkrankungen schnell auf dem deutschen Markt
gibt. Man darf sie nicht per se verteufeln. Wir haben die
Ausnahme an dieser Stelle also bewusst geschaffen.
({4})
Sie sagen, es gebe verschiedene Indikationen, indikationsübergreifenden Gebrauch und Ähnliches. Ich entgegne: Der eine Nierenkrebs ist nicht gleich einem anderen Nierenkrebs; es gibt da große Unterschiede. Natürlich gibt es zur Bekämpfung der verschiedenen Ausformungen auch unterschiedliche Medikamente. Diese Unterschiede muss man anerkennen und deutlich machen,
wenn man im Sinne der Patienten handeln will. Es geht
darum, differenzierte Lösungen zu finden und nicht auf
alles mit dem Hammer zu schlagen. Genau das ist es,
was wir an dieser Stelle tun.
({5})
Ich komme auf die Frage zu sprechen, wie wir für
eine qualitativ gute Versorgung der Patientinnen und Patienten sorgen können. Herr Kollege Lauterbach, Sie haben gerade den Bereich „Arzneimittelversorgung bei
Schizophrenie“ angesprochen. Die AOK Niedersachsen,
die nicht im Verdacht steht, pharmahörig zu sein, hat im
Rahmen der integrierten Versorgung einen Vertrag geschlossen - das geht schon heute, wenn die entsprechenden Bedingungen gegeben sind; wir ermöglichen, dass
das noch leichter vonstatten gehen kann; darum geht es -,
in dem ganz bewusst nicht nur geregelt wird, dass ein
Arzneimittel günstiger angeboten wird, sondern auch
das, was zu tun ist, wenn sich ein Patient freiwillig - es
wird ja niemand gezwungen - für einen solchen Vertrag
entscheidet.
Es geht darum, welche Ärzte mit welchen Qualifikationen in Zusammenarbeit mit welchen Krankenhäusern
und unter welchen Leitlinien das jeweilige Medikament
verschreiben. Das ist im Sinne einer guten Behandlung
der Versicherten. Wir wollen an dieser Stelle die Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie, damit Arzneimittel
nicht nur auf den Markt kommen, sondern im Sinne einer guten Versorgung auch den Patienten erreichen.
({6})
Unser Ziel ist eine innovative Versorgung der Patienten. Wir wollen, dass die Kosten für neue Medikamente
nach deren Zulassung von den Krankenkassen möglichst
schnell und zügig erstattet werden können. Seitens der
betroffenen Patienten ist damit wahnsinnig viel Hoffnung auf Leidminderung, auf Verbesserung der Lebensqualität verbunden. Gleichzeitig brauchen wir Regelungen, durch die das Preismonopol der Pharmaindustrie
gebrochen wird. Diese Regelungen sorgen dafür, dass
die Pharmaindustrie in Deutschland die Preise nicht einseitig festlegen kann. Dabei orientieren wir uns an Regelungen in anderen Ländern.
Diesen Spagat zu schaffen, ihn auch in der öffentlichen Auseinandersetzung auszuhalten und deutlich zu
machen, das ist die eigentliche Kunst. Hier zeigt sich
Verantwortung. Dieser Verantwortung stellt sich die Koalition, die Opposition leider wieder einmal nicht. Ich
bitte um Zustimmung zu dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf.
({7})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
Kollegen Michael Hennrich für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! In dieser Woche stehen zwei wichtige Gesetzesvorhaben auf der Tagesordnung: das
AMNOG und das GKV-FinG. Es ist ein wichtiges und
gutes Zeichen, dass wir die Debatte zur Gesundheitspolitik mit dem AMNOG beginnen. Damit machen wir deutlich, dass wir die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht nur über die Einnahmeseite
sicherstellen, sondern dass wir auch an der Ausgabenseite ansetzen.
Gerade das Thema Arzneimittel ist immer wieder in
der Diskussion. Es gibt kaum einen Politiker, der nicht
schon mit der Frage konfrontiert wurde, warum in Spanien weniger für Arzneimittel gezahlt wird als in
Deutschland. An diesem Thema müssen wir arbeiten,
damit wir den Menschen deutlich machen, dass in
Deutschland nicht die höchsten Arzneimittelpreise gezahlt werden, dass auch hier in Deutschland Einsparungen erzielt werden können.
({0})
Der Arzneimittelsektor ist der zweitgrößte Ausgabenblock. Es lohnt sich, einmal ganz genau hinzuschauen,
wie sich die Arzneimittelpreise in den letzten Jahren entwickelt haben. Es gab bei den Arzneimitteln mit Festbeträgen von 2009 auf 2010 eine Senkung der Ausgaben
um 2 Prozent. Bei den patentgeschützten Arzneimitteln
ohne Festbeträge gab es von 2009 auf 2010 Preissteigerungen von 9 Prozent. Es ist wichtig, dass wir mit dem
AMNOG in diesem Bereich ansetzen, um die Finanzierungsprobleme bei den patentgeschützten Arzneimitteln
in den Griff zu bekommen. 28 Prozent der Verordnungen
sind für 80 Prozent des Umsatzes im Arzneimittelsektor
verantwortlich. Mit der frühen Nutzenbewertung, die wir
mit dem AMNOG einführen, werden wir die damit verbundenen Probleme in den Griff bekommen.
Uns ist auch wichtig, dass die Patienten in Zukunft
möglichst schnell an ihr Medikament kommen. Herr
Lauterbach, es ist der falsche Weg - das hat der Kollege
Jens Spahn deutlich gemacht -, den Patienten nach der
Zulassung zu sagen, dass wir erst noch zusätzlich den
Nutzen prüfen und über den Preis verhandeln. Deswegen
brauchen wir nach der Zulassung die Möglichkeit, dass
ein Arzneimittel sofort in die Versorgung kommt.
({1})
Ich möchte im Zusammenhang mit der frühen Nutzenbewertung zwei Themen aufgreifen, die in der öffentlichen Diskussion waren. Das waren die Themen
Rechtsverordnung und Orphan Drugs. Wir sollten daran
denken, welche Probleme wir mit der Kosten-NutzenBewertung nach § 35 b SGB V hatten, in dem wir lediglich zwei Kriterien, internationale Standards und Gesundheitsökonomie, festgelegt hatten. Dies sorgte vier
Jahre lang beim IQWiG, beim GBA und bei den pharmazeutischen Herstellern für Verunsicherung. Daher ist es
der richtige Weg, ein paar Rechtsfragen verbindlich in
einer Rechtsverordnung zu klären. Das heißt nicht, dass
das Gesundheitsministerium die Prüfungen durchführt.
Das heißt auch nicht, dass der GBA und das IQWiG in
ihrer Kompetenz beschnitten werden. Es bleibt bei einer
Verfahrensordnung.
Es ist uns wichtig, ein klares und transparentes Verfahren zu gewährleisten. Wir wollen, dass die Beteiligten, IQWiG, GBA und pharmazeutische Hersteller, kooperieren und verbindliche Abmachungen treffen.
Deswegen wird in dem Gesetz klar geregelt, dass die
Hersteller einen Anspruch auf Beratung haben und dass
es nach der Zulassung Vereinbarungen zwischen GBA
und Hersteller geben kann.
Nächstes Thema: Orphan Drugs. Ich hatte in der Diskussion um die Orphan Drugs ein wunderbares Erlebnis,
als ich mit Ihnen, Herr Lauterbach, bei einer Veranstaltung war. Dort hat ein führender Kopf aus dem Gesundheitswesen - es waren nicht Sie ({2})
dieses Thema kritisiert und meinte, wir bräuchten eine
frühe Nutzenbewertung. Daraufhin wurde ihm die Frage
gestellt, wo das Thema Orphan Drugs geregelt ist. Der
Betroffene wusste keine Antwort. Aber er kritisiert uns
dafür, dass wir auf eine Zusatznutzenprüfung verzichten.
Viele Themen sind schon angesprochen worden. Ich
will noch einmal deutlich machen, welche Quantensprünge und großen Vorteile wir über die frühe Nutzenbewertung hinaus mit diesem Gesetz auf den Weg bringen. Es ist wichtig, dass wir nicht nur für die
gesetzlichen Krankenversicherungen, sondern auch für
die privaten Krankenversicherungen Verantwortung
übernehmen. Es gibt in diesem Haus einige Personen,
die ein Interesse daran haben, dass die privaten Krankenversicherungen an die Wand fahren. Dass in der Großen
Koalition, also in der Koalition zwischen CDU/CSU und
SPD, wenig für die privaten Krankenversicherungen und
vor allem für die Versicherten getan werden konnte, war
klar. Es muss unser Anspruch als bürgerliche Koalition
sein, dass wir auch für die private Krankenversicherung
Verantwortung übernehmen.
({3})
Wir haben eine vernünftige Mehrkostenregelung. Ich
möchte in diesem Zusammenhang sagen, dass wir an
den Rabattverträgen festhalten. Aber wir wollen den Patienten in Zukunft die Möglichkeit geben - vor allem älteren Menschen, die auf ein bestimmtes Medikament angewiesen sind, das sie schon jahrelang nehmen -, dieses
Medikament weiterhin zu nehmen. Es kann nicht sein,
dass man einer älteren Dame sagt: Wir haben jetzt einen
Rabattvertrag, Sie müssen auf ein anderes Medikament
umsteigen. - Deswegen stärken wir in diesem Punkt die
Eigenverantwortung der Patienten.
Ein Vorzug des vorliegenden Gesetzentwurfes ist,
dass wir die Arzneimittelhersteller zur Veröffentlichung
der Ergebnisse klinischer Studien verpflichten. Außerdem haben wir den Großhandelszuschlag neu geregelt.
Mit Blick auf die Apotheker haben wir den ab 2011 geltenden Kassenabschlag auf 2,05 Euro festgesetzt. Dadurch werden Einsparungen in Höhe von 200 Millionen
Euro erzielt. Ich sage ganz offen, Herr Minister, dass es
mir lieber gewesen wäre, wenn der Kassenabschlag, der
bisher 2 Euro betrug, nicht auf 2,05 Euro erhöht worden
wäre. Ich habe aber Verständnis für Ihre Motivation, ihn
anzuheben. Darüber hinaus wollen wir die unabhängige
Patientenberatung ausbauen und das Wettbewerbsrecht
verbessern. Es gibt also viele gute Gründe, die für unseren Gesetzentwurf sprechen.
Ich habe eine interessante Erfahrung gemacht. Frau
Vogler, als wir diesen Gesetzentwurf in der ersten Beratung debattiert haben, haben Sie uns noch gelobt. Blank
entsetzt waren Sie allerdings, als Herr Lauterbach ihn
scharf kritisiert hat. Da kam Ihre Welt etwas durcheinander. Sie konnten sich natürlich nicht gefallen lassen, dass
Herr Lauterbach Sie links überholt. Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Kritik, die Sie heute geäußert haben. Ich glaube trotzdem, dass wir mit diesem Gesetzentwurf einen wichtigen Schritt machen, um in Zukunft
eine bessere Arzneimittelversorgung bei vernünftigeren
Preisen zu gewährleisten.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurf eines Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3698, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
FDP auf Drucksache 17/2413 in der Ausschussfassung
anzunehmen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD
vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den
Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 17/3702? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Ände-
rungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der
FDP gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei
Stimmenthaltung der Linken abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun auf Verlan-
gen der Fraktion der SPD namentlich über den Gesetz-
entwurf ab. Zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
liegt mir eine schriftliche Erklärung nach § 31 unserer
Geschäftsordnung des Kollegen Oliver Luksic vor.1) Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge-
sehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze an den
Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
stimmung.
Haben sich alle Mitglieder des Hauses an der Abstim-
mung beteiligt? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann
schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.2)
Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen.
Wir beginnen mit dem Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3703. Auch hier
verlangt die Fraktion der SPD namentliche Abstim-
mung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die üblicherweise vorgesehenen Plätze einzunehmen. -
Ist alles zur Abstimmung vorbereitet? - Das ist der Fall.
Dann eröffne ich die Abstimmung.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen, die hier anwe-
send sind, ihre Stimme abgegeben? - Das ist offensicht-
lich der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Das
Ergebnis dieser Abstimmung wird Ihnen ebenfalls später
bekannt gegeben.3)
Wir kommen nun zu weiteren Abstimmungen. Dazu
bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich zu Ih-
ren Plätzen zu begeben.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3704. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP ge-
1) Anlage 3
2) Ergebnis Seite 7676 C
3) Ergebnis Seite 7678 D
gen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der
SPD und der Linken abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/3116 und 17/3211, Entwurf eines Gesetzes
zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3698, den Gesetzentwurf der Bundesregierung für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksache 17/3698 fort. Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/1201 mit dem Titel „Effektivere Arzneimittelversorgung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der SPD bei
Stimmenthaltung der Grünen angenommen.
Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1768 mit
dem Titel „Öffentlichen Zugang zu Informationen über
klinische Studien umfassend sicherstellen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der Linken
angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/893 mit dem Titel
„Verpflichtung zur Registrierung aller klinischen Studien
und zur Veröffentlichung aller Studienergebnisse einführen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken und der Grünen
bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
Unter Nr. 6 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2322
mit dem Titel „Unabhängige Patientenberatung in Regelangebot überführen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen der
Linken bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss für Gesundheit
unter Nr. 7 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2324
mit dem Titel „Für ein modernes Preisbildungssystem
bei Arzneimitteln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Unter Nr. 8 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/1418 mit dem Titel „Qualität und Sicherheit der Arzneimittelversorgung verbessern - Positivliste einführen - Arzneimittelpreise begrenzen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.
Unter Nr. 9 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1985 mit
dem Titel „Unabhängige Patientenberatung ausbauen
und in die Regelversorgung überführen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung von SPD und
Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus
Ernst, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze ({0})
- Drucksache 17/3546 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Matthias Birkwald für die Fraktion Die Linke das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist kein Geheimnis: Die Linke lehnt die
Rente erst ab 67 ab ({0})
ohne Wenn und Aber. Gemeinsam mit der übergroßen
Mehrheit der Bevölkerung, mit den Sozialverbänden und
mit den Gewerkschaften sagt die Linke als einzige Partei
in diesem Haus Nein zur Rente erst ab 67, und dabei
bleiben wir.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
selbst aus Ihren Reihen kommen Bedenken angesichts
der schlechten Situation Älterer auf dem Arbeitsmarkt.
({2})
Diese sollten Sie ernst nehmen. Wir wollen Sie beim
Wort nehmen. Sie sollten den Einstieg in die Rente erst
ab 67 zunächst einmal vier Jahre aussetzen; denn die Voraussetzungen stimmen einfach nicht. Darum lassen Sie
uns gemeinsam ein Stoppzeichen setzen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus CDU/CSU und
SPD, bereits vor vier Jahren, also 2006, wussten Sie,
dass die Rente erst ab 67 nicht mehr Arbeit im Alter,
sondern mehr Armut im Alter bringt. Das haben Sie klar
gesehen. Deswegen haben Sie die Einführung der Rente
erst ab 67 mit Bedingungen verknüpft - ich zitiere aus
dem Gesetzentwurf -:
Die Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf
67 Jahre ab dem Jahre 2012 setzt eine nachhaltige
Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer voraus.
Das steht jetzt auch im Gesetz.
Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer hat kürzlich mit
deutlichen Worten daran erinnert - ich zitiere -:
Ich werde meine Zustimmung zur Rente mit 67 aufkündigen, wenn die Wirtschaft Menschen, die über
50 sind, nicht beschäftigt.
({4})
Auch die SPD hat diese Position wiederentdeckt und
die Einführung der Rente erst ab 67 unter Vorbehalt gestellt.
({5})
Kürzlich haben Sie, lieber Kollege Juratovic, deutlich
gemacht - ich zitiere -:
Viele Arbeitnehmer können unter den heutigen Bedingungen nicht bis 65 arbeiten, geschweige denn
bis 67.
Wir Linke sagen: Sie haben vollkommen recht.
({6})
Selbst die Grünen - sonst strikte Befürworterinnen
und Befürworter der Rente erst ab 67 - sehen die Gefahr
drohender Altersarmut. Darauf hat Wolfgang
Strengmann-Kuhn vor zwei Wochen in der Aktuellen
Stunde hingewiesen. Recht hat er.
({7})
Die FDP hingegen traut sich leider nur in der Opposition, offen zu reden.
({8})
Herr Kolb, 2006 haben Sie festgestellt - ich zitiere -:
… dass die Reform der Rente aufgrund mangelnder
begleitender Arbeitsmarktreformen für die aller7676
meisten Versicherten auf eine verkappte Rentenkürzung hinauslaufen wird.
Wie recht Sie doch haben!
({9})
Doch heute reden Sie sich die Wirklichkeit schön. Sie
behaupten, die Erwerbsbeteiligung älterer Menschen
habe sich „toll entwickelt“. Herr Kollege Kolb, auch ich
finde es toll, wenn sich die Menschen auch über kleine
Dinge freuen können, aber hier ist das vollkommen
unangebracht. Ich sage Ihnen gerne, warum. Als Sie
Ende 2006 vor Rentenkürzungen durch die Rente erst ab
67 gewarnt haben, gingen 179 000 64-Jährige einer Erwerbstätigkeit nach; heute sind es 185 000. Das ist eine
Steigerung um gerade einmal 3 Prozent. Im gleichen
Zeitraum stieg der Anteil der 64-Jährigen, die einen
sozialversicherungspflichtigen Job haben, von knapp
7 Prozent auf knapp 10 Prozent. Bei den Vollzeitjobs
sieht es noch mickriger aus. Hier erhöhte sich der Anteil
von knapp 5 Prozent im Jahr 2006 auf rund 6 Prozent im
Jahr 2009. Das, lieber Herr Dr. Kolb, finde ich nicht besonders toll.
({10})
Erklären Sie das doch einmal den Menschen, die nach
1947 geboren sind. Deren Rente wollen Sie kürzen. Ich
sage Ihnen: Die werden diesen Sozialraub nicht akzeptieren.
({11})
Ich komme zum Schluss. Wir Linken nehmen Sie und
die Bedenken aus Ihren Reihen gegen die Rente erst ab
67 ernst. Jetzt fehlt nur noch eines: Nehmen Sie sich
selbst beim Wort. Verschaffen Sie den Betroffenen Luft
und Ihren Bedenken Platz. Verschieben Sie den Einstieg
in die Rente erst ab 67 um vier Jahre; denn jeder Schritt
in die richtige Richtung ist wichtig. Für uns bleibt das
Ziel klar: Die Linke ist ohne Wenn und Aber gegen die
Rente erst ab 67.
Vielen Dank.
({12})
Ich unterbreche die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt und teile die von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelten Ergebnisse der beiden namentlichen Abstimmungen mit.
Ich komme zunächst zum Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung, AMNOG: abgegebene Stimmen 583. Mit Ja
haben gestimmt 314, mit Nein haben gestimmt 269. Der
Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 583;
davon
ja: 314
nein: 269
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({2})
Norbert Brackmann
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({7})
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
({9})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller ({11})
Nadine Schön ({12})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({13})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({14})
Anita Schäfer ({15})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
hierse
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({16})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({17})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({18})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({19})
Stefanie Vogelsang
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({20})
Peter Weiß ({21})
Sabine Weiss ({22})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({23})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({24})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({25})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({26})
Michael Link ({27})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Petra Müller ({28})
Dr. Martin Neumann
({29})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({30})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({31})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({32})
Nein
CDU/CSU
Dr. Egon Jüttner
Bernd Siebert
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({33})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({34})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({35})
Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({36})
Hubertus Heil ({37})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz ({38})
Frank Hofmann ({39})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({40})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Ute Kumpf
Christian Lange ({41})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({42})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({43})
hierse
Michael Roth ({44})
Marlene Rupprecht
({45})
Axel Schäfer ({46})
Marianne Schieder
({47})
Werner Schieder ({48})
Ulla Schmidt ({49})
Silvia Schmidt ({50})
Carsten Schneider ({51})
Swen Schulz ({52})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({53})
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Harald Koch
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({54})
Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Harald Weinberg
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({55})
Volker Beck ({56})
Cornelia Behm
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({57})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({58})
Monika Lazar
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({59})
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({60})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
({61})
Ich komme zum Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entschließungsantrag der Abgeordneten
Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Elke Ferner und weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD zur dritten Beratung ebendieses Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP, Drucksachen 17/2413 und 17/3698: abgegebene Stimmen 583. Mit Ja haben gestimmt 203, mit
Nein haben gestimmt 316, Enthaltungen 64. Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 583;
davon
ja: 203
nein: 316
enthalten: 64
Ja
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({62})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({63})
Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({64})
Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({65})
Hubertus Heil ({66})
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Petra Hinz ({67})
Frank Hofmann ({68})
Dr. Eva Högl
hierse
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({69})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Ute Kumpf
Christian Lange ({70})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({71})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({72})
Michael Roth ({73})
Marlene Rupprecht
({74})
Axel Schäfer ({75})
Marianne Schieder
({76})
Werner Schieder ({77})
Ulla Schmidt ({78})
Silvia Schmidt ({79})
Carsten Schneider ({80})
Swen Schulz ({81})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Peer Steinbrück
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff
({82})
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({83})
Volker Beck ({84})
Cornelia Behm
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({85})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Undine Kurth ({86})
Monika Lazar
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({87})
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({88})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({89})
Manfred Behrens ({90})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({91})
Norbert Brackmann
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({92})
Dirk Fischer ({93})
Axel E. Fischer ({94})
Dr. Maria Flachsbarth
Dr. Hans-Peter Friedrich
({95})
Erich G. Fritz
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Jürgen Herrmann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({96})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Siegfried Kauder ({97})
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
hierse
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
({98})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({99})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller ({100})
Nadine Schön ({101})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({102})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({103})
Anita Schäfer ({104})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({105})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({106})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({107})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({108})
Stefanie Vogelsang
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({109})
Peter Weiß ({110})
Sabine Weiss ({111})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({112})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({113})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({114})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({115})
Michael Link ({116})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Petra Müller ({117})
Dr. Martin Neumann
({118})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({119})
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang T
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({120})
Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({121})
Enthalten
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
hierse
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Ulla Jelpke
Harald Koch
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({122})
Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Harald Weinberg
Wir kehren zu unserem Tagesordnungspunkt zurück.
Ich erteile dem Kollegen Peter Weiß für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({123})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es war schon eine interessante Rede, die Herr Birkwald
von den Linken gehalten hat. Er hat nämlich erklärt, die
Linke sei nach wie vor gegen die Rente mit 67.
({0})
Aber die Linke hat einen Gesetzentwurf eingebracht,
über den heute diskutiert wird, mit dem die Rente mit 67
eingeführt werden soll; aber das schrittweise Inkrafttreten soll um vier Jahre gegenüber dem geltenden Gesetz
hinausgeschoben werden. Was gilt jetzt? Sind Sie für die
Regelaltersgrenze von 67, oder sind Sie nicht dafür?
Wenn Herr Birkwald das ernst gemeint hätte, was er gesagt hat, hätte er den Gesetzentwurf nicht einbringen
dürfen.
({1})
Das zeigt eines: Es gibt nichts Unglaubwürdigeres in
diesem Parlament als die Fraktion Die Linke.
({2})
Eine solche Vergackeierung des Parlaments und der Öffentlichkeit, nämlich zu erklären, man sei dagegen, es
aber trotzdem zu beantragen, gibt es wahrlich selten. Auf
die Linke - das ist klar - ist kein Verlass.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bunge?
Ja.
Bitte schön.
Kollege Weiß, Sie haben eben unsere Zwiespältigkeit
dargelegt. Können Sie nachvollziehen, dass man versucht, Realpolitik zu machen,
({0})
und zwar zugunsten derjenigen, die unmittelbar demnächst betroffen sind? Wir haben das Ziel: keine Rente
erst ab 67. Das ist bei dieser Koalitionsregierung sicher
eine Illusion. Hier muss aber die Notbremse gezogen
werden. Deshalb haben wir heute einen Gesetzentwurf
eingebracht, der Ihnen den Offenbarungseid abnötigt.
({1})
Frau Kollegin, wer hier einen Offenbarungseid geleistet hat, ist die Linke mit ihrem Gesetzentwurf. Dieser
zeigt nämlich, dass Sie schlichtweg prinzipienlos sind.
({0})
Sie bringen diesen Gesetzentwurf übrigens aus einem
einzigen Grund ein: um die Fraktion der SPD zu ärgern.
({1})
Peter Weiß ({2})
Ich muss schon sagen: Wenn man das Mandat, das einem die Bürgerinnen und Bürger bei der Wahl verliehen
haben, wirklich ernst nimmt, dann stellt man Anträge zur
Sache und nicht, um andere zu ärgern.
({3})
Aber vielleicht dämmert es langsam auch der Fraktion der Linken, dass sie mit ihrer ursprünglich zur Rentenpolitik eingenommenen Position auf dem falschen
Weg ist. Es kommt nämlich nicht darauf an, was heute
ist, sondern es kommt darauf an, wie sich die Entwicklung bis zum Jahr 2029 voraussichtlich gestalten wird,
was also in 20 Jahren sein wird, wenn die Regelaltersgrenze von 67 Jahren tatsächlich in Kraft tritt.
({4})
Haben wir, was die Beschäftigung Älterer anbelangt, einen negativen oder einen positiven Trend zu verzeichnen? Dazu darf ich ein paar Zahlen zur Kenntnis geben,
die man einfach nicht wegreden kann:
Im Dezember des Jahres 2000, also vor zehn Jahren,
waren nur 5,4 Millionen 50- bis 65-Jährige in Arbeit.
Aber heute, im Jahr 2010, sind es bereits 7,28 Millionen
ältere Erwerbstätige, die Arbeit haben und nicht arbeitslos sind. Das ist ein positiver Trend.
({5})
Wenn man nur die 60- bis 65-Jährigen nimmt, so hat sich
in dem gleichen Zeitraum von zehn Jahren die Erwerbstätigenquote praktisch verdoppelt, und die Entwicklung
des Jahres 2010 zeigt, dass sie auch in diesem Jahr weiter ansteigt.
Übrigens gingen vor zehn Jahren nur 10 Prozent der
versicherungspflichtig Beschäftigten tatsächlich mit
65 Jahren in Rente. Im vergangenen Jahr, 2009, waren es
aber bereits 30 Prozent.
Das ist letztlich alles nicht zufriedenstellend, aber es
zeigt eines: Wir haben Gott sei Dank - das sollte man
auch einmal lobend und anerkennend erwähnen - einen
positiven Trend bei der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land zu verzeichnen. Älter zu werden ist kein Grund mehr dafür,
dass jemand entlassen oder in den Vorruhestand geschickt wird, sondern ist für viele Unternehmen erst
recht ein Grund, um den Leuten zu sagen: Wir brauchen
euch; bleibt bei uns in Arbeit. - Diesen Trend wollen wir
weiter verstärken.
({6})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal
des Herrn Kollegen Birkwald?
Bitte sehr.
Herr Kollege Weiß, da Sie hier Zahlen genannt haben:
Können Sie widerlegen, dass im Jahr 2009 nur 3,7 Prozent aller 64-jährigen Frauen einen sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjob hatten? Ich wiederhole: 3,7 Prozent. Das sind in absoluten Zahlen 15 454.
Herr Kollege Birkwald, zur Beurteilung der Frauenerwerbstätigkeit
({0})
muss man vielleicht zur Kenntnis nehmen, dass sich in
den westlichen Bundesländern im Vergleich zu den östlichen Bundesländern in den letzten Jahrzehnten eine etwas andere Geschichte abgespielt hat.
({1})
- Das heißt noch lange nicht, dass Sie damit die Weisheit
mit Löffeln gefressen haben.
({2})
- Das gibt es in der Tat. Gar keine Frage. Aber wir wollen jetzt nicht über die Schönheit von Frauen, sondern
über deren Erwerbstätigkeit diskutieren.
({3})
- Entschuldigung, der Kollege Troost hat das Thema
Schönheit angesprochen. Darauf habe ich jetzt reagiert.
({4})
- Frau Kollegin Ferner, ich will einfach noch einmal das
berichten, was Sie ja auch wissen.
({5})
Viele Frauen, gerade in den westlichen Bundesländern, haben in den vergangenen Jahrzehnten ein Familienmodell praktiziert, bei dem sie, sobald Kinder auf die
Welt kamen, teilweise oder ganz aus dem Erwerbsleben
ausgestiegen sind und anschließend auch nicht wieder
eingestiegen sind.
({6})
Deswegen haben wir bei den rentennahen Jahrgängen
historisch bedingt eine sehr niedrige Erwerbstätigkeitsquote der Frauen. Allerdings - das sieht man bei den
Peter Weiß ({7})
Jüngeren, die jetzt nachkommen - verändert sich die Erwerbstätigkeit von Frauen sehr, sodass wir in den kommenden Jahrzehnten eine deutlich höhere Zahl von
Frauen im Rentenalter erwarten können, die, Gott sei
Dank, einen eigenen Rentenanspruch erworben haben.
({8})
- Man muss doch den Hintergrund von Zahlen erläutern.
Nun zu dem Verschiebungsvorschlag. Was bedeutet
das? Verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die es betrifft: Wenn wir beschließen würden, den schrittweisen und langsamen Anstieg des Renteneintrittsalters um jeweils einen Monat
pro Jahrgang für vier Jahrgänge auszusetzen, dann bedeutete das - so lautet der Gesetzentwurf und auch die
Idee der SPD -, dass für die vier nachfolgenden Jahrgänge das Renteneintrittsalter umso schneller nach oben
geht.
({9})
Jetzt frage ich mich: Was ist das für ein Verständnis
von Solidarität unter den Generationen, was ist das für
ein Gerechtigkeitsempfinden, wenn man vier Jahrgängen
sagt: „Für euch bleibt es bei der alten Regelaltersgrenze“, aber den vier nächsten Jahrgängen sagt: „Ihr
müsst umso länger arbeiten, weil wir den anderen das
geschenkt haben“? Das ist doch keine Solidarität. Das
hat doch mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Das ist das Gegenteil von Solidarität und das Gegenteil von Gerechtigkeit. Deswegen sind wir gegen diesen unsolidarischen
und ungerechten Vorschlag.
({10})
Überall wird jetzt über das Thema Fachkräftemangel
und darüber diskutiert, wie wir ihn beheben wollen. Ich
möchte für unsere Fraktion klar und deutlich sagen:
Denjenigen, die den Fachkräftemangel nur dadurch beheben wollen, dass wir die Türen weit aufmachen und
jeder hierherkommen kann, sprich: dass die deutsche
Wirtschaft sich billige Arbeitskräfte aus dem Ausland
sucht, aber denjenigen, die in unserem Land keine Arbeit
haben, immer noch keine Chance geben, werden wir
nicht nachgeben. Wir wollen als Allererstes mehr Qualifizierung für die, die heute arbeitslos sind, und mehr Beschäftigungschancen für die ältere Generation, damit der
Fachkräftemangel in Deutschland bekämpft werden
kann. Das ist unsere Position.
({11})
Ich möchte zum Schluss - der Präsident zeigt mir,
dass meine Redezeit zu Ende ist - Folgendes sagen:
Wenn man sich selbst als Parlamentarier ernst nimmt
und wenn man die Menschen ernst nimmt, die auf klare
Entscheidungen von uns warten, dann sollte man
({12})
die Worte aus der Bergpredigt ernst nehmen. Ich zitiere
Matthäus 5, 37:
Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere
stammt vom Bösen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort erteile ich nun Kollegen Anton Schaaf für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich
das eine oder andere zum Kollegen Peter Weiß sage, Folgendes: Heute ging um 13.36 Uhr eine Meldung über
den Ticker, die sich mit den Ergebnissen des im Rahmen
der Berichterstattungspflicht der Bundesregierung erstellten Prüfberichts zum höheren Renteneintrittsalter
befasst, und zwar mit wörtlichen Zitaten und Zahlen.
Das heißt, die Öffentlichkeit hat Informationen bekommen,
({0})
die nach dem Gesetz zunächst einmal dem Parlament
und den Parlamentariern zustehen.
({1})
Nach dem Gesetz hat die Bundesregierung die Berichterstattungspflicht gegenüber dem Parlament. Entweder haben Sie anlässlich der Debatte über diese Pressemeldung und das gezielte Durchstechen in der
Bevölkerung Stimmung für die Rente mit 67 machen
wollen, oder Sie haben Indiskretionen im Haus. Ich weiß
nicht, was für Ihre Ministerin schlimmer ist, das Parlament ignoriert zu haben oder ihren Laden nicht im Griff
zu haben. Aber das ist eine Sache, die Sie miteinander
ausmachen müssen. Ich bin der Meinung: Beides ist
schlimm genug.
({2})
Nun ja, ich habe dann im Büro des Parlamentarischen
Staatssekretärs Fuchtel nachfragen lassen
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
- einen Moment -, ob ich als Parlamentarier den Bericht, wenn ihn schon die Öffentlichkeit, in diesem Falle
AFP, hat, auch bekommen kann. Da wurde mir mitgeteilt, dass dieser selbstverständlich bis zum Kabinettsbeschluss nächste Woche noch als Verschlusssache behandelt wird.
({0})
Meine Damen und Herren, das heißt im Klartext: Die
Ministerin hat ihren Laden definitiv nicht im Griff. Etwas anderes kann es nicht heißen.
({1})
Jetzt kann Herr Kollege Straubinger natürlich sehr
gerne seine Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Straubinger, jetzt dürfen Sie ran.
Herr Kollege Schaaf, wenn Sie schon Zahlen parat
haben, wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie diese Zahlen
auch bekannt geben würden. Ich glaube, das wäre auch
für die Öffentlichkeit interessant.
({0})
Ich bin ja gerade dabei. Ich wollte nur diesen Sachverhalt einmal geklärt haben.
({0})
Herr Straubinger, Sie hätten sich auch gerne dazu verhalten können, wie es eigentlich sein kann, dass eine Berichtspflicht gegenüber dem Parlament in einer derartigen Art und Weise verletzt wird. Dazu hätten Sie sich
gerade verhalten können. Ich stelle nur noch einmal fest:
Diese Chance haben Sie nicht wahrgenommen.
({1})
Ich finde, so kann man mit dem Parlament nicht umgehen. Aber in den letzten Wochen haben wir ja bei anderen Themen Ähnliches erlebt:
({2})
Bei Atom, bei Gesundheit und bei anderen Themen durften wir erleben, wie diese Regierung mit dem Parlament
umgeht. Ich halte es für gnadenlos schlecht, was Sie da
veranstalten. Aber gut, ich möchte es nicht weiter werten. Ich wollte hier nur erwähnt haben, dass es so ist.
Im Pressebericht wird nun beispielsweise gesagt, dass
sich die Beschäftigungsquote der 60- bis 64-Jährigen
sensationellerweise auf 23,4 Prozent erhöht hat. Wörtlich steht in dem Bericht, dass das Begründung genug
dafür ist, die Rente mit 67, beginnend ab dem Jahr 2012,
einzuführen, weil sich damit ja schließlich die Beschäftigungsquote der über 60-Jährigen in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat.
({3})
Wenn ich richtig gerechnet habe - ich glaube, das habe
ich einigermaßen richtig hinbekommen -, ist es so, dass
zurzeit wohl 76,6 Prozent der über 60-Jährigen nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind.
({4})
Wie man von einer Zahl von 23,4 Prozent ablesen kann,
dass die Rente mit 67 ab 2012 problemlos eingeführt
werden kann, ist mir schlichtweg ein Rätsel, meine Damen und Herren.
({5})
Herr Birkwald hat zwar freundlicherweise erwähnt,
dass wir die Einführung der Rente mit 67 ab 2012 mitbeschlossen haben, aber er hat auch sehr deutlich formuliert, welche Sicherungen wir im Gesetz eingebaut haben.
({6})
Die Überprüfungsklausel, auf die wir uns jetzt berufen,
ist eine solche Sicherung und ist Bestandteil des Gesetzes.
({7})
Genau das ignorieren Sie.
({8})
Die arbeitsmarktpolitische Situation der Älteren gibt es
eben nicht her, ab 2012 die Rente mit 67 einzuführen.
({9})
Darauf berufen wir uns. Sie ignorieren diesen Teil des
Gesetzes in Gänze.
Wie Sie damit jetzt umgehen wollen, habe ich ja gesehen. Auf einmal handelt es sich nicht mehr um eine
Überprüfungspflicht, sondern nur noch um eine Berichterstattung, die im Wesentlichen keine Relevanz mehr
habe.
({10})
Ich habe all diese Sprüche in den letzten Wochen gehört.
Ich halte sie allesamt für falsch, wie meine Fraktion
auch. Die Rente mit 67 kann vor dem Hintergrund des
Istzustands bei älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht ab 2012 eingeführt werden. An der Stelle
gebe ich den Linken recht. Die Einführung der Rente mit
67 muss also verschoben werden.
({11})
Welche Klimmzüge man macht, um sie trotzdem einführen zu können, haben Sie, Herr Kollege Weiß, ja gerade wieder dargestellt. Wenn man sich die Zahlen genau
anschaut, dann stellt man fest: Zurzeit gehen von den 64Jährigen nur 10 Prozent ohne Abschläge in Rente. Diese
Zahl begründet vor dem Hintergrund dessen, was im Gesetz steht, natürlich kein höheres Renteneintrittsalter.
Die Zahl von 23,4 Prozent sozialversicherungspflichtig
Beschäftigter bei den 60- bis 64-Jährigen liefert auch
schwerlich ein Argument für die Einführung der Rente
mit 67 ab 2012.
Jetzt gehen Sie hin und nehmen statt der Zahl der 55- bis
65-Jährigen sogar die Zahl der 50- bis 65-Jährigen. Warum nehmen Sie nicht gleich die Zahl der 35- bis 65-Jährigen? Warum tun Sie das nicht?
({12})
Sie legen es sich gerade so zurecht, wie Sie es gerne hätten, um Ihr Vorhaben einigermaßen durchhalten zu können.
({13})
Sie werden aber weder in der öffentlichen Darstellung
noch hier im Parlament die Leute tatsächlich verdummteufeln können. Das schaffen Sie nicht, auch nicht mit
der Zahlenspielerei, die Sie jetzt gerade hier auch wieder
betrieben haben.
Wir haben für ein höheres Renteneintrittsalter gestimmt und es auch nicht negiert. Ich habe auch bei anderen Veranstaltungen immer gesagt: Wir werden nicht
darum herumkommen, irgendwann ein höheres Renteneintrittsalter einzuführen.
({14})
Dabei bleibe ich auch; davon bin ich fest überzeugt. Das
hat etwas mit demografischer Entwicklung zu tun, aber
nicht mit finanzieller Entwicklung der Rentenversicherung, die man anders darstellen kann, sondern mit Leistungsfähigkeit der Gesellschaft.
Die Frage ist doch, ob die Voraussetzungen dafür jetzt
gegeben sind. Sie sind nicht gegeben. Man muss den
Menschen, die kaputt sind aufgrund der Arbeit - das
sind die Handwerker, das sind die Schichtarbeiter, das ist
die Krankenschwester, das sind viele andere -, bevor
man ein höheres Renteneintrittsalter einführt, eine Antwort auf die Frage geben, was passiert, wenn sie aufgrund ihrer Arbeit nicht mehr können. Diese Antwort
verweigern Sie schlichtweg, meine Damen und Herren
von der Koalition.
({15})
Herr Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Schaaf, Sie haben soeben vorgetragen,
dass wir, Sozialdemokraten und CDU/CSU gemeinsam,
in der Großen Koalition 2007 das Gesetz zur Erhöhung
der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre beschlossen haben und ebenso
gemeinsam beschlossen haben, dass die Bundesregierung verpflichtet wird, in diesem Jahr zum ersten Mal einen Bericht vorzulegen, wie sich die Beschäftigungssituation Älterer entwickelt, und in den Folgejahren alle vier
Jahre erneut einen solchen Bericht vorzulegen.
({0})
Nun haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, Herr
Kollege Schaaf: Dieser Bericht liegt uns - auch wenn es
offensichtlich entsprechende Pressemeldungen gibt - bis
zur Stunde nicht vor. Vielmehr wird ihn das Kabinett voraussichtlich in der kommenden Woche verabschieden
und dann dem Parlament zuleiten.
Deswegen frage ich Sie einfach: Warum halten Sie
eine solche Rede, wie Sie sie halten, indem Sie bereits
feststellen, dass sich aus Ihrer Sicht die Beschäftigungssituation Älterer nicht gut genug entwickelt hat und in
den kommenden Jahren nicht weiter gut entwickeln
wird, wenn der Bericht überhaupt nicht vorliegt? Warum
ist nicht auch die sozialdemokratische Fraktion bereit,
erst einmal den Bericht zu lesen - Sie haben ihn selbst
beschlossen und in Auftrag gegeben - und anschließend
miteinander zu diskutieren?
Ich danke Ihnen sehr herzlich für die Frage. - Zunächst einmal möchte ich das, was im Gesetz steht - das,
was wir Überprüfungsklausel bzw. Berichterstattungsklausel nennen -,
({0})
zu Ende zitieren. Darin steht nämlich, dass die Regierung vor dem Hintergrund der erhobenen Daten dem
Parlament eine Empfehlung geben muss, das heißt mitteilen muss, ob es geboten ist, dass ab 2012 die Rente
mit 67 eingeführt wird. Das steht ebenfalls in diesem
Gesetzestext; das ist ein eigener Paragraf im Gesetz.
({1})
Bevor jedoch irgendjemand hier in diesem Hause den
Bericht hat, bevor das Kabinett ihn beschlossen hat, haben Staatssekretär Brauksiepe und übrigens auch die
Ministerin festgestellt, dass die Rente mit 67 ab 2012 auf
jeden Fall kommen wird. Obwohl der Bericht niemandem vorlag, haben sie das schon festgestellt.
({2})
Die Zahlen, die ich gerade genannt habe, stammen
zum Teil von der BA; aber in diesem Fall ist es eine
Pressemitteilung, in der aus dem Bericht zitiert wird und
in dem die 23,4 Prozent als Bestandteil des Berichts ge7686
nannt werden. Das sind letzten Endes Ihre eigenen Zahlen, die ich hier zitiert habe, Herr Kollege Weiß; ich
danke Ihnen.
({3})
Hinsichtlich des Berichts habe ich schon das eine
oder andere gesagt. Sie haben sich gerade hier hingestellt, Herr Kollege Weiß, und haben die Rente mit 67 ab
2012 für möglich und berechtigt erklärt. Ich habe Zweifel daran, und ich habe dies anhand der Erwerbsminderungsrente verdeutlicht: Was machen wir mit denen, die
aus Arbeit nicht mehr können? Was ist mit den Zurechnungszeiten? Dazu habe ich bei Kollegen Straubinger
zumindest Verständnis herausgehört, dass man an dieser
Stelle etwas tun muss. Was ist mit dem Zugang in die Erwerbsminderungsrente? Was ist mit flexiblen Übergängen? Was ist beispielsweise mit der Altersteilzeit? Die
geförderte Altersteilzeit wollten Sie ja nicht weiter fortführen. Was ist mit all diesen Fragen?
Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, haben überhaupt kein Interesse, im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer diese zentralen Fragen zu
beantworten. Nur dann aber, wenn man diese Fragen tatsächlich beantwortet, wird man überhaupt jemals eine
Mehrheit bei der Akzeptanz für ein höheres Renteneintrittsalter finden. Vor dem Hintergrund dessen, was Sie
da tun, ist dies nicht möglich. Deswegen werden wir
weiter fordern, die Einführung der Rente mit 67 zunächst einmal zu verschieben.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal stelle ich tatsächliche Bewegung in diesem Hause fest; denn wie Kollege Weiß zu Recht gesagt
hat, kann auch ich den Gesetzentwurf der Linken nur so
verstehen, dass auch die Linke ihren Frieden mit der
Rente mit 67 gemacht hat.
({0})
- Doch, ich kann lesen und habe das nachgelesen und
sämtliche Zahlenkolonnen in Ihrem Gesetzentwurf nachvollzogen. Daraus ergibt sich eindeutig: Die Rente mit
67 stellen Sie nicht infrage, sondern nur ihr Inkrafttreten.
So ist Ihr Gesetzentwurf zu interpretieren. Sie verschieben nur das Inkrafttreten, Sie fordern aber nicht die Aussetzung der damaligen Gesetzesänderung. Auch der Kollege Schaaf hat gesagt, wir kämen auf Dauer an der
Anhebung der Altersgrenze nicht vorbei. Es ist aus meiner Sicht eine bemerkenswerte Bewegung, die Sie hier
vollziehen.
({1})
In der Tat, Herr Kollege Schaaf, muss man Folgendes
feststellen: Als Franz Müntefering im März 2007 die
Rente mit 67 durchsetzte, waren 728 000 Menschen, die
älter als 60 Jahre waren, sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Im März 2010 - da war die Krise in diesem
Land noch in vollem Gange - hatten über 1 Million
Menschen im Alter von über 60 Jahren eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das ist ein Zuwachs
von 38 Prozent. Ich frage Sie, Herr Schaaf - Herr
Müntefering ist ja nicht anwesend -: Wie hat sich die
SPD die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen vorgestellt? Wollten Sie 100 Prozent Zuwachs in drei Jahren?
Ich glaube nicht, dass Sie das als realistisch angesehen
hätten. Wenn man Ihren Ansatz von damals zugrunde
legt, ist es verantwortbar, schon zum jetzigen Zeitpunkt
über eine Anhebung des Renteneintrittsalters nachzudenken.
({2})
Das Regelrenteneintrittsalter von 65 Jahren ist für
Angestellte im Jahr 1911 und für Arbeiter im Jahr 1916
eingeführt worden. Darüber nachzudenken, nach 120
Jahren und einer um mindestens 30 Jahre gestiegenen
Lebenserwartung das Regelrenteneintrittsalter um zwei
Jahre anzuheben, halte ich nicht für vollkommen abwegig. Das will ich an dieser Stelle sagen.
Warum haben sich die Dinge deutlich verändert? Weil
wir auf gesetzlichem Wege gehandelt haben. Sie haben
gesagt, wir hätten nur die beitragsgeförderte Altersteilzeit auslaufen lassen. Das war ein notwendiger und richtiger Schritt, Herr Schaaf. Wenn man die Menschen mit
58 Jahren in Altersteilzeit schickt, dann darf man sich
nämlich nicht wundern, dass sie mit 64 Jahren nicht
mehr sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind.
({3})
Wir sind darauf angewiesen, den Sachverstand und die
Kompetenz älterer Arbeitnehmer für unsere Gesellschaft
und auch für unsere Volkswirtschaft zu erhalten. Deswegen war dies ein notwendiger und richtiger Schritt.
Da ich heute nur drei Minuten Redezeit habe und niemand eine Zwischenfrage gestellt hat, komme ich zum
Schluss.
({4})
Man darf es sich mit § 154 Abs. 4 SGB VI nicht zu einfach machen. Darin steht nicht, dass nach durchgeführter
Überprüfung mit entsprechendem Ergebnis nichts gemacht werden muss. In § 154 Abs. 4 Satz 2 ist vielmehr
festgelegt, dass man über alternative Maßnahmen unter
Wahrung der Beitragsstabilität nachdenken muss.
({5})
Das vermisse ich in Ihrem Antrag, Herr Birkwald. Sie
sprechen von einer Beitragssatzsteigerung um 0,2 Prozentpunkte. Aber Sie schlagen, entgegen der geltenden
Fassung des SGB VI, keine Maßnahmen vor, wie man
diese Steigerung vermeiden könnte.
({6})
Damit springen Sie zu kurz. Deswegen kann Ihr Gesetzentwurf unsere Unterstützung nicht finden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
erleben heute eine historische Debatte; denn die Linke
hat sich von ihrem fundamentalistischen Nein zur Rente
mit 67 verabschiedet und sich zu einer realpolitischen
Position durchgerungen.
({0})
Die Kollegin Bunge hat das eben noch einmal betont.
Es ist aus unserer Sicht ausdrücklich zu begrüßen,
dass sich die Linke von diesem fundamentalistischen
Nein zur Rente mit 67 verabschiedet hat. In dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf plädieren Sie für eine
Rente mit 67 ab dem Jahre 2035.
({1})
Diesen realpolitischen Schritt begrüßen wir. Wir sind
nach wie vor für die Rente mit 67 ab 2031. Wir liegen
also noch vier Jahre auseinander.
Wir stimmen mit der Linken nicht darin überein, dass
die Anhebung der Altersgrenzen ohne Abschlag um
zwei Jahre auch für Erwerbsgeminderte und Schwerbehinderte erfolgen soll. So steht es aber in Ihrem Gesetzentwurf. Das halten wir für völlig falsch. Wir haben
diese Anhebung immer für einen großen Fehler gehalten. Das gilt auch für den Fall, dass die Anhebung, wie
im Gesetzentwurf der Linken vorgesehen, vier Jahre später stattfinden soll. Schließlich ist Erwerbsminderung
und Schwerbehinderung nichts, was sich die Menschen
aussuchen. Deswegen muss für diese Fälle das Renteneintrittsalter da bleiben, wo es heute ist, und darf nicht
gemäß dem Gesetzentwurf der Linken erhöht werden.
({2})
- Lieber Matthias Birkwald, in der Rede kam all das
überhaupt nicht vor. Es stellt sich tatsächlich die Frage:
Wie ernst ist das gemeint? Vielleicht hat es doch etwas
mit dem heutigen Tag zu tun: Wir haben den 11.11., und
Sie kommen aus Köln.
({3})
- Genau, es geht hier um ernsthafte Politik. Ich habe Ihren Gesetzentwurf sehr ernst genommen. Er bedeutet:
Sie wollen die Rente mit 67 im Jahr 2035; Sie wollen die
Regelaltersgrenze für Schwerbehinderte und Erwerbsgeminderte erhöhen. Ich habe eben meine Position dazu
gesagt. Zum ersten Punkt sage ich: Das ist ein Schritt in
die richtige Richtung, auch wenn er nicht weit genug
geht; denn wir sind für die Rente mit 67 ab 2031. Zum
zweiten Punkt sage ich: Wir lehnen ihn klar ab. Insofern
nehme ich Ihren Gesetzentwurf ernst, offensichtlich
ernster als Sie selber.
({4})
Ich glaube, es interessiert die Menschen nicht wirklich, ob die Rente mit 67 von 2031 auf 2035 verschoben
wird. Die Menschen interessiert jenseits der Jahreszahl,
ob die Rente zum Leben ausreicht, bis wann sie arbeiten
müssen, ob sie früher in Rente gehen können und, wenn
ja, unter welchen Bedingungen, und welche Arbeitsbedingungen herrschen. Die Menschen wollen gute Arbeit,
die es ermöglicht, länger und gesünder zu arbeiten.
Die Menschen interessiert es aber auch, ob die Rente
bezahlbar bleibt und wie hoch die Rentenversicherungsbeiträge sein werden. Auch das müssen wir berücksichtigen, wenn wir über die Rente mit 67 reden. Dieser Aspekt ist jetzt besonders wichtig geworden; denn die
Rentenversicherungsbeiträge müssen aufgrund des Sparpakets der Bundesregierung erhöht werden. Das hat der
Sachverständigenrat gestern zu Recht kritisiert. So
schreibt der Sachverständigenrat für Wirtschaft in seinem gestern vorgestellten Gutachten:
Dennoch ist anzumerken, dass der Bundeshaushalt
auf Kosten der Beitragszahler der Gesetzlichen
Rentenversicherung entlastet wird. Bei der Streichung der Beiträge für Arbeitslosengeld II-Empfänger handelt es sich … um reine „Verschiebebahnhöfe“.
Der Sachverständigenrat hat recht. Es ist richtig, auf die
Beitragsstabilität zu achten.
Wir müssen an die Probleme, die ich gerade genannt
habe, unbedingt herangehen.
({5})
Auch der Sachverständigenrat mahnt das an. Wir müssen
tatsächlich erreichen, dass die Menschen gesünder und
länger arbeiten können. Wir brauchen gute Arbeit für
alle. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen tatsächlich früher als mit 67 in Rente gehen können. Dafür
müssen wir mehr flexible Übergangsmöglichkeiten
schaffen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Anhebung
der Regelarbeitsgrenze nicht zu zunehmender Armut
führt. Wir müssen eine Untergrenze einführen: Wer sein
Leben lang gearbeitet hat, wer 30 Jahre oder mehr in die
Rentenversicherung einbezahlt hat, der soll nicht darauf
angewiesen sein, erst sein Vermögen zu verbrauchen und
dann zum Sozialamt zu gehen. Wir wollen eine Garantierente für langjährig Versicherte, die über dem Niveau
der Grundsicherung liegt.
({6})
Das sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen.
Da hilft kein Herumjonglieren mit irgendwelchen Jahreszahlen, wie es die Linke in ihrem Gesetzentwurf
macht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und an Sie, Herr
Birkwald, Alaaf!
({7})
Das Wort hat nun Kollege Max Straubinger für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
Linke hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der darauf
zielt, den Beginn der Rente mit 67 zu verschieben. Daraus kann man natürlich ableiten, dass sich die Linke
mittlerweile mit der Rente mit 67 angefreundet hat; denn
sie will die Rente mit 67 nur um vier Jahre verschieben.
Das glaube ich Ihnen aber nicht. Letztendlich geht es Ihnen nur darum, die Rente mit 67 insgesamt infrage zu
stellen.
({0})
Ich möchte also nicht glauben, was manche in diesem
Gesetzentwurf erkennen. Die Linke möchte hier eher die
SPD in Bedrängnis bringen. Das ist der wahre Grund für
die Einbringung des Gesetzentwurfes.
Der Gesetzentwurf verstößt eklatant gegen die Generationengerechtigkeit in unserem Land. Mit der Verschiebung sind nämlich - Herr Kollege Birkwald, Sie
haben das verschämt verschwiegen - Beitragserhöhungen verbunden. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf,
dadurch ergebe sich eine Erhöhung der Beiträge um nur
0,2 Prozentpunkte. Aber die Beiträge würden dann natürlich viel stärker steigen, und zwar um bis zu 0,5 Prozentpunkte. Es gibt sogar Berechnungen, nach denen es
0,9 Prozentpunkte sein werden. Die gesamte Wahrheit
ist: Sie wollen bei der jüngeren Generation abkassieren,
um bei rentennahen Jahrgängen Eindruck zu schinden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Birkwald?
Ja.
Herr Kollege Straubinger, vielen Dank, dass Sie die
Zwischenfrage zugelassen haben. Ich danke auch dafür,
dass Sie deutlich gemacht haben, dass die Linke die
Rente erst ab 67 ablehnt und wir diesen Gesetzentwurf
eingebracht haben, damit Sie überlegen können, ob Ihr
Vorhaben zur Realität passt.
Ich möchte Sie zweierlei fragen:
Erstens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass mit der Verschiebung, die wir vorgeschlagen haben,
für Durchschnittsverdienende eine zusätzliche Belastung
von 3 Euro verbunden wäre? Zeigen Sie mir bitte einmal
einen Menschen, egal ob jung, mittelalt, älter oder alt,
der nicht bereit wäre, 3 Euro zu bezahlen, damit er nicht
bis 67 arbeiten muss oder immense Kürzungen in Höhe
von durchschnittlich 117 Euro hinnehmen muss.
({0})
Zweitens frage ich Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass eine Partei wie die Ihre, die vorige
Woche in diesem Haus mit der Koalitionsmehrheit beschlossen hat, dass die nächsten 40 000 Generationen
strahlenden Atommüll hinnehmen müssen - zum Vergleich: 80 Generationen sind seit der Geburt Jesu Christi
vergangen -, beim Thema Generationengerechtigkeit
besser schweigen sollte?
({1})
Um mit der zweiten Frage zu beginnen: Die Rente mit
67 ist generationengerecht, und sie hat nichts mit irgendwelchen Beschlüssen zur Energiepolitik zu tun. Zum
Thema Energiepolitik möchte ich sagen: Eigentlich
müssten alle in diesem Hause bereit sein, auch die Endlagerfrage zu lösen. Sie sind dazu nicht bereit.
({0})
Wir haben erlebt, dass Sie in Gorleben mit gewalttätigen
Demonstranten paktiert haben, um eine Lösung für unser
Land zu verhindern und
({1})
auch zukünftig Ihr parteipolitisches Süppchen kochen zu
können. Das ist der entscheidende Punkt.
Wir alle stehen in der Verantwortung. Es gibt seit
40 Jahren Atomkraftwerke. Sie wurden mit Unterstützung der SPD gebaut, von den Grünen zumindest geduldet und vor allen Dingen in Ostdeutschland errichtet. Es
gibt eine breite Schicht, die für die Lösung der Frage der
Endlagerung von Abfällen aus der Atomwirtschaft verantwortlich ist.
({2})
- Das ist keine Frage der Bundesländer. Es geht um den
besten Standort und die besten geologischen Voraussetzungen. Diese Frage ist nicht mit irgendeinem BundesMax Straubinger
land zu verbinden. Wir brauchen sachgerechte Lösungen
und dürfen das Problem nicht zwischen den Bundesländern hin- und herschieben. Das wird sachgemäßen Lösungen nicht gerecht.
({3})
Zweitens. Sie argumentieren, es seien nur 3 Euro, die
mehr zu zahlen seien - das ist eine Durchschnittsrechnung -; andernfalls müssten die Rentnerinnen und Rentner enorme Abschläge in Kauf nehmen. Es handelt sich
um prozentuale Abschläge, aber nicht um einen Leistungsabschlag. Wir erwarten, dass diejenigen, die mit 67
in Rente gehen, im Durchschnitt eine drei Jahre höhere
Lebenserwartung haben. Diese Menschen müssen aber
nur zwei Jahre länger arbeiten.
Wir haben das Glück, in einem Land zu leben, in dem
die allgemeine Lebenserwartung der Bevölkerung aufgrund einer guten medizinischen Versorgung zunimmt.
Die Folgen der höheren Lebenserwartung müssen von
allen in unserer Gesellschaft getragen werden, von den
rentennahen Jahrgängen ebenso wie von den Jungen in
unserer Gesellschaft. Das ist eine Frage der Generationengerechtigkeit. Die Jungen können nicht ständig über
Gebühr belastet werden.
Herr Kollege Birkwald, der Bericht der Bundesregierung wird hier ständig in Zweifel gezogen. Anton Schaaf
bezieht sich auf Pressemitteilungen, die wir uns nicht erklären können, die garantiert nicht vom Ministerium
stammen, sondern einfache Tickermeldungen sind, die
ich nicht kenne. Es wird manchmal von SPD-Kreisen so
dargestellt, als ob es um die Überprüfung bzw. Revisionsklausel ginge. Das geschah auch gestern bei einer
Gewerkschaftsveranstaltung, zu der unter dem Gesichtspunkt einer Revisionsklausel eingeladen wurde. Insoweit wird hier ständig eine Falschinformation in die Bevölkerung, in die Gewerkschaften und insgesamt auch in
die Betriebsräte hineingetragen. Ich darf, Herr Präsident,
den korrekten Wortlaut zitieren:
Die Bundesregierung hat den gesetzgebenden Körperschaften vom Jahre 2010 an alle vier Jahre über
die Entwicklung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer zu berichten und eine Einschätzung darüber
abzugeben, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze
unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint und die getroffenen gesetzlichen
Regelungen bestehen bleiben können. In diesem
Bericht sind zur Beibehaltung eines Sicherungsniveauziels vor Steuern von 46 vom Hundert über
das Jahr 2020 hinaus von der Bundesregierung entsprechende Maßnahmen unter Wahrung der Beitragssatzstabilität vorzuschlagen.
Letzteren Satz vergessen Sie in der politischen Darstellung ständig. Das ist aber mit das Entscheidende. Es
geht um Beitragssatzstabilität. Hier wird das Entlarvende des Gesetzentwurfs der Linken offensichtlich. Sie
schreiben ja hinein, dass es eine Beitragserhöhung geben
wird. Hier wird schon wieder kaschiert. Es wird eine
stärkere Beitragserhöhung geben, die zulasten der arbeitenden Menschen gehen wird. Deshalb können wir
schon unter diesen Gesichtspunkten nicht zustimmen.
({4})
Herr Kollege Birkwald, Sie haben auch ausgeführt,
unser Parteivorsitzender hätte sich für eine Änderung bei
der Rente mit 67 ausgesprochen. Sie haben dies aber aus
dem Zusammenhang gerissen. Es geht nämlich um Folgendes: Die Wirtschaft fordert ständig, ausländische
Facharbeitskräfte - wohlgemerkt aus Drittstaaten - in
Deutschland zuzulassen und ihnen Zugang zu unserem
Arbeitsmarkt zu eröffnen, gleichzeitig möchte sie aber
die Leute früher in Rente schicken. Damit würde auf
wertvolle Arbeitskräfte verzichtet werden, und das darf
nicht sein. Nur in diesem Zusammenhang ist das zu sehen. Dann kann man nachher nicht sagen: So kann man
auch die Rente mit 67 hier mit gutem Gewissen vertreten.
Ein Letztes noch. In der gesamten Diskussion wird
ständig dargelegt, dass man nicht so lange arbeiten kann.
Ich komme aus der Landwirtschaft. Mein Vater war zeitlebens Landwirt. Ich glaube, Landwirt ist ein Beruf, der
durchaus Kraft erfordert und belastend ist. Mein Vater
hat bis zum 75. Lebensjahr aufgrund guter gesundheitlicher Voraussetzungen immer hart gearbeitet. Es ist also
bei guten Voraussetzungen durchaus möglich, bis zum
67. Lebensjahr zu arbeiten.
Es wurde darauf hingewiesen, dass angeblich nur
3 Prozent der Frauen bis zum 65. Lebensjahr in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sind.
Daher möchte ich auf das geltende Rentenrecht hinweisen, das es nämlich gestattet, bei einer entsprechenden
Versicherungszeit - ich glaube, 35 Jahre - früher in
Rente gehen zu können. Dies haben eben viele Frauen in
Anspruch genommen. Deshalb kann es auch keinen größeren Prozentsatz geben, Herr Kollege Birkwald.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und auch
Ihnen, Herr Präsident, für die -
Großzügigkeit.
({0}))
Ich erteile das Wort Kollegen Johannes Vogel für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vom Kollegen Straubinger habe ich heute wieder etwas
gelernt, und zwar, wie lange man auf Zwischenfragen
antworten kann. Das sollte ich bei nächster Gelegenheit
auch versuchen.
({0})
- Über eine Zwischenfrage von Ihnen freue ich mich immer besonders, Herr Kollege Schaaf.
Johannes Vogel ({1})
An einer Stelle muss ich Ihnen jedoch widersprechen,
Herr Kollege Straubinger. Auch ich finde, dass der
Antrag der Linken bemerkenswert ist. Lieber Herr
Birkwald, Sie sprechen von einer vierjährigen Denkpause. Wenn ich mir vergegenwärtige, was ich mir in einigen Diskussionen mit Vertretern Ihrer Partei in den
letzten Jahren zur Rentenpolitik anhören musste, besonders zur Rente mit 67, muss ich sagen, dass diese dort
ausschließlich als Rentenkürzungen bezeichnet wurde.
Ich habe sogar den Ausdruck „Demografielüge“ gehört.
Im Gesetzentwurf sind Sie hingegen sehr zurückhaltend. Es wird nicht mehr infrage gestellt, dass es richtig
ist, dass die Menschen, wenn sie im Durchschnitt älter
werden und länger fit bleiben, wohl auch länger arbeiten
werden müssen. Sie sagen nur, der Arbeitsmarkt sei dafür noch nicht so weit. Bitte erlauben Sie mir, dass ich
das als eine gewisse Fortentwicklung Ihrer Position, als
ein gewisses Umdenken, interpretiere, weil Sie wissen,
dass es - eben wurde es Realpolitik genannt - realistische Politik ist. Es ist weltfremde Politik, zu glauben,
dass das Renteneintrittsalter in den nächsten Jahren nicht
schrittweise steigen muss.
({2})
- Den bringen Sie hier jetzt interessanterweise nicht ein.
Schauen wir uns doch einmal die Situation auf dem
Arbeitsmarkt an. Lieber Kollege Schaaf, Sie haben eben
gesagt, der Arbeitsmarkt sei nach Ihrer Kenntnis derzeit
noch nicht so weit. Wenn ich mir die Beschäftigtenzahlen der letzten vier Jahre anschaue, sehe ich: 30 Prozent
plus bei den 55- bis 59-Jährigen, 40 Prozent plus bei den
60- bis 65-Jährigen. Insgesamt gibt es bei den Älteren
seit 1999 einen positiven Trend. Dieser ist mit einer Ausnahme, dem Krisenjahr, ungebrochen. Lieber Kollege
Schaaf, da muss ich mich fragen: Was haben Sie gedacht? Womit haben Sie gerechnet, als Sie die Rente mit
67 eingeführt haben?
({3})
Wenn Sie ganz ehrlich sind, konnten Sie eine noch bessere Entwicklung doch gar nicht erwarten.
({4})
Wir sollten uns nächste Woche den Bericht anschauen.
Aber alles, was derzeit bekannt ist, die Zahlen von der
Bundesagentur für Arbeit, die uns allen vorliegen, zeigen eindeutig, dass die Situation der Älteren auf dem Arbeitsmarkt besser wird und dass es deshalb richtig ist,
das Renteneintrittsalter schrittweise zu erhöhen.
({5})
- Die Entwicklung können Sie trotzdem nicht in Abrede
stellen.
({6})
- Lieber Kollege, diese Entwicklung müssen wir natürlich fortsetzen; das ist richtig.
Aber es gibt doch auch positive Zeichen. Eine Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt, dass
sich das Bild älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben - gerade das Bild, das diejenigen
haben, die sie einstellen - erheblich bessert. Natürlich ist
das komplex. Es ist doch aber auch ein Beitrag der Politik, dass wir klar sagen: Wir wollen eine schrittweise
Anhebung des Renteneintrittsalters. Wir wollen wertschätzen, was Ältere auf dem Arbeitsmarkt tun. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, Sie tun leider das Gegenteil.
({7})
An einer Stelle, Herr Birkwald - wir wollen ja auch
ein bisschen versöhnlich sein; das ist auch mein letzter
Punkt, Herr Präsident -, denken Sie in die richtige Richtung. Ansonsten habe ich da nicht viel Richtiges gesehen. Beim Gesamtkomplex Altersvorsorge geht es zum
Beispiel nicht mehr nur um die gesetzliche Rente, sondern wir wollen auch private Altersvorsorge. An einer
Stelle in Ihrer Vorlage geht es jedoch um flexible Übergänge. Da gebe ich Ihnen ausdrücklich recht. Über flexible Übergänge - Kollege Kolb führt das gerne bei
anderer Gelegenheit noch ausführlicher aus; das hat er
schon häufiger getan - müssen wir nachdenken. Das ist
richtig; das sage ich für die FDP ausdrücklich.
Wir müssen übrigens auch darüber nachdenken, warum man bei versicherungsmathematisch korrekten Zuund Abschlägen nicht früher in Rente gehen und dann
vielleicht einen anderen Job annehmen darf. Ich weiß
aus meiner eigenen Familie, dass beispielweise mein Vater das als unfair empfindet. Er ist früher in Rente gegangen - er hat ab dem 16. Lebensjahr gearbeitet - und
würde jetzt gern eine andere Tätigkeit ausüben. Dies
wird ihm limitiert, weil er nur 400 Euro hinzuverdienen
darf.
Beim Thema Flexibilität gebe ich Ihnen also recht.
Bei allem anderen muss ich sagen, dass Sie nicht in die
Zukunft denken. Ich habe mir das einmal angesehen.
Herr Kollege, jetzt nichts mehr ansehen. Sie müssen
wirklich zum Schluss kommen.
Das ist der letzte Satz. - Das Durchschnittsalter Ihrer
Parteimitglieder liegt 35 Jahre über meinem Lebensalter.
Leider scheint mir das auch die Perspektive Ihrer Rentenpolitik zu sein. Es geht in der Rentenpolitik jedoch
um die Zukunft und auch um die Altersvorsorge kommender Generationen. Da haben Sie leider wenig anzubieten.
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 17/3546 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b so-
wie Zusatzpunkt 4 auf:
7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Mobilität nachhaltig sichern - Elektromobilität fördern
- Drucksache 17/3479 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Dr. Petra Sitte, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Klimaschutz im Verkehr braucht wesentlich
mehr als Elektroautos
- Drucksache 17/2022 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Kumpf, Wolfgang Tiefensee, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Nachhaltige Mobilität fördern - Elektromobilität vorantreiben
- Drucksache 17/3647 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({2})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Wiederspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung misst der Förderung der Elektromobilität eine hohe Priorität bei. Dies ist am 3. Mai dieses Jahres deutlich geworden, als die Bundeskanzlerin mit
vielen weiteren Beteiligten die „Nationale Plattform
Elektromobilität“ ins Leben gerufen hat. Sie, die Bundesregierung, hat das Ziel formuliert, dafür zu sorgen,
dass es bis zum Jahr 2020 in Deutschland 1 Million
Elektrofahrzeuge gibt. Die Koalitionsfraktionen haben
diese Initiative aufgegriffen, sie im Rahmen des Energiekonzepts konkretisiert und durch das Ziel ergänzt, dass
wir bis zum Jahr 2030 dafür sorgen wollen, dass es in
Deutschland 6 Millionen Elektrofahrzeuge gibt. Das
sind ehrgeizige Ziele. Die CDU/CSU unterstützt diese
Initiativen ausdrücklich.
Wir wollen mit Hochdruck zum Stromauto. Das ist
nicht so, weil wir glauben würden, dass diese Technologie die einzige Zukunftstechnologie im Bereich der Mobilität ist. Das ist auch nicht so, weil wir glauben würden, dass dieser Weg alternativlos ist oder dieses Ziel
möglicherweise sogar von heute auf morgen zu realisieren ist. Nein, wir wissen: Selbst wenn wir bis 2020 das
ehrgeizige Ziel, für 1 Million Elektrofahrzeuge in
Deutschland zu sorgen, erreichen, wird zu diesem Zeitpunkt nach wie vor die große Mehrzahl der Autos aus
dem konventionellen Bereich stammen. Deshalb brauchen wir selbstverständlich auch im konventionellen Bereich Effizienzsteigerungen. Hier sehen wir erhebliche
Potenziale, beispielsweise bei der Dieseltechnologie.
Wir verfolgen ausdrücklich einen Ansatz, der technologieoffen ist. Wir setzen auch auf die Hybridtechnologie,
die Brennstoffzelle, Biokraftstoffe und Erdgas. All dies
wollen wir mit einbeziehen.
Warum setzen wir gerade beim Thema Elektromobilität eine Priorität? Wir glauben, dass die Elektromobilität
einen wichtigen Beitrag zur Mobilität der Zukunft leisten kann. Wir sind der Überzeugung, dass sie weltweit
eine wichtige und zunehmend wichtiger werdende Rolle
spielen wird. Deshalb wollen wir, dass Deutschland in
diesem Bereich an der Spitze steht. Deutschland soll
nicht nur Leitmarkt, sondern auch Leitanbieter werden.
Die Wertschöpfung dieser Autos soll aus Deutschland
kommen.
({0})
Dieses Thema stellt eine Herausforderung dar, ist eine
Chance und bietet eine Perspektive für die Wirtschaft
und die Schaffung innovativer Arbeitsplätze. Wir in
Deutschland leben zu einem guten Teil von der Automobilindustrie und dem Zulieferbereich. Das ist nicht
selbstverständlich, sondern hart erarbeitet worden. Heute
geht es darum, die Weichen dafür zu stellen, dass dies
auch morgen noch so sein wird. Wir wollen, dass Chine7692
Andreas Jung ({1})
sen, Amerikaner und Franzosen unsere Autos kaufen
und nicht umgekehrt. Deshalb schreiten wir auf diesem
Gebiet voran.
({2})
Die Schlüsselbereiche sind Forschung und Entwicklung. Deshalb setzen wir in unserem Antrag wie auch in
unserer Politik insgesamt an dieser Stelle einen besonderen Schwerpunkt. Um unsere Ziele zu erreichen und international eine führende Position einzunehmen, müssen
wir im Bereich der Forschung klotzen und dürfen nicht
kleckern. Wir glauben, dass es richtig ist, auch von der
Industrie Beiträge zu verlangen. Auch sie muss Investitionen in Forschung und Entwicklung tätigen.
Wir glauben aber auch, dass die Politik die Aufgabe
hat, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen und
Entwicklungen anzuschieben. Deshalb war es richtig,
dass im Rahmen des Konjunkturpaketes II entschieden
wurde, bis 2012 einen Betrag von 500 Millionen Euro
für Forschung und Entwicklung bzw. für die Elektromobilität zur Verfügung zu stellen. Mit unserem Antrag
bringen wir zum Ausdruck: Das darf nicht das Ende
sein. Diese Förderung darf nicht auslaufen. Diese Aufgabe geht über das Jahr 2012 hinaus. Die Förderung dieses Bereiches muss in erheblichem Umfang fortgeführt
werden. Wir wollen mit der Fortführung der Forschung
im internationalen Konzert mitspielen, wenn es um die
Forschungsförderung im Bereich der Elektromobilität
geht.
Die zentrale Aufgabe sehen wir dabei in der Beseitigung technologischer Hürden, die heute der Elektromobilität als Massenmarkt noch entgegenstehen. Batterien und
alle Dinge, die damit im Zusammenhang stehen - die
Kosten, die Speicherfähigkeit, die Reichweite und die
Sicherheit -, wollen wir hier besonders in den Fokus
nehmen. Wir sind der Überzeugung: Das sind die Themen, die wir bearbeiten müssen. Die Batterie ist das
Herz des Elektroautos. Wir wollen mit einem Konzept
von Forschung über Entwicklung bis hin zur Produktion
dafür sorgen, dass dieses Herz in Deutschland schlägt.
({3})
Damit wollen wir die Weichen hin zu einer nachhaltigen und ökologischen Mobilität stellen, zu einer Mobilität, die nicht mehr durch fossile Energie, sondern durch
erneuerbare Energie sichergestellt wird. In unserem Antrag verknüpfen wir die Elektromobilität explizit mit zusätzlichen erneuerbaren Energien. Damit unterstreichen
wir unser Ziel: Wir wollen, dass der Treibstoff von morgen Ökostrom ist.
Das ist wichtig, um die Klimaziele tatsächlich zu erreichen und die Chancen für die Umwelt zu nutzen, die
wir durch die Elektromobilität sehen. Dadurch kann ein
weiterer Beitrag zum energiepolitischen Gesamtkonzept
geleistet werden, in dessen Zusammenhang wir gerade
auch folgende Fragen zu beantworten haben: Wie schaffen wir es, dass Energie speicherfähig wird? Wie schaffen wir es, auf die flexiblen Anforderungen einer immer
mehr auf erneuerbare Energien gestützten Energieversorgung zu reagieren? Hier kann durch Elektrofahrzeuge
als mobile Speicher ein wichtiger Beitrag geleistet werden.
({4})
Ich komme zum Schluss und sage ganz explizit: Wir
wollen die Elektromobilität beim Automobil, aber eben
nicht nur beim Automobil. Es geht auch um die Elektrifizierung der Schiene.
({5})
Wir sehen eine verkehrspolitische und ökologische
Chance auch in der Förderung und der weiteren Verbreitung von Elektrofahrrädern, Elektroscootern und Elektrorollern, und wir fordern in unserem Antrag auch, ein
Modellprojekt im Bereich der elektrischen Schifffahrt zu
prüfen. Auch dort können Elektromotoren, die mit erneuerbaren Energien betrieben werden, eine wichtige
Rolle spielen.
({6})
- Es geht beispielsweise um den Fährverkehr. Nicht nur
bei uns am Bodensee, sondern auch im Wattenmeer gibt
es ja Fährverbindungen, und es gibt ganz konkrete Überlegungen, den Antrieb der Fähren, die im öffentlichen
Nahverkehr eine wichtige Rolle spielen, auf Elektromotoren umzustellen. Wir meinen, dem sollte man nachgehen; das sollte man prüfen und weiterverfolgen.
Es zeigt sich: Es gibt viele Fragen. Wir glauben, dass
wir mit unserem Antrag einen wichtigen Beitrag für einen solch umfassenden Ansatz hin zur Elektromobilität
leisten können.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich erteile Ute Kumpf für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Jung, es war sehr erfreulich, so viel Bekanntes von Ihnen zu hören, da wir das schon in der letzten Legislaturperiode unter der Ägide der Kollegen
Tiefensee und Gabriel auf den Weg gebracht haben. Im
August 2009 wurde ja der Nationale Entwicklungsplan
Elektromobilität der Bundesregierung beschlossen. Ich
vermisse ein wenig Ehrgeiz. Außer dass Sie die Zahlen
ausgetauscht haben - anstatt 2 Millionen Elektrofahrzeuge wollen Sie bis 2030 6 Millionen Elektrofahrzeuge auf unseren Straßen haben -, haben Sie viele vertraute Dinge präsentiert.
Es liegen jetzt ja auch mehrere Anträge zu diesem
Thema Elektromobilität vor. Die Titel der Anträge sind
immer ein bisschen anders gewählt. Sie wollen die Mobilität nachhaltig sichern, wir reden von einer nachhaltigen Mobilität, die gefördert werden muss. Hier kann die
Elektromobilität eine große Rolle spielen. Das ist schon
ein kleiner anderer Zungenschlag, weil wir der Meinung
sind, dass wir uns auch an den Klimaschutzzielen orientieren müssen, wenn es um die Mobilität geht. Wir müssen genau untersuchen, wie Elektromobilität und Mobilität insgesamt energieeffizienter, klimafreundlicher und
klimaschonender sein können.
Elektromobilität - ich glaube, auch das ist sehr wichtig; das ist schon im Nationalen Plan aufgeführt - ist nur
dann sinnvoll, wenn der Strom, der aus der Steckdose
kommt - darum kommen wir wahrscheinlich nicht herum -, aus erneuerbaren Energien erzeugt wird. Wir
müssen alle Anstrengungen unternehmen, Mobilitätsund Energiekonzepte sinnvoll miteinander zu verbinden.
Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, den ich eingangs hervorheben will. Denn wie Sie wissen, stammen 14 Prozent der CO2-Emissionen alleine vom Pkw-Verkehr. An
dieser Schraube müssen wir drehen.
Lassen Sie mich auf einen kleinen Unterschied in
dem eingehen, was uns wichtig ist: Mobilität muss bezahlbar und sicher bleiben. In der Frage, was Elektromobilität insgesamt bedeutet, haben wir noch Nachholbedarf. Die Autos, die jetzt auf den Markt kommen, sind
noch nicht bezahlbar. Wir führen Modellversuche in Modellregionen durch, aber wir haben noch keine Produkte,
die tatsächlich einen eminenten Beitrag zur Elektromobilität auf der Straße leisten können. Daher ist eine große
Kraftanstrengung notwendig, um in diesem Bereich zu
forschen und ihn zu fördern und weiterzuentwickeln.
Darin sind wir, glaube ich, ganz an Ihrer Seite.
Es gibt, glaube ich, noch einen weiteren kleinen Unterschied zu Ihrer Position. In der Automobilbranche
insgesamt ist ein Strukturwandel zu erwarten. Ich
komme aus einer Automobilregion. Das ist eine Region
der Premiumhersteller. Ich denke, nicht jeder kann sich
diese Autos leisten. Die Automobilindustrie bei uns hat
zum Teil die Elektromobilität verschlafen. Sie hat sich
zu sehr auf den eigenen Markt verlassen. Dieser Markt
existiert aber nicht bei uns, sondern woanders.
Von daher ist es, glaube ich, entscheidend, dass wir
eine Politik gestalten, die unseren Standort für Elektromobilität und die Automobilproduktion fit macht. Dabei
können wir uns nicht allein auf die Industrie verlassen.
Sie hat sich bisher darauf verlassen, dass sie ihre Produkte für immer und ewig hier verkaufen kann.
Von daher dürfen wir uns nicht darauf beschränken,
einen Elektromobilitätsgipfel durchzuführen und eine
Plattform zu schaffen, die außerdem sehr techniklastig
ist, die Verbraucher nicht mitnimmt und bestimmte Aspekte nicht berücksichtigt. Es ist sicherlich auch nicht
ratsam, sich allein von den Empfehlungen des Elektromobilitätsgipfels und der Plattform die politischen Weichenstellungen vorgeben zu lassen. Vielmehr sind wir im
Parlament gefordert, uns Gedanken zu machen, welche
politischen Rahmenbedingungen wir schaffen wollen,
statt, wie anscheinend gestern schon durch die Medien
an die Öffentlichkeit gelangte, einfach 4,5 Milliarden
Euro mehr für Forschung zu fordern und zu glauben,
dass das Problem damit behoben wäre. Wir müssen unsere Hausaufgaben machen.
Wir haben sie in der Großen Koalition mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, mit NIP und NOW und dem
Konjunkturprogramm für die Modellregionen gemacht.
Wir haben den Nationalen Plan vorgelegt. Jetzt braucht
es eine nationale Kraftanstrengung, um das Ziel, 1 Million Elektroautos auf die Straße zu bringen, zu erreichen,
wobei dieses Ziel angesichts der 42 Millionen Pkw, die
bei uns auf der Straße rollen, immer noch sehr klein ist.
Daher haben wir in unserem Antrag deutlich formuliert, dass wir einige Fragen zu beantworten haben: Wie
sieht unsere Industriepolitik aus? Welche Weichenstellungen wollen wir vornehmen, um die Elektromobilität
in ein schlüssiges Energiekonzept einzubinden? Wie
sieht die Schwerpunktsetzung zwischen den vier Ministerien aus, die bislang noch sehr lose miteinander in Verbindung stehen - so erscheint es zumindest bei Auftritten in der Öffentlichkeit -, damit die Kooperation
zwischen den Ministerien für Umwelt, Wirtschaft, Verkehr sowie Bildung und Forschung funktioniert? Eigentlich müsste ministerienübergreifend eine Task Force
Elektromobilität gebildet werden.
Wir müssen die finanzpolitischen Rahmenbedingungen schaffen, damit sich auch kleine Unternehmen beteiligen können und eine Entwicklungschance für sich sehen. Die Zulieferindustrie wartet darauf. Dort gibt es
große Unsicherheiten, wo sie ihren Platz finden könnte.
Wir brauchen ein Bündel von Maßnahmen in der Verkehrs- und Klimaschutzpolitik, um den Kommunen Gestaltungsspielraum zu geben. Notwendig ist auch eine
Vorbildfunktion der öffentlichen Hand, damit Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen in die Lage
versetzt werden, ihre Fuhrparks auf alternative Antriebe
umzustellen.
Wir brauchen vor allem auch eine Analyse des zukünftigen Bedarfs an Fachkräften, die fehlen werden. Es
zeigt sich jetzt schon, dass wir diesbezüglich an Kompetenz verloren haben. Das fängt bei den Hochschulabsolventen an und reicht bis zu den Fachkräften am Band.
Außerdem brauchen wir innovative Mobilitätskonzepte
in den Städten. Das betrifft zum Beispiel Carsharing, das
Fuhrparkmanagement im privaten Bereich, den Ausbau
des Bus- und Bahnnetzes sowie die Elektrifizierung im
öffentlichen Sektor.
Das ist eine Fülle von Maßnahmen. Ich freue mich
auf die Debatte in den Ausschüssen und hoffe, dass wir
unsere Anträge vielleicht auch zu einem gemeinsamen
Antrag zusammenfügen können, um diese nationale
Kraftanstrengung auf den Weg zu bringen.
Danke.
({0})
Das Wort hat nun Werner Simmling für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Verehrte Frau Kollegin Kumpf, es ist doch äußerst erfreulich, dass wir bei einem so wichtigen Thema einmal
weitestgehend übereinstimmen. Das kann ich nur begrüßen.
Wir sind dabei, das Automobil nach 125 Jahren neu
zu erfinden. Mit dem Elektromotor geben wir dem Auto
der Zukunft sozusagen ein neues Herz; das wurde schon
angesprochen. Wir wollen mit unserem Antrag die klimaschonende, nachhaltige Mobilität voranbringen. Elektrisches Fahren soll in Zukunft keine Utopie mehr sein.
Welche Technik sich schlussendlich durchsetzen wird,
entscheidet aber der Markt.
Mit dem Antrag der christlich-liberalen Regierungskoalition zeigen wir die Vielfalt und die Breite des Themas auf. Elektromobilität ist nicht nur der Einbau eines
Elektromotors oder einer Brennstoffzelle. Eine Vielzahl
von Anpassungen und Veränderungen ist notwendig,
zum Beispiel in der Ordnungspolitik, in der Forschungspolitik, in der beruflichen und universitären Ausbildung
sowie in Fragen der Standardisierung.
Die Ansprüche, die die Kunden an ein Elektrofahrzeug haben werden, sind hoch. Sie werden sich hinsichtlich Unfallsicherheit, Kosten, Komfort, Gebrauchsnutzen, Zuverlässigkeit und Reichweiten - um nur einige
wenige Aspekte zu nennen - an den heute auf dem
Markt befindlichen Automobilen orientieren. Die Kunden werden kein Downsizing, also keinen Elektro-Trabi,
und auch keine Geschwindigkeitsbegrenzung von
120 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen, wie es die
Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert, akzeptieren.
({0})
Das kann auch nicht das Ziel einer Volkswirtschaft
wie der unsrigen sein, die bisher eine Spitzenstellung in
der Welt des Automobils einnimmt. Daher fordern wir in
unserem Antrag konkret eine Vielzahl von Nutzeranreizen. Wir wollen zum Beispiel erreichen, dass den Kommunen im Rahmen von Sonderregelungen die Möglichkeit gegeben wird, eine bestimmte Anzahl von
Parkflächen für Elektrofahrzeuge zur Verfügung zu stellen, dass Elektrofahrzeuge die Busspur nutzen können,
dass die Aufhebung von lärmschutz- und zeitlich bedingten Zufahrtsverboten für den elektrischen Lieferverkehr vorgenommen wird und dass Kommunen im Rahmen des Stadtplanungsrechts den raschen Ausbau der
entsprechenden Infrastruktur vorantreiben können.
Aber auch konkrete finanzielle Anreize wollen wir
prüfen, zum Beispiel welche Maßnahmen zur Förderung
der Installation der entsprechenden Tankinfrastruktur auf
Firmen- und Kundenparkplätzen möglich sind. Ebenfalls
gilt es zu prüfen, ob die Befreiung von Elektrofahrzeugen von der Kraftfahrzeugsteuer über die bisher geltenden fünf Jahre hinaus darstellbar ist.
Der Erfolg von Elektromobilität hängt in großem
Maße davon ab, ob wir im Bereich der Forschung und
Entwicklung von Energiespeichern erhebliche Fortschritte machen. Ich sage bewusst nicht „Batteriespeichertechnologie“, da es mir wichtig ist, dass wir technologieoffen forschen. Wir alle wissen heute nämlich nicht,
wie die Automobile der Zukunft angetrieben werden.
Ebenso gehört dazu die Erforschung neuer Werkstoffe,
zum Beispiel der zukünftige Einsatz von Karbon im
Fahrzeugbau.
Insbesondere bei der Grundlagenforschung kann der
Staat die besten Impulse für die weitere Entwicklung setzen. Bis 2011 geben wir 500 Millionen Euro dafür aus.
Für die folgenden Jahre sind weitere Mittel in ähnlicher
Höhe vorgesehen. Das ist wirklich sehr gut angelegtes
Geld.
({1})
Wie Sie sehen, sind wir bei der Elektromobilität gut
aufgestellt.
Wir haben uns ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Es wurde
schon gesagt: Bis zum Jahr 2020 sollen 1 Million Elektrofahrzeuge auf unseren Straßen fahren. Wichtig für den
Erfolg wird dabei auch sein, dass wir die Veränderungen
in der Wertschöpfungskette langfristig organisieren.
Mit unserem Antrag nehmen wir die große technologische Herausforderung an. Elektrisches Fahren wird zur
Realität werden. Unser Antrag leistet einen ersten wichtigen Beitrag zur Konkretisierung mit dem Ziel, dass
Deutschland auch in Zukunft das weltweit führende Autoland sein wird.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Sabine Leidig für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag, den die Koalition hier vorgelegt hat, hat einen
wirklich vielversprechenden Anfang, dem ich aus vollem Herzen zustimmen kann. Ich zitiere:
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ergibt sich die
Chance, unsere Mobilität neu zu denken. Schwindende Ressourcen und die Veränderung des Klimas
werfen die Frage auf, wie wir in Zukunft nachhaltige und bezahlbare Mobilität gewährleisten wollen.
Die Antwort allerdings, die Sie geben, ist völlig unbefriedigend. Konkret schreiben Sie:
Ziel der Bundesregierung ist, dass bis zum
Jahr 2020 mindestens eine Million Elektrofahrzeuge auf deutschen Straßen fahren …
Als Tiger gesprungen und sogleich als Bettvorleger gelandet. Das ist nicht komisch, sondern das ist ziemlich
tragisch; denn tatsächlich wäre ein umfassendes Programm notwendig, um die Mobilität nachhaltig zu gestalten. Der Kollege Jung hat vorhin einiges davon angesprochen, aber in dem Antrag findet sich gar nichts. Es
geht nämlich darum, dass auch in Zukunft alle Leute all
die Orte, an denen gesellschaftliches Leben stattfindet,
erreichen können, auch wenn das Benzin erheblich teurer wird und ohne dass sie dabei das Klima und die Umwelt zerstören.
({0})
Es wären vor allen Dingen neue Perspektiven bei der
Raumplanung und bei der regionalen Entwicklung notwendig, damit die Wege kürzer werden und der Verkehr
reduziert wird. Wir müssen die Zutaten für einen Joghurt
nicht aus ganz Europa herankarren, es muss auch nicht
sein, dass die Kinder immer weitere Schulwege und die
Eltern immer weitere Wege zur Arbeit haben.
({1})
Das Schlimme ist aber, dass Sie daran festhalten, dass
immer mehr, immer höher, immer schneller und immer
weiter gefahren werden muss. Wir haben heute Morgen
mit Verkehrsminister Ramsauer in der Sondersitzung zur
Überprüfung der Bedarfspläne für Straßen und Schienen
gesessen. Auf der Grundlage dieser Bedarfspläne wird
entschieden, was mit Bundesmitteln gebaut wird. Sie
stellen fest, dass weitere 5 500 Straßenkilometer betoniert werden sollen.
({2})
Sie gehen davon aus, dass unsere Bevölkerung in den
nächsten 15 Jahren zwar schrumpft, dass aber die Zahl
der Autos trotzdem um 13 Prozent zunimmt. Das heißt,
die 1 oder 2 Prozent Elektroautos, die Sie als Klimaretter
preisen, werden glatt überrollt. Es ist nicht einmal ein
Tropfen auf den heißen Stein, was Sie hier anbieten.
Die Bundesregierung muss zügig und konsequent dafür sorgen, dass die im Straßenverkehr ausgestoßenen
CO2-Mengen reduziert werden, und zwar unabhängig
von der Antriebstechnologie. Das Umweltbundesamt hat
ganz konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, wie man den
Spritverbrauch mit der vorhandenen Technik um
30 Prozent reduzieren könnte. Aber Sie machen das Gegenteil: Sie verhindern, dass auf europäischer Ebene
harte CO2-Obergrenzen festgelegt werden, damit die
großen deutschen Autos weiter verkauft werden können.
Sie denken überhaupt nicht daran, das Dienstwagenprivileg infrage zu stellen, obwohl damit auf Kosten der
Steuerzahler gerade die großen Maschinen gefördert
werden, die einen hohen Spritverbrauch und einen hohen
CO2-Ausstoß haben. Mit Ihrem Effizienzlabel, das Sie
wollen, bekommt sogar ein Porsche Cayenne, der
12 Liter pro 100 Kilometer verbraucht, die Bestnote.
Das finde ich ausgesprochen traurig. Das hat mit Nachhaltigkeit überhaupt nichts zu tun.
({3})
Wir fordern Sie auf, ein Programm zu entwickeln, wie
diesem Autowahnsinn ein Ende bereitet werden kann.
Die Unternehmen haben hohe Renditen erzielt. Es ist
nicht die Aufgabe des Staates, ihnen Entwicklungskosten abzunehmen oder ihre Produkte zu subventionieren.
Stattdessen müssen die öffentlichen Mittel dorthin gelenkt werden, wo Elektromobilität seit 120 Jahren Standard ist, wo sie einen viel besseren Beitrag zum Klimaschutz leisten können: Ich denke an die Bahnen, die
Straßenbahnen und die Busse. Trolleybusse stellen übrigens eine hervorragende elektromobile Form dar. Ihr Betrieb ist in unseren Städten eingestellt worden, sie erleben aber in anderen Städten eine neue Blüte. Auf diese
Weise würde Steuergeld vernünftig eingesetzt und allen
zugutekommen, nicht nur den Kaufkräftigen, die sich ein
Elektroauto als Zweit- oder Drittwagen leisten können.
Besten Dank.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun
Winfried Hermann das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! In diesen Tagen hat McKinsey ein Ranking der Länder beim Thema Elektromobilität vorgelegt.
Darin sind der Markt, das Angebot, die Nutzung, die
staatliche Förderung und die Rahmenbedingungen vergleichend untersucht worden. Für Deutschland ist hierbei eines interessant: An erster Stelle stehen eindeutig
die USA, an zweiter Stelle steht Frankreich, deutlich vor
China und Deutschland, die beide auf dem dritten Platz
zu finden sind.
Das muss uns in der Politik, aber auch der Industrie
zu denken geben. Wenn wir vom Leitmarkt Deutschland
sprechen, muss klar sein: Wir sind nicht der Leitmarkt,
sondern wir müssen erheblich mehr tun, damit wir es
werden.
({0})
Ich habe bei der heutigen Debatte festgestellt, dass es
einen großen Konsens gibt. Die wichtigsten Punkte will
ich aus meiner Sicht noch einmal zusammenfassen.
Alle haben gesagt: Es geht um Elektromobilität, weil
es um nachhaltige Mobilität geht. Es geht nicht nur um
das Auto, sondern es geht um die Elektrifizierung der
Mobilität auch im ÖPNV, auch beim Fahrrad- oder Rollerfahren. Das ist wichtig. Alle haben auch gesagt: Wir
brauchen dafür erneuerbare Energien, und es soll auch
nicht fossiler Kraftstoff für die Erzeugung der Elektroenergie eingesetzt werden. Das finde ich richtig. Die Unterschiede sind aber ganz deutlich, wenn es darum geht,
was wir tun und wie wir dies konkret umsetzen.
Mit Blick auf den ersten Teil, den Bekenntnisteil, des
Antrags von CDU/CSU und FDP könnte man glatt sa7696
gen: Das ist ein grüner Antrag; es hat sich gelohnt, dass
wir vor einem halben Jahr hier einen Antrag eingebracht
haben. Sie haben reichlich davon gekostet und sich bedient. Wir gönnen Ihnen das. Das ist gut, und wir freuen
uns.
({1})
Was uns allerdings wundert, ist, dass man ein halbes Jahr
braucht, um dann über allgemeine Bekenntnisse nicht
hinauszukommen und in vielen Bereichen nicht konkret
zu sagen, was man vorhat. Herr Simmling, Sie haben gesagt, Sie hätten da und dort Konkretes angesprochen. Ihr
Antrag enthält aber wenig Konkretes. Oftmals tauchen
die Worte „prüfen“ oder „fördern“ auf, wobei ich mit
dem schwäbischen Philosophen fragen würde: Prüfst du
noch, oder fährst du schon?
({2})
Es reicht nicht aus, dass wir dies oder jenes prüfen.
Wir müssen endlich mehr tun. Ich werde Ihnen auch
gleich sagen, in welcher Richtung man, wie wir Grünen
glauben, mehr tun muss.
Gestatten Sie mir noch ein Wort zu den beiden anderen Anträgen. Den Tenor des SPD-Antrags können wir
weitgehend teilen. Ich finde es auch richtig, auf die sozialen Elemente von nachhaltiger und Elektromobilität
hinzuweisen.
({3})
Auch dazu gibt es nachher noch eine Antwort von uns
Grünen.
Zur Linken muss ich sagen: Bei aller berechtigten
Kritik an einer Fokussierung der Elektromobilität auf
das Auto, die tatsächlich im Antrag von CDU/CSU und
FDP im Detail enthalten ist - denn dort hat man etwa die
allgemeine Förderung des ÖPNV vergessen -, unterschätzen Sie aber die Wichtigkeit der Transformation der
Automobilindustrie in Deutschland. Dabei geht es um
viele Arbeitsplätze, um viel Wertschöpfung, um Klimaschutz und um Wirtschaftlichkeit.
({4})
Was ist aus grüner Sicht zu tun? Wir haben bekanntlich vor einem halben Jahr bereits einen Antrag vorgelegt. Ich will noch einmal dessen wichtigste Elemente
zusammenfassen.
Wir glauben, dass es in jedem Fall zwingend notwendig ist, die staatliche Forschungsförderung zu verstärken. Das ist auch eine öffentliche Aufgabe und nicht nur
Sache der Automobilindustrie. Diese Transformation zu
erreichen, ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Die Industrie muss dann selber noch etwas drauflegen. Wir sagen:
Es müssen zehn Jahre lang 500 Millionen Euro bereitgestellt werden, übrigens durch die Abschmelzung des
Dienstwagenprivilegs, also neutral, finanziert. Das ist
ganz wichtig.
Wir glauben auch, dass man diese Elektromobilität
zwingend in ein neues Energie- und Klimaschutzkonzept
integrieren muss, als Speicherpuffer und als Element eines neuen klimaschonenden Energie- und Mobilitätskonzepts.
({5})
Es ist ebenfalls zwingend notwendig, dass man eine
Reihe von ordnungsrechtlichen Fördermaßnahmen betreibt und auch steuerlich etwas bewegt. Da sind Sie sehr
zurückhaltend, indem Sie sagen: Man könnte überlegen
oder prüfen. - Aber wenn wir insofern nicht bessere
Rahmenbedingungen setzen, werden wir nicht weiterkommen.
Zu guter Letzt: Wir Grünen haben als Einzige seit einiger Zeit gefordert: Wir brauchen ein Marktanreizprogramm. Wenn man diese Technologie überhaupt in den
Markt bringen und erreichen will, dass es zur Massenproduktion und damit zur Verbilligung kommt, muss
man in der Anfangsphase fördern - auch das wieder kostenneutral, nämlich durch eine Änderung der Kfz-Steuer,
durch eine Bonus-Malus-Regelung; Spritschlucker zahlen mehr - und klimafreundliche Autos fördern. Nicht
nur elektromobile, sondern alle Autos mit einem Ausstoß von weniger als 60 Gramm CO2 pro Kilometer wollen wir fördern, technikneutral. So wollen wir alle klimafreundlichen Technologien fördern. Das würde wirklich
einen massiven Push geben.
Diese Forderung - das sage ich Ihnen voraus - wird
von der deutschen Automobilindustrie kommen, und Sie
werden sie aufgreifen, und zwar in zwei Jahren, wenn
die Industrie so weit ist; sie will nicht, dass es heute losgeht. Wenn wir klimaschonende Technologiepolitik vorantreiben wollen, müssen wir aber jetzt ansetzen, jetzt
anreizen und damit auch die deutsche Automobilindustrie nach vorn schieben; die hat das Projekt nicht nur
verschlafen, sondern lange bekämpft.
Vielen Dank.
({6})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Bilger das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In wenigen Tagen, Ende dieses Monats, legt die Nationale Plattform Elektromobilität ihren Zwischenbericht vor. Daher
bin ich auch davon überzeugt, dass der Zeitpunkt unserer
Debatte kaum besser gewählt sein könnte. Ich möchte
überhaupt feststellen: Die Häufigkeit unserer Diskussionen über Elektromobilität im Deutschen Bundestag und
in den beteiligten Ausschüssen zeigt, dass die Bedeutung
dieses Themas und die damit verbundenen Chancen zumindest von den meisten Fraktionen dieses Hauses erkannt wurden.
Im Antrag der Koalitionsfraktionen werden viele dieser Diskussionen aufgegriffen. Er ist umfassend, präzise
und realistisch umsetzbar. Er macht dazu unseren FühSteffen Bilger
rungsanspruch in diesem Bereich deutlich und reiht sich
nahtlos in die Kette ein: Förderung durch das
Konjunkturpaket II, Nationaler Entwicklungsplan Elektromobilität, Koalitionsvertrag, öffentliches Fraktionsfachgespräch im April, Kanzlergipfel am 3. Mai und
jetzt diese Debatte im Bundestag.
Als Mitglied des Verkehrsausschusses will ich besonders unterstreichen, welche Bedeutung die Elektromobilität für die Zukunft der Mobilität hat. Eines muss uns allen gerade im Autoland Deutschland klar sein: Die
Wende im Automobilbau wird kommen. Das wird dauern - auch der Verbrennungsmotor hat weiterhin Zukunft -,
aber unweigerlich wird die Bedeutung alternativer Antriebe, nicht nur der Elektromobilität, zunehmen.
Elektromobilität führt zu völlig neuen Möglichkeiten,
beispielsweise zu solchen der Verkehrssteuerung. Schon
jetzt rücken diese Chancen mehr und mehr in den Mittelpunkt. Eine sinnvolle Koordinierung des Straßenverkehrs schont die Umwelt, sorgt für mehr Sicherheit, für
mehr Effizienz und ermöglicht es, dass vorhandene Infrastruktur sinnvoll genutzt wird.
Der Antrag der Linken gibt mir Gelegenheit, einige
Dinge noch einmal zu verdeutlichen bzw. richtigzustellen. Dass auch die Schiene zur Elektromobilität gehört
und Elektromobilität selbstverständlich mehr ist als nur
Elektroautos, dürfte jedem auch so klar sein. Das sind
Banalitäten. Es hat auch niemand behauptet, dass sich
mit unserem Ansatz, wie wir Elektromobilität verstehen,
das Klima komplett schützen ließe. Es ist ein Puzzlestein, aber ein für die Umwelt, für die Mobilität und
nicht zuletzt für Arbeitsplätze in Deutschland wichtiger
Puzzlestein. Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten,
auch in diesem Zusammenhang, ist zumindest für uns
ein wichtiges Thema, Frau Leidig.
({0})
Darüber hinaus ist es schlichtweg falsch, zu behaupten, dass die Bundesregierung sich bei der umweltgerechten Verkehrspolitik nur auf die Förderung von
Elektroautos beschränken würde. Wer sich das Energiekonzept der Bundesregierung auch nur grob angeschaut
hat, konnte darin von Wasserstoff, Biokraftstoffen der
sogenannten zweiten Generation, einer neu zu ordnenden Lkw-Maut usw. lesen. Auch im Bereich der Nutzfahrzeuge wollen wir eine ambitionierte, aber realistische Ausgestaltung der CO2-Grenzwerte.
Außerdem wird die Bundesregierung die Investitionen in die Schieneninfrastruktur ausbauen. Dazu stehen
wir, auch wenn gerade Sie bei jeder Gelegenheit beim
Protest gegen den Ausbau der Schieneninfrastruktur dabei sind, meine Damen und Herren von den Linken.
({1})
Wer das aktuelle Interesse an der Elektromobilität mit
dem Hinweis herabwürdigt, schon in früheren Zeiten sei
diese Mobilitätsform beschworen worden und nichts sei
passiert, verkennt internationale Entwicklungen. Alle
großen Automobilnationen und -hersteller investieren
Milliarden in diese Technologie. Alle Experten sehen
diesen Trend und das unaufhaltbare Kommen der Elektromobilität. Diesen Trend zu ignorieren, hieße, die Augen vor der Zukunft zu verschließen.
({2})
Nicht zuletzt begleiten viele Bürger die Entwicklungen mit großem Interesse und großer Begeisterung. Dass
nun die nötigen Mittel für den Fortbestand der Modellregionen bereitgestellt werden, ist eine gute Nachricht.
Gerade die Modellregionen haben dazu beigetragen,
Schwerpunkte zu setzen und Fortschritte zu erzielen sowie die Akzeptanz der Elektromobilität zu erhöhen und
die Menschen daran teilhaben zu lassen. Darum bekennen wir uns auch ohne Wenn und Aber zum Fortbestand
der Modellregionen.
Wir als Koalitionsfraktionen sehen in der Elektromobilität eine große Chance für Verkehr, Umwelt und Wirtschaft in Deutschland. Darum bleiben wir dran und bitten um Unterstützung für unseren Antrag.
Vielen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Wolfgang Tiefensee.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele der Vorredner haben einen Konsens im Bereich der Elektromobilität konstatiert. Kollege Hermann, es ist ein Vergnügen, wieder einmal zu demselben Sachverhalt hier
im Plenum zu sprechen. Ich möchte meine Redezeit nutzen, um die Unterschiede herauszuarbeiten. Man kann es
sich nämlich nicht so einfach machen, zu sagen, dass alle
an einem Strang ziehen.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist danach zu beurteilen, ob er den Anforderungen eines gnadenlosen
Wettbewerbs auf dem weltweiten Markt der Elektromobilität gerecht wird und ob die konkreten Maßnahmen,
die im letzten Jahr ergriffen wurden, dem entsprechen.
Hier gibt es - das muss ich deutlich sagen - erhebliche
Defizite, die ich im Einzelnen benennen will.
Wir befinden uns im Jahr 2010. Die USA und die
asiatischen Staaten, insbesondere China, arbeiten an diesem Thema mit einem weitaus höheren Tempo, mit
besserer finanzieller Ausstattung, mit einer stärkeren
strategischen Ausrichtung als Deutschland. Wir als SPDFraktion empfinden, dass die Bundesregierung lieblos an
dieses Thema herangeht.
({0})
Erstens. Was tun Sie strategisch? Es kann doch nicht
sein, dass wir bei dem Ziel, 1 Million Elektrofahrzeuge
bis 2020 auf deutsche Straßen zu bringen, stehen bleiben.
Vielmehr müssen wir gleichzeitig fordern, dass diese Zahl
an Fahrzeugen aus deutscher Produktion stammt und es
mindestens 1 Million Fahrzeuge sind. Es kann nicht
sein, dass wir für das Jahr 2030 nur eine Zahl von 6 Millionen Fahrzeugen anstreben. Das ist viel zu wenig. So
wird es zu keiner Revolution auf diesem Sektor kommen. Ihre Strategie ist also ungenügend.
({1})
Hinzu kommt, dass wir uns mit Blick auf den Klimaschutz überlegen müssen, woher der Strom kommen
soll. Kollege Hermann hat diese Frage angesprochen. Es
ist völlig falsch, in der einen Woche Beschlüsse zur
Atomenergie in der Weise zu fassen, wie Sie es getan haben, und zwei Wochen später davon zu reden, dass man
mehr Elektromobilität brauche.
({2})
Nein, zu dieser Strategie muss auch gehören, auf erneuerbare Energien zu setzen.
({3})
Zum Zweiten: Kompetenzgerangel ohne Ende. Seit
einem Jahr streitet sich die Bundesregierung darum, welches Ressort nun eigentlich die Federführung übernehmen soll, wo die Nationale Plattform Elektromobilität
anzusiedeln ist. Es handelt sich um Nickligkeiten und
Eifersüchteleien, die ja ganz nett wären; aber wir müssen
in einem Wettbewerb bestehen, in dem wir nicht bestehen können, wenn man sich gegenseitig vor die Beine
tritt. Deshalb brauchen wir eine strategische Ausrichtung, die auch die Strukturen umfasst.
Zum Dritten. Ganz finster sieht es aus, wenn es um die
Finanzen geht. Darf ich Sie daran erinnern, dass durch den
Deutschland-Plan von Frank-Walter Steinmeier, dass
durch die Brennstoffzelleninitiative und dass durch die
Konjunkturpakete I und II Geld für diese Thematik bereitgestellt wurde? Was lesen wir jetzt? Im Wirtschaftsausschuss bekommen wir einen Ergebnisbericht zur Nationalen Plattform Elektromobilität vorgelegt, in dem
steht: Es ist anzustreben, die Modellregionen in Zukunft
auf ähnlichem finanziellen Niveau zu fördern. - Nein,
das ist nicht anzustreben. Hier braucht es klare Aussagen, ob wir uns an der Summe der USA von 22,2 Milliarden Euro pro anno oder an der der Chinesen von
3,3 Milliarden Euro pro anno orientieren wollen. Ich fordere Sie auf, zu einer finanziellen Verstetigung zu kommen
({4})
und mittelfristig - nicht jetzt, Herr Kollege Hermann,
aber mittelfristig - auch über Tax Credits und Incentives
nachzudenken, die wir setzen müssen, damit diese Autos
gekauft werden. Wir brauchen diese Gelder, um in eine
anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung zu
investieren. Ich vermute, meine sehr geehrten Damen
und Herren von der FDP, dass Ihnen Ihr schräges Staatsverständnis im Wege steht, hier wirklich beherzt vorzugehen.
Schließlich geht es darum, dass wir den Kommunen
Sicherheit geben müssen, wie es mit den Standards und
mit der Infrastruktur - Ladestationen, Induktionsschleifen usw. - weitergeht.
Darüber hinaus - dies als letzter Gedanke - konstatiere ich totale Fehlanzeige, wenn es darum geht, dieses
Projekt als ein europäisches zu begreifen. Wir werden es
alleine nicht schaffen. Wo bleibt neben der vielen Gipfelei ein Pakt Elektromobilität auf europäischer Ebene im
Wettbewerb zu Asien und Amerika?
Überall Fehlanzeige! Deshalb, meine sehr verehrten
Damen und Herren: Die wohlfeilen Aussagen in den Anträgen haben wir zur Kenntnis genommen. Wichtig ist,
dass jetzt endlich, ähnlich wie in der Zeit zuvor, Nägel
mit Köpfen gemacht werden, damit wir in diesem Wettbewerb obsiegen und nicht hintanstehen.
Vielen Dank.
({5})
Für die FDP spricht nun der Kollege Michael Kauch.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Tiefensee, ich glaube, die FDP hat kein schräges Staatsverständnis, sondern Sie haben ein schräges Verständnis
von dem, wofür Sie politische Verantwortung tragen.
Wenn Sie fragen, wo dies und das bleibe und warum
man dieses und jenes nicht gemacht habe, dann kann ich
nur sagen: Sie waren der Verkehrsminister, Sie hätten es
machen können. Wir machen jetzt, was Sie nicht geschafft haben.
({0})
Ich kann Ihnen nur sagen: Viel Geld hilft nicht immer
viel. Vielmehr haben wir im Interesse kommender Generationen einen Haushalt zu konsolidieren.
({1})
Dabei kommt es darauf an, was hinten herauskommt,
nicht aber darauf, möglichst viel Geld hineinzustecken,
um sich anschließend für die großen Etats abfeiern zu
lassen. Intelligenter Mitteleinsatz, das ist das Gebot der
Stunde auch bei der Elektromobilität.
({2})
Produktinnovation von Automobilkonzernen für sich
genommen ist keine staatliche Aufgabe. Dies ist zunächst einmal die Aufgabe der Unternehmen. Warum
also machen wir Politik für Elektromobilität? Wir maMichael Kauch
chen dies, weil es unsere Chance ist, in großem Umfang
erneuerbare Energien in die Fahrzeuge zu bringen. Nur
so werden wir die Klimaschutzziele erreichen, die sich
diese Bundesregierung mit dem Energiekonzept gesetzt
hat: Reduktion der Treibhausgasemissionen um 80 bis
95 Prozent bis 2050, 50 Prozent erneuerbare Energien
am Primärenergieverbrauch, 80 Prozent beim Strom.
Das sind ambitionierte Ziele; für deren Erreichung brauchen wir Elektromobilität. Allein das ist die Begründung
dafür, dass der Staat an dieser Stelle in den Markt eingreifen kann.
({3})
Wir sollten aber auch nicht so tun, als bedeuteten alternative Antriebe und erneuerbare Energien im Verkehr
ausschließlich batteriegetriebene Elektroautos. Vielmehr zählen auch Brennstoffzellenfahrzeuge dazu. Wir
werden für Langstreckenfahrzeuge und für Lkw Verbrennungsmotoren benötigen. Deshalb brauchen wir
auch bessere und neue Biokraftstoffe. Das gehört zusammen. Wir werden noch heute im Deutschen Bundestag
über das Thema Biomethan im Verkehrssektor diskutieren. Es muss eine Gesamtstrategie verfolgt werden. Es
darf kein Kästchendenken geben. Wir müssen insgesamt
eine Politik, die sich für erneuerbare Energien im Verkehr einsetzt, betreiben. Das ist die Strategie der christlich-liberalen Koalition.
({4})
Wir müssen die Grenzen zwischen Stromerzeugung
und Mobilität aufheben. Wir müssen beide Bereiche
gleichermaßen in unsere Überlegungen einbeziehen.
Elektromobilität ist Teil der Netzintegration erneuerbarer Energien. Wir können Schwankungen im Stromnetz
aufgrund der Nutzung erneuerbarer Energien abfangen,
indem wir zum einen in intelligenten Netzen die Elektroautos zum Bestandteil des Lastmanagements machen.
Zum anderen können wir - das hat die christlich-liberale
Koalition bei der letzten Reform der Solarförderung gemacht - Anreize dafür setzen, dass selbstproduzierter
Photovoltaikstrom möglichst für die eigenen Elektroautos verwendet wird. Zum Beispiel können die Autos
der Mitarbeiter, die acht Stunden auf dem Parkplatz des
Unternehmens stehen, in dieser Zeit aufgeladen werden.
Die erzeugte Energie sollte nicht einfach dem Netzbetreiber sozusagen vor die Füße geworfen werden. Im
Zuge der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im
Jahr 2012 müssen wir diesen Punkt weiterentwickeln.
Daran werden wir arbeiten.
Vielen Dank.
({5})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Dr. Reinhard Brandl.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen am Beginn eines Zeitenwechsels: weg
von einer Mobilität im Straßenverkehr, die im Wesentlichen auf der Verbrennung von fossilen Brennstoffen
basiert, hin zu einer CO2-armen oder gar CO2-freien Mobilität, basierend auf hybriden oder rein elektrischen Antrieben mit Strom aus erneuerbaren Energien. Das ist
Teil unseres Energiekonzeptes und unseres heutigen Antrages. Gerade mit Blick auf das Klima und die zur
Neige gehenden fossilen Brennstoffe ist dieser Weg alternativlos. Dieser Zeitenwechsel wird sich über Jahrzehnte hinziehen. Er wird uns, das Autoland Deutschland, mehr als die meisten anderen Länder treffen; denn
an seinem Ende wird eine andere Automobilindustrie
mit völlig neuen Wertschöpfungsketten stehen.
Die Industrie hat die Herausforderung bereits angenommen. Jeder deutsche Hersteller arbeitet mit Hochdruck an hybriden oder rein elektrischen Antriebskonzepten. Gestern hat zum Beispiel die Firma Audi in
Ingolstadt ein neues, 65 Millionen Euro teures Entwicklungs- und Prüfzentrum für Elektroantriebe eingeweiht.
Die Bundesregierung hat die Herausforderung ebenfalls
angenommen und die wichtigsten Akteure der Nationalen Plattform Elektromobilität an einen Tisch geholt. Der
erste Zwischenbericht wird in Kürze vorliegen.
Wir von der christlich-liberalen Koalition haben diese
Herausforderung auch angenommen und arbeiten seit
Monaten mit Sachverständigen an den richtigen politischen Rahmenbedingungen. Ein Ergebnis dieser Arbeit
liegt heute in Form unseres Antrags dem Deutschen
Bundestag zur Beratung vor. Es kann uns nur gemeinsam gelingen, unsere führende Weltmarktposition bei
den konventionellen Antrieben in das Zeitalter der Elektromobilität zu übertragen.
Die Karten werden neu gemischt. Wir müssen anerkennen, dass im Bereich Forschung und Technologie vor
allem die asiatischen Länder wie Japan, Korea und
China im Moment die Nase vorn haben. Das letzte EFIGutachten zur technologischen Leistungsfähigkeit
Deutschlands hat uns das eindrucksvoll aufgezeigt.
An diesem Punkt stehen wir als Staat in der Verantwortung. Wir müssen die Wissenschaft und die Industrie dabei unterstützen, den Rückstand im Bereich der Grundlagenforschung aufzuholen. Die Bundesregierung macht
dies bereits im großen Umfang. Allein das Bundesministerium für Bildung und Forschung stellt im Rahmen der
Hightech-Strategie jedes Jahr rund 100 Millionen Euro
an Fördermitteln zur Verfügung. Ein Leuchtturmprojekt
ist die groß angelegte Innovationsallianz „Lithium-IonenBatterie“, in der 57 Projektpartner aus 27 Forschungseinrichtungen sowie 30 Unternehmen gemeinsam an dieser
Schlüsseltechnologie arbeiten. Das Projekt läuft bis
2015. Das BMBF fördert es mit 60 Millionen Euro. Die
Industrie gibt zusätzlich 360 Millionen Euro, sodass allein für dieses Vorhaben insgesamt 420 Millionen Euro
investiert werden. Auch die Hochschulen leisten ihren
Beitrag. Beispielsweise hat die TU München das Wissenschaftszentrum Elektromobilität eingerichtet, in dem
36 Lehrstühle aus fünf Fakultäten das Thema interdiszi7700
plinär bearbeiten und in Forschung und Lehre verankern. - Das sind nur zwei Beispiele für Initiativen, die
dazu beitragen, unseren technologischen Rückstand aufzuholen. Diesen Weg müssen wir unbedingt fortsetzen.
Nichtsdestotrotz stehen wir erst am Anfang des Zeitenwechsels. Unser Ziel ist es, die Zahl der Elektrofahrzeuge auf deutschen Straßen von heute praktisch null auf
mindestens 1 Million im Jahr 2020 zu erhöhen. Das ist
ambitioniert. Gemessen an der Zahl von heute circa
50 Millionen Fahrzeugen in Deutschland läge der Anteil
der Elektrofahrzeuge dann trotzdem nur bei 2 Prozent.
Deswegen ist es wichtig, heute keine überzogenen Erwartungen in der Bevölkerung zu wecken, die später
vielleicht enttäuscht werden, und vor allem nicht die
weitere Optimierung des Verbrennungsmotors zu vernachlässigen. Der Verbrennungsmotor wird auf absehbare Zeit noch den allergrößten Anteil unserer Fahrzeuge antreiben.
Das elektromobile Zeitalter kommt; aber es kommt
nicht von heute auf morgen. Wir brauchen einen langen
Atem und eine langfristige Strategie, die uns auch in der
Phase nach der Euphorie kontinuierlich weiter nach
vorne bringt. Dazu leisten wir heute unseren Beitrag.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/3479, 17/2022 und 17/3647 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Vorrang für Kinder - Auch beim Lärmschutz
- Drucksache 17/2925 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Eigentlich ist das Thema, über das wir
jetzt sprechen, ein schönes Thema. Es geht um Geräusche, die Kinder machen, um spielende, lärmende und
kreischende Kinder; es geht um Kinder, die ihre Welt erobern und entdecken. Kindergeräusche - man kann es sicherlich auch Kinderlärm nennen - sollten eigentlich das
Normalste auf der Welt sein; aber leider ist es nicht so.
Leider mehren sich gerichtliche Auseinandersetzungen
wegen Kinderlärms, und zwar im Zusammenhang mit
dem Ausbau von Ganztagsschulen und Kitas, leider auch
vermehrt im Zusammenhang mit Jugendeinrichtungen.
Diese Entwicklung muss uns sehr große Sorgen bereiten.
Einige von Ihnen kennen vielleicht das Zeit-Magazin
vom Juli dieses Jahres. Darin findet sich eine wirklich
erschreckende Reportage über die Versuche, in Hamburg
neue Kitas zu gründen. Allein im Jahre 2009 sind nur in
Hamburg 20 Kindergartenprojekte verschiedenster Träger ins Sperrfeuer der Nachbarschaft geraten. Einige dieser Projekte wurden gar nicht realisiert, andere wurden
nur unter sehr strengen Auflagen genehmigt; nur manche
konnten tatsächlich wie geplant umgesetzt werden. Ähnliche Berichte erreichen uns aus den unterschiedlichsten
Ecken der Republik.
Es ist sehr ärgerlich, wenn derartige gegen Kinder, Jugendliche und Familien gerichtete Auseinandersetzungen auch noch von einigen Politikern befördert werden.
Beispielsweise hat der CDU-Sozialsenator von Hamburg
im Zusammenhang mit dem schon erwähnten Kita-Ausbau gesagt, er könne den Ärger der Anwohner verstehen.
Der Vorsitzende der Senioren-Union in Nordrhein-Westfalen sah sogar den sozialen Frieden durch den Lärm von
Kindergärten gefährdet. Ich finde, derartige Äußerungen
müssen ganz entschieden zurückgewiesen werden.
({0})
Ich darf wohl davon ausgehen, dass wir uns in dieser
Runde darüber einig sind - ich zitiere, was im Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb festgehalten worden ist -,
dass Kinderlärm „keinen Anlass für gerichtliche Auseinandersetzungen geben“ darf.
({1})
Dieser Konsens ist nicht neu. Die FDP beispielsweise
hat schon im Januar 2009 einen Antrag mit dieser Zielrichtung vorgelegt. Die damalige Große Koalition hat im
Juni 2009 einen quasi inhaltsgleichen Antrag im Plenum
beraten lassen. Dann kam der Koalitionsvertrag; das ist
jetzt ungefähr ein Jahr her.
Hinzu kommt: Wir wissen schon lange, was wir gesetzgeberisch machen müssten. Vor allem ist § 3 der
Baunutzungsverordnung um die Zulässigkeit von Kindertageseinrichtungen in reinen Wohngebieten zu ergänzen. Ferner ist die Privilegierung des Kinderlärms im
Lärmschutzrecht erforderlich. Wichtig ist auch - das
stellen wir in dem Antrag, den wir heute eingebracht haben, heraus -, eine Möglichkeit zu finden, um bereits bestehende Einrichtungen vor gerichtlichen Auseinandersetzungen wegen Kinderlärms zu schützen.
({2})
Jetzt haben wir November 2011. Wir müssen konstatieren: Es ist überhaupt noch nichts passiert. Uns läuft
die Zeit davon, insbesondere mit Blick auf den Ausbau
der Kitas, der unbedingt notwendig ist, um dem im Gesetz verankerten Rechtsanspruch, der ab 2013 besteht,
entsprechen zu können. Fakt ist: Das Thema Kinderlärm
soll erst im Rahmen einer breit angelegten Novelle zum
Bauplanungsrecht aufgegriffen werden. Die Eckpunkte
sollen im nächsten Sommer vorgelegt werden. Frühestens 2012 werden wir ein Gesetzgebungsverfahren haben. Das Ganze dauert einfach viel zu lange.
({3})
Unser Antrag ist nicht nur ein Plädoyer für Kinderlärm als Zukunftsmusik, sondern stellt auch einen ganz
konkreten Handlungsauftrag an die Regierung dar, sich
beim Thema Kinderlärm endlich an die Arbeit zu machen und nicht länger auf Zeit zu spielen. Ich denke, das
ist in unser aller Interesse.
Vielen Dank.
({4})
Für die Union spricht nun der Kollege Dr. Michael
Paul.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Dörner, Sie haben eine Reihe vernünftiger Punkte genannt. Ich darf Sie trösten: Die Koalition braucht nicht
den Anstoß der Grünen. Wir setzen den Koalitionsvertrag Punkt für Punkt um.
Kinder müssen in Deutschland spielen können. Das
gehört zu ihrer Entwicklung, und das müssen wir als kinderfreundliche Gesellschaft sicherstellen. Natürlich machen spielende Kinder auch Lärm. Aber dieses Geräusch
ist anders als das, das von Industriemaschinen herrührt.
({0})
Natürlich müssen wir feststellen, dass es in den letzten Jahren Urteile gegeben hat, die einiges Aufsehen erregt haben. Was war passiert? Nachbarn haben durch
Klagen vor verschiedenen Gerichten durchgesetzt, dass
verschiedene Kindergärten oder Kindertagesstätten wegen des von ihnen ausgehenden Lärms schließen mussten bzw. gar nicht erst errichtet werden konnten. Diese
Entwicklung darf man aber nicht dramatisieren. Wenn
man sich die Entscheidungen anschaut, stellt man fest,
dass die Gerichte nur in Einzelfällen zulasten der Kinder
entschieden haben. In der Mehrzahl der Fälle haben die
Gerichte bis heute zugunsten der Kinder entschieden.
Trotzdem zeigen die Verfahren, dass es sich um einen
Konflikt handelt. Diesen Konflikt müssen wir einer Lösung zuführen; denn die Konflikte werden eher zu- als
abnehmen. Dafür sind im Wesentlichen zwei Gründe zu
nennen: Zum einen sind wir eine alternde Gesellschaft.
Daher wird der Lärm von Kindern - leider - immer seltener und deshalb auch nicht mehr als so selbstverständlich angesehen, wie es in früheren Jahren vielleicht der
Fall war. Zum Zweiten haben wir, um die Gesellschaft
kinderfreundlicher zu machen, um die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf zu ermöglichen, ehrgeizige Ausbaupläne, was Kindertagesstätten und Kindergärten angeht.
Das spricht dafür, dass die Konflikte eher zu- als abnehmen.
Der Bundestag hat hier bereits in der letzten Legislaturperiode Handlungsbedarf festgestellt. Ich darf an dieser Stelle übrigens konstatieren - die Kollegen von der
SPD sind ja nicht so zahlreich vertreten -, dass die Umsetzung dessen natürlich vom damaligen Umweltminister Sigmar Gabriel hätte erfolgen müssen,
({1})
der für das Immissionsschutzrecht Verantwortung getragen hat. Ich kann feststellen: Das ist nicht geschehen.
({2})
Die christlich-liberale Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag eine Rechtsänderung zugunsten der Kinder
verabredet. Wir werden dies auch umsetzen; dafür brauchen wir den Antrag der Grünen nicht. Der Antrag der
Grünen ist insofern weder besonders kreativ noch besonders fantasievoll.
({3})
Wie wird der Rechtsrahmen neu gestaltet werden
müssen? Zwei Punkte sind in diesem Zusammenhang
hervorzuheben. Zum einen brauchen wir die Klarstellung im Bundes-Immissionsschutzgesetz, dass Kinderlärm - anders als der Lärm, der von Industriemaschinen
ausgeht - im Regelfall keine schädliche Umwelteinwirkung darstellt. Dadurch können wir den Klagen, die von
Nachbarn im Wege des Zivilrechts erhoben werden, den
Boden entziehen; denn das Immissionsschutzrecht hat
auch Ausstrahlungswirkung auf das Zivilrecht. Ebenso
wird dadurch die Zahl der Klagen im öffentlichen Recht
abnehmen. Wir müssen aber die weitere Entwicklung in
der Rechtsprechung sehr genau daraufhin beobachten,
ob es weiteren Klarstellungsbedarf gibt. Klar ist - das
will ich an dieser Stelle ebenfalls sagen -, dass auch in
Zukunft eine gerichtliche Überprüfung im Einzelfall
möglich sein muss; denn schließlich leben wir in einem
Rechtsstaat. Die neue Regelung wird aber Rechtssicherheit schaffen.
Zum anderen werden wir sicherstellen, dass Kindergärten und Kindertagesstätten dort sein werden, wo Kinder sind. Bisher haben wir das Problem im Baurecht,
dass in reinen Wohngebieten grundsätzlich keine Kitas
zulässig sind.
({4})
Wir werden im Rahmen der anstehenden Bauplanungsrechtsnovelle die Baunutzungsverordnung an dieser
Stelle ändern, sodass dies auch in reinen Wohngebieten
grundsätzlich möglich wird. Wir werden uns auch nicht
darauf beschränken, dies auf zukünftig ausgewiesene
Wohngebiete zu beziehen; vielmehr sollen auch bestehende Bebauungspläne erfasst werden. Dazu wird das
Baurecht entsprechend geändert werden.
({5})
Gestatten Sie mir eine persönliche Anmerkung. Seit
meine Frau und ich vor sieben Wochen eine Tochter bekamen, ist unser Verständnis für beide Positionen - die
Eltern auf der einen Seite und die Nachbarn auf der anderen Seite - deutlich gewachsen. Es gibt hier keine
reine Schwarz-Weiß-Situation. Wir brauchen vielmehr
eine ausgewogene Lösung, die auf die Interessen beider
Seiten Rücksicht nimmt. Das Maßnahmenbündel, das
ich Ihnen gerade vorgestellt habe und das die Koalition
auf den Weg bringen wird, wird genau diesen Interessenausgleich sicherstellen. Deshalb freue ich mich schon
auf die weiteren Beratungen in den Ausschüssen.
Herzlichen Dank.
({6})
Herzlichen Glückwunsch, Kollege Paul!
Das Wort hat die Kollegin Ute Vogt für die SPD-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Paul, ich glaube,
es geht hier nicht darum, in einen Wettbewerb um die
kreativsten Anträge einzutreten, sondern schlicht darum,
ein drängendes Problem zu lösen, und das hat Ihre Regierung bis zum heutigen Tag trotz vieler wohlfeiler
Worte zu diesem Thema schlicht versäumt. Sie haben
sich außer dem einen Satz im Koalitionsvertrag noch
nicht einmal im Ansatz diesem Problem genähert.
Wir beschäftigen uns heute bereits mit der dritten Initiative zu diesem Thema in diesem Parlament, und alle
drei Initiativen stammen aus den Reihen der Opposition.
Es gab im März einen Antrag der Sozialdemokratischen
Partei. Im Mai gab es einen Antrag der Partei Die Linke
mit dem Schwerpunkt auf Sportstätten. Heute liegt ein
Antrag der Grünen vor. In dem Anliegen sind wir uns
alle einig. Auch Sie haben dem Anliegen nicht widersprochen.
Es ist richtig: Bereits Ende der letzten Legislaturperiode hat dieses Haus der Bundesregierung den ganz
klaren Auftrag gegeben, die Bewegungsräume für Kinder und Jugendliche auszuweiten und die Zahl der Gerichtsverfahren zu verringern. Herr Kollege Paul, wir
hätten damals sehr gerne diesen Auftrag des ganzen
Hauses umgesetzt. Die Wählerinnen und Wähler haben
dann aber anders entschieden. Daher konnten wir dies
leider nicht weiterverfolgen und nicht tätig werden. Sie
waren letztes Mal in der Regierung und sind es jetzt erneut seit einigen Monaten. Sie haben sich diesem Thema
aber bislang nicht genähert und noch nicht einmal einen
Gesetzentwurf vorgelegt.
Aus meiner Sicht drängt die Zeit; denn nach dem Kinderförderungsgesetz müssen bis 2013 35 Prozent aller
Kleinkinder einen Platz in einer Kindertagesstätte bekommen können. Das ist gut so. Wir sind stolz darauf,
dass wir dieses Gesetz auf den Weg gebracht haben.
({0})
Dieses Gesetz bedeutet, bundesweit 750 000 Plätze in
Kindertagesstätten zu schaffen. Das bedeutet in der Konsequenz die Verdoppelung der Zahl der heute bestehenden Betreuungsplätze. Die Bundesregierung nimmt nun
den Kommunen das Geld aus der Tasche. Nach Aussagen des Städte- und Gemeindebundes werden in diesem
Jahr etwa 14 Milliarden Euro fehlen, die dringend notwendig wären, um etwas für die Kinderbetreuung zu tun.
Nicht einmal das, was Sie kein Geld kosten würde,
bringen Sie auf den Weg. Stellen Sie sich einmal die Situation vor: Die Kommunen müssen bauen, müssen zusätzliche Plätze schaffen. Wenn allerorten geklagt wird,
Gerichtsverfahren drohen, Kindertagesstätten gar nicht
entstehen dürfen oder dort, wo sie schon vorhanden sind,
nicht vernünftig betrieben werden können, weil die
Rechtslage relativ viele Klagemöglichkeiten bietet, wird
die Schaffung der zusätzlichen Betreuungsplätze nicht
nur finanziell, sondern auch durch die praktischen Rahmenbedingungen erschwert. Dafür trägt Ihre Bundesregierung die Verantwortung.
({1})
Mit Baurecht allein kann man diese Probleme sicherlich nicht lösen. Es geht auch um gesellschaftliche Akzeptanz. Die Gesellschaft wird älter. Es gibt mehr Kinderlose, die vielleicht weniger Bezug zu Kindern haben
und es nicht so sehen, dass Kinderlärm Zukunft bedeutet. Daher muss man politisch umso stärker Signale setzen, dass Platz für Kinder in der Gesellschaft gewollt ist.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich sagen - hier
gehen wir sogar weiter als die Grünen in ihrem Antrag;
aber auch da gibt es eine Übereinstimmung -, dass es
nicht nur darum geht, etwas für Kindertagesstätten und
Kinderbetreuungseinrichtungen zu tun, sondern auch darum, etwas für eine Gruppe zu tun, die noch weniger
Lobby hat als Kinder, nämlich die Jugendlichen. Das betrifft nicht nur die Jugendlichen in Sportvereinen, sondern zum Beispiel auch die, die auf Bolzplätzen spielen.
({2})
Vor allem in größeren Städten erleben wir, dass dort, wo
sich die Bebauung Bolzplätzen nähert, die Anwohner
klagen und recht bekommen. Bei uns in Stuttgart gibt es
Bolzplätze, die um 18 Uhr geschlossen werden müssen,
obwohl die Kinder aufgrund der Schulorganisation
manchmal erst um 17.30 Uhr die Chance haben, auf die
Straße zu gehen. Das können wir auf Dauer nicht zulassen. Deshalb wünschen wir, dass Sie hier nicht nur
freundliche Worte finden, sondern dass Sie dem Ganzen
auch Taten folgen lassen. Wir sollten die nächste Debatte
nicht wieder über eine weitere Initiative aus den Reihen
der Opposition führen müssen. Wir werden in der nächsten Sitzung des Umweltausschusses beantragen, eine
Anhörung durchzuführen, um uns diesem Thema gemeinsam zu nähern.
Ich hoffe, dass Sie dabei sind, wenn wir jetzt in
schnellen Schritten vorangehen, und dass wir die nächste
Debatte eben nicht mehr über schöne Anträge, die den
Kindern und den Eltern am Ende nicht helfen, sondern
zeitnah über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung
führen. Dann sind wir gerne bereit, Ihnen zu applaudieren. Machen Sie aber bitte vorher Ihre Hausaufgaben zu
diesem Thema.
({3})
Für die FDP-Fraktion hat Judith Skudelny jetzt das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Frau Vogt, Sie sollten mir zuhören.
({0})
Denn ich werde gleich ganz viele der Punkte, die Sie
heute angesprochen haben, erklären.
Mit dem heute vorliegenden Antrag der Grünen ist
der Kinderlärm nun auch bei dieser Partei als Thema angekommen.
({1})
Ich darf Ihnen gratulieren: Ihr Antrag ist in einem Punkt
besser als der, den die SPD im März dieses Jahres vorgelegt hat; denn er ist zumindest verfassungskonform.
({2})
Da Sie aus unserem Koalitionsvertrag zitiert haben,
gehe ich stark davon aus, dass Sie meinen, uns ein wenig
vor sich hertreiben zu müssen.
({3})
Das wird Ihnen auch heute leider nicht gelingen, weil
wir Ihnen wieder einen Schritt voraus sind.
({4})
Erst einmal zum Inhalt Ihres Antrags, zur Neuregelung der Baunutzungsverordnung. Die Baunutzungsverordnung stellt beim Ausbau einer Kindertagesstätte eigentlich gar nicht so sehr ein Problem dar. Es ist richtig:
In Wohngebieten können nur ausnahmsweise Genehmigungen erteilt werden. In aller Regel werden sie erteilt.
Wenn man Prävention betreibt, muss in allen Gebieten
auch ein Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern geführt werden; aktuell wird er übrigens geführt. Deswegen ist die Änderung der BauNVO eigentlich gar nicht
das vorrangige Problem.
Frau Skudelny, der Kollege Liebich hat den Wunsch
nach einer Zwischenfrage. Möchten Sie sie zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Sehr geehrte Frau Skudelny, Sie sagten, dass Sie uns
immer einen Schritt voraus sind. Es ist mittlerweile neun
Monate her, dass im Bundesland Berlin das geänderte
Landes-Immissionsschutzgesetz in Kraft getreten ist. All
das, worüber wir heute reden, gilt im Land Berlin bereits. Sie haben das Land Berlin damals kritisiert, weil es
das im Alleingang gemacht hat, und gesagt, das sei eine
Bundeskompetenz. Wann dürfen wir denn damit rechnen, dass Sie im Rahmen der Bundeskompetenz handeln?
({0})
Sehr geehrter Herr Kollege, hätten Sie bis zum Ende
meiner Rede gewartet, hätten Sie eine Antwort auf diese
Frage bekommen - diesen Teil meiner Rede kann ich
jetzt streichen -: Wir planen, das bis Ende dieses Jahres
zu tun.
({0})
- Lassen Sie mich doch in Ruhe weiterreden. Im Anschluss können Sie Fragen stellen.
Das Problem im Zusammenhang mit der Baunutzungsverordnung ist im Moment Folgendes - das werden Ihnen alle Baurechtler bestätigen -: Wenn eine Änderung der Baunutzungsverordnung erfolgt, müssen die
Gemeinden, Städte, Anwälte und Gerichte jeweils die
aktuelle Form und alle alten Fassungen behalten.
({1})
Einzeländerungen sollte man also nur dann vornehmen,
wenn ein wahnsinnig großes Problem besteht. Wie ich
bereits dargelegt habe, ist das Hauptproblem nicht die
Baunutzungsverordnung. Deswegen werden wir die darin vorgesehenen Änderungen, nämlich die Klarstellung,
dass kurze Wege und kurze Beine zusammengehören,
dass Kinder also in Wohngebiete gehören, im Rahmen
der Gesamtnovellierung der Baunutzungsverordnung im
Jahre 2011 vornehmen, damit das nicht zu kompliziert
und zu formalistisch wird.
Das zweite Problem, das Sie angesprochen haben, ist
die Bürgerbeteiligung. Hier unterschätzen Sie unsere
Städte und Gemeinden. Jeder Stadtrat und jeder Gemeinderat weiß, dass ein Projekt wie der Bau eines Kindergartens nur dann verwirklicht werden kann, wenn die
Anwohner und die Bevölkerung in der Gegend einbezogen werden. Die Art und Weise, in der sie über das schon
bekannte Planungsrecht hinaus einbezogen werden, ist
Angelegenheit der Städte und Gemeinden. Das muss aus
meiner Sicht nicht im Bundesrecht geregelt werden.
Hierzu hat jede Stadt und jede Gemeinde eigene Wege,
eigene Foren und eigene Ideen. Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger befürworte ich. Eine diesbezügliche Gesetzgebung des Bundes halte ich aber für nicht
notwendig, zumal die Städte und Gemeinden dies schon
heute sehr gut machen.
Die Intention Ihres Antrags ist durchaus richtig. Es
wird deutlich: Kinderlärm ist gewollt, Kinderlärm ist gewünscht, Kinderlärm ist richtig. Aber in diesem Zusammenhang muss man auch den Anwohnern, der älter werdenden Generation und allen anderen Menschen, gerecht
werden. Richtig ist, dass Kinderlärm nicht mit Baulärm,
nicht mit Maschinenlärm und nicht mit Straßenlärm verglichen werden kann. Kinderlärm kann auch nicht in
dB gemessen und in Durchschnittswerten angegeben
werden. Die Stärke des Kinderlärms ist jeweils vor Ort,
also dort, wo er entsteht - jetzt bitte Achtung -, in Kindertagesstätten, auf Kinderspielplätzen und, Frau Vogt,
auf Ballspielplätzen, zu prüfen.
Gestern haben wir uns mit der Union auf Rahmenbedingungen geeinigt. Im März dieses Jahres haben wir
das noch nicht geschafft. Wir haben nicht schnell gehandelt, weil wir eine Regelung treffen wollten, die verfassungskonform, ausgewogen und für die gesamte Gesellschaft tragbar ist. Deswegen haben wir uns vielleicht die
eine oder andere Woche länger Zeit gelassen. Wir wollten nämlich eine Regelung treffen, die sicherstellt, dass
es so wenige Klagen wie möglich gibt.
Der Vorschlag der SPD, Klagen gegen Kinderlärm
grundsätzlich auszuschließen, ist nicht verfassungskonform. Kinderlärm kann nämlich auch mitten in der Nacht
auftreten, weil Eltern ihre Kinder einfach brüllen lassen.
Wir wollten keine Regelung treffen, die auch einen solchen Fall umfasst. In diesem Fall muss nach wie vor der
Klageweg möglich sein. Im Hinblick auf Kindertagesstätten gilt dies natürlich nicht. Es muss aber nach wie
vor eine Ausgewogenheit in der Gesellschaft vorhanden
sein.
Wir planen, bis Ende dieses Jahres einen entsprechenden Gesetzentwurf zur Diskussion zu stellen.
({2})
- Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen. - Ich
freue mich, dass sie schon jetzt ankündigen, konstruktiv
mitzuarbeiten.
({3})
Deswegen freue ich mich auch auf den Dialog.
Bei den Demonstrationen gegen Stuttgart 21 und Gorleben haben Sie versucht, einen Zug aufzuhalten. Dieses
Mal sind Sie hinter einen fahrenden Zug gesprungen
({4})
und wieder auf den Schienen gelandet.
Wir werden bis Ende des Jahres den Gesetzentwurf
- ganz in Ihrem Sinne - auf den Weg bringen. Sie haben
recht: Kinder sind ein Zukunftsthema. Dieses Zukunftsthema besetzt die Koalition hervorragend, und sie
braucht dabei nicht Ihre Hilfestellung.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat Sabine Stüber das Wort, die es vorzieht, mit
uns gemeinsam ihren Geburtstag zu feiern. Dazu gratulieren wir herzlich.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Kinder brauchen einen Freiraum, in dem sie spielen, rennen und toben können. Das gehört zu einer gesunden Entwicklung. Es kann auch laut sein. Bei dem
französischen Philosophen und Pädagogen Rousseau
hörte sich das im 18. Jahrhundert so an: „Die Natur will,
dass Kinder Kinder seien, ehe sie erwachsen werden.“ In
einem japanischen Sprichwort heißt es: „Kinder, die
schreien, werden groß.“ Vergangene Zeiten, verschiedene Kulturkreise - und doch wusste man, was Kinder
brauchen.
Bei uns hingegen bedarf es einer gesetzlichen Klärung, damit Kinderlärm nicht mehr als schädliche Umweltauswirkung für Nachbarn bewertet werden darf. Einen Beschluss des Bundestages dazu gibt es seit über
einem Jahr. Für Anwohner sollen Klagen gegen Kitas
oder Spielplätze schwieriger werden. Betreiber von Kindereinrichtungen brauchen dringend Rechtssicherheit.
Noch ist aber nichts passiert. Noch erhalten Kitas in
Wohngebieten jede Menge Auflagen. Bis hin zur Schließung ist alles möglich, wenn sich Anwohner belästigt
fühlen. Mit dem Kinderfördergesetz sollen bis 2013 familienfreundlichere Bedingungen geschaffen werden.
Dazu sind mehr Betreuungsplätze die Voraussetzung.
Eine Kindertagesstätte, ein Spielplatz vor der Haustür:
Wie würde dadurch der Alltag für Kinder und Eltern erleichtert werden?
In dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden
alle guten Ansätze der verschiedenen Fraktionen, die in
den letzten zwei Jahren zum Thema Kinderlärm eingebracht wurden, zusammengefasst. Ergänzend sollen
Spielflächen schon bei der Planung berücksichtigt werden. Das befürworten wir als Linke voll und ganz.
({0})
Mögliche Konflikte sollen durch die Beteiligung der Betroffenen im Vorfeld geklärt werden. Auch das unterstützen wir. Trotzdem frage ich mich, warum Kinderlärm
eine so große Belastung ist. Verkehrslärm ist mit Abstand unerträglicher. Was ist los in diesem Land? Warum
wird es Familien immer noch so schwer gemacht? Die
überalterte Gesellschaft fühlt sich von den Kindern, die
später die Rente erarbeiten sollen, belästigt? Das ist doch
eine verkehrte Welt.
({1})
Natürlich nerven Kinder auch einmal, aber sie sind die
Zukunft unserer Gesellschaft. Viele Menschen in unserem Land sehen das genauso. Belästigt fühlen sich nur
einige.
Im Auftrag des Onlineportals Immowelt wurden
kürzlich 1 042 Personen befragt. Die Toleranz gegenüber tobenden Kindern ist größer als man denkt: Für
86 Prozent der Befragten gehört Lärm, der durch Kinder
entsteht, zum Leben einfach dazu. Ein weiteres Ergebnis
ist allerdings, dass 19 Prozent der sogenannten Besserverdienenden kein Verständnis dafür haben. Rund ein
Drittel davon lebt in kinderlosen Haushalten. Genau für
diese Klientel sind dann auch solche Inserate gedacht:
Kinderlärm? Anwälte leisten telefonische Rechtsberatung sofort: 8 bis 24 Uhr! - Lassen Sie uns dafür sorgen,
dass sich solche Angebote bald erübrigen.
Danke.
({2})
Das Wort hat Daniela Raab für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kinder machen natürlich Geräusche. Sie machen
manchmal auch Lärm. Das ist gewollt. Ich glaube, das
wird auch in dieser Debatte deutlich. Zu viel Konfrontation bei diesem konsensualen Thema schadet deshalb
nur. Es ist von uns allen gesagt worden: Es ist gewollt,
dass Kinder toben, kreischen, schreien, weinen und auch
mal zur Unzeit brüllen dürfen. Die Uhrzeit interessiert
ein Kind eher selten. Es sind schließlich Kinder, und Sie
haben zu Recht gesagt, liebe Kollegin: Wenn sie
schreien, werden sie groß.
Dass sich dennoch immer wieder Menschen finden,
die gegen und wegen Kinderlärm klagen, ist, vorsichtig
ausgedrückt, bemerkenswert. Dass es dann aber auch
noch Richter gibt, die diesen Menschen recht geben,
kann einen, gelinde gesagt, nur wütend machen.
({0})
Auch deshalb findet sich in unserem Koalitionsvertrag
der schon viel zitierte Satz:
Kinderlärm darf keinen Anlass für gerichtliche
Auseinandersetzungen geben. Wir werden die Gesetzeslage entsprechend ändern.
Dafür bedarf des Änderungen im Baurecht, Lärmschutzrecht und auch ganz allgemein im Zivilrecht. Ich kann
Ihnen mitteilen - so der Stand von heute Mittag -: Die
baurechtlichen Gesetzesänderungen sind geklärt. Das federführende Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wird bereits Anfang 2011 das Gesetzgebungsverfahren einleiten, um das gesamte Bauplanungsrecht
zu novellieren. Ein Bestandteil dieser Novelle ist auch
die Regelung zum Kinderlärm.
({1})
Ich bin froh, dass wir das Verfahren beschleunigen
konnten. Das alleine reicht aber nicht; auch das ist schon
gesagt worden. Notwendig ist eine absolute Toleranz gegenüber Kindergeräuschen, und zwar nicht nur im Bundes-Immissionsschutzgesetz, sondern auch im Bürgerlichen Gesetzbuch.
({2})
Bei der von mir schon angesprochenen Änderung des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes wird deshalb ausdrücklich eine entsprechende Ausstrahlwirkung für das
Bürgerliche Gesetzbuch festgeschrieben. Denn - ich
glaube, darin sind wir uns alle einig - es darf kein Hintertürchen offen bleiben, um den Bau von Kindertagesstätten, Spielplätzen, Bolzplätzen oder ähnlichen Jugendeinrichtungen zu verhindern.
({3})
Kitas und Kindergärten müssen selbstverständlich
auch in reinen Wohngebieten gebaut werden dürfen. Wo
sind wir denn? Kinder gehören nicht in Gewerbegebiete,
sondern in unsere Mitte. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass wir sie abschieben, um so wenig wie möglich von ihnen mitzubekommen. Deswegen arbeitet das
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung daran, das Bauplanungsrecht dahin gehend zu ändern, dass eine generelle Zulässigkeit von Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten ermöglicht wird. An
dieser Stelle möchte ich ausdrücklich den Ministerien
für Umwelt, Justiz und Verkehr - einer der Minister ist
anwesend - für die konstruktive Zusammenarbeit in diesem Punkt danken.
Weil die einzelnen Bundesländer angesprochen wurden, darf ich mein Bundesland Bayern erwähnen. Das
bayerische Kabinett hat am 26. Oktober einem Gesetzentwurf zugestimmt, nach dem Kinderlärm künftig
grundsätzlich als sozial angemessen hingenommen werden muss. Dadurch sollen Einrichtungen für Kinder
schneller gebaut werden können. Nachbarn dürfen in
Zukunft nicht mehr darauf vertrauen, dass der Freistaat
aus Lärmschutzgründen gegen Kindereinrichtungen vorgeht. Das betrifft ausdrücklich auch Freizeiteinrichtungen für Jugendliche wie Bolzplätze, Skateranlagen und
BMX-Bahnen; Sie kennen das alles genauso gut wie ich.
Auch diese Anlagen sollen nach dem Gesetzentwurf im
Hinblick auf Lärm bevorzugt behandelt werden.
Ich denke, auch hierbei wird klar, dass wir nicht nur
über Kinderinteressen, sondern selbstverständlich auch
über Jugendinteressen reden. Sie müssen bei dieser
gesetzgeberischen Regelung immer Vorrang vor allem
anderen haben. In Bayern bedeutet das konkret, dass wir
bei der Berechnung von Abständen zum Beispiel zwischen einer neu zu bauenden Jugendeinrichtung und der
Wohnbebauung direkt daneben die besonderen Regelungen für Ruhezeiten komplett aussetzen. Die Bebauungsabstände können künftig fast halbiert werden. Ich finde
es schön, dass es Bundesländer gibt, die das machen.
Dabei ist es mir völlig egal, welche Bundesländer das
sind und von wem sie regiert werden. Hauptsache, es
wird gemacht. Sie haben die Berliner Brille erwähnt,
Herr Kollege. In diesem Sinne möchte ich Ihnen auch
gerne die bayerische Brille mit auf den Weg geben.
({4})
Auf allen Ebenen einen Ausgleich zu schaffen, bedeutet aber nicht nur - lassen Sie mich das abschließend
feststellen -, politische Beschlüsse zu fassen, schöne Reden zu halten und gegebenenfalls die Gesetze zu ändern,
wo dies nötig ist; vielmehr muss jeder Einzelne von uns
Kinder als solche statt als kleine Erwachsene sehen. Wir
müssen ihnen ohne Vorurteile begegnen und sie Kinder
sein lassen. Vor allem dürfen wir nicht gegen sie klagen.
Denn ich denke, es gilt immer noch: Kinderlärm ist Zukunftsmusik.
Vielen herzlichen Dank.
({5})
Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache 17/2925
an die Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht
- Drucksache 17/2637 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/3693 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Dr. Peter Danckert
Halina Wawzyniak
Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke vor. Verabredet ist, eine halbe
Stunde dazu zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe der Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger das
Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Damit Bürgerinnen und Bürger nicht nur recht haben, sondern auch zu ihrem Recht kommen können, ist
eines unverzichtbar: eine unabhängige, die Mandanten
und damit die Bürgerinnen und Bürger beratende Anwaltschaft. Anwältinnen und Anwälte können ihre wichtige Aufgabe als Organ der Rechtspflege nur dann erfüllen, wenn die Mandanten ihnen auch vertrauen können.
({0})
Der Bürger, der einen Anwalt um Rat bittet, muss sicher
sein, dass das, was er dem Anwalt erzählt, auch wirklich
nur zwischen ihm und dem Anwalt bleibt und Informationen, Erkenntnisse, Aussagen sowie Anvertrautes bei
diesem vertraulich behandelt werden.
({1})
Wenn ein Mandant nicht die Gewähr hat, dass er mit
seinem Anwalt frei und unbelauscht sprechen kann,
wenn er befürchten muss, dass etwa bei einem Telefonat
der Staat in der Leitung mithört, dann ist das Entstehen
von Vertrauen gefährdet und dann ist auch nicht gesichert, dass ein Anwalt seiner Funktion im Rechtsstaat in
vollem Umfang nachkommen kann. Deshalb muss der
Rechtsstaat um seiner selbst willen die freie und ungehinderte Kommunikation zwischen Mandant und Anwalt
respektieren und garantieren. Genau das ist das Ziel des
Gesetzentwurfes, der heute in zweiter und dritter Lesung
verabschiedet werden soll.
({2})
Dieser Gesetzentwurf nimmt eine Korrektur früherer
Gesetzgebung vor. Nach dem durch den Gesetzentwurf
geänderten § 160 a der Strafprozessordnung sollen alle
Rechtsanwälte und nicht allein Strafverteidiger vor Ermittlungsmaßnahmen des Staates geschützt sein, soweit
es um Erkenntnisse geht, hinsichtlich derer sie das ZeugBundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
nis verweigern dürfen. Damit kein Missverständnis entsteht: Wenn es um den konkreten Verdacht geht, dass der
Anwalt selbst eine Straftat begangen hat - das ist nicht der
Bereich, den wir mit dem geänderten Gesetz regeln -,
dann kann natürlich ermittelt werden.
Mit dieser Änderung schaffen wir wieder eine gute
Balance zwischen den Rechten von Anwälten, die verteidigen und beraten, auf der einen Seite und der Effektivität der Strafrechtspflege auf der anderen Seite.
({3})
Die Arbeit von Justiz und Polizei wird durch diese maßvolle Erweiterung des absoluten Schutzes vor Ermittlungsmaßnahmen wirklich nicht nennenswert beeinträchtigt. Dies haben die Sachverständigen sowie die
Länder und Verbände bestätigt.
Wichtig ist, dass wir mit diesem Schritt die bisherige
künstliche Aufspaltung zwischen Strafverteidigern und
anderen Anwälten beenden. Diese Abgrenzung lässt sich
in der Realität sowieso nicht punktgenau treffen. Gerade
bei komplexen Beratungsmandaten bestehen häufig enge
Verflechtungen zu strafrechtlichen Fragen.
Der Übergang von beratender zu verteidigender Tätigkeit ist oft fließend. Künftig gilt daher, bezogen auf
alle Anwälte, ein absolutes Verbot der Erhebung und
Verwertung von Informationen. Gegen Anwälte dürfen
sich deshalb keine strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen mehr richten, wenn damit Informationen erfasst
würden, die vom Zeugnisverweigerungsrecht des Anwalts umfasst wären. Schutz vor Durchsuchungen oder
Beschlagnahmen in Kanzleien gibt es bereits. Aber wir
müssen sicherstellen, dass Telefone oder die E-MailKommunikation nicht überwacht werden. Wir tragen damit natürlich auch dem Wandel Rechnung, der das anwaltliche Berufsbild betrifft; denn zum einen wird elektronische Kommunikation immer wichtiger, zum
anderen gibt es immer mehr Sozietäten, in denen Strafverteidiger mit Anwälten anderer Fachrichtungen zusammenarbeiten. Auch dieser Realität wird mit der Gesetzesänderung Rechnung getragen.
Wir setzen mit diesem Gesetzentwurf ein wichtiges
Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um. Ich bin froh,
dass die Beratungen gezeigt haben, dass es dafür innerhalb und außerhalb des Parlaments eine breite Unterstützung gibt. Ich verstehe das nicht nur als ein gutes Zeichen, sondern auch als Rückenwind für die
Bemühungen, weiterzuarbeiten. Im Koalitionsvertrag
war nur ein Prüfungsauftrag vorgesehen, um zu sehen,
wie man weitergehen kann. Dazu gibt es die Anträge
von Bündnis 90/Die Grünen, über die beraten wird und
die natürlich die Sympathien der FDP haben.
({4})
Lieber Herr Montag, wir sind froh, dass wir bei diesem
Vorhaben den richtigen Schritt gehen, auf den wir uns in
der Koalitionsvereinbarung verständigt haben. Es ist
eine Korrektur. Für die gab es auch damals eine Mehrheit. Es ist gut, dass wir uns in dieser sachlichen Atmosphäre damit befassen. Natürlich prüfen wir weiter auch
im Hinblick darauf, wie die Auswirkungen der dann geltenden Regelung auf andere beratende Berufe sind. Ich
hoffe, dass wir in dieser Legislaturperiode einen weiteren Schritt gehen können.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Dr. Peter Danckert hat seine Rede zu
Protokoll gegeben, weil er im Haushaltsausschuss ist.1)
Ich gebe das Wort dem Kollegen Patrick Sensburg für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ich kann der Justizministerin nur
zustimmen: Es ist gut, dass wir mit der Neuregelung des
§ 160 a eine Regelung gefunden haben, die einen erweiterten Schutz des Vertrauensverhältnisses von Rechtsanwälten zu ihren Mandanten gewährleistet, und wir damit
eine Regelungslücke schließen, die im Kern nicht zu
rechtfertigen war. Das betrifft die Fälle, in denen es einen Übergang vom Anwaltsmandat zum Strafverteidigermandat gibt. Es ist gerade aus Sicht der Mandanten
nicht nachvollziehbar, wann der Zeitpunkt eintritt, ab
dem das Anwaltsmandat zum Strafverteidigermandat
wird. Daher ist es eine richtige Entscheidung gewesen,
Klarheit zu schaffen, den absoluten Schutz einzuführen
und damit insbesondere für den Mandanten sicherzustellen, dass das Vertrauensverhältnis umfänglich geschützt
ist.
({0})
Man muss nämlich wissen, dass § 160 a ein gestuftes
Schutzverhältnis vorsieht. Es gibt einen absoluten
Schutz und einen relativen Schutz. Alle Berufsgeheimnisträger genießen bereits den relativen Schutz des
§ 160 a Abs. 2. Es fällt also niemand durch das Raster.
Es gibt bestimmte Bereiche mit einem absoluten Schutz.
Es war folgerichtig, keine Trennung zwischen Verteidigermandat und Anwaltsmandat zu schaffen. Das hat die
christlich-liberale Koalition richtig entschieden. Ich
freue mich, dass über die Fraktionsgrenzen hinweg darüber Konsens herrscht, den Schritt gemeinsam zu gehen, und ich freue mich über das Signal der anderen
Fraktionen.
({1})
Was mich nicht gefreut hat, war das Verfahren. Das
muss ich ganz ehrlich sagen.
({2})
1) Anlage 5
- Warten Sie ab, es kommt noch etwas. Herr Kollege
Montag, wir wollen einmal sehen, ob auch Sie gleich
klatschen. Wir haben im Ausschuss ein erweitertes Berichterstattergespräch organisiert und auch vorbereitet.
Schauen wir uns einmal den Zeitablauf an.
Am 30. September fand die erste Lesung im Plenum
statt. Am 6. Oktober haben wir im Rechtsausschuss beraten. Am 18. Oktober wurden dann alle Berichterstatter
unterrichtet. Im Vorfeld habe ich bereits den einen oder
anderen Berichterstatter bezüglich des erweiterten Berichterstattungsgesprächs angesprochen. Erst am 26. Oktober, also mit ausreichend Vorlauf, erfolgte dann das erweiterte Berichterstattergespräch, an dem leider nicht
alle Fraktionen teilgenommen haben.
({3})
Ganz im Gegenteil: Es wurde gesagt, die Vorbereitungszeit sei zu kurz gewesen - und das bei einem Thema, das
schon in der letzten Wahlperiode zu Diskussionen geführt hatte und auch jetzt breit diskutiert worden war.
Aber diese Vorbereitungszeit reichte anscheinend einigen Fraktionen nicht, und es wurden dementsprechend
Anträge gestellt, das erweiterte Berichterstattergespräch
zu diesem Thema abzusetzen.
Ich kann nur sagen: In dieser Woche sind offensichtlich das Anträgestellen und der Formalismus etwas mit
Ihnen durchgegangen. Den Umweltausschuss torpedierten Sie in dieser Woche mit Geschäftsordnungsanträgen
und 21 Änderungsanträgen, und bei diesem Thema versuchten Sie es dann auch.
({4})
Ich glaube, das war nicht das richtige Verfahren. Wir
sollten bei einem solchen Thema doch eine gemeinsame
Entscheidung in der Sache treffen können. Das war nicht
besonders kooperativ, muss ich sagen.
({5})
Herr Kollege Montag, obwohl ich Sie sehr schätze,
muss ich sagen: Inhaltlich ist Ihr Antrag mager. Ich
glaube, Sie haben den Unterschied zwischen präventiven
und repressiven Rechten nicht erkannt.
({6})
Ihnen geht es um präventive Rechte, nämlich um die
§§ 20 a ff., um die präventive Abwehr von Gefahren gegen den internationalen Terrorismus, nicht um Repression.
({7})
Mir scheint, dass Sie hier Prävention mit Repression
gleichsetzen wollen. Bei der Prävention haben Sie mehr
Rechte, und diese Rechte haben wir auch in § 20 u des
Bundeskriminalamtgesetzes statuiert. In der Prävention
kann ich ganz anders vorgehen.
({8})
Wenn ich solche Beispiele wie jetzt aktuell die Briefbomben diskutiere, so geht es darum, Gefahren für Bürger möglichst effektiv und schnell abzuwehren. Dabei
muss ich anders vorgehen, als wenn ich im Nachhinein
ermittle. Das müsste Ihnen bekannt sein.
Nun hat jemand gefragt: Warum eigentlich? Ich
denke, wir haben heute nicht die Zeit, das ausgiebig zu
diskutieren.
({9})
Dann führen Sie auch noch § 23 a des Zollfahndungsdienstgesetzes ein, in dem es um Militärwaffen, Kriegswaffen bis hin zu Flugkörpern für Atomwaffen geht.
Wenn Sie diese Gefahren auch noch herausnehmen wollen, dann frage ich mich schon: Haben Sie den Unterschied nicht verstanden?
Der Rechtsausschuss hat Ihren Antrag zu Recht abgelehnt. Schauen Sie einmal in § 161 Abs. 2 der StPO.
Dann wird Ihnen diese Unterscheidung ganz deutlich,
und Sie erkennen, dass die Maßnahmen, die präventiv
stattgefunden haben, gar nicht ohne Weiteres repressiv
eingebracht werden können. Da wird ja hinterher die
Unterscheidung zum Schutz des Beschuldigten getroffen. Dieses fein austarierte System scheint Ihnen egal zu
sein. Das wiederum scheint mir einer gewissen Richtung
verhaftet zu sein.
Wir schaffen ein System, fein austariert zwischen präventiven und repressiven Rechten. Damit stärken wir das
Vertrauensverhältnis zu Anwälten. Aber wir sehen
gleichzeitig die Aufgabe des Staates, Gefahren effektiv
zu bekämpfen. Das ist uns mindestens genauso wichtig.
({10})
Auch die Ausdehnung auf sonstige Berufsgruppen ist
falsch.
({11})
- Ich erkläre es Ihnen ja gerade. ({12})
Die Ausdehnung auf Ärzte und Journalisten ist abzulehnen. Das hat das Expertengespräch, das erweiterte Berichterstattergespräch, gezeigt. Beide Berichterstatter haben gesagt: Das Ausdehnen über Berufsgruppen, die vor
Gericht auftreten, hinaus ist nicht angezeigt. Ich habe
schon am 30. September das Verfassungsgericht zitiert.
Ich zitiere es noch einmal; denn dies ist eine ganz entDr. Patrick Sensburg
scheidende Passage. Auch das Bundesverfassungsgericht hat gesagt:
Der Gesetzgeber ist weder gehalten noch steht es
ihm frei, der Presse- und Rundfunkfreiheit absoluten Vorrang vor anderen wichtigen Gemeinschaftsgütern einzuräumen. Er hat insbesondere auch den
Erfordernissen der Rechtspflege Rechnung zu tragen.
Man kann also nicht einfach sagen: Da wollen wir einen absoluten Schutz haben. Wir haben den relativen
Schutz, und das ist genau das, was uns das Bundesverfassungsgericht vorgibt.
Zur Frage der Steuerberater kann ich nur sagen: Hier
unterstütze ich das, was die Bundesjustizministerin gesagt hat. Wir müssen uns fragen, ob wir weitere Berufsgruppen mit einbeziehen. Das werden wir untersuchen;
denn auch für Steuerberater gibt es die Möglichkeit, dass
sie strafverteidigend vor Gericht auftreten. Dann lassen
Sie uns doch einmal schauen, ob es in den nächsten Jahren wirklich Anwendungsfälle auch bei Steuerberatern
gibt. Derzeit ist mir kein einziger Fall bekannt. Von daher würde ich mich schon fragen: Warum sollen wir die
Steuerberater einbeziehen?
Lassen Sie uns das untersuchen, lassen Sie uns
schauen, ob es Anwendungsfälle auch für Steuerberater
gibt, und dann können wir darüber diskutieren, ob es
notwendig ist, den absoluten Schutz auch auf die Steuerberater auszudehnen, die strafverteidigend tätig sein
können. Wenn es aber keine Anwendungsfälle gibt, dann
müssen wir anerkennen, dass der Schutz des Staates für
seine Bürger und damit das Strafverfolgungsinteresse
vorgehen.
Unsere Rechtspolitik orientiert sich an der Praxis.
Deswegen ist es folgerichtig, diesen Entwurf heute zur
zweiten und dritten Lesung vorzulegen. Ich würde mich
freuen, wenn Sie diesen Entwurf heute mit uns beschließen könnten. Ich glaube, er ist ausgewogen, was die
Schutzrechte und das Strafverfolgungsinteresse des
Staates angeht, aber auch was das Vertrauensverhältnis
angeht, das wir zwischen Mandant und Anwalt brauchen.
Ich danke Ihnen.
({13})
Halina Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Frau Justizministerin, der Entwurf geht in die
richtige Richtung; er greift aber zu kurz. Die Linke wird
sich enthalten, Ihnen aber den Rücken stärken, wenn Sie
die Union davon überzeugen wollen, dass der Koalitionsvertrag umgesetzt werden soll.
({0})
Herr Sensburg, Sie haben das Verfahren angesprochen.
Ich war bei dem Berichterstattergespräch. Sie haben aber
leider vergessen, zu erwähnen, dass Sie eigentlich vorhatten, unmittelbar nach dem Berichterstattergespräch im
Rechtsausschuss darüber zu entscheiden, also binnen
24 Stunden. Vielleicht bekommen Sie das mit mehreren
Hundert Abgeordneten hin; für kleinere Fraktionen ist
das eher etwas, was man auch unter den Begriff „Mobbing“ fassen könnte.
({1})
Im Berichterstattergespräch, bei dem ich, wie gesagt,
war, ist nicht einleuchtend erklärt worden, zumindest für
mich nicht, weshalb in der vorgesehenen Fassung des
§ 160 a StPO nicht alle in § 53 StPO genannten Gruppen
in den Anwendungsbereich einbezogen werden.
Die Unterteilung in absolute und relative Verbote von
Ermittlungsmaßnahmen ist nicht nachvollziehbar.
Wir begrüßen die Erweiterung auf Rechtsanwälte,
aber wir finden, dass auch andere Vertrauensverhältnisse
schützenswert sind. Jetzt gilt das absolute Verbot für
Geistliche, Rechtsanwälte, Verteidiger und Abgeordnete.
({2})
Das ist eine Unterteilung in Berufsgeheimnisträger erster
und zweiter Klasse. Den Unterschied zwischen erster
und zweiter Klasse können Sie nicht erklären.
({3})
Nennen Sie mir nur einen Grund dafür, dass beispielsweise Geistliche und Abgeordnete unter den absoluten
Schutz fallen, aber Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeutinnen und Therapeuten nicht. Im Rahmen einer pluralistischen Gesellschaft, in der Menschen wie ich vielleicht eher zu einem Therapeuten als zu einem
Seelsorger gehen, ist dies nicht nachvollziehbar.
({4})
Wieso erfassen Sie Journalistinnen und Journalisten
nicht? Ein absoluter Vertrauensschutz dient der Gewährleistung der in einer freien Gesellschaft notwendigen kritischen, mutigen und aufklärerischen Berichterstattung.
Dieser Schutz ist durch das relative Verbot nicht gegeben.
§ 53 StPO dient dem Schutz des Vertrauensverhältnisses. Das meint eine angstfreie Inanspruchnahme von Rat
und Hilfe bei bestimmten Berufsgruppen durch diejenigen, die sich an diese Berufsgruppen wenden. Die Norm
folgt der Erkenntnis, dass bestimmte Berufsgruppen in
einem besonders sensiblen Bereich agieren. Deshalb
wäre es logisch, den § 160 a StPO spiegelbildlich zum
Zeugnisverweigerungsrecht auszugestalten. Wie soll
Ärztinnen und Ärzten gegenüber, Therapeutinnen und
Therapeuten gegenüber, Journalistinnen und Journalisten gegenüber Vertrauen aufgebaut werden, wenn die
Gefahr besteht, dass Ermittlungsmaßnahmen stattfinden?
({5})
Wie soll ich mich auf das Zeugnisverweigerungsrecht
verlassen, wenn die Gefahr besteht, dass Ermittlungsmaßnahmen stattfinden?
({6})
- Zum Anfangsverdacht komme ich noch.
Ist durch das relative Verbot nicht die Gefahr gegeben, dass Zeugnisverweigerungsrechte umgangen werden? Solange eine Abwägung möglich ist, besteht die
Gefahr, dass erst einmal alles ermittelt wird, um die gewünschten Informationen zu bekommen. Ein Rechtsstaat ist aber auf Freiräume angewiesen, in denen Betroffene und Berufsgeheimnisträger völlig frei miteinander
reden können.
Kommen wir zu einem letzten Kritikpunkt. Der
§ 160 a Abs. 4 StPO bleibt so, wie er ist, bestehen. Darin
heißt es, dass der Schutz, auch der absolute Schutz, nicht
gilt, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass eine Beteiligung der Betroffenen vorliegt. Ich
finde, wir sollten hier noch einmal intensiv darüber
nachdenken, ob es nicht angebrachter ist, zu schreiben,
dass es eines dringenden Tatverdachtes bedarf, und nicht
einfach eines Verdachtes.
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und
Herren, der Entschließungsantrag der Linken berücksichtigt all diese Kritikpunkte. Deswegen kann zumindest auch die FDP diesem Antrag zustimmen.
({7})
Jerzy Montag hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der vorgelegte Gesetzentwurf regelt die entsprechende
Materie richtig. Es ist überhaupt keine Frage: Das ist etwas, was wir schon seit Jahren wollen. Deswegen werden wir dem Gesetzentwurf zustimmen.
({0})
Wir wollten aber schon immer mehr. Wir wollen es
auch heute. Ich werde auch begründen, warum. Aber bevor ich dazu komme, will ich an etwas erinnern: Es ist
keine zwei Jahre her - es war am 21. Januar 2009 -, da
wurde hier in diesem Hause über einen Antrag der FDP
diskutiert. Darin beantragte die FDP den Schutz der
Rechtsanwälte, aber auch der Ärzte und noch weiterer
Berufsgeheimnisträger. Herr Sensburg, da waren Sie
noch nicht dabei. Deswegen ist es wichtig, dass man Ihnen vorliest, was Ihr Kollege Kauder zu diesem Antrag
der FDP bezüglich der Materie „Einbeziehung der
Rechtsanwälte“ sagte - ich zitiere -:
({1})
Journalisten stehen nicht Abgeordneten gleich,
Ärzte stehen nicht Geistlichen gleich, und zivilrechtlich tätige Anwälte stehen nicht dem Strafverteidiger gleich.
Vor zwei Jahren also hat die CDU/CSU etwas abgelehnt, was sie jetzt für vernünftig und richtig hält.
({2})
- Ja, bezüglich der Rechtsanwälte.- Sie stellen sich heute
hin und sagen, es sei vorzüglich, was nun gemacht
werde. Das habe man schon immer so gewollt. Es ist
keine zwei Jahre her, da wollten Sie das Gegenteil. Das
trifft im Übrigen auch auf die SPD zu. Da hat ihr damaliger rechtspolitischer Sprecher Stünker gesprochen.
({3})
Ich erspare mir, das entsprechende Zitat zu verlesen. Ich
habe es allerdings dabei. Auch die SPD war damals dagegen.
({4})
Sie wechseln also Ihre Positionen zu dem Thema nach
der jeweiligen Koalitionssituation, in der Sie sich befinden.
({5})
Sie verhalten sich in dieser Debatte nicht kohärent, Sie
bleiben nicht kohärent bei Ihren Argumenten und haben
damit auch nicht die richtigen.
({6})
Zu der Frage, meine Damen und Herren, warum es
richtig ist, alle Berufsgeheimnisträger gleichzustellen.
Die Polizei ermittelt im Grundsatz in einem offenen Ermittlungsverfahren. Wir haben zum Glück immer noch
die Situation, dass geheime Ermittlungstätigkeiten die
Ausnahme sind. Wenn die Ermittlungsbehörden bei ihrer
offenen generellen Ermittlungstätigkeit an die Berufsgeheimnisträger herantreten und sie fragen, haben alle
diese ein absolutes Recht, die Aussage über die Angelegenheiten zu verweigern, von denen sie in Ausübung ihres Berufes Kenntnis erhalten haben.
Jetzt will die Polizei Kenntnis über das, was sie wissen will - das ist ja berechtigt -, durch Beschlagnahme
erlangen. Wenn sie eine Beschlagnahme durchführt, darf
sie aber all das, was sie nicht erfragen kann, auch nicht
beschlagnahmen - § 97 StPO. Nun sagt sich die Polizei:
Beschlagnahmen kann ich es auch nicht, dann installiere
ich eben ein paar Wanzen. Wie steht es um die Abhörung
des gesprochenen Wortes auf diese Weise? Auch in diesem Fall sind alle Berufsgeheimnisträger gleichgestellt.
Die Polizei kommt immer noch nicht weiter.
Nun beschließt sie, das Telefon abzuhören. In diesem
Fall, sagen Sie, meine Damen und Herren, soll es Unterschiede geben. Das ist von der Systematik des Rechts
her nicht nachzuvollziehen.
({7})
Es gibt keinen qualitativen Unterschied - es handelt sich
lediglich um eine andere Materie - zwischen dem Vertrauensverhältnis des Rechtsanwalts zu seinem Mandanten und dem Vertrauensverhältnis, das ein Arzt zu seinem Patienten hat. Sie, Herr Sensburg, können auch
einmal Patient werden. Stellen Sie sich einmal vor, was
es bedeutet, wenn Ihr Arzt über Ihre Angelegenheiten
kein absolutes Aussageverweigerungsrecht mehr hat.
Deswegen sage ich Ihnen: Der Antrag ist richtig, den wir
als Grüne gestellt haben. Wir werden diesen Antrag hier
im Hause auch wieder und wieder stellen und schauen,
inwieweit Sie sich belehren lassen. Heute jedenfalls werden wir die Rechtsanwälte den Strafverteidigern gleichstellen.
Danke schön.
({8})
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu
Rechtsanwälten im Strafprozessrecht. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/3693, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2637 anzunehmen.
Es gibt einen Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/3705? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag
ist abgelehnt. Dafür haben die einbringende Fraktion
und Die Linke gestimmt, die SPD-Fraktion hat sich enthalten, dagegen haben CDU/CSU und FDP gestimmt.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf
bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Die Fraktion Die
Linke hat sich enthalten.
Ich komme zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit demselben Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Wir kommen nunmehr zum Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3706. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Damit ist der Entschließungsantrag bei
Zustimmung durch die einbringende Fraktion abgelehnt.
Dagegen haben die Koalitionsfraktionen gestimmt; SPD
und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christine Lambrecht, Olaf Scholz, Bärbel Bas,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch von
Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen
- Drucksache 17/3646 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre und sehe ich keinen Widerspruch.
Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir bringen heute einen Gesetzentwurf zu einem Thema
ein, das - dessen bin ich mir sicher - uns alle berührt.
Wir alle machen uns darüber Gedanken, wie wir mit diesem Thema sinnvoll und vor allen Dingen im Interesse
der Opfer umgehen können. Als zahlreiche Missbrauchsfälle aus den letzten Jahrzehnten, aber auch bis
in die heutige Zeit hinein insbesondere sowohl in konfessionellen als auch in nichtkonfessionellen Einrichtungen zu Anfang dieses Jahres bekannt wurden, ist ein
Tabu gebrochen, und das ist auch gut so.
Ich möchte an dieser Stelle nicht darüber reden, was
in den Institutionen falsch gemacht wurde und was man
hätte anders machen können, weil wir alle wissen, dass
es nicht nur um Institutionen geht. Tatort für sexuellen
Missbrauch können auch die Familie und das nähere
Umfeld sein. Heute geht es eher darum - dies ist in
rechtspolitischen Debatten nicht immer so -, dass wir
uns fragen, wie wir dem Opfer helfen können. Meistens
beschäftigen wir uns eher damit, was wir mit den Tätern
machen. Heute sollten wir uns damit beschäftigen, wie
wir dafür sorgen können, dass den Opfern solcher Fälle
Gerechtigkeit widerfährt.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der SPDFraktion haben wir uns lange über diese Probleme unterhalten und uns überlegt, was man denn tun könne. Es
gibt nicht allzu viele Möglichkeiten. In all den Diskussionen sind wir aber auf ein Problem gestoßen, das sich
ständig wiederholt: die Frage der Verjährungsfristen. Sie
machen es vielen Opfern unmöglich, die Täter juristisch
zur Rechenschaft zu ziehen, weil die Taten eben oft Jahrzehnte zurückliegen. Die Gründe dafür sind vielfältig:
Die Opfer sind traumatisiert und haben das Geschehene
verdrängt. Sie leiden Jahrzehnte physisch und psychisch
und wissen zum Teil überhaupt nicht, warum. Zum Teil
bringen erst Therapien das, was in der Kindheit passiert
ist, wieder in das Bewusstsein zurück. Dieser Schock
muss meistens mit professioneller Hilfe verarbeitet werden. Andere schweigen jahrzehntelang, weil sie sich
schämen, die Folgen fürchten oder die Erfahrung gemacht haben, dass ihnen ohnehin niemand glaubt.
Wenn dann das Schweigen gebrochen ist, ist es ein erneuter Schock für jedes Opfer, erfahren zu müssen, dass
der Täter in keiner Weise mehr zur Rechenschaft gezogen werden kann, weil die Tat verjährt ist. Die Verjährung hat in unserem Rechtssystem die Funktion, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden herzustellen; das ist richtig.
Aber in diesen Fällen und Konstellationen schafft sie nur
noch Rechtssicherheit und Frieden für einen, nämlich für
den Täter. Ich glaube, wir können das nicht länger hinnehmen.
Ich möchte Ihnen zwei Fälle darstellen, die sehr deutlich machen, dass wir entsprechend handeln müssen.
Der erste Fall betrifft einen Mann, der heute 41 Jahre alt
ist, verheiratet ist und ein Kind hat. Im Alter von 37 Jahren
wurde er regelmäßig von Albträumen geplagt. Diese haben zu Schreianfällen, Angstzuständen und Herzrasen
geführt. Ärztliche Untersuchungen haben kein Ergebnis
erbracht. Körperlich war alles in Ordnung. Erst eine
Hypnosebehandlung hat zutage gefördert, was der eigentliche Grund für seine Albträume ist: Er wurde als
Kind jahrelang von seinem Vater sexuell missbraucht. In
einer Therapie arbeitet er jetzt das Geschehene auf. Es
war völlig belanglos, ob er gegen den Vater juristisch
vorgehen wollte oder nicht; denn nach der jetzigen
Rechtslage ist ihm jede Möglichkeit dazu verwehrt.
Der zweite Fall betrifft eine damals 36-jährige Frau,
die ebenfalls regelmäßig von ihrem Vater missbraucht
wurde und eine Schwangerschaft vertuschen musste.
Nach einer langen Zeit der Auseinandersetzung mit sich
selbst und Therapien hat sie sich 2007 doch dazu entschieden, ihren Vater anzuzeigen. Aber es war nach der
geltenden Rechtslage zu spät.
Die Opferverbände haben in den Diskussionen, die
wir in den verschiedensten Konstellationen - beispielsweise an einem runden Tisch - geführt haben, gefordert,
dass die Verjährungsfristen verlängert werden sollten.
Wir müssen uns die momentan geltenden Verjährungsfristen einmal genauer anschauen. Im Falle von
Vergewaltigungen und sexueller Nötigung betragen sie
derzeit 20 Jahre. Dagegen verjährt der sexuelle Missbrauch von Kindern bereits nach 10 Jahren und der sexuelle Missbrauch von minderjährigen Schutzbefohlenen
verjährt sogar schon nach 5 Jahren. Zwar ruht im Strafrecht die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres - damit soll zu Recht dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Entschluss zur Anzeige solcher
Straftaten erst nach dem Ende der altersbedingten und
familiären Abhängigkeit gefasst werden kann -, aber die
konkreten Einzelfälle, die ich Ihnen beschrieben habe,
können auch mit dieser Regelung nicht mehr erfasst werden. Es gibt dann keine Möglichkeit mehr zur rechtlichen Verfolgung.
Zivilrechtliche Ansprüche von Opfern sexuellen
Missbrauchs auf Schadensersatz und Schmerzensgeld
verjähren regelmäßig nach nur 3 Jahren. Die Verjährungsfrist beginnt bei Sexualdelikten zwar mit Vollendung des 21. Lebensjahres. Aber das kann zur Folge haben, dass es im Alter von 24 Jahren keine Möglichkeit
mehr gibt, Ansprüche geltend zu machen.
Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, wollen wir die strafrechtliche Verjährungsfrist bei sexuellem
Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen auf 20 Jahre erhöhen. Die zivilrechtliche Verjährungsfrist soll auf 30 Jahre angehoben werden. Es
geht nicht um die Erhöhung des Strafmaßes, sondern um
die Möglichkeit, Ansprüche länger geltend zu machen.
Ich weiß, dass die Frau Ministerin - sie ist nicht anwesend; Herr Stadler, Sie werden diese Punkte sicherlich
an sie weiterleiten - Bedenken gegen diesen Gesetzentwurf hat. Diese Bedenken hat sie in einer Zeitschrift ausgeführt. Ich weiß auch, dass die Beweisführung nach einer solch langen Zeit ein Problem sein wird. Aber dieses
Problem gibt es auch schon heute, wenn es sich um eine
Vergewaltigung handelt, für die eine 20-jährige Verjährungsfrist gilt. Wir sehen an einem ganz aktuellen Fall,
dass die Beweislage selbst dann sehr schwierig sein
kann, wenn die Vorgänge noch nicht allzu lange zurückliegen. Es ist eine Frage, die im Einzelfall von einem
Gericht geklärt werden muss.
Es geht darum, den Opfern die Möglichkeit zu eröffnen, sich für eine Strafverfolgung zu entscheiden. Ich
weiß, die Frau Ministerin hält das zeitnahe Nachgehen
von Missbrauchsvorwürfen für die sinnvollere Möglichkeit. Ich sage Ihnen: Wir sollten das eine tun, ohne das
andere zu lassen. Selbstverständlich ist es wichtig und
sinnvoll, zeitnah auf Missbrauchsvorwürfe zu reagieren.
Wir sollten aber für all die Menschen, die sich im Zuge
der Debatte, die in den letzten Monaten stattgefunden
hat, endlich getraut haben, sich zu outen, ein Signal setzen. Schauen Sie sich einmal die Aufzeichnungen von
Frau Bergmann dazu an, wie viele sich jetzt geoutet haben, wie viele im Zuge dieser Welle das Gefühl hatten:
Ich bin kein Einzelfall; ich bin nicht schuld; anderen
ging es genauso. Wir sollten diesen Menschen zeigen,
dass wir bereit sind, ihnen die Möglichkeit zu eröffnen,
ihre Ansprüche geltend zu machen.
({1})
Ich kann Sie nur auffordern, in dieser Frage nicht dem
Parteiengezänk zu verfallen; ich möchte hier nicht von
juristischem Fundamentalismus sprechen. Lassen Sie
uns wirklich darüber nachdenken, wie wir diesen Menschen sinnvollerweise helfen können. Wir haben dazu einen Vorschlag unterbreitet. Ich finde, wir sollten die anstehende Diskussion dafür nutzen, unser aller Anliegen,
Opfern von sexuellem Missbrauch unterstützend zur
Seite zu stehen, gerecht zu werden.
Ich danke Ihnen und freue mich auf angeregte Diskussionen im Rechtsausschuss.
({2})
Ansgar Heveling hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Keine Frage: Die SPD-Fraktion hat mit ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch von
Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen ein ernstes
Thema aufgegriffen. Ohne Zweifel: Wir sollten eine ernsthafte Debatte darüber führen; denn das Anliegen ist insbesondere aus dem Blickwinkel der Opfer zu wichtig, als
dass wir es für parteipolitische Spielchen nutzen sollten.
Da gebe ich Ihnen, Frau Kollegin Lambrecht, vollkommen recht. Ich habe das Gefühl, dass Ihnen der Gesetzentwurf ein ernsthaftes Anliegen ist.
Ich stelle mir allerdings - bevor ich zur Sache komme trotzdem die Frage, ob der heutige Tag der richtige Zeitpunkt für die Einbringung des Gesetzentwurfs und für
die ohne Zweifel notwendige Debatte ist. Der Gesetzentwurf befasst sich mit einem Problemkreis, der auch zentraler Gegenstand der Diskussionen des runden Tisches
„Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und
Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ ist. Seit Ende April
befasst sich der runde Tisch mit sämtlichen Facetten des
Problemkreises des sexuellen Missbrauchs. Er ist aufgefordert, Handlungsoptionen für Regierung und Politik zu
erarbeiten. Die Fragen der zivil- und strafrechtlichen
Verjährung spielen dabei eine zentrale Rolle. Von allen
Beteiligten des runden Tisches und auch von der Politik
wurde von Beginn an betont, dass es wichtig sei, die Betroffenen ins Zentrum zu rücken. Auch Sie von der SPDFraktion haben in einem Positionspapier darauf hingewiesen - ich darf zitieren -:
Die Arbeit des runden Tisches wird nur erfolgreich
sein können, wenn vor allem auch die Betroffenen
sexueller Gewalt am runden Tisch umfassend Gehör finden.
Das ist absolut richtig; das war und ist das Ziel des runden Tisches. Es ist auch ein wesentlicher Teil der Aufgaben der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung
des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Wenn es aber darauf ankommt, den Betroffenen am
runden Tisch umfassend Gehör zu verschaffen und sie
ins Zentrum zu rücken, dann sollten wir das aus meiner
Sicht insofern respektieren, dass wir den runden Tisch
erst einmal in Ruhe zu Ende arbeiten lassen, bevor wir
hier im Deutschen Bundestag anfangen, aus dem Gesamtkontext herausgelöst über Einzelthemen zu debattieren. Ich meine, das hätte der Respekt vor dem runden
Tisch durchaus geboten.
Soweit es mir bekannt ist, ist die nächste Sitzung des
runden Tisches für den 1. Dezember angesetzt. In dieser
Sitzung soll ein Zwischenbericht an die Bundesregierung verabschiedet werden. Ich bin mir sicher, dass ein
Zuwarten von einigen Tagen dem nachvollziehbaren Anliegen der SPD nicht geschadet hätte.
({0})
Das hätte schon deswegen nicht geschadet, weil wir,
so glaube ich, in allen Fraktionen anerkennen, dass wir
über den strafrechtlichen und strafgesetzlichen Umgang
mit sexuellem Missbrauch ebenso reden müssen wie
über die zivilrechtlichen, insbesondere die schadensersatzrechtlichen Fragen. Die schrecklichen Vorkommnisse, die landauf, landab Ende des vergangenen Jahres
und zu Beginn dieses Jahres bekannt geworden sind, machen es erforderlich, den Dreizehnten Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs, die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, aus einem neuen
Blickwinkel zu betrachten. Der sexuelle Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen ist zwar schon
lange Gegenstand der strafrechtlichen Schutznorm - das
steht außer Frage -, die Dimension langjährig unentdeckter Straftaten hat den Rahmen des für uns Vorstellbaren indes gesprengt. Das zeigt, dass Handlungsbedarf
besteht.
Bei aller Handlungsnotwendigkeit sollten wir aber eines bedenken: Das Strafgesetzbuch ist ein vielfältig ineinandergreifendes Räderwerk von aufeinander abgestimmten Normen, dessen gesellschaftliche Akzeptanz
nicht zuletzt wesentlich darauf beruht, dass jedermann
seine Systematik durchschauen kann, wenn er es denn
will. Das gilt nicht zuletzt für die Opfer. Auch sie müssen auf das System vertrauen können. Ständige Durchbrechungen systematischer Linien sind nicht hilfreich.
Das sollten wir bei der Diskussion zumindest bedenken.
Wir wollen schließlich nicht nur debattieren und irgendwelche Regelungen beschließen, sondern wir wollen Regelungen beschließen, die möglichst effektiv und nachvollziehbar sind.
Die Debatte heute kann verständlicherweise nur dazu
dienen, den gesamten Problemkomplex anzureißen und
aufzuzeigen, dass mit dem Gesetzentwurf mehr grundlegende Fragen verbunden sind, als der siebenseitige Gesetzentwurf und die fünf relativ kompakt erscheinenden
Artikel vermuten lassen.
Zu dem Gesetzentwurf im Einzelnen. Die Perspektive des Gesetzentwurfs ist grundsätzlich richtig. Der
strafrechtliche Umgang mit sexuellem Missbrauch von
Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen ist in
den vergangenen 15, 20 Jahren mehrfach Gegenstand
der rechtspolitischen Debatte gewesen, auch hier im
Deutschen Bundestag. Es hat dazu eine ganze Reihe Entscheidungen gegeben. Wenn man sich die Gesetzesbegründungen und Plenarprotokolle aus dieser Zeit anschaut, lässt sich feststellen, dass der Blickwinkel stets
auf die Tatumstände gerichtet war, bei denen von einer
familiären und sozialen Nähebeziehung zwischen Opfer
und Täter und daraus resultierenden Abhängigkeiten
ausgegangen wurde.
Institutionenbedingte Abhängigkeiten haben in der
Diskussion der vergangenen Jahre eher eine untergeordnete Rolle gespielt. Zum Beispiel bei der Neufassung
von § 78 b des Strafgesetzbuchs durch das 30. Strafrechtsänderungsgesetz im Jahr 1994 wurde als Begründung für das Ruhen der Verjährung bis zur Vollendung
des 18. Lebensjahres insbesondere darauf abgestellt,
dass - ich zitiere aus der Begründung - die Täter, die
überwiegend der Familie des Opfers oder dem Bekann7714
tenkreis der Familie angehören, die Opfer unter Druck
setzten und daher eine Verfolgung der Straftat erst ermöglicht werde, wenn sich das Opfer aus der Nähebeziehung in tatsächlicher Hinsicht herauslöse.
Angesichts der jetzt im Fokus stehenden Fälle, insbesondere in Schulen, müssen wir einsehen, dass die Taten
im familiären und sozialen Nahfeld sicherlich immer
noch die größte Gruppe ausmachen, die Fälle in Institutionen aber nicht aus dem Blick gelassen werden dürfen.
Auch hier wirken Abhängigkeits- und Machtverhältnisse, die von den Tätern ausgenutzt werden. Aber sie
wirken anders als im familiären und sozialen Nahfeld.
Wir müssen auch einsehen, dass sich unsere Erkenntnisse verändert haben. Sie haben sich dahin gehend weiterentwickelt, dass es nicht nur auf das Herauslösen des
Opfers aus der Nähebeziehung zwischen Täter und Opfer ankommt, sondern dass es oftmals so ist - Frau Kollegin Lambrecht, Sie haben zwei Fälle aufgezeigt; insofern ist die Grundannahme Ihres Gesetzentwurfs
vollkommen richtig -, dass die Opfer durch das Geschehen oftmals so schwer traumatisiert sind, dass sie erst im
fortgeschrittenen Erwachsenenalter in der Lage sind, ihr
Schweigen zu brechen. Insofern ist der Ausgangspunkt
des Gesetzentwurfs richtig; das erkennen wir an. Wir
müssen in der Tat überlegen, ob aus den neuen Erkenntnissen die Handlungsnotwendigkeit erwächst, neue
strafrechtliche Regelungen im Strafgesetzbuch zu treffen.
Wenn wir die Notwendigkeit sehen, im Strafgesetzbuch Änderungen vorzunehmen, sollten wir uns genau
überlegen, welche Lösung systematisch vorzugswürdig
ist. Sie schlagen die Einführung einer neuen, bisher nicht
bekannten Sonderverjährungsvorschrift für die Straftaten nach §§ 174 bis 174 c und § 176 Strafgesetzbuch vor.
Das ist ein denkbarer Lösungsansatz.
Aber wir müssen sehen: Durch eine Sonderverjährungsvorschrift wird die Systematik der Verjährungsvorschriften nach § 78 Abs. 3 Strafgesetzbuch durchbrochen. Das kann man durch eine Spezialvorschrift
sicherlich einmal tun. Das kann man auch zweimal tun.
Der Druck, es zu tun, wächst natürlich. Wenn man es
mehrmals tut und es zur x-ten Durchbrechung kommt,
wird es unsystematisch. Das sollte zumindest sehr wohl
abgewogen sein.
Wir sollten uns aber auch mit der Frage befassen, ob
es nicht andere Möglichkeiten gibt, dem Anliegen gerecht zu werden. Da ist aus meiner Sicht an die Rechtsfolgenseite und damit an den Strafrahmen zu denken.
Auch das ist keine neue Diskussion; diese Debatte ist
hier im Bundestag schon häufiger geführt worden. Das
Ganze hat schon bei den früheren Debatten um den Dreizehnten Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs eine Rolle gespielt, so bei der Diskussion über das
Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung
anderer Vorschriften im Jahr 2003. Auf diesen Gesetzentwurf nehmen Sie in Ihrem jetzigen Gesetzentwurf
ausdrücklich Bezug.
Keine Frage: Wenn wir in eine Debatte über den
Strafrahmen einsteigen sollten und damit in die Diskussion um die Aufstufung von Straftatbeständen zu Verbrechen, etwa beim § 176 Strafgesetzbuch, dann reden wir
über eine größere Dimension als bloß über die Neufassung von Verjährungsfristen. Systematisch ist es aber
vielleicht die bessere Stelle, darüber nachzudenken.
Denn bei der Diskussion über den Strafrahmen geht es
materiell um die Schuldbewertung und nicht um im Kern
prozessuale Regelungen wie bei den Verjährungsvorschriften.
Sollten wir bei der Diskussion um die Verlängerung
von Verjährungsfristen bleiben, dann müssen wir aber
auch abwägen und uns die Frage stellen: Wird den Opfern wirklich geholfen, wenn die Verjährung auf einen
langen Zeitraum verlängert wird? Es gehört zur Typik
der Tatumstände in besonderen Näheverhältnissen und
in den betroffenen Institutionen, dass Beweisschwierigkeiten auftreten können. Das mag nach der langen Zeit
die Beweisführung erschweren. Am Ende kann dann
zwar stehen, dass ein Verfahren eingeleitet wird, es aber
nicht mehr mit dem vom Opfer erhofften Abschluss, den
Täter seiner gerechten Strafe überantwortet zu sehen, endet. Hier müssen wir sehr genau hinschauen und überlegen.
Das heißt nicht von vornherein, dass der Weg nicht
trotz der Beweiserschwerung richtig sein mag. Möglicherweise geben uns hier die Ergebnisse des runden Tisches oder die Arbeit des Unabhängigen Beauftragten
hilfreiche Hinweise. Genauso ist es nicht auszuschließen, dass es den Opfern hilft, wenn sie sehen, dass sich
die Staatsanwaltschaft oder ein Gericht inhaltlich mit der
Sache befassen, dass es nicht aus formalen Gründen
scheitert und dass das Verfahren abgeschlossen wird.
({1})
Fazit: Der Gesetzentwurf der SPD greift ein wichtiges
Anliegen auf. Darüber sind wir uns einig. Wir müssen
über den strafrechtlichen Umgang mit sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen beraten. Aber das Diskussionsfeld ist aus unserer
Sicht weiter, als der vorliegende Gesetzentwurf es zeigt.
Vielen Dank.
({2})
Halina Wawzyniak hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der Gesetzentwurf der SPD zur Verlängerung
der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften
bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen ist gut gemeint. Wir tendieren
dazu, ihm zuzustimmen. Wir tun dies, weil wir die Situation von Opfern ernst nehmen. Wir tun dies, weil wir
insbesondere den Anspruch der Opfer auf zivilrechtliHalina Wawzyniak
chen Schadensersatz unterstützen wollen. Ich bin sehr
froh, dass im Gesetzentwurf deutlich formuliert wird,
dass den Opfern mit weiteren Straftatbeständen und einer Verschärfung von Strafandrohungen nicht geholfen
ist.
({0})
Tatsächlich - das zeigte auch die Debatte am runden
Tisch der Justizministerin, die Herr Heveling schon erwähnt hat - muss es im Interesse der Opfer um mehr gehen als um Verjährungsfristen und deren Verlängerung.
Bevor ich darauf zu sprechen komme, möchte ich
eine Bitte äußern: Lassen Sie uns in Zukunft nicht von
sexuellem Missbrauch an Kindern und Schutzbefohlenen sprechen, sondern von sexualisierter Gewalt.
({1})
Denn das Wort „Missbrauch“ impliziert immer, es gebe
auch einen „richtigen“ sexuellen Gebrauch an Kindern.
Wir stimmen dem vorliegenden Gesetzentwurf, zumindest in seiner Tendenz, zu, weil wir dieses Thema
dadurch so in die Öffentlichkeit bringen wollen, dass
eine angemessene öffentliche Diskussion stattfindet und
potenziellen Tätern weiter gehende, vor allem präventive Angebote unterbreitet werden können.
Aus unserer Sicht sind dabei zwei Richtungen zu unterscheiden:
Zum einen muss den Opfern geholfen werden. Aber
nachsorgende Opferhilfe hilft den Opfern nur bei der Bewältigung dieser traumatisierenden Erfahrungen. Sie
hilft nicht beim Schutz vor einer solchen Erfahrung.
Zum anderen muss man dafür sorgen, dass es gar
nicht erst zu einer solchen Straftat kommt. Wichtig ist
also präventive Opferhilfe. Diese erreicht man nur durch
präventive Täterhilfe. Wenn wir verhindern, dass Menschen zu Tätern werden, bewahren wir andere Menschen
davor, Opfer zu werden.
({2})
Es geht darum, dieses Thema aus sozialpsychologischer Sicht zu beleuchten und Vorschläge zur Prävention
zu entwickeln. Deshalb ist es gut, dass die Mittel für das
Projekt „Kein Täter werden“ von Professor Beier von
der Berliner Charité aufgestockt werden.
Ein Blick auf die Ursachen sexualisierter Gewalt
könnte für die Entwicklung von Therapieangeboten hilfreich sein. Zu 60 Prozent handelt es sich um sogenannte
Ersatzhandlungen nicht kernpädophiler Männer. 90 Prozent der Taten finden im familiären und bekannten Nahbereich statt. Und: Es sind alle sozialen Schichten betroffen.
Entgegen allgemein vorherrschenden Vorstellungen
ist der Täter eines sexualisierten Übergriffs nicht der
fremde Psychopath, der einem nachts im Park auflauert,
sondern - im Gegenteil - es handelt sich bei den Tätern
meist um Personen, die den Betroffenen bekannt oder
mit ihnen verwandt sind. Die Tat findet also häufig zu
Hause statt, wo sich die Betroffenen sicher fühlen. Diese
Tatsache verschlimmert häufig noch das Gefühl des
Ausgeliefertseins. Die vornehmliche Frage lautet also:
Wie können wir potenzielle Täter, im Regelfall Männer,
erreichen und motivieren, keine Übergriffe zu begehen?
Es geht darum, zu begreifen, was erwachsene Männer zu
Tätern werden lässt und wie wir darauf reagieren können.
Hier kann ein bewusster Blick auf unsere noch immer
patriarchal strukturierte Gesellschaft hilfreich sein, eine
Gesellschaft, in der immer noch männlich dominierte
Rollenbilder existieren und das Aufwachsen der Jungen
bestimmen. Auch antiquierte Rollenbilder fördern solche Taten. An dieser Stelle möchte ich auf die ausgezeichnete Studie von Professor Volker Linneweber aus
dem Jahr 1998 hinweisen, in der er unter anderem diese
Rollenbilder als tatfördernd bezeichnet hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Jungenarbeit muss gezielt ausgebaut werden. Der Bereich Männerforschung sollte gezielt gefördert werden, an Schulen, Kitas und Universitäten. All dies kostet Geld. Aber
dieses Geld sollten wir ausgeben, um einen wirklichen
Opferschutz zu erreichen.
({3})
Christian Ahrendt spricht für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir sind uns in einem Punkt einig: Der Missbrauch, dessen Ausmaß wir Anfang dieses Jahres zur
Kenntnis nehmen mussten, hat uns alle schockiert. Wir
haben festgestellt, dass dieses Thema in kirchlichen und
nichtkirchlichen Einrichtungen relevant ist. Wir haben
auch festgestellt, dass Missbrauch von Kindern überall,
in jeder gesellschaftlichen Gruppe, stattfinden kann. Wir
wissen, wie beklemmend diese Situation ist. Überall
dort, wo sich ein Kind eigentlich Geborgenheit und
Schutz erhofft, wird es in seiner Integrität zutiefst verletzt.
Die Bundesregierung hat klug reagiert. Sie hat einen
runden Tisch eingesetzt und alle gesellschaftlich relevanten Gruppen an der Diskussion beteiligt, wie man mit
diesem Thema umgeht, wie man sich den Problemen, die
mit diesem Thema verbunden sind, nähert und welche
Erkenntnisse wichtig sind, um die richtigen Schlüsse zu
ziehen.
An einer Stelle möchte ich Ihnen widersprechen. Ich
glaube, in Bezug auf die Frage, was zu tun ist, hat der
runde Tisch bereits viele Vorschläge erarbeitet. Hierzu
gehört - dies ist ein entscheidender Aspekt, um den Opfern einen Ausweg aus der Situation, in der sie gefangen
sind, zu ermöglichen -, Mehrfachvernehmungen von
Opfern, die sich getraut haben, eine Tat anzuzeigen, zu
vermeiden. Wenn Opfer sich zu einer Anzeige entschlossen haben, müssen sie zunächst einmal die dadurch auftretenden Probleme überwinden.
Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Olaf
Scholz zu?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege, ich habe ein paar kurze Fragen: Stimmen Sie mir zu, dass die Gesetze im Deutschen Bundestag gemacht werden? Stimmen Sie mir zu, dass es sich
bei dem runden Tisch um eine Regierungskommission
handelt? Stimmen Sie mir auch zu, dass ursprünglich gar
nicht geplant war, Vertreter des Deutschen Bundestages
hinzuzuziehen, und dass dies erst passiert ist, nachdem
die Justizministerin einem Vorschlag von mir in einer
Debatte in diesem Haus gefolgt ist?
Ich stimme Ihnen zu, dass die Gesetze im Deutschen
Bundestag gemacht werden.
({0})
Ich stimme Ihnen auch zu, dass der runde Tisch eine
sinnvolle Einrichtung ist. Selbstverständlich hat die Justizministerin, die den runden Tisch als Erste ins Gespräch gebracht hat, auch Sorge dafür getragen, dass alle
Abgeordneten dieses Hauses gemeinsam beteiligt werden. Ich glaube, es gab am runden Tisch gute Beratungen, und wir sollten uns jetzt an dieser Stelle des Verfahrens nicht kleinlich über Einzelheiten streiten.
({1})
Lassen Sie mich noch einmal auf die entscheidende
Frage zurückkommen, welche Erkenntnisse wir durch
die Arbeit des runden Tischs gewonnen haben. Neben
der Lösung des Problems der Mehrfachvernehmung haben wir auch erarbeitet, dass wir den Opferschutz beispielsweise dadurch verbessern müssen, dass den Betroffenen früh ein Opferanwalt zur Verfügung gestellt
wird. Wir haben auch gesagt, dass wir die Rechte der
Nebenkläger stärken müssen.
Es ist unbestritten, dass Sie mit Ihrem Antrag, auch
wenn Sie an dieser Stelle wirklich nur ein ganz kleines
Feld dessen bearbeiten, was man tun muss, ein richtiges
Anliegen verfolgen. Ich glaube, wir sind uns darin einig,
dass eine Verjährungsfrist von drei Jahren für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen im Zivilrecht mitnichten ausreicht. Die Koalitionsfraktionen
haben sich schon sehr früh, im März, in einem gemeinsamen Papier darauf geeinigt, diese Verjährungsfrist zu
verlängern.
Wir haben uns auch auf Folgendes geeinigt: Die Verjährungsfristen müssen vom gleichen Zeitpunkt an gelten. Im Zivilrecht gibt es eine Hemmung bis zum
21. Lebensjahr, während es im Strafrecht nur ein Ruhen
bis zum 18. Lebensjahr gibt. Auch hier kann man etwas
tun.
Wir werden auch darüber nachdenken, ob es sinnvoll
ist, die Verjährungsvorschriften im Strafrecht auszuweiten. Bei schwerem Missbrauch beträgt die Verjährungsfrist bereits 20 Jahre. Ob das am Ende des Tages die
richtige Lösung ist, muss sich während der Beratungen
zeigen. Sie selber haben es in Ihrer Rede angesprochen,
Frau Lambrecht: Je länger eine Tat zurückliegt, umso
schwieriger wird die Beweiswürdigung. Deswegen ist es
ganz entscheidend, erst einmal die Mittel zu stärken,
durch die den Opfern aus ihrer Gefangenensituation herausgeholfen wird, was dazu führt, dass die Tat früh angezeigt und aufgeklärt wird und dass das Opfer durch
eine Bestrafung des Täters früh Gerechtigkeit erfährt.
Ich denke, dass die Regierung aufgrund der Erkenntnisse, die sie durch die Arbeit des runden Tischs gewonnen hat, ein gutes Gesamtkonzept vorlegen wird. Ihre
Vorschläge werden wir in den Beratungen gerne aufnehmen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat Jerzy Montag für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das ist wahrhaftig ein ernstes Thema. Ich will an dieser
Stelle sagen: Ich war ebenfalls entsetzt, als ich Anfang
dieses Jahres immer wieder lesen musste, zu welchen sexuellen Übergriffen und zu welchem sexuellen Missbrauch es vor langer Zeit in den unterschiedlichsten Institutionen in Deutschland gekommen ist.
Ich war nicht so sehr entsetzt über die Straftaten - ich
bin Strafverteidiger und habe in meinem beruflichen Leben erlebt, wozu Menschen fähig sind -, sondern ich war
vor allem entsetzt darüber, in welchem Ausmaß diese
Sexualstraftaten über Jahrzehnte hinweg verniedlicht
und vertuscht worden sind. Das fängt damit an, dass es
ein Tabu gab und gibt, darüber nicht zu reden, auch nicht
in der Familie, mit niemandem. Man musste sich als Opfer schämen. Es gab aber auch die manchmal sogar perfide Perfektion, mit der in den unterschiedlichsten Institutionen die Täter geschützt und gedeckt worden sind
und auf Opfer und ihre Familien Druck ausgeübt worden
ist, nichts preiszugeben.
Ich glaube, der richtige Ansatz, um zu verhindern,
dass sich so etwas in Zukunft bei uns wiederholt, besteht
darin, in allen gesellschaftlichen Bereichen dafür zu sorgen, dass über solche Straftaten gesprochen wird, dass
Opfer und ihre Familien das Gefühl bekommen, sie müssen sich nicht schämen, wenn sie etwas offenlegen, und
dass die Institutionen von den Kirchen bis zu den Schulen und den freien Trägern ein entsprechendes Klima
schaffen und sich in ihren organisatorischen Zusammenhängen verpflichten, mit der Polizei und der StaatsJerzy Montag
anwaltschaft zusammenzuarbeiten und diese Dinge von
Anfang an zu klären, statt sie zu vertuschen.
({0})
In den allermeisten Fällen war es nicht so, als ob man
zum Zeitpunkt der Tatbegehung in den 60er- und 70erJahren davon nichts gewusst hätte. Es gab auch damals
Fälle, in denen die Tat nur Tätern und Opfern bekannt
war. Doch in den allermeisten Fällen war es in den Schulen, Kollegs oder wo auch immer bekannt; aber es wurde
vertuscht. Ich halte den eingangs beschriebenen Weg,
wie wir in Zukunft mit diesem Thema umgehen sollen,
für richtig.
Ich warne ausdrücklich davor, das Pferd von hinten
aufzuzäumen und bei der Verlängerung der Verjährungsfristen anzusetzen. Ich habe heute nicht genug Zeit,
werde in den Beratungen im Rechtsausschuss aber noch
erläutern, aus welchen fachlichen Gründen ich der Auffassung bin, dass die Kolleginnen und Kollegen von der
SPD mit ihren Vorschlägen nicht richtig liegen.
An dieser Stelle will ich auch als Praktiker vor Gericht eines sagen: Wir geben den Opfern Steine statt
Brot, wenn wir ihnen noch nach 20 oder 25 Jahren ermöglichen, einen Zivilprozess anzustrengen und bei der
Polizei Anzeige zu erstatten. Diese Opfer werden wegen
der unglaublich schwierigen und schlechten Beweissituation in den allermeisten Fällen nur eine Klageabweisung im Zivilverfahren oder einen Freispruch für den
Beschuldigten erreichen. Was haben die Opfer davon,
wenn man ihnen suggeriert, sie könnten mit den Mitteln
der Justiz zu ihrem Recht kommen, obwohl wir genau
wissen, dass das nach 20, 25 oder 30 Jahren so gut wie
nicht mehr möglich ist?
Es gibt Vorschläge - auch wir werden welche vorlegen -, wie man am geltenden Recht Verbesserungen vornehmen kann. Wir sind der festen Überzeugung, dass
wir uns zuallerletzt mit der Verlängerung der Verjährungsfristen befassen sollten.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/3646 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Freiheit für Gilad Schalit
- Drucksache 17/3422 -
b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
Durch einen humanitären Akt Frieden befördern - Gilad Schalit freilassen
- Drucksache 17/3431 Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren.
Der erste Redner in der Debatte ist Philipp Mißfelder
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beraten heute einen Antrag, der dem Auswärtigen Ausschuss insgesamt sehr am Herzen liegt und
von dem wir uns eine Wirkung in Richtung Israel sowie
in Richtung all derjenigen versprechen, die weltweit das
dramatische Schicksal des jungen Soldaten Gilad Schalit
verfolgen.
Verschiedene andere Parlamente auf der Welt haben
sich dieses Themas schon angenommen und deutlich gemacht, dass sie sich für die Freilassung von Gilad Schalit
einsetzen. Das wollen wir heute mit der Verabschiedung
des vorliegenden Antrags ebenfalls tun. Ich danke deshalb allen Fraktionen, dass sie sich dieses Themas angenommen haben. Ich bedanke mich außerdem bei den
Obleuten und bei allen anderen Beteiligten für die große
Ernsthaftigkeit, mit der wir dieses Zeichen heute in diesem Haus gemeinsam setzen wollen. Ich rufe all denjenigen, die sich diesem Thema verpflichtet fühlen oder
diese Debatte aus Interesse verfolgen, zu, dass wir einmütig für die Freiheit von Gilad Schalit einstehen sowie
dafür werben und kämpfen wollen, dass er freigelassen
wird.
({0})
Gilad Schalit ist als junger Soldat in die Gefangenschaft der Hamas geraten. Die Hamas ist eine Terrororganisation; dies gilt es anlässlich dieser Debatte deutlich zu machen. Es ist vor dem Hintergrund der
Bedrängnis, in der sich das Volk Israel und der jüdische
Staat befinden, eine besondere Form der Kriegsführung,
wenn das Leid von Gilad Schalit in Videos öffentlich zur
Schau gestellt wird. Es ist inhuman, dass seit Jahren kein
Zugang des Roten Kreuzes möglich ist und dass die Eltern in trauriger Ungewissheit über das Wohl ihres Sohnes leben müssen. Sie wissen nicht, ob er lebt und, wenn
ja, unter welchen Bedingungen. Wir fordern heute als
humanen Akt einen uneingeschränkten Zugang des Roten Kreuzes.
Ich bitte diejenigen, die der Hamas nahestehen und
die heutige Debatte verfolgen, sowie diejenigen, die innerhalb der Hamas politische Verantwortung wahrnehmen und immer sehr genau beobachten, was wir in diesem Hause diskutieren, um diesen humanen Akt: Setzen
Sie sich für Gilad Schalit ein und ermöglichen Sie zumindest den Zugang des Roten Kreuzes, um seinen Eltern zumindest ein Stück weit Gewissheit zurückzugeben.
({1})
Das ganze israelische Volk wartet auf die Heimkehr
von Gilad Schalit. Um dies auch denjenigen nahezubringen, die heute das erste Mal den Namen dieses im Alter
von 19 Jahren entführten israelischen Soldaten hören:
Das gesamte israelische Volk diskutiert diese Frage mit
sehr großer Aufmerksamkeit und emotionaler Betroffenheit. Wir alle können uns das nicht wirklich vorstellen,
weil wir als Deutsche nicht in einer solchen Situation leben müssen. Die Umstände, unter denen junge Rekruten
in Deutschland zur Bundeswehr kommen, sind ganz andere als diejenigen, unter denen junge israelische Männer zur Armee kommen. Gilad Schalit hat sich in einem
tapferen Kampf der Sache seines Landes und der Sicherheit der Bürger in Israel verpflichtet gefühlt. Er hat dafür
ein großes persönliches Risiko auf sich genommen und
bislang bitter dafür bezahlt. Deshalb nimmt sich das israelische Volk dieses einzelnen Soldaten so engagiert an.
Mancher mag sagen, dass es doch nur ein Soldat ist.
Aber von Anfang an ging es nicht nur um einen Soldaten, sondern auch um die große Symbolik dahinter.
Wenn man sich anschaut, wie in der Gedenktradition Israels mit toten Soldaten umgegangen wird, erkennt man,
dass der Umgang mit diesem einzelnen Soldaten auch
kulturell eine besonders wichtige Frage ist.
Das setzt die Terrororganisation Hamas bewusst ein,
um die israelische Gesellschaft in Angst und Schrecken
zu versetzen, um die Soldaten zu demoralisieren und damit die Wehrhaftigkeit der israelischen Gesellschaft infrage zu stellen. Das lassen wir nicht zu. Wir, die Bundesrepublik Deutschland und der Deutsche Bundestag,
setzen uns nicht nur heute, sondern auch bei vielen anderen Gelegenheiten für die Freilassung von Gilad Schalit
und darüber hinaus für die Anerkennung des Existenzrechts Israels als jüdischer Staat sowie dafür ein, dass
der Friedensprozess in Gang kommt. Auch unser Bundesaußenminister hat das vor wenigen Tagen getan, als
er den Vater von Gilad Schalit in Israel besucht hat.
Diese Themen haben wir in diesem Hause schon oft
beraten, und das wollen wir auch in Zukunft tun. Das
Ganze geschieht vor dem Hintergrund, dass Deutschland
aufgrund seiner geschichtlichen Erfahrung sowie der
Verantwortung, die sich daraus ableitet, eine besondere
Rolle einnimmt.
Wir können zumindest aus meiner Sicht keine neutrale Position einnehmen. Wir stehen vielmehr fest an
der Seite Israels. Die Bundeskanzlerin hat am 18. März
2008 in ihrer bemerkenswerten Rede vor der Knesset
zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel gesagt:
… das Bewusstsein für die historische Verantwortung und das Eintreten für unsere gemeinsamen
Werte - das bildet das Fundament der deutsch-israelischen Beziehungen von ihren Anfängen bis
heute.
Das hat sich seit 2008 nicht geändert, ganz im Gegenteil:
Die Bande sind sogar noch enger geworden, gerade angesichts der Tatsache, dass in anderen Ländern größere
Zweifel an der Politik Israels geäußert werden. Auch wir
sind nicht frei von Kritik, und unter Freunden ist es auch
möglich, offen und kritisch zu diskutieren. Ich sage aber
auch: Die Erwartungshaltung der israelischen Gesellschaft und der israelischen Politik gegenüber der deutschen Politik ist riesig groß. Sie ist wahrscheinlich viel
größer, als die Erwartungshaltung früher gegenüber den
Vereinigten Staaten war; denn Israel hat gemerkt, dass es
voller Sorge die Entwicklung in Amerika beobachten
muss. Vor diesem Hintergrund müssen wir hier sehr
ernsthaft und aufrichtig diskutieren. Ich kann für mich
persönlich sagen - ich weiß, dass ich nicht für alle in
diesem Haus spreche -, dass Deutschland nicht einfach
ein neutraler Vermittler ist, sondern dass Deutschland in
diesem Konflikt Partei ist, nämlich Partei Israels.
Heute geht es nicht nur darum, für eine Zwei-StaatenLösung und ein friedliches Miteinander im Nahen Osten
zu werben, sondern es geht vor allem darum, ein Zeichen
für einen jungen Mann zu setzen, der sich für sein
Staatswesen eingesetzt hat, für Gilad Schalit, dessen
Freilassung wir heute hier fordern.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Lange für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Seit über vier Jahren ist Gilad Schalit in den
Händen von Terroristen; besser gesagt: genau seit
1 600 Tagen. Er wurde bei einem Angriff der Hamas und
weiterer radikaler palästinensischer Terrorgruppen auf
einen Posten der israelischen Armee am 25. Juni 2006
bei Kerem Schalom entführt. Zwei Kameraden von
Gilad Schalit wurden bei dem Angriff getötet. Der damals 19-jährige Schalit wurde verletzt und entführt.
Zur Erinnerung: Schalit befand sich auf israelischem
Territorium, als er entführt wurde, nicht auf palästinensischem Gebiet. Der Entführte ist israelischer Staatsbürger
und besitzt auch die französische Staatsangehörigkeit.
Auch wir Europäer sind also zumindest mittelbar davon
betroffen. Wir erinnern uns alle an die unmittelbaren
Folgen der Entführung, als Israel 2006 mit verschiedenen Militäraktionen versuchte, die Hamas zu besiegen
und Schalit zu befreien. Ohne Erfolg. Tote und Verletzte
auf beiden Seiten waren die Folge. Der Friedensprozess
war erneut unterminiert, und Hass und Gewalt waren erneut erzeugt.
Wir alle wissen, dass normalerweise individuelle
Fälle nicht Gegenstand eines Antrags im Deutschen
Bundestag sind. Ansonsten hätten wir vermutlich wöchentlich Anträge über aus politischen Gründen entführte Menschen zu behandeln. Doch diese menschliche
Christian Lange ({0})
Katastrophe können wir als Deutscher Bundestag wie
auch viele andere Parlamente der Welt - mein Vorredner
hat es erwähnt - nicht einfach ignorieren. Deshalb melden wir uns heute hier zu Wort.
({1})
Deshalb sage ich auch ganz deutlich: Die Freilassung
von Gilad Schalit muss bedingungslos erfolgen. Seit über
vier Jahren ist Gilad Schalit in den Händen von Terroristen. Nicht einmal das Internationale Rote Kreuz erhält
Zugang zu ihm. Die Hamas unterbindet sogar entgegen
der dritten Genfer Konvention von 1949 jegliche Kommunikation mit seiner Familie. Das letzte Lebenszeichen
- wir erinnern uns alle - war ein ziemlich genau vor einem Jahr veröffentlichtes, etwa zweiminütiges Video, auf
dem der verzweifelte Schalit um seine Freilassung bat.
Im Gegenzug für das Lebenszeichen ließ die israelische
Regierung insgesamt 20 Palästinenserinnen aus dem Gefängnis frei. Zuvor konnte im Oktober 2008 über den
französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, den syrischen Präsidenten Assad und den katarischen Emir ein
Brief der Familie an Schalit übermittelt werden.
Seit etlichen Jahren bin ich selbst oft mehrmals im
Jahr in Israel und in den palästinensischen Gebieten und
stehe in vielerlei Kontakt zu israelischen Vertretern aus
Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Jeder, der in
den vergangenen Jahren in Israel gewesen ist, weiß, wie
groß die Solidarität mit dem entführten Gilad Schalit ist.
An Autoantennen, an Koffern, an Rucksäcken oder
Handtaschen sieht man gelbe Bänder, die an Schalit erinnern sollen; an Häusern und an Stellwänden kleben Poster mit dem Foto Schalits und den Schriftzügen, dass
man ihn nicht vergesse. Das Schicksal Schalits eint in
der Tat alle Israelis, egal ob sie säkular oder religiös
sind, ob sie sich politisch links oder rechts verorten.
Heute konnten wir in der israelischen Onlinezeitung
Ynet einen Brief der Mutter, Aviva Schalit, an Premierminister Netanjahu lesen. Ich will die dort zitierten
Worte einfach wiederholen. Sie schrieb an den israelischen Premierminister:
Gilad ist am Leben, in Gaza. Ich weiß nicht, ob er
morgen noch am Leben sein wird. Sie und nur Sie
sind für sein Leben verantwortlich. Bitte geben Sie
diese Verantwortung nicht an Kabinette oder Generäle ab, nur um sie selbst los zu sein.
Ich denke, wir können diese Worte einer verzweifelten Mutter gut nachvollziehen.
Ich will ebenso sagen: Auch viele Palästinenser, mit
denen ich gesprochen habe, verurteilen die Entführung
Schalits und das Verhalten der Hamas aufs Schärfste und
haben Mitgefühl mit der Familie Schalits.
Aber nicht nur in Israel, sondern auch bei uns in
Europa solidarisieren sich Tausende von Menschen mit
dem entführten jungen Mann, und das nicht „nur“ in der
jüdischen Gemeinde. Auch in meinem Wahlkreis, in
meiner Heimatgemeinde Backnang zum Beispiel, haben
Bürgerinnen und Bürger Unterschriften gesammelt und
sie sogar persönlich in Israel dem Vater Schalits überreicht.
Trotz des traurigen Anlasses ist diese Solidarität jedoch auch ein Zeichen dafür, dass die deutsch-israelischen Beziehungen weiterhin intensiv und lebendig sind,
nicht nur auf politischer Ebene, sondern eben auch vor
Ort. Ich denke, dass man unseren Bürgerinnen und Bürgern für ihr Engagement und ihre Solidarität für Gilad
Schalit an dieser Stelle von ganzem Herzen danken
sollte.
({2})
Meine Damen und Herren, ich möchte mich der Resolution des US-Kongresses anschließen, die eine bedingungslose Freilassung von Schalit fordert. Auch das
Nahostquartett hat am 30. Mai 2007 in Berlin eine umgehende Freilassung des israelischen Stabsgefreiten
ohne Vorbedingungen gefordert.
Ich begrüße auch die Reise des Bundesaußenministers Westerwelle in den Gazastreifen. Mit seinem Besuch
hat er die moderaten Kräfte in Gaza unterstützt, ohne mit
der Hamas zu sprechen, und zugleich deutlich gemacht,
dass sich Deutschland für eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation Gazas einsetzt. Er
war auch, was ich für wichtig halte, in Sderot. Ich bin im
Frühjahr ebenfalls dort gewesen. Seit Jahren wird die
Bevölkerung Sderots durch die Raketenangriffe aus dem
Gazastreifen terrorisiert.
Wir sagen Ja zu Israel, wir sagen Ja zum Existenzrecht Israels, und wir sagen Ja zur Zwei-Staaten-Regelung. Ich meine, das gehört zusammen. Deshalb will ich
es an dieser Stelle auch erwähnt haben.
({3})
Heute freilich geht es um einen jungen israelischen
Mann, der seit über vier Jahren von Terroristen gefangen
gehalten wird, ohne Kontakte zur Außenwelt, ohne Kontakte zur seiner Familie, ohne Zugang zum Internationalen Roten Kreuz.
Deshalb ist unser gemeinsamer Antrag auch so wichtig, dem jeder hier im Bundestag zustimmen kann und
sollte. Die Bundesregierung soll sich auch weiterhin gemeinsam mit ihren Partnern mit größtem Nachdruck für
die Freilassung Schalits einsetzen, und ich bin mir sicher, sie wird dies auch tun. Schalit muss endlich, nach
1 600 Tagen, zu seiner Familie und in die Freiheit zurückkehren dürfen.
Herzlichen Dank.
({4})
Der Kollege Dr. Rainer Stinner ist nun der nächste
Redner für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir behandeln heute ein Thema mit hoher Symbolkraft
und großer politischer Sprengkraft. Wir reden über eine
einzelne Person. Jawohl. Aber diese Person steht für ein
persönliches Schicksal in einem furchtbaren Konflikt,
der seit Jahren auf beiden Seiten viele Opfer fordert.
Diese Person steht für die Unmenschlichkeit der Hamas,
die sich weigert, das Überlebens- und Menschenrecht
des israelischen Volkes, das über 2 000 Jahre geschunden worden ist, anzuerkennen. Dieses Thema steht für
die unmenschliche Hamas, die Menschenrechte mit Füßen tritt, der das Leben von anderen Menschen nichts
wert ist und die dennoch glaubt, dafür internationale Zustimmung zu bekommen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, auch von
meiner Fraktion sagen wir der Hamas ganz deutlich: Sie
kann von uns für ihre Belange, für die Belange des palästinensischen Volkes, keine Unterstützung verlangen,
solange sie in dieser Weise Politik gegen Israel betreibt.
({0})
Die Hamas muss wissen - das sage ich auch sehr
deutlich -, dass sie eigentlich gegen die eigenen Interessen der Palästinenser verstößt. Was sind die Interessen
der Palästinenser? Die Interessen der Palästinenser bestehen darin - dem stimmen wir alle zu -, dass auch Palästina hoffentlich eines nicht zu fernen Tages in einem
eigenen Staatswesen in sicheren Grenzen leben und sein
Schicksal selbst bestimmen kann. Das wird aber nur gelingen können - das rufen wir der Hamas von hier aus
heute Abend gemeinsam zu -, wenn die Hamas ihre Einstellung, ihre Position zur Existenz Israels deutlich ändert.
({1})
Wir nehmen die heutige Debatte zum Anlass, um dies
deutlich zum Ausdruck zu bringen. Ich bin Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, Herr Lange, Herr Mißfelder,
sehr dankbar dafür, dass wir das hier gemeinsam in derselben Tonalität, im selben Geist vortragen. Ich finde es
sehr gut, dass wir im Deutschen Bundestag gegenüber
der Öffentlichkeit in unserem Land, gegenüber der Öffentlichkeit in Israel, aber natürlich auch gegenüber der
Öffentlichkeit in Palästina deutlich machen, auf welcher
Seite wir stehen: auf der Seite der Menschlichkeit und
auf der Seite einer zukunftsfähigen gemeinsamen ZweiStaaten-Lösung.
({2})
Die Behandlung des Antrags erfolgt in einer, wie wir
alle wissen, sehr komplizierten und konfliktbeladenen
Zeit in dieser Region. Ich darf mich dem Dank von Ihnen, lieber Herr Lange, an unseren Außenminister anschließen, der eine, wie ich finde, sehr erfolgreiche
Reise im Nahen Osten durchgeführt hat und der genau
das Richtige getan hat. Er hat nämlich im Gazastreifen
gegenüber der Hamas eine deutliche Sprache gesprochen, und er hat in Israel deutlich gesagt, was unsere Anforderungen an die israelische Politik sind. Wir sehen
natürlich, dass eine Friedenslösung nur erreicht werden
kann, wenn beide Seiten die für beide Seiten, wie wir
alle wissen, bitteren Kompromisse eingehen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen uns als
Deutscher Bundestag in guter Gesellschaft, in Gesellschaft von Kolleginnen und Kollegen Parlamentariern in
vielen Ländern der Welt, in den Vereinigten Staaten, in
beiden Häusern des Kongresses, aber auch im Europäischen Parlament. Wir fordern gemeinsam, dass Gilad
Schalit freigelassen wird, dass Gilad Schalit die Basismenschenrechte, auf die jeder Mensch auf dieser Erde
ein Recht hat, zugestanden werden und dass die Hamas
von ihrem schändlichen Handeln - sie verweigert ihm
diese Menschenrechte - ablässt.
Wir wissen, dass wir hier nicht aufrechnen können
und sollen. Deshalb sage ich Ihnen auch, meine Damen
und Herren: Es bringt überhaupt nichts, diesen Fall mit
anderen Situationen zu vergleichen. Gilad Schalit ist ein
Fall für sich, und diesen Fall behandeln wir heute in diesem Antrag. Das tun wir fraktionsübergreifend. Ich bedanke mich dafür. Ich hoffe, dass diese Botschaft, die
einvernehmliche Botschaft des Deutschen Bundestages,
gehört wird: von der Hamas, in Israel, von all denjenigen
in dieser Welt, die guten Willens sind, diesen Konflikt
einer Lösung nahe zu bringen. Dazu wollen wir auch unseren deutschen Beitrag leisten.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der israelische Soldat Gilad Schalit ist seit dem 25. Juni 2006
Gefangener der Hamas im Gazastreifen. Keine Angehörigen, kein internationaler Beobachter konnten ihn seit
über vier Jahren sehen oder sprechen. Wir fordern die
bedingungslose Freilassung von Gilad Schalit als einen
wichtigen Akt der Humanität.
({0})
Bis zur Freilassung muss die Hamas unverzüglich einen
Zugang für Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes
und für Familienangehörige gewähren. Dies ist ein gemeinsames Anliegen aller Bundestagsfraktionen, das auf
Initiative der Linken zustande kam.
Die Union hat sich aber entschieden, zwar die Initiative der Linken aufzugreifen, aber den Antrag nur mit
FDP, SPD und Grünen ohne uns vorzulegen. Wir wurden
auch an der Beratung des Textes nicht beteiligt. Letzteres merkt man; denn der Antrag ist laienhaft und falsch
formuliert.
({1})
- Hören Sie mir zu! - Sie sprechen von einer Entführung
des israelischen Soldaten durch die Hamas, die Sie
selbstverständlich auch verurteilen. Danach handelte es
sich also um einen kriminellen Akt. Geiselnehmer lassen
nirgendwo auf der Welt das Rote Kreuz oder Familienangehörige ihre Geiseln besuchen. Für sie gilt auch kein
Völkerrecht, mithin auch nicht die dritte Genfer Konvention, auf die Sie sich berufen. Geiselnehmer kann
man höchstens mit geringerer späterer Strafzumessung
locken, wobei wir darauf nicht den geringsten Einfluss
hätten.
In Wirklichkeit ist es so, dass die Hamas Israel den
Krieg erklärt hat. Israel begründet damit seine militärischen Schritte gegen den Gazastreifen. Nach dem militärischen Überfall Israels auf den Gazastreifen stellte die
UNO Völkerrechtsverletzungen vor allem durch Israel,
aber auch durch die Hamas fest. Letzteres konnte die
UNO nur feststellen, weil sie die Hamas als Kriegspartei
anerkannte. Anderenfalls gälte für diese nicht das Völkerrecht, wären ihr mithin auch keine Völkerrechtsverletzungen vorzuwerfen. Im Krieg werden leider Soldaten
erschossen und andere Soldaten gefangen genommen.
Dann und nur dann gilt die von Ihnen und uns genannte
dritte Genfer Konvention auch für die Hamas. Dann und
nur dann sind Ihre und unsere Forderungen berechtigt,
dem Internationalen Roten Kreuz und Familienangehörigen endlich Zugang zu dem israelischen Soldaten zu gewähren und schnellstens die Beendigung der Gefangenschaft einzuleiten.
Sie müssten Ihren Antrag korrigieren. Sie könnten
auch unserem zustimmen. Bleibt Ihr Antrag, wie er ist,
können wir uns bei ihm nur enthalten.
Noch etwas zum Ausschluss der Linken durch die
Union und die anderen Fraktionen. Die CDU/CSU-Fraktion setzt den Kalten Krieg fort, hat noch nicht mitbekommen, dass es den Staatssozialismus in Europa und
die DDR seit über 20 Jahren nicht mehr gibt. Unser Ausschluss ist eine besondere Unverschämtheit, weil es um
das Leben, die Gesundheit und die Freiheit eines jungen
Menschen geht.
({2})
Das ist der ungeeignetste Fall für die alten, überkommenen kalten Kriegsspiele der Union.
Die FDP meint, wegen der Koalition mitmachen zu
müssen.
({3})
Die SPD und die Grünen haben nicht einmal dieses Problem. Sie verhalten sich aber gegenüber der Union unterwürfig und willfährig. Wenn diese befiehlt: „Ohne die
Linke!“, dann reihen Sie sich bei ihr ein. Es trifft Sie somit dieselbe Verantwortung.
Anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung Israels
bin ich auf Einladung von Präsident Schimon Peres zusammen mit dem Abgeordneten Jerzy Montag dort gewesen und habe auch mit der Lebenspartnerin von Gilad
Schalit gesprochen und ihr versprochen, etwas zu unternehmen.
Wenn Sie darüber hinaus nur eine Minute - nur eine
Minute! - über das Schicksal meiner Familie nachgedacht hätten, verstünden Sie, weshalb ich ausnahmsweise diese Ausgrenzung auch persönlich als besonders
unverfroren ansehe und ansehen muss.
({4})
Aber ich habe wohl zu akzeptieren, dass das bei Union,
SPD, FDP und Grünen, das heißt, in der deutschen Politik, so ist.
Das Wichtigste aber bleibt: Gilad Schalit muss unverzüglich freigelassen werden, ohne Wenn und Aber, ohne
Bedingungen. Und wir sagen klar: Das wäre auch ein
wichtiges humanitäres Zeichen für die notwendige Freilassung vieler palästinensischer politischer Gefangener
durch Israel.
Wer Frieden im Nahen Osten will, muss solche humanitären Schritte gehen,
({5})
muss mit allen gewählten Vertreterinnen und Vertretern
in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen reden,
muss den jüdischen Staat Israel und seine Sicherheitsbedürfnisse anerkennen und respektieren, den Siedlungsbau im künftigen Palästina unverzüglich einstellen, die
Blockade des Gazastreifens aufgeben und Palästina endlich in den Grenzen von 1967 lebensfähig gründen und
anerkennen, muss also nicht nur seine Interessen, sondern auch die Interessen des anderen sehen und berücksichtigen.
Danke.
({6})
Das Wort hat nun die Kollegin Kerstin Müller für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrter Herr Gysi, ich finde es auch falsch - meine
Fraktion hat dies sehr deutlich gesagt, ich glaube, auch
die Kolleginnen und Kollegen von der SPD -, dass die
Linke bei diesen Beratungen wieder einmal ausgeschlossen wurde. Dies sind absolut überflüssige Spielchen, die
hier leider vor allen Dingen der Unionsfraktion anzulasten sind. Sie sind der Sache nicht angemessen; das war
ein großer Fehler.
({0})
Kerstin Müller ({1})
Da Herr Polenz, der Vorsitzende des Auswärtigen
Ausschusses, gleich auch noch sprechen wird, nehme ich
eines vorweg: Herr Polenz hat anlässlich des Gaza-Antrages, den wir hier gemeinsam beschlossen haben - da
haben Sie sich klüger verhalten; Sie haben dem nämlich
zugestimmt -, im Ausschuss noch einmal angemahnt,
dass man bei Anträgen, bei denen es eine große Übereinstimmung gibt, bitte auch zu einem gemeinsamen Antrag im Deutschen Bundestag kommen sollte, weil man
- so haben Sie es wahrscheinlich gemeint - so dem Anliegen mehr Gewicht verleiht. Schade, schade, Herr
Polenz, dass die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion diesem Rat, diesem Appell hier nicht gefolgt sind.
Ich hoffe, dass sich das in Zukunft ändern wird.
({2})
Ich will aber auch zu Ihnen - Sie haben schon vorab
in der Presse einen ziemlichen Wirbel um diese ganze
Geschichte gemacht -, Herr Gysi, Folgendes sagen: Ihre
eigene Partei und Fraktion ist in der Nahostfrage sehr
zerstritten, und Ihr Verhältnis zu Israel ist nicht geklärt.
({3})
Sie haben, glaube ich, zwei Stunden in geschlossener
Sitzung darüber beraten, ob der Antrag Ihrer eigenen
Kollegen überhaupt eine Mehrheit in der Fraktion findet.
({4})
Er musste nachher auch noch geändert werden, damit er
eine Mehrheit findet.
({5})
Man musste die Konstruktion mit den Kriegsgefangenen
wählen, damit er eine Mehrheit findet.
({6})
Angesichts solcher Konflikte halte ich es für ziemlich
unangemessen, wie Sie hier aufgetreten sind und welchen Wirbel Sie in den Medien um diese Geschichte gemacht haben.
({7})
Es wäre nämlich eigentlich ganz einfach. Wir sind
uns in der Sache hier einig - auch das haben Sie zu Anfang Ihrer Rede gesagt, und dafür haben Sie von allen
Beifall bekommen -, dass der von der Hamas vor vier
Jahren von israelischem Boden entführte und seither gefangen gehaltene junge Soldat Gilad Schalit umgehend
und ohne Wenn und Aber freizulassen ist.
({8})
Es ist inakzeptabel und scharf zu verurteilen, dass die
Hamas sogar dem Internationalen Roten Kreuz den Zugang zu ihm verweigert. Das heißt, dass die Hamas
Gilad Schalit sogar die rudimentärsten Rechte verweigert, die ihm nach dem humanitären Völkerrecht zustehen, also die Sicherstellung der medizinischen Versorgung, und selbst den ungehinderten Kontakt zur Familie,
die seit 2009 kein Lebenszeichen von ihm bekommen
hat. Das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, ungeheuerlich.
({9})
Für diese klaren Aussagen, Herr Gysi, braucht man
Schalit nicht zum Kriegsgefangenen zu machen, womit
man auch die Hamas als legitime Kriegspartei aufwertet,
was diese übrigens gar nicht will. Wenn es darum geht,
Schalit die rudimentärsten Rechte zu gewähren, gilt die
dritte Genfer Konvention ganz klar: Sie verbietet Geiselnahmen und gesteht Gefangenen unabhängig von ihrem
Rechtsstatus alle Rechte nach Art. 3 dieser Konvention
zu. Was soll das also? Man braucht das nicht. Ich glaube,
die Debatte, die Sie hier führen, und der Wirbel, den Sie
vorher gemacht haben, haben leider sehr wenig mit
Schalit und viel mehr mit den Problemen zu tun, die Sie
in Ihrer Fraktion und Ihrer Partei zu regeln haben.
({10})
Ich wünsche mir, dass von hier heute eine möglichst
geschlossene Botschaft ausgeht, wie wir es beim GazaAntrag auch gemacht haben. Ich glaube, dass sich dieses
Thema überhaupt nicht für Parteienstreit zwischen Opposition und Regierung eignet, auch nicht für rot-grünrote Anträge. Letzteres ist nicht nötig, weil wir uns in
den Forderungen einig sind. Das ist dafür ein ungeeignetes Thema. Wenn hier alle der gleichen Meinung sind
- liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das
war ja auch Ihr Vorschlag in der PGF-Runde, wenn ich
mich richtig erinnere -, dann hätten Sie doch einfach einen gleichlautenden Antrag einbringen können und hätten unserem zugestimmt, und SPD und Grüne hätten Ihrem zugestimmt. Dann wäre völlig klar gewesen, wer
hier - nämlich Teile der Union - wen unnötigerweise
ausgrenzt. Aber leider haben Sie sich nicht so geschickt
verhalten. Das bedaure ich sehr. Ich finde, dieses Thema
ist wirklich ungeeignet, einen solchen Wirbel zu machen.
Ich hoffe für Gilad Schalit und für seine Familie, dass
nicht nur die Nahostverhandlungen, sondern auch die
Verhandlungen zu seiner Freilassung - vielleicht sogar
mit deutscher Hilfe und unserer Unterstützung - bald zu
einem Erfolg führen werden.
Vielen Dank.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Ruprecht Polenz für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Freiheit für Gilad Schalit - ich denke, diese Forderung
eint uns, die wir heute Abend im Plenum des Deutschen
Bundestages sitzen. Deshalb möchte ich zur Sache sprechen.
Als ich vor wenigen Wochen das letzte Mal in Jerusalem war, habe ich vor dem Amtssitz von Ministerpräsident Netanjahu mehrere Zelte gesehen, in denen die Familie von Gilad Schalit mit Plakaten und Transparenten
auf das Schicksal ihres Angehörigen aufmerksam macht.
Es ist gerade noch einmal darauf hingewiesen worden,
wie viele Israelis durch Poster, Buttons und Ähnliches an
sein Schicksal erinnern. Ich glaube, dass dies der
Hauptzweck unserer heutigen Debatte und der Entschließung ist, die wir verabschieden. Wir wollen deutlich machen: Sein Schicksal gerät auch nach über vier Jahren
nicht in Vergessenheit. Wir schauen auf das, was in der
Region passiert, und auch auf das, was mit einzelnen
Personen geschieht. Wir schauen aber auch sehr genau
auf die Praxis der Hamas.
Wir haben schon bei anderer Gelegenheit über die
Frage diskutiert, wie wir mit der Hamas umgehen wollen. Da gab es relativ weitgehende Empfehlungen, sie
quasi als Gesprächspartner wie jeden anderen zu behandeln, weil ohne die Hamas in der Region letztlich nichts
zu erreichen sei. Deshalb möchte ich aus Anlass dieser
Debatte schlaglichtartig beleuchten, wie es 2007 nach
der gewaltsamen Machtergreifung durch die Hamas im
Gazastreifen weitergegangen ist.
Es gab zunächst eine bürgerkriegsartige Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Kräften von Fatah und
anderen. Als sich Hamas dann durchgesetzt hatte, hat sie
- das gilt bis heute - eine sehr konsequente Gleichschaltungspolitik, so muss man es nennen, im Gazastreifen
betrieben. Die palästinensische Nachrichtenagentur
WAFA, die noch den Mut hatte, über Korruptionsvorwürfe gegen die Hamas und gegen Hamas-Politiker zu
berichten, wurde eingeschüchtert und unter Druck gesetzt.
Es gab eine schleichende Islamisierung. Hamas ist ja
eine islamistische Organisation, die den Muslimbrüdern
aus Ägypten entstammt. Die Bekleidungsvorschriften
werden zunehmend rigoros durchgesetzt. In den Schulen, wo die Hamas Einfluss hat, aber auch in den UNSchulen wird versucht, sicherzustellen, dass über den
Holocaust nicht berichtet, darüber nicht gelehrt und
nicht informiert wird. Die Organisationen der Zivilgesellschaft, die noch nicht unter der Kontrolle der Hamas
stehen, werden gezwungen, so lange neue Mitglieder,
die der Hamas angehören, aufzunehmen, bis man in der
Lage ist, durch Mehrheitsbeschlüsse diese Gesellschaft
zu übernehmen.
Generell basiert das Herrschaftssystem darauf, dass
man die eigenen Anhänger hemmungslos begünstigt und
alle anderen Palästinenser im Gazastreifen benachteiligt.
Gewalt und Menschenrechtsverletzungen haben deshalb
die Popularität der Hamas, die stolz verkündet hatte,
dass sie bei den Wahlen gewonnen hat, sehr stark gemindert. Wie sie heute bei Wahlen abschneiden würde, ist
die entscheidende Frage.
Nun will die Hamas eine Rolle spielen. Es ist auch
klar, unter welchen Bedingungen das möglich ist: keine
Gewaltanwendung, Anerkennung der bisherigen Abkommen der PLO mit Israel und - das ist damit eingeschlossen - prinzipielle Anerkennung Israels staatlicher
Existenz. Der Fall Schalit ist so etwas wie ein Lackmustest für die Anerkennung von Recht und Gesetz und des
Völkerrechts - auch des humanitären Völkerrechts durch die Hamas sowie für das Rechtsverständnis der
Hamas und ihre Bereitschaft, sich internationalen Regeln zu unterwerfen.
Ich möchte in dieser Debatte aber nicht nur auf das
Schicksal von Gilad Schalit hinweisen. Ich möchte auch
an Ron Arad erinnern, der bereits seit 1986 verschollen,
verschwunden ist. Man weiß nicht genau, ob er noch
lebt; es gibt Vermutungen, dass er noch lebt. Auch das
ist ein Schicksal, an das man in dieser Debatte erinnern
sollte.
Ein letztes Wort zu den Unterstützern der Hamas. Ich
war bei meinem Besuch in Syrien mit der Nachricht
- dem Wunsch - konfrontiert, dass Syrien sehr daran interessiert ist, auch auf höherer Ebene wieder diplomatisch mit Deutschland zu kommunizieren. Wahrscheinlich kommt der syrische Außenminister in Kürze nach
Berlin. Ich will nur sagen: Syrien hätte eine Möglichkeit,
hier beispielsweise durch Einflussnahme auf die Hamas
ein Signal zu setzen und zu zeigen, dass es versteht, welche symbolische Bedeutung diese Frage hat, die mit dem
einzelnen Schicksal dieses armen jungen Mannes verbunden ist. Ich möchte deshalb an dieser Stelle nicht nur
die Hamas mit dem Appell „Freiheit für Gilad Schalit“
konfrontieren, sondern auch Syrien.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Bevor wir nun zur Abstimmung kommen, erteile ich
das Wort für eine persönliche Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung der Kollegin Bettina Kudla.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich stimme dem Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU, SPD, FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Freiheit für Gilad Schalit“ auf Drucksache 17/3422 wegen Punkt I.3 des Antrages nicht zu.
Punkt I.3 des Antrages begrüßt die „die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 11. März 2010,
die die Freilassung von Gilad Schalit“ fordert. Ich er7724
achte insbesondere Punkt G.5 des gemeinsamen Entschließungsantrags des Europäischen Parlamentes für
kritikwürdig. Dieser Punkt des gemeinsamen Entschließungsantrages des Europäischen Parlamentes zur Freilassung von Gilad Schalit vom 11. März 2010
… hebt hervor, dass beiderseitige vertrauensbildende Maßnahmen aller Parteien, einschließlich der
Freilassung einer bedeutenden Anzahl von palästinensischen Gefangenen, dazu beitragen könnten,
eine konstruktive Atmosphäre zu schaffen, die zur
Freilassung von Unteroffizier Schalit führt …
Diesen Punkt der EU-Entschließung lehne ich entschieden ab. Die Freilassung des Soldaten ist ohne jegliche
Vorbedingungen zu fordern.
({0})
Der Antrag des Bundestages ist daher nicht eindeutig.
Es besteht folglich das Risiko, dass die an dem Antrag
beteiligten Fraktionen den Antrag unterschiedlich inter-
pretieren. Auch die öffentliche Diskussion in den letzten
Monaten über die Annahme des fraktionsübergreifenden
Bundestagsantrags „Ereignisse um die Gaza-Flottille
aufklären - Lage der Menschen in Gaza verbessern -
Nahost-Friedensprozess unterstützen“ hat dies gezeigt.
Ich sehe keine Basis für den heutigen fraktionsübergrei-
fenden Antrag.
Meine Erklärung erfolgt auch vor dem Hintergrund,
dass bekannt ist - das geht auch aus Punkt II des Antrags
„Freiheit für Gilad Schalit“ auf Drucksache 17/3422 her-
vor -, dass sich die Bundesregierung bereits seit länge-
rem für die Freilassung des Soldaten Gilad Schalit ein-
setzt und weiterhin einsetzen wird.
Es liegt eine schriftliche Erklärung zur Abstimmung
nach § 31 unserer Geschäftsordnung von der Kollegin
Marie-Luise Beck vor.1)
Nun kommen wir zur Abstimmung über Tagesord-
nungspunkt 11 a, über den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/3422 mit dem Titel
„Freiheit für Gilad Schalit“. Wer stimmt für diesen An-
trag? - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Der An-
trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen - bei
einer Ausnahme -, mit den Stimmen der SPD-Fraktion
und den Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und einer Gegen-
stimme angenommen.
Tagesordnungspunkt 11 b. Hier geht es um den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3431 mit
dem Titel „Durch einen humanitären Akt Frieden beför-
dern - Gilad Schalit freilassen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der An-
1) Anlage 4
trag ist abgelehnt. Dafür gestimmt hat die Fraktion Die
Linke. Dagegen gestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Enthalten haben sich die Fraktion der SPD und die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
durch eine transparente Bemessung der Regelsätze und eine Förderung der Teilhabe von
Kindern umsetzen
- Drucksache 17/3648 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Diejenigen, die der weiteren Debatte folgen wollen, bitte ich, Platz zu nehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Wir wollen uns auf die
erste Rede konzentrieren, die von der Kollegin Gabriele
Hiller-Ohm aus der SPD-Fraktion gehalten wird.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute haben wir aufgrund unseres Antrags erneut Gelegenheit, über die Regelsätze zu debattieren. Viele Forderungen haben wir schon im März gestellt. Leider haben
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, bisher nichts davon aufgegriffen.
Die Fraktionsspitzen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen haben in einem gemeinsamen Brief vom
22. Oktober 2010 die Kanzlerin um ein Gespräch über
den Gesetzentwurf zu den Regelsätzen gebeten - bisher
ohne Erfolg. Das ist nicht zu verstehen; denn die Bundesregierung braucht die Zustimmung der SPD im Bundesrat.
Es geht immerhin um mehr als 7,7 Millionen Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, und um
2 Millionen arme Kinder, denen die Karlsruher Richter
ein individuelles Recht auf Teilhabe an Bildung und
Kultur zugestanden haben. Wo, so frage ich Sie, bleibt
die Kanzlerin? Wir sehen einmal mehr, welch geringen
Stellenwert die Sozialpolitik für diese Bundesregierung
hat.
({0})
Im Gegensatz zu Bankern, der Pharmaindustrie, Energiekonzernen und Hoteliers haben arme Kinder und deren Eltern keine Lobby.
Der Gesetzentwurf muss dringend überarbeitet werden. Wir sind dazu bereit.
({1})
Es gibt einiges zu besprechen. Im Gegensatz zu Ihnen
sind wir nicht der Überzeugung, dass Ihre Berechnung
der Regelsätze verfassungsfest ist. Warum legen Sie bei
der Berechnung der Erwachsenenregelsätze nicht, wie
bisher, die unteren 20 Prozent der Einkommen zugrunde,
und warum beziehen Sie Menschen, die aufstockende
Sozialleistungen erhalten, in die Referenzgruppe ein?
Wir halten das für falsch.
({2})
Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es dem Urteil
der Verfassungsrichter entspricht, wenn Sie bei Verbrauchspositionen willkürlich Abschläge oder Streichungen vornehmen.
Wir kritisieren ferner Ihre Berechnung der Kinderregelsätze. Wir fordern einen Expertenkreis und Vorschläge für eine bessere Berechnungsmethode.
({3})
Es ist ein Fortschritt und eine Riesenchance für unser
Land, dass Kinder aufgrund ihrer Armut nicht länger
von einer gerechten Teilhabe an Bildung, Sport und Kultur ausgeschlossen werden dürfen. Wir Bundestagsabgeordnete haben jetzt die Verantwortung, gleiche Bildungschancen sicherzustellen. Bisher war dies allein
Aufgabe der Länder. Wir fordern eine gemeinsame Bildungsoffensive von Bund, Ländern und Kommunen.
({4})
Wir dürfen es uns nicht leisten, auf das Können und
die Begabung auch nur eines unserer Kinder zu verzichten. Das dürfen wir nicht zulassen. Deutschland gibt insgesamt nur 4,7 Prozent des Bruttoinlandproduktes für
Bildung aus. Wir liegen damit deutlich unter dem
OECD-Durchschnitt. Island und die USA investieren
fast 8 Prozent. Nur mit mehr und besserer Bildung und
Ausbildung können wir das ändern und dem drohenden
Fachkräftemangel begegnen.
({5})
Dies gelingt nur, wenn wir alle Kinder und Jugendliche mitnehmen. Deshalb fordern wir dazu auf, dass auch
Kinder von Geringverdienenden in das Bildungspaket
und die Versorgung mit warmen Mittagessen einbezogen
werden. Gerechte Teilhabe ist nur möglich, wenn Ganztagsschulen und Kitas bedarfsdeckend ausgebaut werden. Kinder und Angebote müssen zusammengebracht
werden. Mit einem Ausbau der Sozialarbeit an Schulen
und Kitas kann das gelingen.
In unserem Antrag geht es aber nicht nur darum, Bedürftigen eine verfassungsfeste und menschenwürdige
Grundsicherung zu gewährleisten. Wir müssen verhindern, dass Menschen überhaupt auf Sozialleistungen angewiesen sind.
({6})
Das erreichen wir mit existenzsichernder guter Arbeit.
Nur ein gesetzlicher Mindestlohn kann hier helfen. Ab
1. Mai 2011 werden wir in der EU vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit haben.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ja. - Spätestens dann wird sich der Druck auf den
Niedriglohnbereich weiter erhöhen. Hoffentlich begreifen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU
und FDP, schon vorher, dass es ohne den Mindestlohn
nicht gehen wird.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Carsten
Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen,
vor allen Dingen liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD! Herzlichen Dank für den Antrag. Er ist diesmal
15 Seiten lang. Der Antrag ist - das muss ich zugeben eine gute Basis für eine sachliche Auseinandersetzung.
Sie loben uns zuweilen, Sie kritisieren uns zuweilen, und
am Ende legen Sie konkrete Vorschläge auf den Tisch.
Wir sollten uns hier jetzt aber nicht nur über Gemeinsamkeiten austauschen, sondern wir sollten auch, weil
Sie die Themen - Mindestlohn und andere - so angesprochen haben, wie Sie es getan haben, die fundamentalen Unterschiede herausstellen. Frau Hiller-Ohm, ich
kann jetzt natürlich nicht auf jeden Punkt eingehen, aber
es gibt auf der ersten Seite des Antrags eine schöne Präambel, in der Sie die drei großen Punkte zum Ausdruck
bringen. Sie schreiben erstens, dass Sie daran zweifeln,
dass das, was berechnet wird, verfassungsgemäß ist.
Zweitens fordern Sie die Einführung eines Mindestlohns, auch um - das hatten Sie gesagt - dem Problem
der Aufstocker zu begegnen. Der dritte Punkt bezieht
sich auf das Bildungs- und Teilhabepaket.
Ich möchte gerne auf diese Punkte eingehen. Der
erste Punkt betrifft das Existenzminimum. Wir haben bei
der Berechnung nicht viel anders gemacht als Sie damals. Wir haben die existenzsichernden Positionen genommen, die neuen Positionen, und - jetzt kommt es wir haben Wertentscheidungen getroffen. Wenn Sie jetzt
in diesem Antrag fordern, dass wir für diese Wertentscheidung eine Sonderauswertung brauchen, haben Sie,
glaube ich, das Urteil aus Karlsruhe nicht richtig verstanden. Denn die Karlsruher Richter haben gesagt, dass
diese Wertentscheidung eine politische Entscheidung ist.
Genauso wie Sie damals entschieden haben, dass
Glücksspiel und Flugreisen nicht zum Regelsatz gehören, haben wir jetzt entschieden, dass auch Alkohol und
Zigaretten nicht dazugehören. Das sind Wertentscheidungen; da bedarf es keiner Sonderauswertung.
({0})
Diese Wertentscheidung war vielmehr eine politische
Entscheidung. Es war richtig, dass wir sie getroffen haben.
({1})
Zum Mindestlohn und zur Aufstockerdebatte. Ich bin
Ihnen ein bisschen dankbar, dass Sie das ansprechen. In
meiner Zeit als Abgeordneter gibt es kaum ein Thema in
der Arbeitsmarktpolitik, bei dem die veröffentlichte
Meinung bzw. die öffentliche Meinung und die tatsächliche Gemengelage so weit auseinanderliegen wie bei der
Aufstockerproblematik, die Sie gerne mit einem Mindestlohn beheben wollen.
Ich habe hier die druckfrischen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, den Monatsbericht Oktober.
({2})
- Ja, ich bin gut vorbereitet. - Demnach gibt es in
Deutschland 1,37 Millionen Aufstocker. Rund 684 000,
also knapp 700 000 der Aufstocker haben einen Job, in
dem sie bis zu 400 Euro pro Monat verdienen. 225 000
von ihnen haben einen sogenannten Midijob und verdienen zwischen 400 und 800 Euro im Monat. Zusammen
machen sie rund 75 Prozent aller Aufstocker aus.
Diese Menschen können von ihrem Lohn nicht leben,
weil sie zu wenige Stunden arbeiten. Bei den restlichen
334 000 Menschen, die einen Vollzeitjob haben, handelt
es sich in der Regel um Menschen mit Familien. Da Sie
sich auf die Ergebnisse der Studien des IAB und des IZA
berufen, müssten Sie so redlich sein, diese Personen herauszurechnen. Das geht. Würden Sie das tun, müssten
Sie allerdings nicht einen Mindestlohn von 8,50 Euro
pro Stunde, sondern einen Mindestlohn von 12 oder
13 Euro pro Stunde fordern. Dann wären die Aufstocker
herausgerechnet.
({3})
- Frau Kramme, das waren die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Diese Zahlen sind seriös und aktuell. Ich
wollte sie Ihnen nur ganz sachlich präsentieren, damit
wir diese Debatte auf der richtigen Grundlage führen.
({4})
- Frau Kramme, ich kann Ihnen gerne entgegenkommen. Wenn Sie das wollen, kann ich auch einen versöhnlichen Abschluss finden.
({5})
Frau Hiller-Ohm, Sie haben es angesprochen: Die
kommunalen Strukturen bzw. die Kommunen müssen
eingebunden werden. Das ist ein konstruktiver Vorschlag. Wir sehen das genauso.
({6})
Man muss Gespräche mit der Bundesagentur für Arbeit
und mit dem Ministerium führen. Man muss aber auch
Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden führen, um sie einzubinden; das sehen wir genauso. Wenn
wir die Zeit nutzen, auch im Rahmen der Anhörung,
werden wir zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.
Will man konstruktiv zusammenarbeiten, muss man über
diese Themen sprechen.
({7})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Katja
Kipping das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Februar dieses Jahres hat das Bundesverfassungsgericht
geurteilt, dass die Hartz-IV-Regelsätze nicht der Menschenwürde entsprechen
({0})
und transparent neu zu berechnen sind. Der Gesetzentwurf von Schwarz-Gelb wird dem nicht gerecht. Ich
finde, daran muss noch vieles geändert werden.
({1})
Alle drei Oppositionsfraktionen - Sie werden wahrscheinlich sagen, dass das zu erwarten war -, aber auch
alle Sozialverbände kritisieren, dass sich die Regierung
gegenüber dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
sehr ignorant verhält. Oder können Sie mir auch nur einen Sozialverband nennen, der den vorliegenden Gesetzentwurf als mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts völlig übereinstimmend bezeichnet? Sollte Ihnen
nicht zu denken geben, dass Sie nicht einen einzigen Sozialverband, der sich unterstützend an Ihre Seite stellt,
nennen können?
Klar ist: Die Herangehensweise von Schwarz-Gelb ist
voller Tricks und voller Abschläge. Die vier Minuten
Redezeit, die ich habe, reichen nicht aus, um alle Tricks
auch nur zu nennen.
Um eine Ungereimtheit zu erläutern: Die Regelsatzhöhe wird auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe errechnet. Zur Erläuterung: Einkommens- und Verbrauchsstichprobe meint, dass viele
Haushalte drei Monate lang ihre Ausgaben in einem
Haushaltsbuch festhalten, und daraus wird dann der ReKatja Kipping
gelsatz abgeleitet. Interessanterweise sind in die jetzige
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vier Personen
eingeflossen, die für Ernährung bzw. Nahrungsmittel
0 Cent ausgegeben haben. Nur zur Erinnerung: Wir reden über einen Zeitraum von drei Monaten.
Als ich diesen Umstand im Ausschuss ansprach, war
der Staatssekretär ganz überrascht, weil er ihm selbst offensichtlich nicht aufgefallen war.
({2})
Seine Mitarbeiter haben dann bestätigt: Ja, es gibt vier
Haushalte, die über drei Monate hinweg 0 Cent für Nahrungsmittel ausgegeben haben. Meine Damen und Herren, ich kenne einige Leute, die ab und zu fasten. Aber
ich kenne niemanden, der es ausgehalten hat, drei Monate lang nur von Luft und Liebe zu leben. Hier müssten
auch Sie stutzig werden und sagen: In der EVS gibt es
Ungereimtheiten. - Diese Zahlen kann man doch nicht
blind übernehmen!
({3})
- Im Ausschuss ist mir recht gegeben worden, Herr
Zimmer.
({4})
Sie berufen sich auf die Abschläge für Alkohol und
spielen dabei mit Vorurteilen, die gegenüber Erwerbslosen bestehen. Ich will in Erinnerung rufen, dass man
dazu auch eine andere Meinung haben kann. Herr
Straubinger von der CSU zum Beispiel hat im Ausschuss
gesagt: In Bayern gehört Bier zu den Grundnahrungsmitteln. Ich würde nicht so weit gehen, Bier als Grundnahrungsmittel zu bezeichnen. Aber ich finde, zum kulturellen Standard unserer Gesellschaft gehört, dass man bei
einer Familienfeier ein Glas Wein ausgeben oder bei einem Treffen mit Freunden ein Bier trinken darf.
({5})
Im Übrigen: Durch die Kürzung des Regelsatzes um
16 Euro werden eben nicht nur die Menschen getroffen,
die trinken und rauchen, sondern auch die Menschen, die
sich mit dem Geld einfach richtig gesund ernähren oder
Spielsachen für Kinder kaufen wollen.
({6})
Sie tun hier so, als ob es bei den Abschlägen immer
nur um Zigaretten und Alkohol geht. Man muss hier
doch noch einmal in Erinnerung rufen, dass es in sehr
vielen Bereichen Abschläge gibt. Sie sind zum Beispiel
der Meinung, wer auf Hartz IV angewiesen sei, der habe
kein Anrecht auf eine Hausratversicherung, der müsse
kein Geld für Blumen ausgeben usw. Diese Herangehensweise und dieses Menschenbild teilen wir Linke
nicht.
({7})
In dem vorliegenden Antrag wird das schwarz-gelbe
Herangehen zu Recht kritisiert; denn der Gesetzentwurf
von Schwarz-Gelb enthält auch jede Menge Verschlechterungen. Sie führen zum Beispiel eine neue Regelbedarfsstufe 3 ein, das heißt, für Erwachsene, die mit anderen Erwachsenen zusammen im Haushalt leben, sollen
nur noch 80 Prozent des Regelsatzes gezahlt werden.
Hinter diesem spröden Begriff „Regelbedarfsstufe 3“
verstecken sich womöglich schlimme Verschlechterungen, zum Beispiel für Menschen mit Behinderung. Behindertenverbände befürchten, dass erwachsene Behinderte, wenn sie aufgrund ihrer Behinderung weiter bei
ihren Eltern leben, in Zukunft nicht mehr 100 Prozent
des Regelsatzes bekommen, sondern nur noch 80 Prozent. Das wären immerhin 73 Euro im Monat weniger.
Ich habe im Ausschuss dreimal nachgefragt, ob Sie
ausschließen können, dass es zu Verschlechterungen
kommt.
({8})
Ich habe ausschweifende Antworten gehört, aber Sie haben nicht klar gesagt: Ja, das können wir ausschließen.
Deswegen fordere ich Sie auf: Stellen Sie hier eindeutig
fest, dass nicht geplant ist, dass es zu Verschlechterungen für Behinderte kommt, die auf Hartz IV angewiesen
sind. Diese Menschen haben es ohnehin nicht leicht.
({9})
Um das zusammenzufassen und zum Abschluss zu
kommen, kann ich nur sagen: Wir sagen Nein zu den
schwarz-gelben Rechentricks, damit wir Ja zu dem
Grundrecht auf gesellschaftliche Teilhabe sagen können.
Die Linke meint: Wenn man das Urteil ernst nimmt,
dann muss man erstens die Sanktionen abschaffen, zweitens die Bedarfsgemeinschaft auf den Prüfstand stellen
und drittens den Regelsatz deutlich erhöhen;
({10})
denn ein Regelsatz, der ohne Rechentricks berechnet
worden ist und der sowohl für gesunde Ernährung als
auch für ein Monatsticket ausreicht, muss deutlich höher
sein.
Danke schön.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, es freut mich,
dass Sie sich nun auch konkret in die Debatte einbringen. Allein das Wie überzeugt mich nicht.
({0})
Sie werfen der Regierungskoalition Fehler bei der Berechnung der Regelsätze vor und sprechen davon, dass
die Regelbedarfe nicht transparent und nicht in einem
methodisch schlüssigen Verfahren ermittelt worden sind.
({1})
Diese Aussage ist schlichtweg falsch, liebe Frau
Kramme.
Innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht gewährten Zeit haben wir die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts mithilfe der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus dem Jahr 2008 umgesetzt. Noch
nie wurden in der Politik die Regelsätze so nachvollziehbar und transparent ermittelt, wie dies nun die Regierungskoalition getan hat.
({2})
Sie kritisieren die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe als Berechnungsgrundlage für die Referenzgruppe.
({3})
Bei den Paarhaushalten mit Kind bleiben nach dem Herausrechnen derjenigen, die komplett von Transferleistungen leben, die untersten 20 Prozent der Haushaltsnettoeinkommen übrig. Dabei kommen wir beim
Nettoeinkommen auf einen Grenzwert von über 2 500
Euro. Ich finde, dass wir diese Zahl ruhig mehr in den
Mittelpunkt der Debatte stellen sollten. Für die Berechnung des Regelsatzes orientieren wir uns an den Ausgaben, die Haushalte tätigen, die über ein Nettoeinkommen
von bis zu 2 500 Euro verfügen.
Bei den Einpersonenhaushalten haben wir zur Ermittlung des Grenzwertes der Nettoeinkommen die unteren
23,6 Prozent der Nettoeinkommen berücksichtigt. Rechnet man hier die Empfänger heraus, die vollständig von
Transferleistungen leben, dann wird die Referenzgruppe
in der Tat kleiner. Der für die Höhe des Regelsatzes aber
im Besonderen maßgebliche Grenzwert der Nettoeinkommen bleibt dadurch hingegen unverändert.
({4})
Das ist nicht willkürlich festgelegt, sondern das steht
vollkommen in Einklang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Des Weiteren kritisieren Sie, dass das Phänomen der
sogenannten verschämten Armut - dabei geht es um diejenigen, die eigentlich Sozialleistungen erhalten könnten,
dies aber aus unterschiedlichsten Gründen nicht tun nicht berücksichtigt wird. Das ist zunächst richtig. Aber
Sie übersehen oder verschweigen wieder einmal den
Hintergrund. Denn es gibt eine nachvollziehbare Begründung dafür, die sich auch im Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen findet.
({5})
Ich zitiere aus der Begründung:
Hinzu kommt, dass aufgrund der Vielgestaltigkeit
der Einkünfte von Haushalten eine Einzelfallauswertung der Haushalte erfolgen müsste, die weder
durch Wissenschaft noch durch das Statistische
Bundesamt zu leisten wäre.
({6})
In Verdachtsfällen müssten die zuständigen Träger
nach dem SGB II oder dem SGB XII eine Einkommens- und Vermögensprüfung durchführen, um
festzustellen, ob eine Person beziehungsweise ein
Haushalt hilfebedürftig ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, man
kann zwar vieles für wünschenswert erachten, dabei
sollte man jedoch auch versuchen, seinen Wunsch und
die gestaltbare Wirklichkeit in Einklang zu bringen.
({7})
Dies gelingt Ihnen mit Ihren Forderungen zum jetzigen
Zeitpunkt aber noch nicht.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sodann kritisieren
Sie die Fortschreibung der Regelsätze, wie sie die Koalition plant, nämlich die Orientierung an der Nettolohnentwicklung zu 30 Prozent und an der regelsatzrelevanten Preisentwicklung zu 70 Prozent. Sie halten die
teilweise Koppelung an die Nettolöhne für falsch.
Doch wie war die Regelung in den letzten Jahren?
({9})
Es war eine Koppelung an die Rentenentwicklung, die
wiederum von den Nettolöhnen abhängt. Eine Koppelung über das Vehikel der Rentenentwicklung fanden Sie
die letzten Jahre über in Ordnung. Einen Mischindex
halten Sie jetzt für falsch.
({10})
Das glauben Ihnen die Menschen nicht, zumal wir gegenwärtig auch nur eine Übergangslösung brauchen, bis
die laufende Wirtschaftsrechnung die Grundlage für die
Anpassung sein kann.
({11})
- Anscheinend treffen Sie meine Worte, Frau Kramme,
so aufgeregt wie Sie heute sind. ({12})
Sie wird in den kommenden Jahren breiter und differenzierter aufgestellt und schneller ausgewertet werden
können. Dann werden wir sie für die Fortschreibung des
Regelsatzes nutzen. Zurzeit geht es um eine Übergangslösung.
Abschließend möchte ich noch zu den Bildungs- und
Teilhabechancen von Kindern kommen. Die Koalition
hat jetzt zum ersten Mal den Regelbedarf von Kindern
eigenständig und transparent berechnet.
({13})
Wir schnüren das Bildungspaket von 620 Millionen
Euro pro Jahr. Wir sorgen dafür, dass Kinder dort, wo es
gemeinsames Schulmittagessen gibt, daran teilnehmen
können. Sie werden am kulturellen und sportlichen Leben teilhaben können, und sie haben in Zukunft die
Möglichkeit, auch an eintägigen Klassenfahrten teilnehmen zu können.
Im Sinne der Bildungsgerechtigkeit geben wir jedem
Kind die Möglichkeit zur Entwicklung seiner Fähigkeiten. Es darf nicht durch die persönliche Lebenssituation
seiner Eltern beeinträchtigt werden.
Aber was haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der SPD, in den Jahren Ihrer Regierungszeit für die Kinder getan?
({14})
Sie kritisieren heute, dass nicht jedes Kind von den zusätzlich zur Verfügung stehenden Geldern ein Musikinstrument kaufen kann. Das ist richtig: zumindest nicht
jedes Musikinstrument.
({15})
Aber was haben Sie in den letzten Jahren in dieser Richtung gemacht? Nichts haben Sie gemacht.
({16})
Sie kritisieren hier, dass die Koalition nicht genug gemacht hat. Aber Sie müssen dann auch offen sagen, dass
Sie das Thema der Chancen von Kindern im Rechtskreis
des SGB II in den letzten Jahren überhaupt nicht interessiert hat.
Diese Koalition handelt für die Kinder. Ihr Antrag
hingegen will nur von Ihren Fehlern in der Vergangenheit ablenken. Das aber gelingt Ihnen nicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort hat nun der Kollege Markus Kurth für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kober, ich glaube nicht, dass es Ihnen zusteht, hier mit
dem Finger auf andere zu zeigen. Die Verantwortlichkeiten und Fehler, die sicherlich gemacht worden sind, sind
von fast allen Fraktionen im Hause gemeinsam gemacht
worden. Denn die Regelsatzverordnung ist von der Bundesregierung und den Landesregierungen verabschiedet
worden. So viel zur historischen Wahrheit.
({0})
Wenn an dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf
eines transparent und nachvollziehbar ist, Herr Kober,
dann ist es Ihre Absicht, die Bezieherinnen und Bezieher
von Arbeitslosengeld II zu diskriminieren.
({1})
Das wird an verschiedenen Stellen in dem Gesetzentwurf deutlich, zuvörderst im Bereich der Regelleistungen, indem Sie zum Beispiel eine vollkommen anerkannte und übliche Kulturdroge, nämlich den Alkohol,
aus der Regelleistung herausnehmen. Es ist schon ein
starkes Stück, Herr Linnemann, das mit Flugreisen zu
vergleichen.
Diskriminierend ist auch, dass Sie etwa Arbeitslosengeld II beziehenden Eltern nicht zugestehen wollen, mit
ihrem Kind in die Eisdiele zu gehen und sich ein Eis zu
kaufen.
({2})
Es gibt noch eine Reihe von Regelungen, die einem
zwar nicht direkt ins Auge stechen, die aber auch zeigen,
dass Sie im Sozialrecht jetzt mit zweierlei Maß messen.
Zum Beispiel wollen Sie laut Ihrem Gesetzentwurf Darlehen als Einkommen anrechnen.
({3})
Das ist ein glatter Bruch mit den bisherigen Prinzipien
der Einkommensanrechnung in bedürftigkeitsabhängigen Sozialsystemen. Wissen Sie, was das zur Folge haben wird? Der Bezieher von Arbeitslosgengeld II, dessen Kühlschrank kaputtgeht und der die Gelegenheit hat,
sich von einem Freund 100 Euro zu leihen, um einen gebrauchten Kühlschrank zu kaufen, wird diese Gelegenheit in Zukunft nicht mehr wahrnehmen können. Er wird
zur Bundesagentur für Arbeit gehen, einen umfänglichen
Streit darüber führen, ob der entsprechende Bedarf unabweisbar ist oder nicht, und sein Darlehen schließlich von
der Bundesagentur für Arbeit bekommen. Möglicherweise gibt es obendrein noch ein Sozialgerichtsverfahren.
Was wollen Sie denn eigentlich? Reichen Ihnen die
1,1 Millionen Darlehen, die die BA jetzt schon verwalten muss, nicht aus? Wollen Sie sie noch weiter zur
größten Bad Bank für Arme machen? Das ist doch absurd!
({4})
Eine weitere diskriminierende Regelung ist die Verkürzung der Nachzahlungspflicht bei falschen Bescheiden von vier Jahren auf ein Jahr. Allen anderen Sozialleistungsbeziehern - etwa Rentnerinnen und Rentnern werden bei einem falschen Bescheid die Leistungen für
vier Jahre nachgezahlt. Nur bei Beziehern von Arbeitslosengeld II soll das jetzt nur noch für ein Jahr gelten.
Auch das ist eine Diskriminierung, ebenso wie der Verzicht auf die Rechtsfolgenbelehrung bei der Verhängung
von Sanktionen. Es ist vollkommen unerheblich, ob es
sich um sogenannte Wiederholungstäter handelt oder
nicht. Es wird ein Spezialrecht für Bezieher von Arbeitslosengeld II eingeführt. Wie kann man das anders als
Diskriminierung bezeichnen?
({5})
Den größten Fehler drohen Sie zu begehen, indem Sie
Sachleistungen und Gutscheine für Kinder einführen. Es
zeichnet sich immer offensichtlicher ab, dass dies in Widerspruch zu den vorhandenen Strukturen der Kinderund Jugendhilfe steht. Möglicherweise erzielen Sie sogar kontraproduktive Effekte, wenn derzeit ermäßigte
oder kostenfreie Regelangebote der Kinder- und Jugendhilfe einfach mit dem Gutschein verrechnet werden und
unter dem Strich kein Ausbau von Infrastruktur und Förderangeboten erfolgt.
Das alles ist überhaupt nicht durchdacht. Sie haben in
der Sommerpause überlegt, wie Sie glänzen können. Die
Ministerin hielt dann die Chipkarte für eine gute Idee.
Im harten Licht der Praxis zeigt sich jetzt aber, wie
schwierig das ist. Vor allen Dingen zeigt sich jetzt die fatale Wirkung des Kooperationsverbots, das die Große
Koalition mit der Föderalismusreform beschlossen hat.
({6})
Anstelle eines möglicherweise diskriminierenden Einzelgutscheins wäre das Zusammenwirken von Kommunen, Ländern und Bund im Bereich von Bildung und
Kinderförderung außerordentlich dringend notwendig.
Ich hoffe, dass Sie diesbezüglich noch einmal in sich gehen und zu Einsicht gelangen.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für
die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
liebe Kollegen! Lieber Herr Kurth, liebe Frau Kollegin
Hiller-Ohm, wenn man Sie reden hört, hält man es nicht
für möglich, dass Sie bei Einführung der SGB-II-Regelungen in der bis vor kurzer Zeit geltenden Form tatsächlich an der Regierung waren.
({0})
Sie, Herr Kurth, rufen: „Haltet den Dieb!“, haben uns
das aber selbst mit eingebrockt. Es stünde uns allen gut
an, liebe Frau Kollegin Hiller-Ohm, einfach zu sagen:
Wir haben es nicht richtig gemacht, wir sind jetzt aber
auf dem Weg, es besser zu machen.
({1})
In Ihrem Antrag vom 10. November 2010 heißt es ich zitiere -:
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Der Bundestag bedauert …
Sie wünschen, dass wir beschließen, dass wir feststellen,
dass wir bedauern sollen. Ist das richtig?
({2})
Ich glaube, dass diesem Antrag zu Recht keine Mehrheit
beschieden sein wird.
Zum Inhalt. In Ihrem Antrag steht - ich zitiere -:
Die Regelbedarfe werden nicht transparent und in
einem methodisch schlüssigen Verfahren ermittelt.
Sie werden auf Grundlage der EVS transparent ermittelt; das wissen Sie doch. Sie werden in einem methodisch schlüssigen Verfahren ermittelt. Entsprechend der
zutreffenden Kritik des Bundesverfassungsgerichts an
der Pauschalierung der Regelsätze für Kinder werden die
Abschläge für Kinder erstmalig transparent gemacht;
dies wird mit eigenen Bedarfssätzen für Kinder unterlegt.
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Die Kollegin
Kipping möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, selbstverständlich. - Ich wäre ohnehin noch zu Ihnen gekommen - rhetorisch natürlich.
Herr Lehrieder, Sie haben unterstrichen, dass die Regelsätze transparent berechnet werden. Können Sie erläutern, warum Ihre Fraktion und die FDP-Fraktion im
Ausschuss allen Oppositionsfraktionen verwehrt haben,
alternative Berechnungen in Auftrag zu geben? Es ging
uns nur um alternative Berechnungen, die erst einmal InKatja Kipping
formationen darüber geliefert hätten, was es überhaupt
bedeutet, wenn verdeckt Arme herausgerechnet werden.
Sie können sich nicht wie der Kollege Kober hinter dem
Statistischen Bundesamt verstecken; denn wir wissen
sehr wohl, dass das Statistische Bundesamt in der Lage
wäre, Haushalte aus der Referenzgruppe herauszurechnen, die nur einen minimalen Hinzuverdienst haben. Sie
wollten das nicht. Jetzt sagen Sie mir einmal bitte, wie
das Verweigern von alternativen Berechnungen mit
Transparenz zu vereinbaren ist.
Frau Kollegin Kipping, Sie selber wissen, dass zur
Vermeidung von Zirkelschlüssen die Betroffenen ohnehin herausgerechnet worden sind.
({0})
- Über die 13 Prozent bzw. die 20 Prozent kann man
sich trefflich streiten. - Wir können natürlich die Berechnungsmethoden infrage stellen und für alternative
Berechnungen plädieren. Es handelt sich um Kohorten,
die bis zu einem gewissen Grad auf kleine Gruppen beschränkt werden können. Sie werden aber nicht jeden individuellen Fall in der Berechnung abbilden können,
Frau Kollegin Kipping.
({1})
Sie müssten versuchen, für jeden Einzelfall eine gerechte Lösung zu finden, was mit einem nicht mehr zu
rechtfertigenden Verwaltungsaufwand verbunden wäre.
Die EVS ist zugrunde gelegt worden, die im Übrigen
nicht wir erfunden haben, sondern die wir fortentwickelt
haben. Sie hat in der letzten Zeit zutreffende Ergebnisse
geliefert. Der von Ihnen in der Frage aufgeworfene
Sachverhalt, warum die Angaben der Haushalte mehrere
Monate keinen Betrag für Lebensmittel enthalten haben,
erschließt sich mir auch nicht.
({2})
Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass man hier eine
größere Menge eingekauft hat, die vielleicht noch im
Keller liegt. Man kann natürlich Alternativberechnungen
durchführen bis zum Gehtnichtmehr. Es ist das Vorrecht
der Opposition, das zu fordern und pauschal auf Alternativen hinzuweisen. Wir haben aber ein schlüssiges, vom
Bundesverfassungsgericht nicht beanstandetes Verfahren
zur Ermittlung der Regelsätze angewandt. Das wird auch
in Zukunft vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand
haben. Damit habe ich kein Problem.
({3})
Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts steht darüber hinaus, dass nicht festgestellt werden kann, dass
der für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres
geltende Betrag von 207 Euro - das war der damals
einheitlich geltende Betrag - ein menschenwürdiges
Existenzminimum nicht ermöglicht. Sie sagen, das Bundesverfassungsgericht habe höhere Bedarfssätze vorgeschrieben. Das stimmt schlichtweg nicht. Ich habe das
schon einmal in einer Rede vor diesem Hause vorgetragen.
({4})
- Stellen Sie mir eine Zwischenfrage. Ich verstehe Sie so
schlecht.
({5})
Im Übrigen hätte die Neuberechnung zu einer geringfügigen Senkung der Regelsätze für Kinder und Jugendliche führen müssen. Auch das wissen Sie. Darüber haben
wir im Ausschuss gesprochen. Ausgerechnet worden
sind für Kinder von 0 bis 6 Jahren 213 Euro - das wären
2 Euro weniger als heute -, für Kinder von 6 bis 14 Jahren 242 Euro - das wären 9 Euro weniger als heute - und
für Jugendliche von 14 bis 18 Jahren - das ist die neu
eingeführte Gruppe - 275 Euro, also 12 Euro weniger
als derzeit. Wir haben die Beträge natürlich nicht reduziert, weil wir die Kinder und Jugendlichen in der Gesellschaft stärker unterstützen wollen. Die betroffenen
Familien genießen Vertrauensschutz.
Herr Kollege Strengmann-Kuhn möchte mich etwas
fragen.
Ich habe es gerade gesehen. - Bitte.
({0})
Herr Kollege Lehrieder, Sie haben gesagt, dass es unweigerlich so war, dass die Regelsätze für die Kinder geringer ausfallen als bisher. Können Sie mir Folgendes erklären? Bei den 14- bis 18-Jährigen sind Sie in Ihren
Berechnungen davon ausgegangen, dass sie genauso viel
Alkohol und Tabak konsumieren wie Erwachsene. Bei
den jüngeren Kindern wurden diese Posten durch entsprechende Beträge für Nahrungsmittel ersetzt. Ansätze
für Alkohol und Tabak gab es nur für die Eltern. Mit
welcher Begründung gehen Sie davon aus, dass 14- bis
18-Jährige genauso viel Tabak und Alkohol konsumieren wie Erwachsene?
Herr Strengmann-Kuhn, Sie wissen so gut wie ich,
dass wir bisher in den Pauschalbeträgen - ob 60, 70 oder
80 Prozent des Erwachsenenbedarfssatzes - auch für
Kleinkinder bis sechs Jahre immer einen anteiligen Satz
für Tabak und Alkohol gehabt haben. Ich kenne kein
fünfjähriges Kind, das mit der Kippe durch die Gegend
läuft.
({0})
Es waren also Bedarfssätze dabei, die einfach nicht gepasst haben. Diese sind jetzt nicht mehr dabei.
Wir haben insgesamt eine Wertung getroffen - Kollege Linnemann hat darauf hingewiesen -, die uns vom
Verfassungsgericht auch zugestanden wurde, und haben
gesagt: Zur Existenzsicherung gehören Genussmittel
eben nicht in diesem Umfang.
({1})
Als Franke aus einer Weinbauregion sehe ich das natürlich mit gemischten Gefühlen. Ich bin froh, wenn unser Silvaner und die guten Schoppen aus Franken verkauft werden können. Aber Wein ist nicht existenziell
notwendig. Ich kann mich auch von Mineralwasser, von
Grundnahrungsmitteln ernähren.
({2})
Deshalb ist das, wie ich es gesagt habe, herausgerechnet worden; deshalb haben wir den Tabak und den Alkohol komplett herausgerechnet. Sie werden die EVS
durchschauen können, wie Sie wollen, dort findet sich
auch kein eigener Bedarfssatz für Schokolade oder für
Pralinés. Der eine mag es und gibt sein Geld dafür aus.
Die individuelle Kaufentscheidung des einzelnen Empfängers können, wollen und werden wir nicht beeinflussen. Das heißt, ob er sich Schnaps dafür kauft oder eine
Urlaubsreise davon finanziert, ob er sich Pralinés kauft,
kann er doch selbst entscheiden.
({3})
- Das ist eine Entscheidung, die jeder für sich treffen
muss.
Die Altersstufe zwischen 6 und 14 Jahren haben wir
kürzlich neu eingeführt und hier nun 70 Prozent des Regelsatzes eines alleinstehenden Erwachsenen - bisher
60 Prozent - vorgesehen. Das bedeutet immerhin pro
Kind 35 Euro mehr.
Etwa 1,6 Millionen Kinder leben von den Regelleistungen des SGB II. Darunter sind viele Kinder, deren Familien bereits in der dritten oder vierten Generation von
staatlicher Unterstützung leben. Auch das ist Ihnen bekannt. Das soll nicht so bleiben. Deshalb sehe ich unsere
zentrale Aufgabe darin, Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen und Kindern aus diesen Familien eine
Perspektive zu geben. Das sollte unser vorrangiges Ziel
sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, insoweit muss ich der Seite 1 Ihres Antrags widersprechen.
Die Bundesregierung begreift die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts eben doch als Chance, allen Kindern
und Jugendlichen gleiche Bedingungen für die beste Bildung zu ermöglichen. Deshalb müssen wir die Grundsicherung künftig so ausrichten, dass Kinder von Langzeitarbeitslosen bessere Bildungschancen und mehr
Aussicht auf ein Leben in Arbeit haben als ihre Eltern.
Es ist richtig: Erstmalig ist künftig ein Bildungsansatz
mit Bildungsangeboten enthalten. Es geht nicht nur um
die Absicherung der materiellen Bedürfnisse, sondern es
geht vielmehr auch um die Absicherung der immateriellen Bedürfnisse, es geht, wie das Verfassungsgericht so
schön schreibt, um die Teilhabe an der Gesellschaft. Dabei geht es nicht nur um Kinder, deren Eltern Hartz IV
beziehen, sondern auch um die Kinder der Geringverdiener, der Aufstocker. Bei unseren Berechnungen dürfen
wir auch diese nicht aus dem Blick verlieren. Auch ihnen müssen wir Perspektiven eröffnen; denn in jedem
Kind stecken Hoffnungen, Begabungen und Fähigkeiten.
Wir werden die jetzt laufende Diskussion über den
sich abzeichnenden Facharbeitermangel auch dazu nutzen müssen, um zu fragen: Wie können wir das erreichen, was unsere Arbeitsministerin in ihrer Zeit als Familienministerin immer gesagt hat? Sie hat gesagt: Kein
Kind darf verloren gehen. Wir sollten uns gemeinsam
anstrengen - das gilt auch für die Kollegen von der SPD -,
dass wir die Kinder bestmöglich fördern. Wir brauchen
sie in den nächsten Jahren in unserer Gesellschaft.
({4})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Große
Koalition hatte schon das Schulstarterpaket eingeführt.
({5})
- Darauf können Sie doch ein bisschen stolz sein. Jetzt
tun Sie so, als sei das, was wir damals zusammen gemacht haben, alles falsch gewesen. Seien Sie froh. Das
haben wir doch gut gemacht.
({6})
- Wir haben uns eben von Ihnen ein Stück weit begeistern lassen.
({7})
- Die Kollegin Müller-Gemmeke möchte gerne etwas
fragen. Ich würde die Zwischenfrage zulassen.
({8})
- Ich wollte nur im Hinblick auf die fortgeschrittene Zeit
nicht allzu lange reden.
Bitte sehr, Frau Müller-Gemmeke.
Herr Kollege Lehrieder, ich muss einmal nachfragen,
weil Sie gerade gesagt haben, es solle kein Kind verloren
gehen. Nun gibt es aber doch die Anweisung, dass für
Kinder aus dem SGB-II-Bereich gelten soll: Wenn ein
Kind die Prognose hat, dass es die nächste Klassenstufe
nicht erreicht, wird die Lernförderung nicht genehmigt.
Wenn ein Kind Lernförderung erhalten soll, damit es auf
eine höhere Schule gehen kann, gibt es auch keine Lernförderung. Wie passt das mit dem zusammen, was Sie
eben gesagt haben, dass nämlich speziell diese Kinder
eine besondere Lernförderung erhalten und dass sie
wirklich bessere Chancen haben sollen?
({0})
Frau Kollegin, Sie wissen so gut wie ich, dass es
Nachhilfe in verschiedenen Situationen gibt. Einmal gibt
es Nachhilfe, wenn das Kind Hilfe braucht, um überhaupt im laufenden Unterricht mitzukommen. Auf der
anderen Seite ist es oft genug so, dass die Eltern sagen:
Mein Kind muss unbedingt auf die und die Schule kommen. - Da muss man also in Absprache mit der Lehrerschaft differenzieren und schauen: Wo ist der Bedarf?
Wo kann eine Lernförderung gewährt werden?
Dass die Entscheidung darüber, wo eine Lernförderung zu gewähren ist, nicht im Jobcenter getroffen werden kann, sollte uns klar sein. Da gilt das, was der Kollege Linnemann vorhin gesagt hat und was, wie ich
annehme, Kollegin Lösekrug-Möller am Schluss harmonisierend darstellen wird: Wir sind gut beraten, hier mit
den bestehenden Einrichtungen der Jugendhilfe, der
Kommunen, aber auch mit den Schulen in Kontakt zu
treten, um zu erreichen, dass unsere Gelder zielgenau ankommen.
({0})
- Welche Kinder welche Förderung brauchen, muss herausgearbeitet werden. Wir müssen sehen, wo hier passgenau eine Chance für das Kind besteht, sodass es nicht
durchs Raster fallen kann.
({1})
- Ein Kind, das das Gymnasium vielleicht ohnehin nicht
schafft, für das die Eltern, auch wenn sie normal verdienen würden, keine Nachhilfe bezahlen würden, kann ich
nicht auf Staatskosten durchzuboxen versuchen.
({2})
- Natürlich, wo es nötig ist. Das müssen wir herausarbeiten. Das wird sich finden. Das werden wir definieren
können.
Herr Kollege Kurth hat in seinem Beitrag vorhin gesagt, er habe große Bedenken, weil bestehende Angebote
zurückgefahren werden könnten. Ich habe mir das extra
einmal von meiner Sing- und Musikschule in Würzburg
herausgesucht.
({3})
- Das waren mehrere Fragen, Frau Kollegin. Wenn Sie
noch eine Frage stellen, können es noch längere sechs
Minuten werden. - Da gibt es schon Sozialtarife. Bei einem bestimmten Einkommen zahlt das Kind bereits
heute nicht für den Unterricht in der Sing- und Musikschule. Das ist aber noch nicht flächendeckend so. Auch
beim warmen Mittagessen ist das noch nicht flächendeckend so.
Ich kann mir gut vorstellen, dass ein Schulaufwandsträger sich leichter tut, ein warmes Schulmittagessen anzubieten, wenn eine bestimmte Nachfrage realistisch zu
erwarten ist. Von daher tun wir damit etwas für die bedürftigen Kinder, helfen darüber hinaus aber auch den
Schulen ein Stück weit, das entsprechend zu planen.
Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Lassen Sie
uns das gemeinsam konstruktiv weiterentwickeln!
({4})
Wir haben Fehler der Vergangenheit ausgemerzt. Die
Fehler haben wir auf unsere gemeinsame Kappe zu nehmen. Deshalb sage ich: Lassen Sie uns an die Betroffenen denken, an die bedürftigen Familien, an die bedürftigen Kinder! Wir sollten uns hier nicht nur streiten,
sondern das so fortentwickeln, dass die wirklich etwas
davon haben.
Herzlichen Dank.
({5})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Gabriele Lösekrug-Möller für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir waren gerade Zuhörer einer kleinen Deutschstunde. Paul
Lehrieder, wo liegt der Unterschied zwischen „Wir lassen kein Kind zurück“ und „Das Kind kommt eben nicht
mit“? In der Differenz liegt eine Menge Politik.
({0})
Mein Eindruck ist, dass es Schwarz-Gelb mit dem
Gesetzentwurf gelungen ist, ein bestehendes Gesetz
nach einem Verfassungsgerichtsurteil zu verändern, leider zu verschlimmbessern. Das ist meine Einschätzung
von dem, was vorliegt.
({1})
Lassen Sie uns zu so später Stunde doch noch einmal
einen kleinen Rückblick wagen! Gehen wir zurück in
den Februar 2010. Da hat nämlich Karlsruhe entschieden, dass wir bestimmte Sachen deutlich anders und besser machen müssen. Dann kam das Frühjahr. Dann ging
das Frühjahr. Es passierte gar nichts. Im Juni war die
ganze Republik gerührt. Warum? Weil unsere Ministerin
sich für ein warmes Mittagessen für Kinder aussprach.
Im Juli stand die Zukunft kurz bevor; dank einer elektronischen Karte sollte nämlich Mehmet im Fußballverein
klarkommen und Maria Klavier spielen. Dann kamen die
Sommerferien, und die Spannung wuchs: Wird es denn
mit der Nachhilfe für die, die das brauchen, klappen?
Werden Jobcenter Erziehungslotsen haben? Das hat die
Nation bewegt. Dann kam der Herbst; Sie sagen ja: der
Herbst der Entscheidungen. In der Tat! Da kam der Gesetzentwurf, und die Mehrheit war enttäuscht, nicht Sie
als Mehrheit im Parlament, aber die Mehrheit in der Gesellschaft. Die Kirchen waren entsetzt. Die Wohlfahrtsverbände haben nicht verstanden, was das sein sollte.
Die Sozialverbände standen kopf. Auch die SPD-Fraktion wurde beinahe ratlos - beinahe.
({2})
Der Traum war kurz. Er dauerte nur einen Sommer lang.
Für mehr hat es nicht gereicht.
({3})
Ich will das am Beispiel des warmen Mittagessens erklären. Wie viele Schulen bieten es eigentlich an? Wenige; denn nur wenige Schulen in Deutschland sind
Ganztagsschulen. Statt einen großen Aufschlag zur Verbesserung der Bildungsinfrastruktur zu machen, begnügen Sie sich damit, Kindern im Sozialgeldbezug, natürlich nicht bar ausgezahlt, einen Zuschuss zu gewähren.
Wie vielen Kindern werden Sie am Ende wirklich damit
helfen können? Gehen wir von 1 Million schulpflichtiger
Kinder im Sozialgeldbezug aus und nehmen wir an,
wenigstens jede fünfte Schule bietet warmes Mittagessen an, dann beschränkt sich der „große Wurf“ auf
200 000 Kinder. Und die übrigen 800 000? Die haben
eben Pech gehabt, weil unsere Betreuungsinfrastruktur
für sie nicht das bietet, was sie brauchen.
({4})
Das ist nicht Teilhabe; das ist Teilchenhabe. Deshalb
sind wir damit überhaupt nicht einverstanden. Deshalb
verknüpfen wir in unserem Antrag die notwendigen Verbesserungsvorschläge zu den Regelsätzen mit Leistungen für Bildung und Teilhabe von Kindern und Jugendlichen. Deshalb streben wir einen nationalen Bildungspakt
an, der konkrete Ziele festschreibt. Die Einzelheiten
dazu finden Sie in unserem Antrag. Sie könnten sie glatt
übernehmen. In diesem Fall wäre Abschreiben eine gute
Leistung.
Im Übrigen, meine Damen und Herren, haben wir
gestern Schützenhilfe vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung erhalten. Man höre und staune! Das Gutachten trägt den
Titel „Chancen für einen stabilen Aufschwung“. Man
muss nur bis Seite 5 lesen, um Folgendes zu finden - ich
zitiere -:
Eine Bildungsoffensive muss zum einen das allgemeine Bildungsniveau in Deutschland … anheben.
Zum anderen besteht die Notwendigkeit, Chancengleichheit, insbesondere für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern, bei der Erlangung höherer Bildungsabschlüsse herzustellen.
({5})
Recht hat der Sachverständigenrat. Zu Recht fordert er
mehr als diese zaghafte Teilchenhabe.
({6})
Meine Damen und Herren, ich will Ihnen nur sagen:
Wenn es schon sozialpolitisch nicht reicht, dann müsste
es doch wenigstens volkswirtschaftlich ein Einsehen geben.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Die Fraktionen haben vereinbart, dass die Vorlage auf
Drucksache 17/3648 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse überwiesen werden soll. - Sie sind
damit einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
60 Jahre Europäische Menschenrechtskonven-
tion
- Drucksache 17/3423 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrej
Hunko, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention - Menschenrechte stärken, schützen und
durchsetzen
- Drucksache 17/3658 Die Fraktionen haben vereinbart, dass darüber etwa
eine halbe Stunde diskutiert wird. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Joachim Hörster für die CDU/CSUFraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und
Bündnis 90/Die Grünen haben einen gemeinsamen Antrag aus Anlass von 60 Jahren Existenz der Europäischen
Menschenrechtskonvention eingebracht.
Der Antrag ist so gut abgefasst, dass ich auf die Historie nur noch kurz eingehen muss. Ein paar wenige Dinge
will ich aber doch dazu sagen; denn der Europarat ist die
älteste europäische Institution von allen Organisationen,
die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen worden
sind. Sein Statut ist infolge einer visionären Entscheidung von europäischen Regierungschefs am 5. Mai 1949
unterzeichnet worden, und die Konvention der Gründerstaaten zum Schutz der Menschenrechte und der Grundrechte ist im November 1950 unterzeichnet worden. So
alt ist also dieses Vertragswerk.
Dieses Vertragswerk hat im Laufe der Jahre einige
Veränderungen erfahren. Am 3. September 1953 trat die
Konvention in Kraft, weil die Abwicklung all dessen
auch eine gewisse Zeit benötigte. Seitdem wurden
14 Protokollergänzungen vorgenommen. Heute gehören
47 Staaten dem Europarat an.
Die wichtigste Ergänzung der Europaratsvereinbarung war das Zusatzprotokoll Nr. 11 von 1992, weil darin der Grundstein für den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gelegt wurde, die wohl wichtigste
Einrichtung, die der Europarat neben seiner Parlamentarischen Versammlung hat. Für die Menschen ist dieser
Gerichtshof aber viel wichtiger als die Parlamentarische
Versammlung, weil sich jeder an diesen Europäischen
Menschenrechtsgerichtshof wenden kann. Er nahm 1998
seine Arbeit auf, und er ist aus der europäischen politischen Landschaft überhaupt nicht mehr wegzudenken.
Die Gründung des Europarates war auch in Deutschland kein Selbstläufer. Sie war ziemlich umstritten, und
es gab heftige Diskussionen darüber, ob der Beitritt der
Bundesrepublik Deutschland zum Europarat nicht die
Wiedervereinigung behindern könnte. Deswegen gab es
nicht nur Befürworter wie Konrad Adenauer, der massiv
für den Beitritt zum Europarat eintrat, sondern auch Kritiker, beispielsweise Jakob Kaiser aus der CDU oder die
Sozialdemokratische Partei, die Befürchtungen in ähnlicher Richtung hatte. Über die Grünen kann ich in diesem
Zusammenhang nichts sagen; sie waren noch nicht in
Sicht.
({0})
Der Europarat wurde gegründet, um die Menschenrechte und die parlamentarische Demokratie zu schützen. Er wurde als europaweites Abkommen zur Harmonisierung der sozialen und rechtlichen Praktiken der
Mitgliedstaaten gegründet, und er wurde in dem Bewusstsein begründet, eine europäische Identität zu wecken, die sich auf gemeinsame und über Kulturunterschiede hinausgehende Werte gründete. Wenn Sie so
wollen, war er eine Art Vorläufer der Europäischen
Union.
Der Europarat hat eine sehr wichtige Rolle beim Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten gespielt;
denn er hat diesen Staaten mit deren Aufnahme Hilfestellung bei der Transformation von früher kommunistisch organisierten hin zu marktwirtschaftlich organisierten Staaten gegeben, Staaten, die ein Justizsystem
einführen, das diesen Namen verdient, und die den Versuch unternehmen, die Menschenrechte zu achten, obwohl dies in diesen Beitrittsländern so selbstverständlich
nicht war. 21 mittel- und osteuropäische Staaten sind
dem Europarat seit dem Fall der Mauer beigetreten. Ungarn war das erste Land des ehemaligen Ostblocks, das
am 6. November 1990 beitrat.
Heute gehören zum Beispiel Aserbaidschan, Armenien und Georgien zum Europarat, sehr konfliktbeladene
Länder, die große Minderheitenprobleme haben, in denen es Besetzungen und Vertreibungen gegeben hat, in
denen auch die russische Großmacht noch überall die
Finger im Spiel hat und eine besondere Rolle spielt.
Dem Europarat gehören auch Länder wie Zypern an, das
geteilt und dessen nördlicher Teil durch die türkische Armee besetzt ist. Es gibt also fortdauernde Baustellen, die
sorgfältig beobachtet und bearbeitet werden müssen, um
die damit verbundenen Verletzungen der Europaratskonvention zu beseitigen, sodass die Staaten zur Normalität
zurückkehren können.
Aber auch für die praktische Arbeit, für praktische
Entscheidungen, die wir zu treffen haben, spielen die Erkenntnisse des Europarates eine erhebliche Rolle. Die
Türkei gehört zu denjenigen Mitgliedern des Europarats,
die die Menschenrechtskonvention schon am längsten
unterschrieben haben; aber zu dem, wozu sie verpflichtet
ist - die Achtung der Menschenrechte und der religiösen
Grundfreiheiten sowie anderes mehr -, ist sie bis heute
nicht gelangt.
({1})
Wenn wir angesichts dessen, dass die Türkei Mitglied
der Europäischen Union werden will, betrachten, welche
Entwicklung sie seit 1950 genommen hat, dann kann die
Hoffnung nicht allzu groß sein, dass sie rechtzeitig zu einem Beitritt zur Europäischen Union all die Schwierigkeiten beseitigt hat, die gegenwärtig vorhanden sind.
({2})
Ich will darauf aufmerksam machen, dass es - obwohl
doch angeblich die Menschenrechte in der Türkei eingehalten werden - nicht ganz verständlich ist, dass noch
heute der größte Teil der Asylbewerber in der Bundesrepublik Deutschland aus der Türkei stammt. Diese können nicht in ihr Land zurückgebracht werden, weil zu
befürchten ist, dass mit ihnen dort nicht menschenrechtswürdig umgegangen wird und dass sie vor Gericht nicht
fair behandelt werden. Auch in Bezug auf diese Entscheidungen kann man den Europarat befragen.
Ich will noch darauf hinweisen, dass wir auch mit anderen Ländern Probleme haben. Die kleinen Länder
lasse ich einmal außen vor; ich greife nur ein großes
Land wie Russland heraus. In diesem Zusammenhang
hat es verdienstvolle Berichte von deutschen Mitgliedern
in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
mit dem Ziel gegeben, die Einhaltung der Menschenrechte und die Beachtung der Pressefreiheit und der politischen Freiheiten in Russland zu erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wäre Ihnen als
Leiter der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates von Herzen dankbar, wenn Sie die Kolleginnen und Kollegen, die in der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates auch
für unser Land ihren Dienst leisten, in ihrer Arbeit unterstützen würden. Wir waren sehr dankbar, als die Bundeskanzlerin am 15. April 2008 den Europarat besucht hat,
vor der Parlamentarischen Versammlung geredet hat und
auch mit den Kolleginnen und Kollegen, die die Europaratsdelegation bilden, gesprochen hat. Wir haben uns darüber gefreut, dass Bundesaußenminister Dr. Westerwelle
am 4. Oktober 2010 in Straßburg gewesen ist und zu den
Mitgliedern der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates gesprochen hat. Das sind Zeichen, die Mut
machen und die unterstreichen, dass der Europarat und
seine Einrichtungen, insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, auch von den regierungsamtlichen Stellen geachtet und geschätzt werden. Wenn
sich diese Anerkennung etwas mehr verbreitet und wir
uns nicht nur Neid ausgesetzt sehen, weil wir ab und zu
in Straßburg und nicht in Berlin tagen, dann wäre das für
die Entwicklung der gesamten Institution hilfreich.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, es ist ein guter Brauch, dass im Deutschen
Bundestag öfter als anderswo über den Europarat und
über die Europäische Menschenrechtskonvention gesprochen wird.
60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention ist
- man kann es nachvollziehen - eine große Tradition, die
auf der ganzen Welt einmalig ist. Das kann man mit Fug
und Recht behaupten. Es tut manchmal ein wenig weh,
wenn man in Debatten über den Europarat und über den
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hört:
„Ach, der Europäische Rat“ und „Ach, der EuGH“. Das
haben der Europarat und auch diejenigen, die sich in dieser Institution engagieren, nicht verdient. Europa mit seinen 47 Mitgliedstaaten des Europarates würde heute
ganz anders aussehen, wenn es die Institution Europarat
und die EMRK nicht geben würde. Das sollten wir ganz
deutlich nach außen kommunizieren.
({0})
Herr Kollege Hörster, ich möchte Ihre Stellungnahme
kurz ergänzen und auch eine kritische Anmerkung anbringen. Die Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention wurde kurz nach der Gründung
des Europarates von seinen Gründungsmitgliedern vollzogen. Das waren zehn Länder. Es gab zwei Länder, die
noch nicht Mitglied des Europarates waren, die aber die
Europäische Menschenrechtskonvention gezeichnet haben. Das waren interessanterweise die Bundesrepublik
Deutschland und die Türkei. Sie haben gesagt - dem
kann man nicht ernsthaft widersprechen -, dass die Entwicklung in der Türkei anders verlaufen ist als in
Deutschland. Aber ich glaube - das ist die für mich
wichtigere Erkenntnis -, dass die Entwicklung in der
Türkei ohne den Europarat noch einmal anders verlaufen
wäre. Ohne damit die Frage zu entscheiden, ob die Kopenhagener Kriterien für den Beitritt der Türkei zur EU
erfüllt sind, muss man darüber reden, dass in der Türkei
im Bereich der Demokratie und der Menschenrechte in
den letzten 60 Jahren Fortschritte erzielt worden sind.
Auch das gehört zur Wahrheit, wenn wir über diese
Dinge reden. Das ist ein Verdienst der Kontrollen, die es
in Bezug auf die Europäische Menschenrechtskonvention gegeben hat.
({1})
Wenn wir uns schon mit den Erweiterungen der letzten 20 Jahre befassen, möchte ich ein zweites Beispiel
nennen - auch das ist wichtig -: Russland. Was im Moment in Russland im Bereich der Rechtsstaatlichkeit abläuft - wir haben das gerade noch einmal intern besprochen -, ist auch 20 Jahre nach der Transformation weiß
Gott nicht das, was man sich vorstellen könnte. Die Prozesse, die wir verfolgen - nicht nur die prominenten
Prozesse -, entbehren jeder rechtsstaatlichen Grundlage,
unabhängig von der Tatsache, dass wir nicht mit dem
Finger auf diese Länder zeigen. Es ist auch ein großes
Verdienst der Parlamentarischen Versammlung des Europarates - und dabei sollte es bleiben -, dass wir wissen, unter welchen Bedingungen Menschen auch in
Russland inhaftiert sind, dass wir das aufdecken und darüber reden können.
({2})
Auf der anderen Seite - auch das möchte ich anführen ist es gut und richtig, dass Russland Mitglied des Europarats ist. Wir haben anzuerkennen, dass der langwierige
Prozess der Ratifizierung des Protokolls Nr. 14 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten letztendlich in der Duma vollzogen worden
ist. Man sollte dem einen oder anderen Kollegen aus der
Duma sagen: Das habt ihr gut gemacht; denn damit ist
ein Hindernis für die Arbeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte beseitigt worden, der - Kollege
Hörster hat darauf hingewiesen - das Kernstück des
Europarates und seiner Arbeit ist.
Ich möchte auf den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte eingehen. Sie haben die Zahlen genannt. Es gibt bei uns in Deutschland ein Sprichwort: Es
gibt Institutionen, Menschen und Gruppen, die an ihrem
Erfolg zu ersticken drohen. Ich meine, man muss sich
das einmal vor Augen führen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erhält pro Jahr 50 000 Eingaben.
Insgesamt gibt es 90 000 unerledigte Fälle.
Die Einrichtung des Gerichtshofs ist für die betroffenen Menschen eine positive Entwicklung. Sie haben die
Möglichkeit, sich zu beschweren, was gegebenenfalls in
den nationalen Parlamenten und auf den nationalen
Rechtswegen nicht möglich ist. Sie können sich als Individuen auf die Grundrechte beziehen, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegt sind. Ich
glaube, das ist ein Quantensprung für den Menschenrechtsschutz in Europa; der Gerichtshof ist ein Vorbild
für viele andere Regionen. Ich denke, man muss den Gerichtshof unterstützen. Da muss die Bundesregierung
Poahl halten - das haben alle Bundesregierungen getan,
auch die jetzige -, also diese Institution stärken und ihr
den Stellenwert geben, den sie verdient. Das ist die erste
Botschaft zu diesem Straßburger Gerichtshof.
Sie haben gesagt, dass fast die Hälfte der Eingaben
aus vier großen Ländern stammt, aus Russland, Rumänien, der Ukraine und der Türkei. Das ist richtig. Ich
möchte an dieser Stelle aber einmal darauf hinweisen,
dass auch wir in Deutschland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt werden, zum
Beispiel aufgrund zu langer Verfahren.
({3})
Ich möchte eine Entwicklung darstellen, die hier in der
letzten Sitzungswoche bei der Debatte über die Veränderung der Rechtsgrundlagen für die Sicherungsverwahrung eine Rolle gespielt hat. Da hat es ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegeben,
das ich persönlich für richtig halte. Natürlich kann und
muss man - davor ist auch dieser Gerichtshof nicht gefeit - Kritik an Entscheidungen dieses Gerichtes üben
können. Ich bedauere, dass der Kollege Dr. Krings, der
hier in der letzten Woche gesprochen hat und ausdrücklich bedauert hat, dass es nicht möglich war, in der letzten Sitzungswoche zu prominenter Zeit über diese Themen zu sprechen, nicht hier ist. Ich finde, seine Kritik
am Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gründet auf einem fundamentalen Missverständnis der Arbeit des Gerichtshofs. Er hat gesagt - ich
zitiere das mit Erlaubnis aus dem Protokoll -:
Die Gleichsetzung von Sicherungsverwahrung mit
Strafhaft hat aus meiner Sicht ganz zentral damit zu
tun, dass sich das Gericht in Bezug auf die Fakten
nicht ausreichend mit der Praxis und dem System
des deutschen Strafrechts befasst hat.
({4})
Das ist bei der Bewertung des Umstandes genau der falsche Ansatz.
Ich sage es noch einmal: Kritik ist völlig in Ordnung.
Mit dieser Äußerung wird aber aus meiner Sicht die
Funktionsweise des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte missachtet; denn es geht gerade nicht darum, auf das nationale Recht Bezug zu nehmen. Stellen
Sie sich vor, wie wir argumentieren würden, wenn die
Russen oder die Türken ein Urteil mit der Begründung
ablehnen würden, dass sich der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte nicht ausreichend mit den Grundlagen des jeweiligen materiellen Strafrechts befasst habe.
Ich sage: Es geht bei der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht um bestimmte nationale Rechtssysteme - wo auch immer sie
sind -, sondern um die Ergebnisse der nationalen Rechtsprechung. Wenn Menschen ohne ausreichende entsprechende Rechtsgrundlage ihrer Freiheit beraubt werden,
dann ist das ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Das
muss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
rügen, wenn er seine Glaubwürdigkeit bewahren will.
Deshalb ist dieses Urteil aus meiner Sicht richtig.
({5})
Ich komme mit einer Bemerkung, die für unsere zukünftigen Debatten vielleicht wichtig ist, zum Schluss.
Es geht um den Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Ich bitte all diejenigen, die damit befasst sind, insbesondere all diejenigen, die bei den Verhandlungen aktiv sind, ganz
herzlich: Bei diesen Debatten darf es nicht zu einem unnötigen Konkurrenzkampf kommen. Es darf nicht dazu
kommen, dass Institutionen ohne Mehrwert für die Menschenrechtsarbeit geschaffen werden. Wenn der Prozess
erfolgreich sein soll und wir einen lückenlosen, guten
Menschenrechtsschutz in Europa etablieren wollen, auch
in der EU, dann müssen wir - nur dadurch kann das geschehen - die Institutionen des Europarates, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Kommissar für Menschenrechte, stärken und nicht schwächen. So werden wir für den Bereich, für den die EU
bzw. der Europarat zuständig ist, ein gutes Ergebnis im
Sinne der Menschen erreichen.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Marina Schuster
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am 4. November 1950 wurde Geschichte geschrieben. Damals haben die zehn Gründungsstaaten des
Europarates die Europäische Menschenrechtskonvention, die EMRK, unterzeichnet. Damit wurden im Völkerrecht erstmals Grund- und Freiheitsrechte als einklagbare individuelle Rechte kodifiziert: das Verbot der
Folter und der unmenschlichen Behandlung, das Recht
auf Freiheit und Sicherheit, aber auch politische Rechte
wie das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung und
auf Versammlungsfreiheit. Aber auch umfangreiche justizielle Grundrechte sowie ein Diskriminierungsverbot
wurden festgeschrieben. Daran zeigt sich der besondere
Wert der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Sie ist heute in 47 Staaten gültig. Für fast 1 Milliarde
Menschen ist die EMRK somit ein ganz wichtiger Pfeiler des Menschenrechtssystems. Wir haben nach wie vor
die Aufgabe, die EMRK insbesondere in den Ländern zu
stärken, in denen sie keine Geltung entfaltet, in denen sie
vernachlässigt wird. Deswegen dürfen wir bei Gesprächen, die wir mit Abgeordneten der jeweiligen Länder
führen, nicht nachlassen, darauf zu drängen, dass die
EMRK eingehalten wird. Deshalb war es wichtig und
richtig, dass Guido Westerwelle bei seiner Rede vor der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates am
4. Oktober 2010 die Menschenrechtsschutzsysteme und
die Menschenrechtspolitik erwähnt und herausgestellt
hat. Es ist wichtig, dass den Worten Taten folgen. Gerade
diejenigen, die Teil der Parlamentarischen Versammlung
sind, müssen sich mit der Kritik auseinandersetzen.
Für uns ist die ERMK auch Verpflichtung, jeden Tag
für die kodifizierten Rechte einzutreten und dafür zu sorgen, dass zum Beispiel der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte seine Arbeit auch wirklich machen
kann.
({0})
Kollege Strässer hat zu Recht die Beschwerdeflut und
die entsprechenden Zahlen erwähnt. Bei der Reform des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss es
jetzt darum gehen, das Prozedere so zu gestalten, dass
die Verfahren handhabbar sind, dass Urteile gesprochen
werden und die Menschen nicht zu lange auf das Urteil
warten müssen. Unsere Justizministerin, Frau LeutheusserSchnarrenberger, hat im Zusammenhang mit dem sogenannten Interlaken-Prozess eigene Vorschläge dazu eingebracht.
({1})
Ich bin sehr zuversichtlich, dass mit den Vorschlägen,
die Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eingebracht hat,
der Weg zu mehr Rechtsschutz gut beschritten werden
kann.
Auch der Kollege Strässer hat einen Punkt angesprochen, über den wir im Ausschuss mehrmals debattiert
haben, nämlich den Beitritt der EU zur EMRK. Wir haben es hier mit einem juristisch nicht einfachen Fahrwasser zu tun.
({2})
Deswegen ist es mir ganz wichtig, im Namen meiner
Fraktion zu sagen: Hier muss der Grundsatz „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ gelten. Es fanden mehrmals Unterrichtungen dazu statt; denn das ist ein wirklich komplexes Thema. Wir sind der Meinung, dass wir das
hinbekommen, man aber sehr genau auf das Vertragswerk achten muss. Deswegen hat das Justizministerium
unsere volle Unterstützung.
({3})
Ich freue mich sehr, dass wir anlässlich des Jubiläums
„60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention“ einen interfraktionellen Antrag vorliegen haben. Das ist
ein starkes Signal der Geschlossenheit, vor allem an die
Mitunterzeichner der Konvention, aber auch an die Staaten, die Defizite haben, die das Niveau der EMRK noch
nicht erreicht haben.
Russland wurde schon erwähnt. Allein 38 000 Verfahren gegen Russland sind anhängig. Das zeigt, dass
das Justizsystem in Russland nach wie vor von erschreckenden Defiziten geprägt ist. Es ist durchzogen von
politischer Einflussnahme, von Korruption und Willkür.
Die Prozesse gegen Chodorkowski und Lebedew sind
natürlich sehr prominente Fälle, aber bei weitem nicht
die einzigen. Es gibt eine Vielzahl von Fällen, über die
gar nicht berichtet wird. Wir dürfen bei unserer Arbeit
nicht lockerlassen und müssen solche Verfahren aufdecken und Rechtsstaatlichkeit einfordern.
({4})
Vor diesem Hintergrund möchte ich ganz besonders
auf das Schicksal des russischen Rechtsanwalts Sergej
Magnitskij hinweisen, der im Alter von 37 Jahren im
Gefängnis gestorben ist, weil ihm medizinische Hilfe
verwehrt wurde. Er wurde aufgrund konstruierter Vorwürfe in Untersuchungshaft genommen, weil er den
größten Steuerbetrug in der russischen Geschichte aufgedeckt und publik gemacht hat. Er hat sich nicht von
Repressalien beugen lassen. Das hat er mit seinem Leben bezahlt. Medwedew hat eine Untersuchung des Falls
versprochen. Bisher ist es nicht zu einer Anklage gekommen. Auch da sieht man, wie wichtig es ist, dass die
EMRK Geltung erlangt, dass wir weiterhin Druck machen. Sie ist vor allem für die Menschen in der Zivilgesellschaft ein ganz wichtiger Hoffnungsanker. Die
EMRK ist aktueller denn je. Wir müssen unsere Bemühungen fortsetzen. Deswegen ist unser Antrag so wichtig
und richtig.
Vielen Dank.
({5})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege
Andrej Hunko.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Schuster, Sie sprachen eben von einem interfraktionellen
Antrag. Darunter verstehe ich einen Antrag aller Fraktionen. Das ist nicht der Fall. Die Linke ist wieder einmal
außen vor gelassen worden. Wir haben einen eigenen
Antrag eingebracht; diesen möchte ich jetzt begründen.
Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde
vor 60 Jahren vor dem Hintergrund der Verbrechen des
Holocaust und zweier Weltkriege entwickelt. Die mittlerweile 47 Staaten des Europarates haben die Konvention unterzeichnet. Auch wenn die Rechte an vielen Orten nur unvollständig umgesetzt wurden, verdient die
Europäische Menschenrechtskonvention jede Unterstützung und Bekräftigung.
({0})
Sie garantiert negative Abwehrrechte wie das Verbot von
Folter, politische Rechte wie die Versammlungs- und
Vereinigungsfreiheit und auch justizielle Grundrechte
wie das Recht auf ein faires Verfahren. Die Europäische
Menschenrechtskonvention wurde durch 14 Zusatzprotokolle weiterentwickelt. Es ist mit Menschenrechten
ähnlich wie mit der Demokratie. Das wird nicht einmal
festgelegt und ist dann für alle Zeit so, sondern es ist
eher ein Prozess, der sich immer weiter entfalten sollte.
Hier liegen jetzt zwei Anträge vor: einer der Linken
und einer der anderen vier Fraktionen. Lassen Sie mich
kurz die drei Hauptgründe nennen, warum wir dem Antrag der anderen Fraktionen nicht zustimmen können,
auch wenn er einige richtige Aspekte enthält.
Erstens. In der ersten Forderung im Antrag verlangen
die vier Fraktionen von der Bundesregierung
alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um durch
Maßnahmen der Konfliktverhütung und -regelung
die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen frühzeitig zu bannen …
Nach dem Jugoslawien-Krieg 1999, dem AfghanistanKrieg seit 2001 und weiteren Kriegen zur angeblichen
Verteidigung von Menschenrechten kann ich die Forderung nur so lesen, dass der Einsatz militärischer Mittel
als Möglichkeit angesehen wird.
({1})
Den Missbrauch der Menschenrechte zur Legitimation
von Kriegen lehnt die Linke ab.
({2})
Wir fordern in unserem Antrag explizit zivile Konfliktprävention; denn Krieg ist immer eine der schlimmsten
Menschenrechtsverletzungen.
({3})
Zweitens. Der angestrebte Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention - Herr Strässer, Sie
haben ihn angesprochen - wird in Ihrem Antrag leider
gar nicht behandelt. Wie soll zum Beispiel das Verhältnis
zwischen dem Europäischen Gerichtshof, also der EU,
und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte,
also dem Europarat, gestaltet werden?
Herr Kollege Haibach würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie diese?
Ja.
Bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Hunko, auch wenn die
Zeit schon fortgeschritten ist: Sie haben gerade gesagt,
der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK werde
im Antrag der vier Fraktionen nicht erwähnt. Ich darf Sie
fragen, welche Bedeutung dann Punkt 10, den ich mit
Erlaubnis der Präsidentin gerne zitieren würde, hat. Dort
steht:
… den Prozess des Beitritts der Europäischen
Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention unterstützend zu begleiten, dabei dafür Sorge
zu tragen, dass die Rechte der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates in vollem Umfang
Berücksichtigung finden, und diesen Prozess für
menschenrechtliche Bildungsarbeit zu nutzen, insbesondere durch Informationsmaßnahmen in Zusammenarbeit mit Universitäten und der Zivilgesellschaft …
Ich glaube, viel deutlicher kann man auf den Beitritt der
Europäischen Union zur EMRK nicht Bezug nehmen.
Würden Sie mir da zustimmen?
Was Sie gesagt haben ist richtig. Aber der eigentliche
Punkt ist: Die Kompetenzen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte und Europäischem Gerichtshof werden
nicht benannt. Ich denke, sie sollten genannt werden.
({0})
- Das mag Ihnen so erscheinen. - Wir jedenfalls wollen
nicht, dass soziale Grundrechte, wie in den EuGH-Urteilen in den Fällen Viking, Laval, Rüffert und Luxembourg, auf dem Altar der wirtschaftlichen Grundfreiheiten geopfert werden.
({1})
Dieses Konfliktpotenzial bleibt bestehen. Die EU tritt
der Europäischen Menschenrechtskonvention bei. Es
wird eine Kompetenzauseinandersetzung zwischen dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem
EuGH geben.
({2})
Drittens. Im Antrag der vier Fraktionen wird gefordert, dass neue Mitgliedstaaten des Europarates die Europäische Menschenrechtskonvention und die Zusatzprotokolle umfassend ratifizieren. Dabei hat Deutschland die
Zusatzprotokolle 7 und 12 selbst nicht ratifiziert;
({3})
das wird in Ihrem Antrag überhaupt nicht erwähnt. Dabei geht es unter anderem um verfahrensrechtliche
Schutzvorschriften im Fall der Abschiebung von Migranten und um das Diskriminierungsverbot. Wir fordern in unserem Antrag, dass auch Deutschland endlich
alle Zusatzprotokolle ratifiziert.
Meine Damen und Herren, die Europäische Menschenrechtskonvention und der Europarat dürfen nicht
nur Gegenstand schöner Sonntagsreden sein. Sie dürfen
niemals zu einer Hülse oder gar zu einem beliebigen Instrument außenpolitischer Interessen verkommen. Obgleich ich kein Christ bin, fällt mir beim Umgang der
Bundesregierung mit dem Thema Menschenrechte oft
das Neue Testament, Matthäus 7,3 und 7,5, ein:
Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du
nicht? … Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus
deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.
Vielen Dank.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man vom letzten Redebeitrag absieht, ist in dieser Debatte viel Richtiges gesagt worden. Trotzdem möchte ich
einige weitere Aspekte, auch wenn sie nicht ganz so feierlich sind, betonen, um die weitere Arbeit zur Vertiefung der Prinzipien, die die Europäische Menschenrechtskonvention formuliert hat, voranzubringen.
Von Ihnen wurden zu Recht die Initiativen der Justizministerin in Interlaken erwähnt. Sie sagen, dass Sie den
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und den Europarat und seine Parlamentarische Versammlung stärken wollen. Dazu passt aber nicht, dass im
Haushalt - die Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses findet gerade statt - die Mittel für den Europarat gesenkt werden.
({0})
Reden und Handeln sollten zusammenpassen.
({1})
Ich sage Ihnen eines: Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte und das Verfahren der Individualbeschwerde nach der EMRK waren entscheidende Instrumente, um die Länder, die dem Europarat und der
EMRK neu beigetreten sind, auf dem Weg in Richtung
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Respektierung der
Menschenrechte voranzubringen. Auf die Frage: „Welcher ist der einzige Gerichtshof in Russland, vor dem
man recht bekommen kann?“ antworten meine Freunde
in Russland immer: der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg. Deshalb werden in Straßburg auch so viele Fälle aus Russland verhandelt. Für die
Freunde, die für die gleichen Werte und Ziele wie wir in
diesem Hohen Hause eintreten, ist dies die einzige
Chance auf Rechtsgewährung. Für diejenigen, die sich in
persönlich gefährlichen Auseinandersetzungen befinden,
ist es wirklich fatal, dass die Verfahren so bitter lange
dauern,
({2})
obwohl der Europäische Gerichtshof gerade dies bei den
nationalen Gerichten immer wieder zu Recht rügt. Trotz
der Ratifizierung des 14. Zusatzprotokolls zur EMRK
durch Russland schaffen wir nicht die Voraussetzungen
dafür, dass er diese Arbeit bewältigen kann.
Wir müssen ihn besser ausstatten und wahrscheinlich
auch noch über bestimmte Verfahrensvereinfachungen
reden. Das allein wird aber nicht reichen, weil aufgrund
der Masse der Menschenrechtsverletzungen in den Ländern viele Fälle dort verhandelt werden. Dass sie dort
verhandelt werden, ist natürlich gut für die Menschen,
deren Menschenrechte verletzt wurden, weil sie dadurch
wenigstens die Chance haben, sich zur Wehr zu setzen.
Das sollten wir unterstützen.
({3})
Einen Gedanken in Ihrer Rede fand ich richtig, Herr
Hunko, nämlich das Bibelwort zum Schluss. Es ist nie
falsch, im Deutschen Bundestag die Bibel zu zitieren.
Das kann ich als Christ nur unterstützen.
Ich finde, wir sollten uns auch die Urteile zu Herzen
nehmen, die gegen uns ergehen, wie das Urteil zur Sicherungsverwahrung, und sie nicht zerpflücken und
nicht dagegen opponieren. Wir sollten die Überlegungen
zu den Menschenrechten, die dahinterstehen, ernst nehmen und anerkennen, dass die Sicherungsverwahrung
keine Strafe ist, und für eine andere Ausgestaltung sorgen.
Wir müssen uns aber auch die Urteile gegen andere
Länder genau anschauen, die für Probleme verurteilt
worden sind, die wir auch haben, ohne dass dazu bisher
ein Urteil ergangen ist. Dabei müssen wir prüfen, ob sich
unsere Rechtspraxis an den Standards messen lassen
kann. Schauen Sie sich zum Beispiel das Urteil gegen
die Republik Italien zu den Kruzifixen an. Das Gericht
hat sehr klar definiert, was negative Glaubensfreiheit bedeutet. Man muss sich einem fremden Glauben nicht
aussetzen - man muss also sozusagen nicht gehorchen -,
sondern man kann selber wählen, was man glaubt, und
sich von fremden Vorstellungen freihalten. Das hat das
Volker Beck ({4})
Gericht gut formuliert. Diese Prinzipien gelten nicht nur
für Italien, sondern auch im katholischen Bayern, in der
islamisch geprägten Republik Türkei und im laizistischen Frankreich.
({5})
Wir müssen uns hier an die Brust fassen und uns fragen, ob wir das auch immer so ernst nehmen.
Ich nenne ein weiteres Beispiel. In einem Sorgerechtsverfahren gegen die Republik Portugal, bei dem es
um die Themen Familienrecht und Homosexualität ging,
hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Homosexuelle im Familienrecht - dabei geht es um Adoptionen, um das Sorgerecht usw. - nicht diskriminiert
werden dürfen. Deshalb wird das Adoptionsverbot in
Deutschland keinen Bestand haben.
Wenn wir die Prinzipien ernst nehmen, die die Straßburger Judikatur formuliert, dann müssen wir uns auf
unseren Hosenboden setzen und unsere Defizite aufarbeiten und dürfen nicht nur auf andere zeigen. Zu anständiger Menschenrechtsarbeit gehört aber auch, uns
gegenüber den Menschen, die in anderen Ländern verfolgt werden, solidarisch zu verhalten und mit der Kritik
nicht hinter dem Berg zu halten.
Zum Beitritt der Europäischen Union zur EMRK. Ich
finde es ganz wichtig, dass wir diesen Beitritt vorantreiben und das nicht so kritisch sehen wie Sie, nach dem
Motto: Das wollen wir eigentlich lieber nicht. - Schauen
Sie sich an, was FRONTEX an den Grenzen der Europäischen Union veranstaltet. Dort werden die Menschenrechte von Drittstaatsbürgern massenhaft missachtet.
Wenn wir der EMRK beitreten, dann muss dies abgestellt werden. Die Menschen, die von diesen Menschenrechtsverletzungen betroffen sind, haben dann die rechtliche Möglichkeit, in Straßburg gegen FRONTEX
vorzugehen. Dadurch wird der Flüchtlingsschutz gestärkt.
({6})
Deshalb bin ich ganz energisch für das, was die Union
gemeinsam mit uns in diesem Antrag formuliert hat. Wir
wollen diesen Beitritt voranbringen, weil wir dann in
Bezug auf das Flüchtlingsrecht manches klarstellen können, was uns in Brüssel über die Bundesregierung nicht
gelingt.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! 60 Jahre MRK bieten die Möglichkeit
zu einer Tour d’Horizon über sehr viele Themen, die uns
allen am Herzen liegen. Ich freue mich in jeder Debatte,
wenn auch Nichtchristen die Bibel zitieren. Das nährt
die Hoffnung, dass der richtige Weg gefunden und gegebenenfalls auch eingeschlagen werden kann. Es gehört
sicherlich auch zur Glaubensfreiheit, sich zu den Grundsätzen dieses Buches zu bekennen, wie ich es tue, aber
nicht unbedingt zu dem, was noch dahinter steht. Vielleicht können wir auch etwas anderes machen.
Wir haben sehr viel gehört. Ich versuche als letzter
Redner, einen ganz anderen Gedanken zu verfolgen. Erlauben Sie mir das als direkt gewähltem Abgeordneten
der Stadt Nürnberg. Diese Stadt trägt nicht umsonst den
Titel „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“. Insofern verheben wir uns nicht, wenn wir sagen, dass es
an dieser Stelle geschichtlich zu einer Art Katalysatorenfunktion gekommen ist. Vielleicht war dies nicht gewollt, aber es ist passiert.
In einem Europa, das aus den Trümmern des Zweiten
Weltkrieges entstanden ist, war es eine unglaubliche
Frage, wie es dazu kommen konnte. Im September 1935
wurden in der dunkelsten Epoche die Nürnberger Rassegesetze und damit die Gesetze beschlossen, die als juristische Untermauerung eines Systems gegolten haben.
Man kann heute fast sagen: Sie waren das ins Wort gegossene Menschenunrecht. Auch solche Jahrestage brennen sich ins Gedächtnis; das ist vielleicht auch sinnvoll.
Das ist eine Folge der Nürnberger Rassegesetze, die
letztendlich zu einer verheerenden Entwicklung geführt
haben. Daraus ist das Bewusstsein entstanden, gerade
was die Suche nach Menschenrechten und allgemeinen
unverbrüchlichen Rechten betrifft, einen europäischen
Grundkonsens einzugehen. Insofern musste man einen
Weg finden, wie die Vergangenheit, die Deutschland und
darüber hinaus weite Teile der Welt ins Verderben gestürzt hat, judiziert werden konnte. Deshalb ist es in dem
weltberühmten Saal 600 des Nürnberger Landgerichtes
zu den Nürnberger Prozessen gekommen. Auch an dieser Stelle gab es eine Katalysatorenfunktion, weil dort
die Wiege eines modernen Völkerstrafrechts lag. Daraus
folgt wieder ein Gedenktag zu 65 Jahren Nürnberger
Prinzipien. Man hat nämlich, wenn schon keinen rechtsstaatlichen Prozess, dann zumindest einen Prozess nach
rechtsstaatlichen Prinzipien durchzuführen versucht, um
Recht durchzusetzen - unverbrüchliche Rechte für alle
bedeuten Frieden -, ohne Ansehen der Tatsache, dass es
einst staatliche Repräsentanten waren. Europa gab sich
die Nürnberger Prinzipien. Auch dabei sollte man sich
nicht verheben. Es gibt genug Beweggründe für die Europäische Menschenrechtskonvention, aber gerade die
Nürnberger Prinzipien haben dazu geführt, dass es zu
keiner Verletzung der Menschenrechte mehr kommen
sollte.
Interessant ist, dass wir die entsprechende Passage in
der Europäischen Menschenrechtskonvention wenige
Jahre später wiederfinden. Der Gedanke des Art. 7
Abs. 2 geht genau davon aus. Nulla poene sine lege ist
einer der bedeutendsten Rechtsgrundsätze. Das heißt,
dass niemand bestraft werden soll, wenn es zum Tatzeitpunkt kein entsprechendes Gesetz gab. Bei den Nürnberger Prozessen musste ein schwieriger juristischer Kniff
angewandt werden. Heute finden wir diesen Gedanken
in Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention
wieder. Denn nun müssen sich auch Potentaten bzw. Repräsentanten von Staaten daran messen lassen, wenn zu
dem Tatzeitpunkt, der vorwerfbar ist, etwas weltweit als
Menschenrechtsverletzung anzusehen ist.
({0})
Mir ist es wichtig, diesen Weg aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass es wieder eine ganze Zeit gedauert
hat, bis wir diesen Rechtsgedanken bei der Gründung
des Internationalen Strafgerichtshofes wiedergefunden
haben. Mit der Kollegin Schuster hatte ich das Vergnügen, dort wenigstens eineinhalb Tage zu verweilen, um
uns über eine schwierige Frage zu unterhalten. Beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gibt es so viele
Eingaben, dass es manchmal ein Problem ist, sie abzuarbeiten. Beim Internationalen Strafgerichtshof möchte
man auch gerne mehr tun. Dort allerdings sind es einige
wenige Prozesse. Auch dort ist es nur die Spitze des Eisberges.
Insofern kann man nur sagen, dass diese Trias - die
nicht nur bedauernswerten, sondern tragischen Nürnberger Rassegesetze, das Aufstellen und Erkämpfen der
Nürnberger Prinzipien und das Ratifizieren der Europäischen Menschenrechtskonvention - zu einem europäischen Grundkonsens geführt hat, der uns dazu verpflichtet, über Europa hinaus maßgeblich eine neue Rolle zu
spielen - und zwar ohne eurozentristischen Führungsanspruch -, an der man sich ein Beispiel nehmen soll. Das
ist die Aufgabe der nächsten Jahre. Es geht darum, dass
man durchsetzbare Ansprüche weltweit erkämpfen muss
und dass wir immer mit Augenmaß und ohne Ermüdung
für die Menschenrechtspolitik kämpfen. Dann können
wir am Ende auch sagen, dass wir das in unserer Macht
Stehende getan haben. Deshalb ist unser Antrag so sinnvoll.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/3423 mit dem Titel
„60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer ist dagegen? -
Enthaltungen? - Der Antrag ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke.
Nun zum Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 17/3658 mit dem Titel „60 Jahre Europäische Men-
schenrechtskonvention - Menschenrechte stärken,
schützen und durchsetzen“. Wer stimmt für diesen An-
trag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag
ist abgelehnt. Dafür haben gestimmt die Kollegen von
der Fraktion Die Linke, dagegen die Fraktionen der
CDU/CSU, FDP und SPD. Enthalten hat sich die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Wir haben jetzt eine Reihe von Abstimmungen zu Ta-
gesordnungspunkten, zu denen die Reden zu Protokoll
gegeben wurden. Es wurde interfraktionell vereinbart,
dass auf die Nennung der Namen dieser Redner verzich-
tet wird; das beschleunigt die ganze Angelegenheit. Ich
gehe davon aus, dass ich nicht bei jedem Tagesord-
nungspunkt darauf hinweisen muss, dass eine interfrak-
tionelle Vereinbarung über die zu Protokoll gegebenen
Reden vorliegt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:1)
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Wolfgang Nešković, Petra Pau, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten gegen das NS-Regime anerkennen
- Drucksache 17/2201 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2201 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung
soll beim Innenausschuss liegen. - Sie sind damit ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:2)
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Anette
Hübinger, Holger Haibach, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Harald
Leibrecht, Helga Daub, Joachim Günther
({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Bildung in Entwicklungs- und Schwellenlän-
dern stärken - Bildungsmaßnahmen anpassen
und wirksamer gestalten
- Drucksachen 17/2134, 17/3622 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Bärbel Kofler
Harald Leibrecht
Niema Movassat
Ute Koczy
Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/3622, den Antrag der Fraktio-
1) Anlage 6
2) Anlage 7
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/2134
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke und Enthal-
tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: 1)
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Markus Kurth, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rohstoffförderung im Meer - Aus der Katastrophe lernen
- Drucksache 17/3662 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3662 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 5
auf: 2)
17 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über den Stand des
Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an
Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2009
({4})
- Drucksache 17/2621 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Marcus Weinberg
({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Faire Teilhabechancen von Anfang an - Frühkindliche Betreuung und Bildung fördern
- Drucksache 17/3663 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({7})
Innenausschuss
1) Anlage 8
2) Anlage 9
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/2621 und 17/3663 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. -
Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: 3)
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Philipp Murmann,
Dr. Joachim Pfeiffer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Patrick Meinhardt,
Dr. Martin Neumann ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Existenzgründungen aus Forschung und Wissenschaft fördern - Für einen starken deutschen Innovationsstandort
- Drucksache 17/3480 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3480 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: 4)
Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Matthias Miersch, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Schutz der biologischen Vielfalt - Die Taxonomie in der Biologie stärken
- Drucksache 17/3484 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({10})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3484 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind
Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
3) Anlage 10
4) Anlage 11
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: 1)
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung
der Nutzung von Energie aus erneuerbaren
Quellen ({11})
- Drucksache 17/3629 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({12})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/3629 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch
darüber besteht Einverständnis. Die Überweisung ist so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil ({13}), Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Die Energieversorgung in kommunaler Hand
- Drucksache 17/3649 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Energienetze in die öffentliche Hand - Kommunalisierung der Energieversorgung erleichtern - Transparenz und demokratische Kontrolle stärken
- Drucksache 17/3671 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({15})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Heute beraten wir über zwei Anträge der Opposition,
die sich beide im Kern mit der Bedeutung der Kommu-
nen für unsere Energieversorgung befassen.
Vorab möchte ich klarstellen, dass aus meiner Sicht
die Städte und Gemeinden bei der Energieversorgung
eine ganz besondere Rolle übernehmen müssen. Aus die-
sem Grund haben wir in unserem Energiekonzept den
1) Anlage 12
kommunalen Anliegen besondere Aufmerksamkeit geschenkt.
Lassen Sie mich aus aktuellem Anlass gleich eines
vorneweg sagen: Die derzeit häufig geäußerten Sorgen,
die im Bundestag beschlossene Laufzeitverlängerung
der Kernkraftwerke habe nachteilige Auswirkungen auf
den Wettbewerb im Energiesektor und schade damit den
Stadtwerken, sind unbegründet. Durch die neue Kernbrennstoffsteuer und weitere Zahlungen der Kernkraftwerksbetreiber für den Energie- und Klimafonds wird
der überwiegende Teil der Zusatzgewinne abgeschöpft.
Das sind mehr als 30 Milliarden Euro. Damit wird einer
wirtschaftlichen Besserstellung dieser Energieunternehmen durch die Laufzeitverlängerung vorgebeugt.
Darüber hinaus wird das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie regelmäßig zur Entwicklung des
Wettbewerbs im Energiesektor unter besonderer Berücksichtigung der Laufzeitverlängerung berichten und gegebenenfalls geeignete Maßnahmen vorschlagen.
Als weitere Maßnahme ist im Energiekonzept festgelegt, die im europäischen Energie- und Klimapaket vereinbarte Möglichkeit zu nutzen, den Neubau hoch effizienter und flexibel einsetzbarer fossiler Kraftwerke zu
fördern. Die Förderung wird schwerpunktmäßig für
KWK-Anlagen und nur für Kraftwerksbetreiber mit einem Anteil an den deutschen Erzeugungskapazitäten
von weniger als 5 Prozent gewährt. Dies kommt vor allem den Stadtwerken zugute und leistet einen Beitrag,
den Wettbewerb auf dem Erzeugungsmarkt weiter zu intensivieren. Nicht zuletzt wird im Rahmen des ZehnPunkte-Sofortprogramms eine neue Markttransparenzstelle für den Großhandel mit Strom und Gas eingerichtet,
die beim Bundeskartellamt angesiedelt und von den Kommunen ausdrücklich gelobt wird. Sie soll laufend marktrelevante Daten erheben, sammeln und analysieren, was
der effektiveren Aufdeckung möglichen Fehlverhaltens
bei der Preisbildung dient. Dadurch werden das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Großhandelsmärkte,
der Wettbewerb und Energieverbraucherinteressen gestärkt.
Beim Thema Wettbewerb ist abschließend noch zu ergänzen, dass kommunale Versorger sich bereits heute im
Bereich der erneuerbaren Energien stark engagieren.
Deshalb sind auch die kommunalen Versorger die
Adressaten der Ausbaupläne der erneuerbaren Energien. Für bestehende und neue Investitionen in erneuerbare Energien ist die bevorzugte Einspeisung durch das
Erneuerbare-Energien-Gesetz garantiert. Für Investitionen in KWK-Anlagen, die für Stadtwerke besonders relevant sind, besteht ebenfalls ein Einspeisevorrang. Daher
besteht hier in keinster Weise die Gefahr einer wettbewerblichen Schlechterstellung.
Die Stadtwerke werden daher als Marktteilnehmer im
Wettbewerb auch zukünftig ihren festen Platz in der Energiebranche in Deutschland haben. Zu bedenken ist im
Übrigen, dass nur etwa ein Drittel aller Stadtwerke überhaupt eine eigene Stromerzeugung haben. Die anderen
zwei Drittel sind sehr daran interessiert, an der Börse
günstigen Strom für die Belieferung ihrer Endkunden
einzukaufen. Die Laufzeitverlängerung, die auch zu
günstigeren Strompreisen führt, kommt den Stadtwerken
daher durchaus entgegen.
Darüber hinaus profitieren kommunale Stadtwerke
besonders von Förderprogrammen, die wir beschlossen
haben. Der neu geschaffene „Energie- und Klimafonds“
wird aus der Gewinnabschöpfung der Laufzeitverlängerung und den Erlösen aus der Versteigerung der CO2Zertifikate gespeist und hat damit, wie gesagt, ein Volumen von über 30 Milliarden Euro. Damit wird unter anderem der Energieeffizienzfonds finanziert, der explizit
der Förderung kommunaler Belange in den Aktionsfeldern Energieeffizienz und erneuerbare Energien zugutekommt. Die Bundesregierung wird auf diesem Wege beispielsweise anspruchsvolle und innovative kommunale
Effizienzmaßnahmen, die Entwicklung von Modellprojekten und die Information und Fortbildung in allen relevanten Bereichen unterstützen. Außerdem werden zusätzlich Mittel für die Nationale Klimaschutzinitiative
bereitgestellt, die die erfolgreiche Finanzierung von
Maßnahmen von Stadtwerken auf eine bessere und vor
allem auch verlässliche Basis stellen.
Die Nationale Klimaschutzinitiative wird Stadtwerke
bei der Planung und Durchführung von ambitionierten
Klimaschutzkonzepten unterstützen. Auch die Aufstockung des Marktanreizprogramms für erneuerbare Energien und teilweise auch des CO2-Gebäudesanierungsprogramms der KfW liegt sehr stark im Interesse der
Stadtwerke. Schließlich wird die KfW ein Programm
„Energetische Stadtsanierung“ auflegen, von dem auch
Stadtwerke besonders profitieren können.
In dem SPD-Antrag wird eine Reihe von Forderungen
formuliert, wie den Kommunen verstärkt unter die Arme
gegriffen werden müsste. So sprechen Sie unter anderem
die auslaufenden Konzessionsverträge und die damit
einhergehenden Probleme, aber auch andere Bereiche
wie den Zugang von Speicheranlagen zum Regelenergiemarkt an. Gerne würde ich alle Punkte im Einzelnen
aufgreifen, was meine Redezeit aber nicht zulässt. Daher
möchte ich Ihnen anhand des letzten Punkts exemplarisch darlegen, warum Ihr Antrag überflüssig ist.
Lesen Sie unser Energiekonzept einmal genau durch,
dann werden Sie feststellen, dass Punkte wie dieser von
uns längst berücksichtigt sind. So werden wir den Zugang von Batteriespeichern zum Regelenergiemarkt im
Zuge der im nächsten Jahr anstehenden Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes ermöglichen. In derselben Novelle
werden wir auch Ihre Bedenken bei den auslaufenden
Konzessionsverträgen aufgreifen. Des Weiteren werden
wir im nächsten Jahr unter anderem das ErneuerbareEnergien-Gesetz novellieren. Auch hierbei werden wir
den Bedürfnissen der Kommunen stets hohe Priorität
einräumen.
Der Punkt der auslaufenden Konzessionsverträge
wird auch in dem Antrag der Fraktion Die Linke angesprochen. Grundsätzlich plädiere auch ich dafür, die Situation vor dem Hintergrund der rund 2 000 auslaufenden Konzessionsverträge kritisch zu prüfen. Lassen Sie
mich dazu aber Folgendes ergänzen. Zunächst einmal
möchte ich grundsätzlich die Kommunen davor warnen,
mit den Netzen „Energiepolitik zu machen“. Hier besteht die Gefahr, dass weitreichende finanzielle Belastungen nicht in vollem Umfang gesehen werden. Es darf
nicht zu der Situation kommen, dass sich die Kommunen
mit dieser Aufgabe übernehmen. Grundsätzlich bin ich
zudem der Meinung, dass bestehende vertragliche Regelungen zu achten sind. Die Politik sollte nur eingreifen,
wenn dies zwingend notwendig ist. Daher müssen wir sicherlich genau prüfen, in welcher Weise dies notwendig
sein wird. Dabei denke ich zum Beispiel an die Informationspflicht über Zustand und Wert der Netze und nenne
das Stichwort Transparenz.
Wir haben aber ohnehin vor, im nächsten Jahr im Zuge
der Umsetzung des 3. Binnenmarktpakets das Energiewirtschaftsgesetz zu novellieren. In diesem Zusammenhang werden wir in aller Ruhe über die Notwendigkeit
gesetzgeberischen Handels entscheiden. Wirklich erforderliche Änderungen des dafür relevanten § 46 des
Energiewirtschaftsgesetzes werden dann auch vorgenommen. Zum jetzigen Zeitpunkt hier vorschnell zu
agieren, halte ich aber für überflüssig.
Ich will die Gelegenheit nutzen, um noch etwas
Grundsätzliches zur aktuellen Energiepolitik in
Deutschland zu sagen. Die Opposition lässt keine Gelegenheit ungenutzt, um unsere energiepolitischen Maßnahmen anzuprangern. Dabei sind wir die Ersten, die
seit nunmehr 20 Jahren ein energiepolitisches Gesamtkonzept vorgelegt haben, in welchem wir die Maßnahmen aufzeigen, wie wir den Umstieg auf regenerative
Energien schaffen können. Ein solches Konzept hat RotGrün trotz aller klimapolitischer Predigten niemals in
Angriff genommen. Unter Rot-Grün gab es energiepolitischen Stillstand. Wir sind es, die nun die Verantwortung übernehmen. Wir haben ein Gesamtkonzept, dass
alle Stellschrauben darstellt und gleichzeitig sogar Finanzierungswege aufzeigt - sei es beim notwendigen
Ausbau unseres Stromnetzes oder der Nutzung unserer
Energieeffizienzpotenziale, vor allem im Bereich der
energetischen Gebäudesanierung.
Gerade beim Stromnetzausbau haben wir enormen
Handlungsbedarf. Die in Kürze erscheinende denaNetzstudie II wird aufzeigen, dass wir einen zusätzlichen
Ausbaubedarf von 3 500 Kilometern in Deutschland haben. Zusammen mit dem jetzt schon bestehenden Ausbaubedarf kommen wir damit auf etwa 4 300 Kilometer.
Hintergrund ist die deutliche Zunahme der Stromerzeugung auf See und in den Küstenregionen. Der Bau von
leistungsfähigen Nord-Süd-Verbindungen wird daher
immer wichtiger werden. Darüber hinaus werden viele
dezentrale Erzeugungsanlagen, wie Photovoltaik und
Biomasse, Strom in das Netz einspeisen. Auch den Ausbau der Verteilnetze dürfen wir daher nicht aus den Augen verlieren. Die Tatsache, dass in den letzten fünf Jahren gerade einmal rund 90 Kilometer Stromnetzausbau
in Deutschland realisiert wurden, sollte uns, wie ich
finde, Warnung genug sein.
Überdies wird Deutschland aufgrund seiner geografischen Lage zunehmend am Stromaustausch in Europa
teilnehmen. In diesem Zusammenhang spielt die in dieser Woche von EU-Kommissar Günther H. Oettinger
vorgestellte Energiestrategie 2020 eine wichtige Rolle.
Zu Protokoll gegebene Reden
Darin wird für die nächsten zehn Jahre ein notwendiges
Investitionsvolumen von rund 1 Billion Euro dargestellt.
Dies zeigt, vor welch großen Herausforderungen wir vor
allem im Bereich der Energieinfrastrukturen stehen. Das
gilt für die EU-Ebene ebenso wie für die kommunale
Ebene. Ich will es an dieser Stelle nochmals deutlich sagen: Ohne Netzausbau kein Ausbau erneuerbarer Energien. Das muss uns allen bewusst sein. Damit einher gehen natürlich massive Kosten, die auf uns zukommen.
Daher stehen die Politik und die Wirtschaft gleichermaßen in der Verantwortung, für mehr Akzeptanz in der Bevölkerung zu sorgen. Mit unserem Energiekonzept stellen wir uns dieser Verantwortung.
Einen Bärendienst erweisen uns in diesem Zusammenhang Politiker der Oppositionsparteien, die bewusst
Ängste schüren und sich Protestbewegungen anschließen, um notwendige Infrastrukturprojekte vor Ort zu
torpedieren. Dies ist ein unverantwortliches Verhalten
und beweist die energiepolitische Planlosigkeit der Opposition.
Ich sehe keine Gründe, weshalb dem Antrag der SPDFraktion zugestimmt werden sollte. Gleiches gilt für den
Antrag der Fraktion Die Linke. Mit dem von uns jüngst
beschlossenen energiepolitischen Gesamtkonzept haben
wir einen Fahrplan aufgestellt, der uns den Umstieg auf
regenerative Energien ermöglicht. Wir werden nun Stück
für Stück die einzelnen Maßnahmen in den anstehenden
Gesetzen wie zum Beispiel der Novelle des Energiewirtschaftsgesetztes oder der Novelle des ErneuerbareEnergien-Gesetzes abarbeiten. Dabei achten wir stets
auf ein Gleichgewicht zwischen einer sauberen, sicheren
und bezahlbaren Energieversorgung unter besonderer
Berücksichtigung der kommunalen Anliegen.
Bei der heutigen Debatte zum Antrag der SPD-Bundestagsfraktion reden wir über eine tragende Säule unserer zukünftigen Energieversorgung. Die kommunalen
Unternehmen sind der Motor des Umbaus unseres Energiesystems von einem reinen Versorgungs- hin zu einem
Energiedienstleistungssystem. Denn dieser notwendige
Umbau wird von den Energieunternehmen in den Städten und Gemeinden getragen und organisiert und nicht
von jenen, die unbedingt am Status quo festhalten wollen
und darauf auch in der Politik drängen, zum Beispiel
durch eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke.
Die kommunalen Unternehmen sind es, die einen wesentlichen Beitrag zur öffentlichen Daseinsvorsorge
leisten und durch ihre Nähe zum Kunden am ehesten in
der Lage und willens sind, die notwendigen Energiedienstleistungen anzubieten und die Effizienz zu erhöhen. Eher als große, zentral organisierte Konzerne können und müssen sie den Gemeinwohlinteressen den
Vorrang vor Gewinnmaximierungsstrategien einräumen. Denn um einen zukunftsfähigen Umbau der Energieinfrastruktur zu ermöglichen, muss eine nachhaltige
Nutzung im Vordergrund stehen. Zudem kann eine Rekommunalisierung der Netze auch einen wichtigen Beitrag zur regionalen Wertschöpfung und Stärkung der
kommunalen Haushalte bedeuten. Denn die Gewinne
aus dem Netzbetrieb bleiben in der Region.
In den kommenden Jahren laufen in der Bundesrepublik viele Konzessionsverträge aus. Dies ist für die Kommunen eine Chance, wieder Einfluss auf ihre örtliche
Energieinfrastruktur zu gewinnen. Deshalb setzt sich die
SPD-Bundestagsfraktion mit diesem Antrag dafür ein,
dass die kommunalen Unternehmen die gleichen Ausgangsbedingungen haben wie die großen Energieversorger. Hierzu bedarf es einer Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes sowie einer Reform der Netzzugangs- bzw. Netzentgeltverordnungen für Strom und
Gas. Unserer Überzeugung nach ist es notwendig und
auch fair, dass die Kommune darüber entscheidet, ob
das Netz nach Auslaufen eines Konzessionsvertrages
rückerworben wird. Damit die Kommunen ihre Entscheidungen auf der Basis von Fakten treffen können,
fordern wir, dass der kaufinteressierten Kommune alle
maßgeblichen Informationen über die technische und
wirtschaftliche Situation der Netze rechtzeitig zur Verfügung gestellt werden.
Ein großes Hindernis für einen Rückkauf des Netzes
durch die Kommune ist die Tatsache, dass sich Verkäufer
und Kommunen nicht auf einen angemessenen Kaufpreis
einigen können. Deshalb muss der Gesetzgeber dafür
sorgen, dass der Netzkaufpreis im Rahmen eines Ertragswertverfahrens unter Berücksichtigung des Tagesneuwerts gerichtsfest bestimmt wird. Gleichzeitig sollen
beide Seiten dazu verpflichtet werden, bei verzögerter
Verfahrensdauer eine Schlichtungsstelle anzurufen.
Wir stehen vor großen Herausforderungen, wenn wir
auch morgen noch eine Energieversorgung haben möchten, die sicher, bezahlbar und klimaverträglich ist. Zu
diesen Herausforderungen zählt unter anderen die
Markt- und Netzintegration der erneuerbaren Energien.
Diese gelingt einerseits mit der Entwicklung und dem
Einsatz leistungsfähiger und flexibler Speicher, andererseits mit einer Zusammenführung der Einspeisung der
volatilen Wind- und Sonnenenergie und der Nachfrage
durch die Kunden. Hierzu bedarf es des Aufbaus intelligenter Netze, die eine flexible Ein- und Ausspeisung des
Stroms ermöglichen und somit die Erzeugung mit der
Verbrauchskurve verbinden und die Speicherung steuern.
Zu dem notwendigen Umbau unseres Energiesystems
gehören auch Investitionen in dezentrale Energieversorgungsstrukturen wie flexible Kraftwerke und den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung, KWK. Denn die KraftWärme-Kopplung ist die effizienteste Form der Energieumwandlung und kann deshalb einen beachtlichen
Beitrag zur Erreichung der deutschen und europäischen
Energieeffizienzziele leisten. Insbesondere der Ausbau
der KWK in Blockheizkraftwerken, eingebettet in eine
regionale Konzeption aus Energieeinsparung und Nahwärmeversorgung, kann dezentral die Stromnetze entlasten
und ausreichend Stromreserven bereitstellen.
All dies können wir nur durch den Aufbau intelligenter Netze, der sogenannten Smart Grids, erreichen.
Hierzu bedarf es erheblicher Investitionen, die aus unserer Sicht durch den Regulierer ermöglicht und als nicht
beeinflussbare Kosten anerkannt werden müssen. Auch
für den von mir angeführten notwendigen Ausbau der
Zu Protokoll gegebene Reden
Kraft-Wärme-Kopplung muss der Gesetzgeber den entsprechenden Rahmen setzen. Hierzu zählt eine Verlängerung der Förderung von KWK-Anlagen bis zum Jahr
2020, analog zu den Regeln für die Wärmenetze. Zudem
ist die Ausweitung von Nahwärmenetzen zu erleichtern.
Bei der Umsetzung der in unserem Antrag formulierten Maßnahmen dürfen wir im Sinne der Kommunen in
diesem Land keine Zeit verlieren. Denn bereits heute hat
in vielen Städten und Gemeinden die Diskussion über
die Zukunft der Verteilnetze begonnen. So überlegen in
Baden-Württemberg einige der 9 Landkreise und 167 Gemeinden im Neckarraum, die regionalen Stromnetze, die
bisher vom Neckar-Elektrizitätsverband betrieben werden, wieder in kommunale Hand zu überführen. Auch in
Berlin ist die Diskussion über den zukünftigen Eigentümer der Strom- und Gasnetze in vollem Gange.
Deshalb appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen, stimmen Sie unserem Antrag zu und schaffen
Sie für die Kommunen in diesem Land faire Bedingungen, damit diese ihre wichtige Aufgabe auf dem Weg zu
einem modernen und nachhaltigen Energiesystem wahrnehmen können.
Die hier zu beratenden Anträge der SPD und der Linken nehmen vieles dessen auf, was die Grünen vor gut
einem Monat schon als Gesetzentwurf vorgelegt haben.
Daher lehnen wir auch diese Anträge ab.
Fakt ist, dass in den kommenden Monaten Tausende
von Konzessionsverträgen im Strom- und Gasnetzbereich auslaufen werden. Wenn Kommunen durch Übernahme von Netzen Effizienzvorteile durch Vergrößerung
des Gebietes oder Synergieeffekte durch Betrieb eines
zusätzlichen Netzes realisieren wollen, kann das im Zeitalter der Anreizregulierung sicher sinnvoll sein. Auch
für die Durchführung von Investitionen kann der Zusammenschluss von Netzen oder die gemeinsame Betriebsführung Vorteile bringen. Pauschal aber einer Rekommunalisierung das Wort zu reden, wie es die Anträge
tun, liegt nicht im Interesse der Allgemeinheit und oftmals auch nicht im Interesse der Kommunen.
Ich bin ziemlich sicher, dass der Drang zum eigenen
Stadtwerk gerade bei kleineren Kommunen vielfach dem
Wunsch entspringt, endlich die in der Vergangenheit
versäumte Stadtwerkshoheit nachzuholen. Dabei werden
die heutigen komplexen Regulierungsmechanismen und
deutlich gestiegenen Geschäftsrisiken gerader kleiner
Versorgungsunternehmen verkannt. Wenn die Kommune
die Kosten und die künftig anstehenden Aufrüstungen
gerade der Verteilnetze mit intelligenter Regelungstechnik unterschätzt, tut sie weder den Bürgern noch sich
selbst einen Gefallen.
Ebenso wenig legitim ist der Wunsch, durch den Netzerwerb einen größeren Einfluss auf das Energieportfolio
auszuüben - auf dass dieses umweltfreundlicher werde,
ganz im Sinne des ökologischen Zeitgeistes. Aber das ist
ein Trugschluss: Kommunen haben auch so schon die
Möglichkeit, in dezentrale Erzeugungslösungen und erneuerbare Energien zu investieren, und das machen sie
auch, und zwar im Sinne des Fortschritts. Ihr Anteil an
der selbst erzeugten Stromversorgung liegt bei 8 Prozent, Tendenz steigend. Dabei haben sie die Unterstützung der bürgerlichen Koalition aus CDU/CSU und
FDP. Das Zehn-Punkte-Sofortprogramm des Energiekonzeptes macht es den Stadtwerken einfacher, sich an
Offshore-Windparks zu beteiligen. Zudem wird für sie
der Bau CCS-fähiger fossiler Kraftwerke unterstützt
Ein auslaufender Konzessionsvertrag, der nicht verlängert wird, und eine Kommune, die ihr Netz selbst wieder betreiben kann - beide Faktoren ändern nichts an
den Regeln für den Wettbewerb auf dem Energiemarkt.
Netz und Vertrieb ist dabei strikt zu trennen. Die Gewinne im Netz sind streng reguliert. Über den Erfolg des
Stromvertriebs entscheidet hingegen der Wettbewerb.
Jeder Kunde kann schon heute seinen Energielieferanten frei wählen. Wer das Netz betreibt, ist dabei vollkommen irrelevant. In Ihrem Antrag aber loben Sie, dass
kommunale Unternehmen das Gemeinwohl vor Gewinnmaximierungsstrategien stellen. Dass man dann ein
schlechteres Standing im Wettbewerb hat, ist klar.
Blicken wir einmal zurück. Weshalb haben die Kommunen in der Vergangenheit ihre Netze privatisiert? Aus
Geldnot! Cash wurde in die Kassen gespült und man
leaste die Netze von einem Investor zurück. Wovon wollen die Kommunen ihre Rückkäufe denn bezahlen? Ich
fürchte, dass man sich hier kräftig überschätzt. Von den
Verbänden hören wir nämlich zeitgleich, dass die
Netzentgelte zu niedrig sind.
Fassen wir zusammen: Rot und Dunkelrot möchten,
dass die Kommunen wieder Eigentümer der Netze werden. Wir möchten einen echten Wettbewerb um die Konzessionen. Die Gemeinde ist auf der Grundlage europäischen Rechts an die allgemeinen Grundsätze der
Gleichbehandlung und Transparenz gebunden, die im
EU-Vertrag festgeschrieben sind. Auch das nationale
Kartellrecht verpflichtet sie, ihre marktbeherrschende
Stellung bei der Vergabe des Wegenutzungsrechts nicht
zu missbrauchen.
Das Energiewirtschaftsgesetz darf kein Schutzgesetz
für die Kommunen werden. Effizienz ist das Stichwort:
Der effizienteste Netzbetreiber soll sich im Wettbewerb
um die Konzessionen durchsetzen. Das setzt Transparenz und Gleichbehandlung gleichermaßen für alle
Bewerber voraus. Kommunen dürfen sich bei einer Neuausschreibung nicht bevorzugen. Übrigens: Die Kommunen können selbst etwas zur Besserung der Situation
beitragen, denn sie sind die Herren des Verfahrens. Jede
Kommune kann die Konzessionäre vertraglich verpflichten, bei Auslaufen der alten Konzession alle potenziellen
Mitbewerber mit Informationen zu versorgen.
Noch etwas zum Thema Eigentum: Beim Wechsel des
Betreibers eines „Netzes zur allgemeinen Versorgung“
gibt es im EnWG eine Überlassungspflicht. Entgegen Ihrer Argumentation gibt es darin sehr wohl eine eindeutige Regelung zur Übertragung der Anlagen an einen
Neukonzessionär. Allerdings sieht man davon ab, eine
ausdrückliche Verpflichtung zur Eigentumsübertragung
aufzunehmen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die FDP will keine Staatsnetze. Eine Verpflichtung
zur Gebrauchsüberlassung ist ein ebenso geeignetes,
aber weitaus milderes Mittel. Wir lehnen beide Anträge
ab.
Was wir derzeit erleben, ist an Dreistigkeit kaum noch
zu überbieten. Die vier großen Energiekonzerne E.ON,
RWE, EnBW und Vattenfall bestimmen die Energiepolitik in unserem Land nach ihrem Gutdünken und ihren
Profitinteressen, und Sie von der Bundesregierung lassen sich zu ihrem Büttel machen. Wenn wir die
Machtstrukturen nicht ändern, stecken wir in einer
Sackgasse fest, in der Atomkraft und Kohle weiterhin die
Energieversorgung dominieren und der Ausbau erneuerbaren Energien behindert wird. Das Ziel einer Energiepolitik im Dienste der Gesellschaft muss eine
effiziente, umweltfreundliche und bezahlbare Energieversorgung auf Basis von Energieeinsparung, erneuerbaren Energien und Kraft-Wärme-Kopplung sein. Dies
kann nur gelingen, wenn die vier Energiekonzerne entmachtet und die Energieversorgung in die öffentliche
und kommunale Hand gegeben wird. Deshalb wollen
wir einerseits die Übertragungsnetze vergesellschaften
und andererseits die Rekommunalisierung vereinfachen.
Auf Druck der EU-Kommission haben E.ON und
Vattenfall ihre Höchstspannungsnetze verkauft. RWE
will sich von seinem Gasnetz und von 75 Prozent des
Übertragungsnetzes trennen. Es kann nur als höchst
fahrlässig bezeichnet werden, dass die Bundesregierung
diese Chance nicht genutzt und eine Netzgesellschaft in
öffentlicher Hand gegründet hat. Unisono wird derzeit
- auch von Ihnen von der Regierungsbank - die Bedeutung der Netze und ihres Aus- und Umbaus betont. Doch
steuernd eingreifen wollen Sie nicht. Stattdessen überlassen Sie die Netze Staatsunternehmen aus dem Ausland und Finanzinvestoren, deren einziges Interesse die
größtmögliche Rendite ist. Die Netze sind jedoch die Lebensadern einer sicheren und ökologischen Energieversorgung. Sie sind ein natürliches Monopol, dessen Missbrauch viel Schaden anrichten kann. Deshalb müssen
sie vergesellschaftet werden.
Darüber hinaus müssen wir die Energieversorgung
zurück in die Kommunen holen. Die Kommune ist dem
Gemeinwohl und der Daseinsvorsorge verpflichtet. Deshalb sind Stadtwerke auch der richtige Ort für eine soziale und ökologische Energieversorgung. Ich will nur
ein Beispiel nennen. Jedem vernünftigen Menschen
leuchtet ein, dass es ein Irrsinn ist, auf der einen Seite
Erzeugungsanlagen für Strom und auf der anderen für
Wärme zu betreiben. Wo immer es geht, müssen kombinierte Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen betrieben werden. Hier sind die Stadtwerke heute schon Vorreiter.
Während die KWK in Deutschland nur 12 Prozent ausmacht, werden Dreiviertel der Erzeugungsanlagen der
Stadtwerke in Kraft-Wärme-Kopplung betrieben.
Die Kommunen haben spätestens bei Ablauf der Konzessionsverträge die Möglichkeit, die Energieversorgung in ihre Hand zu nehmen. Die Erfahrungen zeigen
aber, dass sie dabei immer wieder auf Widerstand der
großen Energiekonzerne und ihrer Tochterunternehmen
stoßen. Mit großem juristischem Aufwand versuchen
diese, Ungenauigkeiten im Gesetz zu nutzen, um die Rekommunalisierung zu verzögern, zu verteuern und zu
verhindern. Man denke nur an die jahrelangen Auseinandersetzungen um die Rückkaufkosten für die Energieverteilnetze. Da stehen sich oft David und Goliath gegenüber, wobei - wie sollte es auch anders sein - David
gewinnt, wenn ihm nicht vorher die Puste ausgeht. Mit
den vorgelegten Änderungen des Energiewirtschaftsgesetzes werden die Unklarheiten beseitigt und die Rekommunalisierung wird erleichtert.
Doch öffentliches Eigentum alleine ist noch keine Garantie für eine bürgernahe Energieversorgung. Jede und
jeder von uns kennt Beispiele von schlechten Entscheidungen von Stadtwerken über die Köpfe der Bürgerinnen
und Bürger hinweg. Deshalb ist es dringend notwendig,
die Transparenz und demokratische Kontrolle öffentlicher und gemischtwirtschaftlicher Unternehmen deutlich zu verbessern. Die Gemeinwohlverpflichtung muss
Priorität erhalten, die Bürgerinnen und Bürger müssen
über Beiräte Informationen erhalten und mitgestalten
können. Es geht schließlich um ihren Strom und um ihre
Wärme, um ihre Lebensqualität und um ihre Umwelt.
Ich begrüße es sehr, dass wir nur wenige Wochen,
nachdem wir unseren Entwurf zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes in den Bundestag eingebracht
haben, uns erneut mit dem aus meiner Sicht wichtigen
Thema der Rekommunalisierung hier befassen. Wir tun
dies, da auch SPD und Linke Anträge zu diesem Thema
vorgelegt haben. Ich begrüße es im Interesse der vielen
Kommunen in Deutschland, deren Konzessionsverträge
in den kommenden Jahren auslaufen werden. Es besteht
ganz offensichtlich ein großer Handlungsdruck, die
Rahmenbedingungen für die Neuvergabe der Konzessionen so zu setzen, dass Kommunen in die Lage versetzt
werden, ihre Netze selbst betreiben zu können. Hier müssen wir handeln!
Angesichts der gültigen Gesetzeslage können sie
heute die Netze nämlich praktisch nicht selbst übernehmen oder einen anderen Netzbetreiber wählen, ohne sich
gerichtlich mit dem bisherigen Netzbetreiber - in der
Regel einem der bekannten Energiekonzerne - auseinandersetzen zu müssen. Dies ist eine Auseinandersetzung, die natürlich gerade kleinere Kommunen scheuen.
Selbst elementare, notwenige Informationen über den
Zustand des Netzes muss der bisherige Netzbetreiber der
Kommune nach der heutigen Rechtslage nicht liefern,
und er tut es in aller Regel auch nicht. Ursache sind die
unklaren Formulierungen in § 46 des Energiewirtschaftsgesetzes und die daraus resultierende Rechtsunsicherheit.
Wir müssen uns bewusst machen, dass ein Großteil
der Konzessionen in Deutschland in den nächsten Jahren neu vergeben wird. Das bedeutet, es gilt jetzt, bessere Rahmenbedingungen für die Netzübernahmen
durch Kommunen zu schaffen und den Wettbewerb um
die Netze im Sinne der Kommunen und der VerbraucheZu Protokoll gegebene Reden
rinnen und Verbraucher zu ermöglichen, bevor viele
Kommunen angesichts der Rechtsunsicherheiten am
Ende doch wieder die Konzession an den Energiekonzern vergeben müssen.
Wir wollen jetzt handeln und haben deshalb einen
konkreten Gesetzentwurf eingebracht, da wir davon
überzeugt sind, dass die Kommunen beim dringend notwendigen Umbau der Energieversorgung ein wichtiger
Akteur sein werden und vor allem auch die Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem Land davon profitieren werden. Den Kommunen werden dadurch neue
Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der Daseinsvorsorge und Wertschöpfung vor Ort ermöglicht.
Die energiewirtschaftliche Herausforderung wird in
den kommenden Jahren darin bestehen, zentrale Erzeugungsstrukturen mit Kohle- und Atomkraftwerken durch
dezentrale Strukturen mit erneuerbaren Energien und
Kraft-Wärme-Kopplung zu ersetzen. Dies stellt auch die
Verteilnetze vor große Herausforderungen: Smart Grids,
Kombikraftwerke, Speichertechnologien, ein Bedarfsmanagement, das der fluktuierenden Einspeisung aus
Wind und Sonne Rechnung trägt, wird auch hier zu großen Veränderungen führen. Den Anträgen von SPD und
Linken entnehme ich, dass diese Auffassung auch von
den Kolleginnen und Kollegen im Grundsatz geteilt
wird. Und genau wie sie halten auch wir die Kommunen
für die richtigen Akteure, diese Aufgaben anzugehen.
Es gibt bereits etliche Positivbeispiele in Deutschland
für erfolgreiche Netzübernahmen durch Kommunen trotz der bis heute geltenden Widrigkeiten des Energiewirtschaftsgesetzes.
Allein die Bundesregierung interessiert das alles bisher offenbar wenig. Sie hat auf eine Anfrage von mir geantwortet, dass sie keinen Veränderungsbedarf in § 46
Energiewirtschaftsgesetz im Sinne der Kommunen sieht.
Auf diese Bundesregierung können die Kommunen also
wieder einmal nicht zählen. Die Interessen der Energiekonzerne haben offensichtlich einen höheren Stellenwert. Das kennen wir auch von anderen, hinlänglich bekannten Entscheidungen dieser Regierung.
Die Koalitionsfraktionen wollen sich - wenn überhaupt - erst im Rahmen der Umsetzung der europäischen Binnenmarktrichtlinie mit diesem Thema beschäftigen - wohl wissend, dass sie damit den Zustand der
Rechtsunsicherheit für die Kommunen auf lange Zeit
nicht beseitigen. Wir hoffen, dass die Diskussion im Ausschuss und vielleicht auch eine Anhörung über unseren
Gesetzentwurf und die heute hier vorliegenden Anträge
den Handlungsbedarf noch einmal deutlich machen.
Dort können wir dann auch Detailfragen klären: So
liegen zum Beispiel für die Bestimmung des Netzkaufpreises mittlerweile mehrere ähnliche, im Detail aber
unterschiedliche Vorschläge auf dem Tisch. Hier bedarf
es aus meiner Sicht noch einer detaillierten Diskussion
unter Einbeziehung externer Expertise. Wir sind hier offen und werden die angemessenste Lösung im Sinne der
Kommunen unterstützen.
Unser gemeinsames Ziel - und ich bin erfreut, dass
zumindest die Kolleginnen und Kollegen der SPD und
der Linken das auch so sehen - sollte es sein, den Kommunen die Rechtssicherheit zu geben, damit sie ein starker Akteur bei der nachhaltigen Umgestaltung der Energieversorgung sein können. Dass sie dies sein wollen
und können, zeigen Hunderte kommunaler Stadtwerke
überall in der Republik. Sie haben das Know-how, sind
nah am Kunden und stehen vor allem für eine dezentrale, klimaschonende und nachhaltige Energieerzeugung mit erneuerbaren Energien und KWK, aber nicht
für kurzfristige Renditeerwartungen oder die Sicherung
einer Monopolstellung. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns handeln und diese dringend notwendigen
Gesetzesänderungen nicht auf die lange Bank schieben.
Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion in den
Ausschüssen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksache 17/3649 und 17/3671 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden. Die Überweisung ist so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vormundschafts- und Betreuungsrechts
- Drucksache 17/3617 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wir beraten heute in erster Lesung die Reform des
Vormundschafts- und Betreuungsrechts.
Unter Vormundschaft versteht man die gesetzlich geregelte Fürsorge für eine minderjährige, unmündige
Person, die vom Gericht angeordnet werden kann, wenn
beispielsweise die Eltern des betroffenen Kindes verstorben sind oder ihnen das Sorgerecht entzogen wurde.
In der Praxis werden Vormundschaften daher vor allem
dann angeordnet, wenn Eltern nicht in der Lage oder
willens sind, ihrer elterlichen Verantwortung und Erziehungspflicht gerecht zu werden. Was auf den ersten Blick
eher technisch klingt, hat für das betroffene Kind weitreichende Folgen. In rechtlicher Hinsicht übernimmt
der staatliche Vormund die Aufgaben und Pflichten der
leiblichen Eltern. Das Kind ist damit in besonderer
Weise auf den Schutz und die Fürsorge des Staates im
Allgemeinen und des Vormunds im Besonderen angewiesen.
Leider wird die geltende Praxis diesem Anspruch
nicht immer gerecht. Die erschütternden und bestürzenden Berichte über Eltern, die ihre Kinder misshandeln
oder vernachlässigen, haben in den vergangenen Jahren
signifikant zugenommen. Nicht zuletzt der schreckliche
Tod des kleinen Kevin aus Bremen hat uns sehr deutlich
unsere Verantwortung als Gemeinschaft und Staat für
diese Kinder vor Augen geführt. Ohne die Ergebnisse
entsprechender gerichtlicher Untersuchungen vorwegnehmen zu wollen, können wir doch davon ausgehen,
dass ein intensiverer und persönlicher Kontakt zwischen
Amtsvormund und Kind zumindest einige dieser tragischen Fälle hätten vermeiden können.
An dieser Stelle knüpft der Regierungsentwurf an:
Durch einen häufigeren persönlichen Kontakt zwischen
Vormund und Mündel soll der Schutz der betroffenen
Kinder nachhaltig verbessert werden - eine Forderung,
die insbesondere auch von Experten wiederholt an den
Gesetzgeber herangetragen wurde.
Das Bundesjustizministerium hat im Jahr 2006 vor
dem Hintergrund der zunehmenden Zahl von Fällen des
Kindesmissbrauchs- und der Kindesvernachlässigung
die Expertengruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen
bei Gefährdung des Kindeswohls“ eingesetzt, die im November 2006 eine Reihe von Vorschlägen zur Optimierung der familienrechtlichen Praxis vorgelegt hat.
Auf Grundlage dieser Empfehlungen hat bereits die
damalige schwarz-rote Koalition im Jahr 2008 das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls verabschiedet,
das in Fällen des Kindesmissbrauchs und der Vernachlässigung von Kindern ein frühzeitigeres und niedrigschwelligeres Eingreifen der Familiengerichte ermöglicht und so den Kinderschutz deutlich effektiver
gemacht hat.
Damals ging es uns lediglich um eine erste schnelle
Maßnahme, wobei uns allerdings bewusst war, dass zeitnah weitere Schritte folgen müssen. Die Expertengruppe
ist daraufhin erneut zusammengetreten, um sich nun vor
allem mit der Frage der Zusammenarbeit zwischen Familiengerichten und Jugendämtern zu befassen und zu
klären, ob und wie gesetzgeberische Maßnahmen diese
Zusammenarbeit optimieren können.
Der Bericht der Arbeitsgruppe enthält folglich eine
Reihe weiterer Empfehlungen an den Gesetzgeber. Diese
betreffen die Themenkomplexe Fortbildung, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Pflegefamilien. Darüber
hinaus hat sich eine eigene Unterarbeitsgruppe mit dem
besonders wichtigen Komplex der Vormundschaft befasst und auch hierzu zahlreiche Empfehlungen an den
Gesetzgeber gerichtet, die jetzt von der Koalition aufgegriffen wurden.
Bereits die geltende Rechtslage setzt eigentlich den
persönlichen Kontakt des Vormunds mit dem Mündel voraus. Denn ohne diesen Kontakt kann der Vormund das
Kind weder im erforderlichen Maße beaufsichtigen und
beobachten noch hat er die Möglichkeit, die für eine gedeihliche Entwicklung erforderlichen erzieherischen
Maßnahmen zu ergreifen. So weit zumindest die Theorie.
Leider ist die Praxis - wie so oft - eine gänzlich andere.
Wir alle wissen, dass es in den Jugendämtern zum Teil
erhebliche finanzielle und personelle Engpässe gibt, die
eine ausreichende, den gesetzlichen Vorgaben entsprechende Betreuung durch den Vormund nicht zulassen.
Ein Amtsvormund ist zuweilen - so auch im Fall des
kleinen Kevin - für über 200 Mündel zuständig und verantwortlich. Es ist klar, dass es unter solchen Bedingungen dem Vormund so gut wie unmöglich ist, sich dem
einzelnen Mündel in ausreichendem Umfang persönlich
zuzuwenden. Allein rein rechnerisch kann sich ein solcher Vormund nicht einmal eine Stunde pro Monat um
sein Mündel kümmern. Rechnet man die Verwaltungstätigkeit und Fahrtzeit ab, wird einem schnell klar, wie wenig Zeit am Ende wirklich bleibt, um sich nur ansatzweise von der Lebenssituation und den Bedürfnissen der
Kinder ein realistisches Bild zu verschaffen.
Sofern wir den Anspruch ernst nehmen, dass der Vormund entsprechend der gesetzlichen Vorgaben in der
Lage sein muss, frühzeitig Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, muss er einen realistischen und kontinuierlichen Einblick in die Lebenssituation des Mündels
haben. Nur so kann er Probleme erkennen, geeignete
Maßnahmen im Interesse des Mündels veranlassen und
diese auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen. Das ist in der
Praxis der entscheidende Punkt, und genau hier setzt
der Regierungsentwurf an.
Wie von den Experten empfohlen, sollen nun gesetzlich verbindliche Regelungen zum persönlichen Kontakt
zwischen Vormund und Mündel vorgegeben sowie Vorgaben zur persönlichen Überwachung von Pflege und
Erziehung des Mündels gemacht werden. Zudem sollen
Berichtspflichten des Vormunds gegenüber dem Familiengericht festgelegt und Letztere ihrerseits verpflichtet
werden, ausdrücklich auch den persönlichen Kontakt
zwischen Vormund und Mündel zu überwachen. Wegen
der Parallelen zwischen Vormundschafts- und Betreuungsrecht sieht der Regierungsentwurf zudem vor, die
geplanten Neuregelungen zur Berichtspflicht sowie zur
Aufsichtspflicht des Gerichts auch entsprechend auf die
persönlichen Kontakte zwischen Betreuter und Betreutem anzuwenden.
Die zentrale und wichtigste Neuregelung besteht aber
darin, die Zahl der Amtsvormundschaften - ausgehend
von einer Vollzeitstelle - auf höchstens 50 pro Vormund
zu begrenzen. Das würde im Vergleich zur geltenden
Praxis, in der, wie gesagt, ein Amtsvormund bis zu
200 Mündel zu betreuen hat, eine deutliche und spürbare Verbesserung darstellen. Bei maximal 50 Mündeln
könnte der Vormund dann einen regelmäßigen und ausreichenden Kontakt zu dem Kind aufbauen und seine Erziehungsaufgabe wahrnehmen, sodass Pflege und Erziehung des Kindes im gesetzlichen Maße gewährleistet
wären.
Lediglich der Vollständigkeit halber weise ich darauf
hin, dass der jetzt zur Beratung stehende Gesetzentwurf
die Expertenempfehlungen noch nicht abschließend aufgreift. Mittelfristig soll eine grundlegende Modernisierung des Vormundschaftsrechts folgen. Bekanntlich
stammt die Grundkonzeption des Vormundschaftsrechts
noch aus dem 19. Jahrhundert und bedarf daher in vielen Bereichen struktureller Anpassungen an die geänderten Rechts- und Lebensverhältnisse. Wir planen,
einen entsprechenden Gesetzentwurf noch in der laufenden Legislaturperiode zu erarbeiten und auf den Weg zu
bringen. Für den Moment beschränken wir uns aber auf
die dringendsten Probleme und zeitnah realisierbaren
Maßnahmen. Unser Ansatz lautet also: kurzfristig in eiZu Protokoll gegebene Reden
nem ersten Schritt sicherstellen, dass die gesetzlichen
Qualitätsvorgaben für die Vormundschaft gewährleistet
sind, und dann in einem zweiten Schritt die Strukturen
anpassen.
Was die Einzelheiten angeht, so sehen auch wir noch
eine Reihe von Punkten, über die in den kommenden Wochen zu diskutieren sein wird. Die zentrale politische
Frage ist dabei sicherlich die neue Obergrenze für Vormundschaften. Die Forderungen reichen hier von einer
flexibleren, das heißt weniger starren Obergrenze bis zu
einer noch niedrigeren Obergrenze.
Natürlich dürfen wir uns hier keinen Illusionen hingeben. Die allgemeine Haushaltslage in Deutschland ist
äußerst angespannt und dürfte sich in den nächsten Jahren eher noch weiter verschärfen. Vor allem Städte mit
sozialen Brennpunkten, in denen überdurchschnittlich
viele der gefährdeten Kinder leben, stehen finanziell mit
dem Rücken zur Wand und haben kaum Spielräume. Daher kann die Forderung nach einer flexibleren Obergrenze seitens des Bundesrates kaum überraschen.
Als Parlament und Gesetzgeber müssen wir uns aber
stets bewusst sein, dass gerade diese Kinder, die im besonderen Maße unseres Schutzes bedürfen, eine schwache Lobby haben. Daher stehen gerade wir in besonderer Verantwortung, im Interesse der betroffenen Kinder
die richtigen Prioritäten zu setzen. Wir reden oft davon,
dass das Kindeswohl im Mittelpunkt unserer politischen
Bemühungen steht. Wir haben jetzt die Gelegenheit und
Pflicht, zu beweisen, dass es sich hierbei nicht um bloße
Lippenbekenntnisse handelt.
Der Regierungsentwurf ist eine gute Grundlage für
die weiteren Beratungen. Soweit es hier auch um ganz
praktische Fragen - etwa die Obergrenze für Amtsvormundschaften - geht, werden wir auch in Erwägung ziehen, im Rahmen einer öffentlichen Anhörung externes
Fachwissen in unsere Meinungsbildung einzubeziehen.
Wir werden in diesem Zusammenhang selbstverständlich auch die Sorgen und Argumente der Bundesländer
sorgfältig prüfen.
Ich lade Sie daher alle ein, gemeinsam mit uns nach
Lösungen zu suchen, und freue mich auf offene und konstruktive Beratungen.
Wir befassen uns heute mit dem Regierungsentwurf
der Reform des Vormundschaftsrechts, der einen verbesserten Kinderschutz zum Ziel hat.
Unsere Kinder sind die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft, und nicht jedes Kind wächst behütet in
der eigenen Familie auf. Schlimme Fälle von Kindesvernachlässigung sind uns allen in schrecklicher Erinnerung. Wir alle hoffen, dass Änderungen im Vormundschaftsrecht dazu beitragen können, Missbrauch und
Vernachlässigung von Kindern zu verhindern.
Wird Eltern das Sorgerecht entzogen, übernimmt ein
Vormund die volle Verantwortung für das Kind. In drei
von vier Fällen liegt die Vormundschaft bei den Jugendämtern als „Amtsvormund“. Wer Verantwortung für
Kinder trägt, darf seine Schützlinge nicht nur aus Akten
kennen. Ein direkter Kontakt zum Kind und Einblicke in
das persönliche Umfeld sind unverzichtbar, um Gefahren frühzeitig zu erkennen und abzuwenden. In der Praxis muss ein Amtsvormund gegenwärtig in vielen Fällen
bis zu 120 Kinder gleichzeitig im Blick haben, bei
Kevins Vormund in Bremen waren es mehr als 200. Der
persönliche Kontakt ist dadurch oft nicht mehr möglich.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits im Sommer dieses Jahres einen Antrag zur Änderung des Vormundschaftsrechts eingebracht, dessen Inhalte erfreulicherweise teilweise in dem Entwurf der Bundesregierung
ihren Niederschlag gefunden haben. Der Entwurf sieht
vor, die Zahl der Amtsvormünder auf 50 Vormundschaften zu begrenzen. Aus unserer Sicht sollte jedoch die von
einer Vollzeitkraft zu bearbeitenden Vormundschaften
auf 40 Fälle begrenzt werden, damit eine individuelle
Betreuung ermöglicht werden kann.
Ein erfreulicher Aspekt des Entwurfes ist die ausdrückliche Verankerung der regelmäßigen persönlichen
Kontakte des Vormundes mit dem Mündel. In der Regel
sollten diese persönlichen Kontakte einmal im Monat
stattfinden, aber, je nach Einzelfall, flexibel gehandhabt
werden. Hier hat die Bundesregierung den Vorschlag
der SPD-Fraktion aufgenommen und die vorgesehenen
Kontakte des Vormunds zu seinem Mündel nicht mehr
nur auf die übliche Umgebung des Mündels beschränkt.
Insbesondere wenn sich das Kind in einer Konfliktsituation mit seinen Pflegeeltern oder Heimmitarbeitern befindet, sollte der Kontaktbesuch besser an einem neutralen Ort stattfinden.
Die Kontrolle der persönlichen Kontakte zwischen
Vormund und Mündel sind bei den Familiengerichten
richtig angesiedelt. Allerdings sollten die Amtsvormünder dem Familiengericht auch über die Förderung und
Überwachung der Pflege und Erziehung des Mündels
berichten müssen. Insofern sollte eine Ergänzung des
Entwurfes erfolgen.
Weitere Punkte, die aus der Sicht der SPD-Fraktion
im weiteren parlamentarischen Verfahren geprüft und
eventuell Eingang in die Gesamtreform des Vormundschaftsrechtes finden sollten, sind: die Einführung einer
Beschwerdeinstanz, an die sich das Mündel bei Unzufriedenheit mit dem Vormund wenden kann, eine verstärkte Förderung und ein Vorrang unabhängiger Einzelvormünder, auch zur finanziellen und personellen
Entlastung der Jugendämter, eine namentliche Bestellung der Amtsvormünder, da nur eine Person - und nicht
ein Amt - dazu imstande ist, eine Beziehung zum Mündel
aufzubauen, und eine Anhebung der beruflichen Qualifikation der Amtsvormünder auf das Niveau eines Fachhochschulabschlusses im Bereich Sozialpädagogik oder
Heilpädagogik.
Schließlich sollte sorgfältig geprüft werden, ob das
Gesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Dies
hat der Bundesrat selbst in seiner Stellungnahme vom
15. Oktober 2010 bereits angemahnt. Die Begrenzung
der Zahl der Vormundschaften auf 50 wird einen erhöhten Personalbedarf in den Jugendämtern gegenüber
dem bisherigen Zustand mit sich bringen. Ob hier der
Zu Protokoll gegebene Reden
Art. 104 a GG greift und damit eine Zustimmungspflicht
besteht, sollte im Rechtsausschuss geprüft werden.
Der vorgelegte Gesetzentwurf kommt den Bedürfnissen der Wirklichkeit nach. Nach den bekannt gewordenen Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sieht sich die Regierung genötigt, endlich aktiv zu
werden. Die Probleme werden damit allerdings nicht behoben, es soll jedoch Schadensminimierung betrieben
werden.
Vom Ansatz her ist der Gesetzentwurf auch in seiner
Zielrichtung begrüßenswert. So soll der schon jetzt erforderliche persönliche Kontakt zum Mündel durch den
Vormund gesetzlich festgeschrieben werden. Dies wird
auch der Kontrolle des Familiengerichts unterstellt, indem der Vormund dem Familiengericht über die persönlichen Kontakte, welche mindestens monatlich erfolgen
müssen, berichten soll. Fraglich ist, wie es sich in der
Praxis darstellen soll, dass der Vormund die Pflege und
Erziehung persönlich fördern und gewährleisten soll.
Schön ist, dass im Kinder- und Jugendhilfegesetz,
SGB VIII, die Zahl der zu übernehmenden Vormundschaftsfälle bei hauptamtlichen Beschäftigten auf 50 begrenzt werden soll, wobei sich aber bereits bei dieser
Anzahl die Frage nach effektiver Pflege und Erziehung
stellt. Hier wird Druck aufs Personal ausgeübt, was der
Qualität zuwiderläuft. Bei der zulässigen Maximalzahl
stünde pro Mündel ein halber Tag pro Monat zur Verfügung, im Grunde ist abzusehen, dass diese Zeit kaum
ausreicht, um der Zielstellung des Gesetzes gerecht zu
werden. Dies gilt abgesehen davon, dass die Kosten,
welche auf die Kommunen zukommen, angeblich nicht
beziffert werden können.
Die Zahl der Stellen in den Kommunen dürften im Bereich der Amtsvormundschaft zum Teil, so sagt es der
Gesetzentwurf ja selbst aus, bis zu 100 Prozent erhöht
werden, und dabei muss es sich um qualifiziertes Personal handeln. Fraglich bleibt in diesem Zusammenhang,
wie die Kommunen in Zeiten knapper Kassen und
schwindender Landeszuweisungen diese Kosten tragen
sollen, ohne dass in den Ämtern an anderer Stelle gespart wird. Hinsichtlich der Änderung zu § 1840 BGB
({0}) scheint dies entbehrlich zu sein, zumal
der Vormund dem Gericht laufend über die persönlichen
Kontakte entsprechend § 1837 BGB zu berichten hat.
In diesem Kontext dürfte auch ein erhöhter Arbeitsaufwand bei der Justiz anfallen, da sämtliche Fälle von
Amtsvormundschaften permanent kontrolliert werden
müssen, um notfalls auch den Amtsvormund abzubestellen, falls dieser seiner monatlichen Kontaktpflicht nicht
nachkommt. Von daher sind nicht nur die Gebietskörperschaften, wie der Gesetzentwurf nahelegt, sondern auch
die Länder selbst im Rahmen der Stellen in der Justiz betroffen - wenn auch nicht in dem Maße wie die Jugendämter. Zur Ermittlung der genauen Kosten dürfte es einigermaßen problemlos sein, die entsprechenden Zahlen
von den Landesjustizverwaltungen und Landesjugendämtern einzuholen, um dann hochzurechnen, mit welchen Mehrausgaben Länder und Kommunen zu rechnen
haben und wie die Finanzierung gestaltet werden soll.
Aufgabe der Bundesregierung ist es nicht nur, neue
Gesetze zu schaffen, sondern auch deren Durchsetzbarkeit zu gewährleisten. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stiehlt sich die Regierung einmal mehr aus der Verantwortung, denn sie überträgt den Ländern und
Kommunen weitere Aufgaben - wohlwissend, dass die
dafür erforderlichen finanziellen Mittel bei den Kommunen nicht vorhanden sind. Damit wird den Bedürfnissen
der Betroffenen nicht Rechnung getragen. Ich hoffe,
dass wir im Ausschuss entsprechende Lösungen noch
konstruktiv erarbeiten können.
Wir befassen uns heute mit dem Gesetzentwurf der
Bundesregierung zum Vormundschafts- und Betreuungsrecht. Zunächst möchte ich auf das Vormundschaftsrecht
eingehen.
Nach den bedrückenden Vorkommnissen in der Vergangenheit ist es dringend notwendig, die Situation von
Kindern unter Vormundschaft zu verbessern. Insbesondere der traurige Fall des Kindes Kevin aus Bremen, das
im Jahr 2006 zu Tode gekommen ist, hat die Öffentlichkeit sensibilisiert. Der Amtsvormund, der für Kevin zuständig war, hatte zu diesem Zeitpunkt 200 Mündel in
seiner Betreuung. Aufgrund der großen Arbeitsbelastung hatte er keinen persönlichen Kontakt zu Kevin.
Deshalb fehlte ihm die eigene Kenntnis von den katastrophalen Verhältnissen, in denen sein Mündel lebte.
Wie können wir den Schutz von Mündeln realistisch verbessern und die Qualität der Vormundschaft sichern?
Das ist eine Kernfrage bei der Reform des Vormundschaftsrechts.
Der Maßstab für das Handeln des Vormunds kann
nur das Kindeswohl des Mündels sein. Wir sind uns darüber einig, dass dazu der persönliche Kontakt des Vormunds mit dem Mündel unerlässlich ist. Auch sind wir
uns einig darüber, dass die Fallzahlen für die tatsächlichen Betreuungen erheblich reduziert werden müssen.
Wie können wir das realistisch umsetzen? Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor, die Fallzahlen in
der Amtsvormundschaft auf 50 Vormundschaften je Mitarbeiter zu begrenzen. Ferner soll der persönliche Kontakt in der Regel einmal im Monat stattfinden, wenn
nicht im Einzelfall andere Besuchsabstände erforderlich
sind. Ob ein Vormund so eine echte und intensive Betreuung gewährleisten kann, ist fraglich. Würde der
Amtsvormund bei einer Fallzahl von bis zu 50 Vormundschaften jeweils einen monatlichen Kontakt zum Mündel
herstellen wollen, müsste er jährlich 600 Kontakte
wahrnehmen. Dies wäre zusätzlich zu den festgeschriebenen und neben den übrigen für sein Mündel zu leistenden Aufgaben nicht realisierbar. Dem Kindeswohl wird
das nicht gerecht.
Wir fordern daher, dass im Gesetz die Festschreibung
der Vormundschaften auf eine angemessene Fallzahl reduziert wird. Jede Fachkraft sollte nur so viele Vormundschaften führen, wie dies mit Blick auf die Erfüllung ihrer gesamten Verpflichtungen gegenüber dem
Zu Protokoll gegebene Reden
Mündel möglich ist. In der Gesetzesbegründung sollte
vorgesehen werden, dass sich die Vormundschaften einer Vollzeitkraft in einem Rahmen von 30 bis 50 Fällen
bewegen. 50 Fälle je Vollzeitkraft sollten die absolute
Obergrenze sein.
Einen anderen zentralen Punkt sehen wir in dem Mitspracherecht des Mündels. Wie kann das Mündel in die
Entscheidungen seines Vormunds miteinbezogen werden? Wir begrüßen die Einführung der mündlichen Anhörung des Mündels vor Bestellung des Beamten oder
Angestellten des Jugendamts zum Vormund. Dennoch
geht uns diese Einbeziehung des Mündels nicht weit genug. Wie im Betreuungsrecht könnte je nach Alter des
Mündels eine Beteiligung an Entscheidungen des Vormunds - vgl. § 1901 Abs. 3 Satz 3 BGB - aufgenommen
oder dem Mündel eine Beschwerdemöglichkeit eingeräumt werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Qualität der Vormundschaft. Wie kann die Aus- und Weiterbildung für
diese Vielzahl an neuen Amtsvormündern gewährleistet
und umgesetzt werden? Es ist nicht hinreichend geklärt,
inwiefern die Jugendämter ausreichend qualifizierte
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kürze der Zeit
finden. Es muss zeitnah mit der Schulung und Qualifizierung potenzieller neuer Vormünder begonnen werden.
Zusätzlich werden erhebliche Kosten auf die Kommunen
zukommen. Die Kommunen sind schon durch andere
Pflichtaufgaben am Rande ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit angekommen und sind finanziell nicht in der
Lage, die Kosten dieser neuen Maßnahmen alleine zu
tragen. Im Gesetzentwurf fehlt eine genaue Kalkulation
der anfallenden Kosten. Es besteht die Gefahr, dass Gelder aus anderen wichtigen Bereichen der Jugendhilfe
abgezogen werden. Auch sieht der Gesetzentwurf keine
Übergangsvorschrift vor. Es ist von besonderer Bedeutung, dass nicht nur die Quantität, sondern auch die
Qualität der Vormundschaften gesichert ist. Wir sehen
darin einen wichtigen Aspekt für die Gewährleistung des
Kindeswohls. Das gibt der Gesetzentwurf nicht her.
Abschließend möchte ich den Fokus auf das Betreuungsrecht richten. Auch hier stellt sich die Frage: Wie
kann die Qualität der beruflichen Betreuung verbessert
werden? Die Bundesregierung möchte die Besuchssequenz des Betreuers beim Betreuten auf das sogenannte
erforderliche Maß festlegen. Als Sanktion sieht sie die
Entlassung des Betreuers vor.
Der Evaluationsbericht zum Zweiten Betreuungsrechtsänderungsgesetz nennt zwar die Besuchshäufigkeit als einen möglichen Faktor, um die Qualität der
Betreuung zu messen. Der Bericht empfiehlt aber gleichzeitig, andere Faktoren zur Qualität heranzuziehen, die
mitunter noch eruiert werden müssen. Auch in der fachlichen Debatte spielt die Besuchshäufigkeit als Qualitätskriterium eine untergeordnete Rolle. Zu nennen sind
hier insbesondere Kontrolle der Betreuungen, fachliche
Qualifikation der Betreuer, leistungsgerechte Vergütung
und so weiter.
Das Betreuungsrecht muss insgesamt reformiert werden. Der persönliche Kontakt ist nur ein kleiner Bestandteil und sollte nicht einzeln geregelt werden. Dies
erst recht nicht, wenn der Aspekt aus dem Gesamtzusammenhang gerissen wird. Ich möchte darauf aufmerksam
machen, dass wir zum Betreuungsrecht an die Bundesregierung eine Große Anfrage gestellt haben. Davon sind
noch viele Fragen offen.
Abschließend ist zu sagen, dass der Ansatz der Bundesregierung zum Vormundschaftsrecht zu begrüßen ist.
Allerdings bestehen erhebliche Bedenken im Hinblick
auf eine Umsetzung, die eine echte und intensive Betreuung gewährleisten würde. Die wichtige Frage der Kosten ist nicht geklärt. Wir sehen darin auch eine große
Gefahr für die Qualität der Vormundschaft. Daher lehnt
meine Fraktion den Antrag ab.
Kinderschutz ist ein zentrales Thema, das wir alle
sehr ernst nehmen. Ein wichtiger Bestandteil des Kinderschutzes in unserer Rechtsordnung ist das Vormundschaftsrecht. In der Vergangenheit haben Fälle von Kindesmisshandlungen und Kindesvernachlässigungen mit
Todesfolge oder mit der Folge erheblicher Körperverletzung gezeigt, dass leider in der Praxis des Vormundschaftsrechts Defizite bestehen. Auch ein bestellter Vormund hat die ihm anvertrauten Kinder - hier sei nur an
den kleinen Kevin aus Bremen erinnert - nicht immer
hinreichend vor den Gefährdungen aus ihrem Lebensumfeld geschützt.
Das Bundesministerium der Justiz hat als Reaktion
auf die bekannt gewordenen Fälle von Kindesvernachlässigungen die Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche
Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls - § 1666
BGB“ einberufen. Diese hat festgestellt, dass eine der
Hauptursachen dafür, dass Missstände und Vernachlässigungen nicht abgestellt worden sind, vor allem die zu
hohe Fallzahl bei den Amtsvormündern ist. Übrigens
haben mehrere Vertreter der Länder an der Arbeitsgruppe mitgewirkt. Die Amtsvormünder kennen angesichts hoher Fallzahlen ihre Mündel oftmals im Wesentlichen nur aus den Akten. Einige Amtsvormünder sind
für über 200 Mündel zuständig. So war es im Fall Kevin.
Das Landgericht Bremen hat das Strafverfahren gegen
den Amtsvormund im August dieses Jahres gegen die
Zahlung eines Geldbetrages eingestellt. Der Amtsvormund habe unter starker Arbeitsbelastung gestanden
und trage deshalb nur geringe persönliche Schuld an
dem tragischen Vorfall. Ein Sachverständiger hatte zuvor im Gerichtsverfahren bestätigt, dass jeder Bremer
Amtsvormund für durchschnittlich 240 Kinder zuständig
gewesen sei und sich praktisch nur zwei Minuten pro
Woche um die Einzelfälle habe kümmern können, meist
nur nach Aktenlage. Überlastungsanzeigen der Behördenmitarbeiter seien „teilweise unbeantwortet geblieben“.
Hier setzen wir mit unserem Gesetzgebungsvorhaben
an. Die Bundesregierung will, dass Kinder durch die
Rechtsordnung bestmöglich vor Vernachlässigung, Gewalt
und Missbrauch geschützt werden. Gerade die Vormünder,
also auch die Amtsvormünder, müssen als Verantwortliche
für die Personensorge der ihnen anvertrauten Kinder anZu Protokoll gegebene Reden
gehalten werden, sich selbst in jedem Fall direkt mit der
Situation auseinanderzusetzen und sich nicht nur auf die
Aussagen von anderen zu verlassen.
Der Gesetzentwurf hat das zentrale Ziel, den Kontakt
zwischen Vormund und Mündel zu stärken, damit der
Vormund Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung
frühzeitig erkennen und dagegen einschreiten kann. Bereits das geltende Recht setzt den persönlichen Kontakt
des Vormunds zu dem Mündel voraus. Ohne persönlichen Kontakt kann der Vormund die Pflicht und das
Recht, die Pflege und Erziehung des Mündels zu fördern
und zu gewährleisten, nicht wahrnehmen. Das geltende
Recht setzt auch eine Begrenzung der Fallzahlen voraus,
da nur so sichergestellt ist, dass der Vormund die ihm
übertragenen Aufgaben verantwortungsbewusst ausüben kann. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter hat hierfür bereits im Jahr 2000 eine Obergrenze von 50 Vormundschaften und Pflegschaften pro
vollzeitbeschäftigtem Mitarbeiter empfohlen.
In der Praxis werden diese Pflichten und Empfehlungen aber offenbar nicht in jedem Fall ernst genug genommen. Es ist daher unerlässlich, klare Zahlen - sowohl bei der Kontakthäufigkeit als auch bei den
Fallzahlen - ins Gesetz zu schreiben. Nur so können wir
nach meiner festen Überzeugung tatsächlich eine Änderung im Verhalten mancher Vormünder und in der Ausgestaltung mancher Amtsvormundschaften bewirken. Es
geht uns nicht darum, neue Vorgaben und Pflichten für
den Vormund einzuführen, sondern es soll stattdessen
klargestellt und festgeschrieben werden, wie es eigentlich schon nach dem geltenden Recht in der Vormundschaft laufen sollte.
Wir sind uns darüber im Klaren, dass es bei der Umsetzung des Gesetzentwurfes zu Mehrkosten für einige
Kommunen kommen kann. Einige Kommunen, Länder
und auch die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände haben hierauf auch ausdrücklich hingewiesen und sich mit entsprechenden Schreiben an Mitglieder
des Deutschen Bundestages gewandt. Die Bundesregierung hat dies bei der Ausarbeitung der Gegenäußerung
zu der Stellungnahme des Bundesrates nochmals überdacht. Wir sind der Auffassung, dass an der Fallzahl von
50 nicht gerüttelt werden sollte. Die vorgeschlagene
Fallzahl entspricht den fachlichen Empfehlungen. Der
Bundesrat selbst geht in seiner Begründung davon aus,
dass „ein Orientierungsrahmen von 50 Vormundschaften oder Pflegschaften angemessen ist“. Ohne die ausdrückliche Festschreibung im Gesetz ist - wie die derzeitige Praxis zeigt - nicht hinreichend sichergestellt, dass
die fachlichen Empfehlungen in der Praxis umgesetzt
werden. Ich halte die Mehrkosten deshalb für akzeptabel.
Ein verbesserter Kinderschutz durch mehr persönliche
Zuwendung eines Vormundes zu seinen Mündeln ist eben
nicht zum Nulltarif zu haben. Viele Kommunen kommen
ihren Verpflichtungen schon jetzt nach. Die Mehrkosten
betreffen also nur die Kommunen, die bislang ihre Amtsvormünder mit einer zu hohen Zahl von Mündeln belastet
haben.
Ich bitte Sie daher bei den Beratungen um Unterstützung unseres Gesetzentwurfes gerade auch mit den konkreten Pflichten für Vormünder und Kommunen, damit
zukünftig Kindern wie dem kleinen Kevin auch tatsächlich ein besserer Schutz gewährt werden kann.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3617 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind
damit einverstanden. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Christine Buchholz, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Beziehung der Europäischen Union mit Afrika
solidarisch und gerecht gestalten
- Drucksache 17/3672 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wir debattieren heute den Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Beziehungen der Europäischen
Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten“ in
erster Lesung. Ich muss Ihnen sagen: Der Inhalt und die
Forderungen des Antrages überraschen mich in keinster
Weise. Nein, sie waren sogar zu erwarten. Sie schreiben
in Ihrem Antrag wieder einmal von kolonialen Dominanzverhältnissen, von Durchsetzung von Rohstoff- und
Wirtschaftsinteressen, von Fluchtursachen und von vernetzter Sicherheit. Meine Damen und Herren von der
Linken, ich finde es außerordentlich traurig, dass Sie
wieder einmal das so wichtige Thema Afrika für Ihre
ideologischen Forderungen missbrauchen und dem
Thema damit bei weitem nicht gerecht werden. Auch hat
man das Gefühl, dass Sie Forderungen, die Sie zum Beispiel zu Afghanistan aufgestellt haben, unisono auf den
afrikanischen Kontinent übertragen haben und somit
komplett an der Realität vorbeigehen. Also hören Sie
bitte auf, Ihre ideellen Generalansichten auf alles und
jeden zu projizieren, und befassen Sie sich endlich einmal im Detail mit diesem wichtigen Kontinent Afrika.
Bevor ich nun im Detail auf Ihre Feststellungen und
Forderungen eingehe, lassen sie mich bitte noch eine
generelle Anmerkung zu Ihrem Antrag machen. Sie machen in diesem Antrag wieder einmal den Fehler, dass
Sie immer nur von dem Kontinent Afrika sprechen und
so zum Beispiel in Ihrem Antrag fordern, dass Deutschland eine Neuausrichtung der Beziehung zu Afrika
durchführt. Genau da liegt Ihr Fehler. Man kann nicht
von einer Beziehung zwischen Deutschland und Afrika
sprechen; vielmehr besteht Afrika aus 54 eigenständigen
Staaten, die eigene Interessen, Bedürfnisse, aber auch
Hartwig Fischer ({0})
Probleme haben. Genau dies macht es ja so schwierig,
eine einheitliche EU-Afrika-Strategie durchzusetzen;
denn die afrikanischen Staaten unterscheiden sich voneinander genauso wie die europäischen oder asiatischen
untereinander. Ihre Kritik, dass die EU und Deutschland
mit Einzelstaaten oder kleineren Staatengruppen Abkommen geschlossen hat, geht vollkommen ins Leere;
denn die Voraussetzungen der Zusammenarbeit sind für
jedes Land unterschiedlich und müssen für jeden einzelnen Fall geprüft werden. Wir begehen nicht den Fehler
wie Sie, alle afrikanischen Länder in einen Topf zu
schmeißen und alle gleich zu behandeln. Für uns gibt es
große Unterschiede zwischen Staaten wie Sudan und auf
der anderen Seite zum Beispiel Tansania. Auch kann
man bei diesen Verträgen nicht von einem kolonialen
Dominanzverhältnis sprechen; denn in Wirklichkeit ist
es doch so, dass unsere Partnerländer mit ihren Wünschen im Rahmen der Regierungsverhandlungen auf uns
zukommen und wir dann diskutieren, wie wir als Bundesrepublik Deutschland bei der Erreichung der Wünsche und Ziele helfen können. Dies passiert auf Augenhöhe und nicht, wie Sie glauben.
Aber nun zu Ihren eigentlichen Forderungen. Sie werfen in Ihrem Antrag der deutschen Entwicklungspolitik
vor, der Durchsetzung von Wirtschafts- und Rohstoffinteressen zu dienen und diese auch zu militarisieren. Dabei benennen Sie explizit den deutschen Beitrag zur
„Atalanta“-Mission. Ich war im Februar 2009 in Dschibuti und konnte mich vor Ort über den Beitrag der deutschen Fregatten informieren. Das Bundeskabinett hat
am gestrigen Tage die Verlängerung des „Atalanta“Mandates beschlossen, und wir werden daher bald hier
im Deutschen Bundestag die Möglichkeit haben, ausführlich darüber zu diskutieren. Daher nur so viel: Die
somalische Bevölkerung leidet noch immer unter den
Folgen des Bürgerkriegs. Nach Angaben der Vereinten
Nationen sind rund 3,2 Millionen Menschen im Land auf
humanitäre Hilfe angewiesen. Im laufenden Jahr erreichten Somalia bislang an die 90 000 Tonnen Nahrungsmittel und andere Hilfsgüter. Dies reichte, um bis
zu 1,8 Millionen Menschen zu versorgen. Die Hilfsgüter
kommen fast ausschließlich auf dem Seeweg: im Auftrag
des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen,
der Mission der Afrikanischen Union in Somalia und anderer Hilfsorganisationen. Sie führen die notwendigen
Schiffstransporte ins Land durch. Immer wieder waren
die Schiffstransporte das Ziel von Piratenüberfällen.
Seit Beginn von „Atalanta“ hat es aber keinen Übergriff
mehr auf Hilfstransporte gegeben. Alle 86 im Auftrag
des Welternährungsprogramms durchgeführten Schiffstransporte kamen sicher an. Insgesamt gelangten so fast
470 000 Tonnen Nahrungsmittel nach Somalia. Dies
zeigt, dass diese Mission und der deutsche Beitrag
hierzu das Leiden und Sterben der Menschen und somit
die von Ihnen so oft diskutierten Fluchtursachen in Somalia lindern und verhindern, und es wird langsam Zeit,
dass Sie das auch einmal zur Kenntnis nehmen und verstehen.
Aber in einem Punkt gebe ich Ihnen recht: Deutschland als Exportnation hat ein Interesse an den Rohstoffen afrikanischer Länder. Aber wir wollen gerade nicht
die Rohstoffe wie China im Tausch gegen Waffen auf
dem Schwarzmarkt erwerben, sondern unterstützen die
afrikanischen Staaten bei ihren Bemühungen, die Rohstoffe zertifiziert abzubauen und auf dem Weltmarkt zu
Weltmarktkonditionen und Weltmarktpreisen zu verkaufen. Denn nur so kann sichergestellt werden, dass die
Wertschöpfung aus dem Verkauf der Rohstoffe im Erzeugerland bleibt und somit der Bevölkerung zugutekommt.
Als Beispiel sei hier nur Botswana genannt, das es aufgrund der Zertifizierung von Rohstoffen geschafft hat, in
circa zwölf Jahren seinen Haushalt von hoher Geberfinanzierung auf weitestgehende Eigenfinanzierung umzustellen.
Diesem guten Beispiel folgend unterstützen wir die
Transparenzinitiative EITI und führen gemeinsam mit
unserer Gesellschaft für technische Zusammenarbeit
und Entwicklung, GtZ, und der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, BGR, eine Innovationsinitiative zur Rohstoffzertifizierung im Osten der DR
Kongo durch. Denn nur so schaffen wir es, vielen Rebellengruppen die Einnahmequellen zu nehmen, um somit
Frieden und Sicherheit in viele unsichere Gegenden zu
bringen.
In einer weiteren Forderung kritisieren Sie das Konzept der vernetzten Sicherheit und die Ausbildung von
Sicherheitskräften, die auch mit deutscher Unterstützung vor Ort gewährleistet wird. Es wird Sie sicherlich
nicht überraschen, wenn ich nun sage: Ja, wir bilden
Sicherheitskräfte aus. - Aber warum tun wir dies, und
wie geschieht das? Die Bundesrepublik Deutschland hat
sich im Jahre 2010 mit 1 Million US-Dollar an der Ausbildung von 1 000 somalischen Polizisten in Äthiopien
beteiligt. Ferner stellt Deutschland nach Beendigung
dieser Ausbildung an UNDP der Vereinten Nationen
600 000 Dollar für Soldzahlungen an diese Polizisten
zur Verfügung. Seit dem April 2010 beteiligt sich
Deutschland im Rahmen der europäischen Initiative
EUTM, die auf Wunsch der Vereinten Nationen gebildet
wurde, mit 13 Ausbildern an der Ausbildung von 2 000
somalischen Soldaten in Uganda. Wie Sie sehen können,
werden alle Ausbildungsmissionen im Rahmen oder auf
Wunsch der Vereinten Nationen durchgeführt und dienen
allein der Stabilisierung und Unterstützung der derzeitigen somalischen Übergangsregierung. Dies schafft
Frieden und Stabilität in dem von Krieg und Elend so
geschüttelten Land Somalia. Daher kann ich beim besten Willen nicht verstehen, wie Sie in Ihrem Antrag fordern können, alle polizeilichen und militärischen Kooperationen mit unseren afrikanischen Partnerländern
sofort zu stoppen. Dies zeigt, wes Geistes Kind Sie sind.
Akzeptieren Sie endlich, dass wir, obwohl es Ihnen nicht
passt, den Menschen helfen und sie nicht, wie Sie es wollen, dem Sterben überlassen. Sie erkennen weder die
Einsätze der Vereinten Nationen im Sudan noch in der
DR Kongo an, sondern schieben lieber Ihre ideologischen „Hirngespinste“ - wie auch in Afghanistan - vor
sich her und riskieren somit den sinnlosen Tod von Tausenden von Menschen.
Zum Abschluss möchte ich die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke auffordern, endlich ihre
ideologische Brille abzunehmen und der Realität auf
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartwig Fischer ({1})
dem afrikanischen Kontinent ins Auge zu blicken. Wir
sehen auf unseren gemeinsamen Delegationsreisen vor
Ort die Probleme und Sorgen der Menschen. Wir sehen,
was gut läuft und was weniger, und die erkannten Missstände versuchen wir nach unserer Rückkehr sofort abzustellen. Aber dies gelingt uns nicht mit solchen ideologisch geprägten Anträgen, die komplett an der Realität
vorbeigehen.
Am 29. und 30. November 2010 findet in Libyen das
dritte Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union
und den afrikanischen Staaten statt. Die Vorzeichen sind
vielversprechend: Der Gipfel soll ganz im Zeichen einer
Partnerschaft auf Augenhöhe für eine bessere gemeinsame Zukunft stehen. Die Herausforderungen sind jedoch gewaltig. Es geht um nichts weniger als Armutsbekämpfung, Frieden, Sicherheit, Demokratie, Menschenrechte, Global Governance und Klimawandel. Damit
bietet sich der internationalen Staatengemeinschaft gut
zwei Monate nach der Millenniumskonferenz der Vereinten Nationen in New York die einmalige Gelegenheit,
weitere verbindliche Schritte bei der Bekämpfung der
Armut in Afrika zu gehen. Eines muss aber klar sein:
Dieser EU-Afrika-Gipfel darf keine reine Handelsrunde
werden. Er darf nicht zu einem Wettlauf um die besten
Rohstoff- und Energievorkommen in Afrika führen.
Natürlich verfolgen wir alle die umfangreichen Aktivitäten Chinas zur Sicherung seiner eigenen Rohstoffbedarfe auf dem afrikanischen Kontinent mit großer Sorge.
Vieles erinnert an kolonialstaatlichen Habitus, den wir
im 21. Jahrhundert schon hinter uns glaubten. Deshalb
muss die Europäische Union auf eine gemeinwohlorientierte Regulierung von Ressourcen mit den jeweiligen
Ländern setzen und diese bei der Zertifizierung und dem
Ressourcen-Management unterstützen. Auch das schafft
Arbeit, ist nachhaltig und im Interesse der gesamten
Weltgemeinschaft. Ich begrüße ausdrücklich den Vorschlag der EU-Kommission im Rahmen des Rohstoffmanagements, die sogenannte Initiative zur Verbesserung
der Transparenz in der Rohstoffindustrie, EITI, einzuschalten, damit ein wirksames Controlling aufgebaut
werden kann. Das übergeordnete Ziel des Gipfels ist
„Wachstum, Investition und Schaffung von Arbeitsplätzen“. Ich bin der Kommission dankbar, dass die Beziehungen zwischen Europa und Afrika damit entkoppelt
werden von einer rein entwicklungspolitischen Dimension. Denn es geht tatsächlich um mehr.
Die im Jahr 2007 in Lissabon verabschiedete EUAfrika-Strategie, die ganz wesentlich vom damaligen
Außenminister Frank-Walter Steinmeier und der Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im
Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorbereitet wurde, bietet eine gute Grundlage für die weitere
Vertiefung und den Ausbau der europäisch-afrikanischen Partnerschaft. Es geht darum, gemeinsam mit den
afrikanischen Partnern eine Strukturpolitik zu unterstützen, die den Klimaschutz und ein nachhaltiges Wachstum fördert, um aus der Armutsfalle herauszukommen.
Die bisherigen Vorschläge der EU-Kommission zur sozialen Kohäsion werden von uns ausdrücklich unterstützt, weil sie auch dazu beitragen, Arbeitsplätze zu
schaffen, von denen man leben kann. Die Menschen in
Afrika sind in die Lage zu versetzen, durch eigene Arbeit
und - ganz wichtig - durch die Erzielung eines existenzsichernden Einkommens der Armut zu entkommen.
Die Stärkung der sozialen Sicherung - in Verbindung
mit wirtschaftlichem Wachstum - ist eine der großen Herausforderungen, die aber mit gemeinsamem Knowhow-Transfer zu schaffen sind. Deshalb geht es zuallererst um Good Governance für eine ökosoziale Marktwirtschaft. Eigenverantwortung als wichtiger Anspruch
für demokratische Entwicklungsprozesse gilt es zu fördern, aber auch zu fordern. Dabei ist der Kampf gegen
Korruption eine wichtige Voraussetzung, um Investitionen in afrikanischen Staaten zu ermöglichen.
Es geht um die Förderung und Gleichstellung von
Frauen in den afrikanischen Ländern. Denn die Frauen
sind es, die für den wirtschaftlichen und sozialen Aufbruch in den Ländern Subsahara-Afrikas stehen. Sie
sind der Motor einer erfolgreichen europäischen Entwicklungspolitik in und mit Afrika. Und es geht um Bildung als Grundvoraussetzung für ein selbstbestimmtes
Leben ohne Armut. In dem Antrag der Linken zum bevorstehenden EU-Afrika-Gipfel, mit dem wir uns heute
beschäftigen, ist von all diesen Punkten nichts zu finden.
Die Erwartungen und Forderungen der SPD-Bundestagsfraktion an die 80 Staats- und Regierungschefs auf
dem EU-Afrika-Gipfel hingegen sind sehr viel weitreichender und ehrgeiziger. Die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele in den Ländern Afrika steht nach
wie vor im Mittelpunkt unserer Zusammenarbeit. Die
bisherige Bilanz ist ungenügend. Deshalb müssen die
Europäische Union und die nationalen EU-Geberländer
ihre Anstrengungen besser koordinieren, wirksamer gestalten, aber auch materiell verstärken. Hier wünsche
ich mehr gegenseitige Absprachen und Prioritätensetzung innerhalb der Europäischen Union.
Um nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum voranzubringen, bedarf es - wie bereits in der Mitteilung der
EU-Kommission vom 10. November zum EU-AfrikaGipfel angekündigt - verschiedener Initiativen. Ausdrücklich begrüßen wir den Vorschlag einer echten Kohärenz in der Entwicklungspolitik. Dabei geht es um
bessere Rahmenbedingungen zur Finanzierung von Investitionen der europäischen Privatwirtschaft, aber
auch um die Unterstützung von Kleinkrediten zum Aufbau kleiner Unternehmen - zum Beispiel durch Mikrofinanzkredite. Damit konnten bereits zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen werden. Dieses Instrument auszubauen und dabei gleichzeitig Ausbildung und Qualifizierung zu unterstützen, wird zu erheblichem regionalem
Wachstum beitragen.
Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie konstruktiv die Erweiterung und Vertiefung der Beziehungen der Europäischen Union mit den afrikanischen
Staaten unterstützt. Allerdings - und das sage ich ganz
ehrlich - habe ich da so meine berechtigten Zweifel. Seit
zwölf Monaten beschränkt sich die deutsche Entwicklungspolitik auf die Umsteuerung von multilateraler Zusammenarbeit auf bilaterale Projekte und erschwert
Zu Protokoll gegebene Reden
Karin Roth ({0})
damit die Koordinierung, besonders in den afrikanischen Staaten. Der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag
führt insofern eher in die Irre, anstatt mit der Europäischen Union eine entwicklungspolitische Kohärenz herzustellen. Auch das ständige Erzählen über die Förderung deutscher Wirtschaftsprojekte ist nicht glaubwürdig, wenn gleichzeitig die ODA-Quote nicht erreicht
wird und sich Finanzversprechen auf internationalen
Gipfeln nicht im Haushalt der Bundesregierung wiederfinden.
Die Kanzlerin hat beim G-8-Gipfel 2010 in Kanada
zur Bekämpfung der Kinder- und Müttersterblichkeit
400 Millionen Euro für die nächsten fünf Jahre - und
damit jährlich 80 Millionen Euro - versprochen. Im
Haushalt sind aber nur 22 Millionen Euro vorgesehen.
Die Kanzlerin ist damit wenig glaubwürdig. Das bleibt
auch in Tripolis kein Geheimnis.
Und es wird nicht besser. So hatte sich Deutschland
verpflichtet, die öffentliche Entwicklungshilfe - die sogenannte ODA-Quote - im Jahr 2010 auf 0,51 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Davon sind wir
weit entfernt. Das Ziel, im Jahr 2015 auf 0,7 Prozent zu
kommen, wird diese Bundesregierung - wenn sie so weiter macht - nie und nimmer erreichen.
Besonders ignorant verhält sich der zuständige
Minister für Entwicklungszusammenarbeit. Zulasten internationaler Zusagen wollte er nur bis 2011 den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids/HIV, Tuberkulose
und Malaria mit 200 Millionen Euro unterstützen. Erst
auf Druck der SPD und der Nichtregierungsorganisationen wurde hier in letzter Sekunde zurückgerudert. Jetzt
gibt es wenigsten sogenannte Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von 400 Millionen Euro für die Jahre
2012 und 2013. Bei diesem Fonds geht es um die Rettung von Menschenleben. 67 Prozent der schätzungsweise 33,4 Millionen mit dem HI-Virus infizierten Menschen leben in den Ländern Subsahara-Afrikas. Wer
also wirtschaftliche Entwicklung will, muss auch dafür
sorgen, dass die Menschen gesund werden und bleiben.
1,5 Milliarden Menschen in 80 Ländern in der Europäischen Union und Afrika haben ein Recht darauf, dass
die europäisch-afrikanische Partnerschaft auf einer verlässlichen Grundlage vertieft wird. Die SPD-Bundestagsfraktion erwartet deshalb, dass sich die Bundesregierung für folgende Prioritäten einsetzt. Erstens. Die
Afrikanische Union, ihre Vertretung in allen internationalen Gremien, sowohl im UN-Sicherheitsrat und in den
G 20, als auch das Panafrikanische Parlament sind zu
stärken und zu unterstützen. Zweitens. Die Millenniumsentwicklungsziele sind in Afrika bis 2015 durch besondere Initiativen zu erreichen. Drittens. Bei Wirtschaftsund Handelsabkommen zwischen der EU und Afrika ist
sicherzustellen, dass die von der Internationen Arbeitsorganisation ({1}) vorgegebenen Sozialstandards - die
sogenannten ILO-Kernarbeitsnormen - verbindlich festgeschrieben werden. Das Allgemeine Präferenzsystem
ist daraufhin zu überprüfen und anzupassen. Das gilt in
gleichem Maße auch für ökologische Mindeststandards.
Zu unterstützen ist zudem eine gemeinwohlorientierte
Regulierung zur Nutzung von Ressourcen. Sie verhindert
Ausbeutung und fördert Nachhaltigkeit von wirtschaftlichem Wachstum. Viertens. Die handelsverzerrenden
Subventionen vor allem im Agrarbereich sind zu beseitigen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen gehen
den Entwicklungsländern aufgrund unfairer Handelsbeziehungen jährlich rund 700 Milliarden Dollar verloren.
Das ist etwa das Sechsfache der gesamten Entwicklungsmittel.
Fünftens. Die EU muss mit den afrikanischen Partnern eine wirksame Strategie zur Bekämpfung der Korruption und Einhaltung der Menschenrechte verabreden
und umsetzen. Sechstens. Die Gleichberechtigung von
Frauen, die Förderung von Frauenrechten und die Berücksichtigung der besonderen Belange von Frauen,
zum Beispiel im Bereich der sexuellen und reproduktiven
Gesundheit, muss in einem konkreten Gender-Aktionsplan umgesetzt werden. Siebtens. Von dem EU-AfrikaGipfel muss ein ganz klares Signal zur Bekämpfung des
Klimawandels und der Umweltzerstörung - für den zeitgleich beginnenden UN-Klimagipfel in Cancun - ausgehen. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt deshalb
die Festlegung auf eine gemeinsame Position in einer
separaten Gipfel-Erklärung.
Wir alle wollen, dass europäische und deutsche Politik größtmögliche Wirkung bei der Bekämpfung der Armut in der Welt erzielt. Nehmen Sie sich deshalb vor allem die Mahnung der EU-Kommission zu Herzen:
In Europa sind es die konkurrierenden nationalen
Interessen, die unkoordinierten bilateralen Initiativen und die fehlende Koordinierung der Instrumente, welche die Sichtbarkeit und Zugkraft der
Politik untergraben.
Das schreibe ich der Bundesregierung ins Stammbuch.
Der rund eintägige EU-Afrika-Gipfel vom 29. bis
30. November 2010 in Tripolis ist nach Kairo im Jahr
2000 und Lissabon 2007 der dritte Gipfel, der den
Staats- und Regierungschefs beider Kontinente eine
Möglichkeit zum Austausch bietet. Unter dem Titel „Investition, Wachstum und Beschäftigung“ steht er im
Kontext der EU-Afrika-Strategie, die in Lissabon den
Grundstein für die strategische Partnerschaft zwischen
den beiden Kontinenten begründet hat. Angesichts der
Kürze dieses hochrangigen Gipfels, bei dem Deutschland nach aktueller Planung am ersten Konferenztag
durch die Kanzlerin vertreten wird, geht es vor allem um
ein politisches Signal. Auch Deutschland möchte die
traditionell starken, auch historisch gewachsenen Beziehungen zu Afrika zunehmend zu einem freundschaftlichen und strategischen Verhältnis auf Augenhöhe entwickeln. Die Partnerschaft soll über die klassischen EZBeziehungen hinausgehen, auch zivilgesellschaftliche,
private Akteure sowie Parlamente einbeziehen und ein
Forum bieten, gemeinsame Positionen von Afrika und
EU zu globalen Fragen, Klima, MDGs etc. zu entwickeln. Wir hoffen, dass neben einem kurzen Gipfeldokument, Tripoli Declaration, auch der 2. Aktionsplan zur
Umsetzung der Afrika-EU-Strategie verabschiedet werZu Protokoll gegebene Reden
Joachim Günther ({0})
den kann. Hierbei hat sich die Bundesregierung im Rahmen der EU dafür eingesetzt, sich im neuen Aktionsplan
auf eine pragmatische Umsetzung zu konzentrieren.
Die Umsetzung der strategischen Partnerschaft erfolgt bisher über acht thematische Partnerschaften wie
der Partnerschaft zu Frieden und Sicherheit, zu demokratischer Regierungsführung und Menschenrechten, zu
Handel und regionaler Integration, zu den Millenniumsentwicklungszielen, zu Energie, zum Klimawandel wie
auch zu Migration, Mobilität und Beschäftigung. Eine
auf dem kommenden EU-Afrika-Gipfel angestrebte separate Erklärung aller Partnerstaaten zum Klimawandel wäre ein deutliches Signal der Umsetzung des gemeinsamen Geistes von Tripolis.
Anlässlich des Rates der Außenminister im Format
der Handelsminister am 10. September 2010 fand eine
Orientierungsaussprache zum gegenwärtigen Stand der
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen-Verhandlungen mit
den AKP-Staaten statt mit dem Ziel, einen gemeinsamen
neuen Ansatz für die weiteren WPA-Verhandlungen vorzubereiten, die zuletzt ins Stocken geraten waren. Dabei
schätzte die Kommission unter Handelsminister De
Gucht und Entwicklungskommissar Piebalgs unter anderem die Aussichten für einen erfolgreichen Abschluss
der WPA-Verhandlungen für die afrikanischen Regionen
unterschiedlich ein. Während in der Ostafrikanischen
Gemeinschaft wohl noch eine größere Zahl von Nachverhandlungen nötig ist, könnte es in Westafrika - bei
entsprechendem politischen Willen - zügig zu einem umfassenden WPA - Abschluss kommen. Für die Region
Südliches Afrika wurde bislang ein subregionales Interimsabkommen abgeschlossen, das außer Namibia von
allen Staaten unterzeichnet wurde.
Die Bundesregierung und vor allem der Bundeswirtschaftsminister haben angekündigt, auf dem Gebiet der
Rohstoffpartnerschaften mit den Entwicklungsländern
einen entscheidenden Schritt voranzukommen. Dies ist
angesichts der Weltlage und vor allem der chinesischen
Entwicklungspolitik mit dem Aufkauf der Rohstoffvorkommen unumgänglich. Die Kooperation mit den Entwicklungsländern soll nicht nur eine reibungslose Versorgung mit Metallen und Mineralien für unser Land
sichern, sondern auch in den Entwicklungsländern
durch Investitionen in die Infrastruktur und die Technik
eine spürbare Weiterentwicklung der Länder bringen.
Unter all diesen Betrachtungen und unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Arbeit unserer Entwicklungshilfeorganisationen ist der vorliegende Antrag der
Linken ein Schritt in die Vergangenheit. Wer im Antrag
fordert, dass die Europäische Union und die Afrikanischen Staaten sich auf Augenhöhe begegnen müssen und
wenige Zeilen weiter erklärt, die Beziehungen der EU
und Deutschland zu Afrika dürfen nicht im Interesse der
deutschen und europäischen Wirtschaft sein, sondern
müssen die sozialen Herausforderungen Afrikas in den
Mittelpunkt stellen, der beschreitet einen Weg des Ungleichgewichtes. Dieser Weg wird nicht funktionieren.
Gleiches trifft auf die Forderungen der Linken über die
vernetzte Sicherheit in Afrika zu. Freies Handeln und
Seewege, die Sicherheit der Mitarbeiter in den zivilen
Hilfsorganisationen sind ein wichtiger Garant für den
Aufbau einer Zivilgesellschaft und der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Hierbei von vornherein eine
zivil-militärische Zusammenarbeit und die Ausbildung
von Sicherheitskräften auszuschließen, wäre das absolut
falsche Signal. Die Forderungen dieses Antrags sind aus
unserer Sicht realitätsfern und deshalb lehnen wir diesen ab.
Das dritte Gipfeltreffen der Europäischen Union mit
den afrikanischen Staaten am 29. und 30. November
2010 in Tripolis findet in einer Zeit statt, in der 17 afrikanische Länder den 50. Jahrestag ihre staatlichen Souveränität feiern. In vielen dieser Staaten fällt die Bilanz
der letzten 50 Jahres sehr unterschiedlich aus. In allen
afrikanischen Staaten zeigt sich jedoch überdeutlich,
dass auch 50 Jahre nach der erlangten Souveränität die
kolonialen Dominanzverhältnisse fortbestehen. Dadurch
wird eine sozial und ökologisch nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in Afrika erschwert. In vielen Staaten
hat sich heute eine neue Machtelite herausgebildet, die
in enger Zusammenarbeit mit den westlichen Mächten
und Großkonzernen ihre jeweils eigenen Interessen verfolgen. Die Mehrzahl der Menschen und auch die Umwelt bleiben dadurch auf der Strecke.
Auch mit der „Gemeinsamen EU-Afrika-Strategie“
setzt die EU ihre bisherige Politik der einseitigen Verfolgung von Wirtschaftsinteressen großer Konzerne massiv
fort. Es zeigt sich überdeutlich, dass bei den Verhandlungen über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
mit den AKP-Staaten nicht die Entwicklungsinteressen
dieser Staaten im Mittelpunkt der Verhandlungsstrategie
der EU stehen, sondern einseitig die weitgehende Liberalisierung des Güterhandels und die Liberalisierung
der öffentlichen Beschaffungsmärkte zur Erschließung
von neuen Märkten. Es wird bewusst in Kauf genommen,
dass regionale Märkte zerstört und regionale Handelsstrukturen zugunsten der Profite der transnationalen
Konzerne zerschlagen werden.
Die Verhandlungen werden von der EU mit einem
massiven politischen und wirtschaftlichen Druck auf die
afrikanischen Staaten geführt. Offene Drohungen gegen
die AKP-Staaten und das Einfrieren bereits zugesagter
Finanzhilfen haben dazu geführt, dass die EU mit den
Staaten der Karibik bereits neue Wirtschaftspartnerschaftsabkommen abschließen konnte. Die Linke hat
hier immer wieder deutlich gemacht, dass diese neoliberalen Wirtschaftsabkommen ein schwerer Rückschlag
für die soziale und ökologische Entwicklung dieser Regionen sind und der Entwicklung von regionaler ökonomischer und sozialer Integration erheblichen Schaden
zugefügt wird. Die Linke unterstützt den zunehmenden
Widerstand von Regierungen und sozialen Organisationen in den afrikanischen AKP-Staaten gegen diese Abkommen. Die Entscheidung einiger Regierungen, auch
die Interimsabkommen nicht zu unterzeichnen, halten
wir für einen richtigen und wichtigen Schritt, um zu Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe zurückzukehren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit den geplanten Rohstoffpartnerschaften versucht
die EU, Entwicklungshilfe an den Zugang der europäischen Konzerne zu Rohstoffvorkommen zu koppeln. Damit missbraucht die EU ihre wirtschaftliche Macht, um
die Staaten Afrikas zu erpressen. Mit dieser Politik wird
die Ausrichtung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die im Vertrag von Lissabon unter massiver
Mithilfe der Bundesregierung die Sicherung des Zugangs
zu Rohstoffen für die deutsche Wirtschaft als integralen
Teil der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik formuliert hat, festgeschrieben. Eine solche Vermischung
von Wirtschaftsinteressen und Entwicklungspolitik ist
völlig inakzeptabel.
In Afrika leben 380 Millionen Menschen in absoluter
Armut, mehr als ein Drittel der Afrikanerinnen und Afrikaner ist unterernährt. Die Erreichung der Millenniumsentwicklungsziele bis 2015 ist äußerst zweifelhaft.
Durch die imperiale Rohstoffstrategie der EU werden
die Interessen dieser Menschen ignoriert und für die
wirtschaftlichen Interessen der Konzerne geopfert.
Die Linke hat immer wieder deutlich aufgezeigt, dass
die Kooperations- und Partnerschaftsabkommen mit
Ländern wie Libyen völlig inakzeptabel sind. Sie dienen
einzig und alleine dazu, die Festung Europas weiter auszubauen. Diese Abkommen sind Teil einer inhumanen
Flüchtlingspolitik der EU, die mit Menschenrechten und
Humanität nicht zu vereinbaren sind. Libyen hat weder
die Genfer Flüchtlingskonvention noch den Kooperationsvertrag mit dem Büro des Hohen Flüchtlingskommissariats der UN unterzeichnet. Gleichzeitig hat Libyen das UNHCR-Büro in Tripolis geschlossen. Mit
ihrer hochtechnisierten Grenzkontrolle und dem Einsatz
von FRONTEX werden hilfesuchende Menschen von der
EU nach Libyen abgedrängt. Dort werden sie in katastrophale soziale und humanitäre Situationen abgeschoben. Mehrfach wurden Fälle bekannt, in denen Migrantinnen und Migranten Vergewaltigung und Gewalt
ausgesetzt waren. Viele von ihnen werden von den libyschen Sicherheitskräften ohne Essen und Wasser mitten
in der Wüste ausgesetzt. Statt Fluchtursachen zu beseitigen, bekämpft die EU die afrikanischen Flüchtlinge und
zwingt diese auf immer gefährlichere Migrationsrouten.
Damit ist die EU - und mit ihr alle Mitgliedstaaten der
EU - für den Tod von Migrantinnen und Migranten in
der Wüste und auf hoher See mitverantwortlich.
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, ihre bisherige Politik, die Abwehr von Flüchtlingen als Teil der
Entwicklungszusammenarbeit durchzusetzen, sofort zu
beenden. Wir verlangen von der Bundesregierung, dass
sie nicht die Flüchtlinge bekämpft, sondern sich endlich
um die Beseitigung der wirtschaftlichen, ökologischen
und sozialen Ursachen der Migration kümmert. Die Beziehungen zwischen der EU und Afrika müssen zugunsten einer wirklichen Partnerschaft verändert werden.
Der EU-Afrika-Gipfel steht hierfür jedoch unter völlig
falschen politischen Vorzeichen durch die EU. Die Linke
wird sich deshalb auch in Zukunft dafür einsetzen, dass
sich die Staaten Afrikas gegen diese Bevormundung
durch die EU zur Wehr setzen können. Wir wollen eine
wirkliche Entwicklungspartnerschaft zwischen Afrika
und der EU erreichen.
Am 29. November findet zum dritten Mal der EUAfrika-Gipfel statt. Mit keiner anderen Großregion
pflegt die EU derart umfassende Beziehungen auf
Grundlage einer gemeinsam beschlossenen Strategie.
Mit kaum einer anderen Region gibt es aber auch derart
enge historische Bande. Als ich kürzlich im Rahmen der
Delegationsreise des Unterausschusses Zivile Krisenprävention den Kommissionspräsidenten der Afrikanischen Union, Jean Ping, in Addis Abeba traf, sagte er
sehr deutlich: „Europa ist für uns so nah, China mit seinen unterschiedlichen Wertvorstellungen so fern.“
Das sollte uns anspornen. Gerade jetzt im „Afrikanischen Jahr“, in dem Afrika die Unabhängigkeit von
17 Staaten vor 50 Jahren feiert, müssen wir endlich das
alte Denken vom schwarzen Kontinent über Bord werfen
und die Chance nutzen, die Beziehungen zu normalisieren und den Aufbau einer ehrlichen Partnerschaft voranzutreiben. Denn das war die Idee, als vor zehn Jahren die Staats- und Regierungschefs in Kairo das erste
Mal zusammenkamen.
Dass der Gipfel, wie vor drei Jahren geplant, stattfindet, zeigt, dass zumindest der gegenseitige Respekt in
den letzten Jahren gewachsen ist. Hatte früher noch der
Streit um Mugabe den Prozess sieben Jahre lang gelähmt, ist heute die „Causa Baschir“, trotz allem Dissens über den Haftbefehl des IStGH, kein Grund mehr,
den Gipfel platzen zu lassen.
Aber wir dürfen uns nicht mit einer oberflächlichen
Normalisierung zufriedengeben. Gerade der Dissens
über den Haftbefehl gegen Baschir wie generell auch die
Frage des Kampfes gegen die Straflosigkeit dürfen jetzt
nicht von einer windelweichen Gipfelerklärung übertüncht werden, wie es gerade passiert. Für mich ist klar:
Baschir gehört nach Den Haag vor den IStGH. Für mich
ist aber auch klar: Wir müssen in Zukunft im Dialog viel
aktiver für den IStGH werben und gemeinsam Wege finden, um ihn mit dem AU-Menschenrechtsgerichtshof, den
regionalen und nationalen Justizsystemen sowie den afrikanischen Versöhnungstraditionen sinnvoll zu verbinden.
Das ist für mich ein entscheidender Punkt, neben der
Stärkung demokratischer Institutionen, dem Umgang mit
Konfliktrohstoffen und gerechten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, um weiteren Krisen vorzubeugen und
ein nachhaltiges Peacebuilding voranzubringen.
All dies setzt aber voraus, dass wir auch mehr Tiefgang in der Partnerschaft „Frieden und Sicherheit“ hinbekommen. Denn ohne das kann es kein Peacebuilding
geben. Auch deshalb hat die AU für das Jahr 2010 selbst
die Losung herausgegeben: „Make Peace Happen“.
Doch ausgerechnet hier gibt es eine gefährliche
Schieflage. Das musste ich kürzlich im Hauptquartier
der Afrikanischen Union selbst erfahren. Während militärische Teile der Afrikanischen Eingreiftruppe bis Ende
des Jahres einsatzfähig sein werden, ist der Aufbau ziviler Fähigkeiten kaum vorangekommen. Auch GenderFragen entlang der Sicherheitsratsresolutionen 1325
oder 1820 spielen keine Rolle. Die EU und ihre Mitgliedstaaten stützen viel zu einseitig das militärische
Standbein der AU-Sicherheitsarchitektur. UNO-Einsätze
Zu Protokoll gegebene Reden
Kerstin Müller ({0})
wie im Kongo müssten uns doch lange klar gemacht haben, wie wichtig fähige Polizistinnen und Polizisten,
Justiz- und Verwaltungsfachleute, Wahlbeobachterinnen
und -beobachter oder Konfliktmediatorinnen und -mediatoren für Friedensprozesse sind, um letztlich auch
den rechtsfreien Raum für die schrecklichen Vergewaltigungen zu schließen.
Das ständige Ownership-Credo bleibt nichts als eine
hohle Phrase, wenn wir einerseits selbst nicht bereit
sind, mehr Zivilpersonal in Missionen zu schicken, andererseits aber auch die nötige Unterstützung bei der
Ausbildung versagen. Das laufende Polizeiprogramm
der GTZ in Addis Abeba oder die deutsche Polizeiausbildung im Kofi-Annan-Peacekeeping-Center in Accra
sind dabei im Ansatz zwar richtig und wichtig. Doch
bleiben diese Ansätze ohne einen Ausbau und eine gezielte Kooperation mit den übrigen EU-Staaten nur ein
Tropfen auf den heißen Stein.
Die AU braucht dringend mehr Unterstützung beim
Aufbau eines zivilen Personalpools für Friedensmissionen und für das Peacebuilding, der auch den Bedürfnissen der Frauen gerecht wird. Wir sollten daran denken,
dass wir dabei auf die hervorragende Expertise des ZIF
zurückgreifen können, vorausgesetzt, wir stellen dafür
auch die erforderlichen Mittel zur Verfügung.
Meine Damen und Herren von der Linkspartei, dass
Sie jetzt in Ihrem Antrag auch noch polizeiliche Friedensmissionen verdammen, kann ich überhaupt nicht
nachvollziehen. Was glauben Sie eigentlich, wo die Polizisten, wie sie vom Kofi-Annan-Peacekeeping-Center
ausgebildet werden, nach ihrem UNO- oder AU-Einsatz
für Sicherheit und Ordnung sorgen? Genau, in ihren
Herkunftsländern. Das habe ich im Fall von Sierra
Leone selbst gesehen. Die leidgeprüften Menschen dort
sind froh über ihre hervorragend ausgebildeten Polizistinnen und Polizisten, wenn sie nach ihrem Darfur-Einsatz nach Sierra Leone zurückkommen.
Wir sollten den kommenden Gipfel für ein ehrliches
Resümee der Zusammenarbeit von EU und AU nutzen
und die notwendigen Weichen stellen, damit wir vom
oberflächlichen Respekt füreinander zu einer ehrlichen
Partnerschaft mit Tiefgang gelangen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3672 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind
Sie einverstanden. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von De-Mail-Diensten und zur Änderung
weiterer Vorschriften
- Drucksache 17/3630 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Die Kommunikation über das Internet ist aus dem
Alltag der Menschen nicht mehr wegzudenken. Deutlich
mehr als zwei Drittel aller Haushalte in Deutschland
haben inzwischen einen Internetzugang. Die Mehrzahl
der Bürgerinnen und Bürger nimmt gerne die Angebote
an, die das Netz bietet. Die elektronische Kommunikation ist besonders beliebt, weil sie schnell und günstig
ist. Alle Beteiligten profitieren von den Vorteilen, die sie
mit sich bringt, gleichermaßen. Dies gilt für Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und Behörden.
Allerdings werden die technischen Möglichkeiten des
Internets noch nicht in dem Maße genutzt, wie sich das
viele Bürgerinnen und Bürger wünschen. Staatliche
Ämter und Behörden versenden anstatt E-Mails meist
Papierpost. Auch für Unternehmen wie Banken und Versicherungen ist der klassische Brief häufig erste Wahl.
Dies hat gute Gründe: Konventionelle E-Mails sind
etwa so sicher wie Postkarten. Sie können mitgelesen,
manipuliert oder komplett gefälscht werden.
Technische Verfahren, E-Mails zu verschlüsseln und zu
signieren, gibt es schon fast so lange, wie es die E-Mail
selbst gibt. Bürgerinnen und Bürger können sich beispielsweise auf der Homepage des Deutschen Bundestages Schlüssel herunterladen, um Abgeordneten verschlüsselte E-Mails zu senden. Doch seien wir ehrlich,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, kaum ein Bürger
nutzt diese Möglichkeit. Wir erhalten als Abgeordnete
von Bürgerinnen und Bürgern fast täglich E-Mails mit
vertraulichen Inhalten, die weder verschlüsselt noch signiert sind.
Dies zeigt uns zweierlei: erstens, dass viele Bürgerinnen und Bürger elektronisch kommunizieren möchten,
sei es mit staatlichen Institutionen oder mit Unternehmen. Zu diesem Ergebnis kam auch das De-Mail-Pilotprojekt in Friedrichshafen. Es zeigt uns aber zum Zweiten auch, dass bestehende Möglichkeiten für die sichere
elektronische Kommunikation nicht genutzt werden.
Aufgabe des Deutschen Bundestages ist es daher, gesetzliche Rahmenbedingungen für eine sichere elektronische
Kommunikation zu schaffen, die einfach und nutzerfreundlich ist. Genau das tun wir mit dem De-Mail-Gesetz.
Das De-Mail-Gesetz setzt einen Wettbewerbsrahmen
für Unternehmen, die ihren Kunden sichere elektronische Kommunikation anbieten wollen. Jedes Unternehmen, das staatlich definierten und überprüften
Standards genügt, kann sich als De-Mail-Anbieter akkreditieren lassen. Das Bundesamt für Sicherheit in der
Informationstechnik hat dazu technische Richtlinien erarbeitet. Ähnlich wie die Straßenverkehrszulassungsordnung Sicherheitsstandards für den Straßenverkehr
setzt, wollen wir so auch für die elektronische Kommunikation verbindliche Rahmenbedingungen schaffen. Innerhalb dieses Wettbewerbsrahmens sind dann private
Unternehmen gefordert, selbst Geschäftsmodelle und
Produkte zu entwickeln.
Staatlich definierte und überprüfte Standards sind für
die Bürgerinnen und Bürger unter mehreren Gesichtspunkten vorteilhaft: Wenn sich alle Anbieter an die selClemens Binninger
ben technischen Standards halten, ist für Interoperabilität gesorgt. Ein De-Mail-Kunde der Deutschen Telekom
kann mit Kunden von United Internet oder der Deutschen Post sicher kommunizieren. Die Deutsche Post
hat ja bereits angekündigt, ihren E-Postbrief als DeMail-konform akkreditieren zu lassen. Bürgerinnen und
Bürger erkennen außerdem sofort, dass ihr Anbieter hohen
Sicherheitsstandards genügt, wenn er das De-Mail-Siegel erhalten hat.
Ein Grund für die geringe Verbreitung von bestehenden Verschlüsslungslösungen ist, dass sich die große
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger mit der Installation und Bedienung von Verschlüsslungsprogrammen
wie PGP oder GnuPG nicht beschäftigen möchte oder
kann. Den meisten dürften schon die Begriffe schlichtweg unbekannt sein. Die De-Mail-Standards sind deshalb so konzipiert, dass in einer Basisvariante keine
zusätzlichen Verschlüsslungsprogramme auf den Computern der Anwender notwendig sind. Die Verschlüsslung der De-Mails übernimmt der De-Mail-Anbieter.
De-Mail bietet also sichere Kommunikation für jedermann, was ein weiterer Vorteil ist.
Denjenigen, die noch mehr Sicherheit wünschen,
müssen die De-Mail-Anbieter eine Premiumvariante mit
erhöhter Sicherheit zur Verfügung stellen. Das De-MailGesetz verpflichtet die Anbieter dazu, auf Wunsch die
noch sicherere Ende-zu-Ende-Verschlüsslung von Nachrichten zu ermöglichen. Jedem, der noch mehr Sicherheit möchte, empfehle ich, diese Premiumvariante zu
nutzen. Dafür sind dann allerdings auf dem eigenen
Computer Vorkehrungen zu treffen. De-Mail hat zum
Ziel, der Ende-zu-Ende-Verschlüsslung zum Durchbruch
zu verhelfen. Dabei setzen wir aber nicht auf Zwang,
sondern auf die Einsicht der Nutzer und fördern die freiwillige Anwendung der Ende-zu-Ende-Verschlüsslung.
De-Mail bietet noch einen weiteren wichtigen Vorteil,
der rechtlicher Natur ist: Wenn es zu Rechtsstreitigkeiten kommt, wird einer konventionellen E-Mail in der Regel überhaupt kein Beweiswert zugemessen. Doch auch
bei der klassischen Papierpost kann es zu Unklarheiten
kommen, wenn ein Empfänger glaubhaft macht, dass er
ein Schreiben nicht erhalten hat. Selbst bei Dokumenten,
die per Einschreiben verschickt werden, kann ein Empfänger den Zugang bestreiten, indem er behauptet, aufgrund eines Büroversehens nur einen leeren Umschlag
erhalten zu haben. Sowohl im Vergleich zur Papierpost
als auch mit der konventionellen E-Mail hat De-Mail
hier einen großen Vorteil: De-Mail bietet eine beweissichere Eingangsbestätigung, die nicht nur den Eingang
einer Nachricht nachweist, sondern über Prüfsummen
auch deren Inhalt. Per De-Mail können Dokumente also
rechtsverbindlich und nachweisbar verschickt werden.
Während im geschäftlichen Bereich eine einfache
Eingangsbestätigung genügt, ist für die förmliche Zustellung im hoheitlichen Bereich eine Abholbestätigung
notwendig. Diese hohe Hürde haben wir ganz bewusst
für die Zustellung von Amts wegen gesetzt. In diesem Zusammenhang möchte ich das Wort auch an die Adresse
der Grünen richten. Sie, Herr Kollege von Notz, behaupten, eine De-Mail gelte nach drei Tagen als rechtskräftig
zugestellt, wenn sie nur den Server einer Behörde verlasse. Hätten sie den Gesetzentwurf der Bundesregierung aufmerksam gelesen, wüssten auch Sie, dass zum
Nachweis der elektronischen Zustellung einer Behörden-De-Mail eine Abholbestätigung notwendig ist. Eine
solche Abholbestätigung generiert der De-Mail-Anbieter des Empfängers jedoch erst, nachdem sich der Empfänger an sein De-Mail-Konto angemeldet hat, wenn er
also sieht, dass er Post von einer Behörde in seinem
Posteingang hat.
Trotzdem gilt für die Nutzerinnen und Nutzer, dass sie
ihr De-Mail-Postfach regelmäßig überprüfen sollten. Es
wird faktisch die selbe Bedeutung erlangen wie der
Briefkasten am Haus, der ja schon aus eigenem Interesse regelmäßig gelehrt wird, um keine Fristen zu versäumen. Im Gegensatz zum konventionellen Briefkasten
kann man sein De-Mail-Postfach allerdings von jedem
Computer mit Internetzugang aus abrufen, also auch bei
Geschäftsreisen oder im Urlaub.
Werte Kolleginnen und Kollegen, mit der De-Mail
wollen wir auf dem Weg zu einer digitalen Raumordnung
ein Stück weiter vorankommen. Wir schaffen die rechtlichen Voraussetzungen, dass zukünftig weniger Briefe
ausgedruckt werden müssen, sondern elektronisch versandt werden können. Viele Bürgerinnen und Bürger
wünschen sich diese Ausweitung elektronischer Kommunikation. Doch nur wenn elektronische Kommunikationsdienste hohen Standards hinsichtlich Sicherheit
und Datenschutz genügen, finden sie das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger. Nur wenn krimineller Missbrauch ausgeschlossen ist, sind Unternehmen und Behörden dazu bereit, den Bürgerinnen und Bürgern ihre
Dienste auch elektronisch anzubieten. Diesen hohen Ansprüchen genügt De-Mail.
De-Mail ist ein wichtiger Baustein beim Aufbau einer
digitalen Raumordnung. De-Mail ergänzt und erweitert
bestehende Bausteine wie den elektronischen Personalausweis und die qualifizierte elektronische Signatur
sinnvoll. E-Government und E-Business werden davon
profitieren. Wir stärken so den IT-Standort Deutschland
und bauen unsere Vorreiterrolle aus, die wir durch die
Einführung des elektronischen Personalausweises gewonnen haben.
Mit dem eingebrachten Gesetz zur Regelung von
De-Mail-Diensten soll im Massenkommunikationsmittel E-Mail ein sicherer, und zwar auch rechtssicherer
Dienst und der vertrauliche Transport von Dokumenten
ermöglicht werden. Dies ist im Grundsatz zu begrüßen.
Frau Kollegin Piltz hat noch im Februar 2009 das
De-Mail-Projekt als „neues Mammutprojekt ohne konkreten Mehrwert“ der damaligen schwarz-roten Bundesregierung bezeichnet. Und nachdem es dann bereits die
schwarz-gelbe Bundesregierung Ende 2009 gab - die
Betonung liegt auf „gelb“ - hat der Bundestag auf Betreiben der FDP sogar noch eine Haushaltssperre für
das Projekt De-Mail in den Haushaltsplan 2010 des
Bundesinnenministeriums eingetragen, die die „AusgaZu Protokoll gegebene Reden
ben zum Zwecke der Verwirklichung des Projekts DeMail“ untersagt.
Vor diesem Hintergrund ist es schon seltsam, dass
jetzt schnell ein entsprechendes Gesetz durch das
schwarz-gelbe Kabinett in den Bundestag eingebracht
wird und man sogar davon spricht, dass das ganze in
diesem Jahr noch über die Bühne gehen soll. Mal ganz
davon abgesehen, ob der Gesetzentwurf entsprechend
ausgereift ist oder nicht. Das Mammutprojekt hat sich
also nun die FDP zu eigen gemacht, nachdem sie auf der
Regierungswolke schwebt? Haben Sie denn, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, nun dessen Mehrwert erkannt?!
Ich kann Sie deshalb nur auffordern, sehr geehrte
Mitglieder der Koalition: Machen Sie es bitte richtig!
Lassen Sie das Parlament keine halbgaren Sachen beraten und verabschieden, deren Nachbesserung dann wieder mehr Zeit braucht, als das ursprüngliche Gesetz an
Zeitaufwand gekostet hat.
Bei dem von der Bundesregierung im Bundestag zur
Beratung eingebrachten Entwurf sehen wir noch erheblichen Beratungs- und Nachbesserungsbedarf, insbesondere mit Blick auf Transparenz, Vertrauenswürdigkeit, Sicherheit und Nutzerrechte.
Für uns stehen im Vordergrund eines solchen Gesetzes und des Projektes, einen sicheren Kommunikationsweg und ein sicheres Kommunikationsmittel für den
Rechtsverkehr zu schaffen, der Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher als Nutzer und nicht zuvorderst
die Einsparungs- und Vermarktungsinteressen von Wirtschaftszweigen.
Nur, wenn die Verbraucher dieses - ich sage einmal
„neuartige“ - Kommunikationsmittel auch annehmen
und nutzen, kann das De-Mail-Projekt ein Erfolg werden
und eine Erleichterung für Behörden und Bürgerinnen
und Bürger gleichermaßen mit sich bringen. Fragen Sie
sich doch mal: Wie würden Sie als Verbraucher gerne
eine De-Mail ausgestaltet und gesichert sehen? Unabhängig von einem technikneutral formulierten Gesetz
müssen dem Nutzer die technischen Voraussetzungen
klar sein. Doch dies ist nach dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht der Fall.
Überzeugen müssen Sie - sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen von den Regierungsfraktionen - die Verbraucherinnen und Verbraucher auch beim Stichwort
Akkreditierung. Zeigen Sie transparent auf, wie die Akkreditierung für die Unternehmen vonstatten geht, die
diese Dienste anbieten dürfen. Und verstecken Sie dies
nicht hinter schwammigen Formulierungen, die der einfache Bürger nicht nachvollziehen kann.
Nach den Datenschutzskandalen und den Überwachungsaffären der Vergangenheit sind zumindest Zweifel
erlaubt, ob das Fernmeldegeheimnis von den Diensteanbietern beachtet wird. Wie wir ja alle wissen, sind große
Datenmengen sehr verlockend, weil man sie verkaufen
und damit Geld verdienen kann. Darum fordern wir Sozialdemokraten, dass der Verbraucher- sowie der Datenschutz stärker in den Vordergrund gerückt werden.
Aufgabe eines De-Mail-Gesetzes muss es sein, klare
und eindeutige Regelungen zur Sicherung solch großer
Datenbanken zu treffen. Dies gilt sowohl für die Voraussetzung von staatlichen Eingriffen als auch für den
Schutz vor kriminellen Übergriffen. Die jüngsten Erfahrungen mit dem elektronischen Personalausweis sind da
nicht gerade ermutigend.
Es gibt weiteren Klärungsbedarf: etwa bei der Frage
der Rechtsicherheit. So soll die De-Mail mit dem Eingang im Postfach des Empfängers entsprechend dem im
Entwurf geänderten Verwaltungszustellungsgesetz drei
Tage nach Absendung als zugestellt gelten. Was aber ist,
wenn der Empfänger nicht aufgrund von eigenem, sondern aufgrund von Fremdverschulden längere Zeit nicht
über den üblichen Zugang zu seinem De-Mail-Postfach
verfügen kann?
Bei einem Bekannten von mir war es erst kürzlich fast
anderthalb Wochen nicht möglich, den ausgefallenen Internetzugang wiederherzustellen, weil Netzanbieter,
Diensteanbieter und Systembetreuer jeweils die Verantwortung für den Ausfall bei dem anderen verorteten. Ein
- wie mir berichtet wurde - nicht ganz seltenes Problem.
Liegen dann das Verschulden und die Beweislast allein beim Empfänger? Das Problem lässt sich sehr
schön im Vergleich zur derzeitigen Zustellung durch Behörden deutlich machen. Wenn die Behörde per Post mit
Einschreiben zustellt, dann liegt die Nachweispflicht
hinsichtlich der Zustellung nach dem Verwaltungszustellungsgesetz bei der Behörde. Bei einem Verwaltungsakt
- der ja dann auch per De-Mail zugestellt werden
könnte - hat ebenfalls die Behörde im Zweifel die Beweislast. Der Eingang im Postfach kann dann zwar
nachgewiesen werden, wenn aber im Falle von De-Mail
ein E-Mail-Zugang eben aus technischen oder sonstigen
Gründen nicht möglich ist und die Mail nicht abgerufen
werden kann, soll das dann das alleinige Problem des
Empfängers sein?
Auch aus diesem Grunde sollte sich der Gesetzgeber
viel eher die Frage stellen, ob die Zustellungsfiktion, die
aus den guten alten Zeiten der zuverlässigen Beamtenpost stammt, überhaupt noch den Realitäten im heutigen
Zustellungsbetrieb entspricht, statt sie ungeprüft und mit
der Beweislast für den Empfänger auf den neuen Dienst
zu übertragen.
Auch bei den Voraussetzungen für die staatlichen
Eingriffsmöglichkeiten besteht noch erheblicher Erörterungsbedarf. Verfassungsschutz, Polizei, Strafverfolgungsbehörden, BND oder MAD können unter sehr
niedrigen Voraussetzungen auf die Postfächer zugreifen,
da Kennung und Passwörter auf Anordnung herauszugeben sind. Hierfür bedarf es nach dem TKG keiner
richterlichen Anordnung. Ich habe erhebliche Zweifel,
ob die Eingriffsschwelle für den Grundrechtseingriff so
niedrig angesetzt werden kann bei einem Dienst, der
auch den alten vertrauensvollen Postverkehr, der dem
Post-/Briefgeheimnis unterliegt, ersetzen soll.
Hier müssen die Hürden für Grundrechtseingriffe
entsprechend hoch sein. Dies gilt ganz besonders auch
im Hinblick darauf, dass der De-Mail-Dienst durch
Zu Protokoll gegebene Reden
neueste Telekommunikationstechnik gleichzeitig eine
Schnittstelle auch zum Fernmeldegeheimnis hat. Eine
Herausgabe der Erkennungs- und Zugangsdaten, die
dann einer Verletzung des Post-/Briefgeheimnisses Tür
und Tor öffnen dürfte, kann nicht im Sinne des Gesetzgebers sein - unabhängig davon, dass dies auch datenschutzrechtlich bedenklich wäre.
Zwei weitere Aspekte möchte ich noch ansprechen:
Um den Datentransfer bei De-Mail für kriminelle
Machenschaften nicht angreifbar zu machen, ist es
wichtig, dass für die von der Bundesregierung versprochene sichere, datengeschützte und vertrauenswürdige
Kommunikation gesetzlich verbindlich festgelegt wird,
dass eine derartige Garantie nur durch eine durchgehend starke Ende-zu-Ende-Verschlüsselung erreicht
werden kann.
Aus Gründen der Erkennbarkeit und des Verbraucherschutzes muss im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens noch einmal die Frage einer einheitlichen Kennzeichnung der Adressen durch alle Diensteanbieter auf
den Prüfstand. Dies hätte für den Nutzer den Vorteil der
einfachen Erkennbarkeit gegenüber einer unverschlüsselten E-Mail. Gleichfalls sollte im Sinne der Verbraucherfreundlichkeit eine Portierbarkeit der Mail-Adressen zwischen den Diensteanbietern geklärt werden.
Denn wer will ständig - nur weil er den Anbieter wechselt - seine De-Mail-Adresse ändern? Dies ist mit Telefonnummern möglich, so muss es doch auch mit E-MailAdressen möglich sein.
Alles in allem bleibt festzuhalten, dass die SPD-Bundestagsfraktion grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber einer verbraucherfreundlichen, vertrauenswürdigen, sicheren sowie staatlich gestützten E-MailKommunikation ist. Doch die gesetzlichen Regelungen
müssen klar strukturiert, technikneutral und verbraucherfreundlich sein sowie höchsten Datenschutzstandards genügen.
Sehr geehrte Damen und Herren Kolleginnen und
Kollegen der Regierungsfraktionen, bitte begehen Sie
also nicht den „Dauerfehler“ Ihrer Koalition, nur weil
man sich einmal mehr wieder uneins war, ein mit heißer
Nadel ausgearbeitetes Gesetz zu verabschieden, und
lassen Sie uns die aufgeworfenen Fragen im Gesetzgebungsverfahren gewissenhaft angehen. Unsere Bereitschaft dazu haben Sie.
Der Koalitionsvertrag sieht eine weitere Förderung
des E-Governments vor. Wir haben uns vorgenommen,
Voraussetzungen für eine sichere Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen und der
Verwaltung zu schaffen.
Das De-Mail-Gesetz ist nun ein weiterer Baustein zur
Umsetzung dieser Aufgabe. Was regelt De-Mail? Wofür
brauchen wir dieses Gesetz?
Ich möchte Sie kurz in Ihre eigenen Arbeitszimmer
entführen. Wie viele Aktenordner, gut gefüllt mit Behördenbescheiden, gerichtlichen Unterlagen, Versicherungsscheinen und Verträgen, stehen in Ihren Schränken? Und wie oft wiederholt sich das Prozedere:
Bescheid erhalten, Antwort oder Widerspruch am Computer verfassen, ausdrucken, unterschreiben, Briefmarke aufkleben und zur Post bringen, Schriftwechsel
abheften, bei Ihnen im Jahr?
Allein die staatliche Verwaltung versendet im Jahr
circa 1,3 Milliarden Briefe, von denen ungefähr ein
Viertel genauso gut auf elektronischem Weg befördert
werden könnten. Das sind Briefe, die bei Ihnen im
Schrank stehen und Sie als Steuerzahler einen zweistelligen Millionenbetrag kosten. Bisher war und ist aufgrund fehlender Rechtssicherheit von einer elektronischen Kommunikation zwischen Bürgern, Behörden und
Unternehmen weitgehend abgesehen worden. Auch ist
das Vertrauen in die E-Mail nicht sehr groß: Man kann
nie ganz sicher sein, ob der Absender auch derjenige ist,
für den man ihn hält. Auch lässt sich die Zustellung einer E-Mail nur schwer nachweisen, was juristische Konsequenzen haben kann. Nicht zuletzt ist die Vertraulichkeit der E-Mail nicht immer gewährleistet.
Das De-Mail-Gesetz schafft nun den rechtlichen Rahmen für einen vertrauenswürdigen Mailverkehr. Es regelt Anforderungen, die ein Provider erfüllen muss, um
sichere E-Mails versenden und Dokumente auf einem
Nutzerkonto speichern zu können.
Ich will Ihnen die wichtigsten Regelungen kurz vorstellen:
Erstens. Vor der Kontoeröffnung muss der Provider,
also der Dienstleister, der De-Mail anbietet, die Identität der Nutzer zweifelsfrei feststellen. Er muss auch fortlaufend für die Richtigkeit dieser Angaben sorgen.
Zweites. Der Provider muss für eine sichere Anmeldung und für eine verschlüsselte Verbindung zwischen
dem Nutzer und dessen Konto sorgen.
Drittens. Der Provider muss eine rechtssichere Zustellung, die der Prozessordnung und der Verwaltungszustellungsgesetze genügen, gewährleisten. Darüber hinaus muss der Provider auf Anfrage den Eingang einer
Nachricht in das Postfach des Empfängers und ihre Abholung bestätigen.
Viertens. Wenn der Nutzer das wünscht, kann der Provider ihm auch eine Dokumentenablage zur Verfügung
stellen.
Fünftens. Um als De-Mail-Provider zertifiziert zu
werden, müssen Voraussetzungen gegeben sein, wie die
Erfüllung der datenschutzrechtlichen, technischen und
organisatorischen Anforderungen sowie eine ausreichende Deckungsvorsorge im Schadensfall. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik wird
die Zertifizierung durchführen und die Einhaltung der
Kriterien überwachen.
Der Bürger kann sich sicher sein, mit wem er kommuniziert, da dessen Identität vorher festgestellt worden ist.
Darüber hinaus bieten das De-Mail-Gesetz in Verbindung mit dem Signaturgesetz eine sichere Ende-zuEnde-Verschlüsselung und damit eine vertrauliche Kommunikation. Behörden können wie bei der PostzustelZu Protokoll gegebene Reden
lungsurkunde nachweisen, wann ein Dokument zugegangen ist und auf diese Weise Fristen genau berechnen.
Nicht zu vernachlässigen sind die Einsparungspotenziale für alle Beteiligten. Damit meine ich nicht nur Zeit
und Aufwand für Bearbeitung und den Gang zum Briefkasten für den Bürger, sondern auch ganz konkrete Summen: Das Bundesinnenministerium rechnet mit Einsparungen in den ersten fünf Jahren nach der Einführung
von De-Mail von bis zu 40 Millionen Euro jährlich.
Aus liberaler Sicht ist das De-Mail-Gesetz ein Schritt
in die richtige Richtung: mehr Vertraulichkeit, mehr Datenschutz und Unabhängigkeit von aufwändiger Bürokratie. Dabei regulieren wir aber nur das, was wirklich
regulierungswürdig ist, um dem Markt die Ausgestaltung des Angebots zu überlassen. Darüber hinaus trägt
De-Mail zu Einsparungen auf kommunaler, Länder- und
Bundesverwaltungsebene bei - auch ein von uns gesetztes Ziel.
Dennoch werden wir an vorliegendem Entwurf der
Bundesregierung noch etwas arbeiten: Zum einen setzen
wir Liberale uns für wirtschaftlichen Wettbewerb ein
und achten insbesondere auf die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Die Hürden für eine Zertifizierung sollen zwar sicherheitstechnisch hoch sein, dennoch müssen sie auch für kleine Unternehmen mit
geringerem Investitionsvolumen zu nehmen sein. Zum
anderen darf die staatliche Zertifizierung nicht den
freien Markt, den freien Wettbewerb behindern oder gar
verzerren. Vielmehr soll die Zertifizierung den Nutzern
Sicherheit geben sowie den rechtlichen Rahmen zur
freien Ausgestaltung des De-Mail-Dienstes durch die
Provider setzen.
Auf unser Betreiben hin wird nun auch Licht ins Dickicht der Einzelfallregelungen der Schriftformerfordernis gebracht. Niemand kann bisher sicher sein, ob und
wann er ein Schriftstück tatsächlich unterschreiben und
als Papierpost versenden muss. Deshalb haben wir uns
im Zuge des De-Mail-Gesetzes dafür eingesetzt, hierüber Klarheit zu schaffen. Unser Ziel ist Transparenz
und eine Kommunikation aller Beteiligten auf Augenhöhe, sodass der überwiegende Teil des Briefverkehrs
durch De-Mail elektronisch abgedeckt werden kann ohne analoges Ausdrucken, Unterschreiben und anschließendes In-den-Briefkasten-Werfen. Insgesamt haben wir aus der Perspektive des Verbraucherschutzes
streng darauf geachtet, dass der Bürger und Nutzer von
De-Mail keine rechtlichen Nachteile gegenüber dem
herkömmlichen System der Papierpost hat. Wir wollen
weg von der Generation Aktenordner hin zur freien digitalen Gesellschaft.
Wir beschäftigen uns heute mit einem Gesetz, dessen
Nutzen für Bürgerinnen und Bürger zweifelhaft ist, obwohl es unter dem Label der Sicherheit im E-Mail-Verkehr verkauft wird. Der Gesetzentwurf zur Regelung von
De-Mail-Diensten geht an den Ansprüchen der realen
wie der virtuellen Welt vorbei und ist nicht nur überflüssig, sondern auch bürgerrechtlich bedenklich.
Schauen wir uns einmal an, was im Antragstext als
Ziel des Gesetzes angegeben ist. Es soll die Vorteile der
E-Mail mit Sicherheit und Datenschutz verbinden und
dafür sorgen, „die Funktionsfähigkeit und Akzeptanz
der elektronischen Kommunikation trotz steigender Internetkriminalität und wachsender Datenschutzprobleme zu erhalten und auszubauen“. Ich möchte gerne
einmal wissen, wer in diesem Raum hier davon ausgeht,
dass die elektronische Kommunikation derart gefährdet
sei, dass man sie erhalten müsse. Es müsste mir jemand
einmal erklären, ob es einen Grund gibt, Yahoo, Facebook, Google und Co. nun praktisch in eine Rote Liste
aufzunehmen. Das Internet und die Kommunikationsmöglichkeiten, die es bietet, erfreuen sich im Gegenteil
einer stetig steigenden Beliebtheit, und das ist wohl der
eigentliche Grund für diesen Gesetzentwurf: Der Staat
und die Wirtschaft haben ein Interesse daran, offizielle
Vorgänge, seien es behördliche oder wirtschaftliche,
über das Internet abzuwickeln und dadurch Kosten zu
sparen, Profite zu maximieren und Kontrollmechanismen auszubauen.
Auch eine sichere Identifizierung der Kommunikationspartner ist ein Ziel des Gesetzentwurfes. Diese Zielsetzung geht meines Erachtens an der Realität im Internet völlig vorbei. Im Internet funktioniert die
Kommunikation per E-Mail, ebenso der Austausch in
Foren und in sozialen Netzwerken bislang auch ohne
eine solche sichere Identifikation. Das ist den Nutzerinnen und Nutzern nicht nur bekannt, gerade die durch die
Verwendung von Synonymen mögliche Wahrung der eigenen Privatsphäre ist ein wesentliches Qualitätsmerkmal für die Kommunikation im Netz. Bei geschäftlichen
Vorgängen haben Nutzerinnen und Nutzer die Möglichkeit, unabhängig von in E-Mail-Adressen verwendeten
Synonymen ihre Klarnamen und Adressen anzugeben
und ihre wahre Identität nur denjenigen mitzuteilen, die
sie benötigen. Die Umsätze der bekannten Onlineshoppingportale zeigen, dass dieses Prinzip funktioniert.
In der eingangs zitierten Zielsetzung werden die zunehmende Internetkriminalität und Datenschutzprobleme benannt. Auch darauf möchte ich eingehen. Natürlich steigt mit der Nutzung eines Mediums wie des
Internets auch die missbräuchliche Nutzung. Wie bei jeder schnellen gesellschaftlichen oder technischen Entwicklung hinkt der Staat mit seinen Kontrollmechanismen nicht nur hinterher, es ist noch absurder: Der Staat
selbst fördert mit seinen nicht ausgereiften Großprojekten
den Markt für unsichere Techniken, wie zum Beispiel
beim elektronischen Personalausweis. Gut eine Woche
auf dem Markt, ist die „AusweisApp“, das Programm, mit
dessen Hilfe sich Nutzerinnen und Nutzer des E-Perso im
Netz identifizieren sollen, schon manipuliert worden.
Genau genommen hat es sogar weniger als 24 Stunden
gedauert, um die laut Bundesinnenminister de Maizière
angeblich sicherste elektronische Identitätskarte, die es
auf dem Markt gibt, zu überwinden. Das bezieht sich auf
ein Projekt, das ebenfalls ausdrücklich der Sicherheit im
Netz dienen sollte und nunmehr einem Feldversuch unter
Realbedingungen gleicht. Genauso wie beim E-Perso
droht bei der De-Mail der Identitätsdiebstahl, wenn Nutzerinnen und Nutzer keine sichere Rechnerumgebung
Zu Protokoll gegebene Reden
herstellen können oder ihr Passwort nicht genügend
sichern. Ein unsicheres Medium ist die herkömmliche
E-Mail auch, kann man jetzt einwenden. Das Problem
bei De-Mail ist nun aber, dass damit für die Bürgerinnen
und Bürger rechtsverbindliche Verträge abgeschlossen
werden können und sie bei missbräuchlicher Nutzung ihres Accounts beweisen müssen, dass sie es nicht waren.
Die Schadenshaftung wird komplett auf den Nutzer abgewälzt.
Auch zum Datenschutz trägt De-Mail nicht viel bei.
Im Gegensatz zum Verfahren mit elektronischer Signatur
verlangt der Gesetzentwurf keine Verschlüsselung von
Absender bis zum Empfänger. De-Mail gleicht daher, so
hat es der IT-Experte der Bundesrechtsanwaltskammer,
Thomas Lapp, ausgedrückt, einem Brief, der bis zu zweimal unterwegs geöffnet und in ein neues Kuvert gesteckt
wird. Dass das Bundesinnenministerium darauf verweist, dass die Anbieter, die dies machen, überprüft würden, ist angesichts der selbstgenerierten Sicherheitslücken beim E-Perso ein schwacher Trost und kann nicht
darüber hinwegtäuschen, dass zum Beispiel das Bankgeheimnis im De-Mail-Verkehr nicht gewahrt bleibt. Die
technisch bedingte Ver- und Entschlüsselung der DeMails beim Provider ist aus datenschutzrechtlicher Sicht
fragwürdig und mit dem Signaturgesetz nicht in Einklang zu bringen. Darauf wird von Experten seit Monaten hingewiesen, und genauso lange ignoriert die Bundesregierung diese Einwände.
So viel zu den nicht erfüllbaren Verheißungen, die die
Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf macht. Was sie
hingegen alles nicht macht, habe ich gerade schon beschrieben, und da kommt ein wichtiger Punkt hinzu: Sie
schreibt Anbietern im Internet, die De-Mails akzeptieren, nicht vor, auch herkömmliche Mails im Geschäftsverkehr zuzulassen. Die offiziell verkündete Freiwilligkeit der Verwendung von De-Mail ist dann hinfällig,
wenn es Nachteile mit sich bringt, sie nicht zu nutzen,
beispielsweise beim Abschluss von günstigeren Onlinetarifen. Wenn aus dem Extra ein Standard wird, wovon
die Berechnungen der Bundesregierung im Antrag ja
ausgehen, bedeutet dies nicht nur eine einseitige Belastung von Bürgerinnen und Bürgern, sondern eine Kommerzialisierung der Kommunikation im Netz.
Damit kommen wir zu den Kosten und Nutzen des
Projekts. Die Bundesregierung verspricht sich von der
Einführung der De-Mail Einsparungen für Wirtschaft,
Verwaltung und Verbraucher in Millionenhöhe, ohne sagen zu können, wie hoch die Kosten für die Anpassung
von Verfahren sind. Auch wie viel eine De-Mail kosten
wird, kann sie nicht beziffern. Sie traut sich aber immerhin, in einer beispiellosen Konkretheit zu sagen, es wäre
„nicht auszuschließen, dass der Preis pro De-MailNachricht unter den heute üblichen Portokosten liegt“.
Wenn man sich also über die Kosten gar nicht so sicher
ist, so klingt das für mich jedenfalls, sollte man sich wenigstens beim Nutzen sicher sein. Der liegt allerdings
komplett auf der Seite von Anbietern und Behörden.
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf soll es ermöglicht werden, zum Beispiel Rechnungen, behördliche
Schreiben oder amtliche Bescheide rechtsverbindlich
per Mail zuzustellen. Mit dem Zeitpunkt des nachgewiesenen Empfangs beginnt also die Frist zur Bezahlung einer Rechnung oder die Frist, gegen einen Bescheid Einspruch einzulegen, allerdings ohne dass die
Empfängerin oder der Empfänger überhaupt von der
Mail Kenntnis genommen haben muss. Bei den Massen
an E-Mails, die einen am Tag erreichen, kann es im
schlimmsten Fall sein, dass man seinen Posteingang
aufräumt und vor der Haustür schon die Abrissbagger
stehen. Der Deutsche Notarverein kritisiert zu Recht,
dass das angestrebte De-Mail-Verfahren das Risiko
birgt, dass der Rechtsschutz von Bürgerinnen und Bürgern gegen die Wirtschaft und die Verwaltung beschnitten wird.
Die Bundesregierung bewirbt die De-Mail als komfortable Alternative zum Brief. Komfortabel wird es allerdings auch für die Sicherheitsbehörden: Nach § 113
des Telekommunikationsgesetzes können sie sich bei Anbietern nun auch persönliche Daten aus offiziellem Geschäftsverkehr, der Bankkommunikation oder aus behördlichen Schreiben einsehen, also Daten, die sie sonst
nur in einer Hausdurchsuchung nach richterlichem Beschluss gewinnen können. Der hier vorliegende Gesetzentwurf schafft dadurch ganz neue Möglichkeiten für
Geheimdienste und Sicherheitsbehörden, wieder einmal
mit den Stimmen der FDP. Das sollte uns oder die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr wundern.
Die schwarz-gelbe Koalition macht dort weiter, wo
die letzte aufgehört hat. Identitätssicherung heißt auch
bei ihr eine umfassende Personalisierung, Registrierung
und Kontrolle. Sie unterstellt mit ihrem Gesetzentwurf,
dass nicht identifizierbare Internetuser pauschal etwas
auf dem Kerbholz haben, weil sie ihre Identität im Netz
nicht preisgeben und ihre Privatsphäre schützen wollen.
Die Linke versteht unter Identitätssicherung auch die
Sicherung individueller Freiheit, Freizügigkeit und Privatsphäre bei gleichzeitigem Schutz vor Identitätsdiebstahl und Datensammlungen, ob vonseiten der Wirtschaft oder des Staates.
Wir sollen hier ein Gesetz beschließen, das Bürgerinnen und Bürgern nicht nur nichts bringt, sondern sie
auch massiv in ihren Rechten beschneidet. Das ist mit
der Linken nicht zu machen; deshalb lehnen wir den Gesetzentwurf ab.
Bei dem uns vorliegenden Entwurf eines De-MailDienste-Gesetzes handelt es sich um eine in entscheidenden Teilen unveränderte Neuauflage des in der vergangenen Legislaturperiode dem Diskontinuitätsprinzip
zum Opfer gefallenen Bürgerportalgesetzes. Schon damals hagelte es Kritik von allen Seiten. Nicht anders ist
es jetzt dem De-Mail-Gesetz ergangen, auf dessen Mängel unter anderem die Verbraucherzentrale Bundesverband, der Deutsche Anwaltverein und der AK Vorrat
aufmerksam gemacht haben. Ich möchte Ihnen im Folgenden erläutern, warum es kein Zufall sein dürfte,
warum der zunächst ja vielversprechende, weil die Bürgerinnnen und Bürger als mögliche Nutznießer einbezieZu Protokoll gegebene Reden
hende Begriff Bürgerportalgesetz ebenfalls die letzte
Wahlperiode nicht überlebt hat. Denn es dürfte mittlerweile zu deutlich geworden sein, dass der erwartete
Mehrwert von De-Mail gerade nicht bei den Bürgerinnen und Bürgern liegen wird.
Vorweg möchte ich betonen, dass wir Grüne das gesetzgeberische Ziel der Ermöglichung sicherer, vertrauenswürdiger und rechtssicherer E-Mail-Kommunikation
ausdrücklich unterstützen. Es liegt nahe, die durch die
enorme gesellschaftliche Verbreitung der E-Mail-Kommunikation sich bietenden Potenziale nutzen zu wollen,
und es liegt auf der Hand, dass es sich hierbei in erster
Linie um Rationalisierungspotenziale, sei es für die
Wirtschaft, für die Verwaltung, aber potenziell auch für
die Verbraucherinnen und Verbraucher, handelt. Diese
können jedoch nur Wirkung entfalten, wenn die typischen Merkmale heutigen E-Mail-Verkehrs, insbesondere die Unsicherheit über den tatsächlichen Kommunikationspartner und die Möglichkeit des Mitlesens der
E-Mail-Inhalte während des Transports durch das Internet, tatsächlich beseitigt werden. Erst damit wird der gegenseitige elektronische Geschäftsverkehr per E-Mail
abgesichert. Zwar ist es zutreffend, dass bereits einzelne
Insellösungen geschaffen wurden, insbesondere im Bereich innerbetrieblicher Kommunikation, um dieses Ziel
zu erreichen. Es ist ebenfalls zutreffend, dass einzelne
Anbieter vom Ansatz her Dienste anbieten, die bereits in
die Richtung von De-Mail laufen. Ebenso zutreffend
aber ist es, dass für diese Angebote bislang keine größere Akzeptanz entstanden ist. Dies könnte sich dann ändern, wenn die großen bundesdeutschen Webmail-Anbieter, wie von der Bundesregierung erhofft, mit ihrer
Marktmacht die Nutzung zertifizierter De-Mail-Dienste
zum Standard werden lassen. Zwar verfügt die Deutsche
Post AG mit ihrem sogenannten E-Postbrief seit Mitte
dieses Jahres über ein auf dem Markt bereits verfügbares Angebot, welches aus Sicht des Unternehmens alle
zentralen Anforderungen des De-Mail-Projektes bereits
erfüllt. Nahezu 1 Million Kunden soll davon bereits Gebrauch machen. Gleichwohl ist derzeit noch ungewiss,
ob der mit diesem Projekt beabsichtigte Sprung ins
21. Jahrhundert tatsächlich gelingen wird.
Die Akzeptanz von De-Mail-Diensten ist nicht allein
durch schiere Marktabdeckung zu erreichen. Entscheidend wird vielmehr sein, ob die Angebote das Vertrauen
der Bürgerinnen und Bürger gewinnen. Vertrauen basiert auf klaren Anzeichen dafür, dass ein sicheres und
für alle Seiten faires und verlässliches Angebot geschaffen wird. Wir Grüne sind allerdings der Auffassung, dass
das Projekt De-Mail den Bürgerinnen und Bürgern in
seiner gegenwärtigen Fassung diesen „fairen Deal“
verweigert und unter seinen Möglichkeiten bleibt.
Ich möchte jedoch zunächst nicht zögern, zu betonen,
dass mit De-Mail erhebliche Verbesserungen gegenüber
dem Bürgerportalgesetz der letzten Wahlperiode erreicht werden. Die verbesserte Sicherheit der Anmeldungsmodalitäten, die Klarstellung des Inhaltes der
Vertraulichkeitsverpflichtung für alle zertifizierten Anbieter, die Verschlüsselungsmöglichkeit der Dokumentenablage, die erweiterten Transparenzpflichten und auch
die weitgehende Fassung der Vorgaben in einem Gesetz
anstelle einer Verordnung verdienen Anerkennung.
Im Kern aber werden besonders kritikwürdige Grundentscheidungen beibehalten:
Erstens. De-Mail schafft eine Kommunikationsinfrastruktur, die zwar die Möglichkeit der Vertraulichkeit
der Kommunikation nach höchsten Standards offenhält,
aber nicht selbst voranbringt und gewährleistet. DeMail zielt zwar auf ein Mehr an Sicherheit, verweigert
diese aber an entscheidender Stelle, indem es die Endezu-Ende-Verschlüsselung der Kommunikation zwischen
Sender und Empfänger nicht von Grund auf, gemäß den
Datenschutzprinzipien eines Privacy by Design, umsetzt. Denn die ermöglichenden Webmail-Anbieter erhalten auf ihren Servern den vollen Zugriff auf E-MailInhalte, um Schadprogramme herauszufiltern. Sie sind
dafür im Besitz der Schlüssel. Während dieses Zeitraums
sind die Inhalte potenziell dem Risiko des Zugriffs durch
unberechtigte Dritte ausgesetzt. Dieses Risiko ist trotz
BSI-Zertifizierung der Rechenzentren - man hat ja gerade beim E-Perso und der AusweisApp gesehen, dass
auch diese nicht immer hilft - unserer Auffassung nach
nicht hinnehmbar. Angesichts der Tatsache, dass mit DeMail ja gerade auch so sensible Vorgänge wie Behördenkommunikationen oder der Austausch mit Krankenversicherungen zukünftig online stattfinden sollen, muss
man aber das Maximum an Datenschutz zum Standard
machen. Wir würden es auch nicht hinnehmen - und das
wäre auch rechtswidrig -, wenn ein postalischer Brief und sei es aus technischen Gründen - auf der Hälfte des
Weges geöffnet würde.
Zweitens. De-Mail verschiebt das bestehende verwaltungsverfahrensrechtliche und prozessuale Gleichgewicht zwischen Bürgern und öffentlichen Stellen respektive Unternehmen einseitig zulasten der Bürgerinnen
und Bürger. Wer sich auf De-Mail einlässt, dem muss
klar sein, dass die Zeit des gelegentlichen Umgangs mit
dem Medium E-Mail endgültig vorbei ist. Denn die vorgesehenen gesetzlichen Veränderungen zwingen ihn
dazu, sich regelmäßig, beinahe täglich, in seinem DeMail-Postfach anzumelden und auch die technische
Infrastruktur stets funktionsfähig zu halten, um nicht
etwa Gefahr zu laufen, unanfechtbaren gerichtlichen
oder behördlichen Entscheidungen ausgesetzt zu sein.
Das Argument, die Teilnahme an dem Verfahren sei freiwillig, läuft ins Leere: Wer als Bürgerin oder Bürger von
De-Mail profitieren will, darf keine Nachteile gegenüber
der bisherigen Post haben. Anders als beim heimischen
Briefkasten und der heimischen Wohnung ist die Leerung
des Briefkastens aber bei De-Mail nicht delegierbar,
weil der Zugang höchstpersönlich ausgestaltet ist. Im
Urlaub bleibt man damit praktisch gezwungen, regelmäßig nachzuschauen, ob relevante Nachrichten eingegangen sind. Erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, dass die
FDP-Fraktion in der Person von Frau Piltz ebenfalls
genau auf diesen Punkt bei der ersten Lesung des Bürgerportalgesetzes am 23. April 2009 hingewiesen hat,
während sie uns heute gemeinsam mit ihren Kollegen
der CDU/CSU-Fraktion dieses Gesetz schmackhaft machen will. So schnell ändern sich die Zeiten, Frau Piltz,
nicht wahr? Aber es kommt noch schlimmer: Sie sagten
Zu Protokoll gegebene Reden
damals wörtlich: „Mit De-Mail schafft sich der Staat im
Übrigen ein neues Anwendungsfeld für den E-Personalausweis. Da dieser Voraussetzung zur Nutzung von DeMail sein wird, wird die Freiwilligkeit der Funktionen,
die nur in Verbindung mit der Speicherung biometrischer Daten vorhanden ist, zur Farce.“ Das ist ja nun
nicht ganz zutreffend, weil es auch andere Möglichkeiten
der Registrierung geben wird. Gleichwohl entbehrt es
nicht einiger Ironie, dass ausgerechnet Sie, liebe Frau
Piltz, als ausgewiesene Kritikerin des Pannen-App-Personalausweises, sich nun in tragender Rolle zu dessen
Durchsetzung wiederfinden.
Hat man sich einmal für De-Mail entschieden, gibt es
kein Wahlrecht mehr, das es in die Hände der Nutzerinnen und Nutzer legen würde, ob sie De-Mail als Mittel
für öffentliche Zustellungen zulassen wollen oder eben
nicht. Die Zustellungsfiktion des im Gesetzentwurf
modifizierten Verwaltungszustellungsgesetzes greift somit unabhängig von Sonn- und Feiertagen drei Tage,
nachdem der Behördenserver die Nachricht verschickt
hat. Für die Betroffenen bedeutet das unter dem Strich
eine Verkürzung der ihnen eingeräumten Reaktionszeit
und das Problem, eine elektronische Nichtzustellung selbst
nachweisen zu müssen. Wie schwierig das für Nichtsystemadministratoren sein dürfte, können wir uns alle hier
lebhaft vorstellen.
Drittens. Eine Prognose der voraussichtlichen konkreten Kosten für die Nutzung der einzelnen Angebote
von De-Mail wagt auch die Bundesregierung bislang
nicht - wahrscheinlich aus gutem Grund. Im Gegenteil:
Sie sieht sich gezwungen, diesen Punkt offenzulassen,
weil De-Mail grundsätzlich eben über private Betreiber
angeboten werden soll und wiederum deren Bereitschaft
zum Angebot von De-Mail-akkreditierten Diensten nicht
gestört werden soll. Der Preis aber ist höchst verbraucherrelevant. Die Akzeptanz durch die Nutzerinnen und
Nutzer dürfte ganz wesentlich davon abhängen, welche
Kosten diese für die Inanspruchnahme eines Mediums
zu erwarten haben werden, das ihnen bislang als mehr
oder weniger kostenlos vorgekommen sein dürfte.
Nach alledem ist das vorgelegte De-Mail-Konzept
nach wie vor unzureichend und muss in dieser Form, sofern es nicht von Ihnen weiterentwickelt wird, von uns
leider abgelehnt werden.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3630 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind
damit einverstanden, wie ich sehe. Dann ist auch diese
Überweisung beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Becker, Ulrich Kelber, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Biomethan im Verkehrssektor fördern
- Drucksache 17/3651 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Die Stromversorgung in Deutschland beruht auf einer
breiten Mischung von Energieträgern. Vor allem Kohle
und Kernenergie sichern die Versorgungssicherheit.
Auch Kohle und Kernkraft werden noch eine Weile zum
Strommix gehören, aber insgesamt wird die Stromversorgung drastisch umgebaut. Der Anteil der erneuerbaren Energien macht derzeit etwa 16 Prozent vom Strommix aus und soll weiter steigen, bis er im Jahr 2050 etwa
80 Prozent erreicht. Energie aus Sonne, Wind, Biomasse
- da ist sich diese Bundesregierung einig - wird unsere
zukünftige Energieversorgung bestimmen.
Die Hoffnungsträgerin Nummer eins, die Windkraft,
trägt unter den alternativen Energien mit 6,3 Prozent
schon heute am meisten zur Stromerzeugung bei. Trotzdem hält sie bislang noch nicht, was sie verspricht. Bisher blieb die Leistung der Offshore-Windanlagen hinter
den Erwartungen zurück, wohingegen die Windräder an
Land mehr Strom lieferten als angenommen. Doch selbst
wenn die Technologie ausgereift sein wird, bleibt der
Wind unzuverlässig. Tendenziell weht er in Norddeutschland häufiger, obwohl die Ballungszentren im
Süden und Westen am meisten Strom verbrauchen. Praktikable Speicher für Windenergie existieren noch nicht,
ebensowenig die notwendige Netzinfrastruktur. Damit
ist sie momentan nicht grundlastfähig.
Den zweitgrößten Anteil unter den erneuerbaren
Energien hat derzeit die Biomasse mit 4,3 Prozent am
Stromverbrauch. Im Vergleich zur Windenergie hat Biomasse aber einen entscheidenden Vorteil. Sie ist bereits
gespeicherte Energie, die man nach Bedarf freisetzen
kann. Daher wird sie eine wichtige Rolle im Energiesystem übernehmen. Dem trägt auch das von Ihnen, meine
Damen und Herren von der Opposition, so geschmähte
Energiekonzept unserer Koalition Rechnung.
So fasse ich den Antrag der SPD zur Förderung von
Biomassekraftstoffen gewissermaßen als nachträglichen
Ritterschlag für unser Energiekonzept auf. Denn dort
heißt es: Die Bioenergie soll als bedeutender erneuerbarer Energieträger in allen drei Nutzungspfaden
„Wärme“, „Strom“ und „Kraftstoffe“ weiter ausgebaut
werden. Hierbei wird die Bundesregierung ihren bereits
eingeschlagenen Weg der nachhaltigen Nutzung von
Biomasse für eine umweltfreundliche und sichere Energieversorgung konsequent fortsetzen. Dabei sind folgende Elemente für eine nachhaltige Biomassenutzung
wesentlich: Erstens müssen die heimischen Bioenergiepotenziale unter Vermeidung von Nutzungskonkurrenzen
durch verstärkte Verwendung organischer Rest- und Abfallstoffe, landwirtschaftlicher Koppelprodukte, von
Landschaftspflegematerial und von Holz aus Kurzumtriebsplantagen ausgeschöpft werden.
Zweitens kann eine Steigerung der Energie- und Flächeneffizienz nur durch verbesserte Bewirtschaftungs7768
formen, eine stärkere Biomasseverwertung in KraftWärme-Kopplungsanlagen sowie durch Verbesserung
der steuerbaren Stromproduktion aus Biomasse gewährleistet werden. Dabei müssen auch die integrierten Biomassenutzungskonzepte weiterentwickelt werden. Drittens kann eine stärkere Nutzung von Biomethan nur
durch Schaffung weiterer Einspeisemöglichkeiten ins
Erdgasnetz gefördert werden.
Nichts anderes steht sinngemäß im Antrag der SPD.
Ich hege daher für Ihr Anliegen eine gewisse Sympathie.
Aber während Sie noch Forderungen aufstellen, sind wir
mit dem Energiekonzept bereits an die Umsetzung gegangen. Und falls Sie sich die Mühe machen wollen, einen Blick in den am 4. August dieses Jahres von der
Bundesregierung beschlossenen Nationalen Aktionsplan
für erneuerbare Energie zu werfen, so wäre Ihnen sicher
aufgefallen, dass dort bereits konkrete Maßnahmenpakete zur Förderung von Biomethan beschrieben werden.
So steht unter Punkt 4.2.8. „Einspeisung von Biogas
in das Gasnetz ({0})“, dass verbesserte Einspeisevoraussetzungen für auf Erdgasqualität aufbereitetes Biogas ({1}) in das Erdgasnetz mit der Verordnung zur Förderung der Biogaseinspeisung in das bestehende Netz am 8. April 2008 geschaffen worden sind. Es
wurden unter anderem Änderungen der Gasnetzzugangsverordnung, GasNZV, der Gasnetzentgeltverordnung, GasNEV, und der Anreizregulierungsverordnung,
ARegV, vorgenommen. Weiterhin wurde das Energiewirtschaftsgesetz, EnWG, entsprechend angepasst. Das
Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG, das Bundes-Immissionsschutzgesetz, BImSchG, und das ErneuerbareEnergien-Wärmegesetz, EEWärmeG, sind bereits gute
Anreize, um die Nachfrage nach Biomethan zu stärken.
Daraus ergibt sich folgendes Gesamtbild: keine Benachteiligung für Biomethan ({2}), sondern Vorzugsrechte, vorrangiger Gasnetzzugang von Biomethan, wenn technisch und wirtschaftlich
zumutbar, Gasnetzanschlusspflicht des Gasnetzbetreibers, wenn technisch und wirtschaftlich zumutbar, und
ein Biogasbilanzausgleich von 12 Monaten mit 25 Prozent Flexibilitätsrahmen. Dies stellt eine weitere Vereinfachung des Transportes von aufbereitetem Biogas im
Erdgasnetz dar.
Sollten sich Probleme bei der praktischen Implementierung ergeben, werden diese durch die zuständigen
Ministerien geprüft und mit entsprechenden Forschungsvorhaben begleitet. Am 19. Mai 2010 hat das
Bundeskabinett den vom BMWi vorgelegten Entwurf zur
Neufassung der Gasnetzzugangsverordnung vorgelegt.
Dieser Entwurf enthält Änderungsvorschläge betreffend
den Rechtsrahmen für die Biogaseinspeisung, mit denen
die Voraussetzungen für die Einspeisung von Biogas
verbessert und weiterentwickelt werden. Der Bundesrat
hat diesem Entwurf der Bundesregierung am 9. Juli
2010 zugestimmt.
Ich bin der Meinung, dass man den getroffenen Maßnahmen auch ein wenig Zeit lassen muss, um zu sehen,
ob und wie sie sich in de Praxis bewähren. Dies gilt vor
allem vor dem Hintergrund des für das nächste Jahr
vorzulegenden Erfahrungsberichts zum ErneuerbareEnergien-Wärmegesetz. Dessen Ergebnisse werden uns
sicher einen sichereren Standpunkt für das weitere Vorgehen liefern können.
Zur Frage von Biomethan als Kraftstoff: Mit der Biokraftstoff-Nachhaltigkeitsverordnung ({3})
wurden bereits Regelungen für eine nachhaltige Erzeugung der zur Biogaserzeugung eingesetzten Biomasse
geschaffen, die ab dem 1. Januar 2011 für die Verwendung von Biogas als Kraftstoff verpflichtend einzuhalten
sind und für deren Umsetzung bereits zwei Zertifizierungssysteme und zwölf Zertifizierungsstellen vorläufig
anerkannt wurden. Die mittlerweile auf nationaler und
internationaler Ebene formulierten Ansätze zum Einsatz
von Erdgas und Biomethan als Kraftstoff unterstreichen,
dass diese Technologie zur Erreichung der Klimaschutzziele auch langfristig relevant ist.
Als besonders schwierig erweist sich dabei aber die
große Anzahl unterschiedlicher Akteursgruppen. Hersteller und Händler von Fahrzeugen, Forschungsinstitute, Gaswirtschaft ({4}),
Mineralölwirtschaft mit ihrem Tankstellennetz und letztlich die Endkunden mit stark differenzierten Mobilitätsbedürfnissen machen die Implementierung von Biogas
im Verkehrssektor so schwierig. Nicht umsonst sind die
Ergebnisse der letzten Jahre nicht so, wie wir uns das
vorgestellt haben.
Von allen in Deutschland im Straßenverkehr zugelassenen 50 Millionen Fahrzeugen werden aktuell circa
85 000 mit Erdgas betrieben. Der Absatz von Erdgas als
Kraftstoff betrug im Jahr 2009 etwa 1,7 Milliarden Kilowattstunden. Das entspricht einem Anteil von Erdgas am
Gesamtkraftstoffverbrauch von 0,3 Prozent. Zur
Abdeckung von 1 Prozent, wie ihn die Kraftstoffverwendungsmatrix für 2010 anstrebt, ist der Absatz von circa
540 000 Tonnen bzw. 7 Milliarden Kilowattstunden Erdgas an den Tankstellen erforderlich. Für 4 Prozent in
2020 sind etwa 2,2 Millionen Tonnen bzw. 28 Milliarden
Kilowattstunden nötig. Ausgehend vom bestehenden
Fahrzeugmix müsste der Fahrzeugbestand zur Erreichung des 4-Prozent-Zieles in 2020 auf rund 1,4 Millionen Fahrzeuge anwachsen, auf damit etwa 2,6 Prozent
des derzeitigen Fahrzeugbestands. Das wären etwa
1,1 Millionen Pkw, 250 000 leichte und circa 30 000
schwere Nutzfahrzeuge. Jährlich müssten dafür circa
29 Prozent des jeweiligen Vorjahresbestands der Erdgasneufahrzeuge neu zugelassen werden - fast eine Verdreifachung der Wachstumsrate gegenüber 2009. Das
macht deutlich, vor welcher Herausforderung wir stehen. So sehr ich das Interesse der SPD an diesem Thema
schätze, so sehr ist der Antrag bereits in seinem Ansatz
überflüssig. Er beschreibt ein Problem, welches die
Bundesregierung längst erkannt und zu lösen begonnen
hat.
Ich lade Sie aber gerne ein, mit uns in den nächsten
Jahren an konstruktiven Lösungen zu arbeiten.
Mit dem vorliegenden Antrag der SPD beschäftigt
sich dieses Haus erstmals mit einem Thema, an dem kein
Zu Protokoll gegebene Reden
Weg vorbei führt, wenn man sich mit der Frage beschäftigt, wie der Individual- und Güterverkehr klimaschonender gestaltet werden kann. Fahrzeuge mit einem
Gasantrieb und einem hohen Anteil an Biomethan weisen nicht nur hohe CO2-Einsparpotenziale auf, sie
schlagen auch die bislang zur Verfügung stehenden flüssigen biogenen Kraftstoffe wie Bioethanol oder Biodiesel um Längen. Dies gilt sowohl für das CO2-Reduktionspotenzial als auch für den Energieertrag. Wenn
also Biomethan verstärkt im Verkehrssektor eingesetzt
wird, leistet dies einen Beitrag zur Verringerung des
CO2-Ausstoßes. Gleichzeitig nutzen wir das wertvolle
Gut Biomasse, aus dem Biomethan, das heißt auf Erdgasqualität aufbereitetes Biogas, hergestellt wird, auf
hocheffiziente Art und Weise. Wie die Fachagentur
Nachwachsende Rohstoffe e. V. jüngst berechnet hat,
legt bei einem Einsatz von einem Hektar Ackerland ein
mit Bioethanol betriebener Pkw rund 22 000 Kilometern
zurück, wohingegen ein vergleichbarer, vollständig mit
Biomethan betankter Pkw auf eine Reichweite von rund
68 000 Kilometern kommt. Die wertvollen Ackerflächen
werden also geschont, wenn wir statt flüssiger Kraftstoffe vermehrt Biomethan verwenden. Zieht man darüber hinaus vermehrt Reststoffe und Koppelprodukte in
Kaskadennutzung zur Produktion von Biomethan heran,
können die Landnutzungskonflikte noch weiter entschärft werden.
Ein weiterer großer Vorteil liegt in der ausgereiften
und marktfähigen Technik gasbetriebener Fahrzeuge.
Diese Autos gibt es schon seit Jahren im Handel. Sie
sind zwar bislang noch etwas teurer als solche mit herkömmlichem Otto- oder Dieselmotor, aber die Anschaffungskosten amortisieren sich durch die geringeren
Tankkosten bereits nach wenigen Jahre, wobei die
Amortisationsdauer von der Fahrleistung pro Jahr abhängt.
Ein Umstieg auf Fahrzeuge mit Biomethanantrieb ist
kurzfristig möglich und kann zum Klimaschutz beitragen. Diese Einsicht ist nicht neu - schon in dem von der
letzten Bundesregierung beschlossenen Integrierten
Energie- und Klimaprogramm, IEKP, wurde festgelegt,
dass man mit dem Ziel, den Treibhausgasausstoß zu reduzieren, unter anderem den Anteil von Biomethan im
Erdgasnetz erhöhen muss. In der Gasnetzzugangsverordnung wurden daher Einspeiseziele festgeschrieben.
So sollten jährlich bis zum Jahr 2020 6 Milliarden Kubikmeter und 10 Milliarden Kubikmeter jährlich bis
2030 an Biomethan in das Erdgasnetz eingespeist werden. Bislang liegen die tatsächlichen Einspeisemengen
weit hinter den formulierten Zielen zurück: Ende 2009
fuhren nur rund 85 000 der insgesamt rund 50 Millionen
Fahrzeuge mit Erdgas und beigemischtem Biomethan.
Der Anteil des Erdgas-Biomethan-Mix am Kraftstoffverbrauch liegt bei lediglich circa 0,3 Prozent. Theoretisch
könnten sämtliche Erdgasfahrzeuge bis 2020 mit reinem
Biomethan betrieben werden, bislang geht die Beimischung von Biomethan an Erdgastankstellen jedoch nur
schleppend voran. Es gilt daher, Maßnahmen zu ergreifen, um die Nachfrage nach Biomethan zu erhöhen.
Trotz der vielen Vorteile von Fahrzeugen, die mit einem Biomethan-Erdgas-Mix betrieben werden, ergreift
die Bundesregierung bislang keinerlei Maßnahmen, um
Anreize für Automobilhersteller zu setzen, Gasfahrzeuge
verstärkt zu vermarkten beziehungsweise Bürgerinnen
und Bürger zu einem Umstieg auf ein mit Biomethan betriebenes Fahrzeug zu bewegen, um so die Einspeisemenge von Biomethan zu erhöhen. Stattdessen setzen
Merkel, Ramsauer, Röttgen und Co. auf Elektromobilität, ohne dass die Technik ausgereift oder die Infrastruktur vorhanden wäre. Elektromobilität wird zukünftig mit
Sicherheit eine große Rolle spielen. Wichtig ist dabei,
dass Elektrofahrzeuge zu 100 Prozent mit Strom aus erneuerbaren Energien beladen werden, denn nur dann
leisten sie einen Beitrag für den Klimaschutz.
Wir können jedoch sofort etwas im Verkehrssektor für
das Klima tun. Die Bundesregierung muss, um Biomethan im Verkehrssektor zu fördern, endlich bestimmte
Maßnahmen ergreifen und so Hindernisse eines Umstiegs auf Gasfahrzeuge abbauen.
Bitte gestatten Sie mir, die Maßnahmen, die im vorliegenden Antrag beschrieben werden, kurz zu erläutern.
Eine der meines Erachtens wichtigsten Forderungen besteht in der Umstellung bzw. Harmonisierung der
Preisauszeichnung sämtlicher Kraftstoffarten auf Kilowattstunden. Momentan haben Verbraucher nicht die
Möglichkeit, den Preisvorteil von Erdgas bzw. Biomethan an Tankstellen zu erkennen, da die Kraftstoffarten
unterschiedlichen Bemessungsgrundlagen unterliegen,
nämlich Litern und Kilogramm. Auch im Hinblick auf
die flächendeckende Einführung von Elektrofahrzeugen
führt kein Weg daran vorbei, alle Kraftstoffarten an
Tankstellen mit derselben Messgröße, anhand des Energiegehalts, zu bepreisen. So können die Verbraucher die
Preise der unterschiedlichen Kraftstoffarten direkt miteinander vergleichen. Ich fordere die Bundesregierung
daher dazu auf, eine dementsprechende Novelle des
Eichgesetzes umzusetzen.
Zweitens entsteht, sollte die Bundesregierung nicht
frühzeitig gegensteuern, ab 2016 die widersinnige Situation, dass Biomethan mit dem vollen Energiesteuersatz
besteuert wird, wohingegen Erdgas bis 2018 von einem
erniedrigten Steuersatz profitiert. Biomethan beinahe
doppelt so hoch zu besteuern wie das klimaschädlichere
Erdgas, macht klimapolitisch keinen Sinn. Deshalb fordern wir die Bundesregierung dazu auf, Biomethan ab
2016 mit Erdgas steuerlich gleichzustellen und die
Steuerermäßigung bis 2020 zu verlängern. So wird den
höheren CO2-Reduktionspotenzialen von Biomethan
Rechnung getragen.
Außerdem wird derzeit das im Volksmund „Autogas“
genannte Flüssiggas de facto steuerlich besser gestellt
als Erdgas, obwohl Autogas eine schlechtere Gesamtbilanz aufweist. Deshalb muss die Bundesregierung drittens die zukünftige Besteuerung von Flüssiggas im Energiesteuergesetz überprüfen.
Beim Energielabelling von Fahrzeugen ist es des Weiteren aus Klimaschutzgründen absolut notwendig, dass
nicht nur die Abgase, sondern der Treibhausgasausstoß
während des gesamten Produktions- und Lebenszyklus
des Fahrzeugs sowie des eingesetzten Kraftstoffs mit
eingerechnet wird. Außerdem ist im BiokraftstoffquotenZu Protokoll gegebene Reden
gesetz festgelegt, dass Biomethan zur Erreichung der
Beimischungsquote angerechnet werden kann. Da Biomethan eine bessere Klimabilanz aufweist als andere
Biokraftstoffe, fordern wir die Bundesregierung fünftens
dazu auf, den Anrechnungsfaktor von Biomethan zur Erreichung der Quote zu verdoppeln, um so dazu anzuregen, vermehrt Biomethan hinzuzukaufen und so die Beimischungsquote an Erdgastankstellen zu erhöhen.
Sechstens muss die Bundesregierung die ertragsteuerliche Berücksichtigung der Fahrzeugnutzung überdenken. Die Besteuerung des privaten Nutzungsanteils
von Dienstwagen und der Betriebsausgabenabzug von
Firmenwagen sind stärker an ökologischen Gesichtspunkten auszurichten.
Darüber hinaus muss die Bundesregierung siebtens
den spezifischen Belangen von Kraftstoffen wie Biomethan mit besonders hohem Treibhausgasminderungspotenzial in der deutschen Umsetzung der EU-Richtlinie
2009/33/EG für die Beschaffung von sauberen Fahrzeugen Rechnung tragen. So könnte zum Beispiel bei der
Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht festgelegt werden, dass die Gesamtbilanz von Biokraftstoffen,
und nicht etwa lediglich der Ausstoß am Fahrzeug, zur
Anrechnung herhalten muss.
Ein wesentlicher Grund dafür, dass der Absatz von
gasbetriebenen Fahrzeugen in Deutschland so schleppend voran geht, liegt meiner Ansicht nach darin, dass
die Automobilhersteller gar keinen Anlass sehen, die klimaschonenden Fahrzeuge zu verkaufen. Warum sollten
sie auch? Hinter den herkömmlich betriebenen Autos
steht eine ganze Mineralölindustrie, die wiederum ihre
Interessen verfolgt. Deshalb ist es nötig, dass wir genau
dort, bei den Automobilherstellern und ihren Händlern,
gezielte Anreize setzen, um mit Biomethan betriebene
Fahrzeuge zu vermarkten. Ich fordere die Bundesregierung achtens auf, die Gesamtbilanz der Fahrzeuge und
des verwendeten Kraftstoffs auf den Flottendurchschnitt
für CO2-Emissionen anzurechnen. So hätten Automobilhersteller einen Anreiz, vermehrt gasbetriebene Fahrzeuge zu produzieren, und somit auch einen Anreiz, vermehrt solche Fahrzeuge zu verkaufen. Unser Ziel muss
es sein, die Beimischungsquote von Biomethan an Erdgastankstellen stetig anzuheben, um immer bessere
Treibhausgasreduktionswerte zu erzielen. Daher fordere
ich die Bundesregierung grundsätzlich dazu auf, zu prüfen, wie eine höhere Beimischung an Tankstellen über
die beschriebenen Forderungen hinaus erreicht werden
kann.
Zu guter Letzt werden auch umweltbewusste Verbraucher nicht von einem herkömmlichen Auto auf ein gasbetriebenes Fahrzeug umsteigen, solange sie nicht über
die Klimafreundlichkeit dieses Antriebstyps informiert
sind. Die Bundesregierung muss daher eine breite und
dauerhafte Informationskampagne über die Vorteile dieser Fahrzeugart starten, um ein Bewusstsein hierfür in
der Bevölkerung zu schaffen.
Es ist jetzt an der Zeit, zu handeln. Wenn wir jetzt
nicht gegensteuern, werden wir die Ziele, die sich die
letzte Bundesregierung im IEKP gesteckt hatte, nicht erreichen. Wir können es uns nicht erlauben, mit dem Klimaschutz im Verkehrsbereich zu warten, bis Elektroautos marktreif sind, allein schon, weil es kurzfristig
wirksame Alternativen zur Elektromobilität gibt. Ich
appelliere daher an Sie, den vorliegenden Antrag zu unterstützen.
Die FDP-Fraktion teilt das Ziel des vorliegenden Antrags der SPD: Biogas muss auch im Verkehr bessere
Rahmenbedingungen bekommen. Biomethan hat es noch
sehr schwer, sich als Energieträger auf dem Markt zu
etablieren. Dies ist umso bedauerlicher, als dass Biomethan eine ausgesprochen gute Klimabilanz aufweist,
auch im Vergleich zu anderen Biokraftstoffen.
Die Analyse des Antrags, den wir hier debattieren,
teile ich. Die Nutzung von Biogas im Verkehr ist eine
sinnvolle Anwendung. Erdgasfahrzeuge sind technologisch ausgereift. Die Beimischung von Biomethan, aber
auch der Betrieb mit 100 Prozent Biogas stellt für die
Motoren kein Problem dar. Deshalb birgt insbesondere
der Verkehr ein großes Potenzial für die Etablierung von
Biomethan auf dem Markt der Energieträger.
Bei der Gestaltung der Mobilität der Zukunft sollten
wir uns allerdings nicht auf einzelne Technologien fixieren. Wir müssen die Nutzung von erneuerbaren Energien
im Verkehr und die Einführung alternativer Antriebstechniken technologieoffen vorantreiben. Dabei sollten
wir Biomethan, neben den flüssigen Biokraftstoffen,
nicht aus dem Auge verlieren. Neben Elektromobilität
und Brennstoffzellentechnologie wird es zukünftig eine
zentrale Rolle spielen können. Insbesondere im Langstreckenbetrieb und bei Lkws brauchen wir auch auf
längere Sicht Verbrennungsmotoren - dann aber mit
biogenen Kraftstoffen.
Die FDP tritt dafür ein, die Biomasse möglichst dort
einzusetzen, wo sie das jeweils höchste CO2-Einsparpotenzial hat oder CO2-neutrale Alternativen fehlen. Dabei ist die Nutzungskonkurrenz von Biogas im Verkehr,
im Wärmebereich und bei der Verstromung derzeit nur
theoretischer Natur, weil die mögliche Angebotsmenge
von Biogas die Nachfrage bei weitem überschreitet.
Deshalb empfiehlt sich derzeit eine Förderung von Biogas in allen Bereichen.
Der vorliegende Antrag enthält einige Anregungen
zur Etablierung von Biomethan im Verkehrssektor. Die
Praxistauglichkeit dieser Vorschläge muss kritisch geprüft werden. Insbesondere sollte dafür Sorge getragen
werden, dass keine steuerliche Benachteiligung von Biomethan im Vergleich zu anderen Kraftstoffen erfolgt. Die
anstehende Überarbeitung der Kraftstoffstrategie muss
neuen Schwung für das Biomethan bringen. Das Ziel des
Energiekonzeptes, Biomethan in die Fahrzeuge zu bringen, muss zeitnah mit konkreten Maßnahmen unterlegt
werden. Diese sollen möglichst marktorientiert, aber
eben auch wirksam sein. Die FDP lädt alle Interessierten dazu ein, Vorschläge für die künftige Gesetzgebung
zu unterbreiten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Bio ist schick, Biomethan natürlich auch. Wer Klimaschutz will, braucht Biotreibstoffe für den Verkehr, das
weiß doch nun wirklich jedes Kind. Ist Biomasse aber
wirklich die Lösung aller Probleme? Maisanbau für
Strom, Holz für Heizungen und Industrie, Raps für Diesel und Kartoffeln für Verpackungen und so weiter und
so weiter. All diese Anwendungen für nachwachsende
Rohstoffe brauchen eines: Landfläche - genauso wie der
Anbau von Getreide, Kartoffeln, Obst, Gemüse und Tierfutter. Wegen der politischen Vorgaben der EU stieg der
Preis für Raps zwischen 2008 bis 2010 von 280 auf 450
Euro je Tonne. Die gesamte deutsche Rapsernte 2010
muss als Biodiesel in die Tanks fließen, wenn die EURichtlinie eingehalten werden soll - mit fatalen Auswirkungen, denn für Rapsöl, Viehfutter oder die Lebensmittelindustrie ist jetzt kein einheimischer Raps mehr da.
Der Antrag der SPD-Fraktion, Biomethan für Heizungen und den Pkw-Einsatz massiv zu fördern, ist deshalb wegen einer weiteren Überbelastung der Anbauflächen schädlich. Preissteigerungen bei allen BioAnwendungen, vor allen Dingen auch bei Lebensmitteln,
werden erfolgen. Die Verbraucher sind die Verlierer.
Der Antrag in dieser Form bringt auch keine Planungssicherheit für Biomethananwendungen, weil die Beschaffungspreise agrarischer Rohstoffe einfach zu teuer
und unkalkulierbar werden. Biomethan wird zukünftig
eine wichtige Rolle spielen. Aus Sicht der Linken muss
man die Anwendung dann fördern, wenn das Methan aus
Abfällen entsteht. Soll es aber direkt gewonnen werden,
ist es meist eher abzulehnen. Sinnvoll wäre es beispielsweise für eng umgrenzte regionale Anwendungen wie
die Landwirtschaft.
Der Antrag der SPD ist einseitig zugunsten des
Biomethans gestellt. Es wäre zwar für Maschinenbaukonzerne und Autohersteller eine neue Profitquelle erschlossen, aber steigende Verbraucherpreise in Europa
und sich ausweitende Hungersnöte in der Dritten Welt
würden die Folge sein. Ob unter dem Strich global
betrachtet tatsächlich eine Verbesserung des Umweltschutzes herauskommt, ist außerdem mehr als zweifelhaft. Gedient wird ausschließlich den Klimaschutzvorgaben der EU. Der globale Sinn wird jedoch verfehlt,
da die weltweite Konkurrenz um Biomasse letztlich Urwälder vernichtet. Eine solche Politik hilft dem Klimaschutz nicht. Geschädigt wird jedoch das Ansehen alternativer Energien.
Biomethan steht in einer doppelten Nutzungskonkur-
renz. Zum einen wird Biomethan überwiegend aus An-
baubiomasse gewonnen und steht dabei in Konkurrenz
zur Nahrungsmittelerzeugung. Zum anderen gibt es eine
enorme Nachfrage nach der Stromproduktion aus Bio-
masse, welche idealerweise an eine sinnvolle Verwen-
dung entstehender Wärme gekoppelt ist. Bei steigenden
Anteilen erneuerbarer Energien, vor allem aus Wind und
Sonne, kommt Biogaskraftwerken beim Lastausgleich im
Stromnetz eine zunehmend wichtigere Rolle zu.
Die Konkurrenz zur Nahrungsmittelerzeugung kann
derzeit vor allem in Norddeutschland betrachtet werden.
Hier gibt es regelrechte „Maiswüsten“. Viele Landwirte
klagen darüber, dass die Pachtpreise seit der massiven
Förderung der Biomasse enorm gestiegen sind. Wenn
Energieunternehmen jetzt vermehrt in die Biomethaner-
zeugung einsteigen, wird sich das Problem weiter ver-
schärfen. Als Konsequenz wird der wirtschaftliche
Druck zum Anbau von Energiepflanzen statt Nahrungs-
mitteln immer weiter zunehmen. Biomethan steht nicht
unbegrenzt aus nachhaltig erzeugter Produktion zur
Verfügung. Ein bestimmter Anteil der Agrarflächen kann
vor allem in Osteuropa dafür genutzt werden. Dies wird
jedoch mit Sicherheit nicht ausreichen, um den Verkehr
in Zukunft mit Biomethan zu fahren.
Es bräuchte daher ein integriertes Biomethankonzept
im Rahmen eines Energiekonzepts. Hier muss die Nah-
rungsmittelkonkurrenz ausgeschlossen werden. Dazu
brauchen wir eine sorgfältige Abwägung, in welchen
Verkehrsbereichen Biomethan bevorzugt zum Einsatz
kommen sollte. Das sind vor allem die Bereiche, in de-
nen es langfristig kaum Alternativen zum Verbrennungs-
motor gibt, also Lkws und Busse im Fernverkehr. Für
Pkws hingegen stehen mit Hybridantrieben, Plug-In-
Hybriden und rein batterieelektrischen Fahrzeugen al-
ternative Entwicklungspfade zur Verfügung, um erneu-
erbare Energien in den Straßenverkehr zu bringen.
Zum einen ist dies sehr viel effizienter: Elektromoto-
ren können bis zu 90 Prozent der Energie in Vortrieb
umwandeln. Bei Verbrennungsmotoren - auch solchen
mit Biomethan - verpufft dagegen der größte Teil als
Wärme. Zum anderen will ich auf Folgendes hinweisen:
Fraktionsübergreifend sind wir uns einig, dass eine in-
telligente Verknüpfung der Elektromobilität mit Strom
aus zusätzlichen erneuerbaren Energien einen wichtigen
Beitrag für ein besseres Lastmanagement der Strom-
netze bietet. Dies wird mit Zunahme der Einspeisung von
Offshore-Wind und anderen unstetigen Energiequellen
immer wichtiger werden.
Ein solches Konzept hat auch die Koalition bisher
nicht vorzuweisen. Deswegen wird der Ansatz des SPD-
Antrags, das Thema politisch stärker auf die Agenda zu
setzen, von uns ausdrücklich begrüßt. Bei der vorge-
schlagenen Lösung wird jedoch zu kurz gesprungen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3651 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wün-
schen Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung. Die Fraktion der SPD wünscht
Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit.
Wir stimmen zuerst über den Vorschlag der Fraktion
der SPD - Federführung beim Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit - ab. Wer ist für die-
sen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Gibt
es Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Wir stimmen nun über den Überweisungsvorschlag
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Federführung
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
ab. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? -
Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungs-
vorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Stipendienprogramm-Gesetzes ({0})
- Drucksache 17/3359 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
- Drucksache 17/3699 Berichterstattung:
Abgeordnete Tankred Schipanski
Marianne Schieder ({2})
Nicole Gohlke
Priska Hinz ({3})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/3701 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Rehberg
Klaus Hagemann
Ulrike Flach
Michael Leutert
Priska Hinz ({5})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({6})
zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mittel des Nationalen Stipendienprogramms
für eine Erhöhung des BAföG nutzen
- Drucksachen 17/2427, 17/3699 Berichterstattung:
Abgeordnete Tankred Schipanski
Marianne Schieder ({7})
Nicole Gohlke
Priska Hinz ({8})
Wir, die Fraktionen von CDU/CSU und der FDP, sind
der festen Überzeugung, dass der Bildungsaufstieg junger Menschen nicht an finanziellen Hürden scheitern
darf. Aufstieg durch Bildung ist die Kernbotschaft der
christlich-liberalen Koalition und der Bildungspolitik
der Union. Um das zu gewährleisten, setzen wir auf eine
Diversifizierung der Studienförderung. Es ist unser Ziel,
neben dem Ausbau des BAföG und der Bildungsdarlehen eine Stipendienkultur in Deutschland zu schaffen. In
den USA, Japan oder Südkorea finanzieren private
Geldgeber bis zu zwei Drittel der Ausgaben für den
Hochschulbereich - unter anderem durch Stipendienprogramme. Im OECD-Schnitt stammen 27,4 Prozent
des Bildungsbudgets aus nicht öffentlichen Quellen. In
Deutschland dagegen finanzierten private Geldgeber im
Jahr 2007 von insgesamt 25,6 Milliarden Euro für den
Hochschulbereich lediglich 15 Prozent. 84 Prozent steuerten Bund, Länder und Gemeinden bei. Rund 1 Prozent
der Mittel stammten aus dem Ausland. Das ist auch vor
dem Hintergrund des internationalen Wettbewerbs um
die klügsten Köpfe und der aktuellen Diskussion um den
Fachkräftemangel nicht hinnehmbar.
Die Union setzt hier mit dem nationalen Stipendienprogramm an. Es bietet jungen Menschen ein zusätzliches Finanzierungsinstrument für mehr Bildungsgerechtigkeit. Dabei wird das Deutschlandstipendium nicht auf
das BAföG angerechnet. Studierende können beide Förderungen gleichzeitig ohne Abzüge in Anspruch nehmen. Die Stipendien in Höhe von 300 Euro sollen von
privaten Geldgebern wie Stiftungen, Unternehmen, Privatpersonen und Alumni auf der einen Seite und dem
Bund auf der anderen Seite gemeinsam finanziert werden.
Die Stipendien werden von den einzelnen Hochschulen nach Leistung und Begabung vergeben. Neben der
erbrachten Leistung zählen auch gesellschaftliches Engagement, die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen oder besondere persönliche Gründe, die sich beispielsweise aus der familiären Herkunft oder einer
Migrationsherkunft ergeben können. Dies ist der Einstieg in die Mobilisierung neuer Begabungsreserven und
die Erschließung bisher unterrepräsentierter Studierendengruppen.
Mittelfristig sollen 8 Prozent der Studierenden in
Deutschland, also rund 160 000 junge Frauen und Männer, gefördert werden. In einem ersten Schritt werden ab
Sommersemester 2011 rund 10 000 Stipendiaten starten.
Der Bund übernimmt dabei den gesamten öffentlichen
Finanzierungsanteil, das heißt 150 Euro pro Stipendium
pro Monat, wenn die jeweilige Hochschule den gleichen
Beitrag von privater Seite einwirbt. Damit wollen wir
auch eine engere Vernetzung der Hochschulen mit ihrem
gesellschaftlichen Umfeld schaffen, die zu einer größeren Beteiligung der Privatwirtschaft führt. Gerade bei
der Ausbildung der künftigen Generation ist es nicht
einzusehen, dass der Staat die Finanzierung alleine
übernimmt, während sich Unternehmen und Wirtschaft
nicht beteiligen. Das Zusammenspiel aus privaten und
staatlichen Geldern macht deutlich, dass Unternehmen,
Stiftungen und vermögende Privatpersonen eine besondere Verantwortung für die Ausbildung von jungen Menschen haben.
Für eine schnelle Umsetzung plant die unionsgeführte Bundesregierung zahlreiche Maßnahmen, um den
Start des Stipendienprogramms erfolgreich zu begleiten.
Unter anderem wird die Bundesregierung die Hochschulen bei den Akquisekosten mit einer Programmkostenpauschale unterstützen. Dazu zählen Kosten für das
Personal, das die privaten Stipendienmittel einwirbt.
Die Pauschale beträgt 7 Prozent der Mittel, die die
Hochschule von privater Seite einwerben könnte. Außerdem wird das Bundesministerium für Bildung und Forschung Schulungen für Mitarbeiter der Hochschulen anbieten, die künftig für das Einwerben von Mitteln für die
Deutschlandstipendien verantwortlich sind. Dies umfasst auch ein kostenloses Softwareprogramm zur besseren Datenerfassung.
Wie Sie alle wissen, wollten die Bundesländer die
hälftige Mitfinanzierung des staatlichen Anteils am
Deutschlandstipendium nicht mittragen. Die Opposition
torpediert das Stipendiengesetz aus ideologischen Gründen und verweigert jedes konstruktive Handeln für die
Studierenden in Deutschland. Die Bundesregierung hingegen handelt verantwortlich und hat sich im Vermittlungsverfahren bereit erklärt, die Kosten des Stipendienprogramms vollständig zu übernehmen. Den Ländern
wiederum werden dadurch Spielräume für eigene Konzepte zur Förderung der Studienneigung und der Begabtenförderung eingeräumt. Die Länder können nun beweisen, dass Sie diese Spielräume in ihrer Verantwortung nutzen.
Da die Länder nunmehr 0 Prozent zur Finanzierung
des Stipendienprogramms beitragen, ist es nur folgerichtig, dass die Festlegung der Höchstförderquoten
künftig auch ohne Zustimmung des Bundesrates möglich
ist. Deshalb bedarf es bei dem Stipendiengesetz einer
Änderung. Denn es gilt: Wer bezahlt, bestimmt. Aus diesem Grund haben wir als Regierungsfraktionen einen
Änderungsantrag zum vorliegenden Änderungsgesetz
eingebracht. Es handelt sich hier letztlich um rein redaktionelle Änderungen neben der Umsetzung der gemachten Zusagen im Vermittlungsausschuss. Die Festlegung
der Höchstförderquoten soll das Bundesministerium für
Bildung und Forschung zukünftig im Einvernehmen mit
dem Bundesministerium der Finanzen treffen. Im
Jahr 2011 soll die Höchstgrenze der Förderung gemäß
§ 11 Abs. 4 zunächst 0,45 Prozent der Studierenden je
Hochschule betragen. Die vorgesehene Pauschalierung
der Erstattung vereinfacht das Verfahren, vermeidet
Auseinandersetzungen und gibt den Hochschulen Planungssicherheit. Mit den genannten Maßnahmen zeigt
der Bund Verantwortung für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und honoriert wissenschaftliche Spitzenleistungen. Zugleich schafft er Anreize für
private Stipendiengeber, sich auf diesem Feld zu engagieren und fördert den Aufbau einer Stipendienkultur in
Deutschland.
Die Oppositionsfraktionen SPD, Linke und Grüne favorisieren hingegen eine massive Erhöhung der Ausgaben für die Sozialleistung BAföG. Dieser Ansatz findet in
der Regierungskoalition keine Zustimmung. Er entspricht im Wesentlichen der Sozialpolitik der 70erJahre. Die von Ihnen angestrebte Erhöhung über den
festgestellten Bedarf hinaus würde das BAföG außerdem
in eine Schieflage zu anderen Sozialleistungen bringen.
Wir haben jedoch die Pflicht, die Ausgewogenheit sozialer Leistungen sicherzustellen. Dies sind wir dem Steuerzahler schuldig, der die Kosten von knapp 2,5 Milliarden
Euro jährlich für das BAföG trägt. Hier sehe ich eher
eine große Chance im Deutschlandstipendium, die Informationslücke bei den sozial schwächeren und bildungsfernen Familien zu schließen. Die Vorteile des Stipendienprogramms liegen auf der Hand. Neben den
bisherigen Finanzierungsinstrumenten BAföG und Bildungsdarlehen wird den Studierenden ein zusätzliches
Instrument für mehr Bildungsgerechtigkeit gegeben.
Die ersten Reaktionen auf das Programm fallen positiv aus. Der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Professor Dr. Kempen, beschreibt das Deutschlandstipendium als hervorragendes Projekt, dessen Vorteile
bislang nicht ausreichend erkannt und dessen Probleme
bislang überbewertet wurden. Der Rektor der RWTH
Aachen, Professor Dr. Schmachtenberg, meldet sehr positive Erfahrungen mit Stipendien in NRW. Er bestätigt,
dass das Stipendienprogramm die Vernetzung zwischen
der Hochschule und der Wirtschaft nachhaltig unterstützt hat und dass sich aus den Kontakten über das Stipendienprogramm hinausgehende Kooperationen ergeben haben. Die Deutsche Telekom hat sich bereit erklärt,
in den kommenden vier Jahren 360 junge Frauen in
MINT-Studiengängen zu fördern. Diese positiven Rückmeldungen aus der Wirtschaft zeigen, dass das Stipendienprogramm auf einem guten Weg ist.
Lassen Sie uns das Deutschlandstipendium erfolgreich beginnen und somit einen weiteren Schritt für mehr
Wettbewerbsfähigkeit und Bildungsgerechtigkeit künftiger Generationen gehen! Deshalb werbe ich um Ihre Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.
Das nationale Stipendienprogramm, mit dem die Bundesregierung ursprünglich bis zu 160 000 zusätzliche
Stipendien schaffen wollte, ist bildungspolitisch in der
Sache gescheitert. Das Festhalten der Bundesregierung
an dem „Deutschland-Stipendium“ für nicht einmal
10 000 Stipendien dient allein der Gesichtswahrung. Bildungspolitisch ist sowohl das Gesetz entbehrlich als
auch die zur Abstimmung vorliegende Novellierung unakzeptabel.
Es reicht nicht aus, dass diese Bundesregierung
Klientelpolitik in höchstem Maße betreibt. Sie erkauft
sich jetzt auch noch Mehrheiten für Projekte, die immer
weniger das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben
werden. Um sich in der letzten Sitzung des Bundesrates
mit schwarz-gelber Mehrheit im Sommer nicht zu blamieren, wurde in einer Nacht- und Nebelaktion von Frau
Schavan und Frau Merkel den Ländern die Kostenübernahme für das nationale Stipendienprogramm durch den
Bund versprochen. Andernfalls hätten sogar die eigenen
Ministerpräsidenten der Regierungskoalition das Vorhaben scheitern lassen.
Mit der von der Bundesregierung im vorliegenden
Gesetzentwurf vorgeschlagenen Übernahme der Kostenanteile der öffentlichen Hand durch den Bund konnte
zwar die Zustimmung der Ländermehrheit im Bundesrat
Zu Protokoll gegebene Reden
Marianne Schieder ({0})
erwirkt werden. Sie ist allerdings geeignet, den mühsam
aufrechterhaltenen Grundsatz einer gemeinsamen BundLänder-Verantwortung in der Bildungsförderung weiter
zu gefährden und ist daher abzulehnen. Das Vermittlungsverfahren zur 23. Novelle des Bundesausbildungsförderungsgesetzes hat verdeutlicht, welche Risiken das
willkürliche und ziellose Handeln der Bundesregierung
bei der notdürftigen Rettungsoperation für das Stipendienprogramm-Gesetz im Bundesrat für das Bildungsfördersystem insgesamt heraufbeschwört.
Zur Ehrenrettung der Bundesregierung könnte man
nun noch sagen, dass man mit der Novelle den finanziell
angeschlagenen Ländern entgegenkommen wollte. Stellt
sich allerdings die Frage, warum die Bundesregierung
bei der zeitgleich verhandelten BAföG-Novelle überhaupt keinen Spielraum sah, den Ländern finanziell unter
die Arme zu greifen? Dadurch wird deutlich, dass es mit
der Finanzierungszusage beim Stipendienprogramm lediglich darum ging, ein Prestigeprojekt zu sichern. Die
Finanzsituation der Länder und Kommunen ist dieser
Bundesregierung egal. Das hat sie in den letzten zwölf
Monaten schon mehrfach bewiesen.
Bereits die Expertenanhörung zum Stipendienprogramm im Frühjahr hat gezeigt, dass das Vorhaben
Stückwerk ist. Die Fachleute haben insbesondere vor
Verwerfungen in der Hochschullandschaft und einer Benachteiligung von Hochschulen in strukturschwächeren
Regionen unseres Landes gewarnt. Die Begründung der
Bundesregierung, mit dem Programm für gleichwertige
Lebensbedingungen im Bundesgebiet zu sorgen, ist reine
Farce. Das Programm ist nach Einschätzung zahlreicher Fachleute mehr ein Instrument zur Förderung des
Wettbewerbs unter den Hochschulen als ein geeignetes
Mittel zur Förderung von Studierenden.
Schon damals waren sich alle Experten auch einig,
dass es völlig utopisch sei, in absehbarer Zeit 8 Prozent
aller Studierenden über dieses Programm zu fördern.
Nun soll der öffentliche Anteil der Stipendien zu
100 Prozent vom Bund kommen, aber die Mittel im
Haushalt werden nicht verändert. Ich frage Sie, Frau
Schavan, wie will man so auf die im Gesetz angestrebte
Zahl der geförderten Studentinnen und Studenten kommen? Hat da jemand in Mathematik oder beim Formulieren der Novelle nicht aufgepasst? Oder ist das der
Versuch, ganz heimlich und langsam das Programm gar
nicht richtig auf den Weg zu bringen? Scheinbar reicht
es, wenn ein paar wenige Privilegierte für vergleichsweise hohe Verwaltungskosten gefördert werden und die
Bundesregierung vollmundig in der Öffentlichkeit verkünden kann: Wir fördern die Stipendienkultur - auch
wenn es nicht stimmt. Ähnliches hatten wir ja schon
beim Praktikantenprogramm Technikum. Hier verkündete die Bildungsministerin auch großspurig Ziele in der
Öffentlichkeit, die man jetzt nur noch wie unter den
Tisch gefallene Brotkrumen findet.
Trotz der geplanten vollständigen Finanzierung des
öffentlichen Anteils der Stipendien nach dem Stipendienprogramm-Gesetz durch den Bund bleiben für die Länder als Träger der Grundfinanzierung der Hochschulen
weiterhin erhebliche finanzielle Umsetzungsrisiken. So
ist bereits absehbar, dass die im Gesetzentwurf vorgeschlagene Übernahme von Verwaltungskosten bis zu einer Höhe von 10 Prozent völlig unzureichend ist. In der
schon oben zitiert Expertenanhörung wurden bereits
rund 30 Prozent veranschlagt. Die Kostenzusagen des
Bundes sind somit völlig unzureichend.
Mit der Begründung, dass der Bund nunmehr den gesamten öffentlichen Anteil an den Mitteln, die für Stipendien aufgebracht werden, allein trage, soll die Verordnungsermächtigung des § 14 Nr. 7 StipG geändert
werden. Demnach soll die Zustimmung des Bundesrates
wegfallen, wenn die Bundesregierung festlegt, wie die
Höchstquote in § 11 Abs. 4 StipG erreicht werden soll.
Hierbei wird außer Acht gelassen, dass die Bundesländer nach wie vor einen Großteil der Verwaltungskosten
für das Stipendienprogramm tragen müssen. Die Risiken
der nach wie vor bestehenden Unterfinanzierung drohen
sich mit jedem Ausbauschritt des Stipendienangebots zu
vervielfachen, sodass eine direkte Betroffenheit der Länder gegeben und damit die Zustimmungspflicht begründet ist. Allein deshalb ist die Novelle abzulehnen.
Frau Schavan, gestehen Sie doch endlich ein, dass
das Stipendienprogramm eine fixe Idee aus den Koalitionsverhandlungen ist, für die es besser wäre, sie jetzt in
den Papierkorb zu werfen, um weitere unnötige Kosten
zu vermeiden. Dann könnte man endlich das Geld, dass
für das Stipendienprogramm blockiert wird, in einen vernünftigen Ausbau des BAföG stecken, was die SPD-Fraktion von Anfang an gefordert hat. In diese Richtung geht
auch der Antrag der Fraktion Die Linke, der heute ebenfalls zur Abstimmung steht. Leider ist dieser Antrag gegenstandslos, nachdem die Bundesregierung die Zustimmung für das Stipendienprogramm im Bundesrat durch
die Finanzierungszusage erwirkt hat. Da aber die grundsätzliche Ausrichtung richtig wäre, wird sich unsere
Fraktion bei der Abstimmung enthalten.
Die 1. Novelle des Stipendienprogramm-Gesetzes
werden wir jedoch ablehnen. Denn sie ist nicht mehr als
ein Taschenspielertrick. Es bleiben die grundsätzlichen
Mängel des Stipendienprogramms bestehen. Trotz der
Novelle bleiben die offensichtlichen konzeptionellen,
handwerklichen und auch bildungspolitischen Mängel
des Programms. Es ist daher weiter davon auszugehen,
dass die soziale Selektivität in der Hochschulbildung
verfestigt und die regionalen Unterschiede hinsichtlich
der Lebensverhältnisse weiter verstärkt werden. Darüber hinaus gibt es kein gesetzlich normiertes Verfahren bzw. für rechtsfeste Förderbescheide der Hochschulen hinreichende Entscheidungskriterien für die
Ausbildungsförderung durch das nationale Stipendienprogramm. Die Liste der offenen Fragen und Probleme
rund um das Programm bleibt weiterhin bestehen. Die
vorgelegte Novelle bietet keine einzige Lösung dafür an.
Vielmehr sorgt sie dafür, dass die im Gesetz festgehaltenen Ziele noch unrealistischer werden und noch mehr
Geld aus dem Bundeshaushalt für noch weniger Bildungsförderung vergeudet wird.
Ich appelliere an die Bundesregierung und die
schwarz-gelbe Koalition: Zeigen Sie endlich Vernunft.
Lassen Sie das Stipendienprogramm sein und bauen Sie
Zu Protokoll gegebene Reden
Marianne Schieder ({1})
mit uns eine sozial gerechtere Studienförderung über
das BAföG aus. Bei der Masse der Wählerinnen und
Wähler käme dies auch besser an, als die vermeintliche
Versprechung, die Stipendienkultur zu fördern. Nehmen
Sie Ihr Versprechen, eine Bildungsrepublik zu schaffen,
endlich ernst. Wer immer wieder das christliche Profil
strapaziert, sollte vor allem klar wissen, dass im Christentum die gleiche Würde aller Menschen grundlegend
ist. Daraus resultiert, dass alle die gleiche Chance bekommen sollen, insbesondere wenn es um Entwicklungsmöglichkeiten geht. Daher ist es höchste Zeit, dass
Bildung nicht länger von den Möglichkeiten und Potenzialen des Elternhauses abhängig ist. Fühlen Sie sich,
liebe Kolleginnen und Kollegen der schwarz-gelben Koalition, Ihrem viel zitierten christlichen Werteverständnis endlich verpflichtet und sorgen Sie mit uns für eine
sozial gerechte Bildungspolitik, in der wirklich alle die
gleichen Chancen haben.
Die Koalition der Mitte macht heute gegen zahlreiche
Widerstände aus dem linken Lager den Weg frei für eine
modernere, gerechtere und leistungsfördernde Studienfinanzierung in Deutschland. Wir schaffen damit die Voraussetzungen für mehr Bildungsgerechtigkeit und mehr
Spielraum bei der Studienfinanzierung für die Studierenden in unserem Land.
Mit dem nationalen Stipendienprogramm fördern wir
die individuelle Leistungsbereitschaft, jedoch auch gesellschaftliches Engagement in Vereinen, Kirchen und
Verbänden. Das nationale Stipendienprogramm ist eine
Trendwende in der Begabtenförderung.
Umso heuchlerischer ist der Vorwurf der linken Seite
des Hauses, der ja auch im Antrag der Linken aufgegriffen wird, das nationale Stipendienprogramm käme
hauptsächlich Studierenden aus Akademikerfamilien
und sogenannten Besserverdienerhaushalten zugute.
Dies ist nicht nur unverschämt, weil Sie damit indirekt
die Behauptung aufstellen, Kinder aus bildungsfernen
Schichten würden keine Leistung erbringen und sich
auch nicht gesellschaftlich engagieren; es ist, wie alle
seriösen Studien zeigen, schlichtweg falsch.
Sie führen in Ihrem Antrag aus, dass die Begabtenförderungswerke - zu diesen zählt im Übrigen auch die
Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Ihrer Partei nahesteht überproportional Studierende aus hohen und gehobenen
sozialen Schichten fördern. Hier widerspreche ich Ihnen
auch nicht: Ja, wir brauchen mehr Begabtenförderung
für Menschen, die aus bildungsfernen Schichten kommen. Genau dies ist eine der Grundmotivationen dafür,
auch den individuellen Bildungsweg, die Überwindung
von Schwierigkeiten auf dem Weg zum Studium mitzuberücksichtigen. Blenden Sie doch nicht immer aus, dass
gerade dieses Bildungsprogramm Leistungsorientierung
und soziale Orientierung zusammenbringt.
Hätten Sie eine ehrliche Analyse vorgenommen, dann
hätten Sie das von der FDP/CDU-Landesregierung eingeführte Stipendienprogramm in Nordrhein-Westfalen
untersucht. Dann wären Sie zu ganz anderen Ergebnissen gekommen. Alle Studien zeigen nämlich, dass dort
ganz überproportional Studierende an Fachhochschulen
von der Förderung profitieren, die bisher vernachlässigt
wurden. Die Studien zeigen auch, dass ganz überproportional Studierende aus Elternhäusern ohne akademischen Hintergrund von den Leistungen profitieren. Und
sie zeigen, dass ganz überproportional BAföG-Empfänger von den Leistungen des Stipendienprogramms profitieren. Doch statt einer solchen ehrlichen Analyse beschränken Sie Ihren Blick auf einen Teilbereich der
Studienfinanzierung, nur weil es besser in Ihre ideologische Sicht passt.
Wir als Koalition der Mitte bauen dagegen die bestehenden Fördermöglichkeiten weiter aus und ergänzen
sie um eine weitere Säule in das nationale Stipendienprogramm. Die BAföG-Leistungen werden ausgeweitet
und modernisiert, die Elternfreibeträge werden angepasst, sodass mehr Studierende BAföG erhalten können,
und die Mittel für die Begabtenförderwerke werden erhöht.
Alleine die BAföG-Leistungen steigen dank dieser
Koalition der Mitte im Jahr 2011 um etwa 500 Millionen
Euro. Dies ist ein klares Zeichen für mehr Bildungsgerechtigkeit. Dies ist eine Erhöhung der Leistungen, die
jeder Berechtigte auch wirklich finanziell spürt. Sie dagegen stellen die „großzügige“ Forderung in den Raum,
man müsse auf das nationale Stipendienprogramm verzichten und die Mittel stattdessen den BAföG-Empfängern zukommen lassen. Aber was käme denn heraus,
wenn man die im Haushaltsplan 2011 vorgesehenen Mittel von 10 Millionen Euro an die Studierenden weitergeben würde, die BAföG erhalten? Um ganze 1,50 Euro
pro Monat würden die Leistungen steigen - dies bedarf
keines weiteren Kommentars. Dies zeigt, dass Ihre Forderung nicht nur populistisch, sondern schlichtweg
heuchlerisch ist.
Nein, wir gehen mit unserem Konzept zur Bildungsfinanzierung genau den richtigen Weg. Unser Ziel
bleibt, dass 10 Prozent der Studierenden in Deutschland
ein Stipendium erhalten. Die ersten 10 000 werden hiervon bereits im kommenden Jahr profitieren. Dies ist ein
gutes und richtiges Signal für die Zukunftsfähigkeit unserer Hochschulen.
Mit dem nationalen Stipendienprogramm stärken wir
die Autonomie unserer Hochschulen, weil wir ihnen die
Möglichkeit geben, die Stipendiaten selbst auszuwählen.
Wir stärken damit Wissenschaft und Forschung an unseren Hochschulen, weil wir den Kontakt zur Wirtschaft
und zu Unternehmen fördern. Und wir stärken nicht zuletzt auch den Aufbau von Ehemaligennetzwerken an unseren Hochschulen; auch dies ist ein wichtiger Standortvorteil für Universitäten und Fachhochschulen im
internationalen Wettbewerb.
Bei aller Freude über dieses positive Ergebnis
möchte ich auch nicht verhehlen, dass ich das Verhalten
der Länder, insbesondere der A-Länder, für falsch und
bedauernswert halte. Es wäre ein gutes Zeichen gewesen,
wenn wir das nationale Stipendienprogramm als wirkliches nationales Zukunftsprogramm von Bund und Ländern gemeinsam umgesetzt hätten. Hierzu fehlte auf der
Zu Protokoll gegebene Reden
Länderseite, zum Teil aus ideologischer Verblendung,
leider der Mut.
Aber ich sehe hierin auch positive Aspekte. Es ist gut,
dass wir nun, da der Bund die Kosten alleine trägt, ein
solides Finanzierungskonzept und keine Mischfinanzierung haben. Die Verantwortlichkeiten sind damit klar
getrennt, und wir müssen bei einem möglichen späteren
Ausbau des Programms keine neuen Kompromisse mit
SPD-geführten Landesregierungen eingehen.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben dagegen den Mut und die Entschlossenheit
bewiesen, dass sie die Studienfinanzierung in Deutschland moderner und gerechter gestalten wollen. Dies ist
ein hervorragender Tag - nicht nur für uns Bildungspolitiker, sondern vor allem für unsere Hochschulen und
ganz besonders für die Studierenden in Deutschland.
Kaum ist das Stipendienprogramm beschlossen,
schon muss es wieder geändert werden. Erstens hat die
Bundesregierung einsehen müssen, dass die Länder
nicht bereit sind, auch nur einen einzigen Euro beizutragen. Zweitens muss die Regierung den Hochschulen einen Teil der Verwaltungskosten erstatten, damit diese
auf die mühsame Betteltour zu den Unternehmen gehen
können. Hier zeigt sich die ganze Misere ihres Stipendienprogramms. Es überzeugt nicht. Die meisten Studierenden lehnen es ab, die meisten Hochschulen lehnen es
ab, die meisten Bundesländer lehnen es ab. Ihre Landesregierungen - bei der entscheidenden Abstimmung hatte
die Regierungskoalition im Bundesrat ja noch eine
Mehrheit - sprechen zwar nicht dagegen, sie bezahlen
aber auch nicht dafür.
Ursprünglich hieß es einmal, die Hälfte der Kosten
würden über private Spenden finanziert. Dabei hat die
Regierung wohl übersehen oder übersehen wollen, dass
die Unternehmen ihre Spenden von der Steuer absetzen
können. Damit war der private Beitrag schon auf ein
Drittel zusammengeschrumpft. Mit ihrer Gesetzesänderung erkennt die Bundesregierung nun an, dass mindestens weitere 7 Prozent dieser Summe bei den Hochschulen dafür draufgeht, die Spenden einzutreiben und das
Programm zu verwalten. Der Stifterverband hält diese
Zahl sogar für weit untertrieben. Wahrscheinlich kostet
die Verwaltung 20 bis 25 Prozent der Spendensumme.
Mit anderen Worten: Sie geben viel öffentliches Geld dafür aus, dass Unternehmen sich als Gönner der Studierenden aufspielen können, ohne allzu viel eigenes Geld
dafür einzusetzen. Lange Zeit lief es deutlich anders.
Unternehmen und Vermögende wurden nicht angebettelt, sondern spürbar besteuert. Die Hochschulen wurden öffentlich finanziert und konzentrierten sich auf
Lehre und Forschung. Jetzt soll jede Hochschule bei den
Unternehmen selbst vorstellig werden. Ihre wichtigsten
Aufgaben werden Marketing und Fundraising.
Die größte Änderung betrifft jedoch die Studierenden
selbst. Im Rahmen des BAföG haben sie einen Rechtsanspruch auf Förderung nach sozialen Kriterien. Im
Rahmen des Stipendienprogramms gibt es keinen
Rechtsanspruch und keine sozialen Kriterien. Ihr Stipendienprogramm wird zum Taschengeld für die ohnehin
Privilegierten werden. Die Bundesregierung wird das
nicht schrecken: Ihr Ziel ist es ja gerade, eine Elite zu
züchten und bei der Masse zu kürzen. Die Linke will das
nicht. Deshalb wollen wir das Stipendienprogramm
streichen und die Mittel für eine Erhöhung des BAföGs
einsetzen. Die BAföG-Erhöhung muss allerdings noch
deutlicher ausfallen. Nur dann wird das eigentliche Ziel
des BAföGs erreicht, dass niemand aus finanziellen
Gründen vom Studium ausgeschlossen ist. Dafür bitte
ich Sie um Zustimmung zum Antrag der Linken.
Obwohl noch kein Student vom schwarz-gelben Stipendiengesetz profitiert hat, ist schon die erste Novelle
erforderlich. Ein Meisterstück politischer Handwerkskunst sieht definitiv anders aus.
Die grüne Bundestagsfraktion lehnt den schwarz-gelben Stipendienmurks weiterhin klar ab und wird auch
dem Änderungsgesetz nicht zustimmen. Das nationale
Stipendienprogramm mit seinem Deutschlandstipendium wird nicht besser, nur weil der Bund für dieses
Prestigeobjekt allein die Zeche zahlt.
Das Stipendiengesetz ist ein schwarz-gelbes Exklusivprogramm für ohnehin chancenreiche Akademikerkinder. Anstatt gezielt in die Bildungspotenziale von
Nichtakademikerkindern zu investieren, leistet das Programm keinerlei Beitrag zur dringend notwendigen sozialen Öffnung der Hochschulen. Schlimmer noch: Zu
befürchten ist, dass es die soziale Schieflage beim Campuszugang noch weiter verschärft.
Der einzige - wenn auch minimale - positive Aspekt
der heutigen Not-Novelle des schwarz-gelben Stipendienprogramms ist, dass die Hochschulen mit den Bürokratiekosten nun doch nicht komplett alleine gelassen
werden sollen. Diese marginale Verbesserung heilt aber
nicht die gravierenden Fehler und Mängel ihres Eliteförderkonzepts. Die Novelle ist - genauso wie der Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen zum Änderungsgesetz - vor allem ein Beleg dafür, wie handwerklich
schlecht dieses unsinnige Erbe der schwarz-gelben
NRW-Regierung gemacht ist. Außer dem ehemaligen
NRW-Landesminister und Urheber Pinkwart haben Sie
von der Koalition in den Ländern doch so gut wie keine
Unterstützerinnen oder Unterstützer für das Stipendienprogramm des Bundes. Ohne eine 100-prozentige Finanzierung durch den Bund und ein massives Abspecken
des Programms mit einem Abschied vom 8-Prozent-Ziel
wäre es komplett gescheitert. Ein Scheitern hätte durchaus mehr Bildungsaufstieg bedeutet, wenn das Geld für
ihre Deutschlandstipendien ins BAföG hätte umgeschichtet werden können. Für Chancengleichheit und
Bildungsgerechtigkeit wären diese Steuermittel dort definitiv sehr viel besser investiert gewesen als in ihrem
Gartenzwergprogramm.
Auch nach dieser Novelle bedeutet das Stipendienprogramm, dass der Bund Mittel für ein sozial ungerechtes und überdimensioniertes Gesetz bereitstellt. Das
Konzept stößt bei Studierenden, Stipendiaten, Hochschulen und Wirtschaft zu Recht auf breite Ablehnung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir setzen statt Eliteförderung auf sozial gerechte Breitenförderung und auf Stipendien, die die Bildungsgerechtigkeit erhöhen und nicht verringern.
Schwarz-Gelb setzt die falschen Prioritäten: Die starken Schultern werden gestärkt, die schwachen Schultern
werden geschwächt. Opfer der falschen Prioritätensetzung sind der Ausbau und die Weiterentwicklung einer
gesicherten staatlichen Studienfinanzierung. Erst nach
einer monatelangen Hängepartie und unwürdigem
Bund-Länder-Geschacher gab es eine kleine BAföG-Novelle. Das Aufatmen über den Kompromiss kann jedoch
nicht vergessen machen, dass die 23. BAföG-Novelle weder zukunftstauglich noch ambitioniert ist.
Die Studienfinanzierung braucht tiefgreifende Verbesserungen und muss endlich allen Bildungsaufsteigern offenstehen. Dazu braucht es ein Zwei-Säulen-Modell, das einen Sockel für alle mit einem Zuschuss für
Studierende aus einkommensschwachen Haushalten
kombiniert.
Die Bundesregierung hat zu verantworten, dass die
Bund-Länder-Finanzbeziehungen durch gescheiterte
Bildungsgipfel und den Studienfinanzierungsstreit zerrüttet sind. Falls Schwarz-Gelb überhaupt noch die
Kraft für eine große BAföG-Reform in den verbleibenden drei Regierungsjahren hat, dann muss Ministerin
Schavan die von ihr selbst verursachten tiefen Gräben
im Bund-Länder-Verhältnis bei der Bildungsfinanzierung kitten. Denn Bund und Länder müssen gemeinsam
für eine bessere Finanzierung des Bildungssystems sorgen. Daher muss nicht nur das Kooperationsverbot des
Grundgesetzes für den Bildungsbereich aufgehoben
werden, sondern auch die Angriffe des Bundes auf Länderhaushalte durch Steuergeschenke an Atom- und
Pharmalobby, Hotels und reiche Erben müssen zurückgenommen werden.
Tagesordnungspunkt 28 a. Wir kommen zuerst zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/3699. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3359
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der
zweiten Lesung angenommen.
({0})
Tagesordnungspunkt 28 b. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion die Linke auf Drucksache 17/2427
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion die Linke bei
Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Martin
Dörmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Betroffene Kultureinrichtungen nach Frequenzumstellung für drahtlose Mikrofone
angemessen entschädigen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra
Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kulturelle Einrichtungen vor Folgeschäden
aus der Frequenzversteigerung der digitalen
Dividende bewahren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Tabea
Rößner, Agnes Krumwiede, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kultur und Rundfunk nicht durch die Frequenzumstellung schädigen
- Drucksachen 17/3177, 17/2416, 17/2920,
17/3694 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Lötzer
Wir beraten heute über Anträge der Oppositionsfraktionen, deren Inhalte eigentlich überflüssig sind. Denn
die aufgestellten Forderungen sind entweder bereits
weitgehend Realität oder im Falle des Antrages der
Linken schlicht maßlos. Jedoch freut es mich auch, dass
die Fraktionen der SPD und der Grünen in ihren Antragsbegründungen sich zum Verfahren der „Digitalen
Dividende“ und zum Ausbau der mobilen Breitbandanwendungen bekennen. So technikfreundlich kenn ich sie
gar nicht. Die Linken verzichten ganz auf eine Begründung ihres Antrages. So wichtig kann Ihnen das ganze
Thema also nicht sein.
Aber worum geht es? Die Versteigerung des bislang
größten Frequenzpaketes in Deutschland durch die Bundesnetzagentur bietet große Chancen für den notwendigen Netzausbau und eine bessere Breitbandversorgung
auch in ländlichen Regionen sowie zur Erweiterung der
Netze im Mobilfunk. Gerade im Mobilfunk steigen die
Kapazitätsbedarfe stetig. Die Mobilfunkunternehmen,
die entsprechende Frequenzen ersteigert haben, können
nun die Einführung der Long-Term-Evolution-Technologie vorantreiben, die hohe Bandbreiten ermöglicht. Zudem bieten die Frequenzen der „Digitalen Dividende“
in den Bereichen von 790 bis 862 Megahertz die Möglichkeit, Lücken in der Breitbandversorgung zu schließen.
Die in den Anträgen beschriebenen Risiken sind bekannt. Daher wurde die Frage der Kostenerstattung
bereits im Jahr 2009 im Bundesrat im Rahmen der
Frequenzbereichzuweisungsplan-Verordnung beraten.
Diese Verordnung enthält die Voraussetzungen für die
Versteigerung der Frequenzen. Darüber hinaus gibt es
die Absprachen zwischen dem Bund und den Bundesländern zur Thematik der Umstellungskosten. Zwischen
Bund und Ländern wurde vereinbart, die Kosten aus
notwendigen Umstellungen, die sich bis Ende 2015 bei
denjenigen ergeben, die die Frequenzen 790 bis 862 Megahertz nutzen, in angemessener Form zu tragen. Wir halten fest: Es bestehen bereits Regelungen zur Entschädigung, sofern konkrete Störungen auftreten.
Und das ist der entscheidende Punkt! Wenn konkrete
Störungen auftreten, dann sollen die entsprechenden
Einrichtungen eine Entschädigung für notwendige Ersatzaufwendungen erhalten. Festzuhalten bleibt jedoch:
Es besteht kein Rechtsanspruch auf Entschädigungsleistungen. Bisher ist auch noch kein Fall bekannt, bei der
die Frequenzumstellung zu konkreten Störungen geführt
hat. Dies hat die Bundesnetzagentur auf Anfrage mitgeteilt. Darüber hinaus ist auch einzuschätzen, wie hoch
der Grad der Störung ist und ob es denn technische
Möglichkeiten gibt, diese Störungen zu unterbinden oder
zu beheben. Manche Dinge kann man auch ohne viel
Geld reparieren. Die Bundesnetzagentur bereitet beispielsweise seit Anfang 2010 eine Verlagerung der entsprechenden Nutzung in alternative Frequenzbereiche
vor. Sollte diese Frequenzverlagerung notwendig werden und dadurch Kosten entstehen, so gibt es die Zusage
der Bundesregierung, eine angemessene Entschädigung
zu zahlen. Dies ist im Vergleich zu Neuanschaffungen sicher der günstigere Weg.
Was ist zu tun, bevor der Bund zahlt? Wenn die eben
erwähnten Voraussetzungen für Entschädigungsleistungen eintreten, dann muss vorab sichergestellt werden,
dass die ausgezahlten Mittel entsprechend eingesetzt
werden und bei den Kultureinrichtungen ankommen.
Klar umrissen muss auch der Kreis der möglichen Entschädigungsempfänger werden. Aus unserer Sicht gibt
es keinen Grund, warum ausschließlich öffentliche Einrichtungen entschädigt werden sollen. Schließlich muss
der Einsatz der Mittel auch nachvollziehbar und kontrollierbar sein. Missbrauch von Steuermitteln darf es
nicht geben. Die Bundesministerien für Wirtschaft und
Finanzen arbeiten an Regeln mit dem Ziel, die Höhe der
anrechenbaren Kosten sowie das Verfahren zur Abwicklung festzulegen. Diese geballte Fachkompetenz wird sicher
unabhängig von oppositionellem Aktionismus zu einer
Lösung führen. Bevor wir also pauschal viel Geld ausgeben, sollten wir offene Punkte klären und technische Lösungen im technischen Bereich suchen.
Der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ist daher zu folgen und die Anträge der Oppositionsfraktionen sind abzulehnen.
Uns liegen die Anträge der Fraktionen SPD - 17/3177 -,
Die Linke - 17/2416 - und Bündnis 90/Die Grünen
- 17/2920 - sowie eine Protokollerklärung der Fraktionen CDU/CSU und FDP vor. Alle drei Anträge der Oppositionsparteien enthalten die Forderung, den Nutzern
der drahtlosen Produktionstechniken einen Rechtsanspruch auf Erstattung der Folgekosten der Frequenzumstellung zu schaffen.
Umstritten ist nicht, dass die Bundesregierung richtigerweise mit ihrer Breitbandstrategie eine flächendeckende Versorgung aller Regionen mit leistungsfähigen
Internetverbindungen realisieren will. Um dieses Ziel zu
erreichen, sind die Frequenzen im Bereich 790 bis
862 Megaherz neu zugeteilt worden. Sie sind bisher dem
Rundfunkdienst zugewiesen und werden nun dem Mobilfunkdienst zugeordnet. Dies regelt die Frequenzbereichszuweisungsplan-Verordnung, die am 4. März 2009
vom Bundeskabinett beschlossen wurde. Ein Teil des
versteigerten Frequenzspektrums - nämlich die genannten Bereiche 790 bis 862 Megaherz - werden auch bei
der drahtlosen Produktionstechnik bei Veranstaltungen,
in Kirchen, in Theatern und Ähnlichem mitgenutzt.
Nach dem 31. Dezember 2015 stehen den Nutzern
drahtloser Mikrofonanlagen diese Frequenzen nicht
mehr zur Verfügung. Folge könnte sein, dass Kosten für
Neuanschaffungen oder Umstellung auf andere Frequenzbereiche entstehen. Manche Anlagen werden umgestellt werden können, manche nicht. Betroffen hiervon
sind sowohl öffentliche als auch private Kultureinrichtungen.
Der Bundesrat hat im Juni 2009 die Initiative der
Frequenzumstellung begrüßt, weil dadurch die Möglichkeit entsteht, den ländlichen Raum durch schnelle Datenverbindungen zu erschließen und damit seine Attraktivität zu erhöhen. Die Zustimmung ist ihm leicht
gefallen, da die Bundesregierung, vertreten durch den
Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Schauerte,
zugesagt hat, „die Kosten, die sich nachweislich aus
notwendigen Umstellungen bis Ende des Jahres 2015 bei
denjenigen ergeben, die die Frequenzen 790 bis
862 Megahertz bisher nutzen, Rundfunksendeunternehmen und Sekundärnutzer, insbesondere Kultur- und Bildungseinrichtungen, in angemessener Form zu tragen“.
Die Bundesregierung steht nach wie vor zu dieser Zusage. Mit den Anträgen der Opposition sollen Rechtsansprüche auf Übernahme der Kosten geschaffen werden.
Ein solcher Rechtsanspruch setzt voraus, dass alle Zahlen, angefangen von infrage kommenden Anlagen bis zur
Frage einer möglichen Umstellung oder Neuanschaffung, einigermaßen verlässlich vorliegen sollten. In
manchen Fällen wird es sogar möglich sein, Lösungen
mit den Mobilfunkbetreibern zu finden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aus den Anträgen der Opposition allein ist schon ersichtlich, dass das Feststellen der Zahlen nicht so einfach ist. Hier geht die Spannbreite von einigen Millionen
bis zu mehreren Milliarden. Wir als Bundestagsabgeordnete sind dafür verantwortlich, dem Bundeshaushalt unnötige Ausgaben zu ersparen. Das trifft jedenfalls auf
die Regierungsfraktionen zu. Deshalb ist es nicht möglich, einfach Forderungen der Länder zu übernehmen.
Eine Einigung über die Höhe der bereitzuhaltenden
Mittel sollte bis zur morgigen Bereinigungssitzung vorliegen. Wir bedauern, dass dieses Ziel nicht erreicht
wurde. Die Lücke zwischen den Erwartungen der Länder und den Vorstellungen der Bundesregierung konnte
noch nicht geschlossen werden. Mit der Protokollerklärung der Koalitionsfraktionen zeigen wir, dass wir das
Anliegen teilen und durch die „Digitale Dividende“ Benachteiligungen, aber auch Überkompensationen vermeiden wollen.
In einem persönlichen Brief an den Bundeswirtschaftsminister habe ich - zusammen mit meinem Kollegen Poland - auf die Wichtigkeit der Entschädigung für
die Kultureinrichtungen hingewiesen. Weitere Kollegen
haben sich ebenfalls beim Wirtschaftsministerium in
diesem Sinne eingesetzt. Ich bin überzeugt, dass die betroffenen Produktionsstätten mit angemessenen Entschädigungen rechnen können. Den Anträgen der Opposition können wir nicht zustimmen.
Durch die im Mai dieses Jahres durchgeführte Versteigerung von Funkfrequenzen an die Mobilfunkunternehmen werden diese in die Lage versetzt, den Ausbau
der neuen Funktechnologie LTE voranzutreiben, die
hohe Bandbreiten ermöglicht. Dies bietet große Chancen für den notwendigen Netzausbau im Mobilfunk und
insbesondere für eine bessere Breitbandversorgung
auch in ländlichen Räumen. In den Frequenznutzungsbedingungen wurden - auch auf hartnäckiges Drängen
der SPD - Ausbauverpflichtungen festgelegt, nach denen nun schrittweise in unterschiedlichen Stufen jeweils
mindestens 90 Prozent der Bevölkerung angeschlossen
werden müssen.
Um die Versteigerung der Frequenzen zu ermöglichen, wurde im vergangenen Jahr die Frequenzbereichszuweisungsplanverordnung im Bundesrat verabschiedet. Bei den seinerzeitigen Verhandlungen zwischen den
Ländern und dem Bund gab es eine Vereinbarung, die im
Protokoll der damaligen Bundesratssitzung Niederschlag gefunden hat. Danach hat sich der Bund verpflichtet, die Kosten aus notwendigen Umstellungen, die
sich bis Ende des Jahres 2015 bei denjenigen ergeben,
die bislang die betroffenen Frequenzen 790 bis 862 Megahertz nutzen, in angemessener Form zu tragen.
Die SPD-Bundestagsfraktion will mit ihrem Antrag,
den wir heute debattieren, sicherstellen, dass der Bund
seine Zusagen tatsächlich einlöst. Vor allem auch deshalb, weil ansonsten viele städtische Kultureinrichtungen oder auch kleine private Theater die Leidtragenden
wären. Nach dem aktuellen Stand der Gespräche zwischen Bund und den Ländern ist nämlich zu befürchten,
dass die Bundesregierung einen Großteil der betroffenen
Einrichtungen mehr oder weniger im Regen stehen lässt.
Worum geht es hierbei? Zum einen entstehen den
Rundfunksendernetzbetreibern, die bislang einen Teil
der ersteigerten Frequenzen genutzt haben, Kosten aus
technischen Ersatz- und Zusatzbeschaffungen oder Umrüstungen.
Vor allem aber sind auch Kultur- und Bildungseinrichtungen betroffen, die den Frequenzbereich bislang
für Datendienste und Funkmikrofone nutzen. Dabei geht
es beispielsweise um Bühnenproduktionen, Fernsehaufzeichnungen und sonstige öffentliche Veranstaltungen in
Opernhäusern, Theatern oder auch in Kirchen.
Die SPD hat stets darauf gedrängt, dass für alle Betroffenen angemessene Lösungen gefunden werden müssen. Wie ist insofern der Sachstand?
Der Bund plant Folgendes: Bezüglich der Rundfunksendernetzbetreiber ist eine pauschale Erstattung der
Kosten aus technischen Ersatz- und Zusatzbeschaffungen oder Umrüstungen angeboten worden.
Die Feststellung und Anerkennung betriebsnotwendiger Umstellungskosten bei drahtlosen Mikrofonen - um
diese geht es hier im Besonderen - soll in Abhängigkeit
vom tatsächlichen Ausbau der neuen Mobilfunkanwendungen bis maximal 2015 durch das Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle entsprechend einer in
Vorbereitung befindlichen Verwaltungsanweisung erfolgen.
Nun ist es so, dass weder der bislang geplante finanzielle Beitrag des Bundes noch das damit verbundene
Entschädigungsverfahren ausreichend bzw. geeignet erscheinen, um das Problem angemessen zu lösen.
Nach heutigem Stand hat der Bund bislang lediglich
Mittel in Höhe von etwas über 100 Millionen Euro zur
Speisung des Fonds angeboten. Ich kenne keinen Experten, der diese Summe für ausreichend hält. Die Länder
beispielsweise gehen von rund 800 Millionen Euro notwendiger Umstellungskosten aus. Auf jeden Fall wird
wohl ein höherer dreistelliger Millionenbetrag erforderlich sein. Das bisherige Angebot der Bundesregierung
liegt weit dahinter zurück. Es ist zu hoffen, dass in der
heute stattfindenden Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses ein besseres Ergebnis erzielt werden
kann. Bislang sieht es nicht danach aus.
Auch das angestrebte Verfahren ist problematisch,
insbesondere, wenn der Fonds nicht mit ausreichenden
Mitteln bestückt wird. So plant das Finanzministerium,
entsprechend der Abwrackprämie einmalig eine Gesamtsumme für die Erstattung der Umstellungskosten
für drahtlose Produktionsmittel in den Bundeshaushalt
einzustellen. Sind die Mittel aufgebraucht, werden die
Antragsteller, die erst zu einem späteren Zeitpunkt die
Mittel beantragen, nicht mehr berücksichtigt.
Da es voraussichtlich Voraussetzung für den
Anspruch sein wird, dass eine Störung aufgrund der
Nutzung entweder bereits eingetreten ist oder aber in
absehbarer Zeit erfolgt, würde Folgendes passieren:
Zu Protokoll gegebene Reden
Diejenigen, bei denen die Umstellung schon bald erfolgt, hätten noch Glück gehabt, weil sie Geldmittel aus
dem Topf beziehen könnten. Ist jedoch der Fonds erst
einmal leer geräumt, würden alle anderen in die Röhre
schauen. Somit benachteiligt dieses Verfahren alle Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen, die erst im
weiteren Verlauf der Umstellungsfrist konkret von Störungen betroffen sind.
Erschwerend kommt hinzu, dass öffentliche Einrichtungen besonders benachteiligt sind. Denn aufgrund der
verwaltungs- und haushaltsrechtlichen Vorgaben benötigen sie mehr Zeit, bevor sie einen Antrag stellen können. Dies würde im Ergebnis dazu führen, dass die mit
öffentlichen Mitteln finanzierten Einrichtungen erst
recht leer ausgehen müssten.
Von daher ist es notwendig, ein differenziertes Verfahren zu entwickeln, das allen Anspruchsberechtigten eine
faire Chance einräumt und nicht diejenigen bevorzugt,
die nach dem Windhundprinzip als Erste einen Antrag
stellen können. Da gerade auch viele kommunale Einrichtungen betroffen sind, würden ansonsten insbesondere die Kommunalfinanzen zusätzlich belastet.
In diesem Zusammenhang sei ergänzend folgendes
Problem erwähnt: Die Betreiber drahtloser Produktionsmittel werden darauf angewiesen sein, dass die Mobilfunkunternehmen möglichst frühzeitig über ihre Planungen für den jeweiligen Ausbau informieren. Nur so
können sie rechtzeitig die Umstellung der Mikrofone
oder aber die notwendige Neubeschaffung einplanen.
Insofern tragen auch die Mobilfunkunternehmen eine
Verantwortung dafür, dass die Umstellungen reibungslos erfolgen können und Nachteile für alle Beteiligten
unterbleiben. Die Unternehmen sind daher aufgefordert,
die Gespräche mit den Betroffenen möglichst zeitnah
und transparent zu führen. Hier scheint es noch erheblichen Kommunikationsbedarf zu geben.
Nun wird seitens der Bundesregierung argumentiert,
die Frequenzumstellung diene ja auch den Ländern und
Kommunen, weil hierdurch der Ausbau mobiler Breitbandanwendungen vorangetrieben werden könne, von
denen alle profitieren. Deshalb sei es angemessen, dass
sich auch die Länder an den Kosten beteiligen. Diese
Argumentation verkennt jedoch Folgendes: Zum einen
hat sich der Bund ausdrücklich dazu verpflichtet, alle
notwenige Umstellungskosten in angemessener Höhe alleine zu übernehmen. Zum anderen ist es auch gerechtfertigt, dass diese Kosten gänzlich vom Bund getragen
werden. Denn der Bund hat finanziell erheblich von der
Frequenzversteigerung profitiert. Alleine durch den betroffenen Frequenzbereich der sogenannten digitalen
Dividende wurden Versteigerungserlöse in Höhe von
rund 3,6 Milliarden Euro erzielt, die in den Bundeshaushalt und eben nicht in die Länderhaushalte fließen. Von
daher ist es mehr als gerechtfertigt, dass der Bund einen
Teil dieser Erlöse dafür aufwendet, die Folgekosten zu
bewältigen.
Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, ihrer
Verantwortung gerecht zu werden und gegebene Zusagen einzuhalten. Lassen Sie die Kommunen und kleinen
Theater nicht im Regen stehen! Ich bitte Sie vor diesem
Hintergrund um Zustimmung zu unserem Antrag.
Die „Digitale Dividende“ ist ein zentraler Bestandteil
unserer Breitbandstrategie, weil sie den Telekommunikationsunternehmen eigene wirtschaftliche Anreize gibt,
in die flächendeckende Versorgung gerade der ländlichen Regionen mit leistungsfähigen Internetanschlüssen zu investieren. Denn nur wenn neben modernen,
leitungsgebundenen Netzen auch leistungsstarke Funktechnologien zum Einsatz kommen, das zur Verfügung
stehende Spektrum an Funkfrequenzen also effizient genutzt wird, können die sogenannten „weißen Flecken“
im ländlichen Raum Deutschlands geschlossen und die
europäische Strategie eines digitalen Binnenmarkts umgesetzt werden.
Das fragliche Frequenzspektrum ist begrenzt. Damit
es im Sinne der Breitbandstrategie genutzt wird, darf die
Nutzungsmöglichkeit nicht allein den Kräften des Mobilfunkmarktes überlassen werden. Die Bundesnetzagentur reguliert den Wirtschaftsmarkt auf diesem Sektor deshalb pro-aktiv unter Berücksichtigung aller
Interessen, also gleichermaßen wirtschaftlicher wie
ideeller. Ziel unserer Frequenzpolitik ist die Sicherstellung einer effizienten und störungsfreien Frequenznutzung unter Gewährleistung eines chancengleichen und
funktionsfähigen Wettbewerbs.
Durch die jüngste Zuteilung im August dieses Jahres
wurden sowohl ehemals militärisch genutzte als auch
die durch die Umstellung auf digitalen Rundfunk frei gewordenen Frequenzen als sogenannte „Digitale Dividende“ zur Umsetzung der Breitbandstrategie an die
Mobilfunkunternehmen vergeben. Hiervon eingeschlossen
waren auch Frequenzen im Bereich 790 bis 862 Megaherz, die als wichtiges Element einer unterstützenden
Frequenzpolitik Engpässe ausgleichen sollen. Noch bis
2015 stehen diese Frequenzen auf Grundlage einer Allgemeinzuteilung der Bundesnetzagentur dem Rundfunk
sowie den Nutzern drahtloser Produktionstechnik, wie
eben Funkmikrofonanlagen es sind, zur Verfügung.
Für den Zeitraum ab 2015 hat die Bundesnetzagentur
alternative Frequenzen zur Nutzung durch Funkmikrofontechnik zugeteilt und veröffentlicht. Frequenzen im
Bereich von 1785 bis 1800 Megaherz standen ohnehin
schon vor der Neuzuteilung an die Mobilfunkunternehmen als Alternative zur Verfügung.
Insofern beugt die Bundesregierung bereits im Vorfeld der tatsächlichen Nutzung durch den Mobilfunk im
Jahr 2015 Störungen vor, und es bleibt jedem Funkmikrofonbetreiber unbenommen, bei der Bundesnetzagentur sehr kostengünstig Einzelzuteilungen in anderen
Frequenzbereichen zu beantragen. Hierfür kommt namentlich der untere UHF-Bereich zwischen 470 bis
790 Megaherz in Betracht, mit Ausnahme von 606 bis
614 Megaherz. Innerhalb dieses Bereiches können die
tatsächlichen Betriebsfrequenzen in dem jeweils zugeteilten Frequenzbereich durch den Zuteilungsinhaber
selbst ausgewählt werden, sofern vorrangige AnwenZu Protokoll gegebene Reden
dungen, insbesondere der Fernsehempfang, nicht gestört werden.
Damit ist ein wichtiges Ziel erreicht: Die Nutzer
drahtloser Produktionstechnik haben auch für den Zeitraum nach 2015 Planungssicherheit bezüglich der
Frage, auf welchen Frequenzen drahtlose Mikrofone
und andere Bühnentechnik künftig funken dürfen.
Im Übrigen ergab sich auch aus der geltenden Allgemeinzuteilung keinesfalls Bestandsschutz für die bisherigen Nutzer. Denn es ist der Frequenzzuteilung immanent, dass sie nur befristet erfolgt, um flexibel auf
technische Entwicklungen reagieren zu können. Allerdings soll den bisherigen Nutzern auch kein Nachteil
durch den Wechsel auf andere Frequenzen entstehen.
Bereits im Vorfeld der Frequenzzuteilung zeichnete
sich ab, dass einige Rundfunksendeunternehmen und Sekundärnutzer, nämlich insbesondere Kultur- und Bildungseinrichtungen, ihre Technik umrüsten oder sogar
gänzlich erneuern müssen, weil ihre Technik sich nicht
in einen anderen Frequenzbereich umschalten lässt. Wir
unterstützen ausdrücklich die Zusage seitens des Bundeswirtschaftsministeriums, in diesen Fällen eine Zuwendung nach § 23 BHO zu gewähren.
Diese Zusage war aber bereits ein wesentlicher
Bestandteil des Kompromisses mit den Ländern zur Bundesratsentscheidung über die Frequenzbereichszuweisungsplanverordnung, sodass die Frage, ob es Entschädigungen geben wird, längst entschieden ist: Der Bund
wird die Umstellungskosten insbesondere der Kulturund Bildungseinrichtungen in angemessener Form tragen.
Was in diesem Zusammenhang angemessen ist, ist naturgemäß umstritten. Die Höhe der Zuwendungen wird
derzeit zwischen Bund und Ländern verhandelt. Wir haben bereits bei der Beratung der vorliegenden Anträge
im Kulturausschuss deutlich gemacht, dass Nachteile
gerade für Kultur- und Bildungseinrichtungen vermieden werden müssen.
Angesichts der Bemühungen aller Ressorts, den
Haushalt zu konsolidieren, werden wir aber weder das
Füllhorn noch die Gießkanne ausschütten. Vielmehr fordern wir von den betroffenen Einrichtungen den konkreten Kostennachweis und interpretieren die dem Antrag
der Linksfraktion zugrunde liegenden Zahlen als Hoffnung auf umfassende Sanierungszuschüsse. Denn aus
Gesprächen mit Betroffenen kann ich berichten, dass
viele Einrichtungen auf die Umrüstungen eingestellt
sind und entsprechende Rücklagen gebildet haben. Deren Nachteile durch die nötigen vorzeitigen Neuinvestitionen sollen mit den geplanten Zuwendungen ausgeglichen werden, ohne sie aus ihrer betriebswirtschaftlichen
Verantwortung für die Instandhaltungskosten zu entlassen. Insofern fordern wir als Voraussetzung einer Zuwendung den Nachweis, dass die betroffene Einrichtung
ihre Technik nur aufgrund der Frequenzzuteilung umrüsten muss, obwohl sie im Übrigen funktionstauglich
ist.
Derzeit erarbeitet eine Arbeitsgruppe von Bundeswirtschaftsministerium und Bundesfinanzministerium
mit den Ländern ein Verfahren der Kostenermittlung.
Wir wollen dieser Arbeitsgruppe nicht vorgreifen und
insbesondere keine Vorfestlegung auf die Ermittlung des
Buchwerts treffen. Dies wäre ohnehin nur bei gewerblichen Nutzern möglich; es gibt aber auch eine Reihe von
nicht gewerblichen Nutzern - Amateurtheater, kirchliche Einrichtungen und Ähnliche -, für die eine solche
Kostenermittlung nicht anwendbar wäre. Die Kostenermittlungsmethode muss vielmehr auf alle Nutzer gleichermaßen anwendbar sein.
Im Ergebnis kann nur eine Kostenerstattung von kausalen Kosten der Umstellung erfolgen; eine Überkompensationen gilt es dabei zu vermeiden.
Heute beraten wir in diesem Hause abschließend
unseren Antrag, kulturelle Einrichtungen vor Folgeschäden aus der Frequenzversteigerung der digitalen
Dividende zu bewahren. Zur Erinnerung seien die wichtigsten Fakten nochmals in aller Kürze zusammengefasst. Die Bundesnetzagentur hat Frequenzen, die durch
die Umstellung der terrestrischen Fernsehübertragung
von anlog auf digital frei geworden sind, für insgesamt
4,38 Milliarden Euro versteigert. Die mit diesem Vorgang verbundene Umwidmung des betreffenden Frequenzbereichs führt dazu, dass die in Kultureinrichtungen derzeit üblichen drahtlosen Mikrofone nicht mehr
genutzt werden können. Die Kosten für eine entsprechende Umrüstung werden auf bundesweit bis zu
3,3 Milliarden Euro geschätzt.
Wenn die Bundesregierung angesichts dieses Sachverhalts erklärt, sie wolle die betroffenen Einrichtungen
grundsätzlich für die erforderlichen Um- und Nachrüstungen entschädigen, ist dies als erster kleiner Schritt in
die richtige Richtung natürlich zu begrüßen. Wir sind allerdings nach wie vor der Ansicht, dass die Bundesregierung mehr tun muss. Zunächst muss klargestellt werden,
dass ein etwaiger Ausgleich von Kosten für Um- und
Nachrüstung nicht unter einen Vorbehalt gestellt wird.
Nicht nachvollziehbar ist für uns in diesem Zusammenhang das Argument, ein vollumfänglicher Ersatz der
notwendigen Um- und Nachrüstkosten sei wegen der
Haushaltslage des Bundes nicht möglich. Wie bereits
eingangs ausgeführt, sind dem Bundeshaushalt durch
die Versteigerung Mittel zugeflossen, die deutlich über
dem Wert liegen, der für einen vollumfänglichen Ersatz
der Umrüstkosten angesetzt wird. Auch wenn die Versteigerungserlöse haushaltsrechtlich nicht an einen bestimmten Zweck gebunden werden dürfen, darf bei der
Diskussion nicht außer Acht bleiben, dass der Bund
durch die Versteigerung immerhin zusätzliche Einnahmen erzielt hat.
Nicht hinnehmbar ist für uns auch die Einschränkung, dass der Bund - wenn überhaupt - lediglich Entschädigungen in angemessener Höhe leisten will. Der
Antrag der Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundestagsfraktion spricht in diesem Zusammenhang bedauerlicherweise ebenfalls nur von einer angemessenen Entschädigung. Für uns kann nur dann sichergestellt
werden, dass kulturelle Einrichtungen an dieser Stelle
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht zu Leidtragenden der technischen Entwicklung
werden, wenn durch den Bund in voller Höhe Ersatz für
die tatsächlich anfallenden Kosten geleistet wird. Insoweit besteht Übereinstimmung mit den Kolleginnen und
Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die dieses Ziel durch Schaffung einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage ebenfalls erreichen wollen. Geradezu
absurd sind die Vorstellungen, die offenbar bei einigen
Mitgliedern der Regierungskoalition bestehen, es sei mit
einem Missbrauch von Bundesgeldern durch die kulturellen Einrichtungen zu rechnen. Gleiches gilt für Befürchtungen, es könnte zu einer Überkompensation kommen.
Wenig zielführend sind auch Verdachtsäußerungen,
die Länder könnten versuchen, die Situation der Frequenzumstellung zu nutzen, um die Übernahme von ohnehin notwendigen Investitionen durch den Bund zu
erreichen, um so zu Einsparungen in ihren eigenen Kulturetats zu kommen. Es sei gerade in diesem Zusammenhang nochmals daran erinnert, dass die Träger der kulturellen Einrichtungen in vielen Fällen die Kommunen
sind. Es wäre nicht das erste Mal, dass finanzielle Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern im Ergebnis dazu führen, dass das schwächste Glied in der
Kette, nämlich die Kommunen, auf den Kosten - auf
deren Entstehung sie keinen Einfluss hatten - sitzen bleiben. Bei der aktuellen Finanzkrise fällt es vielen Kommunen ohnehin schwer, ihr Angebot an kulturellen Einrichtungen für die Bürger aufrechtzuerhalten. Um- und
Nachrüstkosten, die im Einzelfall auch einen sechsstelligen Betrag erreichen, können in Kommunen mit angespannter Haushaltslage für einzelne kulturelle Einrichtungen schnell zu einem existenziellen Problem werden.
Es geht mithin auch darum, die finanziellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein vielfältiges kulturelles Angebot weiterhin bestehen kann. Ich bitte daher
um Zustimmung zu unserem Antrag.
Frequenzen sind ein knappes Gut. Fernsehen, Radios,
Theater, Musikbühnen, Kongresszentren und natürlich
Mobilfunkbetreiber nutzen Frequenzen, und für sie alle
sind Frequenzen ebenso elementar wie die Schienen für
die Eisenbahn. Ohne Frequenzen könnten wir Fernsehprogramme nur über Kabel empfangen, unterwegs kein
Radio hören, wir könnten unsere Handys nicht nutzen
und auf der Musikbühne müssten Sänger mit Kabeln herumlaufen. Kurzum: Drahtlose Dienste sind nur mit Frequenzen nutzbar, so wie die Eisenbahn Schienen zum
Fahren braucht. Für die Nutzung von Frequenzen muss
- genauso wie bei der Bahn - die richtige Infrastruktur
geschaffen werden, und das kostet Geld. So haben viele
Bühnen Mikrofonanlagen angeschafft, um drahtlose
Dienste zu nutzen und so mit der Zeit zu gehen.
Im Frühjahr dieses Jahres wurde nun für rund 4 Milliarden Euro ein Teil dieses knappen Guts versteigert.
Um es hier deutlich zu sagen: Es war die richtige Entscheidung, dieses Frequenzspektrum an den Mobilfunk
zu geben, und zwar unter der Bedingung, den ländlichen
Raum auf dem mobilen Weg an das schnelle Internet anzubinden. Auf dem Funkweg sollen die weißen Flecken
der Breitbandversorgung geschlossen werden. Das ist
eine Chance, das Internet in ländliche Regionen zu bringen. Denn es ist teuer, Breitbandkabel bis an jede Haustür zu verlegen. Bis heute sind immer noch Tausende
Haushalte vom schnellen Internet - wenn sie überhaupt
einen Internetzugang haben - ausgeschlossen. Gerade
in ländlichen Regionen ist das ein gravierender Standortnachteil für die Bevölkerung und vor allem auch für
die regionale Wirtschaft. Nicht nur in meinem Bundesland ist das ein großes Problem.
Was aber passiert, wenn man Frequenzen neu zuteilt?
Welche Folgen hat dies für die bisherigen Nutzer, also
beispielsweise die Theater- und Musikbühnen, die zukünftig andere Frequenzen nutzen müssen? Das ist so,
als würde der Bahn ein neues Schienennetz zugewiesen
werden, bei dem beispielsweise der Abstand zwischen
den Gleisen geringer wäre. Dann müsste die Bahn ihre
Züge umkonstruieren oder neue erwerben, um das
Schienennetz nutzen zu können. Diese Umstellung ist
ebenfalls mit hohen Kosten verbunden.
So ähnlich geht es den bisherigen Nutzern der im
April versteigerten Frequenzen. Diese bekommen nun
einen neuen Platz im Äther zugewiesen. Allerdings können die alten Geräte nicht alle einfach auf einen neuen
Frequenzbereich umgestellt werden und müssen neu erworben werden. Diese Folgekosten, die in der Summe
die Milliardengrenze überschreiten können, wurden leider bei der Entscheidung der Frequenzumwidmung
nicht ehrlich angesprochen. Sicher ist aber, dass wir
heute ein Problem haben. Deshalb haben die Fraktionen
der Opposition Anträge zu diesem Thema gestellt.
Auch der Rundfunk ist von der Umverteilung der Frequenzen betroffen. Der Rundfunk hat diese Frequenzen
zuvor genutzt - benötigt nun aber durch die Digitalisierung weniger davon. Deshalb haben Rundfunknutzer
Platz gemacht, damit die Frequenzen anders genutzt
werden können. Allerdings kann der Rundfunk jetzt von
Störungen betroffen sein. Denn die mobilen Endgeräte,
zum Beispiel Smartphones, können die Übertragung von
Rundfunk via DVB-T stören. Mann stelle sich vor: Mein
Nachbar geht mit dem Handy ins Internet und deshalb
krisselt dann möglicherweise der Bildschirm meines
Fernsehers. Auch diese Folgen zu beheben, wird Geld
kosten.
Ich hoffe, diese Beispiele machen Ihnen deutlich, welche Folgen wir durch diese Entscheidung haben. Die
Bundesregierung wird ihrer Verantwortung hier nicht
gerecht. Die Bundesregierung hat den Ländern bei den
Verhandlungen zwar die Kostenerstattung zugesagt, war
aber geschickt genug, diese nicht als Rechtsanspruch
festzulegen. Die Länder, die für die Frequenzzuteilung
zuständig sind und nur unter der Bedingung zugestimmt
hatten, entsprechend entschädigt zu werden, führen
deshalb nun zähe Verhandlungen mit unserer Bundesregierung. Sie müssen um Geld bitten, das der Bund überhaupt nicht hätte, wenn der Rundfunk und die Funkmikrofonnutzer nicht ihren Platz geräumt hätten. Der
Bund hat durch die Versteigerung der Frequenzen im
Frühjahr rund 4 Milliarden Euro eingenommen, stellt
Zu Protokoll gegebene Reden
aber bislang nur eine Entschädigungssumme von
125 Millionen Euro zur Verfügung. Das ist eine Schieflage und geht zulasten der Kommunen, die vom Bund
durch die Politik der letzten Jahre ohnehin schon in eine
miserable finanzielle Lage gebracht wurden.
Wir Grüne setzen uns für einen schnellen Ausbau von
Breitband im ländlichen Raum ein. Deshalb haben wir
es begrüßt, dieses Ziel mit der Vergabe von Frequenzen
an den Mobilfunk zu verknüpfen. Allerdings haben wir
ein Problem damit, dass sich der Bund die Einnahmen
aus der Versteigerung in die Tasche steckt und die Leidtragenden der Frequenzumstellung im Regen stehen
lässt. Mit unserem grünen Antrag fordern wir deshalb,
den Geschädigten der Frequenzumstellung einen
Rechtsanspruch auf Entschädigung einzuräumen, damit
diese nicht auf den Kosten für die Umstellung sitzen
bleiben. Nur auf diesem Weg bekommen Theater, Konzerthäuser und Rundfunkveranstalter die nötige finanzielle Sicherheit.
Die Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung, die sich bei der Bahn um die entsprechende Infrastruktur kümmern, bitte ich: Setzen Sie die Kultur wieder
aufs richtige Gleis, damit Rundfunk und Bühnen freie
Fahrt haben. Deshalb bitte ich um die Unterstützung unseres Antrags.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/3694. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3177 mit dem Titel „Betroffene Kultureinrichtungen nach Frequenzumstellung für drahtlose Mikrofone
angemessen entschädigen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion
und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion die Linke angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion die Linke auf Drucksache
17/2416 mit dem Titel „Kulturelle Einrichtungen vor Folgeschäden aus der Frequenzversteigerung der digitalen
Dividende bewahren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion
die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2920 mit dem Titel „Kultur und Rundfunk
nicht durch die Frequenzumstellung schädigen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion die Linke sowie bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur
Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksachen 17/3631, 17/3683 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Wir debattieren heute den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu einem Siebten Gesetz zur Änderung des
Sozialgesetzbuchs II; konkret geht es dabei um die
Frage, wie und in welcher Höhe die Beteiligung des
Bundes an den Kosten für Unterkunft und Heizung für
das Jahr 2011 geregelt werden soll.
Nach den Vorstellungen der Bundesregierung soll die
Beteiligung des Bundes um 1,5 Prozentpunkte auf dann
durchschnittlich 25,1 Prozent steigen. Das führt zu einer
Entlastung der Kommunen um 2,5 Milliarden Euro und
leistet damit einen deutlichen Beitrag zur Verbesserung
der finanziellen Situation in den Kommunen. Damit lösen
die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen
aus Union und FDP auch eine Zusage aus dem Koalitionsvertrag ein, was in der gegenwärtig durchaus angespannten Finanzlage sowohl des Bundes als auch der
Kommunen ein beachtenswerter Vorgang ist.
Nach den Vorgaben des § 46 Abs. 7 und 8 SGB II ist
die Höhe der Bundesbeteiligung an den Kosten von Unterkunft und Heizung ab 2008 dann anzupassen, wenn
die Veränderung in der Zahl der Bedarfsgemeinschaften
im Jahresdurchschnitt mehr als 0,5 Prozent beträgt. Das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat eine solche Veränderung von 2,2 Prozent errechnet. Damit sind
die Voraussetzungen für eine Anpassung gegeben.
Wenn ich mir die Diskussionen zum Thema Kosten
der Unterkunft im Ausschuss für Arbeit und Soziales,
etwa die am 30. November des Vorjahres durchgeführte
Anhörung, ins Gedächtnis zurückrufe, ist wohl zu erwarten, dass wir nach dieser ersten Lesung im Ausschuss
neben der Höhe der Bundesbeteiligung auch wieder die
grundsätzliche Frage diskutieren, ob die Veränderung in
der Zahl der Bedarfsgemeinschaften der richtige Berechnungsmodus ist oder nicht. Deswegen will ich
gleich an dieser Stelle eine Bemerkung zur Genese dieser Berechnungsmethode machen:
Die Anpassungsformel wurde 2007 von der Großen
Koalition aus Union und SPD unter der Federführung
des seinerzeitigen Arbeitsministers Olaf Scholz eingeführt. Seinerzeit bestand Konsens darüber, dass die Zahl
der Bedarfsgemeinschaften respektive deren zahlenmäßige Veränderung die Grundlage für die Berechnung des
Bundesanteils bilden soll. Ich bin gespannt, wie sich unser
früherer Koalitionspartner SPD in der anstehenden Diskussion einlässt, wenn die christlich-liberale Koalition
nun die Fortsetzung eines damals gemeinsam als richtig
erkannten Weges beschreitet.
Und ich füge an: Sollte sich auch an diesem Punkt
zeigen - wie etwa bei der heute Nachmittag geführten
Debatte um die Rente mit 67 -, dass Sie Ihre eigene Vergangenheit als Bundesregierung herzlich wenig interessiert, wenn es darum geht, die Linkspartei links überholen
zu wollen, dann ist dies alles andere als glaubwürdig.
Sie sollten die Menschen nicht für vergesslicher halten,
als sie tatsächlich sind.
Mir ist wohl bewusst, dass es bei der grundsätzlichen
Frage, ob die Berechnungsmethode geeignet ist, beispielsweise zwischen dem Deutschen Landkreistag und
den Koalitionsfraktionen aus Union und FDP unterschiedliche Auffassungen gibt. Nur: Wer vor drei Jahren
als Bundesregierung dem Deutschen Landkreistag widersprochen hat, kann ihm heute als Opposition schlecht
beipflichten. So etwas fällt auf.
Um einen Satz zu der Berechnungsmethode selbst zu
sagen: Ich habe nach wie vor meine deutlichen Zweifel,
ob die Orientierung an den tatsächlichen kommunalen
Ausgaben für Unterkunft und Heizung den zielführenderen Weg darstellt. Es ist wohl schlecht zu bestreiten, dass
dieser Weg hinsichtlich des Verwaltungsaufwandes, um
es einmal vorsichtig zu formulieren, der anspruchsvollere ist. Wenn wir an anderer Stelle, etwa beim Thema
Steuerrecht, aus meiner Sicht richtigerweise den Weg
über eine Ausweitung von Pauschalen diskutieren, um
insbesondere die Bürokratiekosten für alle Beteiligten
im Zaum zu halten, dann sollten wir beim Thema Kosten
der Unterkunft nicht das konkrete Gegenteil dessen tun.
Ich fasse zusammen: Der Bund wird mit dem vorgelegten Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums
seiner im SGB II festgelegten Verantwortung zur
Kofinanzierung der Kosten für Unterkunft und Heizung
gerecht. Der Bund leistet mit den sich aus der Kostenbeteiligung ergebenden finanziellen Entlastung der Kommunen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro trotz eigener
Haushaltsnöte, die wir in diesen Stunden bei der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses deutlich erleben können, einen wichtigen und guten Beitrag zur Stabilisierung der kommunalen Kassen. Es ist ein Beitrag,
der gleichzeitig Armut und sozialer Ausgrenzung vorbeugt und damit den sozialen Zusammenhalt in unserem
Land stärkt.
Ich freue mich auf konstruktive und zügige Beratungen im Ausschuss für Arbeit und Soziales, damit das Gesetz pünktlich zum 1. Januar des kommenden Jahres in
Kraft treten kann.
Zur jährlichen Anpassung der Unterkunftskosten reiben sich Bund und Länder immer wieder aneinander, so
auch im Vorfeld des Siebten Gesetzes zur Änderung des
SGB II.
Die Beteiligung des Bundes an den Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von bundesdurchschnittlich 25,1 Prozent im Jahr 2011 gewährleistet, dass die
Kommunen entsprechend § 46 Abs. 5 SGB II in angemessenem Umfang entlastet werden. Für den Bund würden
diese Beteiligungssätze im Jahr 2011 voraussichtlich zu
einer finanziellen Belastung in Höhe von rund 3,6 Milliarden Euro führen. Gegenüber dem Haushaltssoll 2010
von 3,4 Milliarden Euro wird der Bund damit um rund
0,2 Milliarden Euro mehr belastet.
In diesem Zusammenhang möchte ich nur erwähnen:
Der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement
war der Meinung, der Bund müsse sich nicht an den
Kosten für Unterkunft und Heizung beteiligen, weil die
Entlastung der Kommunen um 2,5 Milliarden Euro
schon ohne die Bundesbeteiligung erreicht werde. Dem
hat die Union immer widersprochen. Sie hat in der Großen Koalition durchgesetzt, dass sich der Bund angemessen an den Kosten beteiligt.
Das in § 46 SGB II ursprünglich vorgesehene Verfahren, die Höhe der Bundesbeteiligung auf der Grundlage
einer jährlichen Be- und Entlastungsrechnung für die
Kommunen anzupassen, wie es in den ersten beiden Jahren praktiziert wurde, hatte sich als nicht zweckmäßig
erwiesen. Dennoch waren alle Beteiligten der Auffassung, dass auf eine jährliche Anpassung der erforderlichen Höhe der Bundesbeteiligung nicht verzichtet werden kann. Aus diesem Grund haben Bund und Länder
gemeinsam nach intensiven Verhandlungen Ende 2006
einen Kompromiss mit zwei wesentlichen Elementen gefunden. Dieser wurde anschließend im SGB-II-Änderungsgesetz vom 22. Dezember 2006 festgehalten und
gab dem § 46 SGB II seine derzeitige Fassung.
Der Kompromiss von 2006 war mit einem finanziellen
Entgegenkommen des Bundes verbunden: Die Bundesbeteiligung für das Jahr 2007 wurde auf durchschnittlich 31,8 Prozent festgelegt. Dies entsprach einem seinerzeit erwarteten Finanzvolumen von rund 4,3 Milliarden Euro, das auch tatsächlich erreicht wurde. Allein
in der letzten politischen Abstimmungsrunde hat der
Bund ein Zugeständnis von 400 Millionen Euro gemacht. Darüber hinaus hat der Bund damals der Forderung der Länder nach gesonderten Länderquoten nachgegeben.
Das andere wesentliche Element des Kompromisses
war, dass die Höhe der Bundesbeteiligung in den Jahren
ab 2008 nach einer belastbaren und gemeinsam festgelegten Formel berechnet wird. Der Bundesrat hat am
15. Dezember 2006 mit breiter Mehrheit dieser Formel
zugestimmt, wonach die Höhe der Bundesbeteiligung
jährlich in Abhängigkeit von der Entwicklung der Zahl
der Bedarfsgemeinschaften verändert wird.
Bund und Länder haben sich im Übrigen 2008 auf die
unbefristete Beibehaltung der Anpassungsformel verständigt. Diese Verständigung erfolgte im Rahmen weiterer zusätzlicher Entlastungen der Kommunen durch
den Ausbau gegenüber dem Arbeitslosengeld II vorrangiger Leistungen wie Kinderzuschlag und Wohngeld.
Dadurch konnten die rund 70 000 Bedarfsgemeinschaften, die ausschließlich aufstockende Wohnleistungen der
Zu Protokoll gegebene Reden
Kommunen bezogen, die Hilfebedürftigkeit verlassen.
Darüber hinaus war die Entfristung der Anpassungsformel mit einer weiteren zusätzlichen Entlastung bei der
Bundesbeteiligung bei der Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsminderung nach § 46 a SGB XII verbunden.
Indem er sich bewusst an der Zahl der Bedarfsgemeinschaften orientiert, trägt der Bund das arbeitsmarktliche Risiko. Demgegenüber sind die anfallenden
Kosten der Unterkunft und Heizung der einzelnen Bedarfsgemeinschaften vor Ort von den Kommunen zu
steuern. Die Prüfung, ob und wie angemessen die Wohnkosten in den Einzelfällen sind, ihre Steuerung und
Finanzierung sind Aufgabe der Kommunen. Das zeichnet die Kommunen mit ihren speziellen Orts- und Fachkompetenzen, aber auch mit der damit verbundenen Verantwortung aus.
Eine Anpassung der Bundesbeteiligung an die tatsächlichen Aufwendungen der Kommunen wäre nicht
sachgerecht. Zunächst würden hierdurch jegliche Kostenschwankungen bei den Wohnkosten durch den Bund
getragen werden. Das würde auch solche einschließen,
die die Kommunen ohne die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende ohnehin hätten übernehmen müssen, zum Beispiel allgemeine Preissteigerungen. Des Weiteren würde eine solche Berechnungsbasis
die Anreize der Kommunen, die Angemessenheit der
Wohnkosten zu prüfen, erheblich reduzieren.
Aus dieser Position heraus ist auch für 2011 keine Alternative zur Anwendung der gesetzlich festgelegten Anpassungsformel zu sehen. Um eine gesetzliche Grundlage für die Bundesbeteiligung für 2011 sicherzustellen,
hat das Kabinett am 13. Oktober 2010 dem Entwurf für
ein Siebtes Gesetz zur Änderung des SGB II zugestimmt. Demnach wird die Bundesbeteiligung im Jahr
2011 auf bundesdurchschnittlich 25,1 Prozent steigen.
Ich will zusammenfassen: Der vorliegende Anpassungsentwurf ist sachgerecht. Dabei nehmen wir die finanziellen Sorgen der Kommunen sehr ernst. Bei allen
Änderungen, die es in den letzten Jahren gegeben hat,
hat der Bund immer wieder Zugeständnisse an die kommunale Seite gemacht. Dieser Bundesregierung sind das
Miteinander mit den Kommunen und ein partnerschaftlicher Umgang sehr wichtig.
Die Höhe der Bundesbeteiligung bei den Kosten der
Unterkunft ist ein wichtiges, ständig wiederkehrendes
Thema. Hintergrund ist die gesetzlich festgeschriebene
Anpassungsformel gemäß § 46 Absatz 7 und 8 SGB II.
Das haben so die Länder und der Bund 2007 vereinbart. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung soll der Beteiligungssatz des Bundes für die
zweckgebundenen Leistungen der kommunalen Träger
für Unterkunft und Heizung nun erneut angepasst werden. Das geschieht nicht zum ersten Mal, denn wir haben uns bei der Festlegung der Beteiligung bewusst dafür entschieden, dass regelmäßig, nämlich Jahr für Jahr,
eine Überprüfung der Höhe und gegebenenfalls eine
Neubemessung erfolgen muss.
Steigt die jahresdurchschnittliche Zahl der Bedarfsgemeinschaften um mehr als 0,5 Prozent, dann ist die
Höhe der Bundesbeteiligung zwingend nach der im
SGB II ausgewiesenen Formel neu zu berechnen und zu
erhöhen. Bei einer Veränderung der Bedarfsgemeinschaften um plusminus 1 Prozent erfolgt eine Anpassung
des Beteiligungssatzes um plusminus 0,7 Prozent.
Mit dieser Anpassungsformel haben wir uns schon
des Öfteren beschäftigt. Zunächst war sie befristet, seit
2008 gilt sie unbefristet. Auch wenn sie die Länder und
der Bund einvernehmlich beschlossen haben, so führt
sie doch immer wieder zu Unmut bei den Kommunen,
weil dort die Kosten entstehen.
Der vorliegende Entwurf sieht für 2011 Änderungen
vor. Die Kommunen bekommen mehr Geld! - Das ist
Fakt. Ursache ist aber nicht das Wohlwollen der Regierungskoalition, sondern die Berechnungsgrundlage,
nämlich die durchschnittliche Zahl der Bedarfsgemeinschaften. Sie hat sich im Jahresdurchschnitt im Vergleich der Betrachtungszeiträume Juli 2008 bis Juni
2009 und Juli 2009 bis Juni 2010 bundesweit von
3 528 362 auf 3 606 032 Millionen erhöht - also um
2,2 Prozent.
Dementsprechend muss die Bundesbeteiligung bei
den Kosten der Unterkunft steigen: Für 2011 bedeutet
das eine Erhöhung um 1,5 Prozent.
Für 14 Bundesländer - darunter Brandenburg, aus
dem ich komme - heißt das, dass der Beteiligungssatz
von aktuell 23,0 Prozent auf 24,5 Prozent steigt. Ausnahmen gibt es nach wie vor für die Länder Rheinland-Pfalz
und Baden-Württemberg. Der Beteiligungssatz für
Rheinland-Pfalz steigt von 33,0 auf 34,5 Prozent, die
Bundesbeteiligung für Baden-Württemberg von 27,0 auf
28,5 Prozent. Auch darüber gibt es Einvernehmen mit
dem Bundesrat. Für den Bund führen diese Beteiligungssätze im Jahr 2011 voraussichtlich zu einem Anstieg der finanziellen Belastung um mindestens 0,2 Milliarden Euro, sodass sich der Haushaltsansatz von
derzeit 3,4 Milliarden Euro erhöhen muss. So weit die
aktuelle Rechtslage und die Fakten wie sie sich aus dem
SGB II ableiten. Doch nur auf den ersten Blick scheinen
dem Gesetzentwurf mit seinen Änderungen zur Höhe der
Bundesbeteiligung keine Bedenken entgegenzustehen.
Rein rechnerisch ist die Vorlage nicht zu beanstanden.
Sie ergibt sich aus dem Gesetz. So ist es beschlossen.
Auf den zweiten Blick - und ich möchte ihn als „Blick
hinter die Kulissen“ formulieren - sieht sich der Gesetzentwurf der Bundesregierung aber erheblicher Kritik
ausgesetzt. Dabei geht es allerdings um Grundsätzliches
und nicht um die konkrete Höhe der prozentualen Beteiligung, wie sie für das Jahr 2011 berechnet werden
muss. Der „Haken“ liegt vielmehr in der Anpassungsformel selbst. Die Gegenvorstellungen zur derzeitigen
Regelung sind nicht neu. Die wesentlichen Kritikpunkte
aus den vorangegangenen Diskussionen, vorgetragen
vor allem von den Ländern, möchte ich deshalb wie folgt
zusammenfassen:
Erstens. Es wird eine Änderung der Anpassungsformel gefordert. Die Höhe der Bundesbeteiligung soll sich
Zu Protokoll gegebene Reden
danach nicht mehr an der Entwicklung der Bedarfsgemeinschaften orientieren. Stattdessen wollen die Länder
die Berechnung des Beteiligungssatzes entsprechend der
tatsächlichen Ausgaben für Unterkunft und Heizung.
Zweitens. Der bisherige Beteiligungssatz des Bundes
- und so auch der mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
für 2011 neu angepasste - spiegele nicht die tatsächliche
Kostenentwicklung wider. Die gesetzlich vorgeschriebene Entlastung der Kommunen in Höhe von 2,5 Milliarden werde nicht erreicht.
Beides hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme zu
dem Gesetzentwurf vom 5. November wieder sehr klar
und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.
Ich nehme die Kritik der Länder sehr ernst. Wenn in
den Jahren 2007 bis 2010 aufgrund der derzeitigen gesetzlichen Anpassungsformel Finanzierungslücken entstanden sind, die zulasten der kommunalen Haushalte
gehen, sind wir aufgefordert, die Neubemessung anhand
der jahresdurchschnittlichen Veränderung der Zahl der
Bedarfsgemeinschaften zu überdenken. Wie in vielen anderen Bereichen ist auch hier die Überprüfung geboten,
wenn sich Probleme zeigen. Eine einmal gefundene und
im Gesetz seit 2007 verankerte Formel ist nicht für alle
Zeiten festgeschrieben. Sie muss jederzeit änderbar
sein, wenn dies gerechtfertigt ist. Die vom Gesetzgeber
2004 ausdrücklich im Rahmen der Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft gewollte Entlastung
der Kommunen muss in der Realität auch sichergestellt
werden.
Nach den Berechnungen des Deutschen Landkreistages, auf die sich der Bundesrat stützt, müsste der Beteiligungssatz bei Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten immerhin bei 35,9 Prozent liegen! - Im Verhältnis
zur aktuellen Berechnung für 2011 mit bundesdurchschnittlich 25,1 Prozent also ein Unterschied von
10,8 Prozent! Gründe dafür gibt es viele: gestiegene
Energiekosten, höhere Mieten usw.
Aber viel gravierender ist der finanzielle Einschnitt
für die Kommunen durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Das hat Schwarz-Gelb beschlossen. Die
Folge sind Einnahmeausfälle bei den Kommunen in Höhe
von rund 1,6 Milliarden Euro. Diese müssen die Kommunen allein vollständig kompensieren. Dass dies unmöglich ist, haben wir erkannt und mit unserem Antrag „Rettungsschirm für Kommunen“ mit vielen Forderungen im
März dieses Jahres in den Deutschen Bundestag eingebracht. Unser Ziel muss es sein, handlungsfähige Städte,
Gemeinden und Landkreise zu haben. Das ist die Basis unserer Demokratie. Die Steuergesetzgebung der schwarzgelben Koalition hat aber die extrem angespannte finanzielle Situation der Kommunen dramatisch verschärft.
Um den Umfang kommunaler Aufgaben und Ausgaben
mit den zur Verfügung stehenden Mitteln in Einklang zu
bringen, verlangen wir als kurzfristige Maßnahmen den
Verzicht auf weitere Steuergeschenke, die zu zusätzlichen Belastungen der Kommunen führen. Darüber hinaus haben wir festgelegt, dass der Bund seine Beteiligung an den Kosten der Unterkunft um 3 Prozentpunkte
anhebt und dies für zwei Jahre befristet. Genau dies
bringen unsere Haushälter heute Abend in die Haushaltsausschusssitzung ein. Und dann sehen wir weiter.
Mittel- und langfristig muss es uns gelingen, dass die
Kommunen stabile Einnahmequellen haben. Dazu gehört eine gut funktionierende Gewerbesteuer. Das ist die
wichtigste Grundlage. Dazu gehört auch, dass die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft der
Kommunen sich zukünftig mehr und mehr an den tatsächlichen Kosten zu orientieren hat. Wir müssen einen
angemessenen Abrechnungsmechanismus finden. Dazu
sind alle Fraktionen und die Länder aufgerufen. Sie sehen, der vorliegende Gesetzentwurf löst damit nicht das
finanzielle Problem der Kommunen. Die Verschärfung
der Probleme hat diese Regierung mit ihren Gesetzen in
diesem Jahr geschaffen.
Jedes Jahr aufs Neue seit 2005 ist der Gesetzgeber
damit beauftragt, den Anteil des Bundes an den Kosten
der Unterkunft und Heizung für Personen in der Grundsicherung neu festzulegen. Seit dem Sechsten Gesetz zur
Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch ist ein
knappes Jahr vergangen. Das damals beschlossene Gesetz ist noch immer im Vermittlungsverfahren, und damit
ist die Höhe der Beteiligung des Bundes an den Kosten
der Unterkunft und Heizung bis heute noch nicht abschließend für das Jahr 2010 geregelt.
Obwohl wir noch immer keine Einigung für das Jahr
2010 erzielt haben, müssen wir als Gesetzgeber heute
schon für das Jahr 2011 handeln; denn die Kommunen
brauchen Planungssicherheit, soweit dies irgend möglich ist.
Die Zeichen vonseiten der Länder, dass das Siebte
Gesetz angenommen werden wird, sind positiver als im
vergangenen Jahr gegenüber dem sechsten Gesetz. Daher bin ich zuversichtlich, dass der vorliegende Gesetzentwurf bald verabschiedet wird und in Kraft treten kann
und nicht so lange Zeit im Vermittlungsausschuss brauchen wird.
Für dieses Jahr steht ein Haushaltssoll von 3,4 Milliarden Euro im Gesetz; diese Summe ist vonseiten des
Bundes eingeplant. Mit dem Siebten Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch soll dieser
Ansatz für das Jahr 2011 auf 3,6 Milliarden erhöht werden.
Die Erhöhung der Mittel geschieht selbstverständlich
nicht willkürlich. Gerade wir als christlich-liberale Koalition übernehmen die Verantwortung für den Bundeshaushalt im Sinne künftiger Generationen.
Die Länder haben der Formel, die die Grundlage für
die Berechnung der Bundesbeteiligung ist, zugestimmt
und sie als dauerhaft sachgerecht und handhabbar eingeschätzt.
Die Höhe der bundesdurchschnittlichen Beteiligung
wird 2011 bei 25,1 Prozent liegen und ist damit um
1,5 Prozentpunkte höher als 2010.
In den vergangenen Jahren wurde die Bundespolitik
oftmals vonseiten der Länder und Kommunen kritisiert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Kritik war damit begründet, dass der Bund weniger
Mittel für die Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft bereitgestellt hat. Das aber hatte einen Grund.
Es war durch die sinkende Zahl der Bedarfsgemeinschaften völlig begründet. Damit war der Vorwurf, dass
sich die Bundespolitik aus der Verantwortung ziehen
will, unberechtigt.
Dass sich der Bund seiner Verantwortung bewusst ist,
zeigt die christlich-liberale Koalition auch mit diesem
Gesetzentwurf. Denn weil die Zahl der Bedarfsgemeinschaften im kommenden Jahr, bedingt durch die Wirtschafts- und Finanzkrise, leider wieder steigen wird, erhöht der Bund auch seine Kostenbeteiligung. Dies
verdeutlicht, dass diese Regierungskoalition ihre Verantwortung gegenüber den Kommunen wahrnimmt und
ein zuverlässiger und berechenbarer Partner ist.
Ich möchte jedoch auch die Gelegenheit nutzen, darauf zu verweisen, wie gut wir die Krise bisher bewältigt
haben. Es war vor zwölf Monaten noch nicht abzusehen,
dass wir nur einen so geringen Anstieg der Zahl der Bedarfsgemeinschaften zu erwarten haben würden.
Im September 2010 gab es in Deutschland 3 545 212
Bedarfsgemeinschaften. Im September 2009 waren es
noch 19 169 mehr. Die Auswirkungen der Krise schlagen auf das SGB II immer mit etwas Verzögerung durch,
da Menschen, wenn sie ihre Arbeit verlieren, zunächst
für mindestens zwölf Monate im Rechtskreis des SGB III
geführt werden. Daher werden wir im kommenden Jahr
trotz der hervorragenden Entwicklung am Arbeitsmarkt
mit einer etwas höheren Zahl an Bedarfsgemeinschaften
rechnen müssen.
Die positive wirtschaftliche Prognose für das kommende Jahr mit einer erwarteten durchschnittlichen Arbeitslosenzahl von unter 3 Millionen und einem erwarteten Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent wird dazu
führen, dass wir in den kommenden Jahren wieder deutlich weniger Bedarfsgemeinschaften haben werden.
Das ist eine gute Nachricht für die künftigen Auswirkungen auf den Bundeshaushalt, vor allem aber für die
Menschen. Denn hinter dem Begriff „Bedarfsgemeinschaft“ stehen konkrete Menschen und konkrete Schicksale. Jede Bedarfsgemeinschaft weniger bedeutet konkret, dass Menschen aus dem SGB II in Beschäftigung
gekommen sind.
Das ist die wahre positive Botschaft hinter den Zahlen. Eine Verringerung der Zahl der Bedarfsgemeinschaften bedeutet nicht nur sinkende Ausgaben für den
Bund und auch für die Kommunen, sie ist auch ein Indiz
für die Qualität der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dieser Bundesregierung.
Wir können heute sehen, dass die Maßnahmen dieser
Regierung, selbstverständlich auch der Regierung und
Opposition der vergangenen Jahre, dazu beigetragen
haben, Deutschland sicher durch die Krise zu führen.
Auch das von der Opposition so heftig kritisierte Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat nachweislich zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage und zum Wachstum
beigetragen.
Diese Regierung handelt verantwortlich, planbar und
verlässlich. Dies wird auch mit diesem Gesetzentwurf
wieder klar.
Der uns vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung legt die Bundesbeteiligung an den Wohnkosten für
Haushalte von ALG-II-Beziehenden für das Jahr 2011
fest. Der Beteiligungssatz des Bundes soll für das Jahr
2011 für Baden-Württemberg auf 28,5 Prozent, für
Rheinland-Pfalz auf 34,5 Prozent und für die übrigen
Länder auf 24,5 Prozent festgesetzt werden. Damit liegt
die Bundesbeteiligung 2011 bundesdurchschnittlich bei
25,1 Prozent.
Die Höhe der Bundesbeteiligung muss seit dem Jahr
2008 auf Grundlage der Anpassungsformel nach § 46
Abs. 7 SGB II jährlich angepasst werden, sofern die Veränderung der jahresdurchschnittlichen Zahl der Bedarfsgemeinschaften mehr als 0,5 Prozent beträgt. Da
sich die jahresdurchschnittliche Zahl der Bedarfsgemeinschaften im Zeitraum von Juli 2008 bis Juni 2009
um 2,2 Prozent erhöht hat, ist eine gesetzliche Anpassung der Bundesbeteiligung für das Jahr 2011 erforderlich.
Soweit zum Sachverhalt. Es ist schon beeindruckend,
wie beratungsresistent die Bundesregierung in Sachen
Kosten der Unterkunft gegenüber der nunmehr seit mehreren Jahren anhaltenden massiven Kritik der Kommunen und Länder ist. Wie sonst ist es zu erklären, dass die
Bundesregierung daran festhält, sich nicht angemessen
an der Finanzierung der Kosten der Unterkunft für
ALG-II-Beziehende zu beteiligen? Die Linke will die
Bundesregierung nicht ungeschoren davonkommen lassen. Daher haben wir beantragt, den Gesetzentwurf
nicht stillschweigend durchgehen zu lassen.
Auch wenn sich die Bundesbeteiligung für das Jahr
2011 um bundesdurchschnittlich 1,5 Prozent erhöhen
soll, entspricht dies bei weitem nicht dem eigentlich zu
zahlenden Anteil des Bundes. Würden die realen Ausgaben für Kosten der Unterkunft und Heizung zugrunde
gelegt werden, müsste sich der Bund im Jahr 2010 mit
35,8 Prozent und im Jahr 2011 mit 37,7 Prozent beteiligen. Das hat der Landkreistag auf der Grundlage langfristiger Betrachtungen des realen Kostenverlaufs errechnet.
Der Bund ist nach wie vor nicht bereit, sich angemessen an der Finanzierung der Wohnkosten für Hartz-IVBeziehende zu beteiligen. Seit Jahren zieht er sich aus
der Finanzierung der Wohnkosten zurück. Betrug der
Bundesanteil im Jahr 2007 noch 4,36 Milliarden Euro
- 31,8 Prozent -, so sollte er für das Jahr 2010 nur noch
3,7 Milliarden Euro - 23,6 Prozent - betragen. Der Bundesrat hatte sich dagegen ausgesprochen und am
18. Dezember 2009 den Vermittlungsausschuss angerufen. Eine Einigung wurde bis dato nicht erreicht.
Ich habe das Scheitern des Sechsten Gesetzes zur Änderung des SGB II über die Kosten der Unterkunft im
Bundesrat ausdrücklich begrüßt. Mit der Ablehnung
wird die Isolierung der Bundesregierung in dieser Frage
Zu Protokoll gegebene Reden
offensichtlich. All diejenigen, die mit den sozialen Problemen direkt konfrontiert sind, schätzen schon lange,
dass die Politik der Bundesregierung die Probleme verschärft, statt sie zu lösen. Aber all das scheint die Bundesregierung nicht zu stören, ansonsten hätte sie heute
dem Bundestag einen anderen Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des SGB II zur Regelung des Bundesanteils vorgelegt.
Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich die Realität sozialer Spaltung zur Kenntnis nehmen und ihre
Politik darauf ausrichten. Der Bundesanteil an der Finanzierung der Kosten der Unterkunft muss deutlich erhöht werden. Der Bund darf sich nicht länger zulasten
der Kommunen und der Hartz-IV-Beziehenden sanieren.
Die Kommunen brauchen endlich eine solide Finanzausstattung, damit die Einwohnerinnen und Einwohner
ein würdevolles Leben führen können, wozu auch eine
menschenwürdige Wohnung gehört.
Ich fordere die Bundesregierung auf, ihren Gesetzentwurf zurückzuziehen und dem Bundestag umgehend einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen. In dem neuen Gesetzentwurf ist erstens die Anpassungsformel dahin
gehend zu ändern, dass die Berechnung der Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung in
§ 46 Abs. 7 SGB II auf der Basis der tatsächlichen Ausgaben für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II
erfolgt. Zweitens ist auf der Grundlage dieser veränderten Formel eine Neuberechnung der Bundesbeteiligung
an den Kosten der Unterkunft und Heizung für die Jahre
2010 und 2011 vorzunehmen.
Der hier von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf ist gegenüber unseren Städten und Gemeinden
nichts anderes als eine Zumutung.
Bei verständiger Würdigung des Komplexes „Kosten
der Unterkunft“ kann eigentlich niemandem entgehen,
dass die derzeitige Formel zur Berechnung des Bundesanteils an den Wohnkosten von Menschen im Bezug der
Grundsicherung für Arbeitssuchende die Kommunen
über Gebühr belastet. Erstens kann niemand erklären,
warum Extrawürste für Rheinland-Pfalz und BadenWürttemberg gebraten werden. Zweitens erschließt sich
auch nicht, warum nicht die tatsächlichen Kosten Maßstab der Berechnungen sind, sondern stattdessen die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften. Die Tatsache, dass die
Bundesländer diesen Berechnungsschlüssel seinerzeit
selbst beschlossen haben, macht die Sache nicht besser.
Ganz offensichtlich haben die Bundesländer und der
Bund ein Geschäft zulasten Dritter - nämlich der Kommunen - gemacht.
Aber ob dies die Bundesregierung interessiert? Wir
wissen von der schwarz-gelben Koalition, dass sie die
Belange der Kommunen ziemlich in den Hintergrund
stellt, weshalb Sie von der Bundesregierung allen Ernstes über die Abschaffung der Gewerbesteuer fabulieren
und die Mittel zur Städtebauförderung kürzen. Wir wissen von Schwarz-Gelb aber auch, dass Ihnen die Belange der Menschen, die von Sozialleistungen leben
müssen, nicht so wichtig sind wie die von Hoteliers.
Sonst würde die Bundesregierung nicht auf die Idee
kommen, den Kommunen die Möglichkeit einzuräumen,
per Satzungsrecht die Angemessenheit der Kosten der
Unterkunft zu regeln. Was die Bundesregierung damit
riskiert, ist der massenhafte Rechtsbruch vor Ort auf
Kosten der Armen in Deutschland. Ein unbestimmter
Rechtsbegriff der „Angemessenheit“ soll nach dem Willen der Bundesregierung nicht vom Bundesgesetzgeber
definiert werden, der dafür zuständig ist, wie das Bundesverfassungsgericht es am 9. Februar noch einmal im
seinem Urteil zu den Grundsicherungsleistungen festgestellt hat. Vielmehr will die Bundesregierung die angemessenen Wohnkosten als wichtigen Teil des Existenzminimums dem freien Spiel zwischen Kämmerer und
Sozialdezernenten überlassen. Wer in diesem Kräftemessen in einer Kommune obsiegen wird, die etwa unter
der Haushaltssicherung steht, lässt sich unschwer vorhersagen. Zu befürchten ist außerdem bei unangemessenen oder gar rechtswidrigen Satzungslösungen eine
erneute Klageflut vor den ohnehin überlasteten Sozialgerichten.
Schwarz-Gelb bleibt sich mit diesem Gesetzentwurf
treu. Anstatt endlich die Reform der Übernahme der
Kosten der Unterkunft solidarisch zu gestalten oder anderweitige Kompensationslösungen zu suchen, werden
wieder die Kommunen einseitig belastet. Sinnvoll wäre
eine andere Lastenverteilung, die wir als Grüne auch
vorschlagen.
Um die gesetzlich vorgesehene Entlastung der Kommunen durch die Einführung des Vierten Gesetzes für
moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt um jährlich
2,5 Milliarden Euro zu gewährleisten, müssen wir die
Anpassungsformel ändern und die Bundesbeteiligung
entsprechend der tatsächlichen Entwicklung der Ausgaben für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch berechnen. Das fordert auch
der Bundesrat, und er hat den Vermittlungsausschuss
hierzu angerufen - Bundesratsdrucksache 864/09.
Die Länder berufen sich auf Berechnungen des Deutschen Landkreistages, wonach unter Berücksichtigung
der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung für
das Jahr 2010 eine Bundesbeteiligung von 35,9 Prozent
geleistet werden müsste. Für das Haushaltsjahr 2011
beträgt bei Berücksichtigung der tatsächlichen Kostenentwicklung nach Berechnungen des Deutschen Landkreistages der Bundesanteil 37,7 Prozent. Ausgehend
von voraussichtlichen Unterkunftskosten in Höhe von
14,3 Milliarden Euro im Haushaltsjahr 2011 beträgt der
Bundesanteil 5,4 Milliarden Euro statt der aktuell angesetzten 3,6 Milliarden Euro. Der Haushaltsansatz wäre
demnach um 1,8 Milliarden Euro zu erhöhen.
Sicherlich müssen die Zahlen des Landkreistages
noch einmal auf ihre Richtigkeit und Plausibilität hin
überprüft werden. Immerhin ist nicht auszuschließen,
dass der Deutsche Landkreistag sein Rohdatenmaterial
auch interessengeleitet hochrechnet. Dennoch: Der
Bund darf sich vor seiner Verantwortung nicht drücken
und die Kommunen nicht im Regen stehen lassen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf
Drucksache 17/3631 und 17/3683 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Erkenntnisse des Weltagrarberichtes zur
Grundlage deutscher, europäischer und internationaler Agrar- und Entwicklungspolitik
machen
- Drucksache 17/3542 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wir haben in den letzten Wochen, Monaten und sogar
Jahren den Weltagrarbericht immer wieder auf der politischen Tagesordnung gehabt. Er wird von den Oppositionsparteien, egal ob ich hier die Linken, die Grünen
oder unseren ehemaligen Koalitionspartner, die SPD,
nenne, als das Zukunftswerk für die weltweite Gestaltung und Entwicklung der Landwirtschaft propagiert. In
selbem Maße haben Entwicklungshilfeinstitutionen,
NGOs oder Vertreter einer ökologisch-biologischen
Landwirtschaft sich für die Akzeptanz des Berichts eingesetzt und versucht, Druck auf die Bundesregierung
auszuüben, um den Weltagrarbericht zu unterschreiben
und ihn damit als ein offizielles Dokument zu legitimieren. Bei all dieser Euphorie und Anpreisung des Weltagrarberichts darf man allerdings nicht vergessen, welche formelle Basis hinter diesem Bericht steht, ohne sich
an dieser Stelle schon mit Inhalten auseinanderzusetzen.
Der Weltagrarbericht ist entstanden auf der Basis eines Netzwerks internationaler Agrarwissenschaftler.
Ihm lag kein Auftrag irgendeiner internationalen Organisation zugrunde, auch wenn dies immer wieder von
den Beteiligten behauptet wird. Es gab zwar finanzielle
und personelle Unterstützung durch die FAO, die Weltbank und andere Einrichtungen der Vereinten Nationen;
aber selbst die FAO sieht den Weltagrarbericht nicht als
Grundlage für ihr politisches und strategisches Handeln.
Ergänzend muss man feststellen, dass viele Akteure
der weltweiten Agrarpolitik in keiner Weise am Diskussionsprozess beteiligt waren bzw. sich im Laufe der Verhandlungen zurückgezogen haben, da eine zu einseitige
und nicht ergebnisoffene, sondern vielmehr ideologisch
geprägte Diskussion bei der Lösung der identifizierten
Probleme stattgefunden hat. Aufgrund dieses Sachverhalts muss jedem klar sein, dass es zu nichts verpflichten
würde, wenn man diesen Bericht unterschreibt oder ihn
sonstwie anerkennt. Deshalb hat die Bundesregierung
auch völlig zu Recht von einer förmlichen Unterschrift
abgesehen.
An dieser Stelle möchte ich nun kurz auf die inhaltliche Qualität des Berichts eingehen. Das große Ziel des
Weltagrarberichts, „die Verminderung von Hunger, Armut und Mittellosigkeit und die Verbesserung der Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen samt der Gesundheit“ ist ohne Wenn und Aber zu unterstützen.
Damit beschreiben wir die größte Herausforderung des
21. Jahrhunderts. Wir wollen Hunger und Elend bekämpfen, und ein Schlüssel dazu ist die Landwirtschaft.
Die Ernährungskrise im Jahr 2007 hat das Thema Welternährung ganz nach oben auf die politische Agenda gebracht und einen auch dringend notwendigen Schwung
in die Debatte gebracht. Auch hier hat sicherlich der
Weltagrarbericht einen positiven Beitrag geleistet.
Positiv zu sehen ist auch, dass man versucht hat, tief
in die Debatte einzusteigen, man eine nach Regionen unterschiedliche Analyse der Probleme angefertigt und
sich auch bemüht hat, Handlungsempfehlungen zu geben. Es ist richtig, dass man die Stärkung lokaler Märkte
anstrebt. Es ist der richtige Ansatz, das Thema „Recht
auf Land- und Wassernutzung“ zu betonen oder das
Thema „Landwirtschaft und Klimawandel“ in den
Blickpunkt zu nehmen. In der abschließenden Analyse
sehe ich allerdings die große Schwäche des Berichts, der
mich zu deutlicher Kritik kommen lässt.
Es findet beinahe durchgängig eine ideologisch geprägte Betrachtungsweise statt, die sich ausschließlich
am Ideal eines ökologischen Landbaus orientiert und
eine moderne, industrialisierte Form der bäuerlichen
Landwirtschaft ablehnt. Doch dabei wird vergessen,
dass besonders Merkmale wie Effizienz, Ressourcenschonung, Wettbewerbsfähigkeit und Wertschöpfung
eine moderne Landwirtschaft prägen. Ich möchte diese
Position aber nicht nur abstrakt darstellen, sondern
auch exemplarisch an eine persönlich erlebte Erfahrung
anknüpfen, die mich in meiner Überzeugung noch mehr
gestärkt hat.
Ich war vor kurzem mit dem Agrarausschuss in den
ostafrikanischen Ländern Kenia, Uganda und Äthiopien
zu Gast und habe mir die Situation der Menschen, besonders in der Landwirtschaft, angeschaut. Ich habe
viele neue Erkenntnisse gesammelt, und ich musste mit
großer Enttäuschung feststellen, welches Elend dort
vielfach herrscht.
Ich habe dort in vielen Gesprächen mit Hilfsorganisationen, die sich ebenfalls in die Arbeit am Weltagrarbericht eingebracht haben, erfahren, dass diese eine Industrialisierung der Landwirtschaft nach europäischem
Vorbild für Afrika ablehnen. So wird es abgelehnt, neue
Arten anzubauen oder Mineraldünger einzusetzen. Das
Ergebnis ist, dass viele Menschen hungern. Das Ganze
ist ein furchtbarer Zynismus. Europa hat vor über hundert Jahren begonnen, durch verstärkten Maschineneinsatz und den Einsatz mineralischen Düngers seine landwirtschaftlichen Erträge zu steigern. Dadurch wurden
auch bei uns der Hunger besiegt und der Wohlstand ge7790
mehrt. Lassen wir doch die Afrikaner selbst entscheiden,
was sie wollen, und sie dann unterstützen. Warum lassen
wir denn kein wirtschaftliches Wachstum im Nahrungsmittelbereich zu? Im Bericht des Weltagrarrates und in
den Papieren von vielen Organisationen ist von Stützung
der kleinbäuerlichen Struktur die Rede. Warum helfen
wir den Bauern dort nicht, Unternehmer zu werden?
Warum helfen wir nicht, etwa durch bessere Ausbildung,
durch Gründung von Bauernverbänden, durch den Bau
von Lagerstätten von der Subsistenzwirtschaft wegzukommen und etwa mit Agrargütern oder Nahrungsmitteln Handel zu treiben? Stattdessen wird erklärt, die
Afrikaner wollten nur mit Ochs und Esel ihr Stückchen
Land bestellen; dann seien sie glücklich. Ich glaube das
nicht.
Die moderne Landwirtschaft wird mit ihren vielfältigen Möglichkeiten bei Ertragssteigerung und Ertragssicherheit eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der
Welternährungskrise einnehmen, überall auf der Welt.
Bei allen notwendigen Diskussionen über faire Handelsbeziehungen und bei der Debatte um die verschiedensten Gründe für die Verteuerung der Nahrungsmittel
kommen wir an einem Fakt nicht vorbei: Die Nachfrage
nach Agrarrohstoffen, nach Getreide, Ölsaaten und vielem mehr wird sich in absehbarer Zeit fast verdoppeln.
Um diese auf uns zukommende Herausforderung meistern zu können, müssen wir jetzt die Weichen richtig stellen. Denn dieses Mehr an Nachfrage müssen wir durch
Produktion auf der jetzt vorhandenden und kaum vermehrbaren Fläche an weltweitem Ackerland erreichen;
denn wir wollen ja bewusst unsere schützenswerten Urund Regenwälder unangetastet lassen. Dies wird dann
funktionieren, wenn wir eine moderne bäuerliche Landwirtschaft als Basis für diese verantwortungsvolle Aufgabe ermöglichen; denn dies ist ein entscheidender Lösungsansatz und damit ein Segen für die Menschheit.
Zum Abschluss möchte ich gerne aus dem Weltentwicklungsbericht 2008 der Weltbank zitieren, der an vielen Stellen den kleinbäuerlichen Landwirt als Unternehmer sieht und der die obige These mehr als stützt:
Die Nutzung der Agrarwirtschaft als Basis für Wirtschaftswachstum in Agrarländern setzt eine Produktivitätsrevolution im kleinbäuerlichen Farmbetrieb voraus.
Im Jahr 2003 haben die Weltbank und die Vereinten
Nationen bzw. die FAO einen internationalen Prozess
initiiert: das International Assessment of Agricultural
Knowledge, Science and Technology for Development,
das IAASTD, bekannt geworden als Weltagrarrat. Über
500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller
Kontinente und unterschiedlicher Fachrichtungen haben vier Jahre lang zusammengearbeitet, um die folgenden Fragen zu beantworten: Wie können wir landwirtschaftliches Wissen, Forschung und Technologie
einsetzen, um Hunger und Armut zu verringern? Wie
lassen sich ländliche Existenzen verbessern, und wie
lässt sich weltweit eine ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Entwicklung fördern? Die Ergebnisse
sind eingeflossen in den Weltagrarbericht, der 2008 veröffentlicht wurde. Ich möchte an dieser Stelle nochmals
daran erinnern, dass mit maßgeblicher Unterstützung
der SPD der Weltagrarbericht ins Deutsche übersetzt,
und damit einer breiteren Öffentlichkeit bekanntgemacht werden konnte.
Der Weltagrarbericht hat wichtige Impulse für die
Diskussion über die Armutsbekämpfung gegeben. Wir
unterstützen die Ergebnisse des Berichtes. Obwohl
Deutschland den 2008 erschienenen Bericht nicht unterzeichnet hat, sind viele Erkenntnisse aus dem Bericht in
konkrete SPD-Anträge eingeflossen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unseren Antrag „Hunger und
Armut in Entwicklungsländern durch die Förderung von
ländlicher Entwicklung nachhaltig bekämpfen“ vom
28. November 2008. An dieser Stelle möchte ich nur die
wesentlichen Erkenntnisse und unsere Forderungen wiederholen:
Bisher produzierten die Mehrzahl der Kleinbauern in
ungefähr 400 Millionen Betrieben mit weniger als zwei
Hektar Land pro Betrieb nur das Nötigste zum Überleben. Zeitweise sind sie selber auf den Zukauf von Nahrungsmitteln oder - das ist schlimmer - auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Wir müssen die Produktivität der
Landwirtschaft durch strukturelle und verbesserte politische Rahmenbedingungen stärken. Die ländliche Entwicklung in den Entwicklungs- und Schwellenländern
muss nach unseren Vorstellungen vor allem dem Ziel
dienen, den Zugang zu produktiven Ressourcen zu verbessern. Parallel dazu muss die Funktionsfähigkeit der
regionalen Märkte für landwirtschaftliche Produkt- und
Faktormärkte verbessert werden.
Dabei sind die strukturellen Ursachen der unzureichenden ländlichen Entwicklung in erster Linie durch
die jeweiligen Länder, aber auch durch die Hilfe der internationalen Gemeinschaft zu bekämpfen. Ziel der
ländlichen Entwicklung kann es nicht in erster Linie
sein, den Zwei-Hektar-Betrieben nachhaltig ihre Subsistenzwirtschaft zu sichern. Das steht auch so nicht im
Weltagrarbericht. Leider kann ich nicht erkennen, woher Sie Ihre Aussagen zur Fokussierung auf kleinbäuerliche Strukturen nehmen.
Entwicklungspolitik steht heute vor der Herausforderung, einerseits die kleinbäuerlichen Strukturen zu
stärken, aber andererseits auch den notwendigen Strukturwandel sozial abzufedern. Wirtschaftlichere Betriebsgrößen werden in den betroffenen Regionen unterschiedlich ausgeprägt sein. Die Menschen vor Ort
werden wissen, wie die bäuerliche Produktivität erhöht
werden kann.
Unklar bleibt für mich, was die Kolleginnen und Kollegen von der Linken mit ihrem Antrag zum jetzigen
Zeitpunkt bezwecken. Die Aussagen bleiben zwar aktuell, aber wir sollten doch einmal genau hinschauen, wo
wir die wirkliche Entwicklungsarbeit leisten müssen.
Leider muss ich nämlich feststellen, dass die Erkenntnisse des Weltagrarberichts bei den Kolleginnen und
Kollegen der Koalition nur eingeschränkt bis gar nicht
fruchten. Nicht anders kann ich die Äußerungen des Abgeordneten Röring von der CDU bewerten. Dieser hat
Zu Protokoll gegebene Reden
sich kürzlich in einem Interview mit der Katholischen
Nachrichtenagentur über die nach seiner Ansicht „völlig falsche Philosophie von vielen Entwicklungshilfeorganisationen“ echauffiert. Diese würden sogenannte
kleinbäuerliche Strukturen verherrlichen und den technischen Fortschritt für die Entwicklungsländer ablehnen. Es stünden Stichworte wie „Geschlechterdebatte“
und „sozial-ökologische Reformen“ im Raum, die nichts
mit den Realitäten und den Bedürfnissen vieler Entwicklungsländer zu tun hätten. Mit einem Rundumschlag
lässt sich der Kollege Röring über die Misserfolge der
bisherigen Entwicklungspolitik aus. Für unseren derzeitigen Entwicklungsminister, der erst sein Ministerium
abschaffen wollte und es jetzt um 200 weitere Stellen
aufstocken möchte, mögen Ihre Aussagen wunderbar geklungen haben. Die einfachen Weisheiten, die Herr
Röring im Interview verbreitet, werden jedoch der komplexen Realität nicht im Geringsten gerecht.
Die wirtschaftlichen Potenziale der einheimischen
Bevölkerung werden durch zahlreiche rechtliche, agrarpolitische und soziokulturelle Hindernisse beschränkt.
Fehlender Landzugang und fehlende finanzielle Ressourcen sind zu nennen. Gerade in Afrika liegt der überwiegende Anteil der landwirtschaftlichen Produktion in
Frauenhand. Sie produzieren mehr als 90 Prozent der
Grundnahrungsmittel und über 30 Prozent der Marktfrüchte. Eine Förderung der ländlichen Entwicklung
und der Abbau geschlechtsspezifischer Benachteiligungen von Frauen müssen eng miteinander verknüpft werden; denn auch die strukturelle Benachteiligung von
Frauen, insbesondere in Afrika, ist ein wichtiger Faktor,
der der wirtschaftlichen Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion bis heute im Wege steht. Dies
sind Realitäten in vielen Entwicklungsländern, die auch
der CDU-Kollege Röring anerkennen sollte.
Richtig ist, dass wir gerade die afrikanischen Bauern
unterstützen müssen, ihre Produktivität zu steigern. Es
müssen rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen
geschaffen werden, die es den Bäuerinnen und Bauern
ermöglichen, ihre vorhandenen unternehmerischen
Potenziale voll auszuschöpfen. Dies wird aber nicht dadurch erreicht, dass wir ihnen unangepasstes Saatgut
und unsere Hochleistungsrinder schicken. Es wird dadurch erreicht, dass wir ihnen bezahlbares Know-how
zur Verfügung stellen. Es wird dadurch erreicht, das wir
in unserem Land mehr Geld in die Hand nehmen und
beispielsweise unsere einstmals so hoch gelobte Tropenund Subtropenforschung vor dem kompletten Untergang
retten.
Eine bessere Ausbildung, der Bau von Straßen und
Lagerstätten, damit Lagerverluste bis zu 60 Prozent verringert werden, sind konkrete Maßnahmen der ländlichen Entwicklung. Dies kann und muss aber unter
größtmöglicher Beteiligung der ländlichen Bevölkerung
erfolgen. Nur sie weiß, was sie benötigt, um der Armut
zu entrinnen. Achten wir ihre Belange nicht, besteht die
Gefahr, dass korrupte Regimes oder lokale Warlords die
Früchte des Fortschritts alleine verprassen. Daher ist
ein Bottom-up-Entwicklungsansatz auch heute noch modern und zeitgemäß. Er ist auch mühsamer, das möchte
ich nicht verhehlen. Aber er ist langfristig wirksamer als
kurzfristige Beglückungskampagnen à la FDP.
Es bedarf verschiedener Instrumente und Elemente
der ländlichen Entwicklung und im Agrarsektor, um
langfristig den Hunger zu überwinden. Die Entwicklungsarbeit bei uns endet nicht mit der Unterstützung
der Bäuerinnen und Bauern in den südlichen Ländern.
Das hat Herr Röring vergessen im Interview zu sagen.
Zu mehr Unternehmertum und zu mehr Marktorientierung gehören auch faire Spielregeln auf den Agrarmärkten. Da müssen wir noch einiges nachholen in der EU.
Ich hoffe, dass die Gemeinsame Agrarpolitik der EU
nach 2013 auch in diesem Bereich konsequent auf neue
Herausforderungen ausgerichtet wird und marktverzerrende Subventionen endgültig abgeschafft werden.
Gleiches gilt im Übrigen für die spekulativen Auswüchse auf den Weltagrarmärkten. Hier müssen wir den
Realitäten ins Auge schauen und politisch eingreifen,
damit wir die Funktionsfähigkeit von Warenterminbörsen dauerhaft sichern. Vorschläge dazu hat die SPD bereits unterbreitet. Ich freue mich, dass auch das Bundesagrarministerium letzte Woche endlich aufgewacht
ist.
Aber zurück zum Antrag der Linken. Die SPD-Bundestagsfraktion hat in ihrem Antrag zum Entwurf des
Haushalts 2011 des BMELV eingefordert, insgesamt
1 Million Euro bereitzustellen, damit der Weltagrarbericht fortgeschrieben werden kann. Damit wollen wir
auch erreichen, dass die bisher sehr technologiefixierte
Forschungspolitik der Bundesregierung zur Bekämpfung von Hunger, Klimawandel, Flächen- und Ressourcenknappheit auf eine breitere Basis gestellt wird.
Daher wird die SPD sich enthalten.
Vor zehn Jahren haben die Regierungen von 189 Staaten acht UN-Millenniumsziele miteinander vereinbart.
Zu diesen Zielen gehört die Halbierung der Zahl der
hungernden Menschen bis zum Jahr 2015. Tatsächlich
sind in den vergangenen zehn Jahren jedoch keine entscheidenden Fortschritte erzielt worden. Im Gegenteil:
Die absolute Zahl der hungernden Menschen liegt seither bei rund 1 Milliarde. Weitere 2 Milliarden Menschen
leiden an Mangelernährung. Die Gründe für diese besorgniserregende Bilanz sind vielfältig: Eine schlechte
Regierungsführung zum Beispiel in Nordkorea oder dem
Kongo, die demografische Entwicklung, der Klimawandel und ein ungenügendes Bildungsniveau sind einige
der offensichtlichen Faktoren. Um die verschiedenen
Missstände zu beseitigen, sind verschiedene Maßnahmen notwendig.
Der im April 2008 verabschiedete sogenannte Weltagrarbericht versucht in einem durchaus breit angelegten Ansatz, das Potenzial von althergebrachten, lokalen
landwirtschaftlichen Kenntnissen und von technologischem Fortschritt danach zu bewerten, wie weit sie geeignet sind, Teilziele der Millenniumsvereinbarung zu
erreichen. Er nennt hierzu eine Reihe von interessanten
Zu Protokoll gegebene Reden
Fakten. Allerdings ist der Bericht mit seinen Folgerungen einseitig ideologisch ausgerichtet und greift zu kurz.
Es besteht Einigkeit darüber, dass die landwirtschaftliche Effizienz insbesondere in den Nichtindustrieländern enorm erhöht werden muss. Daher wird die einseitige Fokussierung des Berichts auf kleinbäuerliche
Subsistenzwirtschaft den vor uns liegenden Problemen
nicht gerecht. Durch die stetig wachsende Weltbevölkerung verringert sich die Ackerfläche, die für die Ernährung eines jeden Menschen zur Verfügung steht. Ebenso
führen der Klimawandel und der Anbau von Biomasse
für die energetische Nutzung dazu, dass die für die Ernährungssicherung zur Verfügung stehende Ackerfläche
abnimmt. Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass
etwa die Hälfte einer jeden Ernte entweder schon auf
dem Feld oder anschließend bei der Lagerung und der
Verarbeitung durch Schadorganismen vernichtet wird.
Das bedeutet, dass nur eine Steigerung der Effizienz der
Landwirtschaft die Chance bietet, den Hunger auf der
Welt zu lindern. Dafür sind die Nutzung moderner Technik, moderner Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmethoden, moderner Sorten erforderlich. Damit die Menschen diesen Anforderungen gewachsen sind, brauchen
sie mehr Bildung und Ausbildung. Mit einer romantisierenden Museumslandwirtschaft, wie sie verschiedene
Nichtregierungsorganisationen, NGO, und der Weltagrarbericht fordern, kann das Problem der Welternährung nicht gelöst werden.
Gerade in Ländern mit geringem allgemeinem Bildungsniveau, mit einem großen Anteil an Menschen, die
nicht lesen und schreiben können, ist das Erfahrungswissen in der Bevölkerung über die landwirtschaftliche
Produktion vergleichsweise gering. Daher reicht es bei
weitem nicht aus, in diesen Ländern auf Tradition und
Erfahrung zu setzen. Auch in Deutschland wurde der
notwendige Leistungssprung der Landwirtschaft erst
durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, den
breiten Zugang zu Bildung und Ausbildung und in der
Folge vermehrte wissenschaftliche Forschung mit der
Anwendung ihrer Erkenntnisse möglich gemacht. Das
Beispiel Mongolei, wo noch immer Weizen in einer
Zwei-Felder-Wirtschaft produziert wird, zeigt, dass regional noch erhebliche Potenziale bestehen, die Erträge
zu erhöhen.
Hunger ist kein reines Verteilungsproblem. Der Überfluss in Hamburg kann den Hunger der Menschen in den
Ländern der Subsahara nicht lindern. Sie brauchen nicht
noch mehr Lebensmittellieferungen aus dem Ausland,
sondern Hilfe zur Selbsthilfe und eine Stärkung ihrer Ernährungssouveränität. Deshalb unterstützt die deutsche
Entwicklungshilfe auch kleinbäuerliche Strukturen und
regionale Märkte. Um deren Funktionsfähigkeit zu erhalten, treten wir dafür ein, im Rahmen der Reform der gemeinsamen EU-Agrarpolitik die Exporterstattungen völlig abzubauen.
Für die Anpassung der Kulturpflanzen an den Klimawandel, ihre Resistenz gegenüber Schadorganismen und
die Verbesserung ihrer Eigenschaften für die Ernährung
müssen geeignete Sorten gezüchtet werden. Dabei müssen moderne Züchtungsmethoden wie die Gentechnik
genutzt werden. Untersuchungen der Universität Göttingen zeigen, dass indische Baumwollbauern mit gentechnisch veränderten Pflanzen deutliche Einkommensgewinne erzielen und ihre wirtschaftliche Situation
verbessern konnten. Der nahezu flächendeckende Anbau
von Bt-Baumwolle in Indien ist ein erfolgreicher Beitrag
zur Bekämpfung von Armut und Hunger. Dieses Potenzial wird vom Weltagrarbericht unterschätzt.
Ebenso muss für die Bekämpfung von Erblindung
durch Mangelernährung in Afrika und Asien der Goldene Reis möglichst bald zur Verfügung gestellt werden.
500 000 Menschen erblinden in jedem Jahr. Es ist
ethisch nicht vertretbar, den Menschen eine solche Sorte
zu verwehren, die ihnen das Schicksal der Erblindung
ersparen könnte, nur weil Menschen in Europa emotionale Vorbehalte gegenüber gentechnisch veränderten
Pflanzen empfinden. Obwohl die Diskussion um den
Goldenen Reis seit langem geführt wird, berücksichtigt
der Weltagrarbericht diese Chance nicht.
Der größte Fortschritt gegen den Hunger wurde in
den letzten 15 Jahren in Südasien, Lateinamerika und
der Karibik erzielt. Diese Länder sind Beispiele für gute
Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und eine offene
Einstellung gegenüber Wissenschaft und technologischem Fortschritt. Hingegen stehen auf der Verliererseite die sogenannten Failed States, in denen Bürgerkriege, Korruption und Menschrechtsverletzungen
jegliche Bemühungen um Bildung der ärmeren Bevölkerungsschichten und Zugang zum landwirtschaftlichen
Fortschritt zunichtegemacht haben.
Die weltweite Landwirtschaft muss gestärkt werden.
Investitionen in die Landwirtschaft müssen gerade in armen Ländern erhöht werden. Darüber hinaus sind weltweit auf allen Ebenen große Anstrengungen nötig, um
die Effizienz zu erhöhen, den Ressourcenverbrauch zu
vermindern und eine faire Verteilung der produzierten
Agrargüter sicherzustellen. Der Weltagrarbericht liefert
hierzu interessante Anregungen, aber als eine solide
Grundlage für Regierungshandeln ist er nicht geeignet.
Deswegen ist aus Sicht der FDP eine Unterzeichnung
dieses Berichts nicht sinnvoll. Wir stehen damit im Einklang mit der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten.
„Business as usual is not an option!“ Das ist - grob
zusammengefasst - die zentrale Botschaft des Weltagrarbericht. Und auch für die Linke ist ein einfaches
Weiter-so keine Option angesichts der dramatischen
agrarwirtschaftlichen Defizite weltweit: bei der Durchsetzung des Rechts auf Nahrung und der regionalen
Nahrungssouveränität, bei der Verteilungsgerechtigkeit
an Lebensmitteln, Boden oder Wasser, bei der Nachhaltigkeit der Nahrungsmittelproduktion, dem Kampf gegen
den Klimawandel oder gegen den Verlust an biologischer Vielfalt. In einer Broschüre zum Weltagrarbericht
heißt es:
Die Art und Weise, wie die Weltgemeinschaft in den
nächsten Jahrzehnten ihre Ernährung und deren
Produktion gestaltet, wird die ökologische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zukunft unseres
Zu Protokoll gegebene Reden
Planeten bestimmen. Je früher wir die unvermeidlichen Konsequenzen ziehen, desto besser sind die
Erfolgsaussichten.
Doch wenn Weiter-so nicht geht, was dann? Dieser
Frage stellten sich über 500 Expertinnen und Experten
bei der Erarbeitung des Weltagrarberichts und suchten
nach Lösungswegen. Sie haben ihre Erfahrungen und
Erkenntnisse auf Hunderten Seiten zusammengetragen.
Besonders bemerkenswert finde ich, dass nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder gar die fortschrittsgläubige Agrarindustrie alleine am Projekt beteiligt waren. Bei vielen Berichten ist das ja der Fall;
daher sind sie oftmals mit Vorsicht zu genießen. Beim
Weltagrarbericht war das anders: Hier wurde nicht nur
auf wissenschaftliches, sondern auch auf nichtwissenschaftliches, also traditionelles Wissen zurückgegriffen.
Ziel war, möglichst viele Perspektiven einzubeziehen,
um eine große Vielfalt an Lösungsvorschlägen für eine
der zentralen Zukunftsfragen zu erarbeiten: Wie kann
sich eine wachsende Menschheit ernähren? Es gab Zuarbeiten aus armen und reichen Ländern, von Frauen
und Männern, von Theoretikerinnen und Theoretikern
sowie Praktikerinnen und Praktikern. Durch diese Vielfalt aus aller Welt, vielen Professionen und Denkschulen
ist im Ergebnis ein solider und ernst zu nehmender Bericht entstanden, was ihn klar von manch anderem Bericht unterscheidet.
Für mich kann der Weltagrarbericht einen ähnlichen
Erfolgsweg hin zu einer hohen moralischen und politischen Legitimation gehen wie der Weltklimabericht, Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC. Dessen erste Ausgabe wurde 1990 mehrheitlich nur milde
belächelt, der Klimawandel von vielen geleugnet. Doch
mittlerweile ist der vierte, nach kontinuierlicher Arbeit
am Thema 2007 erschienene Weltklimabericht allseits
anerkannt, politische Entscheidungen werden zunehmend an seinen Erkenntnissen ausgerichtet. Der Erkenntnisgewinn sollte beim Weltagrarbericht schneller
gehen. Die Agrar- und Entwicklungspolitik gehört weltweit auf den Prüfstand, und wir sollten bereits die Ergebnisse dieses ersten Weltagrarberichts in unserem eigenen Interesse sehr ernst nehmen.
Neben der Betonung regionaler Ernährungssouveränität unterstreicht der Bericht die Bedeutung der Frauen
bei der Lösung der Probleme in den ländlichen Räumen.
Der Weltagrarbericht schreibt den Frauen die zentrale
Rolle bei der Sicherung eben dieser Ernährungssouveränität zu. Frauen spielen weltweit nach wie vor die entscheidende Rolle in bäuerlichen Familienbetrieben. Das
ist ein allzu oft vernachlässigtes Thema, auch in der EU.
Die Linke hat immer wieder darauf hingewiesen. Darum
möchte ich auch an dieser Stelle darauf eingehen.
Im Bericht werden völlig verschiedene Erwerbssituationen von Frauen in der Agrarwirtschaft beschrieben.
Einerseits greifen große exportorientierte Agrarunternehmen in den Industriestaaten gewinnsteigernd auf die
billige weibliche Arbeitskraft zurück. Andererseits zeigt
so mancher LPG-Nachfolgebetrieb in Ostdeutschland,
dass Frauen solche Betriebe auch unter den Bedingungen der Marktwirtschaft exzellent, mit hoher sozialer
und ökologischer Verantwortung zu leiten verstehen. Betont wird, dass in den osteuropäischen Staaten die formalen Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der
Landwirtschaft kaum vorhanden waren. Durch die wirtschaftliche Liberalisierung nach 1989 wurde diese Errungenschaft zunichte gemacht. Neben nichtexistenzsichernden Erwerbssituationen von Frauen und einem
Rückfall in puncto Gleichstellung werden der mangelhafte Zugang zu Bildung und nichtlandwirtschaftlichen
Beschäftigungsmöglichkeiten hervorgehoben. Aber es
gibt auch hoffnungsvolle Entwicklungen: Beispielweise
in Subsahara-Afrika könne bei der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen ein klarer Wandel festgestellt werden. Frauen übernehmen immer mehr Aufgaben wie Bodenvorbereitung, Pflanzenschutz oder
Verkauf der Ernte.
Die Abwanderung junger Männer in die urbanen
Zentren erzwingt, dass viele Familien und Landwirtschaftsbetriebe nun von Frauen geführt werden. Dabei
gewinnen Fragen nach Landbesitz und Zugang zu
fruchtbarem Land eine neue zentrale Bedeutung. Vormals waren sie klar in männlicher Hand. Heute sind
neue gesetzliche und auch soziokulturelle Änderungen
nötig. Frauen brauchen Zugang zu Agrarverbänden und
Zugang zu Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Im
Bericht wird gleichzeitig betont, dass Frauen oft in ihren
Rollen als Familienfürsorgerinnen, Pflanzensammlerinnen, Gärtnerinnen, Kräuterspezialistinnen, Saatgutpflegerinnen und inoffizielle Pflanzenzüchterinnen über
sehr wertvolles Wissen zur Nutzung lokaler Pflanzenund Tiersorten für Ernährung, Gesundheit und Familieneinkommen verfügen. Dieser scheinbar kleine, aber
sehr wichtige Aspekt aus dem Weltagrarbericht macht
deutlich, wie bedeutsam eine breite Debatte über diese
Themen ist, auch hier im Bundestag. Die Linke hat daher den Antrag „Erkenntnisse des Weltagrarberichtes
zur Grundlage deutscher, europäischer und internationaler Agrar- und Entwicklungspolitik machen“ gestellt.
Wir fordern die Bundesregierung auf, den Weltagrarbericht schnellstmöglich zu unterschreiben. Das wäre ein
klares Bekenntnis Deutschlands und würde die wichtigen Ergebnisse des Berichts anerkennen. Damit würde
sich Kanzlerin Merkel nicht einmal weiter aus dem
Fenster lehnen, als es zum Beispiel Großbritannien,
Finnland oder Schweden längst getan haben.
Viel wichtiger als das Unterschreiben ist allerdings,
dass seine Ergebnisse berücksichtigt und seine Fortentwicklung zum zweiten Weltagrarbericht finanziell gesichert werden. Hier steht Deutschland als reiches Land
in der Pflicht. Darum fordern wir im Antrag von der
Bundesregierung, „sich an der Fortführung des Weltagrarberichtes und der Finanzierung dieses Prozesses“
zu beteiligen. Und auch in die Debatte um die Zukunft
der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik, GAP,
nach 2013 müssen die Erkenntnisse des Weltagrarberichtes einbezogen werden. Wichtig ist, dass der Weltagrarbericht nicht nur weises Papier bleibt, sondern zu
politischen Veränderungen führt. Dafür setzt sich die
Linke ein. Darüber sollten wir im Fachausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz diskutieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Botschaft des Weltagrarberichts ist deutlich: Die
Intensivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft ist kein Beitrag zur Ernährungssicherung. Nicht
die Agro-Gentechnik, die die Bundesregierung als „BioÖkonomie“ mit über 2 Milliarden Euro fördert, nicht die
von Schwarz-Gelb verfolgten aggressiven Exportstrategien, nicht die auf Futtermittelimporten basierenden
Megamastställe können die bald 9 Milliarden Menschen
ernähren. Nur eine umweltgerechte, dezentrale, moderne bäuerliche Landwirtschaft löst die eklatanten Verteilungs- und Gerechtigkeitsprobleme bei den Ressourcen wie Böden, Wasser und Lebensmittel.
Die Übernutzung unserer natürlichen Ressourcen gefährdet langfristig den Erfolg der Produktion. Mit unserem Konsum- und Lebensstil verbrauchen wir 2,5 Planeten. Die Bundesregierung und Ministerin Aigner
missachten die Ergebnisse von 500 internationalen Wissenschaftlern und weigern sich, den Bericht zu unterzeichnen, wie dies UN, Weltbank und 60 Regierungen
getan haben. Stattdessen treiben sie die aggressive Exportpolitik Deutschlands im Agrarbereich weiter zu Lasten der Armutsregionen.
In den letzten 50 Jahren verdoppelte sich die Bevölkerung auf 6,9 Milliarden Menschen, die Produktivität in
der Landwirtschaft stieg um 2,5 Prozent. Obwohl weltweit ein Drittel mehr an Kalorien zur Verfügung steht,
als zur Ernährung aller benötigt würde, hungert eine
Milliarde Menschen. Die sogenannte Revolution der
Landwirtschaft mit gesteigertem Pestizid- und Düngereinsatz verschärft die Armut und den Hunger. Daraus
müssen Konsequenzen gezogen werden.
Die Unterschriften der Bundesrepublik Deutschland
unter die Millenniumsziele und das Recht auf Nahrung
verlangen einen Paradigmenwechsel. Es muss eine politische Neuausrichtung im Handel und der Agrarförderung weg von der Förderung der Industrialisierung,
Agro-Gentechnik und Großstrukturen hin zur Unterstützung kleiner und mittelgroßer Landwirtschaft geben.
Das gilt auch und gerade in der EU. Anstatt dem EUKommissar bei den vorsichtigen Reformvorschlägen zur
Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik - GAP - unter
die Arme zu greifen, geht es Ministerin Aigner und dem
Deutschen Bauernverband um die Entwicklung der
Landwirtschaft hin zu billigen Rohstofflieferanten.
Durch das Dumping dieser Produkte auf dem Weltmarkt
werden die Strukturen in den Entwicklungsländern zerstört.
Wir fordern öffentliches Geld für öffentliche Güter
und gute Lebensmittel - nicht für chemische Intensivierung. Umwelt- und Klimaschutz, Arbeitsplätze in ländlichen Regionen, Erhalt von Biodiversität und Gentechnikfreiheit - das alles sind Leistungen, für die die Menschen
durchaus bereit sind, die Landwirtschaft zum Teil mit öffentlichen Geldern zu fördern. Essen ist Leben, Essen für
alle und Bio und Fair ernährt mehr - das sind heute die
Themen in der Gesellschaft. Wir fordern die Bundesregierung auf, daran zu arbeiten, dass nicht 50 Prozent
der Lebensmittel weggeworfen und 30 Millionen Hektar
als Fläche für den Futteranbau für die Massentierhaltung benötigt werden.
Wissenschaftlich falsch und Ausdruck einer einseitigen Interessenvertretung sind die Angriffe, die die
christdemokratischen Parteien CDU und CSU kürzlich
auf die Kirchen und ihre Entwicklungsarbeit ausgeführt
haben. Herr Kollege Röring, die Hilfsorganisationen
haben den Mut, sich auf die Seite der Armen und gegen
die Methoden der internationalen Agrarindustrie zu
stellen, die mit Raubbau, Landgrabbing und Marktbeherrschungsstrategien zur Verschärfung der Hungerprobleme beiträgt. Da haben Sie unsere ganze Unterstützung.
Wir nehmen auf einer großen Konferenz zum Thema
„BodenLos“ am Wochenende die Probleme des Landraubs in Entwicklungsländern, die Agrarspekulationen
und die unfairen Handelsbeziehungen in den Fokus. Von
der Bundesregierung fordern wir, mit einer konsistenten
Politik zwischen Agrar, Handel und Entwicklungszusammenarbeit sozial und ökologisch angepasste Landbewirtschaftungsformen voranzubringen und so zur Lösung der Probleme beizutragen, anstatt diese zu
forcieren.
Wir halten aber auch das Ansinnen der Linkspartei,
hier in einer Kampfabstimmung im Deutschen Bundestag die Koalition zur Ablehnung des Weltagrarberichtes
zu treiben, für nicht besonders zielführend. Stattdessen
wollen wir einen konstruktiven Dialog zwischen allen
Fraktionen darüber, wie man bei der Umsetzung der Erkenntnisse in der deutschen, europäischen und internationalen Politik Fortschritte erzielen kann und so der
Realisierung des Rechts auf Nahrung ein Stück näher
kommt.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 17/3542 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und zur Mitberatung an den Ausschuss
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und den Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union zu überweisen. - Damit sind
Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 31:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph
Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Extraprofite von Atom- und Kohlekraftwerksbetreibern abschöpfen
- Drucksache 17/3673 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Heute zu später Stunde sprechen wir erneut über die
Besteuerung der Energiewirtschaft. Die Linke fordert
drei neue Steuern für die Betreiber von Atom- und
Kohlekraftwerken.
Erst vor wenigen Tagen haben wir im Bundestag in
zweiter und dritter Lesung das Kernbrennstoffsteuergesetz verabschiedet. Jetzt kramen die Linken einen Antrag heraus, der erstens die eben eingeführte Kernbrennstoffsteuer abschaffen will und zweitens anstelle
derer gleich drei neue Steuern fordert.
Sehr geehrte Linksfraktion, ich glaube, Sie haben den
richtigen Zeitpunkt für Änderungen verschlafen. Ihre
Änderungsvorschläge hätten Sie in die Diskussion einbringen sollen, als wir in den vergangenen Wochen über
das Energiekonzept und die Kernbrennstoffsteuer hier
im Parlament und in den zuständigen Ausschüssen debattiert haben.
Aber ich wiederhole mich gerne, um Ihnen den Zusammenhang zu erklären. Die Kernbrennstoffsteuer
bringt dem Bund jährlich 2,3 Milliarden Euro Steuereinnahmen und wird für den Schuldenabbau im Rahmen
des Sparpakets genutzt. Wir halten diese Steuer aus ökologischen und ökonomischen Gründen für richtig und
zielführend. Sie steht gleichzeitig im Einklang mit dem
Energiekonzept der Bundesregierung, welches ebenfalls
breit diskutiert wurde.
Die Einführung der Kernbrennstoffsteuer ist richtig,
da die Kernenergie eben nicht vom CO2-Emissionshandel betroffen ist und somit gegenüber anderen Energieträgern bevorzugt war. Wir halten das auch für richtig,
weil gerade die Kosten für Endlagerung und für den
Rückbau der Kernkraftwerke im Wesentlichen vom Steuerzahler in Deutschland getragen werden. Wir halten
das für richtig, weil der Strommarkt mehr Chancengleichheit braucht und gerade die großen vier nationalen Stromversorger hier einen Wettbewerbsvorteil
gegenüber vielen kleinen und mittelständischen Stromanbietern haben. Auch hier wollen wir Chancengerechtigkeit und mehr Wettbewerb.
Man muss auch sagen, dass der Begriff „Steuer“ irreführend ist. Es handelt sich im Wesentlichen nicht um
eine Steuer, sondern um einen Subventionsabbau. Auch
das ist Teil des Sparpakets. Deshalb sagen wir: Es werden die wirtschaftlichen Vorteile der Kernenergie reduziert und zusätzliche Anreize für regenerative Energien
geschaffen. Das ist in den kommenden Jahren der richtige Weg und entspricht im Grundsatz auch Ihrem Ansinnen.
Aber genau betrachtet ist der Antrag der Linkspartei
wieder ein Beispiel für einfach durchschaubaren Populismus, mit dem Sie die Menschen verunsichern wollen.
In fünf Spiegelstrichen und acht Sätzen meinen Sie, die
Frage der Energiebesteuerung neu lösen zu wollen. Wir
werden mit Sicherheit nicht die Kernbrennstoffsteuer
abschaffen und gegen Ihre halbherzigen Schnellschüsse
austauschen. Dafür nenne ich Ihnen vier Gründen.
Erstens. Wir wollen, dass Energie in Deutschland bezahlbar bleibt. Darauf sind die kleinen und mittelständischen Betriebe, die großen Industrieunternehmen und
die Verbraucher angewiesen. Wir haben durchgesetzt,
dass die strom- und energieintensiven Unternehmen
nicht zu stark belastet werden. Wir setzen mit der Kernbrennstoffsteuer bewusst bei den Energieerzeugern an.
Indem wir einen Großteil der Gewinne der Kernkraftwerksbetreiber abschöpfen, lösen wir keine direkten
Preisreaktionen im Markt aus. Strompreise bilden sich
heute an den Börsen. Den Strompreis beeinflussen die
teureren fossilen Grenzkraftwerke weit stärker als die in
der Stromproduktion günstigeren Kernkraftwerke. Mit
Ihrer Energiepolitik wälzen Sie die Steuerlast letztendlich auf die Verbraucher ab. Damit sind wir nicht einverstanden.
Zweitens. Die Forderung, die neuen Steuern nicht als
abzugsfähige Betriebsausgaben gelten zu lassen, ist methodisch unmöglich. Sie können das zwar gerne kritisieren, aber diese Steuer ist eine Ausgabe. Sie mindert das
Betriebsergebnis der Unternehmen. So etwas können
nur Leute fordern, die noch nie eine Bilanz gelesen haben oder von der Planwirtschaft träumen.
Drittens. Ihr Zeitplan ist absolut unrealistisch. Schon
bei dem Haushaltsbegleitgesetz und dem Kernbrennstoffsteuergesetz waren wir knapp in der Zeit, um eine
Einführung zum 1. Januar 2011 sicherzustellen. Ihre
Forderungen sind jetzt nicht umzusetzen. Sie kennen die
parlamentarischen Abläufe. Auch die Industrie und die
Finanzbehörden, in dem Fall der Zoll, benötigen einen
ausreichenden Vorlauf.
Und viertens. Die Erhebung Ihrer sogenannten „Abschöpfungssteuer“ ist ohne die Europäische Union
überhaupt nicht möglich. Wir haben bewusst darauf geachtet, dass die Kernbrennstoffsteuer grundsätzlich mit
EU-Recht kompatibel ist. Denn Brennelemente werden
nicht von der EU-Energiesteuerrichtlinie erfasst.
Die Energiepolitik von CDU, CSU und FDP und das
Energiekonzept der Bundesregierung geben Sicherheit
für langfristige Planungen und Investitionen in Deutschland. Wir gehen einen verlässlichen Weg - das unterscheidet uns von den anderen Parteien. Den Antrag der
Linkspartei können wir nicht unterstützen.
Ihre Idee, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Linken, die Windfallprofits abzuschöpfen, ist - zumindest was die Atomwirtschaft betrifft - nicht neu. Die
SPD-Fraktion hat schon Anfang Juli dieses Jahres einen
fast gleichlautenden Antrag in den Bundestag eingebracht. Im Grundsatz scheinen Sie also mit unserer Forderung übereinzustimmen, was wir begrüßen. Ihr Antrag gibt mir die Gelegenheit, unser Konzept noch
einmal vorzustellen.
Die Atomenergiebetreiber sind in der Tat begünstigt,
müssen sie doch keine CO2-Zertifikate kaufen. Dies liegt
daran, dass die Kraftwerke bei der Energieerzeugung
kein CO2 ausstoßen. Bei Betrachtung der gesamten
Wertschöpfungskette - angefangen vom Uranabbau bis
hin zur Zwischenlagerung - relativiert sich dieser
Aspekt dann wieder. Das hilft uns aber nicht weiter. Die
Zu Protokoll gegebene Reden
CO2-Emissionszertifikate, die ab 2005 zugeteilt wurden
und ab dem Jahre 2013 in vollem Umfang erworben
werden müssen, wurden von den Atomkraftwerksbetreibern einfach eingepreist. Die daraus entstehenden
Mitnahmegewinne betragen laut Ökoinstitut circa
3,4 Milliarden Euro. Der Wettbewerb zwischen den
Energieerzeugern wird durch die direkte und indirekte
Subventionierung der Atomenergiewirtschaft erheblich
verzerrt.
Im Gegenzug zu den wirtschaftlichen Vorteilen der
Atomenergieerzeuger haben sich die wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen der Nutzung der Atomenergie zur
gewerblichen Stromerzeugung in den letzten zehn Jahren gravierend verändert. Die Kosten für eine sichere
Lagerung radioaktiver Abfälle und die notwendige Sanierung vorhandener Lagerstätten haben sich vervielfacht, wodurch sich die bisher erhobenen Kosten für die
Benutzung der Anlagen als nicht deckend erweisen. Abzuwarten bleibt, ob die verpflichtenden steuerbegünstigten Rückstellungen der Atomkraftwerksbetreiber für
Stilllegung, Entsorgung und Rückbau ausreichen und
die benötigten Gelder fristgerecht verfügbar sein werden. Letztlich müssen die Kosten, die nicht von den Verursachern getragen werden, wie in den vergangenen
Jahrzehnten vom Staat und damit den Steuerzahlern finanziert werden. Das ist ein vollkommen untragbarer
Zustand.
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit beziffert die künftigen Ausgaben des
Bundes allein für die Stilllegung und den Rückbau kerntechnischer Anlagen, darunter die Endlager Asse II und
Morsleben, mit mindestens 7,7 Millarden Euro. Gerade
in Morsleben wurden während der Amtszeit der damaligen Bundesumweltministerin Merkel erhebliche Mengen
radioaktiven Materials aus den alten Bundesländern
einlagert.
All diese Umstände erfordern es dringend, die den
Atomkraftbetreibern zufallenden leistungslosen Gewinne angemessen abzuschöpfen; da sind wir uns mit
Ihnen vollkommen einig. Die SPD hat sich abweichend
zum heute debattierten Antrag der Linken für die Erhebung einer Brennelementesteuer entschieden. Auf die
Preisbildung an der Strombörse hätte eine solche Steuer
- wie die Auktionierung von Emissionszertifikaten keine Auswirkung, da sie sich an den Produktionskosten
des sogenannten Grenzkraftwerks orientiert; dies ist in
der Regel ein Kohlekraftwerk. Die von Schwarz-Gelb
verabschiedete Kernbrennstoffsteuer in Höhe von
145 Euro pro Gramm Kernbrennstoff ist absolut unzureichend, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Nach
einhelliger Auffassung aller im Rahmen der Anhörung
des Haushaltsausschusses am 14. Oktober 2010 gehörten Sachverständigen ist das Regierungskonzept noch
nicht einmal geeignet, um das Einnahmeziel von jährlich 2,3 Milliarden Euro zu erzielen. Sie ist erst recht
nicht geeignet, Einnahmen über diese 2,3 Milliarden
Euro hinaus an den Energie- und Klimafonds abzuführen. Das zeigen schon die Vorgänge beim Kraftwerk in
Biblis, wo die Betreiber den Austausch von Kernbrennstäben einfach schon auf dieses Jahr vorgezogen wird.
Da die von der schwarz-gelben Koalition verabschiedete Steuer nur beim erstmaligen Einsatz von Brennelementen fällig wird, können die Betreiber der Regierung
gleich am Anfang einen schmerzhaften Einnahmeverlust
zufügen.
Wir als SPD haben daher gefordert, die Steuer zunächst auf 220 Euro pro Gramm Brennstoff anzuheben,
da diese Angabe aus dem ursprünglichen Referentenentwurf des Gesetzes zumindest das für die Haushaltskonsolidierung vorgesehene Aufkommensvolumen sichert.
Weitere 50 Euro pro Gramm Brennstoff müssen hinzukommen, um die Kürzungen der Bundesregierung im
Haushaltsentwurf 2011 bei den Ausgabetiteln der nationalen Klimaschutzinitiative und der Förderprogramme
für erneuerbare Energien, aber auch die Kürzungen des
CO2-Gebäudesanierungsprogramms über den Fonds
auffangen zu können. Darüber sind weitere 30 Euro pro
Gramm Brennstoff notwendig, um die vorgesehene Abgabe der Kernkraftwerksbetreiber an den Fonds als Gegenleistung für die Laufzeitverlängerung zu ersetzen, da
diese von der SPD-Fraktion abgelehnt wird. Zu guter
Letzt brauchen wir nochmals 40 Euro pro Gramm
Brennstoff, um die steuerlichen Einnahmeausfälle der
Länder und Kommunen zu kompensieren, da die Brennelementesteuer den Gewinn der Unternehmen schmälert. Wer jetzt mitgerechnet hat, kommt in Summe auf
eine Steuer von 340 Euro pro Gramm Kernbrennstoff.
Damit eine Besteuerung von Brennelementen ihre
volle Wirksamkeit entfalten kann, haben wir immer gefordert, die Befristung zu streichen, was uns ja leider
nicht gelungen ist. Es ist unverantwortlich, der Gesellschaft durch die Laufzeitverlängerung höhere Risiken
und Kosten zu zumuten, die Verursacher aber weitaus
früher - nämlich schon im Jahr 2016 - aus ihrer Verantwortung zu entlassen.
Die Brennelementesteuer ist ein guter und gangbarer
Weg, Extragewinne der Atomkraftbetreiber abzuschöpfen, wenn so ausgestaltet worden wäre, wie wir es als
SPD vorgeschlagen haben. Wir hätten uns gefreut, verehrte Kollegen und Kolleginnen der Linken, wenn Sie
unseren Antrag mitgetragen hätten. Ihrem Antrag können wir schon alleine deshalb nicht zustimmen, da er
nur auf das von der Regierung erstellte Steuerkonzept
abzielt und die Brennelementesteuer als Instrument ablehnt.
Seit zehn Jahren warteten wir darauf: Die christlichliberale Koalition hat jetzt endlich mit ihrem Energiekonzept einen belastbaren Fahrplan für die Energieversorgung vorgelegt. Wir gehen den Weg ins Zeitalter der
erneuerbaren Energien unter Berücksichtigung von Klimaschutz, Versorgungssicherheit und bezahlbarer Energiepreise. Die Koalition wird mit ihrem ehrgeizigen
Energiekonzept sicherstellen, dass die Verlängerung der
Restlaufzeiten den Stromkunden und nicht den Stromerzeugern dient.
Der Antrag der Fraktion Die Linke dagegen ist - wieder einmal - ein Zeugnis typisch linker Ideologie und
hat nur das eine Ziel: Unternehmen müssen geschröpft
werden. Das gilt besonders für große Unternehmen und
Zu Protokoll gegebene Reden
erst recht, wenn es sich um Betreiber von Kernkraftwerken handelt. Bei Ihrem Kreuzzug gegen die Wirtschaft,
hier konkret gegen die Betreiber von Kraftwerken, ist Ihnen völlig entgangen, dass die jetztige Bundesregierung
bereits gehandelt hat. Wir haben mit den Unternehmen
einen Vertrag geschlossen, der genau diese Gewinnabschöpfungen regelt. Wir haben darüber hinaus beschlossen, zum 1. Januar 2011 für die Betreiber von Kernkraftwerken in Deutschland eine Steuer auf den Verbrauch
von Brennstäben einzuführen. Diese Kernbrennstoffsteuer bringt dem Bund jährlich rund 2,3 Milliarden
Euro Steuereinnahmen.
Die neue Steuer wird zeitlich begrenzt von 2011 bis
2016 erhoben. Wir schöpfen die Gewinne der Kernkraftwerksbetreiber in Milliardenhöhe - zu über 50 Prozent ab und fördern erneuerbare Energien mit zweistelligen
Milliardenbeträgen. Hinzu kommen ab 2013 die Einnahmen aus der Versteigerung von Emissionszertifikaten,
die zum Großteil in erneuerbare Energien, Energieeffizienz und in die Forschung investiert werden. Das heißt
konkret: Der konventionelle Kraftwerkspark aus Kernenergie, Kohle und Gas finanziert letztendlich den Übergang ins Zeitalter der erneuerbaren Energien.
Zusätzlich zur Kernbrennstoffsteuer wird den Energieerzeugern ein substanzieller Beitrag zur Förderung
erneuerbarer Energien abverlangt. Durch eine vertragliche Vereinbarung leisten die Betreiber in den Jahren
2011 bis 2016 Zahlungen in einer Höhe von bis zu
300 Millionen Euro jährlich. Wir haben von Anfang an
gesagt, wir wollen die Kernenergie in einer Größenordnung der Hälfte der Windfall Profits abschöpfen. Das
haben wir auch getan. Das ist gerechtfertigt, sinnvoll
und angemessen.
Darüber hinaus sehen wir aber auch, dass es ein legitimes Interesse von Unternehmen gibt, Gewinne zu erwirtschaften. Für die Linken ist dies moralisch verwerflich, und deshalb sind jeder Gewinn und jedes Vermögen
so hoch wie möglich zu versteuern; egal ob bei Unternehmen oder den Bürgerinnen und Bürgern. Dabei
schießen sie regelmäßig über das Ziel hinaus.
Aber: Die Forderung der Linken nach noch mehr Gewinnabschöpfung entlarvt sich selbst als ideologisch,
widersprüchlich und populistisch. In Ihrem Antrag gehen Sie natürlich nicht darauf ein, dass noch mehr Gewinnabschöpfung zulasten der Körperschaftsteuer,
sprich des Bundes, und natürlich auch zulasten der Gewerbesteuer geht und damit die Standort-Kommunen zusätzlich belastet. Andererseits lassen Sie keine Gelegenheit aus, dies dieser Regierung vorzuwerfen. Das ist
heuchlerisch.
Ich stelle fest: Diese Regierung hat den richtigen Weg
beschritten: mit Augenmaß und Vernunft.
Letzte Woche ging durch die Presse, dass RWE noch
in diesem Jahr die Hälfte der 193 Brennelemente des
Atomkraftwerks Biblis B austauschen will. Es ist leicht
durchschaubar, worum es dabei geht: Der Konzern will
schlicht die Brennelementesteuer umgehen, die zum
1. Januar 2011 in Kraft tritt. Denn sie gilt nur für solche
Brennelemente, die neu eingewechselt werden. Es liegt
förmlich auf der Hand, dass RWE nun frühzeitig neue
Stäbe einsetzen will, um die Steuer zu umschiffen. RWE
spart dadurch 280 Millionen Euro. Es ist kein Wunder,
dass andere Atomkonzerne nun Ähnliches vorhaben.
Würde die Besteuerung der AKWs nach dem Konzept
unseres Antrags durchgeführt, wären solche Schlupflöcher geschlossen. Allerdings wollen Union und FDP sie
wohl gar nicht schließen. Schließlich war die Bundesregierung frühzeitig über das Vorhaben von RWE informiert - zwei Wochen, bevor das Kernbrennstoffsteuergesetz hier im Haus durchgepeitscht wurde. Zudem hätte
Schwarz-Gelb eine Bremse gegen Vorzieheffekte einbauen können, wie bei der neuen Flugticketsteuer geschehen. Diese wird nämlich rückwirkend zum 1. September eingeführt, dem Tag des Kabinettsbeschlusses.
So soll vermieden werden, dass sich Reisende noch
schnell mit steuerfreien Flügen fürs nächste Jahr eindecken.
Ohnehin ist die von der Regierung vorgesehene Abschöpfung von Sondergewinnen aus der Laufzeitverlängerung ein Witz. Nach Berechnungen des Öko-Instituts
kassieren die Atomkonzerne zusätzlich zwischen 58 Milliarden Euro und 94 Milliarden Euro. Hinzu kommen
Finanzerträge aus den Rückstellungen für den Rückbau
und die Entsorgung der Atomkraftwerke bzw. der abgebrannten Brennelemente in Höhe von zirka 20 Milliarden Euro. Nach den Plänen der Bundesregierung soll
nur weniger als die Hälfte davon abgeschöpft werden,
vielleicht auch nur ein Drittel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie
haben mit der Laufzeitverlängerung nicht nur gegen den
Willen der Mehrheit der Bevölkerung agiert und eine
Energiepolitik ins Gestern eingeleitet. Sie schustern den
Atomkonzernen dabei auch noch Dutzende Milliarden
zu. Somit stärken sie auch über die Steuerpolitik die
Marktmacht der „Großen Vier“ und behindern so eine
zukunftsfähige Energieversorgung.
Die sogenannten windfall profits, um die es hier geht,
gibt es nicht erst seit der Laufzeitverlängerung. Sie sind
ein grundsätzliches Problem, auch für fossile Kraftwerke, und zwar seit der Einführung des Europäischen
Emissionshandelssystems im Januar 2005. Seitdem preisen die Stromversorger die Marktpreise der CO2-Emissionsberechtigungen als Opportunitätskosten in die
Strompreise ein. Dies tun sie unbeschadet der Tatsache,
dass 91 Prozent der Zertifikate an die Kraftwerksbetreiber kostenlos zugeteilt wurden. Auf diese Weise erzielen
die Energieversorger jährliche Sondergewinne in Milliardenhöhe, welche die Verbraucherinnen und Verbraucher mit ihrer Stromrechnung bezahlen. Darauf hat die
Linke seinerzeit als erste Partei aufmerksam gemacht.
Seitdem haben wir immer wieder Änderungen angemahnt, etwa eine „windfall-profit-tax“. Passiert ist aber
nichts. Selbst den anderen Oppositionsparteien war dies
lange Zeit egal, aus welchen Gründen auch immer.
Verschärft wird das Problem dadurch, dass am durch
die Zertifikatskosten erhöhten Strompreis nicht nur Betreiber von Kohle- oder Gaskraftwerken verdienen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Gleichfalls profitieren davon Betreiber von Atomkraftwerken, obwohl ihre Anlagen überhaupt nicht emissionshandelspflichtig sind. Schließlich setzten die laufenden
Kosten jenes Kraftwerks den Handelspreis für alle Börsengeschäfte am Elektrizitätsmarkt, welches als letztes
noch benötigt wird, um die aktuelle Stromnachfrage zu
bedienen. Dieses Kraftwerk ist in der Regel ein Steinkohle- oder Gaskraftwerk; beide preisen den jeweils aktuellen CO2-Handelspreis in ihr Angebot ein. So steigen
auch bei Atomkraftwerken durch den nunmehr höheren
Strompreis die Einnahmen. Aus den genannten Gründen
wollen wir mit unserem Antrag all jene windfall profits
vollständig kassieren, die aufgrund der Preiseffekte des
Emissionshandels anfallen - egal ob nun bei Kohlekraftwerken oder Atommeilern.
Gleichzeitig will ich klarstellen, dass die Linke für die
Atomkraft den unverzüglichen Ausstieg fordert. Wir wollen uns also nicht mit den Verhältnissen anfreunden,
etwa weil dann noch irgendwelche Steuern flössen. In
unserem Antrag geht es vielmehr unabhängig von der
Laufzeitverlängerung darum, Extraprofite der Energieerzeuger zu kassieren, die diese leistungs- und risikolos
einstreichen. Dies wollen wir mit drei Sondersteuern erreichen: zwei für Betreiber von Atomkraftwerken und
eine für Betreiber emissionshandelspflichtiger Anlagen
der fossilen Stromwirtschaft.
Die erste Atomsteuer dient direkt zur Abschöpfung
der windfall profits. Sie soll 2 Cent je Kilowattstunde
Atomstrom für das Jahr 2011 betragen. In den Folgejahren soll sie an die Preisentwicklung für Emissionsberechtigungen angepasst werden. Denn zwischen den
Handelspreisen der Zertifikate und der Höhe der Extraprofite besteht ein enger Zusammenhang. Zusätzlich
wollen wir bei jedem Atomkraftwerk jährlich eine Steuer
von 100 000 Euro pro Megawatt Nettokapazität erheben. Damit sollen sich die AKW-Betreiber an den volkswirtschaftlichen Kosten beteiligen, welche die Atomkraft der Gesellschaft aufbürdet.
Für Betreiber von emissionshandelspflichtigen, fossil
befeuerten Kraftwerken sehen wir im Jahr 2012 ebenfalls
eine Steuer zur Abschöpfung der windfall profits vor, und
zwar für jedes zugeteilte Zertifikat in Höhe des durchschnittlichen Zertifikatspreises des Vorjahres. Ab 2013 erübrigt sich dann das Problem für die fossilen Kraftwerke,
denn ab diesem Zeitpunkt werden die CO2-Zertifikate
laut EU-Recht versteigert und nicht mehr verschenkt.
Für die kostenlose Vergabe hatte sich Deutschland in der
EU seinerzeit ganz besonders stark gemacht, sowohl unter Rot-Grün, als auch unter der großen Koalition. Insofern ist die Linke tatsächlich die einzige Partei, die sich
konsequent gegen den Missbrauch dieses Klimaschutzinstrumentes gewendet hat. Ich lade sie darum alle dazu
ein, nunmehr wenigstens etwas gegen die Auswüchse in
Form der Extraprofite zu unternehmen: Stimmen Sie einfach unserem Antrag zu.
Den Atomkonsens der rot-grünen Bundesregierung
zwischen den Energieversorgern und der Bevölkerung
aufzukündigen, kommt die schwarz-gelbe Regierung,
aber auch das Volk und die Exekutive teuer zu stehen.
Jeder Tag Laufzeit bringt dagegen den Energiekonzernen Eon, RWE, EnBW und Vattenfall pro Atommeiler
einen Gewinn von 1 Million Euro. Strom fürs Ausland,
satte Gewinne für die Stromgroßkonzerne und ihre Aktionäre; der Jahrtausende strahlende Müll jedoch bleibt
für das Volk übrig. Wen wundert da, dass eine im letzten
Jahrtausend vergessen geglaubte Volksbewegung sich
verjüngt in Bewegung setzt und den Widerstand als ihr
Bürgerrecht wieder entdeckt.
Gegen den Volkszorn hilft es auch nicht, dass die
Bundesregierung sich mit dem vereinbarten Ablasshandel ein nettes Deckmäntelchen ausgedacht hat: Die
Atomkonzerne sollen einen Teil ihrer Zusatzgewinne in
einen Energie- und Klimafonds einzahlen, damit man
mit dem Geld dann erneuerbare Energien fördern kann.
Grüne bezweifeln, durch Rechtswissenschaftler gestützt, dass eine solche Konstruktion mit der Finanzverfassung überhaupt in Einklang steht, also rechtlich möglich und verfassungskonform ist. Klar ist: Der Staat
finanziert sich und seine Aufgaben über Steuern. Davon
sollen laut Röttgen auch Atommülltransportmehrkosten
und Endlagersanierungen - wie bei der bald abgesoffenen Asse - bezahlt werden. Folglich ist die Einführung
einer Brennelementesteuer grundsätzlich ein richtiger
Ansatz. Daneben kennt die Rechtsordnung seit langem
auch nichtsteuerliche Abgaben, insbesondere Gebühren,
Beiträge und Sonderabgaben. Diese bedürfen jedoch
stets einer besonderen Rechtfertigung, also eines sachlich rechtfertigenden Grundes und einer klaren Zweckbindung. Nach meiner Auffassung entspricht aber der
sogenannte Förderfondsvertrag zur Bildung von Sondervermögen nach dem Energie- und Klimafonds dieser
Maßgabe nicht. Mit seinen Unwägbarkeiten auf der Einnahmeseite und seinem schwammigen Verwendungszweck ist dieser Vertrag eine Mogelpackung. Der Deal
mit den Energieversorgern lautet: Geld statt Sicherheit.
Die Ausgaben sollen sich nach den Plänen der Bundesregierung an ihrem fatalen Energiekonzept orientieren,
um dessen Wirksamkeit und Effizienz zu verbessern. Es
reicht der gesunde Menschenverstand, um zu begreifen:
Das Vertragswerk ist Ausverkauf von Hoheitsrechten
der Bundesregierung an die Energiekonzerne.
Insofern ist das Anliegen der Linken folgerichtig, die
Extraprofite abzuschöpfen, die bei Stromversorgungsunternehmen aus den Preiseffekten des Emissionshandels
entstehen. Die Grünen unterstützen ihre Forderung die
„Subventionierung der fossil-atomaren Energiewirtschaft auf Kosten von Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie der öffentlichen Haushalte“ unverzüglich
zu beenden.
Selbst für den Bundesverband Christlicher Demokraten gegen Atomkraft, in dem sich CDU- und CSU-Mitglieder für die Überwindung der Kernenergie organisieren, sind Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke
schließlich ein „Ausdruck politischer Idiotie“.
Bei aller Sympathie für die Zielsetzung des Antrags:
Er packt das Problem nicht richtig an. Anstatt auf eine
vernünftige Ausgestaltung und Höhe der Brennelementesteuer zu setzen, wie wir Grünen es tun, will die Linke
Zu Protokoll gegebene Reden
zwei neue Steuern auf Atomstrom einführen. Das macht
die Sache unnötig kompliziert und setzt sie rechtlichen
Unwägbarkeiten aus.
Insbesondere die unter Punkt zwei geforderte Steuer
zum Ausgleich für externalisierte Schäden stünde rechtlich auf wackeligen Füßen. Schon die Frage, in welcher
Höhe Kosten durch externalisierte Schäden angelegt
werden können, wäre mit Sicherheit Gegenstand langjähriger gerichtlicher Auseinandersetzungen. Entsprechend fraglich ist unter steuerrechtlichen Aspekten die
Festlegung auf 100 000 Euro pro Megawatt installierter
Nettoleistung.
Die Zielrichtung des Antrags ist gut, die Ausführung
lässt Zweifel zu. Ich kann keinen Vorteil gegenüber dem
Konzept einer Brennelementesteuer erkennen. Auch hier
haben wir durch die Besteuerung der Brennelemente die
Möglichkeit, die Atomwirtschaft angemessen an den gesellschaftlichen Kosten zu beteiligen. Mit dem Konzept
der Linken würden wir dagegen Gefahr laufen, nach
jahrelangen Gerichtsprozessen leer auszugehen.
Wir halten deshalb an unserem Konzept einer anspruchsvollen Brennelementesteuer fest. Das haben wir
bereits im Juli in den Bundestag eingebracht.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3673 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie
ebenfalls einverstanden. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung.
Ich bedanke mich herzlich, dass Sie so lange ausgeharrt haben, wünsche Ihnen noch einen schönen Abend
und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 12. November, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.