Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
({0})
Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges
Mitglied Hans Matthöfer, der am 14. November dieses
Jahres im Alter von 84 Jahren nach langer und schwerer
Krankheit verstarb. Hans Matthöfer wirkte als Mitglied
des Deutschen Bundestages und als Angehöriger der
Bundesregierung über viele Jahrzehnte in herausragenden Ämtern für die Bundesrepublik Deutschland.
Hans Matthöfer wurde am 25. September 1925 in Bochum als Kind eines Hütten- und Fabrikarbeiters geboren. Nach Volksschule und Beginn einer kaufmännischen Lehre durchlebte er als junger Soldat von 1943 bis
1945 die Schrecken des Krieges. Nach Rückkehr aus der
Kriegsgefangenschaft schloss Hans Matthöfer im Juli
1946 eine Dolmetscherprüfung sowie anschließend seine
Lehre als Industriekaufmann erfolgreich ab. Über den
zweiten Bildungsweg schloss er das Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 1953 als Diplomvolkswirt ab und arbeitete dann bis 1957 in der Abteilung Wirtschaft beim Vorstand der Industriegewerkschaft Metall.
Danach war er bei der Vorläuferorganisation der OECD
in Washington und Paris tätig und kehrte 1960 nach
Frankfurt zurück, wo er bis Anfang der 70er-Jahre die
Abteilung Bildungswesen beim Vorstand der IG Metall
leitete.
Seit 1950 engagierte sich Hans Matthöfer in der SPD,
deren Bundesvorstand er von 1973 bis 1984 angehörte.
Von 1985 bis 1987 war er Schatzmeister der SPD sowie
bis 1990 Mitherausgeber des Vorwärts.
Hans Matthöfer wurde 1961 in den Deutschen Bundestag gewählt, dem er ohne Unterbrechung bis 1987 angehörte. In den 26 Jahren seiner Parlamentszugehörigkeit gehörte er verschiedenen Ausschüssen an und war
1985/1986 stellvertretender Vorsitzender der EnqueteKommission „Technikfolgenabschätzung und -bewertung“.
Von 1972 bis 1982 gehörte Hans Matthöfer in verschiedenen Funktionen der Bundesregierung an, zunächst als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Von
1974 bis 1978 war er Bundesminister für Forschung und
Technologie. Von 1978 bis 1982 übernahm er das Amt
des Bundesministers der Finanzen, und von Mai bis Oktober 1982 war er Bundesminister für das Post- und
Fernmeldewesen.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag 1987 hat er sich aktiv in der Wirtschaft, insbesondere in gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, engagiert.
Zeitlebens war Hans Matthöfer sowohl in Europa als
auch international für Demokratie und Menschenrechte
engagiert. Besondere Würdigung verdient sein Einsatz
für die Demokratisierung Spaniens.
Hans Matthöfer hat Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik in wichtigen Ämtern und
Funktionen mitgestaltet und sich durch sein Handeln um
unser Land und seine Menschen große Verdienste erworben. Wir werden ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren. Ich spreche seiner Familie im Namen des Hauses meine Anteilnahme aus.
Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren
Plätzen erhoben; ich danke Ihnen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin Christel Humme hat gestern ihren 60. Geburtstag
gefeiert. Ich darf ihr im Namen des Hauses herzlich gratulieren,
({1})
ebenso dem Kollegen Dr. Hermann Kues, der den gleichen Geburtstag bereits vor einigen Tagen beging.
({2})
Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz auf Drucksache 17/15 soll dem Haushaltsausschuss zusätzlich
nach § 96 unserer Geschäftsordnung überwiesen werRedetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
den. Hier handelt es sich also nur um die Ergänzung einer bereits stattgefundenen Überweisung. Ich nehme an,
Sie sind damit einverstanden. - Das ist offensichtlich der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in
Afghanistan ({3}) unter Führung der NATO
auf Grundlage der Resolution 1386 ({4}) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
1890 ({5}) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen
- Drucksache 17/39 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Auf der Ehrentribüne hat eine afghanische Delegation Platz genommen. Im Namen aller Kolleginnen und
Kollegen des Bundestages begrüße ich Sie herzlich. Wir
freuen uns über Ihr Interesse an dem für Sie wie für uns
bedeutsamen Tagesordnungspunkt.
({7})
Für Ihren Aufenthalt in Deutschland und für Ihr weiteres
Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
zunächst dem Bundesminister des Auswärtigen
Dr. Westerwelle.
({8})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren aus Afghanistan,
die Sie heute diese Debatte mitverfolgen! Wir freuen
uns, wie Sie an dem Begrüßungsbeifall gemerkt haben,
dass Sie heute als demokratische Repräsentanten unserer
Debatte beiwohnen.
Wie schwierig und wie gefährlich der Einsatz in
Afghanistan ist, davon konnte ich mich erneut in der
letzten Woche in Kabul und Masar-i-Scharif überzeugen.
Ich kehre mit großem Respekt vor der Leistung der
Frauen und Männer zurück, die dort ihre Arbeit tun. Darum beginne ich ausdrücklich mit dem Dank an diejenigen, die in Afghanistan für Deutschland ihren Dienst
tun, sei es in Zivil, sei es in Uniform.
({0})
Ich füge hinzu: Dieser Einsatz ist ein schwieriger Einsatz; das weiß hier jeder. Es ist auch ein politisch
schwieriger Einsatz, weil ein Auslandseinsatz der Bundeswehr selbstverständlich getragen werden muss von
dem Parlament, von der Gesellschaft, auch von dem
Vertrauen unseres Parlamentes und unserer Gesellschaft. Deswegen füge ich mit großem Nachdruck hinzu:
Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit schaffen die
Grundlage für Vertrauen. Das ist die Regierung dem Parlament auch schuldig. Ich will das nachdrücklich sagen.
({1})
Wir engagieren uns in Afghanistan aus Menschlichkeit, aber vor allem aus unserem ureigenen Sicherheitsinteresse. Afghanistan und das afghanisch-pakistanische
Grenzgebiet dürfen nicht erneut zum Rückzugsgebiet für
Terroristen werden. Damit wir hier in Freiheit und
Sicherheit leben können, auch dafür ist der Einsatz da.
Deswegen möchte ich zunächst einmal nachdrücklich
unterstreichen: Ja, wir wollen den zivilen Aufbau. Wir
wollen dafür sorgen, dass ein Aufbau eigener ziviler
und Sicherheitsstrukturen in Afghanistan möglich ist.
Ja, wir wollen auch menschlich helfen, aber die menschliche Hilfe setzt Sicherheit voraus, und ohne die Frauen
und Männer der Bundeswehr gibt es keine Sicherheit für
den zivilen Aufbau. Dieser Zusammenhang darf nicht
geleugnet werden.
({2})
Deswegen knüpfe ich an das an, was von dem Außenminister der letzten Bundesregierung immer wieder gesagt worden ist: Ein kopfloses Ende des internationalen Einsatzes in Afghanistan wäre unverantwortlich.
Dadurch würde in dieser explosiven Region der Welt in
unmittelbarer Nachbarschaft zum Iran und zu den
Nuklearmächten Pakistan und Indien eine Zone der Instabilität von bisher unbekanntem Ausmaß geschaffen.
Das können wir nicht zulassen. Hier geht es um unsere
eigene Sicherheit. Auch deswegen beschließen wir diesen Einsatz.
({3})
Sicherheit ist das Schlüsselwort. Ohne Sicherheit
gibt es in Afghanistan keine wirtschaftliche Entwicklung, keinen Aufbau demokratischer Institutionen, keine
Freiheit und keine Gleichberechtigung. Ohne Sicherheit
werden in Afghanistan keine Brunnen, keine Krankenhäuser und keine Schulen gebaut, schon gar nicht für
Mädchen. Sicherheit ist daher das Schlüsselwort für unseren Einsatz. Darauf konzentrieren wir uns: auf den
Schutz und die Sicherheit Deutschlands und Europas,
auf die Verbesserung der Sicherheit für die Menschen in
Afghanistan, aber auch auf die bestmögliche Sicherheit
für deutsches Zivilpersonal und unsere Soldaten. Ihnen
müssen wir vor allem die richtige Ausrüstung zur Verfügung stellen, und auch darauf wird die Bundesregierung
ihr Handeln ausrichten.
In der letzten Woche habe ich den Grundstein für eine
Außenstelle der Polizeiakademie in Masar-i-Scharif legen können. Das ist das ganz praktische Ergebnis unserer Strategie. Wer Afghanistan sicherer machen will,
muss für mehr afghanische Polizisten sorgen. Der deutsche Beitrag zur Polizeiausbildung ist beträchtlich und
wird nicht nur in Afghanistan, sondern auch international hoch geschätzt. Er muss rasch weiter ausgebaut werden. Unser Ziel ist eine selbsttragende Sicherheit in
Afghanistan, damit eine Übergabe der Verantwortung in
Verantwortung erfolgen kann. Wir wollen mit dem Konzept der selbsttragenden Sicherheit so weit kommen,
dass eine Abzugsperspektive in Sicht gerät. Niemand
will diesen Einsatz bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag,
und weil niemand das will - das wissen wir -, muss
selbsttragende Sicherheit geschaffen werden. Das steht
im Mittelpunkt unserer politischen Bemühungen.
({4})
Das heißt, dass es um den Aufbau der Polizei vor Ort
geht. Dazu werden wichtige Weichenstellungen schon
im Januar, mutmaßlich auf einer eigenen AfghanistanKonferenz, gemeinsam mit unseren internationalen Partnern vorgenommen werden. Ich möchte nachdrücklich
darauf hinweisen: Über 40 Staaten beteiligen sich an der
vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierten
Mission.
Deutschland wird und muss einen seiner wirtschaftlichen und politischen Bedeutung entsprechenden Beitrag
dazu leisten. Weil diese Diskussion stattfindet, möchte
ich noch einmal unterstreichen: Wir setzen das Afghanistan-Mandat fort - in der bekannten Zahl. Wir wissen,
dass es bei unseren Verbündeten international eine Diskussion über Ziele und Strategien gibt. Aber das ist die
richtige Reihenfolge: Erst die Ziele definieren, dann die
Strategie im Bündnis mit unseren Partnern verabreden,
und erst dann kann es um die Frage gehen, was das konkret für den Einsatz bedeutet. Wenn man sagt, dass mehr
Soldaten eingesetzt werden müssen, bevor man die Strategie im Bündnis gemeinsam verabredet hat, ist das die
falsche Reihenfolge. Das sage ich hier mit großem
Nachdruck.
({5})
Der wichtigste Bündnispartner in diesem Einsatz bleiben die Afghanen selbst. Nicht die internationale Gemeinschaft fällt Entscheidungen über Afghanistan, sondern wir helfen, damit Afghanen mit Afghanen über die
Zukunft ihres Landes entscheiden können. Das bedeutet
auch, dass die Vorstellung, die es gelegentlich noch gibt,
wir könnten ein Afghanistan gewissermaßen nach unserem westlichen Bilde schaffen, nicht realistisch ist. Auch
das gehört zur Ehrlichkeit dazu.
Mit Blick auf die anstehende Afghanistan-Konferenz und unser künftiges Engagement bedeutet das folgende Zielvorgaben - ich will sie kurz schildern -:
Erstens. Wir müssen an eine stärkere afghanische
Eigenverantwortung appellieren. Deswegen werden
wir mit dem gewählten Präsidenten Karzai zusammenarbeiten. Gleichzeitig haben wir unsere Ansprüche an
ihn und seine Regierung, insbesondere bei der guten Regierungsführung und bei der Korruptionsbekämpfung;
das haben alle Bündnispartner, auch ich selbst, vor Ort
ausdrücklich und glasklar formuliert.
In seiner Rede zur Amtseinführung fand Präsident
Karzai die richtigen Worte; das will ich ausdrücklich anerkennen. Jetzt müssen den richtigen Worten richtige Taten folgen. Je mehr die Afghanen für sich selbst tun,
desto mehr kann die internationale Gemeinschaft für
Afghanistan tun. Korruptionsbekämpfung und gute Regierungsführung sind für den Erfolg unverzichtbar.
({6})
Zweitens. Wir müssen erreichen, dass mehr Afghanen
den Aufständischen widerstehen. Wer zur Aufgabe des
Kampfes bereit ist und bestimmte Mindestkriterien erfüllt, der sollte ein Angebot zur Rückkehr in die afghanische Gesellschaft erhalten. Nur so können wir auch den
harten Kern der Taliban isolieren.
Drittens. Wir müssen auf eine regionale Lösung hinarbeiten. Die von der Region ausgehende Destabilisierungsgefahr kann nur verringert werden, wenn wir die
Nachbarstaaten in unsere Bemühungen einschließen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Bitte, Herr Kollege.
Bitte schön, Herr Beck.
Herr Außenminister, bevor Sie zum Ende kommen,
wollte ich wissen - Sie haben den Punkt der Ehrlichkeit
angesprochen -: Wie bewerten Sie angesichts des in der
Bild-Zeitung veröffentlichten Berichts, demzufolge von
Anfang an Kenntnis über zivile Opfer vorlag, die Informationspolitik des Verteidigungsministeriums in der
Amtszeit Ihres Kollegen Jung? Dieses Haus wurde von
der Bundesregierung bislang nicht darüber unterrichtet.
Ich mache darauf aufmerksam, dass in dieser Debatte
noch andere Wortmeldungen erfolgen werden, und bitte
um Verständnis dafür.
({0})
Offen gestanden glaube ich: Wenn ich hier als Außenminister zum ersten Mal ein solches Mandat einbringe,
dann sollten wir der Debatte Genüge tun. Das gilt auch
für Zwischenfragen, die nichts anderes zum Zwecke haben, als eigene Süppchen zu kochen. Das ist völlig unangemessen.
({1})
Sie wissen, dass es längst Entscheidungen gibt. Es ist
nicht an mir, hier zu diesen Entscheidungen zu sprechen.
({2})
- Frau Kollegin Künast, Sie rufen dazwischen. Ich muss
Sie fragen: Wissen Sie eigentlich, worüber wir hier reden?
({3})
Wir reden darüber, dass Frauen und Männer in Gefahr
kommen. Sie sitzen in der ersten Reihe und lesen Zeitung. Es ist absolut inakzeptabel und würdelos, wie Sie
das hier machen.
({4})
Ich bitte Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre
Zustimmung zur Verlängerung des ISAF-Mandates,
damit Deutschland entsprechend seinen wohlverstandenen eigenen Sicherheitsinteressen handeln kann, damit
unser Land ein verantwortungsvoller und verlässlicher
Bündnispartner bei der Bekämpfung des internationalen
Terrorismus bleibt, damit die Stabilisierung Afghanistans gelingt und wir die Voraussetzungen für eine verantwortungsvolle Übergabe schaffen können.
Ich würde mir wünschen, dass sich die Damen und
Herren aus der Opposition in dieser Stunde ihrer eigenen
Verantwortung in diesem Hohen Hause bewusst sind, so
wie wir uns in der Opposition bei dieser Frage immer
unserer Verantwortung bewusst gewesen sind.
Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Zunächst aber erhält das Wort der Kollege Johannes
Pflug für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Seit dem Jahre 2001 engagieren wir uns nun
zivil und militärisch in Afghanistan. Es ist heute das
zehnte Mal, dass der Deutsche Bundestag das ISAFMandat für Afghanistan verlängern soll.
Ziele des Einsatzes in Afghanistan waren im Jahre
2001 - ich habe damals dazu gesprochen - folgende:
Punkt eins. Wir wollen versuchen, das internationale
Terrornetzwerk von Bin Laden, von al-Qaida zu zerstören, mindestens nachhaltig zu stören.
Punkt zwei. Wir wollen versuchen, so etwas wie
regionale Stabilität in Afghanistan zu erreichen.
Punkt drei. Wir wollen versuchen, den Afghanen dabei zu helfen, einen Staat, eine Verwaltung aufzubauen
und eine - so habe ich mich auch damals ausgedrückt halbwegs funktionierende Demokratie zu errichten.
Wer diese Ziele betrachtet, muss zu dem Ergebnis
kommen: Es sind Ziele, die im afghanischen Interesse
sind, die im internationalen Interesse sind und die natürlich auch im deutschen Interesse sind. Mittlerweile sind
acht Jahre vergangen. Wir stehen nicht zuletzt bei der afghanischen Bevölkerung im Wort. Seit dem Sturz der
Taliban im Jahre 2001 haben wir manches erreicht. Unser militärisches und ziviles Engagement in Afghanistan
hat Früchte getragen. Sie kennen die Zahlen: 3 500
Schulen sind errichtet worden. Landesweit geht rund die
Hälfte der Kinder zur Schule, davon sind mittlerweile
40 Prozent Mädchen. 25 Prozent des Lehrpersonals sind
Frauen. 85 Prozent der afghanischen Bevölkerung haben
Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung. Die
Kindersterblichkeit ist erheblich zurückgegangen. Das
sind Erfolgszahlen. Das ist das Ergebnis internationaler
Solidarität.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
wenn ich solche Zahlen sehe, dann erinnere ich mich immer daran, dass Sie auf Ihren Veranstaltungen gerne rufen: Hoch die internationale Solidarität.
({0})
Ich frage mich, ob Sie übersehen, was diese Mädchen
und Frauen, die uns hier regelmäßig besuchen, einfordern. Sie sagen immer: Ihr könnt uns nicht im Stich lassen. Ihr könnt jetzt nicht aus Afghanistan weggehen.
({1})
Dennoch führen massive Rückschläge zu zunehmender Besorgnis und Ablehnung des deutschen Afghanistan-Einsatzes in unserer Bevölkerung. Das bedeutet: Wir
können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Denn
es gibt gewaltige Probleme in Afghanistan. Es gibt eine
steigende Zahl von Selbstmordanschlägen. Es gibt eine
starke Korruption. Es gibt die Drogenproblematik. Es
gibt aber auch Probleme im Zusammenhang mit unseren
eigenen Einsätzen.
Herr Minister Jung, Sie werden erwartet haben, dass
dies angesprochen wird. Man kann heute nicht einfach
so tun, als sei nichts geschehen.
({2})
Die Berichte, die es seit letzter Nacht bzw. heute Morgen
gibt, lassen sehr ernste Befürchtungen aufkommen. Ich
sage ganz deutlich: Wenn es richtig ist, was die Medien
berichten - Sie schütteln mit dem Kopf; ich bin nicht für
das verantwortlich, was die Medien berichten;
({3})
es steht in der Bild-Zeitung und war heute Morgen im
Fernsehen zu hören -, dass Sie dem Parlament Informationen gezielt vorenthalten haben,
({4})
Informationen nicht gegeben haben, dann ist das mehr
als ein ernster Vorgang.
({5})
Herr Minister Jung, wenn das richtig ist, dann wird Ihnen klar sein, dass Sie an einem Untersuchungsausschuss nicht vorbeikommen, es sei denn, Sie ziehen vorher die Konsequenzen.
({6})
Heute Morgen wurden im Fernsehen Ausschnitte eines Videofilms gezeigt, und es wurde darüber berichtet,
dass ein Bericht der Feldjäger vorgelegen haben soll,
den Sie offensichtlich entweder nicht zur Kenntnis bekommen oder über den Sie das Parlament nicht informiert haben. Wenn es stimmt, dass angeordnet wurde,
die Zivilpersonen oder meinetwegen auch die Taliban,
die sich an dem Platz in Kunduz aufgehalten haben,
nicht durch Tiefflüge zu vertreiben - das wurde in der
Berichterstattung auch gesagt -, dann ist das ein verdammt ernster Vorgang. Ich sage ganz deutlich: Das erfordert einen Untersuchungsausschuss.
({7})
Wir müssen klarstellen: Nach dieser langen Zeit steht
der Einsatz der Bundeswehr natürlich an einem Wendepunkt. Wir müssen uns fragen: Was haben wir in Afghanistan bisher erreicht? Was können wir dort noch erreichen? Welche Dinge sind schiefgelaufen? Herr Minister
zu Guttenberg, ich vertraue darauf, dass Sie das, wie Sie
gesagt haben, rückhaltlos überprüfen und das Parlament
entsprechend unterrichten werden.
Die Fragen „Was ist schiefgelaufen?“ und „Was können wir noch machen?“ müssen wir ehrlich beantworten.
Der Hintergrund muss dabei sein, dass wir uns natürlich
nicht ewig in Afghanistan aufhalten können, unser Engagement dort nicht ewig fortsetzen können.
Unser Fraktionsvorsitzender und ehemaliger Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat frühzeitig eine sogenannte Roadmap bzw. einen Zehnpunkteplan vorgelegt, in dem die für einen Abschluss des AfghanistanEinsatzes in den nächsten Jahren notwendigen Schritte
aufgezeigt werden. Dabei gilt natürlich der Grundsatz
- er ist für uns unbestritten -: Je schneller die afghanische Armee und Polizei in der Lage ist, selbst für Sicherheit im Land zu sorgen, desto früher können die internationalen Truppen abziehen.
Wir müssen sehr viel entschlossener gegen Korruption, Misswirtschaft und organisierte Kriminalität vorgehen. Die internationale Gemeinschaft muss eine gute Regierungsführung stärker und entschiedener einfordern.
Auch das Problem des Drogenanbaus muss endlich gelöst werden. Dabei muss vor allen Dingen der neue, wiedergewählte Präsident Karzai - natürlich darf man erhebliche Zweifel am Grad seiner demokratischen
Legitimation anmerken; aber er ist nun einmal im Amt in die Pflicht genommen werden.
Die Stabilität Afghanistans ist für die Sicherheitslage
in der gesamten zentralasiatischen Region wichtig
und notwendig. Ohne ein stabiles Afghanistan wird die
Stabilität der benachbarten Staaten immer bedroht sein.
Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan grenzen
unmittelbar an Afghanistan und müssen ihre Grenzen
schützen. Letzte Berichte über eine zunehmende Konzentration von Islamisten und Terroristen im FerghanaTal müssen uns sehr besorgt machen.
Die zentrale Rolle spielt allerdings Pakistan. Das
Land ist für die Islamisten immer noch logistisches Hinterland. Zwar ist Pakistan am Kampf gegen den Terror
beteiligt; aber Pakistan ist viel zu schwach, instabil und
intern zerstritten, um wirksam handeln zu können. Es hat
keinerlei Kontrolle über sein Grenzgebiet zu Afghanistan. Gleichzeitig ist Pakistan Atommacht. Es ist in unser
aller Interesse, dass die Atomwaffen nicht in falsche
Hände geraten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor genau
einem Jahr war ich eine Woche in Pakistan. Damals
standen die Taliban 150 bis 180 Kilometer von Islamabad entfernt. Es heißt, dass die amerikanische Regierung
200 bis 400 Millionen Dollar ausgegeben hat, um das
Atomwaffenpotenzial zu sichern. Aber es gibt gerade in
Pakistan neuere Erkenntnisse darüber, dass es um diese
Sicherung gar nicht so gut bestellt ist, sondern dass es
sehr schnell zu erheblichen Problemen kommen könnte.
Deshalb werden wir die Idee einer internationalen Konferenz, die voraussichtlich am 28. Januar nächsten Jahres
in London stattfinden soll, nachhaltig unterstützen. Allerdings sind wir der Meinung: Es wäre gut, wenn eine
solche Konferenz in Afghanistan selbst stattfinden
könnte, wenn dort die notwendige Sicherheit garantiert
werden könnte.
Herr Kollege Pflug.
Herr Präsident, ich komme zum Ende. - Wir werden
der Verlängerung des ISAF-Mandates zustimmen. Ich
sage aber nochmals: Herr Minister zu Guttenberg, wir
vertrauen darauf, dass Sie das, was passiert ist, rückhaltlos überprüfen und das Parlament darüber informieren.
Ich wiederhole: Wenn sich die Berichte als richtig erweisen, werden wir die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss stellen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung,
Dr. zu Guttenberg.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
Herren! Herr Kollege Pflug, ich will gerne Stellung nehmen zu dem geheimen Untersuchungsbericht, über
den die Bild-Zeitung heute berichtet. Dieser Bericht war
mir zum Zeitpunkt meiner Erklärung zu dem Bericht des
ISAF-Kommandeurs nicht bekannt. Ich habe ihn jetzt
zum ersten Mal vorgelegt bekommen.
Dieser Bericht wurde - wie andere Berichte und Meldungen aus der letzten Legislaturperiode - nicht vorgelegt. Hierfür wurde an maßgeblicher Stelle Verantwortung übernommen, und die personellen Konsequenzen
sind erfolgt.
({0})
- Lassen Sie mich bitte ausreden! - Der Generalinspekteur hat mich gebeten, ihn von seinen Dienstpflichten zu
entbinden. Ebenso hat Staatssekretär Wichert Verantwortung übernommen. - Wenn ich hier hämisches Lachen höre, will ich an dieser Stelle trotzdem beiden für
ihren jahrzehntelangen Dienst für unser Land danken,
meine Damen und Herren.
({1})
Selbstverständlich werden diese Berichte unverzüglich ausgewertet
({2})
und den Fraktionen zur Einsicht zur Verfügung gestellt.
Das versteht sich von selbst, und das ist auch mein Verständnis von Transparenz, was den Umgang mit solchen
Vorfällen anbelangt.
({3})
Der Bericht wird auch der Generalbundesanwaltschaft
übergeben.
Bei meinen jüngsten Besuchen in Afghanistan - ich
grüße die Gäste, die heute hier sind - in Kunduz und in
Masar-i-Scharif haben mir unsere Soldaten, aber auch
die zivilen Helfer in persönlichen Gesprächen wiederholt mitgegeben, wie wichtig ihnen ist, dass die Debatte
und die Diskussion über ihren Einsatz verantwortungsvoll geführt wird, in dem Sinne verantwortungsvoll, dass
wir uns auch in diesem Rahmen ein gewisses Niveau in
der Diskussion leisten, meine Damen und Herren.
Umso wichtiger ist es, dass wir immer wieder darauf
hinweisen, welchen Dienst die Soldatinnen und Soldaten
und die zivilen Helfer vor Ort leisten: Sie sind motiviert,
sie sind professionell, sie sind pflichtbewusst, sie haben
selbstverständlich auch Emotionen, und sie leisten Vorbildliches. Auch an einem Tag, wo man über Dinge diskutiert wie die, über die wir heute diskutieren, dürfen wir
ihnen von Herzen danken für ihren Einsatz, den sie vor
Ort annehmen und entsprechend wahrnehmen.
({4})
Sie stellen sich jeden Tag der Gefahr von Verwundung
oder Tod. Diese Wahrheit gehört zu dem Einsatz ebenso
wie die, dass in Teilen Afghanistans kriegsähnliche
Zustände herrschen. Unsere Soldatinnen und Soldaten
wissen das. Ihre Einschätzung muss für uns ebenso
wichtig sein wie manche, die wir gelegentlich aus der
Ferne wahrnehmen.
Seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes bis heute sind
36 Soldatinnen und Soldaten gefallen bzw. gestorben
und über 120 wurden verletzt bzw. verwundet. Von daher, meine Damen und Herren, dürfen wir uns unsere
Entscheidung wie bislang alles andere als leicht machen.
Unsere Entscheidung hat in dieser Hinsicht größtes Gewicht. Sie hat mit unserer Verantwortung gegenüber unseren Soldaten zu tun, einer Verantwortung, die letztlich
Leben und Tod beinhaltet. Sie ergibt sich - Kollege
Westerwelle hat darauf hingewiesen - aus unseren Sicherheitsinteressen. Diese Sicherheitsinteressen sind
weiterhin maßgeblich gegeben. Unsere Verantwortung
ergibt sich aber auch aus Bündnisverpflichtungen; auch
das wollen wir nicht vergessen, meine Damen und Herren. Es ist eine gestaltende Aufgabe, bei der wir gefordert sind und bei der wir Ergebnisse nur im Zusammenwirken mit unseren Partnern erzielen können. Meine
Damen und Herren, wir sollten aufhören, den Afghanistan-Einsatz lediglich zum Lackmustest für die NATO herabzustilisieren. Wenn er überhaupt ein Lackmustest ist,
dann einer für die gesamte internationale Gemeinschaft.
({5})
Ich halte es für einen richtigen und für einen klugen
Schritt, dass wir Anfang des nächsten Jahres auf einer
Afghanistan-Konferenz zusammen mit den Vertretern
Afghanistans auch diesen unseren Einsatz neu justieren
und auf eine neue Grundlage stellen. Die Frau Bundeskanzlerin hat dazu gemeinsam mit dem britischen PreBundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
mierminister und mit dem französischen Präsidenten den
Anstoß gegeben. Sie können von der Bundesregierung
daher zu Recht einen entsprechenden Beitrag erwarten,
einen gestaltenden Beitrag inhaltlicher Art zunächst: wie
diese Afghanistan-Konferenz zu sehen ist und welche
Impulse wir geben können.
Ich fand sehr richtig, dass Kollege Westerwelle gesagt
hat, wie die Abfolge zu sein hat: dass wir uns jetzt nicht
den Planungen anderer unterwerfen, sondern dass wir
unseren Zeitrahmen so einhalten, dass auch eine sinnvolle Debatte im Bundestag, eine Einbindung des Parlamentes, stattfinden kann, damit wir auch unseren Traditionen gerecht werden.
Meine Damen und Herren, wir müssen den Afghanistan-Einsatz gerade auch - das klingt so furchtbar banal
und ist trotzdem so entscheidend - vom Ende her denken. Das erfordert eine Klarheit hinsichtlich der Ziele,
eine klare Ansprache dessen, was wir erreichen wollen,
und eine entsprechend tief gehende Diskussion. Vor allen Dingen müssen wir noch deutlicher festlegen, wie
und unter welchen Umständen wir diesen Einsatz auch
beenden können. Ich werde mich dafür einsetzen, dass
hier ein klarer Rahmen definiert wird. Das erwarten die
Menschen in unserem Lande von der politischen Führung, und auch die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz
dürfen von uns erwarten, dass wir uns hier klar sind.
({6})
Deshalb trete ich auch und gerade international für
die Festlegung klarer Benchmarks, wie man das heute
neudeutsch nennt, ein. Wir werden auch unsere nationalen Grundlagen und Strukturen angehen, wenn wir über
die Koordinierung und über die Führung unseres Gesamtengagements sprechen. Das schließt im Übrigen die eigentlich selbstverständliche Erkenntnis mit ein, dass die
Bundeswehr alleine nicht für die Erreichung unserer
Ziele und die Lösung der jeweiligen Probleme sorgen
kann.
Es ist also gut und richtig, dass wir im Zuge der heutigen Diskussion über das Mandat ISAF, über den Einsatz,
gerade auch diese Vernetzung miteinander diskutieren.
Es reicht jedoch nicht, immer nur den Blick auf einen
Teil zu richten. Wir müssen ressortgemeinsam handeln.
Ich kann nur sagen: Die Art, wie wir uns miteinander abstimmen,
({7})
stimmt mich sehr zuversichtlich, dass die jeweils beteiligten Ressorts den Afghanistan-Einsatz als eine gemeinsame Aufgabe ansehen und dieser gemeinsamen Aufgabe auch mit aller Kraft und unter Bündelung aller
Anstrengungen nachgehen.
Dieses Ziel ist klar formuliert: Wir wollen, dass die
Afghanen bald selbst in der Lage sind, für ihre Sicherheit zu sorgen. Das ist das, was wir „Übergabe in Verantwortung“ nennen. Die Übergabe in Verantwortung ist
übrigens nicht mit einer Exit-Strategie gleichzusetzen,
mit der ein Enddatum gesetzt wird. Es zeugt nur von einer begrenzten Weisheit, ein Enddatum zu setzen, weil
wir damit, wenn wir sagen: „Zu diesem oder jenem Zeitpunkt soll der letzte Soldat Afghanistan verlassen haben“, im Grunde eine Steilvorlage für all jene liefern, die
die Destabilisierung Afghanistans weiterhin zum Ziel
haben. Von daher ist es wichtiger, Zielmarken zu setzen
- auch Zielmarken für den Beginn der Übergabe von
Verantwortung - und diese Zielmarken klar zu definieren. Von Afghanistan darf keine Gefahr mehr für die internationale Sicherheit ausgehen.
Wir sprechen gerne über Aufständische, und wir sprechen in dem Zusammenhang gerne auch darüber, dass
der Konnex zur internationalen Sicherheit gesucht werden muss; das ist richtig. Wahrscheinlich muss man auch
noch etwas genauer hinblicken und prüfen, ob jeder, den
wir bisher unter „aufständisch“ subsumiert haben, jemand ist, der die internationale Sicherheit gefährdet,
oder ob man an der einen oder anderen Stelle auch klarere Trennlinien ziehen muss.
Wir müssen es verhindern, dass Afghanistan wieder
zum Ruhe- und Rückzugsraum für den internationalen
Terrorismus wird. Es gibt weiterhin klare Gefährdungen:
auch durch terroristische Maßnahmen und damit auch
mit Blick auf unser Land.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Aber gerne.
Herr Minister, nach dem, was Sie vorhin zu den Berichten der Bild-Zeitung gesagt haben, frage ich Sie, bevor Sie diese allgemeinen Ausführungen zur Strategie in
Afghanistan zu Ende führen: Sind Sie bereit, Ihre persönliche Rechtfertigung des Einsatzes der Bundeswehr
gegen die Tanklastwagen bei Kunduz zu korrigieren?
Nach dem, was Sie jetzt wissen - offenbar sind die Berichte ja richtig, sonst hätten Sie sie dementiert -, können Sie Ihre Rechtfertigung doch nicht mehr aufrechterhalten.
Ich schließe eine zweite Frage an: Halten Sie es im
Deutschen Bundestag nicht mehr für richtig, dass ein
Minister, dessen Ministerium hinsichtlich der Kommunikationspolitik ganz offensichtlich völlig versagt hat und
den Eindruck eines Tollhauses macht - man muss sich
nur ansehen, dass die Berichte angeblich nicht angekommen sein sollen -, die Verantwortung für den Zustand
seines Ministeriums übernimmt und die Konsequenzen
daraus zieht?
Kollege Ströbele, ich habe auf die Konsequenzen hingewiesen, und ich habe diese Konsequenzen nicht einem
Medium mitgeteilt, sondern den Mitgliedern des
Deutschen Bundestages, weil ich finde, dass sich das so
gehört. Das ist der erste Schritt.
({0})
Zum Zweiten habe ich zu Beginn gesagt - Sie haben
sicherlich genau zugehört; davon gehe ich bei Ihnen
grundsätzlich aus -, dass ich meine Bewertung auf der
Grundlage des COMISAF-Berichtes abgegeben habe.
Das war der einzige Bericht, der mir - wann war das? ein paar Tage nach Amtsantritt vorlag. Ich werde selbstverständlich auch selbst eine Neubewertung der Fälle
auf der Grundlage der Berichte, die mir in einer Gesamtschau gegeben sind, vornehmen. Auch das gehört sich,
Herr Kollege. Ich glaube, damit sind die beiden Fragen
entsprechend beantwortet.
({1})
Deutschland ist weiterhin der drittgrößte Truppensteller in Afghanistan. Das wird gelegentlich vergessen. Wir
tragen die Verantwortung für einen großen Teil des Nordens Afghanistans. Es geht um eine Region - daran kann
man gelegentlich erinnern -, die halb so groß ist wie
Deutschland, in der rund 35 Prozent der afghanischen
Bevölkerung leben. Die Stabilität und die Wirtschaftskraft dieser Region sind wichtig für ganz Afghanistan.
Es lohnt auch gelegentlich, an den Aspekt Wirtschaftskraft einer Region zu erinnern. Auch das gehört in den
Gesamtkontext mit hinein.
Wir führen das Regionalkommando Nord und stellen dort maßgebliche Unterstützungsleistungen in den
Bereichen Führung, Führungsunterstützung, Lufttransport, Sanitätsdienst, Sanitätsdienstlogistik sowie Aufklärung. Wir betreiben zwei der sogenannten PRT im Norden, namentlich in Kunduz und in Faizabad. Man darf an
der Stelle auch sagen, dass sich in den letzten Monaten
die Situation in Faizabad vergleichsweise positiv entwickelt hat, wohingegen bekannt ist, dass sich um Kunduz
herum die Sicherheitslage signifikant verschärft hat und
wir auch immer damit rechnen müssen, dass angesichts
der Versorgungsrouten die laufende Situation nicht
zwingend an jedem Ort einfacher werden muss.
Wir beteiligen uns maßgeblich an der Ausbildung
der afghanischen Streitkräfte. Eines der Schlüsselelemente zu einem Erfolg wird weiterhin gerade dieser
Ausbildungsaspekt sein: Training, Training, Training,
damit man die Übergabe an entsprechend ausgebildete
Sicherheitskräfte stattfinden lassen kann.
Daneben stellt die Bundeswehr Feldjäger zur Unterstützung der Polizeiausbildung im Einsatz. Auch die Polizeiausbildung bleibt eine wichtige Säule. Wir müssen
hier weiterhin auch mit den europäischen Partnern alle
Kraft daransetzen, dass die Polizeiausbildung in dem
Umfang gewährleistet werden kann, den wir uns in seinen Höchstgrenzen vorstellen.
Seit dem Jahr 2002 unterstützen wir den Aufbau der
„Drivers and Mechanics School“ der afghanischen
Streitkräfte in Kabul. Aus dieser Schule wächst mit unserer Unterstützung die Logistikschule der Armee auf.
Wir werden uns auch weiterhin mit der „Afghan Defence University“ und der Pionierschule noch stärker in
der Schullandschaft der Streitkräfte engagieren. Auch
das ist ein wichtiger Punkt.
Für unser Ziel selbsttragender Stabilität investieren
wir in dem Sinne noch intensiver in die Ausbildungsunterstützung. Im kommenden Jahr werden innerhalb des
Mandates und der Mandatsstruktur, die wir heute vorschlagen, noch mehr deutsche ISAF-Soldaten als Ausbilder der afghanischen Streitkräfte tätig sein.
Ich will auch darauf hinweisen - das ist schon mitgeteilt worden -, dass ich zur Verstärkung unserer Truppe
die Verlegung einer Infanteriekompanie nach Kunduz
angewiesen habe. Diese Kräfte geben dem militärischen
Führer vor Ort eine Handlungsfreiheit dahin gehend zurück, dass zusätzlich eine entsprechende Sicherheitskomponente gewährleistet werden kann, sodass die
Durchhaltefähigkeit gewährleistet werden kann, was in
dieser Provinz derzeit von größter Bedeutung ist.
Wir werden dann den deutschen Beitrag im Rahmen
des internationalen Gesamtengagements in Afghanistan
aufgrund der Ergebnisse der internationalen Afghanistan-Konferenz einer erneuten Prüfung unterziehen und
dort, wo es nötig ist, auch unter der notwendigen Befassung des Deutschen Bundestages Anpassungen vornehmen. Was erforderlich ist, soll getan werden. Aber das
kann erst im Lichte der Afghanistan-Konferenz und im
Lichte der nächsten Schritte gesehen werden.
Ich will allerdings in Ergänzung zu dem, was Kollege
Westerwelle bereits festgestellt hat, auch sagen: Der
Rhythmus, der dadurch vorgegeben wird, dass wir zum
einen wohl am 1. Dezember die Rede des amerikanischen Präsidenten zu erwarten haben und zum anderen
bereits am 7. Dezember - sehr ehrgeizig - eine NATOTruppenstellerkonferenz stattfinden soll, wird uns nach
meiner bzw. unserer Überzeugung nicht dazu bringen,
zum 7. Dezember sofort und nacheilend Vorschläge auf
den Tisch der internationalen Gemeinschaft zu legen.
Wir wollen eigene Impulse geben. Wir wollen unseren
strategischen Ansatz deutlich machen. Wir lassen uns
deswegen nicht in ein Zeitkorsett zwängen. Das haben
wir den Partnern schon mitgeteilt. Ich glaube, wenn wir
hier eine eigene, klare Handschrift erkennen lassen und
deutlich machen, wie wir im Rahmen des vernetzten Ansatzes Afghanistan so in die Lage versetzen wollen, dass
eine Verantwortungsübergabe möglich ist, dann ist eine
klare und gute Grundlage gelegt.
Ich darf Sie alle um Unterstützung der Verlängerung
dieses ISAF-Mandates bitten.
Herzlichen Dank.
({2})
Paul Schäfer ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
beginne, wie Sie sich denken können, mit den Enthüllungen in der Tagespresse. Erstens. Herr Minister zu
Guttenberg, es ist unumgänglich, diesem Haus den in
Rede stehenden Geheimbericht zugänglich zu machen.
Wir werden darauf bestehen, dass diese Vorgänge im
Rahmen dieses Parlaments sorgfältig untersucht werden.
Das ist unumgänglich.
({0})
Zweitens. Wenn es sich bestätigt, dass Herr Minister
Jung sehr früh über zivile Opfer des Bombenangriffs
vom 4. September Bescheid wusste und dennoch Parlament und Öffentlichkeit belogen hat, dann fordere ich
die Kanzlerin auf, dem Herrn Minister Jung unverzüglich die Entlassungspapiere auszustellen.
({1})
Ein solcher Minister ist entweder unehrlich oder unfähig. Das gilt für jedes Ressort.
Drittens. Wenn nun selbst die Bundeswehr feststellt,
dass am 4. September inadäquat gehandelt wurde - so
verstehen wir das -, dann fordere ich Sie auf, Herr Minister zu Guttenberg: Korrigieren Sie Ihre Aussage, dass
die damalige Bombardierung militärisch angemessen gewesen sei!
({2})
Für die Linke jedenfalls gilt - wir bleiben dabei -: Es
kann nicht angemessen sein, Menschen zu töten, nur
weil sie möglicherweise Taliban oder Talibansympathisanten sind. Es ist nicht rechtens, wenn der Tod Unschuldiger leichtfertig in Kauf genommen wird. Das werden
wir niemals akzeptieren.
({3})
Nun haben wir vom Herrn Minister gehört, man
müsse die Strategie neu justieren. Es wurde gesagt: Wir
sind jetzt an einem Wendepunkt. - Das Verblüffende
ist: Das haben wir schon vor einem Jahr gehört. Damals
haben sich die Hoffnungen auf die Präsidentschaftswahl
fokussiert, und es wurde gesagt: Jetzt werden wir hoffentlich stabile Verhältnisse bekommen. - Ich könnte Ihnen nun jede Menge Zitate zum Beispiel aus der Tornadodebatte am 9. März 2007 präsentieren. Damals hat ein
Kollege von der CDU, der jetzt auf der Regierungsbank
sitzt, gesagt:
Es bleiben uns realistischerweise nur noch 18 bis
24 Monate, um den Trend zur Destabilisierung zu
stoppen und die Trendumkehr zu bewerkstelligen.
Was sagen Sie denn heute, Herr von Klaeden? Ich
könnte, wie gesagt, noch viel mehr Aussagen präsentieren.
Die Sache ist doch ganz einfach: Wir werden seit Jahren mit Durchhalteparolen traktiert, die bislang nur auf
eines hinausgelaufen sind, nämlich auf mehr Krieg. Es
ist eine Tatsache: Seit 2007 hat sich die Zahl der NATOSoldaten in Afghanistan mehr als verdoppelt. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der Gefechte und Anschläge ebenfalls mehr als verdoppelt. Über diesen Zusammenhang muss man doch nachdenken. Es ist eine
Tatsache, dass wir in diesem Jahr wieder einen traurigen
Rekord an Opfern - auch an zivilen - haben werden. Die
Bundeswehr war daran im September - auch das ist traurig - erstmals nennenswert beteiligt. Es ist auch eine Tatsache, dass sich nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser
Art der Kriegführung der Einflussbereich der Taliban
immer weiter ausgedehnt hat und dass der zivile Aufbau
vor allem dort, wo sich die Sicherheitslage zuspitzt, ins
Stocken geraten ist.
Schließlich ist es eine Tatsache, dass der militärisch
gestützte Versuch, eine funktionierende Demokratie
nach unserem Muster aufzubauen, gescheitert ist. Das
hat nicht zuletzt die Wahlfarce gezeigt, die mit dem Geld
und unter dem Schutz der NATO-Mitgliedstaaten durchgeführt worden ist. Deshalb sagen wir Ihnen: Hören Sie
endlich auf, der Öffentlichkeit und sich selbst etwas vorzumachen. Nehmen Sie endlich diese Tatsachen zur
Kenntnis und richten Sie Ihre Politik danach aus.
({4})
Selbst da, wo Sie diese Tatsachen anerkennen, ziehen
Sie die falschen Schlüsse. Noch soll die Stärke des Bundeswehrkontingents nicht heraufgesetzt werden. Aber
verklausuliert kündigen Sie Truppenerhöhungen an, spätestens nach der Afghanistan-Konferenz im nächsten
Frühjahr. Wie sonst soll man es verstehen, wenn Sie sagen: Das muss auf den Prüfstand?
Was die weitere Perspektive angeht, erfahren wir zumindest so viel - ich zitiere -:
Die Bundesregierung strebt deshalb an, in dieser
Legislaturperiode die Grundlagen dafür zu schaffen, dass im Rahmen von Isaf … mit einer Reduzierung auch der deutschen Militärpräsenz begonnen
werden kann.
Im Klartext: Bis Ende 2013 soll sich nichts tun. Dann,
wenn es die NATO beschließt, soll der Rückzug Schritt
für Schritt erfolgen. Distrikt für Distrikt soll den Afghanen übergeben werden. Afghanistan hat 400 Distrikte.
Das kann also lang dauern. Ich frage Sie deshalb: Glauben Sie ernsthaft, dass Sie die Truppen noch acht Jahre
oder mehr in Afghanistan werden halten können? Ich
glaube das nicht.
Das, was der Verteidigungsminister jetzt als neue
strategische Ausrichtung präsentiert, geht in die falsche Richtung und ist völlig illusionär. Alle Welt weiß,
dass die Taliban und die Aufständischen militärisch
nicht zu besiegen sind. Dieser Krieg kann nicht gewonnen werden. Aber die NATO hält daran fest, dass man
die Taliban durch noch entschlosseneres militärisches
Vorgehen doch noch in die Knie zwingen kann.
({5})
Warum sonst sollen die Truppen nennenswert aufgestockt werden? Sie werden aufgestockt werden. Es ist illusionär, zu meinen, man könne durch mehr Aufbauhilfe
die Bevölkerung dazu bringen, sich von den Taliban abzuwenden, wenn man gleichzeitig den Einsatz von
Paul Schäfer ({6})
Gewalt vorantreibt. Mehr Bombardierung heißt mehr
Hass, mehr Gewaltbereitschaft und mehr Entfremdung.
({7})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck,
Herr Kollege?
Ja, gerne.
Herr Kollege, Sie wissen, dass es in sehr dramatischen Situationen keine ganz klaren Antworten gibt.
Ich bin jetzt sechs Tage in Pakistan gewesen, wo kein
westliches Militär stationiert ist und wo in den Stammesgebieten, den Grenzgebieten zu Afghanistan, die Zahl
der Toten in der Zivilbevölkerung in den letzten fünf
Jahren von 180 auf über 6 000 gestiegen ist. Inzwischen
haben die Taliban und al-Qaida, wobei sich das überschneidet, die Zivilbevölkerung auch in den Stammesgebieten so tyrannisiert, dass jetzt die Stammesältesten selber die Grenze für überschritten halten und gefordert
haben, dass das pakistanische Militär gegen diese Gruppen vorgeht.
Dem vorausgegangen ist im Februar die Entscheidung
einer Regionalregierung, mit den Taliban ein Konsensabkommen zu schließen. Die Grundlage war Waffenstillstand gegen Einführung der Scharia. Diese Vereinbarung
ist geschlossen worden, der Waffenstillstand jedoch keine
Minute eingehalten worden. Es gab hier also den Versuch
einer Konsensbildung. Sind das Überlegungen, die bei
uns in die Entscheidungen einfließen müssen, die zu treffen sind?
Vielen Dank für die Frage. Sie haben insofern recht,
Frau Kollegin Beck, als bestimmte Entwicklungen an einen Punkt kommen können, wo es schwierig ist, Antworten zu geben. Aber die Frage ist - das ist für uns
Linke der Ausgangspunkt -: Warum ist es in Pakistan zu
genau dieser Entwicklung gekommen?
({0})
Herr Präsident Sharif wurde im Terrorkrieg als ein
Bündnispartner behandelt. Er hat schon immer versucht,
diesen Konflikt militärisch zu befrieden. Er hat jedoch
keinerlei soziale und wirtschaftliche Entwicklungen vorangebracht. Das ist die Ursache dafür.
({1})
Deshalb sagen wir: Wir müssen aus diesem Teufelskreis
herauskommen. Wir müssen diese Spirale der Gewalt
durchbrechen. Damit müssen wir irgendwann anfangen.
({2})
Jetzt wird versucht - ich bin noch bei der NATO-Strategie -, auf die klassischen Mittel der Aufstandsbekämpfung zurückzugreifen, wie wir sie auch aus
Vietnam kennen. Ich will nur einen Punkt herausgreifen:
Es ist und bleibt ein unauflöslicher Widerspruch, wenn
man in großem Stil - das geschieht gegenwärtig - die
Anführer dieser Aufstandsbewegung umbringt, gleichzeitig aber politische Gespräche mit diesen Talibankommandeuren anbahnen will. Mit demjenigen, den ich
montags erschieße, kann ich dienstags nicht mehr reden,
auch nicht mit seinem Umfeld. Damit werden die Hürden auf dem Weg zu einer politisch-diplomatischen Verhandlungslösung immer höher gesetzt, und der Krieg
wird verlängert, wo es doch jetzt gilt, den Krieg und das
Leiden zu beenden.
({3})
Es gibt hierzulande eine stabile Mehrheit in der Bevölkerung, die sagt: Wir müssen die Bundeswehrsoldaten zurückziehen. - Deshalb sagen wir Ihnen: Hören Sie auf
die Menschen, die sehr genau sehen, dass man mit der
Afghanistan-Unternehmung auf eine schiefe Bahn geraten ist, dass man jetzt in einem Schlamassel steckt und
dass man so schnell wie möglich dort heraus muss. Die
Afghaninnen und Afghanen - das zeigen auch neuere
Studien, zum Beispiel die, die Oxfam jetzt durchgeführt
hat - wollen vor allem eins: das Blutvergießen, das sie
seit 30 Jahren durchleben müssen, beenden. Die Mehrzahl will auch keine Rückkehr zum alten Talibanregime,
aber die Menschen wissen, dass man, wie die Dinge stehen, jetzt einen Kompromiss finden muss, und zwar einen Kompromiss, der vor allem darauf gerichtet ist, diesen gewaltförmigen Konflikt in einen politischen
Konflikt zu transformieren. Es geht in die völlig falsche
Richtung, wenn man jetzt die Afghanisierung des Krieges betreibt, indem man die afghanischen Streitkräfte
aufrüstet. Wir brauchen eine Afghanisierung des Friedens. Es geht um eine innerafghanische Verhandlungslösung.
({4})
Um Frieden machen zu können, muss man auch mit
den Gegnern, ob sie einem passen oder nicht, reden, und
zwar ohne Vorbedingungen. Damit bin ich bei dem Punkt,
was getan werden müsste. Erstens müssen alle diplomatischen und politischen Anstrengungen darauf gerichtet
werden, einen Waffenstillstand mit den Aufständischen
im Land auszuhandeln. Ohne einen Waffenstillstand gibt
es keine Entwicklung, gibt es keinen Aufbau und gibt es
keine Freiheit.
({5})
Was Afghanistan jetzt braucht, ist ein breiter innergesellschaftlicher Konsultationsprozess, der darin münden
muss, dass die Waffen schweigen, dass der Konflikt entmilitarisiert und die nationale Aussöhnung vorangebracht wird. Das ist nicht naiv, wie manche meinen, das
ist nicht blauäugig. Dafür gibt es jede Menge Anknüpfungspunkte. Aus der traditionellen Stammesgesellschaft
heraus haben sich Kräfte aufgemacht, die diesen Dialogprozess wollen, zum Beispiel in Gestalt der afghanischen Friedensjirga. Es gibt die moderneren, sehr aktiPaul Schäfer ({6})
ven zivilgesellschaftlichen Initiativen wie das Afghan
Civil Society Forum und andere, die zusammen mit
Oxfam diese Studie erstellt haben, die auch diesen Dialogprozess wollen, und es gibt die gesprächsbereiten
Kreise bei den Aufständischen, die sehr genau realisieren, dass auch sie nicht militärisch gewinnen können.
Worauf es jetzt aber besonders ankommt, ist, dass die
Regierung Karzai energisch dazu gedrängt wird, statt
salbungsvolle Worte zu verbreiten, endlich eine eindeutige und stringente Konzeption des innerafghanischen
Dialogs vorzulegen und umzusetzen.
({7})
Zweitens. Eine Voraussetzung dafür, dass die Waffen
zum Schweigen gebracht werden können, ist die unzweideutige Festlegung auf den Abzug sämtlicher NATOTruppen, und zwar ohne Bedingungen und nicht irgendwann.
({8})
Wer diesen Truppenabzug, Herr Minister Westerwelle, an
Voraussetzungen knüpft - eine stabile Zentralregierung
in Kabul, vielleicht 400 000 Soldaten -, der verschiebt
diesen Termin dann doch auf den Sankt-NimmerleinsTag. Der Abzug ist aus unserer Sicht alternativlos, weil er
- das wird manche erstaunen, aber es ist so - den bewaffneten Widerstand schwächt, der seine Stärke doch gerade
aus dem um sich greifenden Gefühl der Afghanen zieht,
in einem besetzten Land zu leben und politisch bevormundet zu werden. Der Abzug ist alternativlos, weil er
das entscheidende Signal an die Afghaninnen und Afghanen gibt, dass sie ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen müssen.
({9})
Drittens sollte alles dafür getan werden, dass das
Waffenstillstandsübereinkommen in das weite regionale Umfeld eingepasst wird. Alle Anrainerstaaten müssen beteiligt werden und ein solches Waffenstillstandsübereinkommen garantieren.
Viertens gibt es in der Tat eine Verantwortung auch
der Deutschen für Afghanistan, eine Verantwortung für
Unterstützung und Wiederaufbau. Wir sind deshalb der
Auffassung, dass die Mittel für den zivilen Aufbau erhöht werden müssen, dass sie dort ankommen müssen,
wo sie gebraucht werden, und dass die zivile Aufbauhilfe von der Einordnung in militärische Strategien endlich befreit werden muss.
({10})
Das ist nicht nur unsere Forderung, sondern auch die der
deutschen entwicklungspolitischen Organisationen, zuletzt diese Woche. VENRO sagt klipp und klar:
Die schädliche und irreführende Vermischung von
zivilen und militärischen Aufgaben muss endlich
beendet werden.
({11})
Ich fasse zusammen: Der Einmarsch in Afghanistan
hatte keine völkerrechtliche Grundlage. Für den Aufbau
des Landes hatte die NATO kein Konzept, und jetzt, wo
man im Morast steckt, hat man keinen Plan, wie man
wieder herauskommt. Das ist schlimm. Um Schlimmeres
zu verhüten, fordern wir von Ihnen eines: Ziehen Sie die
deutschen Truppen aus Afghanistan zurück, und zwar
unverzüglich!
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidt
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Trotz aller Tagesaktualität, zu der ich gleich noch
komme, möchte ich mit einer grundsätzlichen Bemerkung beginnen. Die Entscheidung über den ISAF-Einsatz hat sich meine Fraktion nie leicht gemacht. Wir stehen zu unserer Verantwortung gegenüber den Menschen
in Afghanistan, gegenüber den vielen Helferinnen und
Helfern der Entwicklungsorganisationen, gegenüber den
Polizeiausbildern und den Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr, die in Afghanistan ihr Bestes tun, um den
Menschen dort zu helfen.
In Richtung der Kollegen von der Linkspartei will ich
hier sagen: Diese Solidarität ist für uns unvereinbar mit
der Forderung nach einem Sofortabzug.
({0})
Da soll man sich nichts vormachen: Es gibt nicht die einfache Alternative: Bundeswehr raus, Helfer rein. Auch
die meisten Helferinnen und Helfer müssten dann mit
der Bundeswehr tatsächlich herausgehen, und das wollen die Menschen in Afghanistan, insbesondere im Norden des Landes, eben nicht. Es ist wichtig, diesen Zusammenhang zu begreifen.
({1})
Die Sicherheitslage hat sich allerdings deutlich verschlechtert, gerade im Einsatzgebiet der Bundeswehr.
Daher muss man von kriegsähnlichen Zuständen sprechen. Die weitgehend gefälschten Präsidentenwahlen
sind mehr als problematisch für den weiteren politischen
Prozess in Afghanistan, aber auch für die Legitimation
des Einsatzes der internationalen Gemeinschaft dort.
({2})
Es gibt aber auch eine große Chance: Das ist die neue
Offenheit, mit der international über einen Strategiewechsel diskutiert wird. Nun geht es darum, diesen
Kurswechsel voranzutreiben in Richtung einer zivilen
Aufbauoffensive in Verbindung mit einem konkreten
Abzugsplan. Daher wünsche ich mir wirklich konkretere
Vorschläge hier im Deutschen Bundestag von Regierungsseite.
({3})
Meine Damen und Herren von der Koalition, vor diesem Hintergrund ist das Handeln der Bundesregierung
zu bewerten. Sicherlich, Sie sind erst seit einigen Wochen im Amt; aber dass Sie uns ein Mandat vorlegen,
das, bis auf deutlich mehr Geld für das Militär, komplett
unverändert ist, das ist schlecht.
({4})
Sie hätten mehr tun können und müssen. Sie hätten eine
unabhängige, ehrliche Evaluierung des Engagements in
Afghanistan vornehmen können. Das Fehlen einer solchen Bilanzierung hängt schon seit Jahren als Ballast an
der deutschen Afghanistan-Politik. Andere Bündnispartner haben diesen Schritt gewagt. Schauen Sie einmal,
was die Kanadier vorlegen. Davon kann man einiges lernen.
Außerdem hätten Sie eine zivile Aufbauoffensive entwickeln können. Alle Experten sind sich einig, dass für
den Erfolg des Einsatzes der Aufbau von staatlichen
Strukturen und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Afghaninnen und Afghanen entscheidend sind.
Aber was tun Sie? Sie fordern mehr Geld - fast
300 Millionen Euro - für das Militär. Ein vergleichbarer
Ausbau der zivilen Hilfe? Da ist Fehlanzeige.
VENRO, der Verband der deutschen Nichtregierungsorganisationen, hat vor zwei Tagen vorgerechnet, dass
sich unter der neuen Bundesregierung das Verhältnis von
militärischen Mitteln zu zivilen Mitteln von drei zu eins
auf vier zu eins verschlechtert. Das ist doch ein absurder
Vorgang.
({5})
Das ist doch das genaue Gegenteil einer zivilen Aufbauoffensive.
Ich sage Ihnen: Es grenzt an Vertuschung, wenn
gleichzeitig die Spatzen von allen Dächern pfeifen, dass
eine Truppenerhöhung geplant sei. Herr zu Guttenberg,
schenken Sie dem Deutschen Bundestag dazu reinen
Wein ein!
({6})
Meine Damen und Herren von der Koalition, die Bundesregierung hat den Kurswechsel von Oberbefehlshaber McChrystal - der will nämlich endlich den Schutz
der Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt stellen - rhetorisch unterstützt. Aber Sie, Herr Verteidigungsminister,
konterkarieren dieses Bekenntnis völlig, wenn Sie die
Bombardierung der zwei Tanklaster bei Kunduz und der
Menschenmenge um diese herum als „angemessen“ bewerten. Ich hoffe, dass Sie im Lichte der neuen Erkenntnisse, die Sie jetzt gewonnen haben, das zurücknehmen
werden.
({7})
In der Stabilisierungsmission ISAF darf kein Platz sein
für eine Kriegslogik, die auf die physische Vernichtung
möglichst vieler Gegner zielt. Das müssen Sie geraderücken!
({8})
Und Herr Jung, wenn sich bestätigen sollte, dass Sie
de facto den Deutschen Bundestag in diesem Zusammenhang belogen haben, dann sind Sie als Minister nicht
mehr haltbar, egal, in welcher Funktion.
({9})
Das muss aufgeklärt werden. Deswegen wollen wir, dass
der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss tätig wird.
({10})
Meine Damen und Herren von der Koalition, die wenigen Wochen der Afghanistan-Politik der neuen Bundesregierung muss ich leider so zusammenfassen: Sie ist
eine Mischung aus Vertagungen, Versprechungen und
Verschlechterungen. Das geht an den realen Herausforderungen in Afghanistan vorbei.
({11})
Die Entscheidung nächste Woche ist sicherlich eine
Gewissensentscheidung für alle Abgeordneten. Die Abwägungen sind nicht leicht. Sie wollen von uns einen
Blankoscheck für ein weiteres Jahr. Ich spreche für einen
großen Teil meiner Fraktion, wenn ich sage: Dem können wir nicht zustimmen.
Danke.
({12})
Für eine Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Wolfgang Gehrcke das Wort.
Kollege Schmidt, ich möchte Sie gerne auf zwei
Punkte ansprechen.
Erster Punkt: Meinen Sie nicht, dass es auch Solidarität ist, dass man einem Partner sagt, was erfolgreich ist
und was nicht erfolgreich ist, was geht und was nicht
geht, wenn man mit ihm über Werte diskutiert? Sollte
man also der Bevölkerung in Afghanistan nicht sagen:
„Unsere Solidarität wird darin liegen, dass wir versuchen, von kriegerischen Lösungen wegzukommen und
zivile Lösungen zu finden“?
({0})
Ich möchte hier vor allen Dingen einen Begriff gewertet
wissen: Das ist der Begriff der Selbstbestimmung. Wir
haben über alles gesprochen, nur nicht über Selbstbestimmung.
Mein zweiter Punkt: Finden Sie es nicht auch unerträglich, dass der ehemalige Verteidigungsminister Herr
Jung hier sitzt, er aber, obwohl ihm schlimme Vorhaltungen gemacht werden, er von fast allen Rednern bezichtigt wird, dass er gelogen hat, und selbst sein Nachfolger
sich von ihm hier absetzt, nicht das Wort ergreift?
({1})
Ich denke, der ehemalige Verteidigungsminister muss
jetzt reden und Stellung nehmen. Ich würde mich freuen,
wenn Sie es ähnlich sähen.
({2})
Zum zweiten Punkt kann ich nur sagen: Da haben Sie
sicher recht. Es wäre gut für die politische Kultur in diesem Land und in diesem Haus, wenn Sie, Herr Jung, hier
heute einmal direkt Stellung nehmen würden.
({0})
Zu Ihrer ersten Frage muss ich sagen: Es ist ganz entscheidend, dass man den Zusammenhang im politischen
Handeln versteht, dass eben ziviler Aufbau in dieser
kriegsähnlichen Situation in Afghanistan auch militärischen Schutz braucht. Wenn man eine Abzugsperspektive eröffnen will, muss man diesen Zusammenhang berücksichtigen und schrittweise vorgehen. Deswegen ist
die Forderung nach einem Sofortabzug falsch und kein
Ausdruck von guter Solidarität.
({1})
Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Hoff für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte vorneweg dem Bundesverteidigungsminister dafür danken, dass er vor dem Hintergrund der
ihm vorliegenden Informationen unverzüglich die Konsequenzen gezogen hat. Ich respektiere ausdrücklich
seine Bereitschaft, im Lichte der ihm zugehenden Informationen eine Neubewertung seiner Aussagen im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit vorzunehmen.
Ich denke auch, dass es der Respekt gebietet, abzuwarten, bis die Informationen wirklich vorliegen, um
Mitgliedern der Bundesregierung tatsächlich ein persönliches Fehlverhalten zuordnen zu können. Ich bitte hier
um die notwendige Seriosität und Geduld. Ich gehe davon aus, dass dann die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden.
({0})
- Das wäre für den Vertreter Ihrer Fraktion möglich gewesen, sehr verehrter Herr Trittin.
In der Kürze der Zeit sollten wir versuchen, die Diskussion auf einen eher rationalen Aspekt zurückzuführen. Wir werden auf der Afghanistan-Konferenz im
nächsten Jahr die Gelegenheit haben, die Strategie neu
zu justieren. Es ist dringend an der Zeit, dass wir das tun.
({1})
Dabei müssen wir einige Punkte berücksichtigen. Erstens darf sich die Situation in Afghanistan nicht durch irgendwelche Maßnahmen, sei es ein Abzug oder Ähnliches, gegenüber der Zeit, in der die internationale
Gemeinschaft dort tätig wurde, verschlechtern.
({2})
Zweitens müssen wir unbedingt gemeinsam dafür
sorgen, dass ein nationaler Versöhnungsprozess entsteht;
denn nur dieser kann die Voraussetzung für alle weiteren
Schritte sein.
Drittens darf der militärische Abzug nicht unverzüglich erfolgen, lieber Kollege Paul Schäfer; denn dies
würde zu einem neuen Bürgerkrieg in Afghanistan führen. Das wissen auch Sie. Ich halte das für unverantwortlich.
({3})
Aber wir müssen gemeinsam dafür sorgen, auch im
Respekt vor dem afghanischen Volk, dass der Primat der
Politik zum Zuge kommt, dass die Politik wieder die
Möglichkeit erhält, die Rahmenbedingungen zu bestimmen. Der militärische Einsatz ist notwendig, kann aber
nur Teil einer Gesamtstrategie sein. Ich glaube, dass
auch die Reaktion unseres Entwicklungsministers, Dirk
Niebel, gezeigt hat, dass er bereit ist, durch die Zurverfügungstellung erhöhter finanzieller Mittel diesen Prozess
aktiv zu begleiten.
({4})
Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr auf die
Debatte nach der Afghanistan-Konferenz, weil wir dann
alle gemeinsam die Möglichkeit haben, eine Neujustierung der Afghanistan-Politik vorzunehmen. Wir werden
als Fraktion mehrheitlich dem Einsatz und der Verlängerung des Mandates ISAF zustimmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({5})
Dr. Gernot Erler ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung hat am 18. November beschlossen,
die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
Internationalen Sicherheits- und Unterstützungstruppe in
Afghanistan, ISAF, fortzusetzen, und bittet den Deutschen Bundestag um Zustimmung dazu. Die SPD-Bundestagsfraktion wird diese Zustimmung nicht verweigern.
Wir beschließen dies allerdings zu einem Zeitpunkt,
zu dem die Entwicklung in Afghanistan Anlass zu großer Sorge gibt, zu dem wichtige Entscheidungen über
das künftige Vorgehen der Vereinigten Staaten, der
NATO und der Weltgemeinschaft in Afghanistan noch
nicht getroffen sind und zu dem wir sicher sein können,
dass wir nicht etwa erst in einem Jahr, wenn die nächste
Verlängerung ansteht, erneut über Afghanistan im Deutschen Bundestag beraten werden, sondern wesentlich
früher. Insofern enthält unsere Entscheidung etwas Vorläufiges. Wir sind auf einem Weg, den wir ganz offenbar
nicht verlassen können; aber er verliert sich vor uns
schon nach wenigen Kurven in einem schwer einsehbaren Gelände. Wir spüren eine drückende Verantwortung
bei der Aufgabe, ein Scheitern in Afghanistan zu verhindern, bei der Herausforderung, sich jetzt auf das Wesentliche zu konzentrieren, und aufgrund des Bewusstseins,
alle zivilen und bewaffneten Kräfte - es handelt sich
schließlich um Menschen, die wir nach Afghanistan
schicken - erheblichen Gefahren aussetzen zu müssen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen mehr
Verbindlichkeit. Das betrifft zunächst Präsident Karzai.
Der Wahlprozess hat das Vertrauen in ihn nicht bestärkt.
In seiner Antrittsrede vor einer Woche hat er eine Reihe
begrüßenswerter Ankündigungen gemacht. Es soll einen
nationalen Versöhnungsprozess geben und dazu die traditionelle Große Ratsversammlung, die Loya Jirga, einberufen werden. Afghanische Sicherheitskräfte sollen
Distrikt für Distrikt, Provinz für Provinz die Sicherheitsverantwortung selbst übernehmen. Dieser Prozess soll in
fünf Jahren abgeschlossen sein. Ferner hat der Präsident
gute Regierungsführung angekündigt. Darunter fallen
Transparenz bei den Einkünften von Leuten mit öffentlichen Ämtern und ein Ende der Kultur der Straflosigkeit,
einer Schwester der Korruption, die ebenso bekämpft
werden soll wie illegaler Drogenanbau und -handel.
Da haben die Zuhörer geklatscht, und die internationale Gemeinschaft hat zustimmend genickt. Aber wir
haben diese Botschaften in ähnlicher Form schon öfter
gehört. Es sind zwar gute Botschaften, aber sie bleiben
zu allgemein und zu unverbindlich. Was wir brauchen,
sind überprüfbare Zwischenschritte. Wie sollen sie aussehen? Welche Fristen gibt es für die Umsetzung dieser
Zwischenschritte? Es darf nicht mehr sein, dass wir nach
einem, zwei oder gar fünf Jahren feststellen müssen: Es
wurde zwar versucht, aber leider ist es wieder nicht gelungen. - Wir brauchen eine konkretisierte Verbindlichkeit.
({0})
Sie muss für den nächsten Compact ausgehandelt werden, das heißt bis zu der internationalen AfghanistanKonferenz Ende Januar.
Wir brauchen diese Verbindlichkeit aber auch auf der
anderen Seite, also auf unserer Seite. So lesen wir zum
Beispiel im Antrag der Bundesregierung:
Dabei steht im Zentrum des zivilen Engagements
der Bundesregierung die Aus- und Fortbildung der
afghanischen Polizei. Die Bundesregierung … beabsichtigt, die bilaterale deutsche Polizeimission zu
diesem Zweck personell erheblich aufzustocken …
Irgendeine konkrete Zahlenangabe dazu suchen wir allerdings vergeblich. Das ist genauso unverbindlich wie
die präsidialen Ankündigungen in Kabul. In jeder Afghanistan-Diskussion wird die Bedeutung der Selbstverteidigungsfähigkeit Afghanistans beschworen. Dazu
gehört natürlich die Polizeiausbildung. Auch Sie, Herr
Westerwelle und Herr zu Guttenberg, haben das eben
vorgetragen.
Man muss schon tief in das neue Papier der Bundesregierung mit dem Titel „Afghanistan. Auf dem Weg zur
,Übergabe in Verantwortung‘“ einsteigen, um überhaupt
einmal auf eine Angabe zu den Dimensionen zu stoßen.
Auf Seite 15 steht dazu:
Die Bundesregierung strebt an …, den Personaleinsatz im bilateralen deutschen Polizeiprojekt bis
Mitte 2010 auf rund 200 Polizisten aufzustocken,
was etwa eine Verdreifachung der Anzahl von Mitte
2009 bedeutet …
Mit anderen Worten: Im Jahre acht des deutschen Afghanistan-Einsatzes haben wir für die Erledigung der Aufgabe, die wir für am wichtigsten halten und bei der wir
uns besonders engagieren, im bilateralen Bereich ganze
70 Ausbilder vor Ort. Es werden zwar bis zu 4 500 Soldaten eingesetzt, aber bei der Aufgabe, die afghanischen
Sicherheitskräfte auszubilden, kommen bisher nur
70 Leute zum Einsatz.
In den letzten Tagen sind hier mit einem Federstrich
die Zielgrößen erhöht worden, ja mehr als verdoppelt
worden. Plötzlich reden wir nicht mehr von 92 000 afghanischen Soldaten und 84 000 afghanischen Polizisten, die für die Eigensicherung notwendig sind, sondern
von 240 000 Soldaten und 160 000 Polizisten. Aber wer
soll diese denn in welchem Zeitraum eigentlich ausbilden? Die 70 deutschen Ausbilder oder die - wenn es
überhaupt jemals so viele werden - 400 Ausbilder der
EU? Es ist höchste Zeit, dass wir uns ehrlich machen,
um an dieser Stelle ehrlich zu bleiben. Das, Herr zu
Guttenberg, ist eigentlich der Zweck einer ressortübergreifenden Handlungsfähigkeit. Das müsste tatsächlich
geklärt werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Stinner?
Nein, das möchte ich jetzt nicht.
ISAF zu verlängern, ist unumgänglich. Aber ebenso
unumgänglich ist es, die nächsten Wochen zu nutzen, um
bis zu der Afghanistan-Konferenz tatsächlich konkrete
eigene Leistungen mit konkreten Zeitangaben für ihre
Umsetzung zu definieren. Diese Leistungen sind notwendig, um wenigstens das wichtigste Ziel in Afghanistan zu erreichen. Nur dann haben wir die Chance, diese
Verbindlichkeit auch von der afghanischen Seite zu verlangen. Das erwarten wir von der Bundesregierung. Seitens der Opposition sind wir bereit, unseren Beitrag zu
leisten.
Vielen Dank.
({0})
Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Stinner
das Wort.
Sehr geehrter Herr Kollege Erler, halten nicht auch
Sie es für außerordentlich peinlich, dass gerade Sie, der
Sie bis vor vier Wochen vier Jahre lang die Verantwortung hatten, für den Polizeiaufbau zu sorgen, die neue
Bundesregierung kritisieren, die einen neuen Ansatz
wählt und erstmals eine ausführliche Mandatsbegründung vornimmt, deren Entwicklungshilfeminister erstmals einen gemeinsamen Ansatz schafft und in den ersten Amtstagen dafür gesorgt hat, dass mehr Mittel
bereitgestellt werden? Herr Kollege Erler, das halte ich
für außerordentlich peinlich.
Herzlichen Dank.
({0})
Herr Kollege Stinner, ich glaube nicht, dass ich Sie
darüber aufklären muss, wie die Aufgabenverteilung in
der vergangenen Bundesregierung ausgesehen hat. Ich
könnte nachweisen, dass uns das Thema der Polizeiausbildung immer wieder beschäftigt hat. Es ist nicht zu erkennen, dass das Konzept an dieser Stelle verändert
wurde. Von einem Tag auf den anderen wird die Zahl
derjenigen, die in Afghanistan ausgebildet werden sollen, verdoppelt. Es sollen jetzt 162 000 Polizisten ausgebildet werden. Dies bildet sich aber nicht in dem Konzept ab, das die Bundesregierung vorschlägt. Es wird
vielmehr gesagt: Wir werden die Polizeimission von 60
bzw. 70 vielleicht auf 200 Personen aufstocken. Es ist
doch wohl berechtigt, dass wir, wenn wir schon von Ehrlichkeit und Offenheit sprechen, im Bundestag beraten,
ob das die richtige Größenordnung ist, ob diese Zahl
ausreicht oder nicht. Ich habe mir das Recht genommen,
dies anzusprechen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich habe nicht gehört, wer gerade einen Zuruf
gemacht hat. Es scheint ein Kollege der SPD gewesen zu
sein.
({0})
- Der Kollege Kelber bekennt sich freiwillig dazu, dass
er es war.
Herr Erler, die Dinge, die Sie zuletzt angesprochen
haben - Kollege Stinner hat dankenswerterweise darauf
hingewiesen -, waren Ihnen bislang nicht neu. Auch die
Entwicklung des Ganzen ist Ihnen nicht neu. Als Staatsminister waren Sie an verantwortungsvoller Stelle maßgeblich daran beteiligt und haben in den letzten Jahren
vieles erreicht.
({1})
Ich bin schon der Meinung, dass das, was Sie gesagt haben, der Sie ja auch noch von Offenheit und Ehrlichkeit
geredet haben, nicht ganz zutreffend war. Ich möchte an
dieser Stelle, wie es auch der Kollege Stinner getan hat,
darauf hinweisen, dass der amtierende Außenminister,
Herr Westerwelle, die Dinge richtig dargestellt hat und
unsere volle Unterstützung hat.
({2})
Ich finde es richtig, dass das Parlament an einem so
wichtigen Tag wie heute, an dem wir über mehrere Mandate zu entscheiden haben, breit und mit starker Beteiligung über diese Mandatsverlängerungen diskutiert. Ich
hätte mir gewünscht, dass im Laufe dieser Debatte mehr
über Afghanistan selbst diskutiert worden wäre. Ich sehe
in den Angriffen, die seitens der Opposition gegenüber
Minister Jung gestartet worden sind, den plumpen Versuch, sich nicht mit der Realität in Afghanistan auseinanderzusetzen, sondern eine politische Show aufzuführen, die der Wichtigkeit des Themas nicht entspricht.
Ich glaube, dass dieser Punkt deutlich herausgearbeitet
werden muss.
({3})
- Gerade Sie, Herr Ströbele, der Sie permanent Zurufe
machen, sollten zuhören, wenn es um die Sache geht.
({4})
Frau Kollegin Beck beispielsweise hat vorhin im Rahmen ihrer Zwischenfrage die Wichtigkeit des Themas
Afghanistan deutlich gemacht und darauf hingewiesen,
welche Bedeutung die Lage in Afghanistan für die Situation in Pakistan und für die gesamte Region hat. Herr
Ströbele, als Frau Beck diesen wichtigen Beitrag geleistet hat, waren Sie noch nicht einmal hier im Raum. Immer, wenn Sie hier sind, schreien Sie die ganze Zeit dazwischen. Deshalb möchte ich Ihre Zwischenfrage jetzt
auch nicht zulassen, sondern mich dem Thema widmen.
({5})
Es gibt einen weiteren Wunsch zu einer Zwischenfrage des Kollegen Ströbele.
Nein, das lasse ich jetzt nicht zu.
({0})
Das zu Ende gehende Jahr 2009 war kein gutes Jahr
für Afghanistan. Der jüngste Wahlprozess hat die Defizite, die schon in den vergangenen Jahren offensichtlich
waren, deutlich herausgestellt und der Weltöffentlichkeit
sehr plastisch vor Augen geführt.
Ich will zunächst drei Punkte ansprechen, die wir
deutlich im Blick unserer Argumentation haben müssen:
Das sind die sich deutlich verschlechternde Sicherheitslage, die grassierende Korruption und die schlechte Regierungsführung in der Administration von Karzai.
Diese Defizite sind für die weitere soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Landes eine große Hypothek. Gerade deshalb muss die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft besonders herausgestellt
werden.
Nach der erneuten Amtseinführung von Karzai und
auch nach seiner Rede in der vergangenen Woche sehe
ich die Chance und habe wie alle die Hoffnung, dass dieser Negativtrend durchbrochen werden kann. Die
Chance muss genutzt werden. Dies ist angesichts der
Dauer des Einsatzes mittlerweile sehr schwierig, weil
wir schon oft Hoffnung geschöpft haben und diese Hoffnung sich dann nicht erfüllt hat. Es ist trotzdem kein
Grund, aufzugeben. Es ist trotzdem kein Grund, die
Menschen in Afghanistan alleine zu lassen und sich der
eigenen Verantwortung zu entziehen.
Die Konsequenz aus einem Rückzug wäre, dass
Afghanistan in ein heilloses Chaos stürzt, dass Afghanistan zu einem Rückzugsraum für Terroristen und - wie es
das schon einmal war - wieder zu einer Operationsbasis
für den weltweiten Terrorismus wird. Frau Beck, ich
habe es bereits angesprochen: Die Auswirkung auf die
gesamte Region ist nicht zu unterschätzen: Wenn ein islamistisches Talibanregime die Macht ergreifen würde,
würde dies nicht ohne Folgen bleiben für Pakistan, für
die zentralasiatischen Staaten, für Russland und China,
die dies im Übrigen auch als Worst-Case-Szenario sehen. Deshalb haben sie ein großes Interesse an einer Stabilisierung Afghanistans, die sie mit uns gemeinsam voranbringen wollen.
Ich danke allen Fraktionen im Haus, dass - es bröckelt ja in manchen Fraktionen - insgesamt, gerade im
Auswärtigen Ausschuss, diese Diskussion mit großer
Ernsthaftigkeit geführt wird. Ich möchte auch daran erinnern, dass die rot-grüne Regierung 2001 unter der Führung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer diesen
Einsatz, damals noch unter dem Motto der uneingeschränkten Solidarität, begonnen hat. Deshalb weiß ich
es, gerade auch durch die Zusammenarbeit mit Ihnen,
Herr Erler, besonders zu schätzen, dass das Thema
Afghanistan eben nicht zu einem populistischen Ja-neinThema gemacht wird. Vielmehr müssen wir darüber diskutieren, was tatsächlich der beste Weg für Afghanistan
ist. Das möchte ich anbieten. Deshalb glaube ich auch,
dass Ihre Anmerkung wichtig war.
Wir dürfen es, was die Auseinandersetzung mit diesem Thema angeht, nicht nur bei dieser heutigen Debatte
belassen, sondern wir müssen auch dann, wenn die
Afghanistan-Konferenzen stattgefunden haben, im Deutschen Bundestag weiterhin die Möglichkeit haben, zeitnah über den Fortgang zu diskutieren und nicht erst in
zwölf Monaten. Das kann ich für meine Arbeitsgruppe
und auch für mich persönlich anmelden. Selbstverständlich wollen wir auch in diesen Prozess eingebunden sein.
Ich denke, das ist ein gemeinsames Interesse.
Die NATO und die Weltgemeinschaft haben eine
große Verantwortung für Afghanistan. Wenn wir über
die Kriterien des Erfolgs sprechen, wenn wir Erfolgsmaßstäbe beschwören und sie darstellen, dürfen wir dabei nicht vergessen, dass auch die Öffentlichkeit in
Afghanistan ganz genau darauf achtet, ob wir es mit der
Durchsetzung dieser Erfolgskriterien ernst meinen. Die
Erwartungshaltung - die afghanische Delegation ist angesprochen worden, sie hat sich auch mit Vertretern unserer Fraktion getroffen - sowohl von Politikern als auch
von Bürgern in Afghanistan ist riesengroß. Gerade
Deutschland als drittgrößter Truppensteller trägt dort
eine große Verantwortung, der wir gerecht werden müssen.
({1})
Eine Anmerkung in Richtung der Linken: Ich glaube,
dies ist nicht nur eine Frage der Bündnistreue unseres
Landes, sondern auch eine Frage der Glaubwürdigkeit
und Verlässlichkeit unseres Landes insgesamt. Vor allem
ist zu fragen, ob wir der wirtschaftlichen und politischen
Bedeutung unseres Landes, die wir an anderer Stelle immer gerne für uns reklamieren, gerecht werden, wenn
wir diesen Einsatz auch nur ansatzweise infrage stellen.
Deshalb sage ich: Wir müssen dieses Thema im Einvernehmen mit unseren Partnern in der internationalen Gemeinschaft angehen und unserer Verantwortung gerecht
werden; denn man kann nicht an der einen Stelle mehr
Bedeutung für Deutschland reklamieren und sagen, dass
man bei vielen Themen führend sein will, sich an anderer Stelle aber vor der Verantwortung drücken. Wir
müssen zu unserer Verantwortung stehen. Das ist eine
Frage der Glaubwürdigkeit und der Verlässlichkeit
Deutschlands.
Ich bin der Meinung, dass wir den Antrag der Bundesregierung unterstützen, die Ziele, über die diskutiert
wird, stärker herausarbeiten und das polizeiliche und das
militärische Engagement Deutschlands in Afghanistan
fortsetzen sollten. Außerdem glaube ich sehr wohl, dass
wir auf günstigere Umstände in der Zukunft hoffen können. Aber es muss klar sein, dass dies kein einfacher
Prozess ist, für den es eine einfache Lösung gibt. Man
unterliegt einem Irrglauben, wenn man annimmt - ich
glaube, der Kollege Frithjof Schmidt von den Grünen
hat das gesagt -, dass den Menschen dadurch geholfen
werden könnte, dass man das Militär abzieht und gleichzeitig mehr Entwicklungshelfer ins Land schickt. Tatsächlich ist es doch so, dass die Entwicklungshelfer massiv auf Schutz und Unterstützung angewiesen sind. Dort,
wo eine Befriedung erreicht werden konnte, ist Engagement notwendig. Aber gerade dort, wo die militärische
Auseinandersetzung besonders intensiv ist, kann man als
Antwort doch nicht mehr Entwicklungshelfer anbieten.
Gerade diejenigen, die vor Ort verantwortungsbewusst
einen großen Dienst für die internationale Gemeinschaft
und für die Menschen in Afghanistan leisten, müssen geschützt werden. Deshalb ist der Einsatz der Bundeswehr
auch und gerade für die Entwicklungshelfer sehr wichtig.
({2})
Die Bundeskanzlerin hat kürzlich in ihrer Regierungserklärung gesagt, dass die Ziele des deutschen Engagements in Afghanistan nach wie vor die Schaffung
selbsttragender Sicherheit und der Aufbau funktionsfähiger staatlicher Strukturen sind. Wie weit wir davon noch
entfernt sind, haben uns die letzten Wochen sehr deutlich
vor Augen geführt. Deshalb glaube ich, dass wir die afghanische Regierung sehr stark dabei unterstützen müssen, die folgenden drei Ziele zu erreichen: Zunächst einmal geht es um die Stabilisierung und die Sicherheit,
dann darum, gutes Regieren durchzusetzen, und darum,
die weitere Entwicklung zu unterstützen.
Die Verbesserung der Sicherheitslage ist die Voraussetzung für die Erreichbarkeit der beiden weiteren Ziele.
Deshalb ist - das ist in der Debatte schon angesprochen
worden - der weitere Aufbau von Polizei und Armee in
afghanischer Eigenverantwortung dringend notwendig.
Wir müssen über unseren Beitrag hierfür diskutieren.
An zweiter Stelle steht die gute Regierungsführung.
Es gibt in Afghanistan viele Absichtserklärungen und
konkrete Vorschläge wie die Pflicht für einzelne Minister, ihre Einkunftsquellen offenzulegen. Es ist wichtig,
dass wir bei allen Gesprächen, bei allen anstehenden
Konferenzen, bei jeder Gelegenheit darauf drängen, dass
die Grundstrukturen, die für eine gute Regierungsführung notwendig sind, auch durchgesetzt werden. Obwohl
Karzai in seiner letzten Rede wieder deutlich herausgestellt hat, dass er das nun machen will, ist es wichtig,
dass die internationale Gemeinschaft und insbesondere
Deutschland den Druck weiterhin aufrechterhält, damit
gegen das Geschwür der Korruption in Afghanistan engagiert vorgegangen wird.
Der dritte Punkt bezieht sich auf die weitere Entwicklung. Natürlich ist klar, dass Deutschland neben
den Vereinigten Staaten von Amerika, die sich in der
Entwicklungshilfe ebenfalls sehr stark engagieren, gefragt ist. Deshalb wollen wir unser Engagement auf diesem Gebiet fortsetzen.
Unsere Fraktion begrüßt es, dass die Bundesregierung
die Afghanistan-Konferenzen im kommenden Jahr angestoßen hat und engagiert begleiten will. Auch das ist für
uns klar: Es wird keinen Schnellschuss bezüglich der
Afghanistan-Strategie geben. Ohne ein Gesamtkonzept können und wollen wir bei diesen Konferenzen
keine seriöse Entscheidung zur Zukunft unseres Engagements treffen. Natürlich ist klar, dass sich unser Engagement an erfüllbaren Erfolgskriterien orientieren muss,
die bei der Bevölkerung in Deutschland auf Rückhalt
stoßen und im Deutschen Bundestag nach Möglichkeit
mit Unterstützung aller Fraktionen - wenn sich die
Linke herausnimmt, wird das nicht zu erreichen sein durchgesetzt werden können.
Ich begrüße ausdrücklich, dass Karl-Theodor zu
Guttenberg bei seinem Antrittsbesuch in Kabul deutliche
Worte gegenüber Präsident Karzai gefunden hat und
deutlich gesagt hat, was unsere Erwartungshaltung ist.
Dies muss auch unsere Strategie für die AfghanistanKonferenzen sein. Wir müssen deutlich machen, was wir
von unseren afghanischen Partnern erwarten. Wir haben
diese Erwartungen zu Recht; denn die Bundesrepublik
leistet einen nicht unerheblichen Beitrag, der für viele
Angehörige von Bundeswehrsoldaten und Entwicklungshelfern eine große Belastung ist. Deshalb ist es
richtig, dass unsere Interessen ernsthaft formuliert und
gegenüber der afghanischen Regierung durchgesetzt
werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Der Kollege Ströbele hat um eine Kurzintervention
gebeten. - Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Mißfelder, Sie haben mich angesprochen, weil wir hier über die Videoaufnahmen und die
Meldungen, die heute durch die Presse gehen, reden.
Wenn wir über diese neuen Fotos, Zeichnungen und die
Originalzitate der Ärzte aus den Krankenhäusern in
Afghanistan reden, dann reden wir nicht nur über die
Unwahrheiten, die seitens der Bundeswehr und des Ministeriums und dieses Herrn, der immer noch auf der Regierungsbank sitzt und nichts anderes tut als lächeln oder
lachen, verbreitet worden sind, sondern auch über 142 in
Afghanistan getötete Menschen. Das heißt, wir reden
über Afghanistan, über die Kinder und Jugendlichen, die
dort auf Befehl eines deutschen Obersts im Bombenhagel umgekommen sind. Wir reden darüber, dass diese
Offensivstrategie dazu beiträgt, dass der Krieg in Afghanistan immer schlimmer und skrupelloser wird, dass damit der Terrorismus nicht bekämpft, sondern gefördert
wird. Jede solche Bombardierung mit zivilen Opfern, die
hier im Deutschen Bundestag, auch vom neuen Verteidigungsminister, gerechtfertigt wird, brutalisiert und verlängert den Widerstand und den Krieg in Afghanistan,
lässt ihn eskalieren. Darüber reden wir. Nehmen Sie das
doch einmal zur Kenntnis und stellen Sie sich nicht hinter diesen ewig nur lachenden oder lächelnden Minister,
der die Regierungsbank besser heute als morgen verlassen sollte!
({0})
Herr Kollege Ströbele, ich nehme das, was Sie gesagt
haben, natürlich zur Kenntnis. Ich finde, dass jedes Menschenleben, das - egal auf welcher Seite - in dieser Auseinandersetzung verloren geht, eines zu viel ist. Ich
glaube, dass dies bei jeder Debatte hier deutlich geworden ist. Angesichts der Diskussionen im Wahlkreis, aber
auch im privaten Umfeld spürt jeder einzelne Abgeordnete die Last, die auf ihm liegt, wenn es hier darum geht,
Einsätze zu verlängern. Ich sehe gerade auch an den Gesichtern der Kollegen in Ihrer Fraktion, dass sie es sich
in dieser Debatte nicht leicht machen; das war auch in
der Vergangenheit der Fall.
Herr Ströbele, ich verstehe, dass Sie jede Gelegenheit
nutzen - sei es durch Zwischenrufe, sei es durch Interventionen -, um Ihre persönliche Haltung deutlich zu
machen. Aber diskutieren Sie das auch in Ihrer eigenen
Fraktion!
({0})
In den vergangenen Jahren wurden die Einsätze in
Afghanistan mit einer breiten Mehrheit beschlossen. Sie
können nicht wegen eines Artikels in der heutigen Ausgabe der Bild-Zeitung so tun, als trage nur eine Person in
der Bundesregierung die Verantwortung, die heute gar
nicht mehr für das Ressort zuständig ist. Tatsächlich tragen wir eine Gesamtverantwortung. Dies zu erwähnen,
gehört zur Redlichkeit dazu.
Herr Ströbele, Sie greifen den Fall, der in dem Artikel
geschildert ist, heraus, um Ihre persönliche Fundamentalkritik am Einsatz zu begründen. Dies lasse ich Ihnen
einfach nicht durchgehen. Ich bin der Meinung, dass wir
uns mit der Sache auseinandersetzen müssen.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Nouripour für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben
Sie mir ein paar Vorbemerkungen zu dem Gesagten.
({0})
Kollege Mißfelder, es geht nicht um einen einzigen
Artikel. Es geht darum, dass aufgrund dessen, was in
diesem Artikel steht, heute der oberste Soldat der Republik entlassen worden ist.
({1})
Sie machen den gleichen Fehler wie der Außenminister.
Auch er hat in seiner Rede ein bisschen banal über diesen Zwischenfall gesprochen, was im Übrigen massiv
dem Ansatz des Verteidigungsministers widerspricht,
der ja angekündigt hat, es gebe jetzt eine herausragende
Kooperation zwischen den Ressorts. Das scheint noch
nicht der Fall zu sein.
({2})
Zweite Vorbemerkung. Herr Minister, Sie haben sich
in der Vergangenheit geweigert, einen eigenständigen
Bericht über diesen Zwischenfall vorzulegen, über den
wir hier im Plenum diskutieren könnten. Dies taten Sie
mit der Argumentation, es gebe nur diesen einen Bericht
von COM ISAF und der sei geheim. Vorhin haben Sie
gesagt, es gebe deutlich mehr Berichte. Deshalb müssen
Sie Ihre Bewertung hinterfragen. Legen Sie hier bitte einen Bericht vor. Jetzt gibt es ja die Möglichkeit; Sie haben selber gesagt, dass es mehr Quellen gibt. Wir brauchen einen Bericht, damit wir hier endlich darüber
diskutieren können.
({3})
Wir diskutieren heute über die Verlängerung des
ISAF-Mandates. Dabei geht es nicht um Planspiele, sondern darum, dass wir Frauen und Männer in Einsätze
schicken, in denen es auch um ihr Leben geht. Deshalb
möchte ich die Gelegenheit nutzen, auch seitens meiner
Fraktion den Soldatinnen und Soldaten, den zivilen Aufbauhelferinnen und -helfern und natürlich erst recht ihren Familien für den Einsatz, den sie erbringen, von ganzem Herzen zu danken.
({4})
Dieser Einsatz erfordert eine Gegenleistung von der
Politik. Diese Gegenleistung kann nur sein, dass wir
Verantwortung übernehmen, dass wir schauen, welchen Auftrag wir erteilen. Der Auftrag muss klar sein, er
muss durchdacht sein, und er muss Aussicht auf Erfolg
und Wirksamkeit haben. Das sind drei Anforderungen,
denen das Konzept der Bundesregierung mit dem schönen Titel „Übergabe in Verantwortung“ leider nicht gerecht wird.
({5})
Dieses Konzept bleibt sehr viele Antworten schuldig.
Damit meine ich nicht nur Antworten auf ZwischenfraOmid Nouripour
gen, die an den Bundesaußenminister gestellt werden.
Ich meine fundamentale Fragen, die wir hier stellen
müssen.
Ich zitiere: Mein Eindruck ist, wir werden „von der
Regierung im Unklaren gelassen“ und nur „in einer Salamitaktik“ über die Strategie informiert. Das Zitat stammt
vom Abgeordneten Karl-Theodor zu Guttenberg,
30. Juni 2008, Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ich kann
nur sagen: Er hatte damals recht. Die Situation hat sich
bisher aber nicht verändert. Die Konsequenz, die der damalige Abgeordnete gezogen hat, war: Wir brauchen
eine Kommission zur Bewertung des Einsatzes in
Afghanistan, nicht nur um darzustellen, was schlecht
läuft, sondern auch um darzustellen, was gut läuft. Ich
bin der festen Überzeugung, dass die Notwendigkeit einer solchen Kommission gerade mit der Ernennung des
neuen Verteidigungsministers endlich Reife erreicht hat.
Wir brauchen eine Bewertung. Wir brauchen eine Evaluation dessen, was in Afghanistan passiert. Das schulden wir nicht nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern
auch den Menschen in Afghanistan und der deutschen
Öffentlichkeit.
({6})
Es gibt aber noch mehr Fragen, die wir derzeit nicht
klären können. Der Kostenansatz explodiert um nahezu
40 Prozent; es sind 230 Millionen Euro mehr. Ich habe
in den letzten Tagen sehr häufig versucht, Herr Minister,
aus Ihrem Haus eine schriftliche Begründung für diese
Kostenexplosion zu bekommen. Ich habe keine bekommen. Ich finde, das entspricht nicht Ihrem Ansatz von
Transparenz. Es ist sehr bedauernswert und nahezu ein
Skandal, dass wir im Hohen Hause über einen Ansatz
diskutieren, dessen Grundlage fehlt; wir wissen nicht,
warum die Kosten so steigen.
({7})
Es gibt noch mehr Fragen. Der Entwicklungshilfeminister hat vorgestern verkündet, 52 Millionen Euro
mehr für den zivilen Aufbau zur Verfügung zu stellen.
Wenn man genau hinschaut, muss man feststellen, dass
dieses Geld von der Vorgängerregierung bereits versprochen und beschlossen worden ist. Hier wird uns altes
Geld als frisches verkauft; auch das hat mit Transparenz
und Ehrlichkeit überhaupt nichts zu tun. Wer so stiefmütterlich mit dem Ansatz für den zivilen Bereich umgeht, legt den Grundstein für eine sichere Niederlagenstrategie.
({8})
Wir als Grüne stehen zu unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Afghanistan. Genau deswegen
fordern wir eine Bewertung und einen längst überfälligen Strategiewechsel. Vor allem fordern wir einen klar
formulierten konkreten Zeitplan, der die Perspektive für
einen Abzug aufzeigt, zumal die Kanadier und die Niederländer das machen. Das ist nicht unbedingt als großer
Erfolg für die Taliban verkauft worden, Herr Minister.
Wir müssen die Worte „Verantwortung“ und „Engagement“ - sie sind häufig gefallen - endlich mit Sinn
füllen. Das müssen wir tun, weil wir es den Menschen
schulden: der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, den
Soldatinnen und Soldaten, den Polizeiausbildern und zivilen Helfern, vor allem aber den Menschen in Afghanistan.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Holger Haibach ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine gute Analyse beginnt bekanntlich mit der Betrachtung der Realität. Ich bin mir nicht sicher, ob jeder hier im Haus die
Realität schon betrachtet und richtig erkannt hat.
({0})
- Weil Sie ihn gerade ansprechen, würde ich gerne das
eine oder andere zu dem, was in dieser Debatte bisher
geäußert worden ist, sagen.
({1})
Wir haben einen großen Teil dieses Vormittags mit
der Diskussion über einen Bericht verbracht, den noch
keiner von uns gelesen hat.
({2})
Trotzdem sind wir der Meinung, wir könnten schon jetzt
unsere Schlüsse daraus ziehen. Ich glaube, dass dies die
falsche Betrachtung der Realität ist.
({3})
Ich finde, wir sollten uns die Dinge erst einmal in aller
Ruhe anschauen und dann unsere Schlüsse ziehen.
({4})
- Sie möchten vielleicht gerne darüber diskutieren. Das
hat mit dem ursprünglichen Thema aber nur relativ wenig zu tun.
Zweitens. Herr Schmidt und Herr Nouripour haben
die Kanadier dafür gelobt, dass sie eine Kommission
eingesetzt haben. Es ist richtig: Die Kanadier haben eine
Kommission eingesetzt. Sie haben den Bericht dieser
Kommission auch entgegengenommen, aber etwas anderes gemacht. Sie haben ihre Soldaten nämlich entgegen
der Empfehlung dieses Berichts länger in Afghanistan
gelassen. Insofern kann man die Kanadier hier nicht als
gutes Beispiel anführen und sagen: Das kann man auch
in Deutschland so machen.
({5})
Eine Kommission bringt nur dann etwas, wenn man
auch bereit ist, ihren Empfehlungen zu folgen. Deswegen finde ich, dass man darüber noch einmal nachdenken muss. Die Kanadier setzen übrigens wieder eine
Kommission ein; zumindest ist das geplant. Insofern
glaube ich, dass uns eine Strukturdebatte an dieser Stelle
nicht weiterhilft.
Ein letzter Punkt. Kollege Gehrcke hat vorhin in seiner Zwischenfrage gesagt, es gehe um die Selbstbestimmung der Afghanen.
({6})
Das ist völlig richtig,
({7})
und das bestreitet hier auch keiner. Aber ausgerechnet
Ihre Fraktion ist nicht bereit, den Afghanen die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Sie sagen
nämlich: kein Militär, keine Unterstützung und kein
Schutz unserer Entwicklungshelfer in Afghanistan. Diese
Politik, meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Linken, ist die falsche Politik.
({8})
Wir sollten einmal in der Rückschau betrachten, was
in Afghanistan bereits erreicht wurde.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gehrcke?
Aber gerne.
Lieber Kollege, ich weiß, dass Sie ein gebildeter und
kenntnisreicher Entwicklungspolitiker sind. Trotzdem
kann man zu falschen Schlüssen kommen. Meinen Sie,
dass der Weg zur Selbstbestimmung bedeutet, dass man
den Afghanen dieses Recht erst einmal vorenthält und
zensierende Anforderungen an sie stellt? Ich fand das
Auftreten des Verteidigungsministers zu Guttenberg in
Afghanistan brüskierend für das Volk. Dem Präsidenten,
den ich nicht sympathisch finde und dessen rechtliche
Grundlage sehr dünn ist,
({0})
sind in einer Art und Weise Vorhaltungen gemacht worden, die man nur an den Tag legt, wenn man einen kolonialen Ansatz verfolgt.
({1})
Deswegen meine Frage: Glauben Sie, dass der Weg zur
Selbstbestimmung heute tatsächlich über Militär und die
Vorenthaltung der Selbstbestimmung gehen kann?
Ich glaube, in Kenntnis des Charakters des Kollegen
Guttenberg kann ich den Begriff „kolonial“ sofort zurückweisen.
({0})
Zu Ihrer Frage, Herr Gehrcke. Es ist völlig unbestreitbar - das wird, wenn man seinen Worten Glauben
schenkt, nicht einmal vom afghanischen Präsidenten bestritten -, dass es in der afghanischen Regierung große
Defizite gibt, zum Beispiel beim Aufbau eines Rechtsstaates und bei der Korruptionsbekämpfung. Nichts anderes hat der Bundesverteidigungsminister gesagt. Er hat
zu Recht deutlich gemacht, dass es darum geht, den Präsidenten hinsichtlich seiner Rede zur Amtseinführung
beim Wort zu nehmen. Ich glaube, dass es nicht nur unser Recht ist, sondern auch unsere Pflicht, das zu tun.
({1})
Noch einmal zurück zu der Frage, was wir für den
Wiederaufbau in Afghanistan tun. Ich habe die Äußerungen in den letzten Wochen zu diesem Thema verfolgt.
Aber ich finde, sie sind ein wenig einseitig. Deutschland
ist mit 1,2 Milliarden Euro der drittgrößte Geber. Es ist
nicht so, als würden wir uns unserer Verantwortung an
dieser Stelle in irgendeiner Form entziehen. Es ist bei allen Problemen und bei allen Defiziten, die es definitiv
gibt, auch nicht so, als hätten wir nichts erreicht. Über
unsere Investitionsagentur sind 400 000 neue Arbeitsplätze in Afghanistan geschaffen worden. Von unserer
Mikrokreditfinanzierung profitieren 400 000 Haushalte,
Handwerker, Händler und Dienstleister; sie haben eine
Existenz. 500 000 Schüler können eine Grundschule besuchen. Das alles ist auch das Ergebnis deutscher Entwicklungspolitik. Das muss an dieser Stelle einmal anerkannt werden.
({2})
Natürlich wird der Afghanistan-Einsatz in Deutschland kritisch begleitet, und zwar zu Recht. Natürlich stellen sich Fragen. Ist unser Einsatz dort richtig? Ist dieser
Einsatz auch gut verzahnt? Über diese wichtige Frage ist
schon intensiv diskutiert worden. Das Afghanistan-Mandat der internationalen Gemeinschaft kann nur dann
erfolgreich sein, wenn wir die richtige Zielsetzung haben, wenn wir zivile und militärische Komponenten miteinander verzahnen und wenn wir mit unseren Partnern
in der internationalen Gemeinschaft die richtige Verabredung, was Arbeitsteilung und Burden-Sharing betrifft,
finden. Deshalb ist es richtig, keine Vorfestlegung zu
machen, wie wir uns verhalten, wenn es eine Afghanistan-Konferenz Ende Januar gegeben haben wird, sondern jetzt das Afghanistan-Mandat zu verlängern und im
Januar im Lichte der neuen Beschlüsse unsere EntscheiHolger Haibach
dungen zu treffen. Das müssen wir an dieser Stelle deutlich sagen.
({3})
Dass zur Selbstbestimmung der Aufbau funktionierender staatlicher Strukturen gehört, ist unbestritten. In
Meseberg hat das Kabinett unter anderem beschlossen,
dass die Zahl der deutschen Polizisten, die zur Ausbildung der afghanischen Polizei herangezogen werden sollen, von 70 auf 200 erhöht werden soll.
({4})
Das ist notwendig. Natürlich wissen wir, dass wir noch
einiges zu tun haben, wenn wir zu einem Aufbau staatlicher Strukturen kommen wollen. Zum Aufbau staatlicher Strukturen gibt es, wie wir wissen, keine Alternative. Deswegen denke ich, dass wir unsere Rolle dabei
spielen müssen.
Wir brauchen an dieser Stelle aber auch den Dialog,
den Wiederaufbau, die sichtbare Friedensdividende, wie
Herr Niebel es genannt hat. An dieser Stelle will ich
deutlich sagen: Ich bin froh, dass der neue Minister als
eine der ersten Maßnahmen verkündet hat, dass er durch
Umschichtungen im Haushalt in diesem Jahr 52 Millionen Euro zusätzlich bereitstellt, damit mehr Wiederaufbau, mehr Entwicklungszusammenarbeit geleistet werden kann. Das ist ganz klar ein Zeichen dafür, dass wir
erkannt haben, was für Afghanistan notwendig ist.
({5})
Wenn man sich die Kritik der Nichtregierungsorganisationen anschaut - diese Woche fand die VENRO-Konferenz statt -, wird man zugestehen, dass man über vieles diskutieren kann. Wer die Presseberichterstattung
verfolgt, muss jedoch den Eindruck gewinnen, das alles
sei niemals erkannt worden und nichts davon sei Teil
deutscher Politik. Ich will ein Beispiel anführen. Wir
müssen uns intensiv Gedanken darüber machen, wie wir
nicht nur in den Städten und in den Gegenden rund um
unsere PRTs Sicherheit schaffen und beim Wiederaufbau
vorankommen, sondern auch in den ländlichen Räumen.
Da ist Deutschland durchaus Vorreiter. Nehmen wir das
Konzept der Provincial Development Funds. Da sitzen
Afghanen, zivile Entwicklungshelfer und Militärs an einem Tisch und entscheiden gleichberechtigt darüber, wie
beträchtliche Mengen an Geld zur Stärkung ländlicher
Regionen verteilt werden. Das kommt in der Öffentlichkeit kaum zur Sprache; man hört immer nur Kritik. Mit
diesem Konzept hat Deutschland aber eine Vorreiterrolle
eingenommen; denn bisher gibt es kaum ein anderes
Land, das in Afghanistan ebenfalls diese Politik verfolgt.
Um es zusammenzufassen: Ich glaube, dass es notwendig ist, insbesondere drei entwicklungspolitische
Ziele zu sehen.
Erstens. Wir müssen die Kapazitäten auf der afghanischen Seite ausbauen; dazu habe ich etwas gesagt. Das
bedeutet, dass wir die größeren finanziellen Mittel, die
uns jetzt zur Verfügung stehen, in den staatlichen Aufbau, in die Bildung und natürlich auch in den Aufbau
entsprechender Sicherheitsstrukturen, einer Rechtsstaatlichkeit stecken.
Zweitens. Wir müssen die internationale Zusammenarbeit und die Arbeitsteilung stärken. Ich denke, dass auf
der Konferenz in London Ende Januar nächsten Jahres
dafür gesorgt werden kann, dass dies geschieht.
Drittens. Natürlich müssen wir auch dafür sorgen,
dass die Mittel noch unmittelbarer bei der Bevölkerung
ankommen. Es gibt einen dicken Bericht darüber, wie
die internationale Gemeinschaft, wie das internationale
Engagement in Afghanistan gesehen wird. Es ist vollkommen klar: Wenn die Bürgerinnen und Bürger, die
Menschen in Afghanistan das Gefühl haben, dass die
Hilfe bei ihnen ankommt, dann steigt auch die Akzeptanz und dann ist es möglich, mit dem Wiederaufbau
nicht nur die Köpfe, sondern auch die Herzen zu erreichen. Ich glaube, das muss unser entscheidendes Ziel
sein.
Dazu gehört am Ende auch, dass wir uns im internationalen Bereich über den regionalen Ansatz einig werden. Pakistan ist von einer ganz entscheidenden Bedeutung für Afghanistan; denn wenn es dort zu einer
instabilen Lage kommt, wird es sehr schwierig. Das betrifft aber auch viele andere Staaten wie China, Indien,
den Iran und die zentralasiatischen Staaten. All das muss
in unserer Entwicklungszusammenarbeit auch eine Rolle
spielen.
Fazit ist: Ich glaube, wir haben eine gute Strategie,
mit der wir weiter gut voranschreiten können. Wir müssen unsere Entscheidungen im Lichte der Konferenz von
London betrachten. Wenn wir das machen, dann, so
glaube ich, können wir trotz der schwierigen Lage in Afghanistan am Ende auch Erfolg haben.
Herzlichen Dank.
({6})
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Karin Evers-Meyer für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir unterstützen den ISAF-Einsatz
der Bundeswehr in Afghanistan. Dieser Einsatz ist richtig und notwendig; denn ein sicheres Afghanistan liegt
im deutschen Interesse und im Interesse der Menschen
dort.
Für den Einsatz unserer Armee ist das Parlament verantwortlich; ich betone das heute ganz besonders. Herr
Minister zu Guttenberg, deswegen haben Sie mit der Zuweisung der Verantwortung an Herrn Staatssekretär
Wichert und den Generalinspekteur Schneiderhan zwar
schnell, unserer Meinung nach aber längst nicht ausreichend gehandelt. Es geht hier um politische Verantwortung.
({0})
Sie, Herr Minister zu Guttenberg, haben die tragischen Ereignisse in dieser Nacht, den Bombenabwurf
auf zwei Tanklaster und die Menschenmenge, noch bis
gestern als angemessen bezeichnet, und der frühere Verteidigungsminister Jung hat nach Presseberichten sowohl das Parlament als auch die Staatsanwaltschaft nicht
korrekt informiert. In diesem Zusammenhang haben wir
heute mit besonderem Interesse verfolgt, wie er von der
Regierungsbank daran gehindert wurde, an das Rednerpult zu treten. Wenn das, was wir gerade gehört haben,
wirklich richtig ist, dass er nämlich im Anschluss an die
Parlamentssitzung bei Phoenix zu diesem Thema Stellung nimmt, dann halten wir das für eine Respektlosigkeit ohnegleichen dem Parlament gegenüber.
({1})
Herr Jung, ich fordere Sie hier in aller Ernsthaftigkeit
auf, hier vor dem Parlament Stellung zu nehmen und
nicht zuerst vor den Medien.
Nun zurück zu unserem Thema. An der Begründung
für den deutschen Afghanistan-Einsatz hat sich nichts
geändert. Ich muss sagen: Leider hat sich daran noch
nichts geändert, weil die Lage in Afghanistan eben nicht
so stabil ist, wie wir uns das wünschen. Wir wollen einen
Rückfall Afghanistans in die Zeiten des Bürgerkriegs
und in die Zeiten der Talibanherrschaft verhindern. Deswegen sind deutsche Soldaten in Afghanistan und leisten
dort anspruchsvolle Arbeit - eben auch unter Einsatz ihres Lebens. Sie unterstützen vor Ort die internationalen
Bemühungen und die Bemühungen Afghanistans zur
Stabilisierung des Landes. Dieses Ziel - ein stabiles
Afghanistan für die Menschen Afghanistans - ist und
bleibt richtig.
Aber ohne die Unterstützung unserer Soldatinnen und
Soldaten wird dieses Ziel in weite Ferne rücken, nicht
zuletzt deshalb, weil unser Einsatz auch die afghanische
Regierung und die internationalen Partner auffordert, aktiver beim Aufbau des Landes mitzuhelfen. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Frage, wie lange dieser Einsatz noch dauert, noch länger unbeantwortet lassen
können. Es ist sogar höchste Zeit, dass wir uns über die
zeitliche Perspektive dieses Einsatzes verständigen. Das
erwartet nicht nur die deutsche Öffentlichkeit von uns;
das schulden wir vor allen Dingen auch den Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr, die wir in diesen gefährlichen Einsatz schicken.
Am Ende unseres Einsatzes muss die Regierung in
Afghanistan selbst in der Lage sein, Verantwortung für
die Sicherheit im Land zu übernehmen. Damit das gelingt, müssen wir Afghanistan eine klare Perspektive
geben: Auch Afghanistan braucht einen Zeitplan und damit eine konkrete Zielvorgabe, eine Perspektive für die
Entwicklung des Landes, eine Perspektive für das internationale Engagement und vor allem auch eine Perspektive für die Soldatinnen und Soldaten, die uns zu Recht
immer häufiger fragen, wie lange der Einsatz in Afghanistan wohl dauern wird. Deswegen muss jetzt im Interesse Afghanistans und in unserem Interesse die Grundlage für einen durchdachten Abzug geschaffen werden.
Die Zeit dafür ist doppelt günstig. Nach den Präsidentschaftswahlen gibt es jetzt Gelegenheit, Defizite
beim Wiederaufbau offen anzusprechen. Hinzu kommt,
dass der aktuelle Afghanistan-Compact im nächsten Jahr
ausläuft. Das können wir nutzen, um auch unserem Engagement in Afghanistan eine neue Perspektive zu geben.
Was die SPD-Fraktion will, ist ein verbindlicher Fahrplan, der gemeinsam mit der afghanischen Regierung
und unseren internationalen Partnern erarbeitet wird.
Am Ende des Fahrplans muss stehen, dass die Afghanen
alleine für die Sicherheit ihres Landes sorgen können.
Das Ziel ist ambitioniert, aber wir sollten den Anspruch
haben, dieses Ziel zu erreichen. In den vergangenen Jahren gab es Fortschritte bei der Zusammenarbeit mit den
afghanischen Sicherheitskräften. An 90 Prozent aller
ISAF-Einsätze sind mittlerweile afghanische Armeeeinheiten beteiligt. Das ist ein Fortschritt. Ich weiß aber,
dass zur Wahrheit auch gehört, dass nur knapp die Hälfte
der afghanischen Bataillone in der Lage ist, auch eigenständige Operationen durchzuführen. Das macht deutlich: Wir bewegen etwas, aber wir können und müssen
noch etwas mehr tun, insbesondere in Sachen militärischer und polizeilicher Ausbildung.
Deswegen fordern wir von der Bundesregierung
heute verlässliche Aussagen darüber, mit welchen Zielen
sie in die Gespräche mit der afghanischen Regierung
geht. Wir fordern klare Konzepte und deutliche Forderungen in Richtung Afghanistan-Konferenz. Das ist die
Voraussetzung dafür, dass konkrete Ziele vereinbart werden können. Das Gleiche gilt für den neuen AfghanistanCompact. Das Engagement der internationalen Partner
muss mehr als bisher zielgerichtet koordiniert werden.
Der neue Pakt muss tragfähige Ziele für den Aufbau des
Landes benennen, und dazu gehört eben auch ein konkreter Zeitplan.
Deutschland ist bereit, seinen Beitrag zu leisten, sich
noch stärker um die Ausbildung der afghanischen Armee
und der Polizei zu bemühen. Sicherlich können wir die
Wirkung unseres Engagements noch erhöhen, wenn wir
uns mehr auf Brennpunkte konzentrieren und die Zusammenarbeit mit den zivilen Helfern und Organisationen weiter ausbauen. Ich erinnere daran: Die Grundlage
des ISAF-Einsatzes ist „Keine Sicherheit ohne Aufbau
und kein Aufbau ohne Sicherheit“. Das muss heute mehr
gelten denn je.
Es liegt jetzt an der Bundesregierung, ein entsprechend klares Konzept vorzulegen. Ein klares „Weiter so
wie bisher!“ reicht einmal mehr nicht aus.
Vielen Dank.
({2})
Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, erteile ich
das Wort zur Geschäftsordnung Herrn Kollegen
Oppermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsminister hat heute Morgen hier erklärt, dass er
uns als Parlament direkt darüber informiert, dass der Generalinspekteur militärisch Verantwortung übernommen
hat und dass der Staatssekretär administrativ Verantwortung übernommen hat. Uns wurde aber nicht erklärt, wer
die politische Verantwortung trägt.
({0})
Der amtierende Verteidigungsminister war noch nicht
zuständig, als sich die Luftangriffe in Afghanistan ereigneten. Aber der damals zuständige und verantwortliche
Minister ist heute hier im Plenum. Wenn wir jetzt hören,
dass ein Interview mit dem Verteidigungsminister a. D.
Jung bei Phoenix bevorsteht, dann finde ich, dass das
Parlament den Anspruch und das Recht hat, vorher persönlich Herrn Jung zu hören.
({1})
Wenn Herr Jung als nicht mehr zuständiger Minister
hier nicht reden darf, dann muss allerdings jemand anderes die politische Verantwortung übernehmen und über
die politische Verantwortung reden. Wenn Herr Jung es
nicht tun kann, dann kann es nur die Person tun, die damals im Amt war und heute im Amt ist; das ist die Bundeskanzlerin.
({2})
Ich beantrage zunächst, dass der Informationsanspruch des Parlamentes dadurch erfüllt wird, dass jetzt
Verteidigungsminister a. D. Jung das Wort erhält.
({3})
Das Wort hat der Kollege Altmaier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es handelt sich bei den Vorwürfen, über die wir
heute Morgen diskutiert haben, um einen ernsten Vorfall.
Der Bundesminister der Verteidigung hat in angemessener, umfassender und klarer Weise dem Parlament Rechenschaft darüber abgelegt. Ich möchte mich im
Namen der CDU/CSU-Fraktion dafür ganz herzlich bedanken.
({0})
Ich finde es, Herr Kollege Oppermann, mit Verlaub
gesagt, der Situation nicht angemessen, wenn Sie versuchen, bei der Ernsthaftigkeit dieses Themas mit Geschäftsordnungsanträgen und mit Vorwürfen, die durch
nichts begründet sind,
({1})
eine Debatte, die in angemessener Art und Weise geführt
worden ist, für parteipolitische Zwecke auszuschlachten.
({2})
Mir ist nicht bekannt, dass der Bundesminister für Arbeit und Soziales in nächster Zeit ein Phoenix-Interview
geben wird.
({3})
Mir ist auch kein Argument bekannt, das dafür spricht,
Ihrem Geschäftsordnungsantrag zuzustimmen.
Deshalb beantragen wir, diesen Geschäftsordnungsantrag abzulehnen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Antrag zur
Geschäftsordnung gestellt worden. Eine Gegenrede ist
ermöglicht worden. Es besteht nach unserer Geschäftsordnung die Möglichkeit, darüber abzustimmen.
({0})
- Nicht zwingend.
Ich verweise auf § 29 Abs. 2 der Geschäftsordnung:
Der Präsident kann die Worterteilung bei Geschäftsordnungsanträgen, denen entsprochen werden muss …, auf den Antragsteller, bei anderen
Anträgen auf einen Sprecher jeder Fraktion beschränken.
({1})
Ich hätte also die Worterteilung auf den Antragsteller beschränken können. Ich habe aber mehr zugelassen.
({2})
- Der Präsident entscheidet. Ich entscheide so, weil es in
der Sache nicht mehr bringt, sondern nur die Zeit verlängert.
Ich bitte deshalb jetzt um Abstimmung.
({3})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
- Die Kollegin will einen weiteren Geschäftsordnungsantrag stellen. Wir sind aber in der Abstimmung über
den vorliegenden Geschäftsordnungsantrag.
Der Kollege Oppermann hat einen Geschäftsordnungsantrag gestellt, und über diesen Antrag lasse ich
abstimmen. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um
das Handzeichen. - Gegenprobe! ({4})
Wir sind uns nicht einig. Deshalb muss ausgezählt werden. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Saal zu
verlassen. - Darf ich darum bitten, dass alle Kolleginnen
und Kollegen, die nicht Schriftführer sind, den Saal definitiv verlassen? - Ich bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, ihre Plätze an den Türen einzunehmen.
Darf ich um ein Zeichen bitten, ob die Schriftführer ihre
Plätze eingenommen haben? - Ja, das ist der Fall.
Der Saal ist derzeit leer. Ich weise noch einmal darauf
hin, dass wir über den Geschäftsordnungsantrag der
SPD-Fraktion abstimmen. Ich bitte nun, mit dem Auszählen zu beginnen.
Sind jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, die zunächst vor der Tür standen, im Saal? - Dann bitte ich
Sie, Platz zu nehmen. Die Auszählung ist geschlossen.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir
das Ergebnis mitzuteilen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich gebe Ihnen das Ergebnis der Abstimmung
über den Geschäftsordnungsantrag bekannt: Mit Ja haben gestimmt 231, mit Nein haben gestimmt 293 Abgeordnete, Enthaltung keine.
({5})
Der Geschäftsordnungsantrag ist damit abgelehnt.
Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung über den
Geschäftsordnungsantrag hat Herr Bundesminister Jung
angeboten, eine Stellungnahme abzugeben.
({6})
Herr Minister, bitte.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst sagen, dass ich es gerade in dieser wichtigen und
ernsten Debatte für notwendig erachte, dass Offenheit,
Transparenz und Ehrlichkeit die Grundlage sind für Vertrauen und dass dies auch und gerade für mich im Hinblick auf die Information für das Parlament gilt.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
allerdings Folgendes erbitten: Sie haben von diesen Vorwürfen, von diesen Berichterstattungen und von dem gesprochen, was hier alles im Einzelnen behauptet worden
ist. Ich möchte die Chance haben, diese Unterlagen zu
überprüfen, auch den Sachverhalt zu überprüfen, um
dann korrekt Ihnen gegenüber, vor dem Parlament, Stellung nehmen zu können, und zwar im Laufe des heutigen Tages. Dies halte ich für ein sachgerechtes Vorgehen. Ich bitte diesbezüglich um Ihre entsprechende
Zustimmung.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wurde vereinbart, die Vorlage auf
Drucksache 17/39 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Altersteilzeitgesetzes
- Drucksache 17/20 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Ich darf Sie bitten, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Ihre Gespräche außerhalb des Saales fortzuführen und
den Rednerinnen und Rednern der nächsten Debatte
Aufmerksamkeit zu schenken.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
sehe dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Hubertus Heil von der SPDFraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
Verständnis dafür, dass dies für den Bundesminister für
Arbeit und Soziales aufgrund der Debatte, die wir eben
geführt haben, und der Berichterstattungen kein einfacher Tag ist. Mich hat eben eine Nachricht erreicht, die
auf die Situation, in der sich der Minister in seinem
neuen Amt befindet, ein bezeichnendes Licht wirft. Ich
habe gerade gehört, dass auf der Konferenz der Arbeitsund Sozialminister der Bundesländer, nachdem gestern
Abend mit dem Bundesarbeitsminister beraten wurde,
mit sage und schreibe 15 Stimmen bei einer Enthaltung
Hubertus Heil ({0})
entschieden wurde, dass im Rahmen der Reform des
SGB II - Stichwort „Jobcenter“ - der alte von Olaf
Scholz erarbeitete und von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion torpedierte Kompromiss und Gesetzentwurf beschlossen werden soll. Das zeigt den Rückhalt, den Sie
in der Arbeitsmarktpolitik haben.
({1})
Es ist also in mehrerlei Hinsicht kein einfacher Tag
für den Bundesarbeitsminister. Ich habe zwar Verständnis dafür, dass er sich, wie er eben gesagt hat, die nötige
Zeit nimmt, und finde es fair, dass er heute in der alten
Angelegenheit Stellung nimmt. Wir brauchen aber im
Bereich der Arbeitsmarktpolitik, zumal in diesen Zeiten,
einen Bundesminister für Arbeit und Soziales, der den
Kopf und den Rücken frei hat, um sich um den Arbeitsmarkt in diesem Land zu kümmern.
({2})
Herr Fuchtel, als zuständiger Staatssekretär sind Sie
hier in Vertretung des Ministers; vielleicht hören Sie einmal zu. Es geht nämlich um ein arbeitsmarktpolitisches
Instrument, das aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion in
dieser Krise unerlässlich ist. Es ist richtig und vernünftig, dass Sie in der Tradition von Olaf Scholz im nächsten Jahr die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes wieder
verlängert haben, um ein Instrument zur Verfügung zu
haben, den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf
dem Arbeitsmarkt in Deutschland effektiv begegnen zu
können. Umso weniger verstehe ich aber, dass Sie gerade in dieser Krise ein weiteres wichtiges Instrument,
nämlich die geförderte Altersteilzeit, die eine Beschäftigungsbrücke zwischen Jüngeren und Älteren darstellt,
auslaufen lassen wollen. Das ist weder logisch noch
sinnvoll.
({3})
Deshalb legt die SPD-Bundestagsfraktion heute einen
Gesetzentwurf vor, der die Verlängerung der Regelung
zur geförderten Altersteilzeit um fünf Jahre vorsieht. Wir
sind der festen Überzeugung, dass es notwendig und
richtig ist, sich die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt
genau anzusehen. Ja, es ist richtig, dass im Jahre 2009
die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise abgefedert
werden konnten, dass die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt bis dato nicht so schrecklich war wie prognostiziert. Aber wir müssen feststellen, dass diese Aussage
für bestimmte Altersgruppen auf dem Arbeitsmarkt bereits in diesem Jahr so nicht gilt. Probleme gibt es bei
unter 25-Jährigen und über 50-Jährigen. Gerade deshalb
ist es notwendig, eine Beschäftigungsbrücke, das heißt
geförderte Altersteilzeit, zu bauen und zu erhalten.
Die Frage ist doch, meine Damen und Herren von der
Koalition, ob wir in dieser Situation pragmatisch
reagieren, um das zu tun, was notwendig ist, nämlich
Beschäftigung zu sichern und vor allen Dingen Berufseinstiegschancen für Jüngere zu schaffen. Ich kann die
ideologische Position, mit der Sie uns hier begegnen,
nicht verstehen.
Dann auch noch Ihre falschen Argumente: Es gibt
eine Untersuchung der Universität Duisburg-Essen
zur Altersteilzeit aus dem Herbst letzten Jahres,
({4})
in der all die Argumente, die Frau Connemann gleich
noch einmal auflisten wird, entkräftet werden. Es ist
schlicht und ergreifend falsch, dass die geförderte Altersteilzeit den Trend zur Frühverrentung unterstützt. Im
Gegenteil: Wir in der Verantwortung der Bundesregierung haben in den letzten Jahren den Trend zur Frühverrentung in diesem Land gestoppt und umgekehrt. Das ist
gut so, und das ist richtig so.
({5})
- Entschuldigen Sie, ist Ihnen aufgefallen, dass die Regelung der geförderten Altersteilzeit noch in Kraft ist
({6})
und dass die geförderte Altersteilzeit also kein Brandbeschleuniger für den Trend zur Frühverrentung sein kann?
({7})
Denn wir haben diese zurückgedrängt. Wenn Sie einmal
ein bisschen nachdenken würden, dann würde sich das
auch Ihnen erschließen.
Helmut Kohl hat einmal den schönen Satz gesagt: Die
Realität ist anders als die Wirklichkeit. Ich habe damals
als Jungsozialist oft darüber geschmunzelt. Inzwischen,
mit zunehmendem Lebensalter, begreife ich, was der
philosophiebegabte Altbundeskanzler damit gemeint
hat. Die Realität im nächsten Jahr wird sein, dass sich
die Probleme am Arbeitsmarkt infolge der Wirtschaftsund Finanzkrise verschärfen werden. Das wissen wir
alle. Aber die Wirklichkeit ist, dass diese Bundesregierung den Menschen in Deutschland die gerade in diesen
Zeiten notwendigen Instrumente, um dieser Entwicklung
zu begegnen, verweigert.
Frau Connemann, als niedersächsischer Kollege will
ich Ihnen im Vorfeld Ihrer Rede einen Tipp geben. Bevor
Sie wieder erzählen, das Instrument der Altersteilzeit
werde von den Unternehmen zum Personalabbau missbraucht, empfehle ich Ihnen, sich die Salzgitter AG in
unserem Heimatland Niedersachsen anzuschauen. Das
ist ein Unternehmen, das mit dem Werk in Peine auch in
meinem Wahlkreis vertreten ist. Es hat in den letzten
Jahren das Instrument der geförderten Altersteilzeit sehr
wohl genutzt, um in einer Branche, die sehr konjunkturabhängig ist, Beschäftigungsbrücken zu bauen, um Jüngeren konsequent den Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen.
Wenn wir davon ausgehen, dass in Zeiten einer Wirtschaftskrise Kurzarbeit oder neue Instrumente zur Verkürzung der Arbeitszeit - auch der Wochenarbeitszeit,
wie sie Herr Kannegiesser und die IG Metall ins Gespräch gebracht haben - grundsätzlich Instrumente zur
Beschäftigungssicherung sein können, dann sollten wir
Hubertus Heil ({8})
uns das bewährte Instrument der geförderten Altersteilzeit nicht entgehen lassen.
Deshalb haben wir diesen Gesetzentwurf binnen kürzester Zeit erarbeitet und vorgelegt. Ich bitte Sie von der
Koalition, nicht aus ideologischen Gründen oder weil er
von uns als Opposition vorgelegt worden ist, an dieser
Stelle tatsächlich noch einmal nachzudenken und umzukehren. Die jungen Menschen, die unter 25-Jährigen,
verdienen eine Chance. Die Chance, Älteren - die es
wollen oder auch brauchen - durch Arbeitszeitverkürzung, das heißt durch geförderte Altersteilzeit, einen flexiblen Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen, ist
nicht nur pragmatisch richtig, sondern auch menschengerecht und in dieser Phase des Arbeitsmarktes unerlässlich.
Deshalb ist unser Vorschlag konsequent. Wir haben
damit zu rechnen, dass auch im Bundesrat entsprechende
Initiativen ergriffen werden. Ich bitte Sie an dieser
Stelle, sowohl auf das zu hören, was aus dem Bereich
der Personalvorstände und der Unternehmensleitungen,
als auch auf das, was von den Gewerkschaften und aus
dem Bereich der Betriebs- und Personalräte gefordert
wird.
Es ist eine Chance, ein in dieser Krise notwendiges
Instrument nicht zu verspielen, das eine Beschäftigungsbrücke zwischen Jüngeren und Älteren darstellt.
Deshalb ist es auch eine gesamtwirtschaftliche Frage, ob
wir über dieses Instrument dem drohenden Fachkräftemangel der Zukunft begegnen können, indem wir jungen
Menschen konsequent einen Einstieg über die Möglichkeit der geförderten Altersteilzeit ermöglichen,
({9})
damit sie diese Beschäftigungsbrücken zwischen den
Generationen beschreiten können.
Deshalb, meine Damen und Herren, bitte ich Sie im
Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, in
Zeiten, in denen der Bundesarbeitsminister mit Dingen
aus seiner Vergangenheit belastet ist, den Blick für die
Gegenwart und die Zukunft am Arbeitsmarkt nicht zu
verlieren und unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion ist die
Kollegin Gitta Connemann.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, seit der Bundestagswahl scheinen Sie sich ein neues Hobby zugelegt
zu haben: der Kollege Heil das der Hellseherei; denn er
wusste schon vor meiner Rede, was ich sagen würde.
({0})
Sie haben offenbar ein weiteres Hobby, nämlich einen
Sport der besonderen Art: die Rolle rückwärts.
({1})
Herr Kollege Heil, Ihre Rede war eine bemerkenswerte Darbietung dieser neuen Disziplin. Ich habe wirklich mit Ihnen gelitten; denn Sie müssen sich bei dieser
Übung außerordentlich verrenkt haben. Die Linken haben in der vergangenen Legislaturperiode viermal die
Verlängerung der geltenden Altersteilzeitregelung beantragt.
({2})
Viermal haben Sie diesen Antrag abgelehnt, meine Damen und Herren von der SPD.
({3})
Heute bringen Sie einen nahezu inhaltsgleichen Gesetzentwurf ein. Das nenne ich eine Rolle rückwärts.
({4})
Doch wenn Sie glauben, dafür eine Goldmedaille zu
gewinnen, muss ich Sie enttäuschen, liebe Sportsfreunde;
({5})
denn die Rolle rückwärts ist keine olympische Disziplin.
Damit schaffen Sie es noch nicht einmal aufs Podium;
denn wir werden Ihren gemeinsamen Verrenkungen mit
den Linken auf Kosten der Arbeitslosenversicherung
nicht zustimmen, und genau darum geht es heute.
Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? - Der Herr
Kollege Heil würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Sehr gerne, Herr Kollege.
({0})
Bitte sehr.
Liebe Kollegin Connemann, Ihnen sollte eigentlich
bekannt sein, was Koalitionsverträge bedeuten, und Sie
sollten wissen, dass Sie uns, Ihren damaligen Koalitionspartner, in der letzten Legislaturperiode daran gehindert
haben, die Regelung zur geförderten Altersteilzeit zu
verlängern.
({0})
Meine Frage ist: Meinen Sie mit „Rolle rückwärts“ auch
die „Rolle Rüttgers“, die Position des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers, der gegenHubertus Heil ({1})
über Gewerkschaften und Arbeitgebern eine Verlängerung der Regelung zur geförderten Altersteilzeit ganz
ausdrücklich befürwortet hat? Meine Frage ist: Wollen
Sie Herrn Rüttgers auch in die kommunistische Ecke
rücken?
({2})
Lieber Herr Kollege Heil, allenfalls in sportlicher
Hinsicht. Ich beurteile in diesem Plenum Ihre Leistung,
und Fakt ist, dass die Koalitionsvereinbarung auch mit
Ihren Stimmen geschlossen worden ist. Übrigens ging
von Ihrem damaligen Bundesminister für Arbeit und Soziales, Franz Müntefering, langjähriger Parteivorsitzender und Vizekanzler, die Initiative zur Beendigung der
geförderten Altersteilzeit aus.
({0})
Dabei ging es im Wesentlichen, und zwar aus gutem
Grund, um die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung.
({1})
- Ich bin noch nicht fertig.
({2})
- Gut, vielen Dank, dass Sie selbst bestimmen, wann die
Frage beantwortet ist. Ich hätte Ihnen gerne noch erklärt,
wie der Staat fördert, und darauf hingewiesen, dass er
weiterhin fördert. Sie erzeugen einen Irrglauben, wenn
Sie sagen, dass die Altersteilzeit nicht weitergeführt
werden kann. Tatsache ist, dass sie auch nach 2009 weitergeführt werden wird, und zwar mit einer erheblichen
staatlichen Förderung. Der Betrag, mit dem das Teilzeitgehalt aufgestockt wird, ist von Steuern und Sozialabgaben befreit. Davon profitieren heute 500 000 Arbeitnehmer. Diese erhebliche Förderung wird es weiterhin
geben.
Es geht um den zweiten Teil, nämlich um die Tatsache, dass die Bundesagentur für Arbeit die Mindestaufstockung des Gehalts um 20 Prozent übernimmt, wenn
der frei werdende Arbeitsplatz neu besetzt bzw. ein Ausgebildeter dafür eingestellt wird. Diese Förderung aus
der Kasse der Arbeitslosenversicherung erfolgt in
20 Prozent der Fälle. Mit einer außerordentlich hohen
Summe. 1,3 Milliarden Euro werden pro Jahr für nur
94 000 Beschäftigte in Altersteilzeit aufgewandt, und
zwar aus Beiträgen, die an sich das Risiko der Arbeitslosigkeit absichern sollen. Das geht auf Kosten aller
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. Das heißt, viele subventionieren die Frührente einiger weniger. Das ist in jeder Hinsicht ungerecht. Deswegen sagen wir sehr
deutlich: Mit dieser Frühverrentung muss am Ende dieses Jahres endlich Schluss sein.
({3})
Darüber waren wir uns in der letzten Legislaturperiode mit Ihnen einig, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD. Nun starten Sie aber wieder in Ihrer Paradedisziplin: Es geht zurück in die Vergangenheit. Nun
soll die Förderung mit Arbeitslosengeldern fortgeführt
werden, nur mit einigen kleinen Änderungen, mit Marginalien, sodass die Grundprobleme erhalten bleiben:
Erstens. Die Altersteilzeit ist fast nie, was ihr Name
verspricht. Sie ist keine echte Teilzeit mit halbierter Arbeitszeit, wie es der Gesetzgeber 1996 eigentlich wollte.
Heute wählen fast 90 Prozent das sogenannte Blockmodell.
({4})
Bis zu einem Stichtag wird voll gearbeitet. Dann folgt
abrupt die Freizeitphase. Ein gleitender Übergang in den
Ruhestand findet gerade nicht statt. Damit sind nicht nur
gesundheitliche Risiken verbunden. Die Älteren verlassen die Betriebe faktisch einige Jahre vor der Altersgrenze. Das ist ein großer Verlust angesichts der demografischen Entwicklung. Gerade diese wird von der SPD
in ihrem Gesetzentwurf als Begründung angeführt. Dort
heißt es:
Die demografische Entwicklung macht es erforderlich, das Beschäftigungspotenzial der Älteren voll
auszuschöpfen.
Absolut richtig, liebe SPD! Weiter steht dort, man müsse
ihr wertvolles Erfahrungswissen länger in den Unternehmen nutzen. Absolut richtig! Aber wenn Sie flexible
Übergänge wirklich wollen, dann müssen Sie konsequenterweise das Blockmodell abschaffen. Davon steht
in Ihrem Gesetzentwurf ebenso wenig wie in den damaligen Anträgen der Linken.
({5})
Das macht im Umkehrschluss deutlich, was Sie eigentlich wollen: Weiter mit der subventionierten Frühverrentung.
({6})
Zweitens. Von dieser Praxis profitieren laut Deutscher
Rentenversicherung und dem Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung, IAB, vor allem Besserverdienende, die kaum arbeitslos gewesen sind. Die Büroberufe der öffentlichen Verwaltung und im Kreditgewerbe
liegen dabei vorne. Im Baugewerbe profitieren dagegen
nur 2 Prozent von der Frühverrentung. Das heißt, die
Rede vom Bauarbeiter, der in die Altersteilzeit geht, ist
eigentlich eine Mär, die der heutigen Realität faktisch
nicht entspricht.
({7})
Gerade diejenigen, die körperlich hart arbeiten müssen und
wenig verdienen - der Bauarbeiter und die Friseurin -,
können sich dieses Modell nicht leisten, müssen es aber
mit ihren Beitrags- und Steuermitteln finanzieren. Die
Kleinen zahlen für die Großen; das ist unsozial.
({8})
Deswegen werden wir es nicht mittragen.
Drittens. Lieber Herr Kollege Heil, die Altersteilzeit
hat nicht zu mehr Einstellungen geführt. Dies möchte
der Kollege Heil nicht hören; deswegen dreht er mir offensichtlich den Rücken zu. - Sicherlich sind Auszubildende übernommen worden. Allerdings wären sie ohnehin übernommen worden; denn angesichts des trotz der
Krise bestehenden Fachkräftebedarfs hat jedes Unternehmen ein Interesse daran, seinen qualifizierten Nachwuchs zu behalten. Mitnahmeeffekte anstatt einer Beschäftigungsbrücke. So findet sich in einer aktuellen
Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit die Deutung - ich
zitiere -, „dass es vermehrt zu Mitnahmeeffekten durch
Unternehmen kam, die Auszubildende sowieso eingestellt bzw. übernommen hätten“.
Viertens. Diese Mitnahmepraxis wird insbesondere
von Konzernen genutzt. Auf die Betriebe mit mehr als
1 000 Beschäftigten entfallen mehr als ein Drittel der Altersteilzeitbeschäftigten. Dagegen beträgt der Anteil in
Betrieben mit weniger als 20 Arbeitnehmern weniger als
2 Prozent, obwohl mehr als ein Drittel der Arbeitnehmer
in Deutschland in solchen Betrieben arbeitet. Das heißt,
die Altersteilzeit gehört in den Großbetrieben zum Standard. Die Konzerne nutzen die Altersteilzeit, um sich bequem und auf Kosten der Steuer- und Beitragszahler von
älteren Arbeitnehmern zu verabschieden; auch das ist
unsozial.
({9})
Es gibt also kein einziges Argument, die Altersteilzeit
nach 2009 mit Mitteln der Arbeitslosenversicherung zu
fördern. Die Förderung ist unsozial, der Nutzen zweifelhaft; Mitnahmeeffekte sind vorprogrammiert. Herr Kollege Heil, davon geht auch ein vollkommen falsches
Signal aus: Ältere raus aus den Betrieben, subventioniert
von der Allgemeinheit. Genau das brauchen wir nicht.
Wir brauchen in dieser Gesellschaft die Älteren ebenso
wie die Jüngeren. Wir dürfen kein Konkurrenzverhältnis
erzeugen; das ist mit uns von der Union nicht zu machen.
({10})
Wir benoten die derzeitige Altersteilzeitregelung
ebenso wie die Bundesagentur - ich zitiere -: „Beliebt,
aber nicht zukunftsgerecht.“ In der neuesten Studie vom
August 2009 lehnt das IAB, die Forschungseinrichtung
der Bundesagentur für Arbeit, die Altersteilzeitregelung
mit folgender Begründung ab - ich zitiere -:
In ihrer gegenwärtigen Form gibt die Altersteilzeit
die falschen Signale. … Deshalb gewinnen Maßnahmen an Bedeutung, die dazu beitragen, die Beschäftigungsfähigkeit der älteren Mitarbeiter zu erhalten. So sollte die Arbeitsmarktpolitik auf längere
Sicht den Fokus auf die Beschäftigung möglichst
bis an die Ruhestandsgrenze legen - gerade bei einer bis zum 67. Lebensjahr verlängerten Lebensarbeitszeit.
({11})
Liebe Sportsfreunde von der SPD, Ihr Gesetzentwurf
weist genau in die entgegengesetzte Richtung: Sie wollen die Renaissance der staatlich geförderten Frühverrentung. Das ist angesichts der demografischen Entwicklung ein schwerer Fehler. Sie wissen um diesen Fehler;
denn im Jahre 2005 war es kein Geringerer als Ihr Genosse Franz Müntefering, der den Rentenbeginn mit 67
initiierte.
({12})
Seine Idee war und ist noch heute richtig - wir haben es
mitgetragen -; denn immer weniger Arbeitnehmer müssen in Zukunft immer mehr Menschen im Alter finanzieren. Die Behauptung, damit werde jüngeren Arbeitnehmern der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt, ist
tatsächlich längst widerlegt. In vielen Branchen fehlt
trotz der Krise der Nachwuchs.
Mit dem Prinzip der Rente mit 67 ist die Wiederbelebung der staatlich geförderten Frühverrentung vollkommen unvereinbar. Damit wird an Ihrem Gesetzentwurf
eines deutlich: Es geht Ihnen letztlich nur darum, ein
Feigenblatt zu finden, um sich von der Rente mit 67 und
damit auch von der Agenda 2010 zu verabschieden.
({13})
Nichts anderes ist dieser Gesetzentwurf: ein Feigenblatt.
Es steht völlig außer Frage, dass wir in bestimmten
Branchen mit schwerster Belastung Kranken und Ausgebrannten eine Möglichkeit geben müssen. Das haben wir
mit den Programmen getan, die wir in der letzten Legislaturperiode gemeinsam aufgelegt haben. Wir haben dort
Möglichkeiten geboten, und zwar durch finanzielle Leistungen, durch die Förderung der beruflichen Weiterbildung, durch Modernisierung und altersgerechte Gestaltung von Arbeitsbedingungen - mit Erfolg: Die
Erwerbstätigenquote bei Älteren ist signifikant angestiegen.
Verlassen Sie doch diesen Pfad der Vernunft nicht!
Meine Damen und Herren von der SPD wie auch von der
Linken, ich kann nur sagen: Nehmen Sie Abstand von
diesem Gesetzentwurf! Damit werden Sie weder einen
Platz in der Sportgeschichte noch im Bundesgesetzblatt
finden. Wir werden ihn ablehnen.
Vielen Dank.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Gesetzentwurf der SPD geht angesichts der
Situation, die wir zurzeit, in der Krise, in den Betrieben
ganz real vorfinden, in die richtige Richtung. Ich werde
zu Frau Connemann noch das eine oder andere über die
Realität sagen.
Aber ein paar Bemerkungen kann ich natürlich auch
der SPD nicht ersparen. Es ist richtig, dass Ihr Weg, die
Anhebung des Renteneintrittsalters - dafür sind Sie mit
verantwortlich - und das Auslaufen der geförderten Altersteilzeit - in der Zeit, in der Sie regiert haben, ist sie
ausgelaufen, und Sie haben nicht dazu beigetragen, dass
das vernünftig geregelt wird -, die Probleme herbeigeführt hat, die Sie jetzt versuchen zu regeln. Dass Sie es
jetzt regeln wollen, ist schön; aber besonders loben können wir Sie dafür nicht.
({0})
- Ich kann Ihnen auch sagen, warum: Wenn man einen
Brand legt, dann kann man nicht dafür gelobt werden,
dass man als Erster die Feuerwehr ruft.
({1})
Wir müssen daran erinnern, wo Ihre Verantwortung
liegt. Hier wird richtigerweise angeführt, dass Sie Ihre
Position in der Rentenpolitik ändern. Das eigentliche
Problem ist also Ihre Rentenpolitik. Sie sind sich nach
wie vor überhaupt nicht einig, was Sie wollen. Auf Ihrem Parteitag hieß es zur Rente mit 67 - ich zitiere -:
Wir werden uns dazu im nächsten Jahr konkret verhalten, wenn die Bundesregierung den Bericht zu
der Anhebung der Regelaltersgrenze gibt.
Sie haben im Wahlmanifest von 2005 geschrieben
- ich zitiere -:
Unser Ziel ist, das faktische Renteneintrittsalter an
das gesetzliche Eintrittsalter von 65 Jahren heranzuführen.
Herausgekommen sind die Rente mit 67 und das Auslaufen der geförderten Altersteilzeit.
Ich sage Ihnen: Das Problem, das Sie zurzeit in dieser
Frage haben, ist, dass Sie herumeiern. Sie haben noch
keinen Kurs gefunden. In dieser Frage hat die CDU/CSU
leider recht. Ich kann nur hoffen, dass Sie Ihren Kurs
endlich finden. Denn die letzten Wahlergebnisse und
Umfrageergebnisse sind für Sie ja nicht berauschend.
Das hängt damit zusammen, dass Sie noch keinen Kurs
gefunden haben. Ich kann Ihnen auch sagen: Wenn man
sich dreht und wendet, wird man von denen nicht mehr
erkannt, wo man her kommt, und von denen nicht akzeptiert, wo man hin will. Das ist Ihr Problem.
({2})
Kehren Sie um, und versuchen Sie, zumindest in dieser
Frage wieder Sozialdemokraten zu werden; Sie sind es
noch nicht ganz.
Zum Inhalt Ihres Gesetzentwurfes: Der Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung, weil er tatsächlich
versucht, einen Übergang zwischen Menschen, die im
Betrieb sind, und Menschen, die in den Betrieb wollen,
zu gewährleisten. Allerdings verschließt sich mir jede
Logik bei der Frage, warum Sie diese Förderung eigentlich nur dann gewähren wollen, wenn Auszubildende
eingestellt werden. Wir haben momentan folgende Situation auf dem Arbeitsmarkt - das dürfte Ihnen doch nicht
entgangen sein -: Die Ersten, die rausgeflogen sind, waren die Leiharbeiter. Das waren die Ersten, die die Betriebe verlassen mussten und momentan händeringend
Jobs suchen. Die Zweiten, die nicht mehr im Betrieb
sind, sind die, die befristete Beschäftigungsverhältnisse
hatten. Sie wollen diese befristeten Beschäftigungsverhältnisse jetzt auch noch ausweiten und damit dazu beitragen, dass noch mehr Menschen nicht in einer Beschäftigung sind, übrigens ohne dass ihnen gekündigt
werden muss; denn am Kündigungsschutz wollen Sie
nichts ändern.
Ich sage: Wenn man nicht zur Kenntnis nimmt, dass
es nicht nur um die Auszubildenden geht, sondern auch
um die vielen Menschen, die ihren Job aufgrund der
Krise schon verloren haben, dann liegt man an dieser
Stelle falsch. Ihr Gesetzentwurf geht in die richtige
Richtung. Aber wir brauchen, bitte schön, auch dann
eine Förderung, wenn Arbeitslose eingestellt werden
oder wenn Leute eingestellt werden, die vorher Leiharbeiter oder befristet Beschäftigte waren und dann arbeitslos geworden sind. Warum wollen Sie die Förderung bei diesen Leuten nicht gewähren? Das ist
vollkommen unlogisch. Ändern Sie an dieser Stelle Ihren Gesetzentwurf!
({3})
Meine Damen und Herren, Schwarz-Gelb lehnt eine
weitere Förderung der Altersteilzeit ab. Das ist natürlich
problematisch. Dieses Gesetz ist nämlich nicht von der
SPD eingeführt worden, sondern es ist unter SchwarzGelb entstanden.
({4})
Damals gab es in Ihren Reihen noch Sozialpolitik.
({5})
Damals gab es in Ihren Reihen auch noch einen Norbert
Blüm. Er hat damals zwar nicht immer das gesagt, was
wir gedacht haben. Zur Frage der Altersteilzeit hatten
Sie damals aber eine Position, die lautete: Es ist im Prinzip besser, die Jüngeren in die Betriebe zu lassen, als die
Alten so lange in den Betrieben zu lassen, bis sie wirklich nicht mehr können.
({6})
Das war damals Ihre Position, und die war richtig.
({7})
- Nein, sie war richtig. Zu den Grünen komme ich auch
noch. Lassen Sie mir nur ein bisschen Zeit, einer nach
dem anderen. 412
({8})
Sie haben damals eine richtige Position vertreten mit
dem Ergebnis, dass immer dann, wenn es Beschäftigungsprobleme gab, sodass die Jüngeren nicht in die Betriebe kamen, die Möglichkeit eröffnet wurde, die Auszubildenden trotzdem zu übernehmen und die Älteren - ich
sage es einmal so: in Würde -, ohne dass sie vorher arbeitslos wurden, in Rente gehen zu lassen. Das war einmal.
Inzwischen lehnen Sie das vollkommen ab. Sie sagen
- das habe ich gerade bei Frau Connemann gehört -, dass
Sie Erfahrungswissen länger halten wollen. Ich weiß
nicht, ob Sie zur Kenntnis nehmen, was zurzeit im Lande
passiert. Ich weiß nicht, ob Sie zur Kenntnis nehmen,
was zum Beispiel in meiner Region geschieht. Dort gibt
es vier größere Betriebe in der Größenordnung von 2 000
bis 7 000 Beschäftigten. In einem dieser Betriebe geht es
jetzt in der Krise um ein Sparprogramm von 200 Millionen Euro. In einem anderen Betrieb wurde ein Personalabbau um 25 Prozent angekündigt. Im dritten Betrieb
sollen Umstrukturierungen stattfinden, damit man sich
nach der Krise vernünftig aufstellen kann. All das geht
zulasten der Beschäftigung. Mit Ihrer Ablehnung der geförderten Altersteilzeit sagen Sie letztendlich: Die Jungen sollen in die Arbeitslosigkeit gehen, und die Alten
sollen arbeiten bis zum Umfallen. - Um es einmal ganz
deutlich zu sagen: Wenn Sie die geförderte Altersteilzeit
ablehnen, ist das ein Skandal.
({9})
Frau Connemann, Sie müssen mir einmal den Beschäftigten zeigen, der ein großes Erfahrungswissen hat,
nicht arbeiten will und, obwohl er gebraucht wird, seinen
Arbeitsplatz aufgibt. Diesen Beschäftigten gibt es nicht.
({10})
Es gibt allerdings Beschäftigte, die ihr Wissen in den Betrieben gerne weiter einsetzen würden,
({11})
es aber nicht können, weil in den Betrieben gegenwärtig
ein Personalabbau in der Größenordnung von 10 bis
15 Prozent stattfindet.
Im Übrigen trifft das Argument, das Sie vorhin im
Hinblick auf eine öffentliche Subventionierung angeführt haben - mit der Folge, dass dann Leute zu Hause
bleiben könnten -, auf die Kurzarbeit genauso zu.
({12})
Wo ist der Unterschied?
({13})
Auch das wird letztendlich von der Bundesagentur finanziert, genauso wie letztendlich auch von der Bundesagentur finanziert wird, dass Menschen rechtzeitig
aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Dies gegeneinander
auszuspielen, ist aus meiner Sicht absolut unakzeptabel.
({14})
In dieser Frage nehmen Sie die Realität überhaupt nicht
zur Kenntnis.
Wie ist die Realität? In der Altersgruppe der 15- bis
24-Jährigen hatten wir von Mai 2008 bis Mai 2009 eine
Zunahme der Arbeitslosigkeit um 16,1 Prozent zu verzeichnen. Ich wiederhole: eine Zunahme um 16,1 Prozent. Bei den Älteren, den über 55-Jährigen, hatten wir
im selben Zeitraum eine Zunahme um 17,3 Prozent zu
verzeichnen. Das ist die Realität.
Zur Realität gehört auch, dass die Betriebsräte in den
Betrieben zurzeit mühsam verhandeln, wie der Personalabbau zu bewerkstelligen ist. Hinzu kommt, dass sich
diese Entwicklung in einer Situation, in der die Altersteilzeit dichtgemacht wird, weil die Förderung fehlt, auf
andere Beschäftigtengruppen ausweiten wird, zum Beispiel auf die Jungen. Glauben Sie, dass es billiger und
für den Staat verträglicher ist, wenn wir die Jungen nicht
mehr in die Betriebe lassen? Darauf hätte ich von Ihnen,
Frau Sportsfreundin, gerne einmal eine klare Antwort,
da Sie sich hier so arrogant hingestellt haben.
({15})
Meine Damen und Herren, die Konsequenz Ihrer Ablehnung einer solchen Position ist, dass Sie die Perspektivlosigkeit der Jugend fördern. Es wäre allemal besser,
wenn die Jungen beschäftigt würden, als dass die Alten
nicht rauskönnen. Mit Ihrer Politik tragen Sie dazu bei,
dass sich ein Teil der Jugend von der Politik und von diesem Staat abwendet. Wenn man der Jugend die Perspektiven verwehrt, muss man sich darüber nicht wundern.
Die Wahlbeteiligungen, die wir zurzeit haben, sprechen
ihre eigene Sprache. Mit Ihrer Politik tragen Sie dazu
bei, dass die Alten so lange arbeiten müssen und nicht
rauskönnen, obwohl in den Betrieben die Arbeit nicht
mehr vorhanden ist. Das geht aus meiner Sicht in die
vollkommen falsche Richtung.
Eine Bemerkung zu den Grünen: Ich weiß, ihr seid
dagegen. Aber wer nicht akzeptiert, dass es für die Älteren würdevoller ist, dann, wenn sie nicht mehr gebraucht
werden, vernünftig und gesund aus dem Betrieb rauszukommen als vor der Rente in die Arbeitslosigkeit
geschickt zu werden - das ist ja die Konsequenz der
Zahlen -, braucht mir in diesem Parlament nicht mit
Würde zu kommen.
({16})
Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren,
Sie sagen immer, wir würden die Demografie nicht
berücksichtigen. Wir wissen, wie sich die Demografie
entwickelt: Bis 2050 haben wir 8 Millionen Einwohner
weniger. Wir wissen aber auch, dass sich das Bruttoinlandsprodukt, wenn man eine jährliche Steigerungsrate
von 1,5 Prozent unterstellt, im selben Zeitraum verdopKlaus Ernst
pelt. Wir haben also weniger Leute, aber einen doppelt
so großen Kuchen; das ist die Demografie. Jetzt frage
ich Sie: Sind die einzelnen Kuchenstücke dann kleiner
oder größer? Selbstverständlich sind sie größer; das besagt der Dreisatz. Jetzt muss man sich fragen: Warum
geht die Rechnung dann nicht auf? Offensichtlich deswegen nicht, weil uns jemand den Kuchen klaut.
({17})
Es wäre besser, wenn Sie weniger über die Demografie
schwafelten und sich stattdessen um die Kuchendiebe
kümmerten. Dann gäbe es auch wieder eine vernünftige
Rente.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({18})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Johannes
Vogel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Schauen wir uns einmal an, was in dem Gesetzentwurf
der SPD steht. Die Analyse in der Begründung ist teilweise korrekt: Wir stehen vor den Herausforderungen
des demografischen Wandels, und wir haben einen Fachkräftemangel; deshalb sind Unternehmen und Arbeitsmarkt umso stärker auf das Potenzial der Älteren angewiesen. - Gleichzeitig sagen Sie: Der Arbeitsmarkt war
in der Krise bisher relativ robust; aber es bleibt unsere
Aufgabe, darauf zu achten, dass wir Beschäftigung für
Ältere und Jüngere schaffen. - So weit, so gut. Aber
dann wird es absurd. Denn was ist Ihre Antwort darauf?
Die Frühverrentung.
({0})
- Nein!
Schauen wir uns einmal an, was Altersteilzeit so, wie
Sie sie sich vorstellen, nämlich beitragsfinanziert, heißen
würde: Sie wäre nicht nur - darauf hat die Kollegin
Connemann hingewiesen - sehr teuer, sondern faktisch
ein Anreiz zur Frühverrentung; denn 90 Prozent nutzen
die Altersteilzeit in Form des Blockmodells, gehen de
facto früher in Rente.
({1})
Wenn Sie das auch noch fördern, senden Sie an die Älteren das Signal: Wir wollen euch nicht mehr. - Da liegt
der zentrale Widerspruch: Sie führen in Ihrem Gesetzentwurf zwar lang und breit aus, dass die Älteren wichtig
seien; Ihre Argumentation läuft aber darauf hinaus, dass
die Älteren früher gehen sollten. Das ist absurd, denn dadurch werden die Älteren aus dem Arbeitsmarkt gedrängt. Mit Würde, lieber Herr Ernst, hat das überhaupt
nichts zu tun.
({2})
Warum ist Altersteilzeit gerade jetzt die falsche Antwort? Wir müssen konstatieren, dass die Trendwende am
Arbeitsmarkt endlich geschafft ist. Seit Jahren reden wir
- über alle politischen Lager hinweg - davon, dass die
Qualität der Arbeit der älteren Menschen in den Unternehmen endlich stärker anerkannt werden müsse und
dass, weil das noch nicht der Fall sei, die Chancen Älterer auf dem Arbeitsmarkt heutzutage nicht gut seien.
Wenn wir uns jetzt die Zahlen der letzten Jahre anschauen,
sehen wir, dass sich bei der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer endlich ein deutlicher
Anstieg feststellen lässt: Der Anteil der 55- bis 59-Jährigen, die sich noch in Beschäftigung befinden, ist in den
letzten vier Jahren um mehr als 25 Prozent gestiegen.
Bei den 60- bis 65-Jährigen beträgt der Anstieg immerhin noch mehr als 20 Prozent.
({3})
- Ja, trotz Altersteilzeit; aber darum geht es jetzt nicht. An diesen Zahlen zeigt sich, dass der Paradigmenwechsel endlich da ist: Ältere werden von den Unternehmen
endlich nachgefragt,
({4})
wegen ihres Wissens und wegen ihrer Erfahrung und
nicht zuletzt wegen des Fachkräftemangels.
({5})
Ausgerechnet jetzt die beitragsfinanzierten Anreize zur
Frühverrentung zu verlängern, ist das fatalste Signal, das
man geben kann, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD. Dafür fehlt mir jedes Verständnis.
({6})
Der zweite Grund, warum das in meinen Augen und
in den Augen der FDP die falsche Antwort ist, lautet:
weil damit im Grundsatz einfach der Geist von vor
20 Jahren gezeigt wird. Sie sind im Kern noch immer davon überzeugt, dass es nur eine bestimmte Summe an
Arbeitsplätzen gibt.
({7})
- Doch, doch, doch. - Sie machen sich nur Gedanken
darüber, wie man diesen Kuchen, den es gibt, zwischen
den verschiedenen Generationen verteilen kann.
({8})
- Doch. - Worum wir uns Gedanken machen - das
müsste doch die Antwort sein -, ist, wie wir den Kuchen
vergrößern können, statt ihn nur anders zu verteilen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD.
Johannes Vogel ({9})
({10})
- Ich sage Ihnen, wo unsere Wachstumsstrategie ist.
({11})
Was wir machen - damit komme ich genau zum
Punkt; das wäre eine wirkliche Antwort für Ältere und
Jüngere -, ist, auf Wachstum zu setzen, Herr Heil. Das
tun wir
({12})
durch eine gute Wirtschaftspolitik, durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz,
({13})
durch bessere Rahmenbedingungen für den Mittelstand
({14})
und dadurch, dass wir einen Schwerpunkt auf Bildung
legen. Dadurch werden Arbeitsplätze für Junge und für
Ältere geschaffen, und das ist die einzig vernünftige
Antwort, die man geben kann.
({15})
- Ich übernachte relativ selten in Hotels, Herr Heil.
Gehen wir doch einmal weiter und schauen wir uns
an, welche Teile der Analyse in Ihrem Antrag durchaus
richtig sind. Sie weisen darauf hin: Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie der Renteneinstieg in
Deutschland flexibler gestaltet werden kann.
({16})
Das ist richtig, natürlich. Die Menschen fangen in einem
unterschiedlichen Lebensalter an zu arbeiten. Sie machen unterschiedliche Jobs. Teilweise müssen oder wollen sie zu unterschiedlichen Zeiten in den Ruhestand treten. Das ist richtig. Darüber können wir gerne reden. Das
muss aber dann doch mit dem FDP-Modell geregelt werden, nämlich mit korrekten Zu- und Abschlägen, und
ohne dass die Älteren künstlich in die Verrentung gedrängt werden, liebe SPD-Kollegen.
({17})
Ich halte unter dem Strich fest - ich glaube, zu diesem
Schluss muss man bei Ihrem Gesetzentwurf kommen -:
Sie loben in Ihrem Gesetzentwurf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für ihr Erfahrungswissen.
Das ist gut. Etwas mehr davon hätte ich mir aber auch
bei Ihrem Antrag gewünscht; denn statt einer Umtauschaktion Alt gegen Jung zuzustimmen, wollen wir durch
Wirtschaftswachstum dafür sorgen, dass für Ältere und
für Jüngere Arbeitsplätze geschaffen werden. Das ist die
einzig vernünftige Antwort.
({18})
- Das hat mit Klientelpolitik überhaupt nichts zu tun.
Schauen wir uns aber auch einmal das Verfahren an;
denn was Sie da vorschlagen, ist aus meiner Sicht nicht
nur inhaltlich ein alter Hut. Warum das der Fall ist, habe
ich gerade ja schon ausgeführt. Damit aber nicht genug.
Ihr Kollege Scholz, der ehemalige Arbeitsminister, hat
im letzten Juli davon gesprochen, er habe einen Gesetzentwurf zur Verlängerung der Altersteilzeit schon fertig
in der Schublade; man wolle ihn in der Großen Koalition
einbringen. Dazu ist es leider nicht gekommen.
({19})
- Das sagt der Herr Scholz. - Genau diesen Gesetzentwurf legen Sie uns jetzt hier vor,
({20})
auch wenn Sie, Herr Heil, eben behauptet haben, dass
Sie ihn jetzt in kürzester Zeit erarbeitet haben. Das
glaubt doch niemand.
Bei allem Verständnis für den Umzugsstress, den Sie
im Moment haben - auch ich habe ihn als neugewählter
Abgeordneter; es ist nicht so leicht, ein Büro zu finden -:
({21})
Bitte entleeren Sie Ihre Aktenordner doch nicht dadurch,
dass Sie Ihr Altpapier im Gesetzgebungsverfahren hier
ins Plenum kippen. Das hilft niemandem.
Vielen Dank.
({22})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die geförderte Altersteilzeit ist gescheitert. Sie ist gescheitert
als Beschäftigungsbrücke, und sie ist auch gescheitert
als Instrument zum Übergang in den Ruhestand.
({0})
Die geförderte Altersteilzeit ist ein Frühverrentungsmodell in Form einer Stilllegungsprämie. Das gehört so
schnell wie möglich abgeschafft. Es ist richtig, dass sie
ausläuft.
({1})
Die Altersteilzeit hat uns in den letzten Jahren einen
erheblichen Bärendienst erwiesen, weil sie einen Beitrag
dazu geleistet hat, dass Deutschland eine ungeheuer negative Kultur der Altersarbeit hat. In fast keinem vergleichbaren europäischen Land ist der Beschäftigungsanteil Älterer so niedrig wie in Deutschland, obwohl sich
da langsam etwas ändert. Aber immer noch sind wir da
ganz, ganz schlecht.
Ältere werden insbesondere in großen Betrieben
- darauf lege ich die Betonung - als defizitäre Wesen betrachtet, die es nicht mehr bringen und die so schnell wie
möglich ausgemustert werden müssen. Für dieses Bild
ist diese Vorruhestandsregelung in erheblichen Teilen
mitverantwortlich. Deswegen gehört sie abgeschafft,
weil sie die Älteren mit ihren wertvollen Erfahrungen
aus den Betrieben herausdrängt. Sie gehört auch abgeschafft, weil wir wegen der demografischen Entwicklung, die es tatsächlich gibt, Herr Ernst, auf einen gigantischen Fachkräftemangel zulaufen. Das ist sogar bei
den Gewerkschaften angekommen. Lesen Sie einmal die
neueren Papiere!
({2})
Es lohnt sich übrigens, einmal die Frage zu stellen,
wer von der geförderten Altersteilzeit profitiert. Es sind
die großen Unternehmen, der öffentliche Dienst und die
gutverdienenden, hochqualifizierten und überwiegend
männlichen Beschäftigten. In 85 Prozent aller Betriebe
mit mehr als 500 Beschäftigten gibt es Altersteilzeit.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst?
Ich würde gerne erst einmal weiterreden. - In Firmen
mit weniger als 50 Beschäftigten sind es nur 4 Prozent.
Herr Ernst, ich frage jetzt Sie: Glauben Sie allen Ernstes, dass in diesen kleineren Betrieben die Belastung für
die Beschäftigten weniger groß ist? Glauben Sie, dort
gibt es keine Verschleißerscheinungen? Es sind die kleinen und mittleren Betriebe, die nicht davon profitieren.
Es sind die Geringqualifizierten und die Geringverdienenden, die nicht davon profitieren. Aber bezahlen sollen sie es.
({0})
Das ist Ihre Gerechtigkeitsphilosophie, und das ist die
neue Gerechtigkeitsphilosophie der Sozialdemokraten.
({1})
Nach den grünen Gerechtigkeitskriterien ist das zutiefst ungerecht. Deswegen lehnen wir das ab.
({2})
Jetzt kommen wir zu der Frage, ob dieses Instrument
als Kriseninterventionsinstrument geeignet ist, wie Herr
Heil es vorgetragen hat.
({3})
Anders als die Kurzarbeit reduziert Altersteilzeit das
Beschäftigungsvolumen in einem Betrieb nicht, Herr
Heil. Darum geht es aber bei großen Auftragseinbrüchen. Dabei geht es darum, das Beschäftigungsvolumen
zu reduzieren. Hier werden nur ältere durch jüngere Beschäftigte ersetzt. Der Personalbestand bleibt gleich, er
wird nur verjüngt.
Mit anderen Worten: Mit der geförderten Altersteilzeit entledigen sich in erster Linie Großbetriebe ihrer älteren Beschäftigten und formen daraus olympiareife
Mannschaften, und das sollen die Kleinbetriebe und die
Geringqualifizierten bezahlen. Das machen wir so nicht
mit.
({4})
Außerdem wirkt dieses Instrument mit erheblicher
zeitlicher Verzögerung. Denn das Blockmodell läuft im
Regelfall über sechs Jahre. Das heißt, drei Jahre lang bewegt sich in dem Betrieb gar nichts.
({5})
So lange gibt es auch keine Mittel der Bundesagentur für
Arbeit.
In drei Jahren werden wir hoffentlich die Krise auf
dem Arbeitsmarkt einigermaßen bewältigt haben. Aber
dann werden wir auf die nächste Krise zulaufen. Das ist
die Krise des Fachkräftemangels.
({6})
Ich prognostiziere Ihnen: Der letzte Tag der Krise wird
der erste Tag des Fachkräftemangels sein. Deswegen ist
es falsch, dass wir die hochqualifizierten älteren Beschäftigten jetzt rauskaufen. Wir werden sie dann dringend brauchen.
({7})
Für diese Krisenbewältigung haben wir das Kurzarbeitergeld. Es ist weitaus geeigneter als diese Vorruhestandsregelung.
Herr Heil, noch eine andere Sache: Wirklich skandalös finde ich an Ihrem Gesetzentwurf, dass zukünftig nur
die jungen Beschäftigten von Ihrem Vorschlag profitieren können, die schon einen Fuß im Betrieb haben, also
entweder diejenigen, die schon eine Ausbildung hinter
sich haben, oder diejenigen, die in einer Ausbildung
sind. Die 340 000 Arbeitslosen unter 25 Jahren haben
nach Ihrer Auffassung offensichtlich keine Chance verdient. Das ist eine signifikante Verschlechterung des Status quo. Diese Arbeitslosen jedenfalls haben Sie offensichtlich nicht mehr im Blick.
Bei der Neuaufstellung der SPD wollen Sie sich offensichtlich als Partei der Arbeitsplatzbesitzer profilieren.
({8})
- Doch. Ganz offensichtlich haben die Arbeitslosen Sie
bei der letzten Wahl nicht in hinreichender Zahl gewählt.
({9})
Deswegen haben Sie Ihr Recht verwirkt, sie weiter zu
vertreten.
({10})
Herr Heil, auf ihrem Parteitag hat die SPD gesagt:
„Klarer Blick im Aufbruch“. Das war die Botschaft, mit
der Sie aus Dresden zurückgekommen sind. Ich kann nur
feststellen: In der Arbeitsmarktpolitik ist Ihr Blick trübe.
Ich diagnostiziere bei Ihnen eine fortgeschrittene Alterssichtigkeit, die Ihren Blick sehr trübt.
({11})
Mit Aufbruch jedenfalls hat der vorgelegte Gesetzentwurf nichts zu tun. Das sind die Rezepte der 80er-Jahre,
die schon damals mehr geschadet als genutzt haben.
Aber in den 80er-Jahren hatten Sie, Herr Heil, noch gute
Wahlergebnisse. Das ist offensichtlich der Magnet, der
Sie zurückzieht. Aber das gehört der Vergangenheit an.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun der Kollege Klaus Ernst.
Frau Pothmer, einige Aussagen möchte ich infrage
stellen. Sie sagen, der Personalbestand bleibe gleich.
Wie kommen Sie denn darauf? Ist Ihnen entgangen, dass
es zurzeit einen massiven Personalabbau in den Betrieben gibt? Ist Ihnen entgangen, dass diejenigen, die die
derzeitige Regelung zur Kurzarbeit in Anspruch nehmen, in ein, zwei Jahren entlassen werden? Ist Ihnen entgangen
({0})
- Herr Weiß, wenn Sie dran sind, dürfen Sie wieder -,
dass es wahrscheinlich vier, fünf Jahre dauern wird, bis
wir das frühere Beschäftigungsniveau wieder erreichen
werden, weil die Krise sehr lang anhaltend ist und die
momentanen Wachstumsraten nicht die durch den Einbruch verursachten Verluste ausgleichen? Wenn das alles
so ist, dann geht es nicht um die Frage, ob der Personalbestand gleich bleibt. Entscheidend wird vielmehr die
Frage sein, wie viele Menschen auf Dauer nicht von den
Betrieben eingestellt werden, eben so lange nicht, bis ein
entsprechender Aufschwung einsetzt.
Sie haben den Fachkräftemangel angesprochen. Hier
geht es doch um junge Menschen. Man muss ihnen in einer Situation, in der die Beschäftigung insgesamt
abnimmt, die Chance geben, nicht nur vernünftig ausgebildet zu werden, sondern nach der Ausbildung auch
übernommen zu werden. In allen Betrieben in meiner
Region, über die ich einen Überblick habe, kämpfen die
Betriebsräte darum, dass die Auszubildenden unbefristet
übernommen werden, wobei aber die Betriebe größte
Schwierigkeiten machen.
Frau Pothmer, Sie nehmen die Realität nicht zur
Kenntnis. Sie halten nur schöne, lustige Reden. Das
wollte ich Ihnen sagen.
({1})
Frau Kollegin Pothmer, bitte.
Herr Ernst, das Drama meines Lebens ist, dass Sie
mir nicht zuhören.
({0})
Ich habe Ihnen - im Prinzip zum Mitschreiben - erklärt, dass das Modell der Altersteilzeit nicht dazu führt,
dass das Beschäftigungsvolumen in den Betrieben abnimmt - anders als bei der Kurzarbeit -, sondern dazu,
dass ältere lediglich durch jüngere Beschäftigte ersetzt
werden.
({1})
- Richtig, wenn überhaupt. - Nun komme ich auf die
Frage zu sprechen, ob sich die Chancen der Auszubildenden oder derjenigen, die eine Ausbildung beendet haben, dadurch tatsächlich erhöhen. Nicht nur das IAB,
sondern alle Forschungsinstitute sagen: Die Mitnahmeeffekte sind unglaublich hoch. Nicht nur die Arbeitgeberverbände, das IAB und die BA, sondern langsam
auch die Gewerkschaften stellen die Zukunftsfähigkeit
dieses Modells infrage. Lesen Sie das neue Papier der IG
Metall zu dieser Frage!
({2})
Ihre Partei, meine Damen und Herren von der Linken,
hat es in den 80er-Jahren noch nicht gegeben. Aber Sie
wären da gut aufgehoben gewesen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bevor in dieser Debatte mit vielen Wortwechseln
die Dinge verunklart werden, will ich eines feststellen:
Die Inanspruchnahme von Altersteilzeitregelungen ist
auch in Zukunft in Deutschland möglich. Daran ändern
wir gar nichts. Betriebe können auch in Zukunft Altersteilzeitregelungen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vereinbaren. - Das ist der erste Punkt.
({0})
Der zweite Punkt ist: Die Altersteilzeit wird auch in
Zukunft durch den Staat und die Sozialversicherungen
gefördert, indem auf die Aufstockungsbeiträge keine
Steuern und keine Sozialversicherungsabgaben gezahlt
werden müssen. Das ist eine massive Subventionierung
der Altersteilzeit durch den Steuerzahler und durch die
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in den deutschen
Sozialversicherungen. Auch daran ändern wir nichts.
({1})
Über was diskutieren wir eigentlich? Wir, die Sozialdemokraten und die CDU/CSU in der Großen Koalition,
haben beschlossen, dass eine Regelung im Altersteilzeitgesetz zum Ende dieses Jahres ausläuft: die Regelung,
dass dann, wenn ein Betrieb anstelle eines Mitarbeiters,
der in Altersteilzeit gegangen ist, einen neuen Mitarbeiter einstellt, Geld der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler von der Bundesagentur für Arbeit zusätzlich zur
Verfügung gestellt wird. Die Bilanz bis heute ist, dass in
80 Prozent der Fälle, in denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Betriebes Altersteilzeit beantragt haben,
anschließend überhaupt niemand neu eingestellt worden
ist.
({2})
Sprich: Trotz der Aussicht auf zusätzliches Geld von der
Bundesagentur für Arbeit ist niemand neu eingestellt
worden. In der Regel war das ein Arbeitsplatzabbau,
kein Arbeitsplatzaufbau.
({3})
Verehrte, liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ({4})
- die Große Koalition ist noch nicht lange zu Ende, deswegen darf ich das noch sagen -,
({5})
ich bitte Sie, sich wirklich zu überlegen, ob es eine kluge
Strategie ist, jetzt, da die Große Koalition beendet ist
und Sie sich in der Opposition befinden, nicht nur in der
Frage der Altersteilzeit,
({6})
sondern auch in immer mehr anderen Politikbereichen
das eigene Handeln infrage zu stellen.
({7})
Ich behaupte: Die SPD gewinnt dadurch, dass sie sich
plötzlich von ihrer eigenen Politik verabschiedet, nicht
an Glaubwürdigkeit, sondern verliert an Glaubwürdigkeit.
({8})
Wer diese zusätzliche Förderung der Altersteilzeit bei
Neueinstellung eines Mitarbeiters weiterführen will, der
muss dafür die entsprechenden Finanzmittel aufbringen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schaaf?
Ja.
Herr Schaaf, bitte.
Geschätzter Kollege Weiß, würden Sie mir recht geben und zugestehen, dass der ehemalige Arbeitsminister
Olaf Scholz, SPD, schon im letzten Sommer zur Frage
der Verlängerung der gesetzlich geförderten Altersteil418
zeit initiativ geworden ist und es die Union war, die abgelehnt hat, darüber überhaupt zu diskutieren?
({0})
Ich möchte noch eines anfügen, was mir sehr wichtig
ist, weil wir beide sehr lange in verschiedenen Fragen
zusammengearbeitet haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich zumindest die Sozialpolitiker in der
Union ganz schnell nach dem sozialdemokratischen
Partner sehnen werden, nach dem, was aufseiten des
neuen Partners an Marktradikalität da ist.
({1})
Erster Punkt. Verehrter Herr Kollege Schaaf, ich
nehme an, dass Sie die Koalitionsvereinbarung zwischen
CDU/CSU und FDP mit hohem Interesse gelesen haben.
({0})
Ich kann zum Ergebnis unserer gemeinsamen Koalitionsverhandlungen und zu dem, was als Koalitionsvertrag
vorliegt und was die Frau Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung hier vorgetragen hat, nur sagen: Ich
glaube, dass in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auch
die neue Koalition einen Weg der Vernunft und des Maßes beschreitet.
({1})
Vor allen Dingen setzt sie darauf, dass Deutschland
möglichst schnell aus dieser Krise herauskommt und
vielen Menschen in Deutschland neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet werden.
({2})
Zweiter Punkt. Sie haben in Ihrer Frage eingangs zu
Recht angemerkt, dass es vonseiten des damaligen sozialdemokratischen Bundesarbeitsministers Initiativen
gab, ob wir diese zusätzliche Förderung der Altersteilzeit noch einmal verlängern sollten. Ich will Ihnen aber
auch sagen - darauf werde ich in meiner Rede zurückkommen, um nicht meine ganze Rede in der Antwort unterzubringen, was man auch machen kann, um die Redezeit zu verlängern -: Wir haben uns auf eine Reihe
weiterer Maßnahmen verständigt, um gerade jungen
Menschen zusätzlich zu helfen, einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu erlangen. Ich glaube, die Bilanz der Großen Koalition ist, wenn wir auch den einen Wunsch der
Sozialdemokraten abgelehnt haben, dass wir insgesamt
ein Instrumentarium gerade der Förderung der Beschäftigungsmöglichkeiten junger Leute geschaffen haben,
das sich sehen lassen kann.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Gut.
Bitte.
Herr Kollege Weiß, ich nehme zur Kenntnis, dass
Sie sich große Sorgen um die Zukunft Ihres ehemaligen
Koalitionspartners machen.
Ich finde, menschliche Anteilnahme ist auch für einen
Abgeordneten der Regierungsfraktionen durchaus etwas,
was man zeigen kann.
Möglicherweise. Ihr Wahlergebnis war auch nicht so
besonders.
Ich weiß nicht, was an meinem Wahlergebnis nicht so
besonders war.
Lassen Sie mich meine Frage stellen. - Könnten Sie
sich vorstellen, dass Sie Ihrem ehemaligen Koalitionspartner vielleicht ganz besonders helfen würden, wenn
Sie ihn darauf hinweisen würden, dass die Rentenpolitik,
die dieser Koalitionspartner mit vertreten hat, nämlich
die Rente mit 67, abgelehnt werden muss angesichts der
Tatsache, dass, wie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 22. November 2009 zu lesen war, insgesamt
75 Prozent der Bevölkerung diese Rentenpolitik ablehnen? Im Übrigen sind es 70 Prozent der CDU/CSUWähler - also auch Sie könnten davon profitieren -, immerhin 74 Prozent der SPD-Wähler und 75 Prozent
selbst der FDP-Wähler, die sich eine andere Rentenpolitik wünschen. Könnte es also sein, dass Sie, wenn Sie Ihrem ehemaligen Koalitionspartner einen wirklich guten
Tipp geben wollten, ihm eher raten müssten, er solle
doch bitte schön die Position der Rente mit 67 grundsätzlich überdenken?
({0})
Herr Kollege Ernst, ich denke, dass ich mit der Vermutung nicht falsch liege, dass vor allen Dingen Sie und
Ihre Fraktion in den nächsten vier Jahren noch für viele
Rentendebatten in diesem Hause sorgen werden, bei denen wir dieses Thema noch einmal ausführlich besprechen können.
({0})
Peter Weiß ({1})
Ich glaube, der Punkt ist folgender: Erstens. Es ist nicht
Aufgabe eines frei gewählten Abgeordneten, Politik danach zu machen, welche Stimmung gerade herrscht. Wir
haben zuallererst Politik danach zu machen, was für die
Zukunft unseres Volkes und vor allem für die Zukunft
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland notwendig ist.
({2})
Das Zweite ist: Wenn Umfragen gemacht werden,
antworten Menschen verständlicherweise aus ihrer Betroffenheit jetzt und heute heraus. Ich will Sie darauf
aufmerksam machen, dass wir in der Großen Koalition
von CDU/CSU und SPD beschlossen haben, die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung bis
zum Jahr 2029 auf 67 Jahre anzuheben. Das ist das Jahr,
in dem der Übergang der geburtenstarken Jahrgänge in
das Rentenalter seinen Höhepunkt erleben wird.
({3})
Danach wird Jahr für Jahr ein Drittel weniger junge
Leute in Beschäftigung gehen können, als Ältere in
Rente gehen. Deswegen ist das Projekt der Rente mit 67
ein Zukunftsprojekt, Herr Ernst.
({4})
- Die Kollegen von der Linksfraktion setzen sich deshalb immer vorzeitig hin, weil sie gar keine Antwort auf
eine Frage erwarten.
({5})
Wer die zusätzliche Förderung der Altersteilzeit noch
einmal verlängern will, muss auch über Geld sprechen.
Nun ist es so, dass mit Unterstützung der beiden damaligen Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD der damalige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung für dieses Jahr und
für das kommende Jahr 2010 auf 2,8 Prozent festgesetzt
hat, eine richtige Festsetzung, weil wir gerade in der Krisensituation Beitragszahlerinnen und Beitragszahler
nicht zusätzlich belasten wollen.
({6})
Ich hoffe, dass die Sozialdemokraten jetzt nicht noch einen Antrag stellen, dass wir die Festsetzung auf 2,8 Prozent rückgängig machen.
Wie Sie wissen, kommt auf die Bundesagentur für
Arbeit ab dem kommenden Jahr ein massives Finanzierungsdefizit zu. Voraussichtlich müssen wir 16 Milliarden Euro an Bundesmitteln - wir haben sie nicht; wir
müssen sie also durch zusätzliche Schuldenaufnahme finanzieren ({7})
an die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg überweisen,
({8})
und wir wollen das auch tun.
In einer solchen Finanzsituation muss man die Frage
stellen: Was sind die wirklich effektiven Arbeitsmarktinstrumente, um Beschäftigung in Deutschland zu sichern?
({9})
Das wichtigste Instrument, zu dessen Anwendung wir
uns in der Großen Koalition gemeinsam entschieden haben, war und ist die Möglichkeit, den Bezug des Kurzarbeitergeldes zu verlängern. Das ist das wichtigste Instrument in der Krise. Wir wenden erhebliches Geld auf,
um Beschäftigung in Deutschland zu sichern.
Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit noch einmal
ausdrücklich dafür bedanken, dass die Bundesregierung
gestern auf Initiative des neuen Bundesarbeitsministers
Dr. Jung
({10})
beschlossen hat,
({11})
dass Kurzarbeitergeld auch im nächsten Jahr nicht
6 Monate, wie ursprünglich gesetzlich geregelt, sondern
18 Monate lang bezogen werden kann.
({12})
Diese Entscheidung von gestern ist das wichtigste Signal
für das nächste Jahr: Wir sichern Beschäftigung in
Deutschland durch eine längere Bezugszeit von Kurzarbeitergeld.
({13})
Hinzu kommt - auch das haben wir gemeinsam politisch beschlossen; so steht es im Gesetz -, dass die Bundesagentur für Arbeit auch während des gesamten Jahres
2010 die Sozialversicherungsbeiträge ab dem siebten
Monat des Bezuges von Kurzarbeitergeld zu 100 Prozent
erstattet. Das ist ein wichtiger, für viele Betriebe vielleicht sogar der ausschlaggebende Grund, Kurzarbeiterregelungen zu wählen und keine Entlassungen vorzunehmen.
In dieser finanziellen Situation sollten wir uns tatsächlich darauf konzentrieren, die Mittel aus der Bundeskasse für die Bundesagentur für Arbeit - sie sind ohnehin nicht ausreichend vorhanden, sondern wir müssen
sie zusätzlich beschaffen ({14})
Peter Weiß ({15})
für das effektivste arbeitsmarktpolitische Instrument einzusetzen und nicht für Instrumente, bei denen sich schon
in der Vergangenheit gezeigt hat, dass sie gar nicht zur
Beschäftigungssicherung taugen.
({16})
Zu Recht ist auf die Situation der jungen Menschen
in der Krise hingewiesen worden. Da der Kollege Schaaf
vorhin danach gefragt hat, will ich noch einmal ausdrücklich erwähnen: Die Große Koalition hat zum Ende
der letzten Legislaturperiode mit dem Ausbildungsbonus ein wichtiges Instrument geschaffen, um vor allen
Dingen jungen Menschen, die einen erschwerten Zugang
zum Arbeitsmarkt haben, eine zusätzliche Hilfe zu geben. Der Ausbildungsbonus ist ein wichtiges neues arbeitsmarktpolitisches Instrument, um jungen Menschen
eine Brücke in Arbeit zu ermöglichen.
({17})
Kurzarbeitergeld ist nicht nur eine Hilfe, dass Menschen, die schon in Beschäftigung sind, insbesondere ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihren Arbeitsplatz nicht verlieren; Kurzarbeitergeld ist darüber
hinaus auch eine Hilfe, Beschäftigungsmöglichkeiten für
junge Menschen zu schaffen. Die von der SPD in ihrem
Antrag angesprochenen Auszubildenden, die zum Abschluss ihrer Ausbildung darauf hoffen, übernommen zu
werden, können dank Kurzarbeitergeld übernommen
werden. Ein Betrieb kann einen jungen, fertig ausgebildeten Menschen einstellen und ab dem ersten Tag der
Anstellung Kurzarbeitergeld Null beantragen.
Angesichts dessen ist unsere Kurzarbeitergeldregelung auch eine Perspektive für junge Menschen. Betriebe können sagen: Jawohl diesen jungen Mann, diese
junge Frau brauchen und wollen wir; unser Betrieb hat
zurzeit zwar nicht genügend Arbeit; wir hoffen aber,
dass es in den nächsten Monaten wieder aufwärtsgeht;
wir stellen ihn oder sie ein. Machen wir erst einmal
Kurzarbeitergeld Null und hoffen, dass wir für die Betreffenden dann bald auch ausreichend Arbeit haben, um
sie richtig beschäftigen zu können.
Deswegen eröffnet die von uns vorgenommene Verlängerung der Kurzarbeitergeldregelung auch eine Beschäftigungsperspektive für die jungen Leute in unserem
Land. Diese Möglichkeit sollte man bitte beachten und
auch nutzen.
({18})
Ich fasse zusammen: Die Herausforderungen der Zukunft, vor denen wir insbesondere im Hinblick auf die
Bewältigung der Krise stehen, meistern wir nicht, indem
wir zu alten Rezepten der Arbeitsmarktpolitik, die vielleicht früher einmal gestimmt haben, zurückkehren.
Wenn die Mittel knapp sind, dann gilt erst recht: Konzentration auf die Instrumente, die am effektivsten Beschäftigung sichern.
({19})
Das ist jetzt in der Krise die Kurzarbeitergeldregelung.
In diesem Sinne hat die neue Koalition bereits gehandelt.
Wir setzen auf Zukunft und nicht auf Vergangenheit.
Vielen Dank.
({20})
Nun hat die Kollegin Anette Kramme für die SPD das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Weiß, Sie haben sich gerade netterweise
daran erinnert, dass Herr Scholz doch für die Altersteilzeit gekämpft hat. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie 2005
bei den Koalitionsverhandlungen dabei waren. Wenn Sie
dabei gewesen wären, würden Sie sich - da bin ich mir
ganz sicher - auch erinnern, dass sich Herr Müntefering
damals schon für eine Verlängerung der Altersteilzeitregelungen eingesetzt hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, an sich
könnten wir Party feiern.
({0})
Die Altersteilzeit ist ein langjährig erprobtes Arbeitsmarktinstrumentarium, das sich bewährt hat. Ich befürchte aber, die Feier wird ausfallen, wenn SchwarzGelb keine Vernunft annimmt.
Sie, liebe Frau Connemann, haben erwähnt, dass 2008
die Altersteilzeit 1,8 Milliarden Euro gekostet hat. Das
ist richtig. Sie wissen wahrscheinlich auch, dass die zukünftigen Kosten niedriger eingeschätzt werden. Wir haben nämlich Modifikationen am Altersteilzeitgesetz vorgenommen. Ich gebe zu: Damit einher geht eine Menge
an finanziellen Belastungen, zugegebenermaßen keine
Kleinigkeit. Aber, Frau Connemann, Sie werden mir
auch zugestehen, dass das im Vergleich zu den Steuerentlastungen, die Sie für Ihre Klientel vornehmen - für
Erben, für Unternehmer, für Hotelketten -, eine unbeachtliche Größenordnung ist. Es ist blanker Zynismus,
wenn eine Regierung, die Geschenke an ihre Klientel
verteilt und das Ganze „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ nennt, eine sinnvolle Verlängerung der Altersteilzeitregelungen ablehnt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich die
Arbeitsmarktpolitik von Schwarz-Gelb anschaut, dann
stellt man eines fest: Sie ist nicht nur ideenlos, sie ist
nicht existent. Sie haben sich zwar gestern zur Kurzarbeit geäußert. Das ist richtig. Ich frage mich, ob Sie mit
Ihren neuen Regelungen tatsächlich etwas bewirken
werden. Es trifft zu: Kurzarbeit war für das Jahr 2009 ein
großartiges Instrument, von Olaf Scholz damals an die
Bedürfnisse angepasst. Ich bin mir sicher, dieses Instrument wird auch in 2010 noch beachtliche Wirkungen
entfalten. Wir müssen aber auch eines sehen: Es wird
immer mehr Firmen geben, die sich Kurzarbeit nicht
leisten können,
({2})
vor allen Dingen zu den neuen Bedingungen. Es wird
auch immer mehr Firmen geben, die Kurzarbeit nicht
mehr länger betreiben wollen, weil sie die zukünftigen
Probleme sehen. Deshalb wäre es an sich erforderlich,
dass Sie eine Fortschreibung arbeitsmarktpolitischer Instrumente in der Krise vornehmen.
({3})
Ich sehe aber nicht, dass Sie sich zum Beispiel mit dem
Instrumentarium der Transfergesellschaft beschäftigen,
das sicherlich viel effizienter gestaltet werden könnte.
Und bezüglich des Umganges, den Sie mit der Altersteilzeit pflegen, kann man nur sagen: Das ist ein rein ideologischer Umgang mit einem vernünftigen Instrumentarium.
({4})
Altersteilzeit steht schon lange nicht mehr für Frühverrentungspolitik.
({5})
Altersteilzeit ist mittlerweile zu einem Instrumentarium
geworden, das dazu dient, Arbeitnehmer an die Regelaltersgrenze heranzuführen.
({6})
Altersteilzeit verhindert Existenzabstürze. Ich sage: Altersteilzeit ist wesentlich besser als Arbeitslosigkeit und
der Bezug von Arbeitslosengeld. Es ist ein vernünftiger
Übergang in die Rente. Wir verhindern Altersarmut,
wenn über einige Jahre höhere Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt werden, und zwar fast in der
Höhe von Vollzeitarbeit.
Das Durchschnittsalter bei der Altersteilzeit ist in
den letzten zehn Jahren von 57,7 auf 59,1 Jahre gestiegen.
Immer mehr Altersteilzeitbeschäftigte gehen erst mit
63 Jahren oder noch später in Rente. Altersteilzeit ist vor
allem eines: Fairness. Es ist Fairness gegenüber denjenigen, denen ansonsten gekündigt würde, Fairness gegenüber denjenigen, die nicht mehr können und trotzdem
nicht die Erwerbsminderungsrente bewilligt bekommen.
Das betrifft beispielsweise den Pflege- und Sozialbereich.
Gerade dort sind besonders viele Altersteilzeitfälle zu beobachten. Es ist Fairness auch gegenüber denjenigen, die
unendlich lange gearbeitet haben, die mit 14 oder
15 Jahren in den Beruf eingestiegen sind und die deshalb
auch einfach nicht mehr wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Krise wird sich
auf dem Arbeitsmarkt noch jahrelang auswirken. Die
Umsätze in den Firmen sind zwar teilweise angestiegen,
aber sie sind von denen des Jahres 2008 noch weit entfernt. Altersteilzeit nutzt somit auch den Jungen. Es ist
auch Fairness gegenüber den Jungen. Der DGB hat im
letzten Sommer festgestellt, dass die Jugendarbeitslosigkeit dreimal stärker angestiegen ist als die Arbeitslosigkeit im Bereich der anderen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Gerade die Schwelle zum Berufseinstieg
ist seit Jahren eine große Hürde, die es zu überwinden
gilt.
Außerdem haben wir auf dem Arbeitsmarkt noch unendlich viele Altbewerber, die versorgt werden müssen.
Mit der Altersteilzeit erhöhen wir die Chancen. Sie ist
ein ganz beachtlicher Arbeitsmarktfaktor. Immerhin gibt
es 500 000 Altersteilzeitfälle gleichzeitig. Das betrifft
20 Prozent aller Beschäftigten. Die geförderte Altersteilzeit nimmt - das ist richtig - davon nur einen Anteil von
100 000 ein.
({7})
Aber wir müssen eines sehen: Die geförderte Altersteilzeit ist das Zugpferd für die gesamte Altersteilzeit. Unendlich viele Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge
knüpfen an die geförderte Altersteilzeit an, und viele
dieser Regelungen laufen aus.
Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, Sie
machen vielen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen
vieles kaputt, wenn Sie dem Altersteilzeitantrag nicht
zustimmen.
({8})
Sie sollten deshalb noch einmal nachdenken. Sie wissen
vielleicht: Hochmut kommt vor dem Fall.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man sich die Debatte in ihrem bisherigen Verlauf
einmal zusammenfassend vor Augen führt, kann man sagen: Herr Heil, Frau Kramme, das wird nichts! Eine
breite Mehrheit in diesem Hause, die über die ohnehin
breite Mehrheit der Koalition noch hinausgeht, lehnt Ihr
Vorhaben ab, und das ist auch gut so. Ihr Vorschlag ist
ein Modell von gestern. Ich freue mich, dass es jetzt im
Koalitionsvertrag gelungen ist, das Auslaufen der
beitragsgeförderten Altersteilzeit zu vereinbaren. Ich
bin lange genug dabei, um sagen zu können, dass die
FDP die erste Fraktion in diesem Hause war, die Abstand von diesem beitragsfinanzierten Altersteilzeitmodell genommen hat und schon seit Jahren darauf hinweist, dass es Zeit ist, dieses Modell zu beenden. Ihr
Motto, Herr Heil, Frau Kramme, ist: Vorwärts, Leute, es
geht zurück! Ich sage Ihnen: Wir, eine Mehrheit in diesem Hause, gehen diesen Weg nicht mit.
({0})
Dafür gibt es gute Gründe, Frau Kramme und auch
Anton Schaaf. Der wichtigste aus meiner Sicht ist: Die
Beschäftigungsbrücke trägt nicht. Es ist über lange Jahre
eine Lebenslüge der deutschen Sozialpolitik gewesen,
dass man für jeden Älteren, den man in den Ruhestand
schickt, einen Jüngeren einstellt. Das hat insgesamt nie
funktioniert. Im Gegenteil: Die Wiederbesetzungsquote ist seit der Verabschiedung des Altersteilzeitgesetzes von 43 auf heute nur noch 34 Prozent gesunken. Das
heißt, zwei von drei Arbeitsplätzen bleiben unbesetzt.
Man kann daher nicht sagen, dass dieses Modell erfolgreich gewesen wäre.
({1})
Zweiter Punkt. In der Regel wird das Blockmodell
gewählt. Neun von zehn Altersteilzeitlern wählen dieses
Modell. Das führt im Ergebnis dazu - da stimme ich mit
Brigitte Pothmer vollkommen überein -, dass wir die
Menschen früher in den Ruhestand schicken. Das halten
wir für falsch. Es wird immer gesagt, die jüngeren Facharbeiter müssten eine Chance haben. Aber auch die älteren Menschen sind Facharbeiter; sie sind sogar mehr als
das: Sie sind Erfahrungsträger und Träger sozialer Kompetenz, die in den Betrieben eine wichtige Rolle spielen.
({2})
Es ist daher wichtig, dass man eine ausgewogene Mischung von Jüngeren und Älteren in den Betrieben erreicht. Diese Balance geht aber verloren, wenn die Älteren per Altersteilzeit aus den Betrieben herausgedrängt
werden.
Der dritte Punkt müsste Sie eigentlich nachdenklich
machen, weil Sie doch immer Kämpfer für die Schwachen und Entrechteten sein wollen: Es sind eben nicht
die Angehörigen der körperlich belastenden Berufe,
die mehrheitlich von der Altersteilzeit Gebrauch machen. Es sind vielmehr - hören Sie genau hin! - die
Bankkaufleute und die Versicherungskaufleute - sie gehören nicht unbedingt zur Klientel der SPD -, die die Altersteilzeit regelmäßig wählen. Auf den nächsten Plätzen
in der Statistik folgen bei den Frauen die Lehrerinnen
und bei den Männern die Chemiearbeiter.
({3})
Man kann doch nicht sagen, dass diese Menschen nicht
so lange arbeiten können. Offensichtlich spielen da ganz
andere Überlegungen eine Rolle.
Vierter Punkt. Es gehen auch Arbeitnehmer mit
höheren Einkommen in Altersteilzeit, während Arbeitnehmer in einfachen Arbeitsverhältnissen vielfach gerade nicht von dieser Regelung profitieren.
Fünfter Punkt. Für mich ist auch die überproportionale Nutzung der Altersteilzeit durch Großunternehmen interessant. In den Betrieben mit mehr als
1 000 Beschäftigten arbeiten 14 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwischen 55 und 64 Jahren. Aber fast 30 Prozent der Altersteilzeitler kommen
aus diesen Unternehmen. Das heißt, die Großen profitieren und die Kleinen zahlen. Wir sind nicht bereit, das
länger mitzumachen. Deswegen sind wir froh, dass die
beitragsfinanzierte Altersteilzeit jetzt ausläuft.
({4})
Die großen Unternehmen - das hat Peter Weiß zu
Recht gesagt - können so weitermachen, wenn sie das
wollen - aber dann bitte auf eigene Kosten. Natürlich
bleibt die Steuervergünstigung in der Regel erhalten.
Aber es kann nicht mehr auf Kosten der Beitragszahler
gehandelt werden.
Sechster Punkt. Sagen Sie bitte nicht, das Ganze kostet doch am Ende gar nicht so viel. Es sind brutto
1,4 Milliarden Euro und netto 1 Milliarde Euro. Das ist
aus unserer Sicht schon eine relevante Größenordnung.
Das Entscheidende ist: Es kostet zu viel und bringt zu
wenig. Auch das ist ein wichtiges Argument, die Altersteilzeit zu beenden.
Es gibt zu diesem Thema einiges an Literatur. Ich
finde es interessant, dass auch aus den Bundesländern
Initiativen kommen. Die Länder Rheinland-Pfalz und
Bremen haben einen Antrag eingebracht, der eine bemerkenswerte Analyse enthält. Leider kommt er am
Schluss zu dem falschen Ergebnis, man müsse die Altersteilzeit verlängern. Ich will Ihnen die Analyse, die
ich durchaus teile, aus der Bundesratsdrucksache 842/09
einmal vortragen:
Notwendig ist daher die Weiterentwicklung von Instrumenten, die einen flexiblen Übergang aus dem
Erwerbsleben in die Ruhestandsphase, die einerseits individuelle Entscheidungsmöglichkeiten verbessern bzw. neu eröffnen, und andererseits einer
nachhaltigen Finanzierung des Sozialstaates entsprechen.
Darauf, liebe Kolleginnen und Kollegen, will ich Ihr Augenmerk lenken: individuelle Entscheidungsmöglichkeiten, Verbesserung der Nachhaltigkeit unseres
Sozialstaates.
Dann sind wir sehr schnell bei den Überlegungen, die
die FDP als Partei und die FDP-Fraktion im Deutschen
Bundestag schon bisher vorgetragen haben und die ich
Ihrer eingehenden Lektüre empfehle.
({5})
Ich habe den Eindruck, dass sich diejenigen, die sich mit
dem FDP-Modell für einen flexiblen Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand auf der Basis einer eigeDr. Heinrich L. Kolb
nen, freien Entscheidung bei Wegfall aller Zuverdienstgrenzen beschäftigt haben,
({6})
dies bisher nur sehr oberflächlich getan haben. Sie werden feststellen: Mit unserem Modell kann die Lücke gefüllt werden. Ich bin in einem Punkt durchaus bei Ihnen:
Wenn man die Altersteilzeit abschafft und die Regelaltersgrenze bei 67 Jahren belässt, dann sollte es ein entsprechendes Angebot geben. Denn ansonsten nimmt der
Druck in Richtung Erwerbsminderungsrente deutlich zu.
Ein solches geeignetes Instrument sehe ich eher in unserem Vorschlag.
({7})
Lassen Sie jetzt einmal die Vollrente weg, Frau Ferner.
Wir sehen in unserem Modell Möglichkeiten für eine
Teilrente vor.
({8})
Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, das
IAB, das nicht unbedingt ein Sprachrohr des ThomasDehler-Hauses ist, schlägt vor, dass man die Möglichkeiten, eine Teilrente in Anspruch zu nehmen, verbessert.
({9})
Wir sollten die Menschen entscheiden lassen, Frau
Ferner. Welchen Grund gibt es - ich frage Sie sehr direkt -,
einem Rentner, der nach einer Altersteilzeit in Form eines Blockmodells in den Ruhestand geht, anschließend
vorzuschreiben, dass er nur noch 400 Euro verdienen
darf? Es gibt keinen Grund, wenn seine Rente über dem
Niveau der Grundsicherung liegt. Da beschneiden Sie
die Entscheidungsmöglichkeiten des Einzelnen. Wir
wollen ändern, dass jemand, der raus aus dem System
ist, nicht mehr zurückkommt.
({10})
Deswegen sagen wir: Die Menschen entscheiden
selbst, ob und in welchem Umfang sie in den Ruhestand
gehen wollen, gerne auch in Form eines Teilrentenbezuges als Alternative zur Altersteilzeit. Die Menschen sollen selber entscheiden, was sie hinzuverdienen wollen.
Es gibt keinen Grund, sie zu bevormunden. Das ist ein
liberaler Ansatz.
Wenn die heutige Debatte - wie gesagt, der Gesetzentwurf, Frau Kramme, wird wahrscheinlich abgelehnt
werden; das deutet sich an - trotzdem einen Sinn gehabt
hat, dann ist es der, dass ich Ihnen das noch einmal vortragen
({11})
und darum werben durfte, sich mit unserem Modell objektiver als bisher zu befassen. Ich bin sicher: Nichts ist
stärker als eine gute Idee, deren Zeit gekommen ist. In
den kommenden vier Jahren werden wir uns sicherlich
mit diesem Vorschlag noch öfter beschäftigen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn hat jetzt
das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Grünen sind entschieden dafür, Teilzeitarbeit im Alter zu fördern, um den Arbeitsmarkt zu entlasten und einen gleitenden Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen. Insofern klingt „geförderte Altersteilzeit“ erst
einmal ganz gut. Aber vielleicht nehmen Sie einmal zur
Kenntnis - ich wiederhole mich zum x-ten Mal -, dass
das, was als „geförderte Altersteilzeit“ bezeichnet wird,
ein Etikettenschwindel ist; denn 90 Prozent der Betroffenen - diese Zahl ist schon des Öfteren genannt worden arbeiten nicht in Teilzeit, sondern in Blockteilzeit, die
zunächst eine Vollzeitarbeit ist und dann zu einem früheren Ausstieg führt. Dies ist gar keine Teilzeit,
({0})
sondern ein früherer vollständiger Ausstieg aus dem Erwerbsleben.
Auf die fehlenden Arbeitsmarkteffekte ist meine Kollegin Brigitte Pothmer schon überzeugend eingegangen.
Vielleicht sollten Sie noch einmal darüber nachdenken.
Von einem gleitenden Übergang ins Alter - Herr Kolb
hat es eben schon angesprochen - ist da keine Spur. Insofern gehen der vorliegende Gesetzentwurf der SPD
und der Antrag der Linken völlig an den Problemen vorbei und bieten keine Lösungen, sondern schreiben eine
schlechte und teure Lösung fort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD und der
Linken, Sie behaupten immer, dass Sie die Interessen der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten. Was
Sie hier vorlegen, liegt allerdings überhaupt nicht im Interesse der Erwerbstätigen.
({1})
Es ist ja richtig: Vielen ist nicht zuzumuten, dass sie bis
65 oder demnächst bis 67 arbeiten; denn sie können einfach nicht mehr. Aber die meisten Menschen wollen
nicht von heute auf morgen komplett aufhören, sondern
wünschen sich einen gleitenden Übergang in den Ruhestand. Nehmen Sie das doch mal zur Kenntnis! Wenn Sie
mit den Erwerbstätigen reden, bekommen Sie das mit.
({2})
- Ich rede sehr oft mit Erwerbstätigen und komme selber
aus einer Arbeiterfamilie.
({3})
Ich habe sehr viele Erfahrungen aus dem engeren persönlichen Umfeld. Daher brauchen Sie nicht die ganze
Zeit dazwischenzurufen.
({4})
Wir brauchen flexiblere Möglichkeiten, sowohl später als auch früher in Rente zu gehen, und mehr Möglichkeiten, Erwerbstätigkeit und Rentenbezug miteinander zu verbinden. Wir sollten uns von der Vorstellung
verabschieden, dass wir bis zu einem bestimmten Alter
in Vollzeit arbeiten und dann Knall auf Fall nichts mehr
tun. Das schadet vielen Erwerbstätigen. Ich selber habe
das in meinem persönlichen Umfeld erfahren. Es ist für
viele Menschen ein Problem, wenn sie ihren Arbeitsplatz von heute auf morgen komplett verlassen müssen.
Insofern vertreten Sie nicht die Interessen der Erwerbstätigen in diesem Land.
Andere Länder sind schon wesentlich weiter, vor allen Dingen die Länder in Skandinavien. Dort gibt es
wesentlich flexiblere Möglichkeiten, den Rentenbezug
teilweise vorzuziehen und dies mit einer reduzierten Erwerbstätigkeit zu verbinden. Die Länder in Skandinavien sind ja eher sozialdemokratisch und weniger neoliberal ausgerichtet. Das wird den Lebensbedingungen der
Einzelnen wesentlich besser gerecht, als dies bei uns der
Fall ist. Das Ergebnis dort ist, dass im Durchschnitt die
Erwerbsbeteiligung im Alter gestiegen ist und deutlich
höher liegt als bei uns. Das ist ein großer Erfolg dieser
Regelung. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, tatsächlich früher in den Ruhestand zu gehen. Auch das ist sehr
sinnvoll. Insgesamt betrachtet muss man darauf achten,
dass es möglich sein muss, einfacher, unbürokratischer
und sozial abgesichert in den vorzeitigen Ruhestand zu
gehen. Das ist die Richtung, in die wir auch gehen sollten.
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass wir es den
Menschen schuldig sind, gerade vor dem Hintergrund
des demografischen Wandels und längerer Lebenserwartungen, mehr Möglichkeiten zu schaffen, wie sie den
Übergang in den Ruhestand selbst gestalten können.
Eine Verlängerung der geförderten Altersteilzeit, wie Sie
das vorschlagen, trägt dazu überhaupt nicht bei.
Wir Grüne setzen nach skandinavischem Vorbild auf
eine Stärkung des Konzepts der Teilrente,
Herr Kollege.
- wobei auch bei frühzeitigem Ausstieg aus dem Erwerbsleben eine existenzsichernde Rente gewährleistet
sein muss.
Herr Kollege.
Ich bin gespannt auf die Vorschläge von allen Seiten
und freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit in
den nächsten vier Jahren.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Der Kollege Max Straubinger hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Man merkt es: Der Wettbewerb zwischen SED/Linkspartei und SPD ist in diesem Haus angekommen. Nur
unter diesem Gesichtspunkt ist der eingereichte Gesetzentwurf zu erklären.
({0})
Er wurde seinerzeit etwas frühzeitig vom Arbeitsminister Scholz vorbereitet.
({1})
Es wundert mich, dass er heute nicht anwesend ist, obwohl es doch sein Antrag war.
({2})
Offensichtlich ist die Distanz zu diesem Antrag schon so
groß.
({3})
Ich glaube, dass es um etwas Entscheidendes geht, und
wir werden dies im weiteren Verlauf sicherlich noch
mehrmals diskutieren. Ob es für die SPD immer gut ausgeht, das wage ich zu bezweifeln.
Es geht darum, nachzudenken, wie für ältere Bürgerinnen und Bürger der Übergang in die Rente flexibler
gestaltet werden kann. Das ist sicherlich immer eine interessante Frage. Vor allen Dingen ist es aber wichtig, altersgerechte Arbeitsplätze in unseren Betrieben zur Verfügung zu stellen.
Ich möchte ausdrücklich feststellen, dass wir in den
vergangenen vier Jahren durchaus gute Grundlagen dafür geschaffen haben.
({4})
Das belegen auch die Zahlen, die ich hier nennen
möchte. Deshalb bin ich über die Begründung, warum
die geförderte Altersteilzeit um weitere fünf Jahre verlängert werden soll, die die SPD in ihrem Gesetzentwurf
liefert, schon etwas verwundert. Sie begründen es
- wenn ich es kurz darstellen darf - damit, dass ältere
Menschen über 50 Jahre und junge Menschen unter
25 Jahren angeblich überproportional von Arbeitslosigkeit bedroht bzw. dieser ausgesetzt sind.
Ich darf Ihnen einen Hinweis mit auf den Weg geben,
weil ich mir nicht vorstellen kann, dass sich innerhalb
von vier Monaten der Blickwinkel derart geändert hat.
Die Fraktion Die Linke hat am 17. Juni dieses Jahres
eine Kleine Anfrage im Deutschen Bundestag zu diesem
Thema gestellt. Was der zuständige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz damals geantwortet hat, ist in der Drucksache 16/13751 vom 7. Juli nachzulesen. Ich zitiere:
Die in der Vorbemerkung der Fragesteller vertretene Auffassung einer grundsätzlich verschlechterten Arbeitsmarktlage Älterer wird von der Bundesregierung nicht geteilt.
({5})
Ihre Einstellung scheint aufgrund des Wahlergebnisses
sehr getrübt zu sein, wodurch sich Ihr Blickwinkel wohl
geändert hat.
({6})
In der Drucksache heißt es weiter:
Die Bundesregierung schätzt die Entwicklung der
Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe 55 bis unter
65 Jahre daher im Vergleich zu anderen Altersgruppen nach wie vor als relativ günstig ein.
Diese Aussage stammt vom damaligen Arbeitsminister
Olaf Scholz. Werte Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, Sie sollten sich daran noch erinnern können. Das
waren Erfolge unserer gemeinsamen Regierungspolitik.
({7})
Das sollte man nach zwei oder drei Monaten nicht gleich
alles infrage stellen.
({8})
Ich glaube, es ist auch entscheidend, dass wir die Beschäftigungsmöglichkeiten der älteren Generation in
den vergangenen vier Jahren erheblich verbessert haben.
Das belegen die Zahlen: Die Anzahl der 50- bis 54-Jährigen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen ist zwischen 2005 und 2009 von circa
2 922 000 auf circa 3 282 000 gestiegen. Das zeigt sehr
deutlich, dass die Arbeitsmarktinstrumente, die wir in
der Vergangenheit geschaffen haben, dazu angetan waren, ältere Menschen in Lohn und Brot zu halten. Das
sollte letztendlich doch das Ziel unserer Arbeit sein.
Heute ist von der Finanzkrise und deren Auswirkungen gesprochen worden. Vor allen Dingen vonseiten der
Linken und der SPD ist hier ein Bild gezeichnet worden,
nach dem der Arbeitsmarkt im nächsten Jahr regelrecht
zusammenbrechen wird. Ich sehe eine völlig andere Perspektive: Ich bin davon überzeugt, dass wir einen stabilen Arbeitsmarkt haben werden. Das zeigt sich auch daran, dass für die Altersgruppe der 50- bis 54-Jährigen
sowie für die Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen während der Krise, die im September 2008 begonnen hat,
mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse entstanden sind. Das heißt: mehr Beschäftigung für ältere Bürgerinnen und Bürger.
({9})
Deshalb zielt dieser Gesetzentwurf völlig an der Sache
vorbei.
({10})
Heute wurde vielfach bereits dargelegt, dass die Sache mit der Altersteilzeitregelung nicht vorbei ist. Es
gibt weiterhin die Möglichkeit für die Tarifparteien,
entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Es ist bemerkenswert, dass insbesondere der Kollege Ernst entweder
nicht im Bilde ist oder bewusst verschweigt,
({11})
dass die IG Metall für die Beschäftigten in der Metallund Elektroindustrie bereits einen Tarifvertrag mit diesbezüglichen Regelungen geschlossen hat. Es wurde vereinbart, dass ab dem 57. Lebensjahr Altersteilzeit in den
Betrieben bis zum 31. Dezember 2016 möglich ist. Da
Sie Mitglied der IG Metall sind, müssten Sie das eigentlich wissen. Das, was Sie hier darstellen, entspricht nicht
den Tatsachen. Es wird nichts abgeschafft; im Gegenteil:
Die Tarifparteien haben die Möglichkeit, Altersteilzeitregelungen zu vereinbaren. Ihre IG Metall hat diese
Möglichkeit ergriffen.
({12})
Das ist das Entscheidende. Dasselbe gilt für die Chemische Industrie und für die Kunststoffverarbeitende Industrie.
({13})
Herr Kollege Ernst, es kann nicht sein, dass die
Beschäftigten in den kleinen Bauarbeitsbetrieben und
die Verkäuferinnen in den Einkaufsläden, also die Beschäftigten in den mittleren und kleinen Betrieben, letztendlich die Zeche dafür zahlen, dass diejenigen, die in
Großbetrieben beschäftigt sind, dort, wo die Arbeitsbedingungen möglicherweise sogar noch besser sind, weil
sie besser organisierbar sind, frühzeitig in Rente gehen.
({14})
Es geht um die Beiträge der Maurer, der Schuster und all
der anderen Beschäftigten. Diese Beiträge sind viel zu
schade, um in ein solches Programm gesteckt zu werden,
Herr Kollege Ernst.
({15})
Wir haben der Arbeitslosigkeit in den vergangenen
vier Jahren erfolgreich den Kampf angesagt. Wir werden
das auch in Zukunft mit Wachstums- und Beschäftigungsprogrammen tun,
({16})
die darauf ausgerichtet sind, mehr Arbeitsplätze in unserem Land entstehen zu lassen und nicht weniger Arbeitsplätze. Das ist letztendlich das beste Programm, damit
Menschen in selbstbestimmter Art und Weise für ihren
Lebensunterhalt sorgen können.
({17})
Wir werden gerade in dieser bürgerlich-liberalen Koalition im Sinne der Bürgerinnen und Bürger dafür Sorge
tragen,
({18})
dass viele neue Arbeitsplätze zukünftig die Grundlage für
den wirtschaftlichen Erfolg dieses Landes und die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme - Renten-, Kranken-,
Pflege- und Arbeitslosenversicherung - schaffen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({19})
Zu uns spricht die Kollegin Elke Ferner für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Hier wird in gewisser Weise eine Gespensterdiskussion
geführt.
({0})
CDU/CSU und FDP, also diejenigen, die in den 80erJahren die gesetzliche Grundlage für die Vorruhestandsregelungen geschaffen haben, 1988 das erste Gesetz zur
Förderung der Altersteilzeit verabschiedeten und die
dann 1996 mit dem jetzigen Altersteilzeitgesetz das
Blockmodell nachträglich eingefügt haben, beklagen
sich jetzt darüber, dass die Gesetze nicht in Ordnung
sind.
({1})
Jetzt gibt es auch noch Beifall von den Grünen. Man
könnte sagen, hier bildet sich Jamaika oder ein Fluch der
Karibik; die Beurteilung ist jedem selbst überlassen.
({2})
Es ist schon merkwürdig, welche Argumente angeführt werden. Einerseits sind Sie stolz darauf, dass die
ungeförderte Altersteilzeit fortgeführt wird. Wenn das
kein Problem für Sie ist, frage ich mich, warum es ein
Problem sein soll, die Altersteilzeit dann durch die
Bundesagentur für Arbeit fördern zu lassen,
({3})
wenn dadurch junge Menschen nach ihrer Ausbildung
die Perspektive eines Jobs in einem Betrieb erhalten
({4})
und nicht die Perspektive der Arbeitslosigkeit, eines unbezahlten Praktikums, eines ungewollten Teilzeitbeschäftigungsverhältnisses oder eines befristeten Arbeitsverhältnisses.
Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an! Was ist
denn mit den jungen Leuten, die ihre Ausbildung absolviert haben und gerade in Zeiten der Krise vor verschlossenen Betriebstüren stehen, weil die Stammbelegschaft
ausreicht? Warum soll denn gerade in Zeiten der Krise
dieses Instrument nicht verlängert werden? Darauf habe
ich bisher überhaupt keine Antwort erhalten.
({5})
Sie beklagen, dass die Fortführung etwa 1,3 Milliarden Euro kosten würde.
({6})
Jetzt frage ich mich, warum Sie dann diese Hotelkettensubventionierung finanzieren wollen, die in etwa genauso viel kostet.
({7})
Was ist Ihnen denn mehr wert: Hotelketten zu subventionieren oder aber dafür zu sorgen, dass junge Leute endlich wieder ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis
aufnehmen können? Gerade die jungen Leute, die sich
ein Stück weit vom Elternhaus unabhängig machen oder
eine Familie gründen möchten, lassen Sie in prekären
Beschäftigungsverhältnissen verharren, anstatt mit relativ wenig Geld Arbeits- und Perspektivlosigkeit zu vermeiden.
({8})
Es ist immer wieder merkwürdig, wie aus gleichen
Berichten unterschiedliche Zahlen herangezogen werden. Auch ich habe mir diesen IAB-Bericht angeschaut.
Ich sage Ihnen hier ganz offen: Gerade im Hinblick auf
flexiblere Übergänge wäre es mir lieber, wenn sich mehr
Menschen für eine Teilzeitbeschäftigung, für das echte
Altersteilzeitmodell, entscheiden würden. Es wird aber
niemand in die Altersteilzeit oder in ein Blockmodell gezwungen; jeder kann sich für eine Variante entscheiden.
Die Gründe für die Entscheidung, das Blockmodell oder
die tatsächliche Teilzeit zu wählen, sind so unterschiedlich wie die Lebenssituationen der Menschen.
({9})
Es wundert mich schon, dass ausgerechnet die Freiheitspartei FDP meint, man dürfe nicht mehr selber entscheiden, ob man in Altersteilzeit geht oder nicht. Das ist
schon sehr merkwürdig.
({10})
Herr Kollege Kolb, Ihr Modell sieht im Übrigen eine
Rente ab 60 mit Abschlägen von 25 Prozent vor. Das ist
selbst für die meisten Menschen aus Ihrer Klientel überhaupt nicht darstellbar, weil keiner einen so hohen Rentenanspruch hat.
({11})
Wir werden uns in diesem Hause mit Sicherheit noch
mit den Konzepten für einen flexiblen Übergang vom
Erwerbsleben in die Rente beschäftigen müssen. Dazu
gehört aus unserer Sicht auch, aber nicht alleine die Verlängerung der geförderten Altersteilzeit. Wir werden Ihnen dazu noch etwas vorlegen. Ich bin gespannt, ob Sie
in dieser Koalition überhaupt in der Lage sind, zu diesem Thema ein gemeinsames Konzept vorzulegen. Man
hat bei Ihrem Vortrag eben die Begeisterung bei den
Kollegen von der CDU/CSU förmlich spüren können.
({12})
Noch einmal zurück zu den Zahlen. Die Zahlen des
IAB zeigen, dass im September 2008 von den freigewordenen Stellen 56,3 Prozent mit jungen ausgebildeten
Menschen besetzt worden sind.
({13})
Im September 2009 waren es 57,8 Prozent; es gibt also
eine Steigerung, selbst wenn es den einen oder anderen
Mitnahmeeffekt gibt.
({14})
Man muss sich fragen: Wo gibt es überhaupt keinen Mitnahmeeffekt? Mich wundert jetzt gerade das Verhalten
der Grünen, die sich, wenn es darum geht, jungen Menschen eine Berufsperspektive zu eröffnen oder sie in die
Arbeitslosigkeit zu schicken, für die Arbeitslosigkeit
entscheiden. Das ist wirklich skandalös, liebe Kollegin.
({15})
Es ist nicht so, dass nur diese Maßnahme etwas kostet. Arbeitslosigkeit kostet auch Geld. Dequalifizierung
kostet auch Geld. Perspektivlosigkeit kostet vielleicht
sogar etwas mehr als nur Geld.
({16})
Ich frage mich wirklich, warum Sie sich gerade in einer
Zeit, in der es darum geht, nicht nur möglichst viele
Menschen in den Betrieben zu halten, sondern auch den
Wissenstransfer und die Beschäftigungsbrücke zwischen
Jung und Alt zu organisieren, nicht in der Lage sind,
über dieses Instrument wenigstens noch einmal nachzudenken.
Ich muss sagen: Von der Union bin ich wirklich enttäuscht. Sie haben schon im letzten Sommer unser Angebot abgelehnt, die geförderte Altersteilzeit zu verlängern.
Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage von Herrn Kolb. Möchten Sie diese zulassen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
({0})
Ich bedanke mich, dass Sie mir die Redezeit verlängern wollen.
Frau Kollegin Ferner, gerne, aber warten Sie erst einmal meine Frage ab. - Nachdem Sie aus dem IAB-Kurzbericht stellenweise zitiert haben, würde ich Sie gerne
fragen, wie Sie das Fazit dieses IAB-Kurzberichtes bewerten, das wie folgt lautet:
Es spricht vieles dafür, die Förderung der Altersteilzeit in heutiger Form nicht weiter zu verlängern.
Weiter unten heißt es:
In ihrer gegenwärtigen Form gibt die Altersteilzeit
die falschen Signale und reduziert den Druck auf
Unternehmen, rechtzeitig umfassende Konzepte für
ein alternsgerechtes Arbeiten zu entwickeln.
Noch weiter unten heißt es:
Dagegen wäre es auf längere Sicht ein falsches
Signal, die Förderung des Blockmodells zu verlängern.
Wie bewerten Sie dieses Fazit?
({0})
Ich teile dieses Fazit nicht, Herr Kolb.
({0})
Das wird Sie nicht wundern; denn sonst würde dieser
Gesetzentwurf heute nicht zur Debatte stehen.
Wir haben eine besondere arbeitsmarktpolitische Situation. Unter normalen Bedingungen, Herr Kolb, wie
wir sie Ende 2007 bis Mitte 2008 gehabt haben, hätte ich
gesagt: Man macht vielleicht noch eine Verlängerung
ohne das Blockmodell, um wenigstens die Brücke für
die Jüngeren in die Beschäftigung zu schaffen. Dank
- ich sage dies in Anführungszeichen - der Ausbildungsunwilligkeit vieler Betriebe in der Wirtschaft besteht das Problem, dass nicht alle jungen Menschen, die
eine qualifizierte Ausbildung machen wollen, einen
Ausbildungsplatz bekommen. Die Warteschlangen sind
immens.
Wenn ich mir die Beschäftigungsstruktur hinsichtlich
der Sicherheit der Beschäftigung bei den jüngeren Menschen anschaue, dann muss ich sagen, dass ich froh bin,
51 Jahre alt zu sein. Denn in meiner Jugendzeit hatte ich
die Sicherheit, dass ich, wenn ich einen ordentlichen
Ausbildungsabschluss hinlege, auch in ein unbefristetes
Beschäftigungsverhältnis komme.
({1})
- Nein, das ist Teil der Antwort auf Ihre Frage. Denn die
Frage lautete, ob ich das Fazit teile. Ich habe gesagt: Ich
teile es nicht,
({2})
weil wir jetzt eine andere arbeitsmarktpolitische Situation haben und auch im nächsten Jahr haben werden. Ich
muss sagen: Ich bin enttäuscht, dass Ihnen Hotelketten
mehr wert sind als die Chance für junge Menschen, in
ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu kommen.
Vielen Dank.
({3})
Als Letzter in der Debatte spricht der Kollege Frank
Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich verkneife mir, all das schon
Gesagte jetzt noch einmal in Zahlen oder Zitaten aufzugreifen, aufzurühren, neu aufzukochen. Ich möchte einen Schritt zurückgehen und zu etwas Grundsätzlichem
kommen. Wir reden heute nicht in erster Linie über Zahlen und Konzepte, sondern über Menschen. Wir reden
über Menschen, die sich mit Blick auf die Verantwortung für ihr eigenes Leben, ihre Familien und unsere Gesellschaft nicht zurücklehnen wollen, sondern am Erwerbsleben teilhaben und aktiv sein wollen.
Wir reden nicht über Almosen, sondern wir reden
über Chancen. Wir reden über Menschen, die nicht nach
ihrer Kompetenz oder ihrem Fleiß beurteilt, sondern
schlicht und ergreifend auf ihr Alter reduziert werden.
Es geht darum, ob das Alter ein Kriterium für den Zugang zum Arbeitsmarkt ist oder nicht. Ich selbst habe einige Menschen vor Augen, die das sehr wohl betrifft und
auch betroffen macht. Ich finde, es verdient Anerkennung, das Schicksal dieser Menschen auf die Agenda zu
setzen.
Schon in der Präambel unseres Koalitionsvertrages
hat sich die Bundesregierung ausdrücklich zum Fleiß
und zur Verantwortungsbereitschaft der Bürgerinnen und
Bürger geäußert: Deutschland ist ein starkes Land mit
starken Menschen, und Menschen brauchen Chancen.
({0})
Was die Diskussion über den Entwurf eines Gesetzes
zur Verlängerung der Altersteilzeit angeht, bin ich jedoch ziemlich verwundert. Ich werde den Eindruck nicht
los, dass Sie, liebe Kollegen von der SPD, hier ein Medikament in die Verlängerung schicken wollen, das das
Mindesthaltbarkeitsdatum schon längst überschritten
hat.
({1})
Davon stirbt man nicht sofort. Hier geht es aber nicht nur
um Schadensbegrenzung. Vielmehr müssen wir an die
Menschen und ihre Zukunft denken.
Nachdem wir in den letzten Wochen immer wieder
Angriffe von Ihnen erlebt haben - Sie verwendeten Begriffe wie „Nebeltaktik“ und „Klientelpolitik“ -, ist es
ziemlich verwunderlich, dass gerade dieser Gesetzentwurf genau diesen Geschmack hinterlässt. Wollen Sie
uns etwa anhand eines praktischen Beispiels die Bedeutung dieser beiden Worte erklären?
Sowohl von meinen Fraktionskollegen als auch von
Mitgliedern anderer Fraktionen haben wir heute gehört,
dass klare Argumente gegen Ihren Gesetzentwurf sprechen. Die demografische Entwicklung hat sich geändert; darauf muss man reagieren. In den Ausführungen
wurden gravierende Widersprüche aufgezeigt. Die
Blockmodellwirkung ist schädlich für den Arbeitsmarkt. Diese Regelung führte nachweislich zum Abbau
von Arbeitsplätzen, insbesondere in großen Firmen.
Hinzu kommt, dass ausschließlich Alter mit Alter verrechnet wird. Die Frage nach der Qualifikation wird
nicht gestellt. Das Ziel dieses Gesetzes, einen gleitenden
Übergang vom Erwerbsleben ins Rentendasein zu ermöglichen, wird so nicht erreicht.
({2})
Bei diesem Gestaltungsmittel zu bleiben, wäre vollkommen kontraproduktiv und ein denkbar schlechtes Signal für die Menschen, um die es uns eigentlich geht.
Was wir brauchen, ist eine konstruktive Auseinandersetzung mit den jetzigen Gegebenheiten. Gesetze für eine
Gesellschaft werden nämlich nicht ausschließlich auf der
nüchternen Basis finanzieller Eckdaten gemacht, sondern sie werden für Menschen gemacht. Dabei geht es
auch um Flexibilität; darauf haben meine Kollegen von
der FDP hingewiesen.
Es gilt, zwischen Berufsgruppen zu unterscheiden:
Zwischen dem Dachdecker und dem Versicherungskaufmann gibt es nun einmal einen gravierenden Unterschied, was die Wahrnehmung dieses Gesetzes angeht.
Es gilt, auch regionale Unterschiede mit einzubeziehen:
In den neuen Bundesländern, aus denen ich komme,
kann man nicht die gleichen Maßstäbe anlegen wie in
Niedersachsen oder in Baden-Württemberg. Lieber Kollege Heil, Ihre Bemerkung bezüglich der „Rolle
Rüttgers“ ganz am Anfang unserer Debatte bestätigt,
dass es solche regionalen Unterschiede gibt und dass die
Notwendigkeit besteht, sie mit einzubeziehen.
In Zeiten des demografischen Wandels müssen die
Beschäftigungschancen älterer Menschen gestärkt
werden und dürfen nicht geschwächt werden.
({3})
Dazu haben wir heute gute Vorschläge gehört. Auch hier
geht es um individuelle Ausstiegschancen und einen flexibleren Renteneinstieg, aber nicht in Form des Blockmodells.
Damit sind wir noch lange nicht fertig. Wir sind gespannt, welche Vorschläge die Opposition in den Ausschüssen macht. Sie propagieren jetzt - 50 Jahre nach
dem Godesberger Programm -, die neue SPD zu sein.
Bleiben Sie bitte nicht zu lange bei den Abschiedsschmerzen! Wir möchten, dass Sie nicht bei Gedanken
und Konzepten von vorgestern bleiben, wie sie in diesem Gesetzesvorschlag deutlich zum Vorschein gekommen sind.
({4})
Sie werden hier gebraucht als Opposition - so sind Sie
gewählt worden -, und das sind Sie sich, diesem Parlament und den Bürgern und Bürgerinnen dieses Landes
schuldig.
Meine abschließende Bemerkung: Menschen sollen
und werden der Mittelpunkt der Politik dieser Koalition
sein. Wo es um Menschen geht, die fertig, die krank, die
ausgebrannt, die ausgepowert sind, um Berufsgruppen,
denen ein Weiterarbeiten nicht zuzumuten ist, gibt es
weiterhin die benannte Regelung, wenn auch ohne Förderung durch die Bundesagentur. Wir haben immer wieder betont, dass die Anschlussregelungen zur Kurzarbeit
momentan die beste Möglichkeit ist;
({5})
dies darf aber nicht der einzige Schritt bleiben. Die
CDU/CSU steht für eine nach vorn gerichtete sowie am
Menschen orientierte Arbeits- und Sozialpolitik.
({6})
Wir, die CDU/CSU, sagen in aller Deutlichkeit: Menschen, die fleißig und verantwortlich in Deutschland leben, dürfen nicht faktisch frühverrentet werden. Sie sind
bis ins Alter vollwertige Mitglieder dieser Gesellschaft,
auch am Arbeitsmarkt.
({7})
Unsere Gesellschaft braucht keine Frühverrentungspraxis, sondern flexible und vielfältige Regelungen, um die
längere Lebensarbeitszeit bestmöglich - sowohl ökonomisch als auch sozialethisch vertretbar - zu nutzen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Herr Heinrich, das war Ihre erste Rede im Hohen
Haus, wozu ich Sie herzlich beglückwünsche. Für Ihre
Arbeit hier wünsche ich Ihnen im Namen des gesamten
Hauses viel Erfolg und auch Gottes Segen.
({0})
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/20 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es
offensichtlich keine anderen Vorschläge. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Wahl der Schriftführer gemäß § 3 der
Geschäftsordnung
- Drucksache 17/58 Für die Wahl der Schriftführerinnen und Schriftführer
liegen auf Drucksache 17/58 Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor. Ich frage Sie: Wer stimmt für
diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit sind diese Wahlvorschläge einstimmig
angenommen. Ich gratuliere den gewählten Kolleginnen
und Kollegen im Namen des gesamten Hauses, freue
mich auf die Zusammenarbeit und danke gleichzeitig
den vorläufigen Schriftführerinnen und Schriftführern
dieser Legislaturperiode für ihren unermüdlichen Einsatz.
({1})
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion Die Linke
Bildung für alle - Gebührenfrei
Als erste Rednerin spricht Nicole Gohlke für die
Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Frau Bundesbildungsministerin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundesweit sind
100 000 Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrer und
Studierende diese und letzte Woche auf die Straße gegangen. Die Linksfraktion steht an der Seite all derer, die
mit Demonstrationen und Blockaden, mit Besetzungen
und Streiks für bessere Bildung und für grundsätzliche
Veränderungen im Bildungssystem streiten.
({0})
Nach den Protesten vom Sommer ist es jetzt das
zweite Mal, dass Schülerinnen und Schüler sowie Studierende gegen die massive Unterfinanzierung und gegen die soziale Selektion im Bildungsbereich kämpfen.
Neu an den jetzigen Protesten ist, dass Studierende landauf, landab die größten Hörsäle besetzt halten: inzwischen an mehr als 40 Hochschulen von Hamburg über
Potsdam bis nach München.
({1})
Diese Besetzungen sind Ausdruck dafür, dass die Studierenden auch nach dem letzten Bildungsstreik im
Sommer nicht das Gefühl haben, irgendwie ernst genommen zu werden. Sie zeigen mit den Besetzungen,
dass sie bereit sind, entschlossen für ihre Forderungen zu
kämpfen, und dass es für sie an der Zeit ist, sich den
Raum zurückzuholen - es geht um ihre eigenen Hochschulen und ihr Studium -, den sie an undemokratische
Hochschulräte und an private Unternehmen, Sponsoren
und Profitmacherei verloren haben.
({2})
Die Proteste der Schülerinnen und Schüler sowie Studierenden sind bereits jetzt ein voller Erfolg. Nicht nur,
dass sehr viele die Proteste unterstützen, auch manche
Politiker haben etwas gelernt. So scheint es zumindest;
denn nur noch ganz wenige beschimpfen die Proteste als
zum Beispiel gestrig, wie das die Bildungsministerin
noch im Sommer getan hat.
Inzwischen äußern viele Politiker Verständnis für die
Anliegen, die hinter dem Bildungsstreik stehen. Frau
Schavan meint sogar, zu wissen, dass die Studierenden
für ihre eigenen Pläne und für die Reformpläne der Bundesregierung streiken. So sagte Frau Schavan in der Tagesschau am 12. November 2009, sie finde es richtig,
wenn die Studenten darauf pochten, dass das, was beschlossen wurde, jetzt auch tatsächlich umgesetzt wird.
Liebe Frau Schavan, dies ist nichts anderes als ein ziemlich plumper Versuch, die Proteste zu vereinnahmen.
Das zeigt, dass Sie sich mit den Forderungen und den
Anliegen dieser Bewegung nicht im Geringsten auseinandergesetzt haben.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein wichtiger Slogan des Bildungsstreiks ist: „Für Solidarität und freie
Bildung“. Dieser Spruch steht auf vielen Transparenten
und T-Shirts der Aktivistinnen und Aktivisten. Solidarität und freie Bildung haben jedoch nichts mit den Ideen
der Regierung gemein, sie haben nichts gemein mit dem
Kredit- und Stipendiensystem und auch nichts gemein
mit dem sogenannten Bildungssparen.
Nein, die Forderungen der Studierenden sind andere:
Die Studierenden fordern die Abschaffung von Studiengebühren, sie fordern den freien Bildungszugang für
alle, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, sie wollen
ihre Hochschule selbst gestalten, und sie wollen eine radikale Überarbeitung der Bachelor- und Masterstudiengänge. Mit diesen Forderungen haben die Studierenden
recht. Sie verdienen unsere Solidarität.
({4})
Der Bundesregierung muss klar sein: Durch Lippenbekenntnisse alleine werden die Streikenden diesmal
nicht zufriedengestellt. Den netten Worten, die Sie in
den letzten Tagen zur Besänftigung gefunden haben,
müssen endlich auch Taten folgen. Es reicht eben nicht
aus, wie beim BAföG nur das Bestehende aufzustocken.
63 Prozent der Studierenden müssen neben dem Studium
arbeiten. Die meisten bekommen keine Unterstützung
vom Staat.
Frau Bildungsministerin, wenn Sie, wie Sie es vorgeben, tatsächlich daran interessiert sind, mehr Kinder aus
einkommensschwachen Familien an die Hochschulen zu
bringen, dann erhöhen Sie endlich das BAföG, schaffen
Sie die Rückzahlungspflicht ab, verlängern Sie die Bezugsdauer,
({5})
und setzen Sie sich endlich dafür ein, dass Studiengebühren bundesweit verboten werden.
({6})
Mittlerweile traut sich glücklicherweise fast keiner
mehr, den Bologna-Prozess, durch den das BachelorMaster-System auf den Weg gebracht wurde, als gelungene Reform hinzustellen. Insgesamt drängt sich jedoch
der Eindruck auf, dass es bei dieser Reform so ähnlich
wie beim schlechten Wetter ist: Alle ärgern sich darüber,
aber niemand will es gewesen sein oder will jetzt dafür
verantwortlich sein.
Der Regierung und den Kultusministern sollte aber
schon klar sein, dass die Studierenden genau wissen,
wer ihnen das Bologna-System eingebrockt hat. Die
Fraktion Die Linke fordert eine Korrektur der gescheiterten Bologna-Reform. Das Bachelor-Master-System ist
in der bestehenden Form absolut unhaltbar, das heißt, die
Arbeitsbelastung muss gesenkt werden, das Angebot
muss deutlich breiter und vielfältiger werden und alle
Bachelor-Absolventinnen und -Absolventen müssen das
verbindliche Recht auf einen Masterstudienplatz bekommen.
({7})
Frau Bildungsministerin, wenn Sie die Proteste weiterhin als Bestätigung Ihrer Politik begreifen, dann haben
Sie die Schüler und die Studierenden nicht verstanden.
Nötig ist ein Richtungswechsel in der Bildungspolitik,
ein Richtungswechsel weg von Eliteuniversitäten und
Exzellenz für wenige,
({8})
hin zu guter Bildung für alle, weg von einem Verständnis, das Bildung als Ware begreift, hin zu einem Begriff
von Bildung als Menschenrecht.
Seien Sie sich sicher: Bis diese Forderungen erfüllt
sind, werden die Schülerinnen und Schüler sowie Studierenden keine Ruhe geben und weiter für ihre Ziele
kämpfen. Meine Fraktion wird sie dabei unterstützen.
Vielen Dank.
({9})
Frau Gohlke, auch für Sie war das die erste Rede, zu
der wir Sie herzlich beglückwünschen und Ihnen alles
Gute für die Arbeit hier im Haus wünschen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Michael Kretschmer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Politik
beginnt mit der Wahrnehmung der Realität. Das bedeutet
beim Thema Bildung, dass wir in den vergangenen Jahren sehr viel Geld in die Hand genommen haben und
dass Bund und Länder in einem nationalen Kraftakt einen Hochschulpakt verabschiedet und einen Bildungsgipfel mit dem klaren Bekenntnis durchgeführt haben, in
den nächsten Jahren bis zu 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung auszugeben.
Ich komme gerade von der Jahrestagung der LeibnizGemeinschaft in Rostock. Dort war eines ganz klar - der
Präsident hat es noch einmal deutlich gesagt -: Zu keiner
Zeit hatten Bildung und Wissenschaft einen so hohen
Stellenwert wie heute. Das ist das Ergebnis unserer Politik.
({0})
Das Thema dieser Aktuellen Stunde „Bildung für alle Gebührenfrei“ ist wirklich nicht die Herausforderung
unserer Zeit. Schon eher wären es Themen wie „Wir
wollen die beste Bildung für alle“, „Wir wollen mit Bildung den sozialen Aufstieg schaffen“ oder „Wir wollen
Bildung als universellen Wert begreifen“. Das sind unsere programmatischen Sätze, die wir linker Gleichmacherideologie entgegenschleudern.
({1})
Das sind Ziele, hinter denen wir den Bund und die
Länder versammeln müssen, die wir brauchen, um am
Ende tatsächlich die Kraft zu haben, das Geld aufzubringen und den Rahmen so zu setzen, dass Bildung für alle
und sozialer Aufstieg durch Bildung möglich ist. Wir
müssen Kinder und Eltern ansprechen und Anstrengung
und Leistung einfordern. Es gibt keine Bildung ohne eigene Anstrengung und eigene Leistung. Deswegen ist
Ihre Aussage völlig falsch.
({2})
CDU/CSU und auch die FDP, denke ich, stehen für
einen Sozialstaat, aber nicht für einen Verschenkerstaat.
Wir wollen die eigene Leistung fördern.
({3})
Jede Rede heute beginnt mit dem Bekenntnis, dass man
Verständnis für die Protestierenden hat. Auch mein Studium ist noch nicht sehr lange her. Ich kann mich auch
an Dinge erinnern, die nicht in Ordnung waren und über
die wir im Fachschaftsrat, im Studentenrat und an anderer Stelle gesagt haben: So geht es nicht. Ich habe auch
Verständnis, aber mein Verständnis schwindet langsam,
wenn ich sehe, was in letzter Zeit bei diesen Protesten
tatsächlich abläuft.
Es ist richtig, dass mit dem Bologna-Prozess nach
50 Jahren eine gewaltige große Studienreform stattgefunden hat, und es ist richtig, dass einiges dabei nicht so
glücklich gelaufen ist. Darüber kann man auch reden.
Wir haben eine viel zu hohe Spezialisierung und eine Inflation an Studiengängen, die man eindämmen muss. Es
gibt in Teilen zu viele Prüfungen, und es gibt in der Tat
das Problem, dass Seminare und Vorlesungen zeitgleich
stattfinden, sodass der organisatorische Ablauf nicht gewährleistet ist.
Das ist aber kein Beleg dafür, dass der Bologna-Prozess gescheitert oder die Hochschulautonomie falsch ist.
Im Gegenteil: Diese organisatorischen Defizite müssen
in der nächsten Zeit schleunigst behoben werden. Dabei
nehmen wir auch die Hochschulen in die Pflicht.
Wir, die Union, sagen ganz klar: Wir stehen zur
Hochschulautonomie und zur Hochschulfreiheit. Freiheit bedeutet auch, dass man diejenigen in die Verantwortung nehmen muss, die diese Freiheit haben. Aus
diesem Grunde ist ganz klar: Wir wollen, dass die Hochschulen die Verantwortung übernehmen und dass diese
organisatorischen Defizite beendet werden.
({4})
Im Übrigen sind alle drei Punkte - weder die Anzahl
der Studiengänge noch die Frage der Anzahl der Prüfungen oder die Organisation von Seminaren und Vorlesungen - keine Frage der Finanzen. Es ist einfach eine Frage
von schlechter Organisation, die in der Tat beendet werden muss.
({5})
Es war vom BAföG die Rede. Wir werden das BAföG
im nächsten Jahr erhöhen. Aber das ist nur ein Schritt.
Uns ist an einem insgesamt stimmigen Konzept der Studienfinanzierung in diesem Land gelegen. Dazu gehört
als wichtigster Punkt das BAföG. Deswegen haben wir
es vor wenigen Jahren erhöht, und wir werden es in den
nächsten Jahren weiter erhöhen. Wir werden auch den
Kreis derer verbreitern, die das BAföG in Anspruch nehmen können. Es gehören aber auch andere Dinge dazu.
Ich sage ganz klar: Wir stehen zu einem vernünftigen
Stipendiensystem. Wir wollen das, und wir werden es
auch in dieser Legislaturperiode einführen.
({6})
Ich habe die Hoffnung, dass die Kollegen irgendwann
die Realität zur Kenntnis nehmen und sich daran erinnern, was sie vor kurzer Zeit gesagt haben, nämlich dass
wir eine Stipendienkultur in diesem Land haben wollen
und gemeinsam versuchen, etwas Gutes zu machen. Wir
sind dazu bereit. Wir wollen das tun. Wir sind im Übrigen auch offen für Kritik, gerade von denjenigen, die
studieren. Aber die Kritik muss sowohl in der Sache als
auch in der Art und Weise vernünftig sein.
Vielen Dank.
({7})
Für die SPD-Fraktion spricht die Kollegin Ulla
Burchardt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Kretschmer, beste Bildung für alle
und Aufstieg durch Bildung für alle, das sind, glaube
ich, völlig unstreitige Ziele. Aber diese sind mit Gebühren für Bildung nicht zu erreichen. Die Studierenden haben völlig recht, wenn sie die Abschaffung der Gebühren fordern.
({0})
Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Hochschule ist für
die SPD nicht nur Programm, sondern auch Praxis.
Schauen Sie sich die SPD-regierten Länder an! Dort gibt
es keine Studiengebühren. Mittlerweile gibt es eine
Wanderungsbewegung hin zu diesen Ländern. Bei den
Kitas sind erste wichtige Schritte getan. Es ist hinreichend wissenschaftlich belegt - es gibt kein Erkenntnisproblem, sondern ganz offensichtlich ein Handlungsproblem -, dass Gebühren soziale Barrieren für
Chancengleichheit und Teilhabe sind. Gebühren beschränken die individuellen Freiheitsrechte, behindern
den freien Zugang zu Bildung in allen Bereichen und
- auch das ist hinreichend belegt - sind kontraproduktiv
für Wachstum und Innovation.
({1})
In jeder Hinsicht schädlich ist die ideologisch motivierte Privatisierung von Bildung, wie sie jetzt von dieser Rechtsregierung vorbereitet wird.
({2})
- Wenn Sie ein Fass aufmachen und von „links/rechts“
sprechen, dann greife ich das gerne auf. - Nötig sind
massive Investitionen in das öffentliche Bildungssystem.
({3})
Ein Großteil der Probleme des Bildungssystems
- darauf weisen die Studierenden in ihren Protesten zu
Recht hin - sind der eklatanten Unterfinanzierung des
Bildungssystems und insbesondere des Hochschulwesens geschuldet. Zu Recht werden die Studenten ungeduldig, wenn sie feststellen, dass es eine fortdauernde
Diskrepanz zwischen Reden und Handeln gibt. Ich will
dafür vier deutliche Beispiele nennen.
Die Bundesbildungsministerin warf vor einigen Tagen in zwei Interviews der damaligen rot-grünen Koalition und ihrer Vorgängerin im Amt, Frau Bulmahn, vor,
sie hätten nichts getan, um den Bologna-Prozess vorzubereiten. Das ist schlicht und ergreifend falsch. Fakt ist
vielmehr, dass Frau Bulmahn damals, unterstützt von
beiden Koalitionsfraktionen, den Ländern einen echten
Hochschulpakt mit einem finanziellen Volumen in Höhe
von 50 Millionen Euro angeboten hat. Aber die B-Länder, darunter auch Baden-Württemberg, wo Sie auch damals Verantwortung hatten, haben diesen Hochschulpakt
abgelehnt. Gegen das Kompetenzzentrum zur Unterstützung der Bologna-Reform hat der hessische Ministerpräsident Koch Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Selbst eine abgespeckte Version, die wir dann
auf den Weg gebracht hatten, nämlich den Bologna-Unterstützungsprozess, für den wir bis 2005 17 Millionen
Euro ausgegeben haben und für den weitere Mittel in der
Finanzplanung bis 2009 vorgesehen waren, haben Sie
zunichtegemacht. Frau Schavan, Sie haben zweimal die
Zweckbestimmung des Titels geändert und damit die
Mittel zur Unterstützung des Bologna-Prozesses für die
Länder zweckentfremdet. Das ist die ganze Wahrheit.
Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
Wir werden das ausführlich dokumentieren.
({4})
Der Kollege Kretschmer hat den Bildungsgipfel angesprochen. Vor fast einem Jahr hat die Kanzlerin versprochen: Jetzt wird sich vieles bewegen; jetzt gibt es ganz
viel Geld. - Was ist dabei herausgekommen? Eine Kommission höherer Beamter hat zwei Semester gebraucht,
um mit 73 Berichten offenzulegen, dass es Streit zwischen Finanzministern, Kultusministern und GWK gibt
und bislang nicht mehr ganz so viel Geld.
Stichwort „Geld“. Es ist unbestritten, dass 25 Milliarden Euro pro Jahr notwendig sind, um die Bildungsausgaben auf OECD-Niveau zu heben. Allein für den Bund
wären das 12 Milliarden Euro in den nächsten vier Jahren. Diese Zahl wird auch von der Bundesregierung in
die Welt gesetzt. Aber nur Insider wissen, dass diese
12 Milliarden Euro nicht allein für Bildung vorgesehen
sind, sondern für die drei Pakte, und ein erheblicher Teil
in die Forschung geht. So tut sich eben nicht nur eine
Zahlenlücke, sondern auch eine Glaubwürdigkeitslücke
auf. Das ist nicht mehr übersehbar. Die Studierenden
weisen zu Recht darauf hin.
({5})
Die Scharade, wenn ich das so nennen darf, hat noch
eine ganz andere Dimension. Das stellt man fest, wenn
man nicht nur die Bildungspolitik, sondern auch die
steuerpolitischen Vorhaben der Bundesregierung betrachtet. Die interessierte Öffentlichkeit erfährt hier, dass
24 Milliarden Euro für Steuergeschenke vorgesehen
sind. 12 Milliarden Euro Mindereinnahmen bedeutet
dies alleine für die Länder, die den größten Teil schultern
müssen, wenn es um das Erreichen des 7- bzw. 10-Prozent-Ziels geht. Das Geld wird dort fehlen, wo die
Länder überhaupt noch finanzielle Spielräume haben,
nämlich bei der Bildung und beim kommunalen Finanzausgleich.
Um es kurz zu machen: Das bedeutet in der Konsequenz, wenn Sie diese Pläne verfolgen: Diese Bundesregierung legt die Axt an Kitas, Hochschulen und Schulen. Dann fehlt in den Ländern noch mehr Geld für
Qualitätsverbesserung, für mehr Personal und für den
Kampf gegen Bildungsarmut. Das wird das ganz konkrete Ergebnis sein, wenn Sie bei Ihrem Vorhaben bleiben.
({6})
Da kann man nur sagen: So wird die Bildungsrepublik
allenfalls ein Potemkinsches Dorf. Mit Ihrer Steuerpolitik zerstören Sie das Fundament des Bildungssystems
und schwächen die Innovationsfähigkeit der gesamten
Bundesrepublik auf Dauer.
Was wir in Deutschland brauchen, ist eine Politik, die
die Wachstumspotenziale unserer Volkswirtschaft nachhaltig erhöht und gezielt ausschöpft. Das setzt voraus,
dass auch die Bundesinvestitionen in Bildung deutlich
steigen. Das ist der Kern unseres Angebots für einen
Pakt der wirtschaftlichen Vernunft in Deutschland. Bis
zum Bildungsgipfel, Frau Schavan, haben Sie und die
Kanzlerin nicht mehr sehr viel Zeit, um die Glaubwürdigkeitslücke zu schließen. Deswegen nutzen Sie die
Chance, sich in den nächsten drei Wochen von ideologischen Schatten zu befreien und tatsächlich nicht nur vom
Aufstieg durch Bildung zu reden, sondern dafür endlich
etwas Handfestes zu tun.
({7})
Das Wort hat die Abgeordnete Sylvia Canel für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Es war sehr interessant, was Frau Burchardt gesagt hat. Wenn es wirklich so wäre, dass Studenten aus
Ländern mit Studiengebühren abwandern würden, würden die Hochschulen in Hamburg leer stehen. Aber: Es
gibt Studiengebühren, die Zahl der Studierenden nimmt
zu, und auch die Geburtenrate steigt. So ganz kann das,
was sie gesagt hat, nicht stimmen.
({0})
Bildung bewegt. Bildung mobilisiert. Für Bildung
wird gelitten und gestritten. Dies gilt mittlerweile nicht
nur für die protestfreudigen Studenten, sondern auch für
die Bürgerinnen und Bürger der Mitte; denn Bildung
geht uns alle an. So können wir gerade erleben, dass der
rot-roten Regierung in Berlin per Volksbegehren ordentlich eingeheizt wurde. Die Zustände an Berlins Kindergärten wurden von den Betroffenen als derart schlecht
empfunden, dass sich der Protest formierte. Letztlich
blieb SPD und den Linken nichts anderes übrig, als endlich für Abhilfe zu sorgen. Gut so, meine Damen und
Herren! Das ist der richtige Weg.
({1})
Ein ähnliches Bild auch in Hamburg, meiner Heimatstadt. Hier haben sich besorgte Eltern und Großeltern in
einer Initiative mit dem bezeichnenden Namen „Wir
wollen lernen!“ zusammengetan, um gegen die verfehlte
grüne Bildungspolitik von Christa Goetsch vorzugehen.
Auch hier zeichnet sich ein Erfolg der Bürger gegenüber
dem Senat ab. Längeres gemeinsames Lernen mit der
Brechstange, unterfinanzierte Schulen ohne entsprechende Qualitätsoffensive? Nein! Über 182 000 Hamburgerinnen und Hamburger lehnen das ab und stehen
für mehr Leistungsorientierung in der Bildung. Und das
ist gut so, meine Damen und Herren!
({2})
Es geht um die Zukunft unserer Töchter und Söhne.
Bildung für alle? Ja! Das ist richtig, aber nicht auf Kosten der Qualität. Qualität ist leider nicht immer zum
Nulltarif zu bekommen.
({3})
Wer das noch immer denkt, verschließt die Augen vor
der anhaltenden nationalen Bildungskatastrophe. Jeder
fünfte 15-Jährige kann kaum lesen und rechnen. Das ist
dramatisch für die Schüler. Das ist ebenso dramatisch für
den Staat.
({4})
Wenn die Zahl der Risikoschüler nicht sinkt, kostet
das laut der neuen Bertelsmann-Studie in den nächsten
acht Jahrzehnten die gigantische Summe von
2,8 Billionen Euro. Die schwächsten Schüler müssen
endlich stärker gefördert werden, und zwar von Anfang
an.
({5})
Mittelfristig strebt die FDP daher eine Beitragsfreiheit
für den Bereich der frühkindlichen Bildung an, dort, wo
Integration, sozialer Ausgleich und Chancengerechtigkeit am besten gelingen. Wir wollen damit Bildungsgerechtigkeit und ein Fundament für erfolgreiche Bil434
dungskampagnen schaffen. Dafür müssen wir jedoch die
öffentliche Bildungsfinanzierung vom Kopf auf die Füße
und die Priorität der Investitionen an den Anfang stellen.
Der Einsatz der öffentlichen Mittel ist auf den Bereich,
wo die meisten Kinder zu erreichen sind, auf den Bereich der frühkindlichen Bildung, auf Kindergarten, auf
Schule und Grundschule, zu konzentrieren. Gleichzeitig
muss der Einsatz privater Mittel im Hochschulsektor und
beim lebenslangen Lernen erleichtert und gefördert werden. Genau das haben wir vor.
({6})
Dementsprechend hat uns die OECD ins Stammbuch
geschrieben: Mit Ausnahme von Deutschland und Griechenland ist in allen OECD-Ländern der Anteil der
privaten Mittel an der Bildungsfinanzierung im Hochschulbereich weitaus höher als im Primar- und Sekundarbereich. Kein Wunder; denn für bessere Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Einkommen ist eine
stärkere Beteiligung des Einzelnen an den Kosten seines
eigenen Studiums völlig legitim. Dies stammt wohlgemerkt nicht aus dem Bundeswahlprogramm der FDP,
nein, das sind Zahlen der OECD, die auch Sie selber immer gerne hier zitieren.
Der investive Charakter eines Studiums für den Einzelnen liegt auf der Hand, und auch der gesellschaftliche
Nutzen ist unverkennbar; denn deutsche Akademiker
sind dreimal seltener von Armut betroffen als Personen
ohne Abschluss. Kurzum: Die Investition lohnt sich für
alle, und deshalb müssen sich auch alle daran beteiligen,
der Staat durch die Finanzierung der Studienplätze, der
Studierende durch die Studiengebühren und die Wirtschaft durch entsprechende Stipendiensysteme.
({7})
Wir wollen mehr junge Leute zur Aufnahme eines Studiums bewegen. Gleichzeitig brauchen wir exzellente Bedingungen an unseren Hochschulen. Das kann gelingen.
Die OECD legt ja die Daten vor. Privates Engagement
setzt eine soziale Flankierung voraus. Deshalb stehen
wir für das Bildungssparen. Es soll staatlich gefördert
werden. Jedes Neugeborene soll ein Zukunftskonto mit
einem Guthaben von 150 Euro bekommen. Das Denken
muss sich dahin gehend ändern, dass wir nicht nur Vermögen für ein kleines Häuschen ansparen, sondern auch
für die Bildung, also die Investition in die Person selbst.
({8})
Wir werden gemeinsam mit der Wirtschaft den Aufbau
des Stipendienwesens vorantreiben und dafür sorgen,
dass die besten 10 Prozent aller Studierenden 300 Euro
im Monat erhalten; denn Leistung soll sich lohnen und
nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein.
({9})
Schließlich werden wir das BAföG stärken und das Angebot an Studiendarlehen ausbauen. So stellen wir sicher, dass keiner an finanziellen Hürden zum Studium
scheitert. Gute Bildung zum Nulltarif gibt es nicht. Einsatz ist gefordert. Jeder muss hier mit anpacken, jeder
nach seinen Kräften. Dabei muss endlich die Priorität
der staatlichen Investition auf den Anfang der Bildungslaufbahn gelegt und die Selbstverantwortung am Ende
gefördert werden. Wir brauchen mehr privates Engagement. Wir sehen aber auch den Staat in der Pflicht. Nicht
zuletzt deswegen wird die Koalition eine noch nie dagewesene Investition von 12 Milliarden Euro in Bildung,
Wissenschaft und Forschung leisten. Entweder hat Bildung eine Zukunft in diesem Land, oder dieses Land hat
keine Zukunft.
Danke sehr.
({10})
Frau Canel, auch für Sie war das die erste Rede. Dazu
beglückwünsche ich Sie im Namen des gesamten Hauses
mit dem freundlichen Hinweis, dass die Redezeiten normalerweise eingehalten werden müssen. Alles Gute für
die Arbeit hier.
({0})
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring für das
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Vorrednerin, Ihr Beitrag ist sicherlich ein Beispiel
für ein neues Ständedenken in unserem Bildungssystem
gewesen und dafür, wie der Begriff Bildungsgerechtigkeit entkernt und geradezu pervertiert werden kann. Das
ist nicht unser Verständnis von Bildungsgerechtigkeit.
({0})
Auch der zweite bundesweite Bildungsstreik in diesem Jahr hat unsere Unterstützung. Es ist ein starkes
Signal und ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft,
wenn Schülerinnen und Schüler und Studierende für
gleiche Bildungschancen, für bessere Studienbedingungen und gegen soziale Spaltung in unserem Bildungsund Hochschulsystem protestieren.
Dazu gehört übrigens auch, für längeres gemeinsames
Lernen zu werben. Bildung ist ein Menschenrecht und
keine Ware. Schüler und Studierende sind mündige Bürger und keine Kunden auf Bildungsmärkten. Das sind
die gesellschaftlichen Debatten, die jetzt anstehen.
({1})
Ich gebe zu: Frau Ministerin Schavan, Sie haben offenbar dazugelernt. Noch im Juni haben Sie dieselben Forderungen der protestierenden Studierenden als „gestrig“
abgekanzelt. Momentan können sich die Streikenden vor
Ihren Solidaritätsbekundungen kaum retten. Die Schüler
und Studierenden wollen aber keine Lippenbekenntnisse;
sie erwarten unverzüglich konkrete Maßnahmen, spürbare Ergebnisse und Verbesserungen in den KlassenzimKai Gehring
mern und Hörsälen. Wenn Sie, Frau Schavan, nicht als
Bundesankündigungs- und -beschwichtigungsministerin
in die Geschichtsbücher eingehen wollen, dann müssen
Sie jetzt unverzüglich handeln und müssen für ein gerechteres Bildungssystem sorgen.
({2})
Wir als Grüne haben längst Konzepte vorgelegt, wie
sich eine chancengerechte Bildungsrepublik bauen ließe.
Wir fordern eine tiefgreifende Reform der vielerorts
schlecht umgesetzten Bologna-Reform. Das Studium
muss entfrachtet, studierbar und flexibler werden anstatt
verschult, verdichtet und überstrukturiert. Dabei muss
endlich Schluss sein mit dem permanenten SchwarzerPeter-Spiel zwischen Bund, Ländern und Hochschulen.
Nein, die Korrektur muss jetzt angepackt werden.
Wir fordern einen Pakt für Studierende, der 500 000
Studienplätze schafft und unsere Hochschulen endlich
auch für Nichtakademiker öffnet. Wir fordern den Abbau von Zugangshürden und die Abschaffung von Studiengebühren, wie es in Hessen gelungen ist und wie es
im Saarland verabredet wurde. Wir wollen darüber hinaus einen Ausbau der staatlichen Studienfinanzierung
zu einem Zwei-Säulen-Modell, und zwar mit einem elternunabhängigen Sockel für alle und einer sozialen
Komponente für diejenigen, die es brauchen. Das wären
echte Bildungsreformen, die zu mehr Gerechtigkeit und
Teilhabe führen. Dazu fehlen Schwarz-Gelb offenbar
Mut und Kraft.
({3})
Noch schlimmer: Offenbar wird Frau Schavan gerade
oberste Insolvenzverwalterin ihrer Möchtegernbildungsrepublik. Wir wissen ja, dass unserem Bildungssystem
pro Jahr 20 Milliarden Euro zusätzliche Investitionen im
Vergleich zum OECD-Schnitt fehlen. Was machen Sie,
statt diese eklatante Unterfinanzierung zu überwinden?
Sie reißen immer neue Milliardenlöcher in den Bundeshaushalt: mit der Abwrackprämie, eingeführt zu Zeiten
der Großen Koalition, jetzt mit Steuergeschenken für
Besserverdienende und für Lobbyverbände. Das geht so
nicht. Wenn das Bundeskabinett jetzt Steuersenkungen
beschließt, dann entzieht es der Bildungsrepublik die finanzielle Grundlage und wird Bildungskürzungen in den
Ländern und in den Kommunen hervorrufen.
({4})
Daher gehören Steuersenkungen eingemottet; sonst verkommt die Bildungsrepublik gänzlich zum Märchenland.
Es wird aber noch doller: Die Rechnungen für Frau
Schavans Feuerwerk an Ankündigungen landen zum
Großteil bei den Ländern, sei es für das ungerechte Stipendiensystem, die vage BAföG-Erhöhung oder die unterfinanzierten Wissenschaftspakte. Sie stehen sozusagen
auf dem Sonnendeck des Bundes und bestellen Champagner, während die Ländermannschaft im Maschinenraum
verdurstet. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wer
bestellt, der muss auch zahlen, und deshalb Butter bei die
Fische bei der Bildungs- und Studienfinanzierung!
({5})
Wir haben als Grüne längst einen Finanzierungsvorschlag gemacht: Wandeln Sie doch einfach den Soli Ost
in einen Bildungssoli um! So lässt sich der gesamtstaatliche Bildungsaufbruch finanzieren, anstatt ihn durch
Steuersenkungen abzuwürgen. Den Bildungssoli können
Sie übrigens auf dem Bildungsgipfel II im Dezember genauso verabreden wie die Korrektur Ihrer bildungsfeindlichen Föderalismusreformen. Ich denke, hier im Haus
werden Sie Unterstützung finden, das unsinnige Kooperationsverbot wieder abzuschaffen; es gehört entsorgt.
({6})
Letzter Punkt. Wenn Sie schon ankündigen, dann setzen Sie, bitte, wenigstens die richtigen Prioritäten, statt
falsche Weichen zu stellen. Mit einer BAföG-Erhöhung
machen Sie einen Trippelschritt vorwärts zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Mit Bildungssparkonten für Reiche
und Stipendien für Privilegierte machen Sie zwei Riesenschritte rückwärts.
({7})
Wenn man die für das Stipendiensystem vorgesehenen Mittel nehmen würde, könnten Sie hier sofort einen
Gesetzentwurf vorlegen und das BAföG um 10 Prozent
erhöhen. Darauf warten wir. Das BAföG auszuweiten,
das ist wichtiger als ein Stipendiensystem.
({8})
Jetzt noch die Länder zu erpressen nach dem Motto:
„BAföG-Erhöhung gibt es nur, wenn die Stipendien
kommen“, das geht so nicht.
({9})
- Ja, das ist doch klar. Das ist der goldene Zügel. Das ist
Erpressung.
Herr Kollege, kommen Sie zum Ende, bitte.
Wir sagen ganz klar: „Privat vor Staat“ ist das falsche
Rezept für Bildungsreformen. Ein Kurswechsel im Bildungssystem ist überfällig: für mehr Chancengerechtigkeit, für höhere Bildungsinvestitionen, für bessere Institutionen und Strukturen und für eine höhere Qualität.
Herr Kollege.
Wenn Schwarz-Gelb einen solchen Kurswechsel einleitet, dann haben sich die Bildungsstreiks gelohnt.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Annette
Schavan.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Im Studienjahr 2009 beginnen 423 000 Studierende ihr Studium, so viele wie noch
nie in Deutschland. Ein Plus von 7 Prozent.
({0})
Im Studienjahr 2009 nehmen nun über 43 Prozent des
Jahrgangs ein Studium auf, weil sie davon überzeugt
sind, dass das attraktiv ist.
({1})
Deutschland ist außerdem nach den USA und Großbritannien das drittbeliebteste Gastland für Studierende
aus aller Welt. Auch das ist ein guter Hinweis auf die Attraktivität des Wissenschaftssystems in Deutschland.
({2})
Angesichts dessen finde ich, die Reden, die ich eben
gehört habe, sind schlicht ziemlich gewagte Auftritte.
({3})
Sie tun so, als kämen Sie aus einer anderen Welt, hätten
mit Bildungspolitik in Deutschland gar nichts zu tun.
({4})
Interessanterweise, verehrte Frau Kollegin, haben die
Streiks in Brandenburg und Berlin begonnen.
({5})
In Brandenburg und Berlin
({6})
- zu Freiburg komme ich gleich - regieren SPD und
Linke.
({7})
Also gebe ich Ihnen den guten Tipp: Sorgen Sie doch
einfach einmal dafür, dass man irgendwann in Deutschland sagt:
({8})
Bildungspolitik in Brandenburg und Berlin ist super. Bislang kommt in Deutschland niemand auf die Idee, in
Berlin eine besonders gute Bildungspolitik vorzufinden.
({9})
- Sie haben eben geredet, und ich war still; jetzt rede ich,
und Sie sind still. Ja, so sind die Spielregeln im Parlament.
({10})
Weder in Brandenburg noch in Berlin gibt es Studiengebühren. In beiden Ländern können Studierende überhaupt nicht gegen Studiengebühren demonstrieren, weil
es da keine gibt.
({11})
Gewagt finde ich
({12})
- Frau Burchardt, ich bin jetzt am Umlernen; wenigstens
haben Sie jetzt für die Opposition geredet und nicht
mehr für die eigene Koalition; das beruhigt mich ({13})
schon, dass von Ihnen, kaum dass das Statistische Bundesamt die neuen Studienanfängerzahlen veröffentlicht
hatte, eine Pressemitteilung mit dem Inhalt kam: Der Jubel sei verfrüht.
({14})
Da argumentieren Sie mit den Stärken der Jahrgänge. Ja,
das sagen Sie. Aber die einzige Zeit, in der die Stärke der
Jahrgänge und die Prozentzahl derjenigen, die ein Studium aufnehmen, sich unterschiedlich entwickelt haben,
waren die Jahre 2003 bis 2006. Da hat genau das gestimmt, was Sie sagen: stärkere Jahrgänge, dennoch
Rückgang der Zahl derer, die studieren. Seit 2006 ist es
anders. Heute ist völlig klar: starke Jahrgänge und noch
stärkerer Andrang an den Hochschulen.
({15})
- Die Debatte ist ein Vorgeschmack auf die kommenden
vier Jahre. Ich nehme das an. Das macht mir großen
Spaß. Sie müssen nur mit all dem, was Sie sagen, irgendwie auch in der Öffentlichkeit bestehen können.
({16}): Gehen Sie
doch mal in Versammlungen! Gehen Sie doch
einfach mal zu den Leuten!)
Sehen Sie sich einmal den Zuwachs bei den Zahlen
der Studienanfänger in den Ländern an. Die höchsten
Zuwachsquoten gibt es in Nordrhein-Westfalen, in Baden-Württemberg, in Bayern, also in Ländern, in denen
es Studiengebühren gibt. Denn für die Studierenden ist
nicht interessant, ob es eine Studiengebühr gibt, sondern
interessant ist, was sie an einer Universität erwartet, wo
es die besten Lehrkonzepte gibt.
({17})
Den Vergleich können Sie anhand folgender Zahlen
selber ziehen: In Nordrhein-Westfalen beträgt der Zuwachs 8,2 Prozent, in Baden-Württemberg 7,3 Prozent,
in Bayern 9,2 Prozent, in Brandenburg, Bremen und
Rheinland-Pfalz 4 Prozent. Auch wenn einem das nicht
passt: Das sind die Fakten. Die Studierenden haben ein
gutes Gespür dafür, wo sie ernst genommen werden.
({18})
- Es wird überhaupt keine Studie zurückgehalten. Sie
wird dann veröffentlicht, wenn sie fertig ist.
({19})
In drei Wochen wird eine weitere Studie veröffentlicht.
Darin sind die Studierenden befragt worden, wie zufrieden sie sind und was ihnen wichtig ist. Das wird eine
wunderbare Debatte geben. Ich freue mich schon sehr
auf die Veröffentlichung.
({20})
Aus all dem können Sie ersehen, wie sehr die Studierenden spüren: In diesem Land ist etwas los,
({21})
hier bewegt sich etwas, hier wird investiert. Diejenigen,
die Verantwortung tragen, aber mit dieser Verantwortung
nicht fertig werden, sollten sich überlegen, was sie sagen.
({22})
Ich mag ja die Kollegen und Kolleginnen von den
Grünen sehr. Nur, die Schulreform in Hamburg ist für sie
jetzt zumindest ein Kommunikationsproblem. Ich sage
das einmal ganz vorsichtig: Das ist überhaupt noch nicht
vollendet. Man kann lange darüber diskutieren, warum.
Jedenfalls ist die Öffentlichkeit in Deutschland nicht von
jedem Satz, den ich unaufhörlich von Ihnen höre, überzeugt. Da haben Sie ein politisches Problem. So einfach
ist das.
({23})
Abschließend will ich sagen: Ich nehme die Studierenden ernst, sowohl im Sommer als auch heute.
({24})
Ernst nehmen heißt: auch widersprechen.
({25})
Ernst nehmen heißt: korrigieren. Die Korrekturen sind
beschlossen, und sie werden umgesetzt. Die Bundesregierung investiert 12 Milliarden Euro. Sie hat in der
letzten Legislaturperiode ungewöhnlich viel geholfen.
Liebe Frau Burchardt, wenn Sie mir da wieder mit der
Agentur und dem Bologna-Prozess kommen, kann ich
nur sagen: In der Tat, die rot-grüne Bundesregierung hat
diese Reform 1999 in Gang gesetzt.
({26})
Ich stehe dazu. Ich halte die Einführung für richtig. Aber
die Frage, wer welchen Pakt mit den Ländern umsetzt,
ist eine Frage der politischen Kunst. Es ist etwas anderes, ob ich als Bundesregierung den Eindruck erwecke,
dass ich unentwegt Reformen mache, die irgendwie gegen die Länder gerichtet sind, oder ob ich mit den Ländern gemeinsam Vorhaben wie den Hochschulpakt, die
Exzellenzinitiative und anderes umsetze.
({27})
Wir haben es umgesetzt, und Sie sind beim Bundesverfassungsgericht gescheitert. Das ist die Realität. Es waren nicht die B-Länder, sondern das Bundesverfassungsgericht.
({28})
Die Maßnahmen sind genannt worden: Weiterentwicklung des BAföG, nationales Stipendienprogramm,
Bildungssparen. So sieht eine Politik guter Balance aus.
({29})
Auf diese Weise machen wir deutlich, dass wir zu den
Studierenden stehen und zu der Aussage, dass für jeden
in dieser Gesellschaft gilt: Investition in Bildung lohnt
sich.
Vielen Dank.
({30})
Die Abgeordnete Daniela Kolbe hat das Wort für die
Fraktion der SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Vorgestern
zogen circa 10 000 Studierende anlässlich der Hoch438
Daniela Kolbe ({0})
schulrektorenkonferenz durch meine Heimatstadt Leipzig. Sie demonstrierten dort für mehr Qualität und gegen
Studiengebühren, gegen die Selektion, gegen die Selektivität in unserem deutschen Bildungssystem. In ausnahmslos jeder Rede waren diese beiden Punkte Thema:
Die Qualität der Bildung muss gesteigert werden, und es
darf keine Studiengebühren geben.
Ich weiß das, weil ich dort war; denn es war mir ein
Herzensanliegen, meine Solidarität mit den Studierenden
zu zeigen.
({1})
Ich teile ihre Auffassung, dass so manches in unserem
Bildungssystem, in den Schulen und in den Hochschulen, verkehrt läuft.
Bei den derzeitigen Protesten der Schülerinnen und
Schüler sowie der Studierenden geht es nicht um Detailfragen. Es geht um die ganz grundsätzliche Frage:
Welchen Stellenwert hat Bildung in unserer Gesellschaft? Geht es darum, Bildung in guter Qualität als
Menschenrecht für alle zur Verfügung zu stellen, oder
geht es nur darum, ausreichend Fachkräfte für die Wirtschaft und gute Bildung für manche zur Verfügung zu
stellen?
Sehr geehrte Frau Ministerin, die Menschen glauben
Ihnen nicht, dass Ihnen gute und gleichwertige Bildung
für alle ein Herzensanliegen ist.
({2})
Im Gegenteil: Mit Sorge betrachten viele Eltern und
viele Studierende die derzeitige Entwicklung hin zu Studiengebühren und zur Privatisierung von Bildung. Dabei
wäre es wichtig, gerade den Nichtakademikerfamilien
Sicherheit in Fragen der Studienfinanzierung zu geben
und ihnen ein gebührenfreies, diskriminierungsfreies
Studium zu ermöglichen.
({3})
Denn: Ob und wie viel Geld man für Bildung bezahlen muss, ist in vielen Familien ein extrem wichtiges
Thema. Eine Untersuchung des Institutes für Wirtschaftsforschung Halle von diesem Montag belegt - Sie
hatten vorhin gelacht -, dass mittlerweile immer mehr
junge Leute gerade aus einkommensschwachen Familien
in Länder ziehen, wo es keine Studiengebühren gibt.
({4})
Ich kann das aus meiner eigenen Biografie belegen.
Für mich war klar, dass ich studieren will. Meine Eltern
haben sich gefreut. Aber in die Freude mischte sich dann
die Sorge: Können wir uns zwei intelligente Kinder eigentlich leisten? Meine Großeltern waren da ein bisschen direkter und haben gefragt: Muss das denn sein?
Mach doch erst mal was Vernünftiges! Verdiene doch
erst mal Geld! Das waren ihre Fragen zu einer Zeit, in
der das BAföG sicher war und es keine Studiengebühren
gab. Verschulden fürs Studium - das wäre niemals infrage gekommen.
({5})
Was ist die Antwort der Frau Ministerin auf die Fragen solcher Familien? Die Antworten lauten: Studiengebühren: ja; BAföG: erst eher nein, dann vielleicht und
jetzt ganz ohne Zweifel ja;
({6})
BAföG-Erhöhung: erst nein, dann vielleicht und jetzt
aus vollem Herzen ja.
Statt den Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung
zu stärken, wollen Sie ein Stipendiensystem installieren.
Statt sich um Bildungschancen für alle zu kümmern, veranstalten Sie eine Lebenschancenlotterie. Sehr geehrte
Frau Ministerin, mit Lebenschancen spielt man nicht.
({7})
Anders als in einer fairen staatlichen Lotterie, bei der jedes Los die gleiche Chance auf einen Gewinn hat, sieht
es in diesem Stipendienspiel ganz anders aus. Wir alle
wissen doch, dass schon unser Schulsystem diejenigen
begünstigt, die aus Elternhäusern mit guter Bildung
stammen. Einkommensschwache, gegebenenfalls bildungsfernere Familien werden benachteiligt. Das heißt
aber eben auch, Menschen aus bildungsnahen Familien
haben eine größere Chance, ein Gewinnlos zu ziehen
und damit ein Stipendium zu erhalten.
Doch anstatt Ihren Stipendienvorschlag sozial gerechter zu gestalten oder zumindest zur Kenntnis zu nehmen,
dass die Selektivität in unserem Bildungssystem ein Problem ist, werden Sie diese Selektivität verschärfen. Wo
ist denn Ihr vehementer Widerstand gegen die Herdprämie, gegen das Betreuungsgeld?
({8})
Dieses Betreuungsgeld macht aus Kindern bildungsferner Familien bildungsferne Kinder. Für diese Kinder
rückt doch ein solches Stipendium schon vor dem Beginn der Schule in unerreichbare Ferne.
Was soll dieser Vorschlag zum Thema Bildungssparen? 1,7 Millionen Kindern, die auf Grundsicherung angewiesen sind, und ihren Familien wird doch schon von
vornherein signalisiert, dass sie sich an diesem Wettbewerb um beste Chancen auf Bildung erst gar nicht zu beteiligen brauchen.
({9})
Frau Schavan, auch wenn Sie dreimal behaupten, wie
Sie das in Ihrer Regierungserklärung und auch heute
getan haben, es habe der SPD geschadet, so auf der Kostenfreiheit zu bestehen, will ich sagen: Die Zehntausenden Studierenden draußen auf der Straße, in den RektoDaniela Kolbe ({10})
raten und in den Hörsälen geben uns recht. Es bleibt bei
der sozialdemokratischen Forderung: Kostenfreie Bildung von der Kita bis zum Master.
Vielen Dank.
({11})
Liebe Frau Kolbe, auch für Sie war dies die erste
Rede hier im Haus. Dazu herzlichen Glückwunsch von
uns allen und viel Erfolg bei Ihrer Arbeit im Parlament.
({0})
Der Kollege Patrick Meinhardt spricht jetzt für die
FDP-Fraktion.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Es ist immer richtig, wenn Schüler und
Studierende für ihre Interessen auf die Straßen gehen,
und es ist allemal richtig, dass wir im Deutschen Bundestag über den besten Weg im Hinblick auf die Grundlinien des zentralen Zukunftsthemas Bildung miteinander streiten, aber auf realistischer Grundlage. Schüler
und Studierende dürfen nicht wie hier vor den falschen
politischen Karren gespannt werden.
({0})
Wir sollten eine wirkliche Debatte darüber führen,
wie das Bildungsland Deutschland vorangebracht wird.
Es geht bei der Bildungsdebatte definitiv nicht um einen
Discountartikel nach dem Motto: billig, billiger, am billigsten. Es geht vielmehr um eine Qualitätsdebatte, darum, wie wir Bildung gut, besser und am besten gestalten. Das ist unsere Zielrichtung in dieser Debatte.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, geschätzte
Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, warum gehen gerade die Eltern in Berlin auf die Barrikaden
- die Ministerin hat darauf hingewiesen -, obwohl der
rot-rote Senat hier in Berlin das Füllhorn der Beitragsfreiheit ausschüttet, und warum haben die Streiks in
Brandenburg angefangen? Weil die Eltern sehen, dass
ihnen Sand in die Augen gestreut wird. Die Umfrage des
Landeselternausschusses war doch desaströs: 8 Prozent
der Eltern waren für einen Wegfall der Kita-Kosten,
92 Prozent wollten keine Beitragsfreiheit, sondern eine
Qualitätsverbesserung. Diese 92 Prozent haben recht.
({2})
Ich zitiere einmal eine gewisse Carola Bluhm - sie ist
momentan Sozialsenatorin; als sie am 23. Juli dieses
Jahres ihr Interview gegeben hat, war sie noch die Vorsitzende der Fraktion der Linken hier in Berlin -:
Wir würden das Geld lieber in die Qualität der Kitas
stecken. … Aber es ist schwierig, Wahlversprechen
rückgängig zu machen. Dann hätten wir ein Glaubwürdigkeitsproblem. Wenn wir es aber von Anfang
an anders gemacht hätten, hätten wir jetzt 50 Millionen Euro mehr für die Qualität der Kitas, für
mehr Personal, für eine bessere Erfüllung des Bildungsauftrags.
So schwer es mir als Liberalem fällt: Diese Abgeordnete der Linken, diese Senatorin hat recht. Mehr Qualität
in den Kitas, mehr Personal, eine bessere Erfüllung des
Bildungsauftrages und die Schaffung besserer Voraussetzungen, das ist das Thema. Aber es geht nicht darum,
dies kostenlos auf allen Ebenen zur Verfügung zu stellen.
({3})
Absolute Funkstille herrscht anscheinend bei allen,
wenn es um ein weiteres zentrales Thema unserer deutschen Bildungspolitik geht, um die berufliche Bildung.
Sie sagen immer, es solle überall Kostenfreiheit geben.
Aber keiner denkt darüber nach, wie viel die Ausbildung
eines Auszubildenden kostet und wie viel die Meisterausbildung - durchschnittlich 6 000 Euro; die Zahlen
des ZDH geben das her - kostet, die privat getragen
wird. Wir diskutieren in diesem Land immer so, als ob es
keine berufliche Bildung geben würde. Wer für Gleichwertigkeit ist, sollte auch an dieser Stelle redlich diskutieren und darauf hinweisen, dass hier ganz selbstverständlich Geld privat in die Hand genommen wird. Und
es gibt keine Streikbewegung; denn die Betroffenen sagen: Es ist gut, einen eigenen Beitrag zu leisten.
({4})
Eine ähnliche Debatte wird immer wieder über Studiengebühren geführt. Wir brauchen ein starkes BAföG;
wir brauchen intelligentes Bildungssparen, wir brauchen
ein nationales Stipendienprogramm. Dieser Dreiklang
- und nur dieser Dreiklang - kann und muss die Trendwende hin zu einem anderen Bewusstsein für lebenslanges Lernen bringen - und das ist in den nächsten vier
Jahren eine wichtige Voraussetzung für mehr Bildungsgerechtigkeit, der sich diese Bundesregierung verpflichtet fühlt.
({5})
Die FDP will starke Hochschulen, die selbstständig,
eigenständig und autonom mit Lehrenden und Studierenden entscheiden, ob und in welcher Höhe Studiengebühren bzw. Studienentgelte zu erheben sind. Das ist der
richtige Weg. Diese Entscheidung sollten wir den Hochschulen nicht wegnehmen. Wenn wir dort Autonomie
hinbekommen würden, wäre das der richtige Weg. Vor
Ort sollte entschieden werden: Ja oder nein, und, wenn
ja, in welcher Höhe Studiengebühren erhoben werden
sollten - nicht hier im Deutschen Bundestag.
({6})
Im Hinblick auf die Bildungsdebatte und das, was in
Berlin abläuft, erlauben sie mir zum Abschluss denjenigen zu Wort kommen zu lassen, der diese Problematik
wie kein anderer auf den Punkt bringt: Professor
Dr. Dieter Lenzen, Präsident der FU Berlin.
({7})
Er hat dem rot-roten Kabinett einiges ins Stammbuch geschrieben. Er stellt fest, dass es kein Vertrauen mehr in
die Planungssicherheit gibt. Er stellt fest, dass der Senat
den Hochschulen eine gegenseitige Kapitulationserklärung aufgedrückt hat. Er fühlt sich düpiert. Der Senat sei
kein seriöser Partner mehr. Die Ausbildung der Studierenden werde einen weiteren Qualitätsverlust hinnehmen
müssen, weil nur noch Quantität zähle. Wissenschaftssenator Zöllner hat - so Dr. Lenzen - ein völlig anderes
Verständnis von der Steuerung von Hochschulen als alle
Länder der Welt, abgesehen von China. Deswegen ist die
rot-rote Bildungspolitik zerstörerisch. - Das ist die
Realität roter Bildungspolitik vor Ort. Erzählen Sie uns
also nicht, wie Bildung besser organisiert werden soll.
({8})
Statt gebührenfreier Bildung für alle wollen wir die
beste Bildung für jeden. Das ist unsere Überzeugung.
Vielen Dank.
({9})
Die Kollegin Dr. Rosemarie Hein hat jetzt das Wort
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In einem sind sich die Streikenden in den Hochschulen
mit der Regierung tatsächlich einig: Um Bildungsarmut
den Kampf anzusagen, bedarf es einer nationalen Anstrengung. Die Studierenden leisten mit ihrem Streik gerade einen Beitrag dazu. Allerdings würden sie lieber gut
studieren können.
({0})
Herr Meinhardt, es wäre sehr schön gewesen, wenn
Sie beim Thema geblieben wären und darüber geredet
hätten, was die Studierenden bei ihrem Streik bewegt.
({1})
Es ist mitnichten so, dass die ersten Länder, in denen gestreikt wurde, Berlin und Brandenburg gewesen wären.
Zuerst wurde in Heidelberg und auch in Österreich gestreikt. Es war also auf jeden Fall woanders und nicht
dort, wo Sie es uns eben weismachen wollten.
({2})
Die Streikenden haben eine andere Vorstellung als die
Regierung davon, was nötig ist, um die extreme Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom sozialen Hintergrund
der Lernenden endlich zu beenden. Da können Sie uns
entgegenschleudern, was Sie wollen, Herr Kretschmer,
das bleibt auch so. Studienplätze müssen nämlich ausfinanziert werden. Das ist derzeit nicht der Fall.
Seit dem Bildungsgipfel 2008 gibt es eine Verständigung auf die ominösen 10 Prozent, 7 plus 3 heißt die
Formel. Das war nicht immer die einheitliche Meinung,
weder bei der CDU/CSU noch - meines Wissens - bei
der FDP.
In der Koalitionsvereinbarung steht nun, dass Bildung
zukünftig eine gesamtstaatliche Aufgabe sein soll. Es
wundert mich schon sehr, wie Sie diese staatliche Aufgabe definieren. In Ihrer Vereinbarung steht: Die Länder,
die Wirtschaft und die Privaten sollen ihre Beiträge auf
10 Prozent anheben. - Das ist sehr seltsam. 10 Prozent
wovon denn bitte? Seit wann sind Wirtschaft und Private
staatliche Einrichtungen? Das habe ich anders gelernt.
({3})
Ein Viertel aller Bildungsausgaben wird tatsächlich
durch Private geleistet. Nur sind damit eben nicht nur die
Unternehmen gemeint, die für die Fort- und Weiterbildung ihrer Beschäftigten aufkommen. Das wäre ja zu akzeptieren. Nein, hier geht es auch um die Mittel, die für
private Nachhilfe aufgewendet werden, und die sind inzwischen erheblich. Bei allem Respekt: Die massenhafte
Notwendigkeit von Nachhilfe ist ein Ausweis dafür, dass
das öffentliche Schulwesen seiner Aufgabe nicht mehr
gerecht werden kann. Das muss Ihnen zu denken geben.
({4})
Die Konsequenz, die die Regierung aus dieser Tatsache zieht, ist fatal. Mit der Betonung des privaten
Engagements für die Bildung soll - ich hätte fast gesagt:
durch die Hintertür; aber das stimmt nicht, das geschieht
ganz offen - eine weitere Privatisierung der Bildungskosten gesellschaftsfähig gemacht werden. Dieses Gesellschaftsfähigmachen heißt: Bildungssparen. Sie liegen sehr falsch, wenn Sie glauben, dass damit für mehr
soziale Gerechtigkeit gesorgt würde. Das Bildungssparen, das wurde hier schon gesagt, nutzt vor allem denen,
die sparen können. Wie viel Geld jemand auf die Seite
legen kann, hat etwas damit zu tun, wie viel er verdient.
Wer viel Geld hat, kann viel auf die Seite legen, wer
Hartz IV bekommt, nichts.
({5})
Das Kinderhilfswerk stellt in seinem jüngsten Kinderreport fest, dass sich die Zahl der von Armut betroffenen
Kinder inzwischen bei 3 Millionen einpendelt. Es sind
also nicht 1,7, 1,8 oder 2,5 Millionen, sondern 3 Millionen Betroffene. Denen ist mit Bildungssparen überhaupt
nicht geholfen, aber gerade die brauchen Hilfe.
({6})
Ihre Rechnung ist eine Milchmädchenrechnung. Mit
ganzen 12 Milliarden Euro, verteilt auf vier Jahre, wollen Sie die Peinlichkeit des völlig unterfinanzierten Bildungssystems in Deutschland kaschieren. Die Länder
bringen längst 50 Prozent aller Ausgaben für Bildung
auf. Der Bund hat im Jahr 2005 - aktuellere Zahlen sind
im Bildungsbericht leider nicht zu finden - gerade einmal 8,5 Prozent aufgebracht. Auch wenn Sie 3 Milliarden Euro jährlich drauflegen, hat das noch lange nichts
mit gesamtstaatlicher Verantwortung zu tun. In SachsenAnhalt, dem Land, aus dem ich komme, machen die
Ausgaben für Bildung und Forschung zusammen inzwischen 16 Prozent des Gesamtetats aus. Der entsprechende Einzelplan des Bundes liegt bei weniger als
5 Prozent. Frau Schavan, angesichts dessen ist Ihr Verweis auf die Länder gewagt. Sie rufen: „Haltet den
Dieb!“ und schauen dabei auf die Länder, obwohl der
Bund gefragt ist.
({7})
Die Föderalismusreform ist ein Flop. Das wissen Sie
wahrscheinlich schon längst. Ihr Bildungskonzept
schreibt die Entsolidarisierung der Gesellschaft fort, frei
nach dem Motto: Wenn jeder an sich denkt, ist auch an
jeden gedacht.
({8})
So wird es dabei bleiben, dass ein Akademikerkind eine
sechsmal höhere Chance hat, das Abitur zu machen, als
ein Kind aus einer Arbeiterfamilie. Selbstzufriedenheit,
wie Sie sie hier gerade demonstriert haben, ist da wirklich fehl am Platze.
({9})
Wir werden die Streikenden weiter unterstützen; wir
können sie gut verstehen. Wir werden sie darin bestärken, in ihrem Protest nicht nachzulassen, bis Vernunft in
die Politik einzieht. Doch ich habe die Befürchtung, dass
das noch eine ganze Weile dauern wird.
Danke schön.
({10})
Frau Dr. Hein, das war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Herzlichen Glückwunsch dazu! Alles Gute
für Sie und Ihre Arbeit!
({0})
Albert Rupprecht hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte
Herren! Der Vorwurf, die Bildungspolitik dieser Bundesregierung sei unsozial, ist abenteuerlich, absurd und
durch Fakten in keiner Weise zu bekräftigen.
({0})
Aus der Sicht anderer Länder, die diese Debatte verfolgen, stellt sich die Frage, ob das noch verhältnismäßig
ist. Es gibt wohl kaum ein Land, kaum einen Staat, der in
der Bildungspolitik sozialer ausgerichtet ist als die Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Die Bundesrepublik hat eine soziale Bildungspolitik.
({2})
Diese Bundesregierung ist Vorreiter und verfolgt eine
Bildungspolitik, die sozialer ist, als die einer jeden Bundesregierung davor es war.
({3})
Die wichtigsten Fakten noch einmal zur Erinnerung.
Die Bildung hat bei dieser Bundesregierung absolute
Priorität. Das wird an mehreren Zahlen deutlich. Künftig
werden in der Bundesrepublik Deutschland 10 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Forschung investiert werden. Das ist international absolute Spitze.
Wir erhöhen die Ausgaben für Bildung und Forschung in
dieser Legislaturperiode um sage und schreibe 12 Milliarden Euro; das entspricht gegenüber 2005 einer Verdoppelung des Etats. Das ist die größte Mittelsteigerung
bei einem Ressort in der Bundesrepublik Deutschland.
({4})
Der Bildungspakt ist eine Investition, von der insbesondere sozial schwache Familien profitieren. 275 000 zusätzliche Studienplätze bis 2015 - dadurch werden insbesondere sozial schwache Familien unterstützt. Mehr
Geld für jeden Studienplatz - auch dadurch werden insbesondere Studenten aus sozial schwachen Familien unterstützt. Es gibt noch vieles andere mehr.
Unser klares Ziel ist - das ist ein Riesenkraftakt -,
dass das Bildungssystem Deutschlands eines der besten
weltweit wird. Deswegen sind die Anliegen der Studenten, die derzeit protestieren, in der Tat berechtigt. Es ist
in der Tat notwendig, den Bologna-Prozess kritisch zu
begleiten, genau hinzuschauen und dort, wo Verbesserungen notwendig sind, diese nicht nur anzumahnen,
sondern auch umzusetzen.
({5})
Ich persönlich glaube zunehmend, dass wir den
Bologna-Prozess zwar nicht umkehren sollten, ihn aber
grundsätzlich hinterfragen müssen, wenn wir auch künftig das Ziel einer aufgeklärten und mündigen Gesellschaft verfolgen wollen.
({6})
Albert Rupprecht ({7})
Das gelingt aber nicht im Klassenkampf gegeneinander,
sondern nur im konstruktiven Gespräch miteinander. Wir
müssen gemeinsam mit den Studenten, den Ländern und
der Bundesregierung die Probleme bei den Hochschulen
anpacken.
({8})
Die Länder müssen in der Tat mitmachen. Beispielsweise hat das bayerische Kabinett vor wenigen Tagen
beschlossen, 500 Millionen Euro zusätzlich in Bildung
zu investieren. Die rot-rote Regierung in der Stadt Berlin
hingegen hat unter Wowereit genau das Gegenteil beschlossen: Die drei großen Universitäten bekommen
75 Millionen Euro weniger; 220 Professuren werden gestrichen, ganze Fachbereiche werden abgewickelt.
({9})
Es ist richtig, dass Sie von der Linken, der SPD und den
Grünen im Bundestag mehr Geld für Bildung und Forschung fordern; das ist unser gemeinsames Anliegen.
Wir erheben aber den Anspruch, dass Sie diese Forderung dort, wo Vertreter Ihrer Parteien regieren, mit Leben füllen.
({10})
Die Wirklichkeit spricht eine andere Sprache.
Wir stellen die Finanzierung des Studiums auf mehrere Füße. Wir erweitern das traditionelle BAföG um ein
Stipendienprogramm und fördern künftig Bildungssparen. Es macht doch Sinn, der Bildung auch im Bewusstsein der Eltern einen höheren Stellenwert zu geben.
({11})
Das bürgerliche Leitbild im Nachkriegsdeutschland war
die Aussage der Eltern: Meinen Kindern soll es einmal
besser gehen. - Sie haben gespart, um ihren Kindern
eine gute Zukunft und eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Damals haben Eltern für ihre Kinder etwas zurückgelegt, die wesentlich ärmer waren, als heute Hartz-IVEmpfänger sind.
({12})
Wenn wir zukünftig Eltern beim Bildungssparen einen
Zuschuss gewähren, dann eröffnen wir vor allem Kindern aus sozial schwachen Familien eine Chance, nicht
nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch weil dadurch
die Wertschätzung für Bildung als solche steigt und sie
in den Familien an Bedeutung gewinnt.
({13})
Darüber hinaus werden wir das BAföG, das traditionelle
und stärkste Standbein, ausbauen und damit insbesondere Jugendlichen aus sozial schwachen Familien ein
Studium ermöglichen.
Mit dem Dreiklang aus Bildungssparen, Stipendien
und einem höheren BAföG werden wir die finanzielle
Situation der Studenten verbessern. Wir ermöglichen
Chancengerechtigkeit. Wir wollen nicht alle gleichmachen; wir wollen aber, dass junge Menschen die Vielfalt
ihrer Fähigkeiten und Begabungen entwickeln können.
Natürlich erwarten wir auch einen eigenen Beitrag, eigene Anstrengungen. Ich glaube, es ist nicht zu viel verlangt, wenn junge Akademiker, die im Leben im Schnitt
120 000 Euro mehr verdienen als der Durchschnitt der
Bevölkerung, einen kleinen eigenen Beitrag leisten.
({14})
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Sofort. - Deswegen bin ich nicht der Meinung, dass
Bildung in jedem Fall kostenlos sein muss, ganz im Gegenteil. Es ist aber wichtig, dass jeder junge Mensch
unabhängig vom Geldbeutel der Eltern seine Talente entfalten kann. Genau das ermöglicht diese Bundesregierung besser als jede andere zuvor. Noch nie hat eine
Bundesregierung so viel Geld für Bildung in den Bundeshaushalt eingestellt, wie es diese Regierung plant.
Herr Kollege!
Das hilft an erster Stelle Kindern und Jugendlichen
aus ärmeren Familien.
Herzlichen Dank.
({0})
Swen Schulz hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schon seit
längerem gibt es Proteste, die Probleme sind ebenfalls
seit langem bekannt. Auch diese Aktuelle Stunde ist
nicht gerade überraschend auf die Tagesordnung des
Deutschen Bundestages gesetzt worden. Das wäre doch
die Stunde gewesen, in der die Regierungskoalition und
die Ministerin ihre Konzepte, Ideen und Vorschläge für
die Lösung der Probleme darstellen.
({0})
Nun habe ich die ganze Zeit zugehört.
({1})
Swen Schulz ({2})
Ich muss leider sagen: Fehlanzeige! Nichts Hilfreiches,
nichts Sinnvolles wurde gesagt. Stattdessen gab es von
der Ministerin erstaunlich dünnhäutige und beleidigte
Reaktionen auf Kritik.
({3})
Beim Kollegen Rupprecht bleibt einem ja schon die Spucke weg, wenn man sieht, wie er die Augen vor den Problemen verschließt.
Sie kommen hier immer wieder auf Berlin und Brandenburg zu sprechen.
({4})
Zwei Informationen dazu. In Berlin sind die Studierenden besonders aktiv; das hat Tradition, und das ist auch
ganz in Ordnung so. Wenn alle Bundesländer im Bildungswesen, gerade im Hochschulbereich, so viel tun
würden wie Berlin, dann hätten wir in Deutschland viele
Probleme, über die wir heute reden, nicht.
({5})
Zum Thema Brandenburg. Frau Schavan, dass ich Sie
da aufklären muss, ist schon verwunderlich. Wir hatten
dort bis vor kurzem neun Jahre lang eine Große Koalition. Wer war die zuständige Ministerin? Frau Wanka
von der CDU. So viel dazu.
({6})
Im Umgang mit den Studierenden, Frau Schavan, haben Sie Kreide gefressen. Vor einigen Monaten waren
sie Ihrer Meinung nach noch gestrig, das ginge doch gar
nicht. Inzwischen haben Sie Ihre Rhetorik geändert. Sie
haben sogar nach einigem Hin und Her eine BAföG-Erhöhung angekündigt. Das ist gut; die SPD unterstützt
das. Wir werden darauf achten, dass das auch vernünftig
abläuft.
({7})
- Ja, wir werden darauf achten. Verlassen Sie sich darauf!
Man muss ein Stück weit darauf achten, was mit den
angekündigten Instrumenten verbunden ist. Über Stipendiensysteme ist schon einiges gesagt worden. Auch das
Bildungssparen hört sich super an.
({8})
Die Bürgerinnen und Bürger finden es großartig, dass sie
vom Staat Geld geschenkt bekommen. Aber es ist ein
vergiftetes Geschenk. Man muss sich einmal überlegen,
was tatsächlich geschieht. Zum einen ist es so, dass nur
diejenigen Geld bekommen, die selber für die Kinder
Geld zur Seite legen wollen und können. Das schließt
viele aus. Damit verfestigen Sie eine Spaltung der Gesellschaft.
({9})
Vor allem aber schieben Sie die Lasten der Finanzierung
von Bildung ein Stück weit vom Staat auf die Familien,
auf die Einzelnen. Sie wollen sich für die Zuschüsse feiern lassen, dabei stehlen Sie sich aus der öffentlichen
Verantwortung für Bildung.
({10})
Sie betrachten Bildung als eine Ware, die man sich
leisten können muss. Wer sie sich nicht leisten kann, der
hat halt Pech gehabt. Ich will das an einem Beispiel festmachen: Für Hausaufgabenhilfe und Nachhilfe werden
jedes Jahr Milliarden ausgegeben. Viele können sich das
nicht leisten. Die Reaktion der Bundesregierung, der
politisch Verantwortlichen, kann doch nicht sein, einigen
ein bisschen mehr Geld zu geben, damit sie sich mehr
Hausaufgabenhilfe leisten können.
({11})
Vielmehr muss die Reaktion sein, dass die Schulen besser werden, damit die Pädagogen die entsprechende Unterstützung leisten können, damit sich niemand mehr
Bildung kaufen muss.
({12})
Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der Regierungskoalition und uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten: Für uns ist Bildung ein Menschenrecht.
Der Staat ist in der Verantwortung, dass dieses Recht
realisiert wird. Bildung darf nicht vom Geldbeutel abhängig sein. Dafür setzen wir uns ein.
({13})
Sie, Frau Schavan, sollten sich, statt Nebelkerzen zu
werfen, dafür einsetzen, dass es keine Kita-Gebühren
mehr in Deutschland gibt,
({14})
dass in den Schulen kein Büchergeld mehr erhoben wird
und dass keine Studiengebühren gefordert werden. Das
wäre tatsächlich ein Beitrag, der allen helfen würde. Das
ist ein vernünftigerer Schritt als Stipendiensysteme oder
das Bildungssparen.
({15})
So viel zum Bereich der sozialen Situation. Zum
Thema gehört aber natürlich auch der Bereich der Studiensituation. Die Zahl der Studienanfänger steigt. Umso
wichtiger ist es, dass wir die Situation verbessern. Dazu
hat die Regierung - auch das haben wir heute gehört keinen Plan, keine Idee. Da ist nichts. Sie haben nur den
Hochschulpakt, der ohne die SPD in der letzten Legislaturperiode gar nicht möglich gewesen wäre.
({16})
Swen Schulz ({17})
Was macht diese Regierungskoalition aus CDU/CSU
und FDP? Wir wollen einen Rechtsanspruch auf Masterstudiengänge. Was sagt die Bundesregierung? Wir haben
ein Konzept für gute Lehre. Wo ist hier die Bundesregierung? Wir haben einen Finanzierungsvorschlag. Was
macht die Bundesregierung? Die Regierungskoalition
klopft sich für Maßnahmen, die wir zum größten Teil
noch in der Großen Koalition verabredet haben, auf die
Schulter. Ansonsten hauen Sie den Ländern und Gemeinden, die die Hauptlast der Finanzierung von Bildung tragen, finanziell die Beine weg.
({18})
Etwa 15 Milliarden Euro zusätzlich müssten die Länder und Gemeinden für eine Verbesserung des Bildungswesens investieren. Diese Regierungskoalition hilft
nicht. Im Gegenteil: Sie erschwert die Situation noch,
indem irrsinnige Steuergeschenke gemacht werden.
15 Milliarden Euro werden den Ländern und Gemeinden
fehlen. Dieses Geld fehlt dann in den Kitas, in den Schulen, an den Hochschulen. Das ist eine Politik, die geradezu bildungsfeindlich ist.
({19})
Ich stelle die Frage: Wo ist die Bildungsministerin?
Frau Schavan, Sie sollten weniger Kreide fressen, sondern in der Bundesregierung die Zähne zeigen,
({20})
und zwar denen, die diese irrsinnigen Steuergeschenke
machen wollen. Das wäre ein vernünftiger Beitrag zu einer besseren Bildung in Deutschland.
Herzlichen Dank.
({21})
Anette Hübinger spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Heute haben wir wieder gemerkt: Das
Thema Bildung ist in aller Munde. Das ist gut so; denn
von einer guten Bildung hängt die Zukunft unseres Landes ab.
Ich möchte auf die Studentenproteste zurückkommen.
In den Mittelpunkt ihrer Proteste haben die Studierenden
die in vielen Bereichen schlechte Umsetzung des Bologna-Reformprozesses gestellt, und das zu Recht. Wir
in diesem Haus haben die Reform der Reform schon seit
mehreren Jahren, seit der Konferenz in London, eingefordert. Bei aller berechtigten Kritik: Der Bologna-Prozess darf dabei nicht infrage gestellt werden. Die Hochschulkonferenz stellte dazu vorgestern in Leipzig
treffend fest: Die Bologna-Reform ist unumkehrbar.
Ähnlich verhält es sich beim Thema Studiengebühren. Studiengebühren dürfen nicht von vornherein verteufelt werden. Auch hier kommt es auf die praktische
Umsetzung an.
({0})
Auch Studierende mit kleinem Geldbeutel müssen in der
Lage sein, ihren Beitrag zugunsten ihres Studiums und
ihrer Universität zu leisten; denn die Studierenden von
heute sind die gut verdienenden Akademiker von morgen.
({1})
Das Wohl und Wehe der Studierenden an unseren Universitäten hängt nicht vom gebührenfreien Studium ab,
sondern von einer praktikablen Umsetzung des BolognaProzesses. Diese hat nämlich grundlegende Auswirkungen auf die Berufschancen unserer Studierenden.
({2})
Des Weiteren werden in der aktuellen Diskussion nur
zu oft die falschen Adressaten angesprochen. Speziell
zum Thema „gebührenfreies Studium“ muss klargestellt
werden: Das Ob und das Wie der Studiengebühren liegen allein in den Händen der Bundesländer.
({3})
Eigentlich sollten Sie das wissen, werte Kolleginnen und
Kollegen; denn auch Ihnen müsste das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum 6. Hochschulrahmengesetz
bekannt sein.
In einigen Bundesländern hat man sich gegen die Erhebung von Studiengebühren ausgesprochen, in anderen
für ihre Abschaffung. Ein aktuelles Beispiel für ein Bundesland, in dem man sich für die Abschaffung von Studiengebühren entschieden hat, ist mein eigenes Heimatland, das Saarland. Ich empfinde dies als den falschen
Weg. Ich kann mich der grundsätzlichen Einschätzung
von Frau Professor Wintermantel, der Präsidentin der
Hochschulkonferenz, anschließen: Dort, wo Studienbeiträge erhoben wurden, sind sie zum größten Teil zur qualitativen Verbesserung der Lehre eingesetzt.
({4})
Darauf kommt es an: auf die Qualität.
({5})
Jetzt muss auch im Saarland zur Kenntnis genommen
werden, dass alle Steuerzahler zum großen Teil die Ausbildung der zukünftigen - wie schon gesagt: gut verdienenden - Akademiker bezahlen müssen. Eine gerechte
Lastenverteilung sieht in meinen Augen anders aus.
Unser Ziel muss es sein, die staatliche Unterstützung
für Studierende zu verbessern. Bereits in der zurückliegenden Legislaturperiode wurden Verbesserungen auf
den Weg gebracht, und zwar Verbesserungen, die der
Bund vornehmen kann. So sind die Mittel der Begabtenförderung in den vergangenen vier Jahren kontinuierlich
gestiegen. Im Rahmen der Qualifizierungsstrategie haben wir die sogenannten Aufstiegsstipendien eingeführt.
Zum Wintersemester 2008/2009 wurden das BAföG um
10 Prozent und die Freibeträge für das anrechenbare Einkommen um 8 Prozent angehoben.
Die von der Bundesbildungsministerin Professor
Dr. Annette Schavan angekündigte BAföG-Erhöhung ist
deshalb im Zusammenhang mit dem angestrebten und
geplanten nationalen Stipendienprogramm und dem Vorschlag der Einführung eines Bildungskontos zu verstehen. Die geplante BAföG-Erhöhung wird zweifelsfrei
für mehr soziale Durchlässigkeit an den deutschen
Hochschulen sorgen und von vielen Studierenden den
Druck nehmen, zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts
neben dem Studium einen Job ausüben zu müssen.
Als zweite Säule unserer Bemühungen werden wir
- auch das wurde schon öfter erwähnt - begabten Studierenden ein Stipendium zukommen lassen.
({6})
Ziel ist es, den Anteil der Studenten in der Begabtenförderung von 2 auf 10 Prozent zu erhöhen. Auch das ist
ein lohnendes Ziel.
({7})
Als dritte Säule haben wir in unserem Koalitionsvertrag die Einführung eines Bildungskontos für Neugeborene festgeschrieben. Es ist eine Starteinlage in Höhe
von 150 Euro geplant. Weitere Einzahlungen sollen in
Anlehnung an die Riester-Rente steuerlich begünstigt
werden. Das ist ein Anreiz zum Sparen. Wenn ich an
meinen anderen Politikbereich, die Entwicklungspolitik,
erinnern darf: In der Entwicklungspolitik arbeiten wir
grundsätzlich mit Anreizsystemen, und wir haben gute
Erfahrungen damit gemacht. Solche Anreizsysteme sollten wir auch hier nutzen.
({8})
Damit wird auch dem Anspruch auf lebenslanges Lernen
Rechnung getragen; denn Bildung gibt es nicht ein Leben lang kostenlos. Jeder trägt in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung wie der unseren auch ein Stück Eigenverantwortung für seine Bildung und damit für seine
Chancen im Leben.
({9})
Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, dass die
Situation der Studierenden von der Koalition ernst genommen wird. Die Weiterentwicklung der vorhandenen
Instrumente in Kombination mit neuen Ansätzen wie
dem Bildungskonto wird die Rahmenbedingungen der
Studierenden verbessern und stärken. Populistische Forderungen - noch dazu an die falsche Stelle - sind hier
nicht angebracht.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({10})
Die Kollegin Monika Grütters hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Schulz, Sie sagen, dass die Debatte nicht überraschend kommt. Als dreizehnte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde sage ich: Dass wir allein in diesem Jahr
zum zweiten Mal eine so große Bildungsdebatte führen,
ist doch sehr beachtlich. Ich finde es auch beachtlich,
dass das ein Ergebnis der Studentenproteste ist; das muss
ich sagen. Der Bundestag muss sich also keineswegs
verstecken.
({0})
Der Tenor der Reaktion hat sich deutlich geändert.
Wir hören allenthalben, dass sich etwas ändern muss,
dass die Reformen nicht gut durchgeführt sind. An die
Adresse der Studierenden gerichtet sage ich: Das haben
Sie richtig gemacht, und wir sind auch bei Ihnen.
Aber es lohnt sich, richtig hinzuschauen und richtig
hinzuhören, Frau Kollegin Gohlke. Nehmen wir einmal
Ihren Aufreger, die Studiengebühren. Keiner bestreitet,
dass Studiengebühren für Einzelne tatsächlich ein
Hemmnis sind, ein Studium aufzunehmen.
({1})
Aber Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass Studiengebühren für genau so viele Menschen in Deutschland kein
Hindernis darstellen.
({2})
Es gibt keinen signifikanten Zusammenhang zwischen
der Erhebung von Studiengebühren und der Zahl der Immatrikulationen an dieser Hochschule.
({3})
Im Gegenteil: In Baden-Württemberg, in Hamburg, im
Saarland, wo Studiengebühren erhoben werden, steigt
die Zahl der Studierenden, während sie in anderen Bundesländern - übrigens insbesondere in den neuen Bundesländern - zurückgeht.
Ein zweiter Befund, der uns alle - auch Sie - etwas
angeht: In den neuen Bundesländern bleiben viele Kapazitäten frei, während die Großstädte und viele Studienorte in den alten Bundesländern von Studierenden
geradezu überschwemmt werden. Die Studierenden beschweren sich über schlechte Bedingungen. Wenn es uns
allen gelingen würde, statt die Situation zu beklagen dafür zu sorgen, dass sich die Studierenden anders vertei446
len, und für die neuen Bundesländer viel mehr zu werben,
({4})
bekämen sehr viele Studierende wesentlich bessere Studienbedingungen.
Ja, Frau Gohlke: Bildung ist ein Menschenrecht. Aber
wenn Herr Gehring prompt erklärt, wir hätten in
Deutschland ein Ständedenken, muss ich Sie daran erinnern, dass von den 2 Millionen Studierenden immerhin
41 Prozent BAföG bekommen. Insofern geht Ihre Polemik an der Realität vorbei.
({5})
Frau Kolbe hat gesagt: Bildung für alle! - Irgendeine
„Bildung für alle“ zu fordern, finde ich sehr problematisch. Macht es nicht viel mehr Sinn, jedem seine Bildung zu ermöglichen?
({6})
Nicht zuletzt solche Differenzierungsmöglichkeiten waren ein wesentlicher Anstoß für die Zweiteilung des Studiums mit der Einführung eines ersten berufsbefähigenden Abschlusses im Rahmen der Bologna-Reform.
Übrigens: Das einzige Ziel, das wirklich erreicht worden
ist, ist, die Studienabbrecherquote signifikant zu senken.
Die Differenzierungen müssen sein. Manche Professoren
haben sich nichts Besseres einfallen lassen, als das Wissen von neun Semestern in sechs Semestern zu lehren.
Hier hätte ich mir mehr Fantasie gewünscht. Aber zumindest eines der Ziele, nämlich die Abbrecherquote zu
senken, ist beim jetzigen Stand der Reform erreicht worden.
({7})
Außerdem möchte ich Ihnen an dieser Stelle eine
Frage stellen, Frau Gohlke. Die Arbeitswelt hat in den
vergangenen Jahren eine beispiellose Verdichtung erlebt.
Das ist unter anderem am Produktivitätsfortschritt ablesbar. Ein Großteil der Menschen in unserem Land arbeitet
und lernt bereits jetzt viel mehr, schneller und intensiver
als zuvor. Ist es wirklich so schlimm, das auch von Studierenden zu erwarten und das auch auf das Studium zu
übertragen?
({8})
Im Übrigen: Der Hinweis, es gebe nicht genug Masterstudienplätze, ist schlichtweg falsch. Gerade Masterstudienplätze bleiben an ganz vielen Hochschulen leer.
({9})
Die Jobaussichten für Bachelorabsolventen haben sich
gegenüber den ersten zwei Jahren deutlich verbessert.
Die Kritik der Wirtschaft hat sich inzwischen zu einem
regelrechten Bachelor-Welcome gewandelt.
Ich finde, in den Protesten drückt sich auch konstruktive Kritik der Betroffenen aus. Es hat viele Änderungen
gegeben. Wir wollen weiter einen intensiven Dialog. Die
bildungspolitischen Grabenkämpfe jedenfalls sind vorbei. Wir brauchen eine Reformstufe zwei, mit der die
Kinderkrankheiten geheilt werden.
({10})
Herr Gehring, ich finde, wir haben mit dem Hochschulpakt, den wir mit den Ländern vom Sonnendeck
des Bundes herab ausgehandelt haben,
({11})
mit der Exzellenzinitiative und mit einem Bildungsetat,
der nie so hoch war wie in der letzten Legislaturperiode
- jetzt gibt es noch einmal 12 Milliarden Euro mehr -,
einen intelligenten Weg gefunden, mit dem Kooperationsverbot umzugehen. So soll das auch weiterhin sein.
Die ritualisierte Aufregung überlassen wir lieber der Opposition.
Vielen Dank.
({12})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon ({0}) auf Grundlage der Resolution 1701 ({1}) vom 11. August 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt
1884 ({2}) vom 27. August 2009 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/40 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, hierzu
eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat der Außenminister, Dr. Guido
Westerwelle.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Für die Bundesregierung bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte
an UNIFIL, der Operation der Vereinten Nationen im Libanon und vor seiner Küste.
({0})
Ich tue das als jemand, der vor drei Jahren in diesem
Hause gegen eine deutsche Beteiligung an dieser Mission gestimmt hat - wohlgemerkt: nicht gegen die Mission selbst. Jede Bundesregierung steht in der Verantwortung des Handelns auch ihrer Vorgängerregierungen.
Zu Beginn einer neuen Amtszeit gilt das selbstverständlich auch in der Außenpolitik. Das ist kein Makel, das ist
eine Stärke. Darauf gründet die Kontinuität, die die deutsche Außenpolitik so erfolgreich gemacht hat. Damit gar
kein Zweifel aufkommt: Zu den Vereinbarungen, die in
Ihrer Amtszeit getroffen worden sind, steht selbstverständlich auch die neue Bundesregierung, auch meine
Person als Außenminister.
Es ist die Kontinuität in der Außenpolitik, die die
Bundesrepublik Deutschland zu einem verlässlichen
Bündnispartner für die internationale Staatengemeinschaft gemacht hat. Kontinuität bedeutet aber nicht ein
schlichtes Weiter-so. Deshalb wird die Bundesregierung
die Zahl der maximal einzusetzenden Soldatinnen und
Soldaten von 1 200 auf 800 reduzieren und den UNIFILEinsatz bis zum 30. Juni des kommenden Jahres befristen.
Deutschland hat ein strategisches Interesse an einem
dauerhaften Frieden im Nahen Osten. Wie schwierig das
ist, das wissen Sie; das wissen alle. Ich habe es insbesondere bei meiner gerade stattgefundenen Reise im Nahen
Osten noch einmal persönlich sehr in den Gesprächen
spüren können.
Wir haben eine Resolution, nämlich die Resolution
1701 aus dem Jahr 2006. Das ist ein wesentliches Element zur Vermeidung erneuter bewaffneter Auseinandersetzungen und zur Stärkung der Souveränität und Stabilität des Libanon. Dies zählt neben der Sicherheit für
den Staat Israel und der Schaffung eines lebensfähigen
palästinensischen Staates zu den Schlüsselelementen einer regionalen Friedenslösung. Diese regionale Friedenslösung bleibt unser übergeordnetes Ziel.
Weil wir durch die Erklärung von Ministerpräsident
Netanjahu einen aktuellen Anlass haben und weil diese
Erklärung wenige Stunden nach meiner Reise und meinem Antrittsbesuch in Israel und in den palästinensischen Gebieten in Ramallah abgegeben worden ist,
möchte ich auch dazu etwas sagen. Das ist für uns alle,
denke ich, Staatsräson: Wir haben als Deutsche ein
besonderes Verhältnis und eine besondere Partnerschaft
zu dem Staat Israel. Daran gibt es nichts zu rütteln. Wir
haben eine besondere Verantwortung, übrigens nicht nur
aus historischen Gründen, sondern auch aus Gründen der
Gegenwart und unserer gemeinsamen Zukunft.
Das bedeutet aber nicht, dass Meinungsunterschiede
nicht ausgesprochen werden könnten. Wir in Deutschland bleiben dabei: Wir wollen eine Zwei-StaatenLösung. Auf der einen Seite hat Israel unzweifelhaft das
Recht, in sicheren Grenzen leben zu können. Auf der anderen Seite haben aber auch die Palästinenser das Recht
auf einen eigenen Staat. Es bleibt bei der Roadmap von
2003. Das heißt, es bleibt bei unserer Haltung in
Deutschland wie in der internationalen Staatengemeinschaft insgesamt, dass die Siedlungspolitik eingefroren
werden muss. Das ist nicht nur die deutsche Haltung; das
ist die Haltung der internationalen Gemeinschaft insgesamt.
({1})
Die jüngsten Ankündigungen sind ein wichtiger erster
Schritt. Sie könnten Bewegung in die Siedlungsfrage
bringen. Entscheidend ist, dass die Parteien nun rasch
den Weg in direkte Verhandlungen finden.
Zurück zum eigentlichen Mandat: Die Befähigung der
libanesischen Streitkräfte zur eigenständigen Aufgabenerfüllung spielt dabei eine zentrale Rolle. Deshalb hat
Deutschland im Rahmen von UNIFIL von Anfang an
zwei Handlungsstränge verfolgt: die Überwachung der
Seegrenzen und die Unterstützung der libanesischen Marine zum Aufbau eigener Fähigkeiten. Dies versetzt die libanesische Marine zunehmend in die Lage, die Küste und
territorialen Gewässer des Landes selbstständig zu überwachen.
In Zukunft werden die bilateralen Ausbildungs- und
Ausrüstungsmaßnahmen noch an Bedeutung gewinnen.
Vor diesem Hintergrund soll das Mandat verlängert werden. Der Einsatz der Bundeswehr vor Ort ist eingebettet
in das umfassende Engagement der Bundesregierung für
den Libanon und die Region. Wir beraten die zuständigen libanesischen Behörden in Fragen der Grenzsicherheit und bei der Aus- und Fortbildung von Zollpersonal.
Beim innerlibanesischen nationalen Dialog, der Antworten auf die militärischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen des Landes finden soll,
tragen von der Bundesregierung finanzierte Berater zum
Gelingen bei. Damit wir uns nicht missverstehen: Das ist
kein Engagement und Verdienst der neuen Bundesregierung, sondern das ist Ausfluss der Kontinuität bisheriger
Außenpolitik.
Mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit und
der zivilen Krisenprävention helfen wir, die Lebensbedingungen palästinensischer Flüchtlinge zu verbessern.
Im Rahmen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit unterstützen wir die libanesische Regierung beim
Wiederaufbau. Wir leisten darüber hinaus entsprechende
Unterstützung bei Ausbildungs- und Ausrüstungsmaßnahmen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, zum Schluss: Diese Anstrengungen zur Stärkung der Souveränität und Stabilität des Libanon zeigen
erste Erfolge. Die Parlamentswahlen am 7. Juni dieses
Jahres und die Bildung einer neuen Regierung waren
wichtige Schritte in die richtige Richtung. Es geht jetzt
darum, dass alle Kräfte im Libanon den eingeschlagenen
Weg des Dialogs verantwortungsvoll und mutig fortsetzen, um die großen Herausforderungen zu bewältigen,
vor denen das Land steht. Gemeinsam mit unseren Partnern werden wir den Libanon auf diesem Weg unterstützen, um einer regionalen Friedenslösung näherzukom448
men. Die deutsche Beteiligung an UNIFIL soll noch bis
zum Sommer nächsten Jahres dazu beitragen. Ich denke,
das ist Kontinuität, aber zugleich auch die Erkenntnis
der entsprechenden Entwicklungen.
Deswegen bitte ich um Zustimmung zu dem Antrag
der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort Kollegen Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Verteidigungsminister, Sie haben in den letzten Tagen und
Wochen notwendige sicherheitspolitische Debatten angestoßen. Aber Sie waren manchmal, glaube ich, relativ
voreilig oder sind über das Ziel hinausgeschossen. Ich
möchte Sie zitieren, als Sie in Washington über die Auslandseinsätze gesprochen haben: „Was heute eine Ausnahmesituation ist, muss zur Selbstverständlichkeit werden.“ Herr Verteidigungsminister, ich sage Ihnen für die
SPD-Fraktion: Auslandseinsätze sind für uns keine
Selbstverständlichkeit. Sie stellen eine Ausnahme in
Momenten dar, in denen die Sicherheit nicht anders hergestellt werden kann und Diplomatie und Prävention
versagt haben. Das ist die Schlussfolgerung, die wir Sozialdemokraten in der Regierung in den letzten Jahren
verantwortungsvoll mitgetragen haben. Das leitet sich
auch aus der Charta der Vereinten Nationen ab.
({0})
Ich halte Ihre Auffassung für fatal. Die Außenpolitik
Deutschlands wird nicht dadurch normaler, dass man
sich auf das Militärische bezieht, im Gegenteil. Ich
glaube, die Schlussfolgerungen aus der historischen Verantwortung Deutschlands müssen andere sein. Ein Verteidigungsminister, der sagt, dass es sich bei Auslandseinsätzen nicht um eine Ausnahmesituation, sondern um
eine Selbstverständlichkeit handele, muss natürlich sicherstellen, dass die Bundeswehr für alle Auslandseinsätze ausreichend gerüstet ist und insbesondere für eine
entsprechende psychologische Begleitung der Soldatinnen und Soldaten, die wir in Auslandseinsätze schicken,
sorgen.
Ich sage Ihnen als Abgeordneter - ich glaube, ich
spreche hier für das gesamte Haus -: Auslandseinsätze
sind eine Gewissensentscheidung. Sie können für den
einzelnen Abgeordneten nicht zu einer Selbstverständlichkeit werden. Das wird nach meinem Dafürhalten zumindest für meine Fraktion auch in Zukunft so sein.
({1})
Bei der damaligen Abstimmung über den UNIFILEinsatz haben wir uns gefragt: Können wir diesen Einsatz verantworten? Meine Fraktion ist damals mehrheitlich zu der Schlussfolgerung gekommen - im Gegensatz
zum Kollegen Westerwelle, der Oppositionsführer
war -, UNIFIL zu unterstützen, weil es sich hier um verantwortungsvolle Politik im Nahen Osten handelt. Die
SPD-Bundestagsfraktion steht mehrheitlich weiterhin zu
diesem Einsatz.
Herr Kollege Westerwelle, Sie waren damals gegen
diesen Einsatz.
({2})
Ich kann mich noch gut an die Debatte von vor drei Jahren erinnern. Ich glaube, es war Ihrem innenpolitischen
Tunnelblick gegenüber der damaligen Regierung geschuldet, dass Sie gesagt haben: Wir schicken im Rahmen dieses Mandates keine deutschen Soldaten. - Ich
habe das damals für falsch gehalten. Jetzt stehlen Sie
sich aus der Verantwortung, die Sie übernommen haben,
({3})
indem Sie plötzlich sagen. Ja, wir machen das, und zwar
bis zum 30. Juni 2010. - Aber das ist ein willkürlicher
Termin; denn erst im September nächsten Jahres wird
der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wieder über
die Verlängerung entscheiden. Was Sie machen, weicht
von der bewährten Praxis aller Vorgängerregierungen ab.
Das ist keine Kontinuität. Sie stehlen sich aufgrund Ihrer
früheren Haltung, die jetzt nur noch mit Ihrer damaligen
innenpolitischen Blickrichtung nachvollziehbar ist, aus
der Verantwortung. Ich zumindest glaube, Sie drücken
sich um eine klare Entscheidung. Sie überantworten dem
Bundestag nur die Zustimmung zu einem halben Mandat. Das wird der Aufgabe der Bundesregierung und der
Aufgabe eines Außenministers, der in der Kontinuität
stehen will, nicht gerecht.
({4})
Ich kann mich auch an die Debatte erinnern, als die
Bundeskanzlerin hier vor drei Jahren erklärt hat, dass
sich die Bundesregierung an UNIFIL beteiligen wolle,
weil es dabei um die Sicherheit Israels gehe. Alleine mit
der Begründung, UNIFIL diene der Sicherung israelischer Interessen im Nahen Osten, hat sich damals die
Bundeskanzlerin bereit erklärt, an UNIFIL teilzunehmen. Ich frage die Bundesregierung: Erlischt diese Verpflichtung am 30. Juni 2010? Warum erlischt sie nicht
am 2. Juli 2010? Können wir dieses Datum wirklich so
setzen, wie Sie das gemacht haben? Ich glaube, dabei ist
Willkür im Spiel.
Mich interessiert, ob Sie vor wenigen Tagen mit den
israelischen Kolleginnen und Kollegen möglicherweise
über diese Frage gesprochen haben. Wir zumindest hören aus Israel, dass es dort Fragen und Verunsicherung
gibt, und zwar zu Recht. Israel hat erkannt, dass das
UNIFIL-Mandat ein gutes Mandat gewesen ist, dass es
Israel in dieser Situation geholfen hat, den brüchigen
Waffenstillstand zwischen dem Libanon und Israel zu sichern. Auch gegenüber dem Libanon war das ein ganz
wichtiges Mandat gewesen. Sie übergehen das und werden insbesondere der Verpflichtung, die die Bundeskanzlerin noch vor kurzem im US-amerikanischen KonDr. Rolf Mützenich
gress ausgesprochen hat, mit dem hier vorgelegten
Antrag nicht gerecht.
({5})
Herr Außenminister, Sie sind mit den Worten angetreten: Ich arbeite im Sinne der europäischen Partner. Wir
haben das immer unterstützt; das habe ich hier auch vor
14 Tagen erklärt. Aber was sagen Sie denn eigentlich in
Italien, Spanien, Frankreich und Belgien? Haben Sie gesagt, dass unser Einsatz am 30. Juni 2010 endet? Haben
Sie in Paris erklärt, dass dann die Franzosen mehr Soldaten schicken müssen? Diese entscheidenden Fragen
müssen Sie im Zusammenhang mit einer glaubwürdigen
Außenpolitik gegenüber den europäischen Partnern klären. Das haben Sie heute nach meinem Dafürhalten nicht
getan.
Ich will Ihnen eines sagen: Für uns - deswegen habe
ich das an den Anfang gestellt - müssen Auslandseinsätze immer in eine politische Strategie eingebettet sein.
Wir haben damals dem UNIFIL-Mandat zugestimmt,
weil wir es als Chance gegenüber dem Staate Libanon
gesehen haben, ihm Integrität und Souveränität zu signalisieren. Israel hat die Seeblockade aufgehoben. Es hat
damals ganz wichtige Entwicklungen gegeben, zum Beispiel als der damalige Außenminister Steinmeier die Tür
nach Syrien etwas weiter aufgestoßen hat. Das hat geholfen, dass es Botschafteraustausche zwischen dem Libanon und Syrien gegeben hat. Ich finde, das sind hervorragende Fortschritte, die wir jetzt nicht einfach aufs
Spiel setzen dürfen, insbesondere wenn es um UNIFIL
geht.
({6})
Ich erinnere an Folgendes: Auch die arabischen Staaten und Regierungen haben erkannt, dass Syrien ein
ganz wichtiger Partner ist. Der saudi-arabische König
hat alles daran gesetzt, mit dem syrischen Präsidenten
Assad zu einem zumindest pfleglicheren Umgang zu
kommen, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen
ist. Gerade gegenüber dem Libanon wäre es wichtig,
dass sich Deutschland klar für ein Mandat ausspricht,
um diese Politik im Nahen Osten zu unterstützen. Ich
habe gesagt: Insbesondere Israel wird eine Menge Fragen stellen, wenn ihm klar wird, dass dieses Mandat für
uns am 30. Juni 2010 endet.
Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Die Bundesregierung hat mit diesem Antrag schlecht gearbeitet. Ihr
Antrag wird den außenpolitischen Herausforderungen
nur unvollkommen gerecht. Sie ziehen auch nicht die
richtigen Schlussfolgerungen. In Ihrem eigenen Antrag
steht, dass UNIFIL bisher „ein wesentlicher Stabilisierungsfaktor“ für das gesamte Umfeld, aber gerade auch
für den Libanon gewesen ist. Deswegen wäre es besser
gewesen, Sie hätten gesagt: Wir müssen das UNIFILMandat weiter wahrnehmen, auch aus Respekt gegenüber dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Zudem
hätten Sie deutlich sagen müssen: Wir unterstützen die
libanesische Regierung.
Das ist eine neue Regierung. Es ist ein Wagnis, das in
diesem Land eingegangen worden ist. Ich glaube, wir
sind das dem Libanon schuldig, der damals ein Failing
State gewesen ist. Die Libanesen versuchen, sich wieder
aus diesem Sumpf zu befreien und alles zu offerieren,
dass Deutschland in dieser sehr schwierigen Situation
hilft. Deswegen wäre ein klares und deutlicheres Signal
besser als eine willkürliche Befristung gewesen.
Zum anderen - das ist meine Bitte an Sie -: Wenn Sie
in der Kontinuität der deutschen Außenpolitik aller Vorgängerregierungen stehen, dann kümmern Sie sich stärker um Syrien! Versuchen Sie, Syrien stärker am Friedensprozess im Nahen Osten zu beteiligen, Syrien
stärker zu integrieren. Da muss man sich vielleicht gegen die Kanzlerin durchsetzen. Das hat der frühere Außenminister Frank-Walter Steinmeier getan. Ich glaube,
es wäre gut, insbesondere die türkische Regierung in
dieser schwierigen Situation, in der sie sich sowohl gegenüber Israel als auch gegenüber dem Iran und dem gesamten Umfeld befindet, durch wichtige Beiträge zu unterstützen. UNIFIL wäre das richtige außenpolitische
Instrument gewesen.
({7})
Deshalb: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen zum Mandat für UNIFIL. Der Sicherheitsrat hat einen klaren Beschluss gefasst. Ich bitte Sie, Ihren
Antrag nachzubessern. Versuchen Sie das in den Beratungen im Auswärtigen Ausschuss und im Verteidigungsausschuss. Ich sehe konstruktiven Gesprächen mit
meiner Fraktion entgegen.
Vielen Dank.
({8})
Als Nächstem erteile ich das Wort Bundesminister
Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine
Herren! Kollege Mützenich, das war ein in vielerlei Hinsicht interessanter Beitrag, um es einmal so auszudrücken,
({0})
aber ein nicht immer nur schlüssiger. Ich will auf die
Punkte eingehen, die Sie bezüglich meiner Person angesprochen haben und die die Auslandseinsätze anbelangen.
Armee im Einsatz: Ich glaube, es ist unbestritten, dass
es sich um eine Armee im Einsatz handelt.
({1})
Ich selbst gehe sehr vorsichtig mit den Begriffen
„Ausnahmesituation“ und „Selbstverständlichkeit“ um.
Selbstverständlichkeit hat sich immer am Maßstab der
hohen, ja, der höchsten Verantwortung auszurichten, die
wir gerade in diesem Zusammenhang tragen. Ich warne
nur davor, dass es zur Selbstverständlichkeit wird, dass
man verdruckst damit umgeht, dass wir eine Armee im
Auslandseinsatz seit Mitte der 90er-Jahre haben.
({2})
Man sollte deutlich machen, dass sich in vielerlei Hinsicht einiges in den letzten Jahren verändert hat. Ich lege
diesen Maßstab der Verantwortung an. Keiner macht es
sich leicht. Ich habe das heute Morgen anlässlich der Debatte über die Verlängerung des ISAF-Mandats schon
einmal gesagt. Keiner macht es sich mit seiner Entscheidung leicht, weder die Bundesregierung noch irgendeiner hier in diesem Hohen Hause. Vor diesem Hintergrund kann man den Ansatz der Gewissensentscheidung
sofort unterschreiben; aber in diesem Sinne bitte ich das
verstanden zu wissen. Das heißt in diesem Zusammenhang, natürlich eine optimale Ausrüstung zur Verfügung
zu stellen. Die psychologische Begleitung und Betreuung ist ein großes Thema, ein diffiziles Thema. Auch das
ist etwas, was uns in besonderer Weise trifft. Ich hoffe
hier auf die entsprechende Unterstützung der Opposition, weil im Zusammenhang mit der Ausrüstung sofort
wieder andere Debatten losgehen und man sich bequem
in die eine oder andere Richtung schlagen könnte.
Sie haben den Vorwurf der Willkür, was den Zeitraum
dieses Mandats anbelangt, erhoben. Ich bitte Sie, zwei
Dinge in Betracht zu ziehen. Der eine Punkt ist, dass wir
im Frühjahr eine Evaluierung seitens der Vereinten Nationen haben werden. Es ist absehbar, dass diese Evaluierung in eine Neubetrachtung dieses Mandats einfließen
könnte. Deswegen ist es verantwortlich und verantwortbar und auch dringend geboten gewesen, das Mandat
nicht vor der Evaluierung enden zu lassen - das wäre in
seiner Weisheit überschaubar gewesen -, aber eine entsprechende zeitliche Nähe zu suchen.
Zum Zweiten: Verantwortung. Wir haben über
21 Monate selbst Führungsverantwortung bei UNIFIL
getragen. Dieser Verantwortung sind wir in dieser Zeit
erstklassig gerecht geworden. Jetzt übergeben wir zum
1. Dezember die Verantwortung an Italien. Auch daran
ließe sich ein entsprechender Zeitraum bemessen. Aber
ich will damit kein apodiktisches Signal gesetzt sehen.
Dieses Signal hat sich vielmehr - Guido Westerwelle hat
es angesprochen - an der Verantwortung gegenüber
Israel, gegenüber Libanon zu orientieren; aber es hat
sich auch im Rahmen des Verständnisses der Vereinten
Nationen zu bewegen. Ich glaube, vor diesem Hintergrund kann man das durchaus vertreten.
Wir beteiligen uns mittlerweile seit dem 8. Oktober
2006 am UNIFIL-Flottenverband und haben, wie ich bereits angesprochen habe, diese Führungsverantwortung
gut, ja - ich sage noch einmal - erstklassig wahrgenommen. Ich begrüße die Soldatinnen und Soldaten, die
heute hier sind. Ich darf mich in dieser Hinsicht auch an
dieser Stelle noch einmal für den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten vor Ort bedanken.
({3})
Es ist richtig und kann gar nicht laut genug wiederholt
werden, dass Deutschland ein strategisches Interesse an
einem dauerhaften Frieden im Nahen Osten hat, mit all
den komplexen Zusammenhängen, die dort gegeben
sind. Wir wissen alle, dass Lösungen nicht aus dem Ärmel zu schütteln sind, sondern dass wir die Zusammenhänge, die Vielschichtigkeit in besonderer Weise zu begreifen haben, dass die Sicherheit des Staates Israel von
besonderer Bedeutung ist; Herr Westerwelle hat das benannt. Ebenso wichtig ist für uns ein lebensfähiger palästinensischer Staat. Beides ist maßgeblich dafür, dass
eine regionale Friedenslösung gefunden werden kann.
Zur Befähigung der libanesischen Streitkräfte zur eigenständigen Wahrnehmung ihrer Aufgaben ist in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung, dass wir
diesen Kontext bei der Ausgestaltung des Mandats berücksichtigen. Wir wollen dabei helfen, das Ziel Befähigung zu realisieren.
Der UNIFIL-Flottenverband hat seit seiner Aufstellung in sehr enger Kooperation mit der libanesischen
Marine den Waffenschmuggel auf dem Seeweg verhindert. Immer wieder heißt es: Ihr habt ja nichts gefunden.
Aber auch der Umstand, dass man einmal keine Waffen
findet, kann durchaus Ausdruck einer erfolgreichen Mission sein. Ich glaube, das Ganze kann wirklich in diesem
Sinne dargestellt werden.
Bisher wurden mehr als 30 000 Abfragen auf See getätigt - auch ich habe erst in den letzten Tagen lernen
dürfen, wie viele Abfragen es bislang tatsächlich waren -,
und mehr als 390 Schiffe wurden durch die libanesischen Behörden weitergehend kontrolliert. An dem etwa
1 000 Soldatinnen und Soldaten starken UNIFIL-Flottenverband beteiligen sich neben Deutschland derzeit
Italien - zum 1. Dezember in der Verantwortung -, Griechenland und die Türkei. Insgesamt leisten etwa 12 400
Soldatinnen und Soldaten auf See und an Land Dienst
bei UNIFIL.
Das deutsche Engagement bei UNIFIL vor der Küste
Libanons ist erfolgreich. Ich sage noch einmal: Wir tragen wirksam dazu bei, dem Waffenschmuggel über See
keine Chance zu geben. Ich glaube, wir werden uns weiterhin darüber unterhalten müssen, ob es andere Umgehungswege dieses Waffenschmuggels gibt und wie
diesem Waffenschmuggel generell entgegengetreten
werden kann. Es ist nicht so, dass sich dieses Problem in
der Region in irgendeiner Weise erschöpft hätte, im Gegenteil.
Wir helfen dem Libanon bei der Ausübung seiner
Souveränitätsrechte vor seiner Küste, und wir befähigen
die libanesische Marine, diese Aufgabe über kurz oder
lang selbst wahrzunehmen. Auch das ist ein Punkt, der
mehr und mehr ins Zentrum rückt; schließlich sprechen
wir darüber, wie selbstverständlich das Konzept einer
Einsatzarmee oder einer Armee im Einsatz ist. Ich
glaube, der Grundgedanke, dass unsere Einsätze zur Befähigung von Armeen, die uns verbunden sind, beitragen
- sei es in Afghanistan, sei es im Libanon, sei es an anderen Orten dieser Erde; wir werden darüber möglicherweise in anderen Diskussionen sprechen -, ist durchaus
ein positiver Ausfluss dieses Einsatzes. Ich glaube, dass
diese Arbeit und diese Ausbildungsleistungen gerade unserer Armee im Ausland in diesem Zusammenhang zu
Recht geschätzt werden.
({4})
Ich darf noch einen Hinweis geben: Gespräche der letzten Tage mit Vertretern Israels und auch Libanons haben
gezeigt, wie sehr man unseren Einsatz wertschätzt. Sie
haben auch gezeigt - hier habe ich eine andere Perzeption als Sie, Herr Kollege Mützenich -, dass man gerade
jetzt nicht verunsichert ist, sondern dass man eine klare
Ansage bekommen hat. Ich glaube, das war auf der
Reise ebenso der Fall. Wir müssen aufpassen, dass wir
durch Debatten wie diese nicht zur Verunsicherung beitragen. Das wäre ein Fehler. Wenn dadurch letztlich Verunsicherung geschaffen würde, wäre damit gar nichts gewonnen.
({5})
Ich halte es für richtig, dass - auch um trotzdem das
Signal eines erfolgreichen Prozesses zu zeigen - die
Obergrenze von 1 200 auf 800 abgesenkt wird. Damit
kann man deutlich machen, dass an der einen oder anderen Stelle gerade der Grundauftrag erfolgreich erfüllt
wurde. Ich werbe deshalb auch bei Ihnen um die Mandatierung des Kräftedispositivs, das wir jetzt vorstellen, bis
zum 30. Juni 2010.
Die Grundlage ist dem Waffenschmuggel noch nicht
entzogen, und das Verhältnis zwischen Israel und Libanon - das wurde richtigerweise angesprochen - ist natürlich noch verbesserungsfähig. Wir würden uns einer Illusion hingeben, wenn wir uns über alle Maßen freuten,
wie die Dinge jetzt sind.
Es gibt in diesem Sinne noch keinen Grund, das Engagement apodiktisch zur Disposition zu stellen, sondern es ist weiterhin auch in der Kontinuität zu sehen.
Ich selbst bin gespannt, wie die Betrachtung der Vereinten Nationen, die im Frühjahr vorgelegt wird, ausfällt.
Ich darf Sie aber jetzt um ein klares Votum in dieser
Sache bitten. Unsere Soldatinnen und Soldaten, aber
auch alle zivilen Helferinnen und Helfer, die daran beteiligt sind, haben ein solches Votum verdient.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Gehrcke für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich weiß, dass Sie alle gespannt darauf warten, ob sich
auf der Regierungsbank noch Bewegungen vollziehen,
also ob der Ex-Verteidigungsminister hier noch erscheint
oder nicht. Das ist aber nicht so spannend: Wenn er nicht
kommt, dann weiß man, er ist weg. Wenn er kommt,
signalisiert er, er wird um sein Amt kämpfen.
({0})
Da hat er ganz schlechte Karten. Ich hörte, dass es mittlerweile schon mehrere Strafanzeigen gegen ihn gibt.
({1})
- Seien Sie nicht so aufgeregt! Wir werden sehen, wie
die Sache ausgeht.
Jetzt zu UNIFIL selber. Ich habe mich die ganze Zeit
gefragt, Herr Außenminister: Was hat sich eigentlich in
letzter Zeit geändert, seitdem die FDP zweimal im Bundestag gegen das UNIFIL-Mandat gestimmt hat? Es
muss sich substanziell etwas geändert haben, dass man
zu einer geänderten Auffassung kommt. Das einzige Argument, das Sie hier vorgetragen haben, ist, dass Sie
mittlerweile in der Regierung sitzen. An der Substanz
hat sich sonst überhaupt nichts geändert. Das allerdings
signalisiert, dass man seine politischen Entscheidungen
danach ausrichtet, welche Ämter man einnimmt. Das
finde ich allerdings zu wenig.
({2})
Ich wünsche mir sehr, dass es meiner Fraktion nicht so
geht. Sie wissen ja, dass ich da selber sehr kritisch bin.
Ich finde die ganze Art und Weise des Vorgehens nach
dem Motto: „Kleider machen Leute - Ämter bestimmen
die Politik“ letztendlich nicht überzeugend.
Der Kollege Mützenich hat gesagt, es handle sich nur
um ein halbes Mandat, das hier erteilt würde. Ich finde,
auch ein halbes Mandat für eine falsche Politik ist ein
halbes Mandat zu viel. Deswegen möchte ich dem nicht
zustimmen.
({3})
Ich möchte Ihnen nun die Argumente vortragen, die
uns bewegt haben, bislang nicht zuzustimmen. Aus meiner Sicht sind diese Argumente stimmig. Ich sage Ihnen
zugleich: Ich bin froh, dass es nicht zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit der UNIFIL-Truppe bzw. den daran beteiligten deutschen Soldaten gekommen ist. Das
haben ja viele befürchtet. Ich bin dankbar, dass das nicht
der Fall war. Ich bin auch dankbar dafür, dass die deutschen Soldaten keine Waffen auf irgendwelchen Schiffen beschlagnahmen mussten. Das kann man dazu doch
einmal erklären.
Jetzt zur Sache selber: Der UNIFIL-Einsatz war notwendig, um einen Waffenstillstand im Krieg zwischen
Libanon und Israel zu erreichen.
({4})
Das hat nie jemand bestritten. Wir haben ihn immer als
notwendig bezeichnet. Aus dieser Notwendigkeit resultiert aber nicht, dass sich Deutschland unbedingt mit
Soldaten an diesem Einsatz beteiligen muss. Es kann
auch Entscheidungen der Vereinten Nationen geben, die
sinnvoll sind, aber es eben nicht erfordern, dass deutsche
Soldaten mithelfen, sie durchzusetzen. Wir haben uns
die Frage gestellt, ob es nicht sinnvoll wäre, vor allen
Dingen neutrale Staaten damit zu beauftragen. Deutschland war nicht neutral - das hat die Bundeskanzlerin zigfach in den Auseinandersetzungen erklärt - und konnte
nicht neutral sein. Deswegen war es nicht sinnvoll, dass
Deutschland diesen Auftrag übernommen hat.
Wir haben uns die Frage gestellt, ob es einen Sinn
macht, dass deutsche Soldaten im Rahmen des UNIFILEinsatzes erstmalig im Nahen Osten tätig werden. Wir
waren der Auffassung: Deutsche Soldaten sollen nicht
im Nahen Osten agieren, weil, wie Sie genau wissen, in
der Perspektive möglicherweise an anderen Stellen die
Frage nach deutschen Soldaten erneut und verstärkt
kommt. Ich möchte nicht, dass deutsche Soldaten in eine
solche Situation gebracht werden.
Wir haben uns die Frage gestellt, ob die Bundesregierung denn eigentlich alles getan hat, eine aktive Nahostpolitik zu entwickeln. Das Ergebnis war, dass die Bundesregierung wenig getan hat, um in der Nahostpolitik
etwas zu bewegen. Ich habe den damaligen Außenminister in seinem Bemühen in Bezug auf Syrien immer unterstützt. Von der jetzigen Bundesregierung höre ich
nichts. Sie treffen sich ja am Montag nächster Woche zu
Regierungsgesprächen mit Israel in Berlin. Ich bin gespannt, ob Sie Israel mitteilen werden, dass Sie die aktive Politik mit Syrien aufrechterhalten wollen. Bislang
hört man dazu von Ihnen nichts.
Ich habe sehr wohl vernommen, dass man sich, auch
der Herr Außenminister, skeptisch äußert, was die Frage
der Siedlungspolitik angeht. Aber mittlerweile befinden
sich 500 000 Siedlerinnen und Siedler in der Westbank,
dem besetzten Gebiet, und 180 000 im Umfeld von Ostjerusalem. Deshalb muss klar sein: Wenn die Siedlungspolitik nicht gestoppt wird, wird es keine Friedensgespräche mehr geben. Das muss man, auch im Interesse
Israels, den israelischen Partnerinnen und Partnern in aller Deutlichkeit vor Augen führen.
({5})
Sie wissen, Herr Außenminister - auch dazu werden
Sie hier Stellung nehmen müssen -, dass die palästinensische Autonomiebehörde mitgeteilt hat, dass sie über
eine einseitige Ausrufung der Gründung des Staates Palästina nachdenkt. Ich kann das verstehen; denn dadurch
entsteht ein Rechtssubjekt. Ich möchte wissen, was die
deutsche Bundesregierung in diesem Fall macht.
Ohne eine aktive Nahostpolitik bewegt sich das Mandat auf dünnem Eis. Deswegen werden wir der Verlängerung des Mandates, auch wenn es nur befristet ist und
die Zahl der Soldaten reduziert wird, diesmal wiederum
nicht zustimmen.
Schönen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Philipp Mißfelder für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mich an meinen Vorredner wenden. Herr Gehrcke, auch ich bin froh, dass es zu
keiner Handlung kommen musste, durch die eine größere
Gefahr für deutsche Soldatinnen und Soldaten entstanden
wäre. Ebenso bin ich froh, dass wir, schon aufgrund der
Tatsache, dass deutsche Soldaten dort keine Waffen aufspüren konnten, wahrscheinlich richtigerweise den Schluss
ziehen können, dass weniger Waffen geschmuggelt werden. Auch wenn es entsprechende Vorfälle gibt, glaube
ich, dass schon allein durch die Präsenz der Soldaten der
Schmuggel reduziert worden ist. Auch die vielfachen
Kontrollen auf den Schiffen, die erbracht haben, dass dort
keine Waffen waren, legen den Schluss nahe, dass der
Schmuggel insgesamt zurückgegangen ist. Insofern ist
der Einsatz auch der deutschen Soldaten ein großer Erfolg.
Ich habe nicht ganz verstanden, wie Sie es geschafft
haben, in Ihrem Beitrag all das, was Sie in der Nahostpolitik im Allgemeinen beschwert, einzubringen. Es
wäre besser gewesen, Sie hätten sich mit UNIFIL auseinandergesetzt - Sie sagen ja, dass Sie grundsätzlich
kein Problem mit UNIFIL haben, dass Sie das Mandat
angeblich allzeit begrüßt hätten -, statt hier in eine allgemeine Kritik an der Bundesregierung zu verfallen, bei
der Sie die Gespräche außer Acht lassen, die der Bundesaußenminister in dieser Woche in Israel geführt hat.
Ich glaube, bei dieser Reise ist die Position der Bundesregierung gegenüber Israel sehr klar geworden. Israel ist
einer unserer engsten Freunde. Kritik ist deshalb nicht
verboten. Herr Bundesaußenminister, ich möchte, auch
im Namen meiner Fraktion, die Gelegenheit nutzen, Ihnen für diese Reise, diesen schwierigen Besuch in Israel,
zu danken. Man kann die Reise durchaus als Erfolg bezeichnen. Sie war ein guter Start in Ihrem neuen Amt.
Deshalb herzlichen Dank von unserer Fraktion!
({0})
Die Gründe, die zu diesem Mandat geführt haben, bestehen weiterhin. Denn obwohl sich die innen- und außenpolitische Situation im Libanon seit der letzten Verlängerung des UNIFIL-Mandates durch den Bundestag
im September 2008 grundsätzlich verbessert hat, bleibt
die Lage instabil. Das wird zum Beispiel auch daran
deutlich, dass die Leitung des Hauptquartiers der
UNIFIL-Mission zu Protokoll gibt, dass die Situation im
Südlibanon nach wie vor sehr besorgniserregend ist.
Man kann klar erkennen, wie groß die Akzeptanz des
Einsatzes auf beiden Seiten ist. In den Gesprächen mit
unseren israelischen Freunden wird immer wieder an uns
herangetragen, wie wichtig der deutsche Beitrag und der
Einsatz insgesamt sind. Auch libanesische Besucherinnen und Besucher in Deutschland machen deutlich,
dass sie sehr großen Wert darauf legen, dass wir diesen
Beitrag leisten, und dass der UNIFIL-Einsatz insgesamt
nach wie vor notwendig und unverzichtbar ist. Ich
glaube, dass dies in dieser Debatte bisher sehr deutlich
geworden ist.
Vordringliche Aufgabe dieser Mission bleibt es, die
weitere Aufrüstung islamistischer und israelfeindlicher
Terrorgruppen zu verhindern und - das ist in der innenpolitischen Situation, in der sich der Libanon befindet,
ebenfalls wichtig - den libanesischen Staat beim Aufbau
eigener Sicherheitsstrukturen zu unterstützen, was angesichts der Tatsache, dass auch die Hisbollah in der Regierung ist, von Grund auf keine einfache, sondern eher
eine schwierige Aufgabe ist. Eine erneute Aufrüstung
dieser Terrorgruppen wäre für die gesamte Stabilität im
Nahen Osten fatal und würde das Erreichte gefährden.
Deshalb ist die Fortführung der UNIFIL-Mission so
wichtig. Ich werbe hier daher für eine breite Zustimmung zu diesem Einsatz, der nach wie vor notwendig ist.
Die Hisbollah - ich sprach sie gerade an - stellt heute
14 von 128 Abgeordneten im libanesischen Parlament
und bekleidet zwei Ministerposten in der aktuellen libanesischen Regierung. Deshalb ist es ein besonderes
Signal, wenn wir denjenigen Kräften im Libanon unsere
Hilfe zusagen, die sie nach wie vor für notwendig halten.
Dabei kommt der Evaluierung dieses Einsatzes mit Blick
auf die innenpolitische Situation im Libanon besondere
Bedeutung zu.
Auch wenn die Lage gefährlich und instabil bleibt,
gibt es doch Fortschritte. Die Konfliktparteien akzeptieren die Waffenstillstandsresolution des Sicherheitsrates
der Vereinten Nationen weiterhin als Grundlage, um eine
erneute Eskalation zu unterbinden. Dieser stabile Waffenstillstand an der Grenze zwischen Israel und Libanon
bleibt eine wichtige Voraussetzung für die Lösung des
Konflikts zwischen Israel und dem Libanon. Er ist auch
eine Grundvoraussetzung für weitere Friedensgespräche
zwischen Israel und seinen palästinensischen Nachbarn.
UNIFIL hat mit deutscher Beteiligung die ihr zugewiesenen Aufgaben erfolgreich erfüllt. Der Herr Bundesverteidigungsminister hat sich bei den Soldatinnen
und Soldaten angesichts der heiklen Umstände beim Zustandekommen dieses Einsatzes zu Recht bedankt. Ich
glaube, dass wir unter Beachtung der Frage, ob dieser
Einsatz überhaupt erwünscht ist, die richtige Entscheidung getroffen haben. Die Soldatinnen und Soldaten
werden ihrer großen Verantwortung mit Blick auf die
deutsche Geschichte in vollem Umfang gerecht und tragen damit zu einer Akzeptanz Deutschlands in der gesamten Region, also sowohl in Israel als auch im Libanon, enorm bei.
Der UNIFIL-Flottenverband hat in enger Kooperation
mit der libanesischen Marine den Waffenschmuggel auf
dem Seeweg wirksam verhindert. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, wenn wir darüber diskutieren wollen,
was der Begriff „vernetzte Sicherheit“ überhaupt bedeutet. Ich glaube, dass der UNIFIL-Beitrag, den Deutschland an dieser Stelle leistet, deutlich macht, was vernetzte Sicherheit bedeuten kann. Es ist wichtig, das
Zusammenwirken verschiedener Bereiche deutlich herauszustellen. Dazu gehören Zollaufgaben, klassische
militärische Aufgaben und Grenzüberwachungsaufgaben. In diesen Bereichen ist vernetzte Sicherheit tatsächlich umsetzbar und auch operativ durchführbar.
Allein dieser Erkenntnisgewinn zeigt, dass wir uns in
der praktischen und in der operativen Ausrichtung der
Bundeswehr auf dem richtigen Weg befinden und dass
dieser Einsatz Modell für andere Einsätze in der Zukunft
sein kann. Vernetzte Sicherheit bedeutet aus unserer
Sicht eben nicht nur, die militärische Komponente zu sehen, sondern auch, andere Bereiche mit einzubeziehen.
Deshalb halte ich es für richtig, ganz genau hinzuschauen, wie sich dieser Einsatz entwickelt, zu evaluieren, ob er auch im neuen Mandatszeitraum erfolgreich
ist, sich zu fragen, wie man ihn erfolgreicher gestalten
kann, und daraus die Konsequenzen für weitere Schritte
abzuleiten.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun Kerstin Müller, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige Vorredner haben es dargestellt: Die Stationierung
der UNIFIL-Mission 2006 hat den Krieg zwischen Libanon und Israel beendet. Der Einsatz der deutschen Bundeswehr auf der Seeseite war die Voraussetzung dafür,
dass die Seeblockade gegen Libanon aufgehoben wurde
und dass es dort vorangeht. Bis heute, Herr Kollege
Gehrcke, stellt UNIFIL einen außerordentlich wichtigen
Beitrag dazu dar, dass dieser Waffenstillstand noch immer hält,
({0})
und zwar sowohl nach Aussagen der Konfliktparteien der Israelis, der libanesischen Regierung und im Übrigen
auch der Hisbollah - als auch nach Aussagen der UNO.
Sogar der äußerst schwierige politische Prozess ist etwas
vorangekommen. Das heißt, Herr Gehrcke, ich kann
wirklich nicht nachvollziehen, dass man, obwohl man all
diese Argumente teilt, sagt: Wir lehnen die Beteiligung
an diesem Einsatz ab. - Das ist nicht konsequent.
({1})
UNIFIL und der deutsche Beitrag dazu sind ein zwar
nicht hinreichender - das ist klar -, aber ein notwendiger, verantwortbarer und erfolgreicher Beitrag zur Stärkung des Friedensprozesses im Libanon und in der Region. Meine Fraktion ist also mehrheitlich der Meinung,
dass er deshalb fortgesetzt werden sollte.
({2})
Umso mehr erstaunt es mich, meine Damen und Herren von der Koalition - Herr Mißfelder, Herr Guttenberg,
Sie haben dazu nichts gesagt -, dass nicht nur die Zahl der
maximal einzusetzenden Soldatinnen und Soldaten reduziert wird - das kann ja durchaus verantwortbar sein,
wenn das die Einsatzfähigkeit vor Ort nicht einschränkt -,
sondern das Mandat auch bis Juni 2010 zeitlich begrenzt
wird. Dafür kann es generell sachliche Gründe geben;
diesen verschließen wir uns als Grüne nicht. Ich kann
aber aus der Lage vor Ort solche sachlichen Gründe nicht
Kerstin Müller ({3})
erkennen, und ich habe sie auch in dieser Debatte nicht
vernommen. Ich habe nach dieser Debatte und nach der
einen oder anderen Ausschusssitzung den Eindruck - das
will ich Ihnen ganz klar sagen -: Hier geht es darum, dass
der neue Außenminister und die FDP irgendwie ihr Gesicht wahren wollen, weil sie in der Opposition gegen den
Einsatz gestimmt haben.
({4})
Die FDP plant mit dieser Begrenzung den Einstieg in den
Ausstieg - und das, obwohl der Einsatz erfolgreich und
sinnvoll ist. Das, verehrter Außenminister Westerwelle,
ist das Gegenteil von seriöser Außenpolitik. Das ist meines Erachtens nicht verantwortbar.
({5})
Ich habe mir die Debatten des Jahres 2006 und der
Jahre danach noch einmal angesehen. Seinerzeit und in
den Folgejahren haben Sie mit den Argumenten der besonderen Verantwortung gegenüber Israel und der fehlenden Neutralität Deutschlands gegenüber Israel eine
Zustimmung zu UNIFIL verweigert. Sie haben den Einsatz abgelehnt. Ich will solche Bedenken keinesfalls abtun.
Das Problem aber ist: Israel hat damals wie heute eine
deutsche Beteiligung sogar ausdrücklich gewünscht. Die
Bedenken, die Sie und andere in diesem Hause hatten,
„dass es zu Konfrontationen kommen könnte, weil wir
nicht neutral sind“, haben sich - Gott sei Dank, könnte
man sagen - nicht bestätigt. Ich kann mir jedenfalls
kaum vorstellen, dass Ihnen die Israelis anlässlich Ihrer
jetzigen Reise etwas anderes gesagt haben, Herr Außenminister. Jedenfalls meine ich, Sie hätten auf diese Argumente eingehen müssen. Es ist wirklich sehr dünn, dass
Sie einfach sagen: „Wir machen jetzt Kontinuität in der
deutschen Außenpolitik“, dass Sie aber nichts zu diesen
Argumenten sagen, die Gott sei Dank nicht Realität geworden sind.
({6})
Der ehemalige Außenminister Kinkel hatte seinerzeit bei
der Mandatserteilung im September 2006 prophezeit:
Würde die FDP den Außenminister stellen, könnten wir
uns ein Nein nicht leisten. - So ist es. Sie sind in der Regierung, und die Welt sieht anders aus.
Ich bin der Meinung: Sie werkeln hier an der falschen
Baustelle herum; denn nicht der Umfang des UNIFILEinsatzes müsste heruntergefahren werden. Vielmehr
müsste OEF beendet werden;
({7})
denn OEF ist kontraproduktiv. Das wäre eine sinnvolle
Maßnahme gewesen. Eine Überprüfung des UNIFILEinsatzes bis Mitte 2010 reicht an dieser Stelle nicht aus.
Meine Damen und Herren von der Union, Herr Verteidigungsminister, Sie können sicher sein: Wir werden
sehr genau darauf achten, ob Sie ein solches Gehampel
mit sich machen lassen und ob das Mandat, wie Frau
Hoff im Ausschuss gesagt hat, Mitte nächsten Jahres beendet ist.
Ich will ein weiteres wichtiges Argument für den Einsatz nennen. Er ist der einzige UN-geführte Einsatz, an
dem sich Deutschland mit einem relevanten Beitrag beteiligt. Ausgerechnet diesen Beitrag ohne sachlichen
Grund einzuschränken oder gar zu beenden, schwächt
unsere Rolle bei der UNO enorm. Sie können sich Wünsche nach einer stärkeren Rolle Deutschlands bei den
Vereinten Nationen, die Sie im Koalitionsvertrag formuliert haben, abschminken, wenn Sie eine solche Politik
verfolgen.
({8})
Die UNO wird weiter Bedarf anmelden; denn die
Lage im Libanon ist nach wie vor alles andere als stabil.
Es kommt immer wieder zu Feindseligkeiten. Experten
sagen: Die Hisbollah verfügt inzwischen über mehr Raketen als vor dem Krieg 2006. Das heißt, die Lage birgt
nach wie vor das Potenzial zur Eskalation und zur Destabilisierung. Gerade deshalb, weil die Lage so ist, weil
die Hisbollah in der Regierung der nationalen Einheit ist
und ihrer eigenen Entwaffnung nicht zustimmen wird,
ist es wichtig, dass UNIFIL und der deutsche Beitrag
fortgesetzt werden und einen stabilisierenden Beitrag in
dieser Region, in der es immer wieder zu Eskalationen
kommen kann, leisten.
Fest steht: Wenn wir uns durch einseitige, fahrlässige
Ankündigungen zurückziehen, verspielen wir nicht nur
unsere Rolle bei den Vereinten Nationen, sondern es besteht auch die Gefahr, dass Deutschlands Stimme im Nahen Osten insgesamt an Gewicht verliert. Das ist nicht
im Interesse Israels, und das ist auch nicht im Interesse
Deutschlands.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/40 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für ein umfassendes Bleiberecht
- Drucksache 17/19 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({1}), Ingrid
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes
- Drucksache 17/34 ({2}) Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke das Wort.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren heute wieder einmal über Menschen, die aus
ihren Herkunftsländern geflohen sind und hier in
Deutschland nur geduldet sind. Geduldet zu sein, bedeutet ständige Angst vor Abschiebung, bedeutet, den
Wohnort nicht verlassen zu dürfen, keine Bewegungsfreiheit zu haben, also Residenzpflicht, bedeutet Arbeitsverbot und vor allen Dingen, von reduzierten Sozialleistungen leben zu müssen. Die Gesundheitsversorgung ist
nur auf Notfälle reduziert.
Weil die Duldung immer wieder neu verlängert werden musste, hat es seit Jahren in diesem Hause eine Debatte darüber gegeben - genauer gesagt mit dem Zuwanderungsgesetz von 2001, das von Grünen und SPD
eingebracht wurde -, dass diese Kettenduldung endlich
abgestellt werden muss.
Was ist bis dahin passiert? Rein gar nichts. Stattdessen hat die Koalition eine Altfallregelung eingebracht.
Diese wird von Pro Asyl, einer Flüchtlingsorganisation,
als kleinmütige Teillösung bezeichnet. Wir können uns
dieser Aussage nur anschließen; denn das ist für die Betroffenen wirklich nicht mehr zu ertragen.
({0})
60 000 Menschen sollen ein Bleiberecht erhalten, versprach damals die SPD. Nur 8 000 Menschen haben ein
Bleiberecht bekommen. 30 000 Menschen haben ein
Aufenthaltsrecht auf Probe bekommen. Das muss man
sich einmal vorstellen. Sie müssen bis zum Ende dieses
Jahres ein Einkommen aufbringen, das über Hartz-IVNiveau liegt, sonst heißt es: Abschiebung. Es ist unseres
Erachtens ein Skandal, dass die Regierung bis heute keinerlei Vorschläge vorgelegt hat, um bis Jahresende diese
Abschiebungen zu verhindern.
({1})
Im Koalitionsvertrag steht - ich zitiere -:
… sind wir uns einig, dass vor dem Hintergrund der
momentanen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Handlungsbedarf … besteht. … Zeitgerecht
wird eine angemessene Regelung gefunden werden.
Herr Kollege Wolff von der FDP, Sie haben in den
vergangenen Tagen immer wieder in den Medien verlauten lassen: Wir brauchen noch ein Jahr Zeit, um in Ruhe
über eine vernünftige und tragfähige Lösung zu reden.
Ich frage Sie: Warum schiebt es diese Regierung erneut
der Innenministerkonferenz zu, eine Lösung zu finden?
Auf der Innenministerkonferenz hat Innenminister
Herrmann zum Beispiel gesagt: erst Arbeit, dann Daueraufenthalt; das muss das Prinzip sein.
({2})
Das ist fast so, als wenn man sagt: Wer keine Arbeit hat,
soll auch nicht essen, Herr Grindel. Das ist die Mentalität, die aus diesen Positionen spricht.
({3})
Ich will hier noch einmal ganz deutlich sagen: Sie
sind diejenigen, die diesen Menschen lange Zeit ein Arbeitsverbot auferlegt und ihnen durch die Residenzpflicht die Möglichkeit genommen haben, sich um Arbeit zu bemühen. Auch die Fachleute sagen: Aufgrund
der Wirtschaftskrise haben diese Menschen die geringsten Chancen, einen Job zu finden. Und nun soll ausgerechnet die Innenministerkonferenz im Konsens eine Lösung finden. Ich sage hierzu nur: Dieses Spiel kennen
wir seit langem und zur Genüge. Die Bundesregierung
und die Innenminister schieben sich die Verantwortung
gegenseitig zu. Wer genau hinschaut, sieht: Auch die Innenministerkonferenz hat bis heute überhaupt keine Lösung. Deswegen fordern wir die Koalition auf, sofort
eine Lösung zu finden. Wir fordern das Bleiberecht für
alle, die diesen seltsamen Status „Aufenthalt auf Probe“
haben.
({4})
Die Linksfraktion stellt in ihrem Antrag zunächst einmal fest - ich kann leider nur zwei Punkte nennen -,
dass wir dieses Bleiberecht ganz dringend brauchen, und
wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag auf,
die Kettenduldung endlich zu beenden. Ich möchte hier
noch einmal daran erinnern, dass Wohlfahrtsverbände,
Kirchen und Gewerkschaften vor der Sommerpause an
die Politik appelliert haben, die Altfallregelung wenigstens zu verlängern. Die Regierung hat damals abgestritten, dass es einen Handlungsbedarf gibt. Ich lese besonders gerne aus der Stellungnahme des Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes vom heutigen Tag vor, in der steht:
Die Aufenthaltserlaubnis muss erteilt werden können, sobald die Ausreise unzumutbar ist. Es wäre
einfach kaltherzig und inhuman, wenn Kinder, die
hier aufgewachsen sind, ständig Angst vor Abschiebung haben müssen, nur weil ihre Eltern keine
Arbeit finden.
Dort steht weiter, die Menschen brauchten keine Duldung, sondern Rechtssicherheit.
({5})
Das sehen wir ganz genauso.
Es ist nicht akzeptabel,
- sagt der Paritätische Wohlfahrtsverband weiter wenn hunderttausend Menschen über Jahre hinweg
als Mitmenschen „auf Abruf“ behandelt werden.
Wir können uns dem nur anschließen und hoffen, dass
die Bundesregierung endlich zu einer Lösung kommt.
Ich danke.
({6})
Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Grindel für
die Fraktion der CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will zunächst der Kritik an der bestehenden gesetzlichen
Bleiberechtsregelung entgegentreten. Frau Jelpke, die
Frage ist doch: Nach welchen Kriterien bewerte ich, ob
eine Bleiberechtsregelung erfolgreich ist oder nicht? Die
Linke führt dabei vor allem Zahlen ins Feld. Wenn es
nur auf Zahlen ankäme, dann wäre die erfolgreichste
Bleiberechtsregelung die, die aus nur einem Satz besteht: Alle Ausländer, die da sind, können bleiben.
({0})
Das wäre aber keine verantwortliche Zuwanderungspolitik. Das muss ich Ihnen vorhalten, da hier auch noch
Beifall geklatscht wird.
Tatsächlich verdient derjenige ein Bleiberecht, bei
dem es aus nicht von ihm zu vertretenden Gründen zu einem so langjährigen Aufenthalt in Deutschland gekommen ist, dass eine Verwurzelung in unserem Land stattgefunden hat, die eine Rückführung in das ursprüngliche
Heimatland aus humanitären Gesichtspunkten als nicht
vertretbar erscheinen lässt.
Wir unterhalten uns hier über einen Weg der legalen
Zuwanderung. Die Personen, um die es geht - das muss
man auch unseren Zuschauern deutlich machen -, sind
eigentlich allesamt ausreisepflichtig und erhalten durch
das Bleiberecht eine dauerhafte Aufenthaltsperspektive.
Wir müssen also integrationspolitische Überlegungen in
den Blick nehmen. Deshalb sind an das Bleiberecht aus
wohlerwogenen Gründen eine Reihe von Bedingungen
wie zum Beispiel das Beherrschen der deutschen Sprache oder ein regelmäßiger Schulbesuch geknüpft worden.
Mit der Aufenthaltsgenehmigung auf Probe, die Sie
hier völlig zu Unrecht diskreditiert haben, wollten wir
Geduldeten vor allem die Arbeitsaufnahme erleichtern.
Für diejenigen, die so gut integriert sind, dass sie ihren
Lebensunterhalt selbst verdienen können, haben wir sogar die Möglichkeit zur Erteilung einer regulären Aufenthaltserlaubnis eröffnet.
Um es klar zu sagen: Die Bleiberechtsregelung ist
nicht nur, aber auch ein humanitärer Akt. Wir wollen
Geduldeten, die sich gut integriert haben, helfen. Eines
wollen wir aber auf jeden Fall: Wir wollen Zuwanderung
in die Sozialsysteme nachhaltig verhindern. Auch das
müssen wir bei der Bleiberechtsregelung in den Blick
nehmen.
({1})
Vor diesem Hintergrund ist die jetzige Bleiberechtsregelung ein Erfolg. Über 10 300 Geduldete haben eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, weil sie in der Lage waren,
selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Weitere
knapp 30 000 Personen besitzen eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe.
Es ist interessant, sich die Statistiken der einzelnen
Bundesländer anzuschauen. Dann stellt man fest, dass
bei der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen kein Land
so engherzig ist wie das Land Berlin, wo die Linke
Regierungsverantwortung trägt: Hier hat es ganze
74 Aufenthaltserlaubnisse gegeben. In Bayern waren es
knapp 1 000. Sie brauchen uns von der Union in der
Frage des humanitären Bleiberechts keinen Nachhilfeunterricht zu erteilen. Dort, wo Sie Regierungsverantwortung tragen, sieht die Bilanz am schlechtesten aus.
({2})
Eine Verlängerung des Aufenthaltsrechts auf Probe
um zwei Jahre ist bereits im Gesetz selber vorgesehen,
sofern der Lebensunterhalt zumindest überwiegend aus
eigener Erwerbstätigkeit bestritten worden ist. Das Bundesinnenministerium hat in einer Reihe von Bundesländern eine stichprobenartige Untersuchung durchgeführt.
Danach ist zu erwarten, dass rund die Hälfte der Besitzer
dieses Aufenthaltsrechts auf Probe mit einer Verlängerung rechnen kann. Zu den 10 000 Personen mit dauerhafter Aufenthaltserlaubnis kommen also 15 000 Personen hinzu, die keine oder nur geringe Sozialleistungen in
Anspruch nehmen. Insofern ist es nicht richtig, wenn der
Paritätische Wohlfahrtsverband heute in einer Pressemitteilung den Eindruck erweckt - Frau Jelpke, Sie haben
das angesprochen -, als ob fast alle gut 30 000 Besitzer
dieser Aufenthaltserlaubnis auf Probe zum Jahresende
ein Problem bekämen.
Es ist sicher nicht zu bestreiten - das räumen wir
ein -, dass manch gutwilliger Inhaber eines Aufenthaltsrechts auf Probe wegen der augenblicklich schwierigen
wirtschaftlichen Lage keine Verlängerung erhalten wird,
weil es ihm nicht gelungen ist, seinen Lebensunterhalt
überwiegend aus eigener Erwerbstätigkeit zu bestreiten,
sondern möglicherweise nur zu einem geringen Teil.
({3})
Deshalb stellen wir uns gemeinsam mit den Ländern die
Frage: Wie gehen wir damit um? Die Grünen und die
Linken schlagen vor, die Bleiberechtsregelung pauschal
um mindestens ein Jahr zu verlängern.
({4})
Ich möchte das einmal deutlich machen, auch weil Sie
hier Beifall klatschen: Sie wollen eine pauschale Regelung. Das heißt, Sie wollen denjenigen, der sich um Arbeit bemüht hat, der für kleines Geld gearbeitet hat,
({5})
der sich immer wieder beworben hat, genauso behandeln
wie denjenigen, der überhaupt nichts getan hat, sondern
nur von Sozialhilfe gelebt hat. Das halte ich nicht für
richtig. Wir brauchen eine differenzierte Lösung für den
Umgang mit den ausländischen Mitbürgern.
({6})
Welche Botschaft geht von Ihrem Vorschlag aus? Das
Gesetz sieht vor, dass man sich um Arbeit bemühen
muss. Viele Geduldete haben das getan, weil sie davon
ausgegangen sind, dass man den Gesetzgeber ernst nehmen kann. Sie sagen dann aber: Wer nichts getan hat, der
wird genauso behandelt. Das ist nicht in Ordnung.
Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion eindeutig, dass
wir keine gesetzliche Verlängerung der Bleiberechtsregelung wollen, sondern schon aus Zeitgründen eine Lösung durch Beschluss der Innenministerkonferenz vor
Jahresende anstreben. Weil durch die Verlängerung der
Bleiberechtsregelung zusätzliche Kosten auf Länder und
Kommunen zukommen werden, macht es großen Sinn,
die Länder daran zu beteiligen.
Dabei ist uns völlig klar, dass eine Verlängerung des
Aufenthaltsrechts auf Probe nur in Betracht kommen
kann, wenn der geduldete Ausländer nachweist, dass er
sich um die Sicherung seines Lebensunterhalts zumindest bemüht hat. In den Genuss einer Verlängerung müssen diejenigen kommen, die tatsächlich unter der
schwierigen Wirtschaftslage leiden, nicht aber diejenigen, die ohnehin, unabhängig von der Entwicklung auf
dem Arbeitsmarkt, nichts tun, ob es Arbeit gibt oder
nicht. Wir sind für eine differenzierte Lösung, wie sie
von vielen Bundesländern und den dortigen Innenministern angestrebt wird.
({7})
Ich betone noch einmal: Eine Zuwanderung in die Sozialsysteme durch die Verlängerung der Bleiberechtsregelung darf es nicht geben.
({8})
Dementsprechend ist es auch falsch, dass die Grünen in
ihrem Gesetzentwurf schreiben, eine pauschale Verlängerung verursache keine zusätzlichen Kosten. Natürlich
würden Kommunen, die ansonsten einen Ausländer in
sein Herkunftsland zurückführen könnten, mit zusätzlichen Hartz-IV-Leistungen belastet.
({9})
Das ist angesichts der schwierigen Lage der kommunalen Haushalte nicht unproblematisch.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich, weil Frau Jelpke
das Thema Kettenduldungen angesprochen hat, darauf
hinweisen, dass Ihre Bemerkung in die völlig falsche
Richtung gegangen ist. Es war nie unser Wille, Duldungen generell abzuschaffen.
({10})
Selbstverständlich können diejenigen Ausländer kein
Aufenthaltsrecht beanspruchen, die durch das eigene
Handeln, nämlich durch das Vernichten von Ausweispapieren, durch die Täuschung über ihre Identität und Reisewege, selber dazu beigetragen haben, dass sich ihr
Aufenthalt zum Teil über mehrere Jahre hingezogen hat,
weil zum Beispiel keine Passersatzpapiere herbeigeschafft werden konnten. Wer selber dafür verantwortlich
ist, dass die Behörden die Rückführung nicht möglich
machen konnten, wer in der Zeit vielleicht sogar straffällig geworden ist, darf kein Aufenthaltsrecht bekommen
und dessen Rückführung muss grundsätzlich möglich
sein. Deshalb wollen wir für diese Fälle an der Duldung
festhalten.
({11})
Unsere Beratungen sind im Übrigen ein Beleg dafür,
dass Stichtagsregelungen immer dann unehrlich sind,
wenn allen Beteiligten sowieso klar ist, dass man ein
Problem nur verschiebt und der Stichtag letztendlich
nicht so ernst genommen wird. Ich will deshalb nicht
verhehlen, dass es in unserer Fraktion Sympathie dafür
gibt, über eine generelle Regelung hinsichtlich der Lebenssituation von gut integrierten Kindern nachzudenken.
({12})
Viele Kinder aus geduldeten Familien gehen erfolgreich
in die Schule und haben eine gute Bildungs- und Ausbildungsperspektive in unserem Land.
({13})
Für sie ist Deutschland oftmals längst neue Heimat geworden. Ich sage hier: Im Zusammenwirken mit den Innenministern der Länder bleibt es eine Aufgabe in dieser
Legislaturperiode, zu prüfen, ob wir für diese Kinder
und natürlich auch ihre Familien eine weitergehende Regelung treffen können. Gleichzeitig bleibt es eine ebenso
wichtige Aufgabe, diejenigen, die kein Recht haben, auf
Dauer bei uns zu bleiben, konsequent in ihre Heimat zurückzuführen und dabei etwaige Abschiebungshindernisse zu beseitigen. Beides gehört zusammen: tragfähige
humanitäre Lösungen für gut integrierte geduldete Aus458
länder und eine Rückführung derjenigen, die erfolgreiche Integration in unserem Land eher erschweren.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({14})
Das Wort hat nun Kollege Rüdiger Veit für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Ich möchte mit einer Art Amtsanmaßung beginnen. Normalerweise gratulieren Sie, Herr
Präsident, Kolleginnen und Kollegen zu ihren runden
Geburtstagen; es ist erfreulich, wenn Kolleginnen und
Kollegen älter werden und runde Geburtstage haben. Ich
möchte einen anderen Glückwunsch aussprechen, der
mir ein aufrichtiges Bedürfnis ist. Herr Kollege Grindel,
Sie sind vor zwei Tagen Vater geworden. Ich wünsche
Ihnen, Ihrer Frau und dem neuen Erdenbürger, dass er
gesund heranwächst und allzeit liebevolle und auch sehr
kluge Eltern hat, damit er ein ganz wichtiger Mitbürger
in unserer Gesellschaft wird.
({0})
Auch wenn wir ein bisschen schmunzeln, der Glückwunsch ist sehr ernst und sehr herzlich gemeint.
Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen,
wir reden wieder einmal über die Altfall- oder Bleiberechtsregelung in Bezug auf Geduldete. Wir wissen aus
der letzten Statistik, die das Bundesinnenministerium
auf Anfrage der Linken zusammengetragen hat, dass wir
Mitte dieses Jahres immer noch rund 100 000 geduldete
ausländische Mitbürger in Deutschland hatten; rund
60 000 davon haben sich hier bereits seit sechs und mehr
Jahren aufgehalten.
Jetzt muss man sowohl an die Adresse der hier neu im
Haus befindlichen Kolleginnen und Kollegen als auch an
die Adresse der Öffentlichkeit bzw. des Publikums klar
sagen: Wir betreiben hier keine Übungen in einem juristischen Trockendock von Fachsprache. Es ist auch nicht
so, dass uns daran gelegen wäre, Zuständigkeitsfragen
zwischen diesem Parlament und der Innenministerkonferenz hin und her zu schieben. Vielmehr reden wir konkret über das Schicksal dieser über 100 000 Menschen;
ganz viele davon sind Kinder und Jugendliche, die hier
in Deutschland geboren und/oder aufgewachsen sind.
Deswegen muss man sich im Interesse eines Sozial- und
Rechtsstaates sehr wohl ein paar Gedanken mehr darüber machen, was mit diesen sinnvollerweise zu geschehen hat.
Duldung ist nichts anderes als die Erklärung an die
Betroffenen: Ihr seid hier nicht willkommen; ihr bekommt hier keinen gesicherten Aufenthalt; wir wollen
euch abschieben, das heißt, notfalls auch mit Anwendung unmittelbaren Zwanges außer Landes bringen, sobald wir das können. - Das ist die klare Ansage der Aussetzung einer Abschiebung, also einer Duldung. Das
bedeutet im Extremfall - machen wir uns da nichts vor;
ich habe das in meiner früheren Praxis leider manchmal
miterleben müssen -, dass beispielsweise um 5 Uhr morgens der entsprechende Mitarbeiter der Ausländerbehörde mitsamt zwei Polizeistreifen vor der Tür steht,
weil er nur so sicher sein kann, die gesamte Familie
zwecks Rückführung - in der Regel auf dem Luftweg zu erreichen.
({1})
Das ist die Realität. Dieses Leben, das aus einem Sitzen
auf gepackten Koffern besteht, ist unseres Staates eigentlich unwürdig. Es ist inhuman und auch unvernünftig,
weil man die Betreffenden außerstande setzt, sich hier
bei uns sinnvoll zu integrieren und ihren Lebensunterhalt
zu bestreiten; ich will das ausdrücklich so klar und deutlich sagen.
Die damalige rot-grüne Mehrheit hatte sich bei den
Beratungen zum neuen Aufenthaltsgesetz und zum Zuwanderungsgesetz in den Jahren 2002 und 2004 aus gutem Grund vorgenommen, die Duldung gänzlich abzuschaffen und klar zu sagen: Wer hier in Deutschland
bleiben darf, der bleibt und bekommt eine Perspektive.
Derjenige, für den das nicht möglich ist, muss Deutschland wieder verlassen. Dieses Zwischending, genannt
Duldung oder Kettenduldung - manchmal für zehn und
mehr Jahre -, wollen wir nicht mehr.
Wir mussten in den damaligen Gesetzesberatungen
aus Rücksicht auf die CDU/CSU sowohl hier im Parlament als auch im Bundesrat leider das Instrument des
§ 60 a wieder einführen. In einem neuen Gesetz weist
eine a-Nummerierung immer ziemlich deutlich darauf
hin, dass die entsprechende Regelung - entschuldigen
Sie bitte diese Formulierung - im Nachhinein noch
„hineingewürgt“ worden ist.
Um was geht es heute konkret? Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat einen Gesetzentwurf eingebracht,
um die Möglichkeit der Aufenthaltserlaubnis auf Probe
um ein Jahr zu verlängern.
({2})
Die Fraktion Die Linke hat darüber hinaus eine Erweiterung dieses Bleiberechts, der Möglichkeit einer Aufenthaltserlaubnis, gefordert.
Ich möchte für die SPD-Fraktion - natürlich unter dem
Vorbehalt, dass unsere Gremien das genauso sehen - ankündigen, dass wir Ihnen in der nächsten oder übernächsten Woche einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem wir
das Problem, wie wir hoffen, längerfristiger und sehr differenziert lösen können.
Ich füge hinzu: Natürlich bleibt es dabei, dass wir die
Duldung am liebsten ganz abgeschafft hätten; daran wird
sich auch nichts ändern. Wir sind aber Realisten. Wir wissen, dass wir für eine solche Änderung des Aufenthaltsgesetzes auch die Zustimmung des Bundesrates brauchen.
Demgemäß nehmen wir auf die dortigen Mehrheitsverhältnisse Rücksicht. Natürlich versuchen wir, den einen
oder anderen Kollegen von der neuen Koalition, namentlich von der FDP, als Mitstreiter zu gewinnen.
Ich kündige schon jetzt an, dass in diesem Gesetzentwurf in einer differenzierten Stufung klargestellt wird:
Wer sich mit Familie seit zehn Jahren oder als Alleinstehender seit zwölf Jahren bei uns aufhält, weil er, aus
welchen Gründen auch immer, aus guten Gründen nicht
abgeschoben werden konnte, der kann bleiben. Diese
Regelung wird, unserer Auffassung nach sinnvollerweise, deswegen stichtagsbezogen sein, weil wir für die
Zukunft keinen Anreiz schaffen wollen, sich der Abschiebung durch Verschleppung absichtlich zu entziehen.
Außerdem wollen wir bei deutlicher Verkürzung der
bisherigen Fristen sagen: Wer sich als Alleinstehender
acht Jahre oder mit Familie sechs Jahre hier aufhält, der
kann auch dann bleiben, wenn er seinen Lebensunterhalt
nicht gesichert hat.
In einer weiteren Stufung von wiederum sechs Jahren
bei Alleinstehenden und vier Jahren bei Familien wollen
wir sagen: Wer sich ernsthaft um die überwiegende Sicherung seines Lebensunterhaltes bemüht, der kann
ebenfalls bleiben. Wohlgemerkt sind solche Tatbestände
und Konstellationen, in denen Ausweisungsgründe im
Sinne schwerwiegender Straftaten oder des Verdachts
terroristischer Bezüge vorliegen, immer ausgeschlossen.
Wir wollen darüber hinaus sagen: Bei Minderjährigen
und solchen Personen, die minderjährig eingereist sind,
reichen uns auch vier Jahre Aufenthalt in Deutschland,
wenn die Perspektive gegeben ist, dass sie sich hier integrieren werden.
In der Konsequenz dessen gehen wir dann noch einen
Schritt weiter und sagen: Kinder und Jugendliche, die
mindestens einen Hauptschulabschluss oder einen vergleichbaren Schulabschluss erworben haben, sollen
ebenfalls hierbleiben können, ohne die erforderlichen
Mindestaufenthaltszeiten nachweisen zu müssen. Denn
sie haben schon den Nachweis erbracht, dass und in welcher Weise sie in der Lage sind, sich in unsere Gesellschaft und unser Bildungssystem zu integrieren. Eine
solche gesetzliche Regelung soll wohlgemerkt nicht
stichtagsbezogen sein. Wir glauben, dass auch diejenigen, die aufgrund ihrer Aufenthaltszeiten immer wieder
in diese Möglichkeit „hineinwachsen“, auch in der Zukunft das Recht erhalten müssen, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen.
Wir wollen uns nicht darauf verlassen, dass die Innenministerkonferenz auf ihrer Sitzung Anfang Dezember
dieses Jahres einfach nur beschließt: Wir verlängern die
Möglichkeit der Aufenthaltserlaubnis auf Probe um ein
oder zwei Jahre. - Es gibt einen Berliner Vorschlag, der
eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe
auf zwei Jahre und weitere Voraussetzungen, die allerdings nicht so eng wie die bisherige Regelung gefasst
sind, beinhaltet. Im Augenblick deutet aber nichts darauf
hin, dass die Innenminister - sie müssten das gemeinsam
und einstimmig machen - einem derartigen Vorschlag
nähertreten. Dies löst auch nicht wirklich das Problem.
Außerdem ist es von der Systematik her schwierig, wenn
die Innenministerkonferenz in ihrer Weisheit - das ist
jetzt gar nicht unbedingt nur ironisch gemeint - etwas
korrigieren soll, was der Gesetzgeber ausdrücklich anders erklärt hat. Eigentlich wäre es unsere ureigenste
Aufgabe als Gesetzgeber, die Hausaufgaben zu machen.
({3})
Die Idee ist auch gar nicht neu. Denn seit März haben
wir versucht, unseren damaligen Koalitionspartner, die
Union, davon zu überzeugen, dass wir eine solche gesetzliche Änderung dringend brauchen. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass die Zeit nach der Wahl, auf
die wir vertröstet werden sollten, nicht ausreicht, weil wir
mit einem regulären Gesetzgebungsverfahren bis zum
Jahresende nur schwer fertig werden können und weil diejenigen, die damit rechnen müssen, dass ihre Aufenthaltserlaubnis auf Probe nicht wieder verlängert wird - das
sind, wie wir heute wissen, ungefähr 15 000 Menschen -,
in der Zwischenzeit entweder kein neues Arbeitsverhältnis eingehen können oder sogar ihre Arbeit verlieren. Das
heißt, die bei uns lebenden ausländischen Mitbürger
müssten entgegen dem, was wir eigentlich wollen, nämlich ihre Integration, zumindest eine Zwangspause einlegen.
Leider haben wir uns gegenüber unserem Koalitionspartner nicht durchsetzen können. Unser Koalitionspartner war der Auffassung: Das machen wir alles nach der
Wahl. Ich habe sogar noch die halbironische Bemerkung
im Ohr, dieser Punkt könnte für die Koalitionsverhandlungen - mit wem auch immer - ein wichtiger Verhandlungsgegenstand oder vielleicht eine Art Morgengabe
werden.
Was sich jetzt in den Koalitionsvereinbarungen wiederfindet, geht über das, was die CDU sowieso zu machen bereit war, nicht wesentlich hinaus. Ich unterstelle
einmal, bei der Union besteht - der Kollege Grindel hat
das zart angedeutet - durchaus eine gewisse Bereitschaft, zumindest über eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe nachzudenken. Ich sage aber
noch einmal: Ich halte die Innenministerkonferenz für
das falsche Instrument. Wir könnten das auch hier beschließen; es wäre noch nicht zu spät.
Insgesamt - damit will ich eine gewisse Spitze gegenüber dem neuen Koalitionspartner der CDU/CSU nicht
verhehlen - hätte ich der FDP angesichts der Denkweise,
die sie in den vergangenen Jahren gezeigt hat, zugetraut,
sich in manchen Punkten, gerade was das Ausländerrecht angeht, besser durchzusetzen.
({4})
Daher sage ich nur: Schon wir waren vielleicht nicht gut
oder nicht optimal; aber Sie sind ein noch wesentlich
kleinerer Teil der Koalition. So ist Ihr Erfolg in den
Koalitionsverhandlungen noch bescheidener ausgefallen. Dafür kann ich Sie nicht loben.
Gleichwohl werbe ich dafür, dass wir über den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen und den Antrag
der Linken, auch wenn sie nach meinem Dafürhalten
nicht differenziert genug, nicht weitgehend genug sind,
gemeinsam mit der neuen Koalition beraten. Ich würde
mich freuen, wenn wir zeitnah gemeinsam zu einem
konstruktiven Ergebnis kämen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nun Kollege Hartfrid Wolff für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reform des Bleiberechts durch die Bundesregierung 2007
war ein längst überfälliger Schritt. Das habe ich damals
als Vertreter der Opposition gesagt, und das sage ich
auch als Vertreter der FDP-Fraktion in der Regierungskoalition.
({0})
Wenn bei lange geduldeten, gut integrierten Ausländern eine Abschiebung nicht mehr vertretbar ist, muss
dieser Tatsache durch eine vernünftige und unbürokratische Regelung Rechnung getragen werden. Die entscheidenden Kriterien waren und sind jedoch: lange geduldet und gut integriert. Eine eigenständige Sicherung
des Lebensunterhalts ist dabei von entscheidender Bedeutung.
Das Zahlenmaterial, das die Grünen in ihrem Gesetzentwurf und die Linken in ihrem Antrag zitieren, deutet
darauf hin, dass diese Anforderung für die Integration
sehr bedeutsam ist. Anders als die Linken es in ihrem
Antrag vorgaukeln, ist es zutiefst inhuman, Menschen
den Aufenthalt zu ermöglichen, die keine Chance haben,
ihren Lebensunterhalt hier selbst zu verdienen. Wer so
etwas tut, hält Alimentierung für humane Politik.
Wir Liberalen halten es für besser, Menschen Chancen zu eröffnen. Arbeit ermöglicht es Zuwanderern,
finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, und fördert dadurch das Selbstwertgefühl nicht nur der Berufstätigen,
sondern auch ihrer Familienangehörigen.
Ohne einen gleichberechtigten Arbeitsmarktzugang
können sich Zuwanderer nicht aus ihrer ökonomischen
Abhängigkeit befreien. Erwerbstätigkeit ist die Grundlage für wirtschaftliche Eigenständigkeit. Deshalb stellt
die Koalition die Ermöglichung einer Erwerbstätigkeit in
den Mittelpunkt. Daher sagen wir im Koalitionsvertrag:
Die Residenzpflicht soll so ausgestaltet werden,
dass eine hinreichende Mobilität insbesondere im
Hinblick auf eine zugelassene Arbeitsaufnahme
möglich ist …
({1})
Wir sind uns in der Koalition einig, und wir sind uns übrigens auch mit den Grünen einig, wenn ich ihren Antrag
richtig verstehe.
({2})
Vor dem Hintergrund der momentanen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen besteht Handlungsbedarf in
Bezug auf die Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis auf
Probe, die die gesetzlichen Vorgaben zur Lebensunterhaltssicherung zum Jahresende voraussichtlich verfehlen
werden. Auch der Kollege Grindel hat das gerade ausgeführt.
Wir haben vereinbart, zeitgerecht eine angemessene
Regelung zu finden. Zunächst gilt es, die zum Jahresende auslaufende Regelung so anzupassen, dass wir den
notwendigen Raum gewinnen, eine tragfähige gesetzliche Grundlage für ein Bleiberecht zu schaffen, um den
nicht mehr verständlichen Zustand der Kettenduldungen
nachhaltig anzugehen.
({3})
Anfang Juli habe ich hier an dieser Stelle gesagt: Die
FDP hält es für notwendig, die Frist - bisher 31. Dezember 2009 - zu verlängern, da nach der Neuwahl des Bundestages die Zeit zu kurz ist, um durch eine neue Gesetzgebung für eine praktikable Umsetzung zu sorgen.
({4})
Die damalige FDP-Position sieht man jetzt weitgehend
wörtlich in dem Antrag der Grünen. Sie sind ihr beigetreten.
({5})
Ich finde es übrigens ganz interessant: Im Sommer konnten die Grünen dem noch nicht zustimmen. Auch die
SPD wollte dem in der damaligen Koalition nicht beitreten. Eine Gesetzesänderung wäre Anfang Juli freilich
das Mittel der Wahl gewesen.
({6})
Jetzt ist es arg spät dafür. Das war allen Kolleginnen und
Kollegen hier in diesem Hause auch bereits in der letzten
Legislaturperiode bewusst.
({7})
Unsere Befürchtung hat sich also als berechtigt
herausgestellt. Die Alternative, die die Grünen im vorliegenden Entwurf aufzeigen, über ein Votum der Innenministerkonferenz eine Übergangslösung zu bewerkstelligen, ist deshalb der richtige Weg. Zeitlich erhalten wir
so schneller als durch ein komplexes Gesetzgebungsverfahren, nämlich Anfang Dezember, eine verlässliche
Grundlage für die Betroffenen.
Herr Kollege Wolff, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Sharma?
Das muss nicht unbedingt sein.
({0})
Bitte schön.
Das eigentliche Problem stellt sich danach. Das Problem der Kettenduldungen muss einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden, und wir brauchen für alle, insbesondere auch für die bisher Geduldeten, Rechtssicherheit
und Rechtsklarheit.
({0})
Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleiberechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren
Zustand der Kettenduldungen abzuschaffen und andererseits die Zuwanderung nach Deutschland so zu steuern,
dass diese eine nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürger findet. Hier muss die tatsächliche Integration das entscheidende Kriterium sein.
({1})
Wer einem schrankenlosen Daueraufenthaltsrecht in vermeintlich humanitärer Gesinnung das Wort redet, riskiert
die steigende Ablehnung der Bevölkerung gegenüber
Zuwanderern.
Im Antrag der Linken wird die Notwendigkeit einer
eigenständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen
verneint, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland suchen. Es hilft niemandem weiter, wenn die Fraktion Die
Linke immer wieder fordert, de facto auf jegliche Zuwanderungssteuerung zu verzichten. Vielmehr erweist
die Linke damit den Bemühungen um Ausländerintegration einen Bärendienst. Die Linken erwecken mit ihrem
Antrag den Eindruck, Geduldete könnten sich allein dadurch, dass sie sich fünf oder gar nur drei Jahre lang
hierzulande aufgehalten haben, ohne aktiv etwas für ihre
Integration zu tun, einen Anspruch auf ein Bleiberecht
erwirken. Damit werden falsche Hoffnungen geweckt.
Eine solche Rücksichtslosigkeit gegenüber unseren
Sozialsystemen, vor allem aber übrigens auch gegenüber
den Betroffenen selbst, die die Linke offenbar nur als
Unmutspotenzial in der Bevölkerung kultivieren will,
trägt die FDP nicht mit. Die Möglichkeit für langjährig
Geduldete, den eigenständigen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist deshalb sehr wohl ein wichtiges Kriterium
bei der Bleiberechtsregelung. Das dient der Integration.
Um die Arbeitsmigration sinnvoll zu steuern, hat die
FDP konkrete Vorschläge gemacht, die auch von den
Gewerkschaften und den Unternehmen dringend angemahnt werden und über die wir im Koalitionsvertrag
Einvernehmen erzielt haben.
Wir sind uns auch beim Bleiberecht einig. Wir brauchen eine Zuwanderungssteuerung mit nachvollziehbaren Kriterien. Zuwanderer sind zu fördern, aber auch
selbst gefordert. Die deutsche Sprache, die Demokratie,
der Rechtsstaat und die Grund- und Menschenrechte
sind das für alle geltende Fundament unserer Gesellschaft.
Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanz
von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozialsysteme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und
die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie
schlicht falsche Erwartungen weckt und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördert.
({2})
Wir Liberalen wollen dagegen Chancen eröffnen.
({3})
Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht
falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute
macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet. Wir
wollen, dass die Menschen, die zu uns kommen, sich
ihre Zukunft selbst erarbeiten dürfen und können.
Wir wollen, dass sie hier willkommen sind.
({4})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Raju Sharma.
Herr Kollege Wolff, ich habe zur Kenntnis genommen, dass Sie zur Lebenssituation der Menschen, die
nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt überwiegend eigenständig zu sichern, ausgeführt haben, diese
Menschen hierzubehalten, sei inhuman. Ich finde diese
Aussage bemerkenswert, weil sie darauf rückschließen
lässt, dass Sie die Lebenssituation dieser Menschen als
inhuman betrachten. Wir können das unterstreichen. Ich
frage mich bloß: Wie beabsichtigen Sie diese Situation
zu ändern?
({0})
Herr Kollege Wolff.
Lieber Herr Kollege, wir sind uns doch darüber einig,
dass das geltende Ausländerrecht demokratisches Recht
ist und man dementsprechend beachten muss, dass man
nicht meinen kann, dieses außer Kraft setzen und einen
Anreiz dafür geben zu können, dass jeder, der in irgendeiner schwierigen Situation ist, nach Deutschland
kommen kann. Das heißt, wir werden eine Lösung finden müssen, nach welchen Kriterien jemand bleiben und
einen Aufenthaltsstatus bekommen kann. Dementsprechend müssen wir auch diese Regelung vollziehen.
Hartfrid Wolff ({0})
Genau deshalb müssen wir klare, für die Betroffenen
selbst, aber auch für unsere Gesellschaft nachvollziehbare Kriterien finden, die vernünftigerweise auch anerkannt sind. Ich glaube, dazu gehört auch die Möglichkeit, hier zu arbeiten und etwas für die Integration zu
tun. Aber bei demjenigen, der sich nicht integrieren will,
ist es verhältnismäßig schwierig, von den demokratischen Gesichtspunkten des Ausländerrechts Abstand zu
nehmen.
Das Wort hat nun Kollege Josef Winkler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Ich wende mich gleich an den Kollegen
Wolff. Nur weil der Deutsche Bundestag auf demokratische Weise ein Gesetz beschlossen hat, muss es nicht automatisch nur humane Auswirkungen haben.
({0})
Gerade im Bereich der Flüchtlingspolitik und des
Flüchtlingsrechts kann man das sehr genau beobachten.
Das alleine ist also noch kein inhaltlich starkes Argument gegen das gewesen, was der Kollege Sharma vorgebracht hat.
Jetzt will ich aber für den Kollegen Grindel und den
Kollegen Wolff aus unserem Gesetzentwurf zitieren:
In § 104 a Absatz 5 Satz 1 und 2 wird das Datum
„31. Dezember 2009“ jeweils durch das Datum
„31. Dezember 2010“ ersetzt.
Ich habe nicht gedacht, dass das so missverständlich sein
könnte, wie es sich heute gezeigt hat. Sie haben eine
große kreative Intelligenz bewiesen und hier Dinge hineininterpretiert, die damit wirklich nicht gemeint sind.
({1})
- Herr Kollege Grindel, Sie ignorieren meine Zwischenrufe auch immer. Deshalb rede auch ich jetzt einfach
weiter. Im Übrigen habe ich Ihren Beitrag zur Bekämpfung des demografischen Wandels schon zustimmend
zur Kenntnis genommen. Auch meine Gratulation
hierzu.
Aber jetzt zum Thema: Angesichts des Auslaufens
der gesetzlichen Bleiberechtsregelung zum Jahresende
ist es aus Sicht meiner Fraktion vordringlich, zunächst
Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für die Betroffenen
und auch für die Ausländerbehörden durch eine Fristverlängerung im Gesetz zu schaffen. Das ist jetzt am vordringlichsten. Den Menschen steht schon der Angstschweiß auf der Stirn, und zwar nicht nur den
Betroffenen selbst, sondern auch ihren Arbeitgebern.
Denn anders, als Sie gesagt haben, Herr Grindel, geht es
nicht nur um die Menschen, die keine Arbeit haben, sondern gerade auch um die von Ihnen genannten, die für
kleines Geld arbeiten gegangen sind. Sie fallen nämlich
gar nicht mehr unter diese Regelung, weil sich die
Rechtsprechung verändert hat.
({2})
Das heißt, wer ein sogenannter Aufstocker zusätzlich
zum Arbeitslohn ist, der kommt nach dieser gesetzlichen
Regelung nämlich gar nicht in den Genuss dieser Altfallregelung, die Sie als Große Koalition vorgelegt hatten.
Wenn Sie schon unseren Gesetzentwurf nicht durchlesen, dann sollten Sie sich vielleicht wenigstens die
Rechtsprechung und die geltende Rechtslage zu Gemüte
führen.
({3})
Ein reiner Beschluss der Innenministerkonferenz
stellt eindeutig einen Rückschritt dar. Zuvor gab es ein
klares Wort des Gesetzgebers. Als die geltende Regelung
demokratisch beschlossen wurde, waren Sie noch in der
Opposition, Herr Kollege Wolff. Es wurde nicht mehr,
wie das jahrzehntelang der Fall war, allein in geheimen
Runden der Innenministerkonferenz, sondern in diesem
Hohen Hause entschieden, wie mit den Menschen, die
von der Duldungsregelung betroffen sind, umgegangen
wird. Vor diesem Hintergrund können gerade Sie von der
FDP es mir nicht als einen demokratischen Fortschritt
verkaufen, wenn darüber wieder auf der Innenministerkonferenz unter Ausschluss der Öffentlichkeit - möglicherweise in berühmt-berüchtigten Kamingesprächen entschieden wird.
({4})
Nein, das ist sicherlich keine Verbesserung für die Betroffenen und erst recht nicht für das deutsche Parlament. Es handelt sich vielmehr um eine Selbstkastration
des Deutschen Bundestages. Wie können Sie das hier
vom Rednerpult aus begrüßen, Herr Kollege Grindel?
Herr Kollege Wolff, Sie haben vor der Sommerpause
genau das gesagt, was wir heute als Antrag vorgelegt haben. Danach soll das Aufenthaltsrecht auf Probe nicht
durch das Aufenthaltsrecht nach § 23 Abs. 1 Satz 1 ersetzt werden, sondern es soll nur die Frist bis zum
31. Dezember 2010 verlängert werden. Das hielt auch
die FDP für notwendig. Das waren Ihre Worte vor noch
nicht einmal einem Vierteljahr.
({5})
Heute stellen Sie sich hierhin und erfinden irgendwelche Gründe, warum das auf keinen Fall sinnvoll sein
kann.
({6})
Das, was wir damals und auch heute vorgelegt haben,
wollen Sie nun nicht mehr mittragen.
({7})
- Herr Kollege Wolff, ich kann doch Ihre sinnvollen Beiträge kopieren. Das ist ja kein ernst zu nehmender Vorwurf.
({8})
- Der Vorwurf eines Plagiats ist nur dann berechtigt,
wenn ich daraus einen unsittlichen Gewinn erziele, den
Sie dann nicht mehr haben. Den Gewinn gönne ich Ihnen gerne. Ich will Ihnen nicht unterstellen, dass Sie niemals eine kluge Idee haben. Wenn Sie aber darauf bestehen, dass festgestellt wird, dass Sie niemals eine kluge
Idee haben, tue ich Ihnen den Gefallen gerne und zitiere
Sie in Zukunft nicht mehr.
({9})
Ich fasse zusammen: Wir wollen, dass den Geduldeten geholfen wird. Wir wollen Rechtsklarheit und
Rechtssicherheit. Herr Kollege Veit, Ihr Angebot, eine
längerfristige, dauerhafte Regelung für diese Gruppe zu
finden, nehmen wir gerne an. Darüber können wir gemeinsam diskutieren. Auch wir werden im ersten Quartal zeitnah einen Vorschlag unterbreiten, aus dem hervorgeht, wie wir das dauerhaft für die nächsten Jahre
regeln wollen. Dann können wir darüber vielleicht in
diesem Hohen Hause beraten. Ich finde es aber sehr bedenklich, dass hier Parlamentarier ans Rednerpult treten
und sich freuen, dass ein Gesetz ausläuft und die Innenminister das dann exekutiv alleine regeln.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({10})
Ich erteile das Wort Kollegen Stephan Mayer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen! Sehr verehrte Kollegen! Ich bedaure, dass
durch die Vertreter der Opposition und insbesondere
durch die Vorlagen, die die Linkspartei und die Grünen
eingebracht haben, der Eindruck vermittelt wird, dass
zum 1. Januar 2010 eine humanitäre Katastrophe in
Deutschland droht, und zwar dergestalt, dass Tausende
von Menschen, die bisher über eine Aufenthaltsgenehmigung auf Probe verfügen, abgeschoben werden. Um
dies ganz klar zum Ausdruck zu bringen: Dem ist mitnichten so. Wir haben derzeit in Deutschland zwei Bleiberechtsregelungen: eine gesetzliche Bleiberechtsregelung und eine Bleiberechtsregelung, die auf dem
Beschluss der Innenministerkonferenz vom November
2006 beruht.
Um mit Zahlen aufzuwarten - Stand 30. September
2009 -: Nach der Bleiberechtsregelung der Innenministerkonferenz sind bislang 24 527 Personen in den Genuss einer Aufenthaltserlaubnis gekommen. Darüber
hinaus sind 10 373 Personen in den Genuss einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Abs. 1 Satz 2 bzw. Abs. 2
des Aufenthaltsgesetzes gekommen. Dabei handelt es
sich um Personen, die ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit eigenständig sichern konnten. Neben diesen
rund 35 000 Personen gibt es 29 039 Personen, die eine
sogenannte Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten haben.
In einer stichprobenartigen Untersuchung in den Bundesländern ab Mai dieses Jahres wurde festgestellt, dass
ungefähr die Hälfte dieser 29 000 Personen von Hartz IV
lebt. Die restlichen Personen - ungefähr 15 000 - befinden sich mittlerweile in der Situation, dass sie ihren Lebensunterhalt eigenständig durch Erwerbsarbeit zumindest teilweise sichern können. Diesen Menschen droht
keinesfalls die Abschiebung; das möchte ich klarstellen.
({0})
Daneben gibt es einen weiteren Bereich von 15 000
Personen, denen die Abschiebung ebenfalls nicht droht.
Es gibt im gültigen Aufenthaltsgesetz bereits Vorschriften, die es verbieten, dass Personen abgeschoben werden, wenn rechtliche oder tatsächliche Hindernisse bestehen.
({1})
- Liebe Frau Kollegin Jelpke, wenn Sie es selber wissen,
warum führen Sie es dann in Ihrem Antrag auf und behaupten, dass dem nicht so wäre?
({2})
Es stimmt auch nicht - das möchte ich klarstellen -,
dass ein Großteil der 30 000 Personen, die momentan
über den Aufenthaltstitel auf Probe verfügen, dann in die
Duldung fallen wird. Dies wird nicht der Fall sein.
({3})
Ich möchte ganz offen sagen, meine sehr geehrten
Vertreter von der Opposition: Es ist sinnvoll, die Bleiberechtsregelung zu verlängern, allerdings nicht in der
Form, wie Sie das im Moment beantragen.
({4})
Dem Antrag der Linken wohnt das Motto inne: Ein Ausreisepflichtiger muss es nur lange genug schaffen, trotz
seiner Ausreiseverpflichtung in Deutschland zu verbleiben, dann wird sein Aufenthalt schon legalisiert. Dem
Entwurf der Grünen wohnt der Gedanke inne: Auf eine
eigenständige Unterhaltssicherung kann es letzten Endes
Stephan Mayer ({5})
gar nicht ankommen, weil dies ohnehin eine viel zu hohe
Hürde wäre. Beiden Vorlagen ist deutlich entgegenzutreten.
Wichtig ist, dass wir bei der Fortschreibung des Bleiberechts differenzieren, ob jemand wirklich aktiv versucht hat, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Die entscheidende Stellschraube für eine
erfolgreiche Integration in eine Gesellschaft ist, dass
man sich zumindest ernsthaft bemüht, Arbeit zu bekommen.
({6})
Ich gestehe durchaus: Wir befinden uns in der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit der Gründung der
Bundesrepublik. Es ist derzeit schon für viele Deutsche
nicht einfach, eine Arbeitsstelle zu bekommen. Umso
schwieriger ist es für viele Ausländer - das ist vollkommen zugestanden -, in Deutschland Arbeit zu bekommen.
({7})
Deswegen würde ich sogar so weit gehen, nicht zu fordern, dass diese Personen tatsächlich eine Arbeitsstelle
bekommen haben müssen. Das Einzige, was ich von einem Geduldeten verlange, ist - das ist nicht zu viel verlangt -, dass er sich ernsthaft bemüht, Arbeit zu bekommen.
Weiterhin sollte es folgendermaßen sein: Wenn Kinder vorhanden sind, sollten diese eine Schule besuchen.
Wenn jemand über ausreichenden Wohnraum verfügt,
dann rechtfertigt dies meines Erachtens, ihm weiterhin
den Verbleib in Deutschland zu gestatten. Natürlich kann
man von jemandem, der ernsthaft versucht, sich in die
deutsche Gesellschaft zu integrieren, auch erwarten, dass
er sich zumindest Grundkenntnisse der deutschen Sprache aneignet. All dies sind Aspekte, die meines Erachtens zu gewichten und zu werten sind, wenn es darum
geht, festzulegen, ob eine Person weiterhin eine Bleiberechtsregelung genießen darf oder nicht.
({8})
Ich halte nichts von einer gesetzlichen Regelung. Die
Länder sind die verantwortlichen Instanzen, wenn es darum geht, das Ausländer- und das Aufenthaltsrecht zu
exekutieren.
({9})
Die Bleiberechtsregelung ist nun einmal eine Ausnahmebestimmung. Deswegen halte ich es für durchaus
sinnvoll und sachgerecht, dass sich die Bundesländer
und die Innenministerkonferenz der Länder mit dieser
Thematik beschäftigen. Die nächste Innenministerkonferenz steht alsbald an, und zwar am 3. und 4. Dezember
dieses Jahres. Ich bin der guten Hoffnung, dass es den
Innenministern aller unterschiedlichen Parteien gelingt,
eine sachgerechte und vernünftige Fortschreibung der
Bleiberechtsregelung zu erreichen.
({10})
Ich möchte eines klarmachen: Der Inhalt einer Bleiberechtsregelung darf nicht dazu führen, dass die Personen privilegiert werden, die sich nicht aktiv bemüht haben, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, die
vielleicht sogar ihre Identität und ihre Herkunft verschleiert haben, die vielleicht ihre Legitimationspapiere
weggeworfen haben und die sich nicht aktiv bemüht haben, eine Arbeitsstelle in Deutschland zu bekommen.
({11})
Es gilt ganz klar, diesen Personen das Bleiberecht zu
versagen.
Ich bin der festen Überzeugung, dass man diesem differenzierten Ansatz, den ich jetzt dargestellt habe, in allerbester Weise in Form einer Regelung durch die Innenministerkonferenz, die in der nächsten Woche stattfinden
wird, gerecht wird. Diese unterschiedlichen Sachverhalte, diese unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten
kann man meines Erachtens nicht in ein Gesetz und in
einen oder zwei Paragrafen gießen. Es ist wesentlich
sachgerechter und vernünftiger, eine ausdifferenzierte
Regelung im Rahmen der Innenministerkonferenz zu
finden. Die Anzeichen sind positiv. Die bisherigen Ankündigungen der Länderinnenminister gehen in die
Richtung, dass es relativ einfach sein wird, eine Fortschreibung der Bleiberechtsregelung zu erreichen. Ich
glaube, dass dies in allerbester Weise den unterschiedlichen Befindlichkeiten und den berechtigten Erwartungen auf allen möglichen Seiten gerecht wird. In diesem
Sinne gilt es, den Vorlagen der Grünen und der Linken
heute die Zustimmung zu verweigern. Ich hege die hoffnungsvolle Erwartung, dass es den Länderinnenministern in der nächsten Woche gelingt, eine sachgerechte
und vernünftige Lösung zu finden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/19 und 17/34 ({0}) an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 17/41 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Klaus Ernst, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Bundesbeteiligung bei Kosten der Unterkunft
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch
erhöhen
- Drucksache 17/75 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heutige Beratungsbedarf ergibt sich aus dem Vierten Gesetz
für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Im
Jahr 2004 hat man bekanntlich beschlossen, dass sich
der Bund im Rahmen der Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe an den Kosten der Unterkunft
beteiligt, und hat dann Modalitäten festgelegt. Nachdem
man zunächst einmal zwei Jahre spitz abgerechnet hat,
hat man gemerkt, dass das sehr viel Bürokratie verursacht. Dann hat man eine Formel entwickelt, die für die
Zeit ab dem Jahr 2008 angewendet wird.
Seitdem gilt die Formel, dass man die Kostenbeteiligung danach bemisst, ob die Zahl der Bedarfsgemeinschaften konstant ist oder gegenüber dem
Vorjahreszeitraum abweicht. Wenn die Zahl der Bedarfsgemeinschaften gegenüber dem vorigen Berechnungszeitraum - das ist jeweils Juli eines Jahres bis
Juni des nächsten Jahres - um mehr als 0,5 Prozent abweicht, dann muss eine nach der Formel vorgegebene
Angleichung stattfinden. Aus dem Grund ist man jetzt
bereits bei der sechsten Änderung angekommen. Im
Zeitraum von Juli 2008 bis Juni 2009 ist die Zahl der
Bedarfsgemeinschaften in Deutschland um 3,4 Prozent
zurückgegangen. Aus der Formel ergibt sich damit ein
Anpassungsbedarf von 3,4 Prozent zum letzten Berechnungszeitraum. Damit liegt der Rückgang über 0,5 Prozent, und daher haben wir die sechste Änderung.
Bislang betrug die Kostenbeteiligung des Bundes
durchschnittlich 26 Prozent. Wenn man die Formel anwendet, dann ergibt sich, dass die Rate um 2,4 Prozentpunkte sinkt und damit auf 23,6 Prozent festzuschreiben
ist. Das ist der wesentliche Bestandteil dieses Gesetzes.
Als alter Haushälter habe ich kurz ausgerechnet, wie
sich das in Euro niederschlägt. Wir haben auf der Basis
der derzeitigen gesamtwirtschaftlichen Daten Gesamtausgaben in Höhe von 15,8 Milliarden Euro auf diesem
Gebiet zu erwarten. 23,6 Prozent davon ergeben circa
3,7 Milliarden Euro im Jahr 2010. Ich hoffe, ich habe
richtig gerechnet.
Nun gibt es in diesem Jahr eine Initiative des Bundesrats, die vorsieht, dass man die Berechnung künftig nicht
mehr an der Zahl der Bedarfsgemeinschaften festmachen
möge, sondern an den Ausgaben. Ich darf hier bereits ankündigen, dass die Bundesregierung nicht gedenkt, diesem Anliegen nachzukommen, sondern an dem bisherigen Standpunkt festhält. Täte sie das nicht, würde hier
eine Entwicklung eintreten, dass bei Kosten, die der
Bund nahezu nicht beeinflussen kann, eine Mitwirkung
stattfindet, die außerhalb ihrer Einflussmöglichkeiten
liegt. Das kann nicht im Interesse des Bundes sein. Daher bemühen wir uns, diese Intervention zurückzuweisen.
Rasche Beratungen sind angesagt; denn bedingt durch
die Bundestagswahl konnte dieses Gesetz nicht früher
auf den Weg gebracht werden. Das bedeutet, dass die
Ausschüsse jetzt sehr schnell an die Arbeit gehen müssen. Ich habe mit Freude festgestellt, dass das bereits geschehen ist. Am Montag wird noch eine Anhörung stattfinden. Die nächste Beratung wird bereits in der Folge
stattfinden können. Die Voraussetzungen sind also gegeben, dass dieses Gesetz rechtzeitig in Kraft tritt.
Ich bedanke mich bei dem Ausschuss, dass er diese
Beschleunigung vorgenommen hat, und wünsche uns
gute Beratungen.
({0})
Das Wort hat nun Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Alle
Jahre wieder …“, Sie kennen dieses Lied; immer vor
Weihnachten fällt es uns ein. Wir kennen alle Strophen.
Ein bisschen wie „Alle Jahre wieder …“ behandeln wir
auch dieses Thema.
({0})
Worum geht es dabei? Es geht im Grunde darum, dass
wir altbekannte Argumente austauschen. Dann wird eine
Entscheidung getroffen, und wir fragen uns hinterher:
Sind wir in der Sache weitergekommen? Heute wird es
an einem Punkt ein bisschen spannender. Ich freue mich
schon auf Ihre erste Rede im Bundestag, werter Kollege
von der FDP.
({1})
- Mit Recht. - Denn er wird ein Kunststück vollbringen:
Er wird uns zeigen, wie die FDP eine Volte macht von
bisher „immer dagegen“ hin zu jetzt „voll dafür“.
({2})
Wir wissen, dass bei den Linken und den Grünen
ebenso wie bei den kommunalen Spitzenverbänden das
Herz höher schlägt, wenn man sagt: Wir beteiligen uns
anteilig an den Kosten der Unterkunft, weil sie so gestiegen sind. Ich erinnere in diesem Zusammenhang immer
sehr gern an eine Kleinigkeit: Dieser Kompromiss wurde
mit Zustimmung der Bundesländer gefunden. Gelegentlich fehlt dafür das Erinnerungsvermögen. Jahr für Jahr
haben wir mit den Bundesländern verhandelt - Basartechniken kamen zur Anwendung -, bis man eines Tages
auf die Formel stieß, die die Lösung sein sollte. Jetzt
wird genau diese Formel infrage gestellt.
Was ist der Kern dieser Formel? Der Kern dieser Formel ist, dass wir abheben auf die Zahl der Bedarfsgemeinschaften. Herr Staatssekretär Fuchtel hat gerade erläutert, wie das funktioniert. Bestritten wird, dass das
zielführend sei. Ich behaupte: Wer eine gute, aktivierende Arbeitsmarktpolitik auf Bundesebene macht, für
den ist diese Formel richtig, weil es das entsprechende
Steuerungsinstrument ist.
({3})
Aber ich muss schon sagen, Kollege Schiewerling:
Sie stehen vor großen Herausforderungen. Im Augenblick kann ich nicht erkennen, dass die neue Regierung
wirklich eine aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben will.
({4})
Herr Fuchtel hat sich an dieser Stelle erfreut darüber gezeigt, dass wir den Gesetzgebungsprozess beschleunigen. Dem entgegne ich: 50 000 Beschäftigte in den Argen hätten sich gefreut, wenn Sie etwas schneller
gewesen wären.
({5})
Sie warten nämlich bis heute darauf, wie es weitergeht.
Kommen wir zurück zu der Formel, um die es heute
geht. Sie ist im Einvernehmen beschlossen worden. Ich
erinnere nur an Folgendes - das hören einige ungern -:
Es sind sozusagen Kompensationsgeschäfte gewesen. In
diesem Zusammenhang wurden im Sommer 2008 - das
ist noch nicht so lange her - verbessernde Regelungen
zulasten des Bundes getroffen, was die Kostenbeteiligung an der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit betrifft. Wir haben das Wohngeld novelliert.
Wir haben den Kinderzuschlag verbessert. Beides sind
Instrumente, die sich mindernd auf die Kosten der Unterkunft auswirken. Einfach zu sagen, diese Formel sei
nicht zielführend, ist deshalb, finde ich, zu kurz gesprungen. So viel will ich auch zum Antrag der Linken sagen.
Ich stelle fest, dass die massive Kritik alte Kritik ist.
Ich höre kein neues Argument. Ich habe aber einen Vorschlag, wie wir die Anhörung am kommenden Montag
so nutzen können, dass es vielleicht zu Verbesserungen
kommt. Mir ist aufgefallen, dass bei dieser Formel immer nur die Zahl der Bedarfsgemeinschaften zugrunde
gelegt wird. Alle, die sich ein bisschen um Menschen
vor Ort kümmern, wissen, dass die Zahl der Personen in
den Bedarfsgemeinschaften höchst unterschiedlich ist.
Möglicherweise kann man durch eine Verbesserung der
Formel mehr Gerechtigkeit erzielen. Ich gebe das als
Anregung mit auf den Weg. Deshalb, denke ich, wird die
Anhörung am Montag interessant werden. Ich hoffe,
dass wir im Ergebnis dann zu Lösungen kommen, die
auch wirklich sachdienlich sind.
Damit komme ich wieder zur Arbeitsmarktpolitik:
Schwarz-Gelb schlägt einen ganz anderen Weg ein, als
wir ihn bisher gegangen sind. Sie machen einen Niedriglohnsektor auf.
({6})
- Nein!
({7})
- Herr Kolb, wenn Sie eine Antwort haben möchten,
dann können Sie mich fragen. Dann verlängert sich
meine Redezeit. Dann gehe ich auch gerne auf Ihren
Zwischenruf ein.
({8})
Jetzt aber sage ich: Dieser Niedriglohnsektor, der
über die Erhöhung der Hinzuverdienstgrenzen und den
Verzicht auf die Einführung von Mindestlöhnen massiv
ausgeweitet wird, treibt Menschen in die Abhängigkeit,
in Bedarfsgemeinschaften und macht sie zu Empfängern
von Leistungen nach SGB II. Das finde ich unwürdig.
({9})
Ich will hinzufügen - das muss man in Kombination
mit dem Vorherigen sehen -: Wir wissen, dass es zahlreiche Widerspruchs- und Klageverfahren gerade bezüglich
Kosten der Unterkunft gibt. In Ihrem Koalitionsvertrag
steht jedoch ein Prüfauftrag, und Sie geben da Ihrer
Sorge Ausdruck, dass Prozesskosten- und Beratungshilfe
sozusagen unzulässigerweise in Anspruch genommen
werden. Das halte ich für hinterhältig. Wenn wir heute
erkennen, dass es einen klaren Anspruch der Menschen
auf eine Leistung gibt, den sie berechtigt erheben, dieser
aber nicht immer sauber erfüllt wird, dann dürfen wir
nicht noch die Möglichkeiten der Personen beschneiden,
Recht zu bekommen. Das finde ich unanständig.
({10})
Deshalb - damit komme ich zum Schluss meiner
Rede - werden wir uns nicht mit dem zufriedengeben,
was wir haben. Wir sind strikt der Meinung, Herr Kolb,
dass das, was arbeitsmarktpolitisch passiert, völlig in die
falsche Richtung geht.
({11})
Als jemand, der auf kommunaler Ebene Verantwortung
trägt, hoffe ich, Herr Kolb, dass Sie sich doch zumindest
an das halten werden, was Sie im Koalitionsvertrag beschlossen haben.
({12})
Sollten Sie an der Stelle schon wortbrüchig werden, hätten Sie ein Tempo drauf, das atemberaubend wäre.
({13})
Kommunen schreien zurzeit auf, weil sie wirklich
Sorge haben, an den Rand gedrängt zu werden. Das ist
auch Fakt: Sie werden an den Rand gedrängt durch eine
Steuerpolitik, die zu massiven Einnahmeausfällen auf
kommunaler Ebene führt. Sie haben die Sorge, dass die
Gewerbesteuer wegbricht. Sie müssen sich Sorgen machen, dass Dienstleistungen kommunaler Natur mehrwertsteuerpflichtig werden. Das heißt, in den Haushalten
der Gemeinden wird es richtig eng. Sie aber kommen daher und sagen, das müsse man eben in Kauf nehmen. Ich
sage Ihnen: Nein.
Die Lösung liegt allerdings nicht darin, bei den Kosten der Unterkunft die Bemessungsgrundlage bzw. die
Formel zu verändern, sondern die Lösung läge darin,
eine Politik zu machen, die menschenwürdig ist und den
Kommunen eine gute Zukunft gibt.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Kollege Pascal Kober für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Höhe der Beteiligungen des Bundes an den kommunalen Leistungen
für Unterkunft und Heizung nach § 46 SGB II für das
Jahr 2010 festgelegt werden.
Frau Lösekrug-Möller, auch wenn wir als FDP-Fraktion im Bundestag in der Vergangenheit immer wieder
Anfragen bezüglich des zugrunde liegenden Berechnungsverfahrens für den Bundesanteil formuliert haben,
stellen wir uns dem vorliegenden Gesetzentwurf der
Bundesregierung, der noch unter Federführung des alten
Kabinetts beraten worden ist, nicht in den Weg.
({0})
Zu Ihrer Information, Frau Lösekrug-Möller: Wir haben
uns das letzte Mal bei der Stimmabgabe in der Sache
enthalten, wiewohl wir in der Tat Anfragen haben.
({1})
Im Moment geht es nach meiner Auffassung und nach
Auffassung der FDP vor allen Dingen darum, dass die
Kommunen in der Kürze der Zeit rasch die notwendige
Planungssicherheit und letztendlich auch die zugesagte
finanzielle Entlastung erhalten.
({2})
Für die Zukunft möchte ich allerdings - das sage ich
auch in schwäbisch-freundlicher Verbundenheit zum
Staatssekretär Fuchtel -, dass sich etwas ändert. Das
wird nicht leicht, vielleicht auch nicht mit unserem Koalitionspartner, aber ich vertraue in diesem Fall zumindest am Anfang der Legislaturperiode auf die Kraft der
guten Argumente.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einem neuen Abgeordneten fällt bei der Vorbereitung auf die vorliegende
Fragestellung zunächst und vor allem die schier unendliche Komplexität der Materie auf, die komplizierte Systematik der Anpassungsformel, die der Berechnung des
zugesagten Bundeszuschusses an die Kommunen für
Unterkunft und Heizung zugrunde liegt, die in der Vergangenheit übrigens auch von erfahrenen Kolleginnen
und Kollegen in einer Plenardebatte kaum mehr zu vermitteln schien. Es ist meiner Auffassung nach eine Frage
politischer und damit auch sozialer Verantwortung, dass
wir uns in Zukunft bemühen, die Ergebnisse unserer
Politik so zu gestalten, dass die Menschen sie verstehen
können.
({4})
Das ist eben auch eine Frage des Respekts vor den Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind;
sie sollten die Prozesse und Ergebnisse unserer Politik,
von denen sie abhängig sind, wenigstens verstehen und
nachvollziehen können.
Von daher bleibt die grundsätzliche Forderung der
FDP nach Vereinfachung und Entflechtung der Finanzbeziehungen von Bund, Ländern und Kommunen hochaktuell. Wir werden in allen Bereichen unserer Politik in
den kommenden vier Jahren darauf achten, dass wir an
dieser Stelle entscheidend vorankommen werden.
({5})
Wir werden, bei aller Notwendigkeit unterstützender
Transferleistungen, unsere Verantwortung vor allem darin sehen, es den betroffenen Menschen zu ermöglichen,
aus schwierigen Lebenssituationen und aus der Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung möglichst rasch
wieder herauszukommen und ein so weit es irgend geht
selbstbestimmtes Leben zu führen.
({6})
Wir werden als FDP darüber hinaus in den kommenden vier Jahren Sozialpolitik auch als Präventionspolitik
verstehen, definieren und gestalten; denn Vorsorge ist in
diesem Bereich immer besser als Nachsorge.
({7})
Das gilt einerseits unter haushaltspolitischen Gesichtspunkten und ist deshalb auch eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber künftigen Generationen, also eine Frage
der Gerechtigkeit gegenüber in der Zukunft lebenden auf
staatliche Unterstützung angewiesenen Menschen.
({8})
Aber das Prinzip „Vorsorge ist besser als Nachsorge“ gilt
andererseits vor allem aufgrund unserer liberalen Perspektive bezüglich des Menschen und der Gesellschaft.
Eine Gesellschaft muss - das ist meine Auffassung - so
gestaltet sein, dass möglichst alle Menschen in der Lage
sind, ihre jeweiligen Begabungen zu erkennen, sie auszubilden und schließlich dauerhaft und möglichst selbstbestimmt für sich selbst und andere einsetzen zu können.
({9})
Wir haben in diesem Bereich im Koalitionsvertrag bereits entscheidende Akzente gesetzt, insbesondere in der
Bildungs- und Familienpolitik sowie der Integrationspolitik, aber nicht zuletzt auch in der Arbeitsmarkt-,
Wirtschafts- und Finanzpolitik.
({10})
Denn nach wie vor ist Arbeitslosigkeit die Hauptursache
für Bedürftigkeit und Armut, für prekäre Lebenssituationen in unserem Land. Deshalb unterstützen wir alle
Maßnahmen, die auf dauerhaftes wirtschaftliches
Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen ausgerichtet sind.
({11})
Der häufig aus ideologischen Gründen künstlich aufrechterhaltene Gegensatz von ökonomischer Vernunft
und sozialstaatlicher Verantwortung hilft keinem von
Armut, prekärer Lebenssituation oder Arbeitslosigkeit
Betroffenen und gehört daher endlich überwunden.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin stolz darauf,
einer Bundestagsfraktion anzugehören, die an dieser
Stelle im Sinne der Menschen einen ganzheitlichen und
in sich stringent gedachten sozialpolitischen Ansatz verfolgt.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({13})
Kollege Kober, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Ich gratuliere Ihnen herzlich und wünsche
Ihnen alles Gute für die weitere Zusammenarbeit in diesem Hause.
({0})
Das Wort hat nun Kollegin Katja Kipping für die
Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als
Hartz IV eingeführt wurde, wurde den Kommunen eine
Entlastung von 2,5 Milliarden Euro versprochen. Dies
wurde sogar im Gesetz verankert. Um diesem Versprechen nun gerecht zu werden, beteiligt sich der Bund an
den Kosten der Unterkunft für Hartz-IV-Betroffene, die
ansonsten von den Kommunen getragen werden. Doch
Jahr für Jahr stiehlt sich der Bund weiter aus der Verantwortung. Um es einmal prozentual zu verdeutlichen: Betrug im Jahr 2007 der durchschnittliche Bundesanteil
noch 31,8 Prozent, so soll er im Jahr 2010 nur noch
23,6 Prozent betragen. Die Mehrkosten werden auf die
Kommunen abgewälzt. Für uns ist das nicht hinnehmbar.
({0})
Um einmal zwei Beispiele zu nennen: In der Stadt
Dresden rechnet man damit, dass im Jahr 2010 im Vergleich zum Jahr 2008 Mehrkosten von 8 Millionen Euro
entstehen. In Bochum sind im Jahr 2009 im Vergleich
zum Vorjahr Mehrkosten von 1,5 Millionen Euro entstanden.
Wir halten also fest, dass die einst versprochene Entlastung der Kommunen von 2,5 Milliarden Euro schon
heute nicht mehr gesichert ist. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf will sich der Bund noch weiter aus
der Verantwortung stehlen. Der Bundesrat kritisiert insofern zu Recht: Das Absenken des Bundesanteils auf
durchschnittlich 23,6 Prozent widerspricht der gesetzlichen Zusage einer bundesweiten Entlastung.
({1})
Grundlage für den Rückzug des Bundes ist natürlich
die Tatsache, dass sich der Bundesanteil nach der Zahl
der Bedarfsgemeinschaften bemisst. Im Klartext: Wenn
die Zahl der Bedarfsgemeinschaften sinkt, sinkt auch der
Bundesanteil. Die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften
sagt aber nur sehr bedingt etwas über die Gesamtkosten
aus. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen:
Nehmen wir, ganz einfach und schematisch gerechnet,
einen Häuserblock, in dem es drei Bedarfsgemeinschaften gibt, deren Kosten der Unterkunft jeweils 200 Euro
betragen. Dreimal 200 Euro ergeben Kosten von insgesamt 600 Euro. Wenn von diesen drei Bedarfsgemeinschaften zwei zusammenziehen und in eine größere
Wohnung ziehen, so haben wir nur noch zwei Bedarfsgemeinschaften. Das heißt, der Anteil des Bundes fällt
deutlich geringer aus.
({2})
Da aber zwei Leute Anspruch auf eine größere Wohnung
haben und in der anderen Bedarfsgemeinschaft ein Kind
geboren worden ist, fällt plötzlich die durchschnittliche
Miete deutlich höher aus; sagen wir einmal 300 Euro.
Zwei Bedarfsgemeinschaften mal eine Miete von
300 Euro ergeben wieder 600 Euro. Die Kosten bleiben
also gleich; der Bund zahlt jedoch weniger. Wer hat die
Mehrlasten zu tragen? Die Kommune. Wenn in den
Kommunen das Geld fehlt, dann fehlt es konkret für Seniorenbegegnungsstätten, Jugendklubs oder aber Kitas.
Das ist ein Fehlen an der falschen Stelle.
({3})
Wir haben immer deutlich gemacht: Hier kann nur ein
Weg der richtige sein. Wir müssen von der Bezugsgröße
der Bedarfsgemeinschaften wegkommen. Vielmehr
müssen die tatsächlich entstandenen Kosten der Maßstab
für die Bundesbeteiligung sein. - Meine Damen und
Herren von der FDP, da könnten Sie ruhig klatschen;
denn hierbei handelt es sich um ein Zitat Ihres Kollegen
Haustein vor nicht allzu langer Zeit zu diesem Thema.
Auf die Kommunen kommt in diesem und im nächsten Jahr ohnehin eine enorme Mehrbelastung aufgrund
der Krise zu. Wir dürfen die Kommunen nicht länger im
Regen stehen lassen. Deswegen hat die Linke einen eigenen Antrag eingebracht. Wir schlagen vor: Der Anteil
des Bundes muss sich an den tatsächlichen Kosten bemessen; denn wenn in den Kommunen Geld fehlt, dann
fehlt es an der falschen Stelle.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Britta Haßelmann für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn man Herrn Fuchtel so hört, hat man den Eindruck, es gehe heute um ein paar mathematische Formeln: Hier und da ein bisschen Formel ergibt die sechste
Änderung dort. Herr Fuchtel, es geht hier knallhart um
die Kommunen. Es geht darum, wie die Kommunen in
Zukunft die Daseinsvorsorge sicherstellen können.
Ich möchte Ihnen Folgendes in Erinnerung rufen
- vielleicht interessieren Sie ein paar Zahlen -: Wir, der
Deutsche Bundestag, sind durch die Bundesratsinitiative, die aus dem schwarz-gelben NRW kommt und einstimmig im Bundesrat verabschiedet wurde, aufgefordert worden, endlich zu agieren und uns nicht immer auf
die Schulter zu klopfen und zu sagen: Wir haben 2005
eine wunderbare Formel verabschiedet, und jetzt schreiben wir diese zum sechsten, siebten, achten Mal fort. Die
gestiegenen Ausgaben für die Kosten der Unterkunft,
das heißt Sozialausgaben der Kommunen, sind von 2005
bis 2010 von 8,7 Milliarden Euro auf 12,1 Milliarden
Euro gestiegen. Was hat der Deutsche Bundestag in dieser Zeit getan? Er will mit diesem Gesetzentwurf die Reduzierung des Bundesanteils von ehemals 31,8 Prozent
auf 23,6 Prozent in 2010 beschließen. Das kann doch
wohl nicht Ihr Ernst sein! In einer Situation, in der es
dramatische Gewerbesteuereinbrüche gibt, in der die
Kommunen immer höhere Soziallasten zu tragen haben
- wir reden von Gewerbesteuereinbrüchen von 15 Prozent im Bundesdurchschnitt, wir reden über Steuermindereinnahmen von 10 Prozent auf die Steuern insgesamt
bezogen, wir reden von 1,6 Milliarden zusätzlichen Mindereinnahmen durch Ihr sogenanntes Wachstumsbeschleunigungsgesetz -, reduzieren Sie abermals die direkten Zuweisungen an die Kommunen für die Kosten
der Unterkunft.
Sie wissen doch alle ganz genau, was das bedeutet.
Das bedeutet, dass bei sogenannten freiwilligen Leistungen in einer Massivität gekürzt wird, dass uns allen die
Augen tränen.
({0})
Ich frage gerade Sie auf der rechten Seite des Plenums:
Wie bekommen Sie es eigentlich hin, in Wuppertal, in
Remscheid, in Solingen, dort, wo Sie Verantwortung tragen, dort, wo Sie Ihre Wahlkreise haben, den Menschen
zu erklären: Wir machen einfach eine kleine, neue Formelberechnung; das kostet euch mal eben 1,6 Milliarden
zusätzlich, aber das ist halt so, wir können gerade nicht
anders?
({1})
Ich glaube, Herr Schiewerling - Sie sind ja noch nach
mir dran -, dass Sie das keinem erklären können. Im Gegensatz zu Ihnen hat Josef Laumann das kapiert. Deshalb gab es die Bundesratsinitiative von Schwarz-Gelb,
im Übrigen mit Unterstützung aller anderen Bundesländer. Ich fordere Sie an dieser Stelle auf, nicht dauernd zu
erklären, wir müssten über eine Änderung der Anpassungsformel reden. Liebe Kollegin von der SPD, das hat
uns Herr Scholz in den letzten drei Jahren auch erklärt.
Wir sollten endlich damit anfangen, die Kommunen
wirklich zu entlasten. Sonst müssen Sie sich nicht wundern, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die Daseinsvorsorge sicherzustellen.
({2})
Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! An den Kosten der Unterkunft und der Verteilung der Kosten kann man manches
festmachen, aber nicht die Kosten für Kitas, Jugendheime, Kindergärten usw., Frau Kollegin Haßelmann.
Wir reden über ein Problem, das ich überhaupt nicht
kleinreden will, aber das gehört nicht zusammen.
2005 hat kein Mensch im Blick gehabt, wie sich das
wohl mit den Kosten der Unterkunft nach dem SGB II
entwickeln würde.
({0})
Wir haben bereits von 2005 bis 2006 eine heftige Diskussion zwischen Bund, Ländern und Kommunen geführt. Deswegen haben sich 2006 Bund, Länder und
Kommunen darauf verständigt, dass Grundlage für die
Berechnung der Kosten der Unterkunft die Anzahl der
Bedarfsgemeinschaften ist.
Ich kann mich noch gut an meinen Wahlkampf 2005
erinnern, als mich ein Apotheker zu einem Gespräch eingeladen hat. Ich sah einen Haufen von Bewerbungen in
seinem Regal liegen. Ich habe ihn gefragt: Stellen Sie
neue Mitarbeiter ein? Er sagte: Jawohl, ich suche eine
neue Auszubildende, einen neuen Auszubildenden für
meine Apotheke. Es gab viele Bewerbungen. Von den
Bewerbern haben sich nur zwei bereit erklärt, zu kommen. Die übrigen haben gesagt, sie ziehen zu Hause aus,
beziehen Hartz IV, haben ihre Wohnung, die sie auch
noch finanziert bekommen. Deswegen verzichten sie auf
die Ausbildungsstelle. - Das war 2005.
({1})
- Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.
Halten Sie einen Augenblick inne und sehen Sie sich die
Situation an, wie sie war. Daraufhin hat der Deutsche
Bundestag, die Große Koalition reagiert. Er hat eine Reform über die Frage herbeigeführt, wer zu einer Bedarfsgemeinschaft gehört. Er hat beschlossen, dass eine Bedarfsgemeinschaft die Geschäftsgrundlage sein soll, und
das mit den Ländern und den Kommunen ausgehandelt.
Ich halte diesen Weg, den wir in dieser Frage gegangen
sind, für den richtigen.
Unter diesen Gesichtspunkten ist und bleibt der Bund
ein verlässlicher Partner in der gesamten Finanzierung
des SGB II. Wir werden aufgrund der Berechnungsgrundlage, der Hochrechnung für 2010, 3,7 Milliarden
Euro zur Verfügung stellen. Wir werden diese Mittel in
den Haushalt einstellen, weil dies die Geschäftsgrundlage ist, auf die sich Bund, Länder und Kommunen miteinander verständigt haben.
({2})
Frau Kollegin Lösekrug-Möller, ich glaube übrigens,
dass die Frage, die Sie gestellt haben, ob wir im nächsten
Jahr schauen, inwieweit wir in der Berechnungsformel
Besonderheiten berücksichtigen können, auch innerhalb
der Koalition und bei uns eine Rolle spielt.
({3})
Das ist überhaupt keine Frage. Wenn wir jetzt aber nach
dem Motto „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ anfangen, die Formel nach Gutsherrenart beliebig
zu ändern, geraten wir mit dem gesamten System noch
tiefer in ein Finanzierungsdurcheinander, und das können wir weder den Kommunen noch dem Bund noch den
Betroffenen zumuten.
({4})
- Davon haben die Kommunen auch keinen Vorteil.
({5})
Der Grund, warum sich Bund, Länder und Kommunen damals auf diese Regelung der Kosten der Unterkunft im SGB II verständigt haben, ist schlicht und einfach, dass die Auswirkungen der arbeitsmarktpolitischen
Situation besser an der Anzahl der Bedarfsgemeinschaften festgemacht werden können und nicht so gut daran,
wie die Kosten insgesamt gestiegen sind. Die Kommunen haben ausdrücklich den Auftrag, in ihrem Bereich
zu gestalten. Sie sind es, die feststellen können, ob die
Wohnung angemessen ist. Sie sind es, die feststellen
können, ob bezogen auf den jeweiligen Hilfeempfänger
der Bedarf einer Neuregelung besteht. Die Kommunen
haben die Verantwortung dafür. Das war der Grund, warum wir uns darauf verständigt haben, dass die Bedarfsgemeinschaften die Geschäftsgrundlage sind.
({6})
Ich sage an dieser Stelle in aller Deutlichkeit und wiederhole mich gerne: Das SGB II ist ein lernendes System. Das gilt nicht nur für die Argen vor Ort und für die
Optionskommunen, sondern das gilt auch für den Bund,
für die Länder, für die Kommunen und für die Betroffenen. Das gilt für all diejenigen, die dazu beitragen wollen, dass die Menschen, die im SGB-II-System sind, in
der Grundsicherung für Arbeitsuchende, Hilfe und Unterstützung bekommen, damit sie aus dieser Grundsicherung so schnell wie möglich herauskommen. Das Ziel
kann nicht sein, auf Dauer in dieser Situation zu bleiben,
sondern die Menschen müssen da herauskommen.
Ich gehe davon aus, dass wir die Entscheidungen bezüglich der Kosten der Unterkunft in diesem Jahr treffen. Ich halte das für absolut notwendig, damit Verlässlichkeit und Planbarkeit für alle Beteiligten in dem
System weiterhin bestehen.
Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/41 und 17/75 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Marieluise Beck ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Demokratie in Honduras
- Drucksache 17/33 -
Vizepräsidentin Petra Pau
b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
Demokratiebewegung in Honduras unterstützen - Wahlen der Putschisten nicht anerkennen
- Drucksache 17/60 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Thilo Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor dem 28. Juni dieses Jahres dachte ich, dass Militärputsche in Lateinamerika endgültig der Vergangenheit
angehören. Ich dachte, die Zeiten, in denen politisch unliebsame Präsidenten mit vorgehaltener Waffe nachts aus
dem Bett geholt und nur mit Unterwäsche bekleidet außer Landes geflogen werden, seien ein für alle Mal vorbei. Ich hoffte, nie wieder lesen zu müssen, dass politische Gegner in Fußballstadien eingesperrt werden. Ich
habe mich leider getäuscht.
Der Putsch gegen den legitimen Präsidenten von
Honduras, Manuel Zelaya, zeigt, dass diese dunklen Seiten der lateinamerikanischen Geschichte leider wieder
Teil der Gegenwart sind. Die internationale Gemeinschaft hat diesen Putsch zu Recht deutlich und einstimmig verurteilt. Kein einziger Staat dieser Welt hat den
von den Putschisten eingesetzten Präsidenten, Roberto
Micheletti, anerkannt. Viele Botschafter von Honduras
folgten nicht den Anweisungen der Putschisten, sondern
blieben dem legitimen Präsidenten treu, so auch der
honduranische Botschafter in Deutschland, Roberto
Castañeda, der die heutige Debatte von der Tribüne aus
verfolgt und den ich herzlich grüße.
({0})
Vor allem für die Staaten Lateinamerikas sind die Verurteilung dieses Putsches und die Kraftanstrengung für
die Rückkehr des legitimen Präsidenten von enormer
Bedeutung; zugleich ist es die Verteidigung der eigenen
Demokratie. Hier geht es nicht nur um Honduras, sondern um ganz Lateinamerika. Es geht nicht um die Frage
„Zelaya oder Micheletti?“, sondern um die Frage
„Demokratie oder nicht?“; denn wenn die Rechnung der
Putschisten aufgeht und sie aus dieser Aktion irgendeinen Vorteil ziehen können, dann ist die Gefahr groß,
dass dieses Beispiel Schule macht und andere unliebsame Präsidenten in Gefahr geraten, beseitigt zu werden.
Auch deshalb hat die Organisation Amerikanischer Staaten diesen Putsch so scharf und einmütig verurteilt und
die Rückkehr Zelayas gefordert. Sie hat versucht, zu vermitteln - leider ohne Erfolg.
Am kommenden Sonntag soll das honduranische Volk
einen neuen Präsidenten, den Kongress, Bürgermeister
und Gemeinderäte wählen. Die Putschisten haben alles
getan, um bis zu den Wahlen an der Macht zu bleiben
und sich dann mithilfe von Scheinwahlen zu legitimieren. Daran sind alle Vermittlungsbemühungen der internationalen Gemeinschaft gescheitert.
Diese Wahlen sind aber keine Lösung für die Krise in
Honduras; denn sie können nicht demokratisch sein, sie
können kein legitimes Ergebnis hervorbringen. Die Pressefreiheit ist seit Monaten massiv eingeschränkt: Rundfunksender wurden besetzt, Journalisten und Gegner des
Putsches verfolgt, bedroht, verprügelt, ermordet. Über
3 000 Menschen wurden seit dem Putsch festgenommen.
Amnesty International spricht von exzessiver Gewaltanwendung gegenüber Demonstranten.
Die Liberale Partei in Honduras ist gespalten. Ihr gehören sowohl Zelaya als auch Micheletti an. Vor der
zweifelhaften Abstimmung im Kongress, die der Legitimierung des Putsches dienen sollte, wurden viele liberale Abgeordnete, die Zelaya treu geblieben waren,
einfach ausgetauscht; ihnen wurde der Zugang zum Parlament verwehrt. Über 300 Kandidaten der Liberalen
Partei haben aus Protest gegen den Putsch ihre Kandidatur zurückgezogen, ebenso der unabhängige Kandidat
Carlos Reyes. Eine breite Widerstandsbewegung, der
auch die Sozialdemokraten angehören, ruft zum Wahlboykott auf. Doch schon der Aufruf zum Wahlboykott ist
strafbar und wird verfolgt; 530 Sonderstaatsanwälte
wurden eingesetzt, um Verstöße gegen das Wahlgesetz
zu ahnden.
Ich bin sehr froh, dass die Europäische Union und die
bisherige Bundesregierung den Putsch in Honduras
scharf, klar und deutlich verurteilt haben und sich weigern, Wahlbeobachter zu entsenden; denn unter diesen
Bedingungen kann es keine faire und demokratische
Wahl geben, auch wenn am Wahltag keine Stimmzettel
gefälscht werden sollten.
({1})
Wichtig ist jetzt aber, dass die Reihen geschlossen bleiben und das Ergebnis der Scheinwahlen am kommenden
Sonntag auf keinen Fall anerkannt wird.
Ich hoffe, dass die Position der bisherigen Bundesregierung jetzt nicht aufgegeben wird. Leider habe ich da
Zweifel. Das liegt am haarsträubenden Agieren der
Friedrich-Naumann-Stiftung. Wohl aufgrund einer engen
Freundschaft zwischen dem Büroleiter der FriedrichNaumann-Stiftung in Tegucigalpa und dem jetzigen liberalen Präsidentschaftskandidaten Edwin Santos, einem
Mitbetreiber des Putsches, bemühte sich die FriedrichNaumann-Stiftung schon zwei Tage nach dem Putsch,
der erstaunten Öffentlichkeit zu erklären, dass sich die
Vereinten Nationen, die Organisation Amerikanischer
Staaten und die Europäische Union - schlicht die gesamte internationale Gemeinschaft - irren. Dieser Putsch
sei gar kein Putsch gewesen, sondern die notwendige
Verteidigung der Demokratie gegen einen Präsidenten,
der einen Verfassungsbruch geplant habe.
Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der FDP, dringend bitten, auch auf die anderen Liberalen
aus Honduras zu hören, die diesen Putsch verurteilen,
auf den Botschafter in Berlin und auf den legitimen
Vizepräsidenten von Honduras, der sich jetzt im Exil befindet und Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung
ist. Ich hoffe sehr, dass der Kurs der Friedrich-NaumannStiftung noch korrigiert werden kann.
Kollege Hoppe, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ansonsten ist die Gefahr groß, dass die krasse Außenseiterposition der Friedrich-Naumann-Stiftung - gegen
den Rest der Welt - zur Position des deutschen Außenministers wird. Das wäre fatal.
Ich hoffe, dass es heute im Rahmen dieser Debatte
eine Klarstellung der Position der Bundesregierung geben wird. Es muss Konsens unter Demokratinnen und
Demokraten sein, einem Militärputsch eine klare Absage
zu erteilen und Scheinwahlen nicht anzuerkennen.
({0})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Erich
Fritz.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Hoppe, was Sie eingangs Ihrer Rede gesagt haben, ist, glaube ich, übereinstimmende Meinung
dieses Hauses.
({0})
Sie haben richtig dargestellt, in welcher Weise die Bundesrepublik Deutschland durch ihre Regierung in dieser
Frage agiert hat und dass wir das in großer Übereinstimmung mit unseren europäischen Partnern tun. Es kann
keine Toleranz für die Außerkraftsetzung von Verfassungen und für die Beseitigung des Demokratieprinzips geben, auch nicht in Lateinamerika.
({1})
Ich muss hier jedoch sagen - das sei mir gestattet -, dass
ich mir an einigen anderen Stellen, zum Beispiel im Vorfeld der Wahlen in Venezuela, manches klarstellende
Wort gewünscht hätte. Denn auch dort wurden Wahlen
unter nicht direkt vergleichbaren, aber doch nicht so unähnlichen Zuständen durchgeführt.
({2})
Seit fünf Monaten ist der Staatspräsident von Honduras, Zelaya, wie dargestellt, unrechtmäßig nicht mehr im
Amt. Man kann nur bedauern, dass in einer Region, die
wie kaum eine andere darauf angewiesen ist, Ruhe und
Stabilität für die eigene Entwicklung zu gewinnen, jetzt
eine so schwierige Situation entsteht, die das Volk auseinanderreißt, Entwicklungsfortschritte gefährdet und
Perspektiven, die die Region hat, infrage stellt. Honduras ist ohnehin ein Land, das von den Krisenfolgen nicht
unerheblich betroffen ist, und zwar auch deshalb, weil
die Überweisungen der Arbeiter, die aus Honduras nach
Nordamerika gegangen sind, ausbleiben; diese machen
einen wesentlichen Teil des Bruttosozialprodukts von
Honduras aus.
Der Rückgang des Handels innerhalb der Region ist
so dramatisch, dass neben den politischen Unruhen, neben der Instabilität, die im Land entsteht, jetzt auch noch
erhebliche wirtschaftliche Nachteile zu verkraften sind.
Dieses Land ist auf Integration angewiesen. In dem Zustand, in dem sich das Land jetzt mit einer unrechtmäßigen Regierung befindet, ist es von der Möglichkeit der
Kooperation abgekoppelt. Deshalb ist es im Interesse
des Landes selbst, zu demokratischen und rechtmäßigen
Zuständen zurückzukehren.
Die Bewertung ist international übrigens wesentlich
einheitlicher als in Honduras selbst, was unter anderem
darauf zurückzuführen ist, dass es keine in unserem
Sinne demokratische öffentliche Debatte über den Vorgang gegeben hat, sondern nur eine sehr eingeschränkte.
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es all das
gegeben hat, was zum Instrumentarium von Unrechtssystemen gehört, zum Beispiel Verhaftungen und Verbote in der Medienlandschaft. Die dauernden Unruhen in
der Bevölkerung, zahlreiche Gewalttaten, Menschenrechtsverletzungen und das Verschwinden von Personen
- diese Bilder haben wir aus anderen Regionen Lateinamerikas noch gut in Erinnerung - bewirken einen Zustand, in dem Versöhnung und Neuanfang in einer demokratischen Ordnung fast unmöglich werden.
Deshalb ist es jetzt wichtig, darüber nachzudenken,
wie man mit dem, was am Sonntag im Land vermutlich
geschieht, umgeht. Das, was man im Vorfeld der Wahlen
beobachtet, das Ausscheiden von Kandidaten per
Zwang, eingeschränkte Medienberichterstattung und
Versammlungsverbote, rechtfertigt als logische Konsequenz durchaus die Überlegung: Kann man eine solche
Wahl überhaupt als ordnungsgemäße Wahl darstellen
und bewerten?
Wenn man sich darauf festlegt, dann muss man aber
auch wissen, was anschließend geschieht. Das heißt
nämlich, der gegenwärtige Zustand wird auf jeden Fall
fortgesetzt. Das heißt auch, dass sich die innenpolitischen Fronten in Honduras weiter verhärten werden und
dass die Mittel nicht zivilisierter, sondern eher noch gewalttätiger werden. Deshalb bitte ich darum, die eine
oder andere Bewertung zurückzustellen, bis diese Wahlen zu Ende sind, die übrigens noch zu Zeiten ordnungsgemäßer, verfassungsmäßiger Zustände vorbereitet und
in Gang gesetzt worden sind.
({3})
Freilich, was auf dieser Strecke geschehen ist, widerspricht einer einfachen Beurteilung nach dem Motto:
Dort ist alles in Ordnung. - Das ist es nicht.
Der Kollege Hoppe hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Vermittlungsbemühungen gescheitert sind,
dass alle Aufrufe, Appelle und Resolutionen, die die
Bundesregierung in den VN und in der Europäischen
Union unterstützt hat, nicht zu einer Veränderung des
Verhaltens geführt haben, was die Möglichkeit eröffnet
hätte, die Wahlen zu einem wirklichen Neustart zu machen und auch für den Übergang einen Zustand zu erreichen, in dem sich keine Seite Vorteile verschaffen bzw.
durch illegitime Maßnahmen einen Zustand herbeiführen kann, der durch Wahlen nicht mehr veränderbar ist.
Sie haben es begrüßt, dass es keine Wahlbeobachter
gibt. Wie wir wissen, wird es doch Wahlbeobachter geben, weil zwei wichtige nationale Organisationen diese
Wahl aufmerksam beobachten werden und weil internationale NGOs - zu ihnen gehört die Konrad-AdenauerStiftung; zu ihnen gehören sicherlich aber auch die anderen Stiftungen -, die mit ihnen zusammenarbeiten, uns
weit über das Medienbild hinaus, das uns vermittelt
wird, informieren werden, wie die Wahl abgelaufen ist
und ob demokratische Mindeststandards in der jetzigen
Situation überhaupt eingehalten werden. Ich denke, dann
wird man sich darauf verständigen müssen, dass die Europäische Union eine gemeinsame Bewertung vornimmt.
Herr Kollege, Sie haben dargestellt, dass die Bundesregierung das Vorgehen der Putschisten von Anfang an
missbilligt hat und dass sie im Einklang mit der internationalen Gemeinschaft die Rückkehr zu einer verfassungsgemäßen Situation noch vor den Wahlen verlangt
hat. Das ist nicht geschehen, wäre aber die beste Voraussetzung gewesen, eine friedliche Versöhnungspolitik in
Gang zu setzen.
Wir haben darüber hinaus, immer im Einklang mit der
Europäischen Union und den internationalen Partnern,
alles getan, was geeignet war, den Druck zu erhöhen.
Wir haben die Handelsgespräche ausgesetzt. Wir haben
die Entwicklungszusammenarbeit auf das konzentriert,
was die Menschen unmittelbar betrifft. All das haben
auch Sie zustimmend zur Kenntnis genommen.
Was bleibt eigentlich als Konflikt? Als Konflikt bleibt
für mich der Umgang mit der Friedrich-Naumann-Stiftung. Es mag eine falsche Bewertung vorgelegen haben.
Wir haben die Stiftungen aber nie als verlängerten Arm
deutscher Außenpolitik betrachtet und deren Verhalten
nie als Spiegel der Regierungspolitik angesehen. Jeder
weiß, dass Stiftungen unabhängig agieren. Dadurch haben wir den Vorteil, auch Zugang zu politischen Kräften
zu bekommen, mit denen man nicht gerade in großer
Freundschaft verbunden ist. Deshalb halte ich die Bewertung, zu der Sie in Ihren beiden Anträgen kommen,
für überzogen und nicht angemessen.
({4})
- Wenn sie auch falsch ist, dann kann die FDP dazu etwas sagen.
Ich hätte mich gefreut, wenn es zur Zukunft Honduras’
eine übereinstimmende Position des Deutschen Bundestages gegeben hätte und wenn der ernsthafte Versuch unternommen worden wäre, im Auswärtigen Ausschuss einen gemeinsam Antrag zustande zu bringen. Dieser
Versuch ist, vielleicht aus guten Gründen, nicht unternommen worden. Deshalb bleibt ein wenig der Beigeschmack, es handele sich eher um eine Auseinandersetzung mit der FDP als um eine Auseinandersetzung mit
der Lage in Honduras; das bedaure ich sehr. Ansonsten
ist dadurch klar, dass wir die Anträge ablehnen können was aber nicht heißt, dass wir an einer gemeinsamen
Position nicht weiter arbeiten könnten.
({5})
Kollege Fritz, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
Hoppe?
Herr Kollege Hoppe.
Herr Kollege Fritz, auf die Friedrich-Naumann-Stiftung will ich jetzt nicht näher eingehen.
Ich teile Ihre Analyse, dass der Prozess der Vorbereitung der Wahl nicht nach demokratischen Regeln abgelaufen ist. Wenn diese Wahl jetzt unter indirekter Ausschaltung vieler oppositioneller Kräfte durchgeführt
wird, geht dann nicht die Taktik der Putschisten, das auszusitzen, bis zum Wahltag durchzuhalten und sich durch
Scheinwahlen legitimieren zu lassen, auf? Geben Sie mir
da recht?
Wäre es nicht sinnvoller und wäre es nicht auch die
logische Konsequenz Ihrer Analyse, darauf zu drängen,
dass die Wahl verschoben wird und unter Beobachtung
durch die internationale Gemeinschaft faire Bedingungen für alle Akteure hergestellt werden?
Das Wünschenswerte und das Durchsetzbare sind
auch in diesem Fall leider nicht das Gleiche, Herr Kollege. Deshalb bitte ich darum, dass wir uns bis Sonntag
Zeit nehmen; dann können wir den Wahlverlauf und das
Zustandekommen des Wahlergebnisses beurteilen. Die
Leute beobachten das jetzt aufmerksam im Lande, besser, als wir das von hier aus können. Lassen Sie uns dann
gemeinsam eine Bewertung vornehmen.
Von vornherein zu sagen: „Es gibt keine Chance, diesen Wahlakt - der durchaus nicht nur undemokratische
Elemente enthält - als Schritt hin zu einer Lösung zu betrachten“, das ist zu wenig.
({0})
Natürlich können wir auch nicht sagen, dass die Probleme gelöst sind, weil irgendwie gewählt worden ist;
auch darin sind wir uns einig. Wir sollten uns nicht im
Vorfeld festlegen und dadurch dazu beitragen, dass eine
aus dem Ergebnis unter Umständen erwachsende Chance
für ein neues Gespräch der heute verfeindeten - oder wie
auch immer man das bezeichnen will - Gruppen vertan
wird.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus
Barthel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich denke, ganz unabhängig davon, was nachher noch
über die handelnden Personen und die politischen Hintergründe der Vorgänge in Honduras gesagt wird, muss
man zunächst einmal feststellen: Ein Putsch bleibt ein
Putsch und ist zu verurteilen. Für einen Putsch kann es
keine Rechtfertigung geben.
({0})
Auch dafür - darüber dürfen wir nicht hinweggehen -,
dass in Honduras die Menschen- und Bürgerrechte verletzt werden, kann es keine Rechtfertigung geben.
Die neue Bundesregierung sollte sich deswegen in die
Kontinuität ihrer Vorgängerin stellen. Ich will daran erinnern, dass Außenminister Steinmeier am 29. Juni deutlich gemacht hat, dass die Bundesrepublik Deutschland
den Putsch verurteilt, dass wir fordern, dass zu Recht
und Gesetz zurückgekehrt wird, dass die Entwicklungszusammenarbeit eingefroren wird, dass es für uns keine
Zusammenarbeit mit den Putschisten, mit der jetzigen
Regierung, gibt und dass es einen europäischen Konsens
darüber gibt, die Botschafter abzuziehen.
Schwarz-Gelb - da bin ich gespannt, was noch
kommt - hat noch Klärungsbedarf bei allem, was Herr
Fritz hier gesagt hat. Die Friedrich-Naumann-Stiftung ist
nicht irgendwer: Ihre führenden Vertreter sitzen hier im
Deutschen Bundestag, sogar in der Bundesregierung.
Auf Veranstaltungen der Friedrich-Naumann-Stiftung
wurde dieser Putsch verharmlost und gerechtfertigt. Anhänger des Putsches wurden nach Deutschland eingeladen und nach Strich und Faden hofiert. Verantwortlich
dafür sind unter anderem Westerwelles Vorgänger MdB
Dr. Gerhardt - heute scheinbar nicht anwesend - und der
jetzige Staatsminister im Auswärtigen Amt Dr. Hoyer offensichtlich auch nicht anwesend. Bis heute haben wir
zu diesen skandalösen Vorgängen noch kein Dementi der
Bürgerrechtspartei FDP gehört.
({1})
Ich muss schon sagen, meine erste Assoziation war:
Mich erinnert das Ganze an die 70er-Jahre und an die
Zeit davor, als Unionspolitiker, vor allen Dingen aus der
CSU, engste Kontakte zu den Putschisten und Rechtsdiktatoren in Lateinamerika unterhalten und demonstrativ gepflegt haben, in Chile, in den Fußballstadien, waren, es dort ganz angenehm gefunden haben usw. Ich
dachte eigentlich, diese Zeiten sind vorbei.
({2})
Viele Kommentatoren Lateinamerikas haben festgestellt:
Das, was dort passiert ist, war ein Rückschlag - 30 Jahre
zurück.
Wir haben eine Phase erlebt, in der die Demokratie
gestärkt wurde. Die Putsche waren beendet. In Honduras
gab es in den 150 Jahren seit der Unabhängigkeit dieses
Landes immerhin 125 Militärputsche. Zu einer Stabilisierung kam es erst im Laufe der 80er-Jahre. Jetzt erleben wir eine neue Polarisierung und eine neue Brutalisierung in diesem Land, einem der ärmsten Länder
dieses Kontinents mit 70 Prozent Armut, mit 45 Prozent
extremer Armut, mit einer Herrschaft von Cliquen und
mit einer Durchdringung aller Lebensbereiche durch die
beiden dominierenden Parteien. Wir sehen jetzt wieder
- der Spitzenkandidat einer dieser beiden Parteien ist
Großgrundbesitzer, der andere ist Baulöwe -, wie es dort
sozial und politisch weitergeht.
Wir sehen, dass Honduras tiefgreifende Reformen in
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft braucht, dass es in
dieser Gesellschaft endlich eine Konsensbildung statt
Polarisierung geben muss, dass die politische Apathie
überwunden werden muss und dass eine regionale Lösung nötig ist, zum Beispiel auch durch die OAS. Durch
die Verurteilung des Putsches und den Umgang mit dieser Situation in den gemeinsamen Reaktionen hat es jetzt
zunächst einmal große Fortschritte gegeben.
Jetzt komme ich zu den Anträgen. Je mehr man sich
damit beschäftigt, desto komplizierter stellt sich die Situation dar. Ich glaube, mit den Anträgen wird keine
wirkliche Lösung geliefert.
Was soll es eigentlich bringen, jetzt, drei Tage vor der
Wahl, die Rückkehr von Zelaya zu fordern? Wem soll
das nützen? Er selber hat ja auch darauf verzichtet. Deswegen macht es keinen Sinn, heute hier so einem Antrag
zuzustimmen.
Was würde seine Rückkehr bis zum Januar 2010 bringen? Der neue Präsident und das neue Parlament sollen
schon in drei Tagen, am 29. November, gewählt werden.
Wollen wir wirklich das alte Parlament übergehen, in
dessen Verantwortung er, Zelaya, sich ja selbst begeben
hat und dessen Entscheidung am kommenden Mittwoch,
also heute in sechs Tagen, ansteht? Wollen wir damit das
Abkommen von San José, das Sie in Ihrem Antrag würdigen, einfach übergehen? Wie geht es nach der Anerkennung oder auch nach der Nichtanerkennung der Wahl
am kommenden Sonntag eigentlich weiter? Darauf wird
in keinem der beiden Anträge eine Antwort gegeben.
({3})
- Vorsicht mit dem Beifall von der FDP.
({4})
Wichtiger ist es, dass die Bundesregierung ihre Haltung einmal klärt. Die FDP ist mit ihrer FriedrichNaumann-Stiftung nämlich immerhin die Partei des Außenministers, und die hat sich in dieser Frage doch völlig
vergaloppiert.
Zunächst, 2005, hat man Zelaya unterstützt, obwohl
man jetzt im Nachhinein erklärt, schon 2004 habe er sich
von Herrn Chávez sponsern lassen. Zuerst hat man bestritten, dass es ein Putsch war. Immerhin schrieb der jetzige Staatsminister Hoyer: „Von einem ,Militärputsch‘,
der keiner war“. - Das heißt, er hat bestritten, dass es ein
Putsch war - siehe Die Welt, 3. Juli 2009. Ich kann nur
sagen: Wenn er sich davon nicht distanziert - heute ist er
ja nicht da -, dann ist er an verantwortlicher Stelle für
die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland eigentlich nicht mehr tragbar. Dann muss die Bundesregierung die Konsequenzen daraus ziehen.
({5})
Inzwischen rudert die Friedrich-Naumann-Stiftung ja
sogar zurück. Herr Lüth hat inzwischen wörtlich erklärt
- auch das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen; es ging um den Militärputsch -: „So glatt, wie es am
Anfang aussah, ist es nicht gelaufen“. - Das sagte er jetzt
im November, da die Herrschaften regieren. Er fordert
jetzt wieder die Einsetzung von Zelaya; denn sonst
könne man die Wahlen vergessen.
Was gilt denn jetzt eigentlich für die Partei, die den
Außenminister stellt? Bleibt es jetzt bei der Position der
alten Bundesregierung, bleibt es bei der Position vom
Juli, oder bleibt es bei der jetzigen Position vom November? Wir sind sehr gespannt, etwas dazu zu hören.
Kollege Barthel, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss. - Die beiden Anträge sind
in vielen Punkten unterstützenswert, aber sie sind vereinfacht und überholt. Sie bieten auch keine Lösung für
die verfahrene Situation. Deswegen werden wir von der
SPD uns zu beiden Anträgen enthalten. Ich befürchte
aber, dass wir uns mit Honduras noch öfter beschäftigen
müssen. Das sollten wir aber bitte etwas gründlicher, differenzierter und lösungsorientierter tun.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Rainer
Stinner das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in Südamerika leider seit Jahren und Jahrzehnten zwei unselige Traditionen. Die eine Tradition ist
die der Militärputsche, die wir alle verurteilen und verdammen. Es hat sich aber leider in den letzten Jahren
eine zweite unselige Tradition eingestellt, nämlich dass
ursprünglich demokratisch gewählte und demokratisch
legitimierte Präsidenten plötzlich in der Zeitdauer ihrer
Präsidentschaft entdecken, dass es schön ist, Präsident
zu sein, und deshalb durch nachhaltigen Verfassungsbruch versuchen, an der Macht zu bleiben. Auch das ist
in Südamerika heutzutage gang und gäbe.
({0})
Auch bei dieser zweiten unseligen Tradition müssen
wir genauer hinschauen, als Sie es getan haben, Herr
Kollege von den Grünen. Was ist in Honduras geschehen, und was ist zu tun? Die beiden Antragsteller lassen
die Verfassungskrise am 28. Juni beginnen, und sie fordern im Prinzip heute noch - im November 2009 - eine
Wiederherstellung des Status quo ante, der vorherigen
Situation.
({1})
Nachdem die erste Voraussetzung falsch war, ist die
Folgerung auch falsch. Die Verfassungskrise hat eben
nicht am 28. Juni begonnen. Ich sage ganz deutlich, Herr
Barthel, meine Kolleginnen und Kollegen: Die Abschiebung Zelayas nach Costa Rica war widerrechtlich. Sie
verstieß gegen die Verfassung, und wir verurteilen die
Abschiebung des Präsidenten Zelaya nach Costa Rica.
Das ist eine klare Aussage.
({2})
Dabei dürfen wir aber nicht stehen bleiben. Wir müssen zunächst fragen, was vor dem 28. Juni geschehen ist.
Noch wichtiger - deshalb habe ich bei der Rede des Kollegen von der SPD geklatscht, die Anträge weisen auf
keinerlei Zukunftsvisionen hin - ist die Frage, was wir in
Zukunft machen müssen. Nach unserer Einschätzung
- wir kennen die beiden Protagonisten Zelaya und
Micheletti durch die Stiftung besser als viele andere haftet keinem der beiden ein politischer Heiligenschein
an. Das muss man sehr deutlich feststellen, und damit
müssen wir auch umgehen.
Zelaya hat unbestritten vor dem 28. Juni gegen die
Verfassung verstoßen. Er wollte mithilfe einer verfassungswidrigen Volksbefragung eine verfassungswidrige
Wiederwahl möglich machen.
Kollege Stinner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hänsel?
Im Moment nicht. Ich würde gerne noch ein bisschen
weiterreden. - Er ließ verlauten - ich zitiere wörtlich -,
dass er „die Gabe Gottes, mit dem Volk zu sprechen, sich
nicht von einigen Abgeordneten verbieten lassen
werde“. Stellen Sie sich bitte einmal vor, Bundespräsident Köhler würde in Deutschland sagen, die Gabe Gottes würde er sich von solchen Abgeordneten wie Herrn
Barthel nicht verbieten lassen. Das kann doch wohl nicht
wahr sein.
({0})
Dass die Linken an solchen Verfassungsbrüchen
nichts auszusetzen haben, verwundert mich nicht.
({1})
Denn bei ihren Freunden und Kollegen Chávez und
Ortega ist das an der Tagesordnung.
Nochmals: Die Verfassungsbrüche Zelayas rechtfertigen nicht seine Abschiebung ins Ausland. Er hätte nach
rechtsstaatlichen Grundsätzen im Land Honduras vor
Gericht gestellt werden müssen.
({2})
Das ist nicht passiert, und das verurteilen wir.
Aber Sie alle haben eines nicht gesagt: Vor dem
28. Juni hat es einen langmonatigen Prozess gegeben, in
dem das oberste Verfassungsgericht und das Parlament
eingeschaltet waren und der Präsident angeklagt war.
Ihm ist widersprochen worden, und ihm wurde verboten,
das zu tun, was er gemacht hat, weil er damit gegen die
Verfassung verstoßen hat. Das nehmen Sie nicht zur
Kenntnis, und von daher kommen Sie automatisch zu
falschen Schlüssen.
({3})
Deshalb sind Reflexion und differenzierte Betrachtung nötig. Die üblichen Empörungsreflexe sind verständlich. Ich will gar nicht beschönigen, was dort passiert. Ich bin weit davon entfernt.
({4})
- Nein, das tue ich nicht. Ich habe deutlich gesagt, dass
wir diese Abschiebung verurteilen; denn sie ist verfassungswidrig.
Sie sind nicht in der Lage, zu erkennen, dass die Basis
für die Ursachen vorher gelegt wurde; damit will ich
nichts beschönigen. Aber das ist für die Linken nichts
Ungewöhnliches. Sie verlieren zum Beispiel zu Nicaragua kein kritisches Wort und legen hier eine undifferenzierte Betrachtungsweise an den Tag.
Beide Antragsteller fordern - wenn auch unterschiedlich scharf -, das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in
Honduras am nächsten Sonntag nicht anzuerkennen. Dabei übersehen Sie völlig, was der Kollege Fritz gesagt
hat, nämlich dass die Vorbereitungen dieser Wahl längst
vor dem 28. Juni begonnen haben
Kollege Stinner, es gibt einen weiteren Fragewunsch,
diesmal von der Kollegin Dağdelen.
- im Augenblick nicht - und dass es sowohl bei der
Auswahl der Kandidaten als auch bei der Terminierung
vernünftig zugegangen ist. Nun gibt es Probleme; das
will ich gar nicht bestreiten. Aber die FDP bedauert im
Gegensatz zu Ihnen sehr nachdrücklich, dass es keine internationalen Wahlbeobachter in diesem Land gibt. Sie
sagen: Weil der Wahlprozess zweifelhaft ist, schicken
wir erst gar keine Wahlbeobachter hin. - Wenn wir uns
Ihre Auffassung zu eigen machten, dann könnten wir unsere Wahlbeobachter aus drei Viertel der Länder nach
Hause holen. Schließlich geht es bei sehr vielen Wahlen
in der Welt fragwürdig zu. Aber genau deshalb schicken
wir unsere Beobachter dorthin. Es wäre richtig gewesen,
das auch in diesem Fall zu tun.
({0})
Herr Barthel, ich habe Ihnen zugestimmt und während Ihrer Rede Beifall gezollt, weil Sie deutlich gemacht haben - das ist noch bedeutsamer -, dass die Verfasser der Anträge keinen Weg in die Zukunft weisen.
Wir müssen jedoch ein Interesse daran haben, dass Honduras möglichst schnell wieder eine legitime Regierung
bekommt. Deshalb schlagen wir von der FDP das genaue Gegenteil von dem vor, was die beiden Antragsteller fordern. Wir wollen zuerst die Wahlen abwarten, die
in drei Tagen stattfinden - es geht nicht um ein Jahr, sondern um drei Tage -, und dann gemeinsam bewerten, wie
die Wahlen verlaufen sind. Danach können wir darüber
nachdenken, wie wir vorgehen wollen. Alles andere ist
völlig unverantwortlich, wenn wir ein Interesse an der
Verbesserung der Situation in diesem Land haben.
Sie sind auf Details gar nicht eingegangen. Besonders
kritisch ist zum Beispiel die Übergangszeit zwischen der
Wahl am 29. November 2009 und der Vereidigung des
neuen Präsidenten am 27. Januar 2010. Was soll in diesem Zeitraum geschehen? Es gibt verschiedene Vorschläge. Wir machen uns keinen Vorschlag zu eigen. Die
einen sagen: Zelaya muss wiederkommen. Die anderen
sagen: Micheletti muss kommen. - Das ist aber nicht unser Bier. Wir hängen nicht aus dogmatischen Gründen an
irgendeinem Namen. Wir wollen nur, dass diese Periode
in Honduras möglichst friedlich zu Ende geht. Deshalb
meinen wir, dass entsprechende Vorschläge aus dem
Land selber kommen sollen.
Zum Abschluss ein kurzer Satz zum Verhalten deutscher politischer Stiftungen im Ausland. Ich gebe zu:
Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat etwas differenzierter als andere hingeschaut. Das machen Liberale nun
einmal so.
({1})
Niemand von Ihnen, meine Damen und Herren, hat auf
die Zeit vor dem 28. Juni geschaut. Wir haben das mithilfe unserer Stiftung getan. Ich könnte Ihnen das Protokoll darüber geben, was vorher passiert ist.
Kollege Stinner, Sie haben Ihre Redezeit jetzt tatsächlich überschritten. Aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis:
Es gibt die Meldung zu einer Kurzintervention und damit die Chance, darauf zu reagieren. Ich bitte Sie, zum
Schluss zu kommen.
Das ist außerordentlich erfreulich, Frau Präsidentin;
denn ich möchte noch auf viele interessante Punkte hinweisen.
Vielen Dank bis hierher. Wir sehen uns gleich wieder.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Dağdelen
das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr
Kollege Stinner, da Sie mir und meiner Kollegin Frau
Hänsel, die anschließend reden wird, nicht die Möglichkeit gegeben haben, eine Zwischenfrage zu stellen, blieb
mir nichts anderes übrig, als mich zu einer Kurzintervention zu melden.
Sie haben am Ende Ihrer Rede gesagt, dass die
Friedrich-Naumann-Stiftung differenzierter als andere
- die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, die Vereinten Nationen und viele Staaten - das
Ganze betrachtet und klarer und deutlicher verurteilt hat,
was in Honduras geschehen ist. Daher möchte ich Sie
bitten, Herr Stinner, auf folgende Frage klar und kurz zu
antworten: Verurteilen Sie das, was in Honduras geschehen ist, und bezeichnen Sie es als Putsch oder nicht?
Frau Kollegin, ich bin immer sehr gerne bereit, meine
Rede für Sie zu wiederholen.
({0})
Ich habe in meiner Rede zweimal sehr deutlich gesagt,
dass die Ausweisung und die Verbringung von Herrn
Zelaya verfassungswidrig und rechtswidrig waren und
dass wir sie verurteilen. Das habe ich in meiner Rede
zweimal deutlich gesagt.
({1})
- Das kann man selbstverständlich auch als Putsch bezeichnen. Ich habe die Widerrechtlichkeit dieses Aktes
deutlich gemacht und dazu Stellung genommen.
({2})
Zwiegespräche gibt es allerdings mit diesem Instrument der Geschäftsordnung nicht.
({0})
Es gibt aber eine Kurzintervention des Kollegen Hoppe,
die Ihnen die Chance gibt, noch einmal zu antworten.
Das ist dann auch die letzte Kurzintervention, die ich zu
diesem Beitrag zulasse. - Bitte.
Herr Kollege Stinner, ist Ihnen bewusst, dass eine
große Gruppe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,
Volontären und ehemaligen Stipendiaten der FriedrichNaumann-Stiftung einen langen Brief geschrieben hat, in
dem sie gegen den Kurs der Naumann-Stiftung in dieser
Frage protestiert und sich davon distanziert? In dem
Brief wird auch die FDP aufgerufen, eine andere Haltung einzunehmen.
Haben Sie mit dem Botschafter, der der Liberalen
Partei angehört, und beispielsweise mit dem legitimen
Vizepräsidenten von Honduras, der sich im Exil befindet
und auch der Liberalen Partei angehört, überhaupt gesprochen?
Lieber Herr Kollege, ich persönlich habe nicht mit
dem Herrn Botschafter gesprochen. Ich habe aber sehr
deutlich gemacht, worauf es uns ankommt, nämlich darauf, Wege aufzuzeigen, um die verfahrene Situation in
diesem geschundenen Land zu befrieden und es nach
vorne zu bringen.
({0})
Sehr geehrter Kollege, ich habe deutlich gemacht,
dass in den Anträgen, die Ihre Fraktion und Ihre verehrten Kollegen der Linken gestellt haben, nicht ein vernünftiger Ausweg für die Zukunft definiert worden ist.
Uns kommt es darauf an, dass die Verfassungskrise in
Honduras nachhaltig beendet wird, damit man dort zu einer demokratischen bzw. möglichst demokratischen Situation zurückkehrt. Dafür sollten wir uns einsetzen.
Wir sollten abwarten, was die Wahlen bringen. Wir
werden dann beurteilen müssen, wie sie gelaufen sind,
um anschließend gemeinsam mit der Europäischen
Union und anderen Partnern wie den Vereinigten Staaten
zu beurteilen, wie wir diesem Land am besten helfen
können, damit es eine gute Zukunft hat.
({1})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Heike Hänsel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Herr Stinner, ich muss Ihnen wirklich sagen: Das, was
Sie hier gerade ausgeführt haben, lässt bezüglich des Demokratieverständnisses der FDP tief blicken.
({0})
Es ist überfällig, dass einer Ihrer Minister - ich begrüße
Sie, Herr Westerwelle - eine Stellungnahme zu diesem
Vorfall abgibt. Ich habe schon einmal angemahnt, dass
es keine Stellungnahme von Minister Westerwelle oder
Minister Niebel zu diesem Vorfall oder auch der jetzt
wieder bestätigten Einschätzung des Putsches in Honduras gibt. Das ist in meinen Augen ein Skandal. Da ist
eine Stellungnahme Ihrerseits überfällig.
({1})
Herr Stinner, Sie haben den Vorgang wiederholt
falsch dargestellt; die Friedrich-Naumann-Stiftung tut
dies auch ständig. Es gibt und gab keine Verfassungskrise in Honduras. Präsident Zelaya wollte eine Volksbefragung durchführen, die per Gesetz möglich ist. Es wur478
den 400 000 Unterschriften gesammelt. Damit war das
Quorum erfüllt, um eine Volksbefragung durchzuführen.
Diese sollte dann darüber befinden, ob das Parlament
über eine Abstimmung für eine verfassungsgebende Versammlung debattiert und ob zu den Wahlen eine weitere
Urne aufgestellt werden soll.
Das heißt, er hat sich also für Volksdemokratie und
Volksmitbestimmung eingesetzt. Sie allerdings verurteilen, dass hier eine direkte Mitbestimmung organisiert
werden soll.
({2})
Das ist ein absolutes Unding. Das war rechtmäßig. Hier
fordern Sie, dass wir Referenden und mehr direkte Demokratie brauchen. Das können Sie vergessen, wenn Sie
es schon Honduras nicht zugestehen wollen.
({3})
Man muss sich das einfach noch einmal vorstellen:
Hier wird ein legitimierter Präsident, ein demokratisch
gewählter Präsident entführt. Sie sprechen immer von einer Ausweisung. Er wurde in einer Nacht-und-NebelAktion entführt, sitzt jetzt seit Wochen in der brasilianischen Botschaft und wartet darauf, dass er wieder in
seine rechtmäßige Position eingesetzt wird. Aber die
Friedrich-Naumann-Stiftung vor Ort unterstützt auch
noch die Putschisten und spricht davon, dass es eine Legende sei, überhaupt von einem Putsch zu reden. Nicht
nur die Friedrich-Naumann-Stiftung vor Ort tut das,
auch Herr Gerhardt zum Beispiel hat Zelaya die moralische Autorität abgesprochen. Wo gibt es denn so etwas?
Auch dazu hätte ich gerne eine Stellungnahme von Ihnen, Herr Gerhardt. Wie kommen Sie überhaupt zu so einer Beurteilung? Das steht Ihnen überhaupt nicht zu.
({4})
Herr Hoppe hat dankenswerterweise den Brief der Exstipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung erwähnt. Ich
möchte Ihnen daraus zwei Sätze vorlesen.
({5})
Ich zitiere:
Wo sind die Menschenrechte, welche die FriedrichNaumann-Stiftung zu verteidigen behauptet, während sie sich in Honduras auf eine Verschwörung
mit den Putschisten einlässt
({6})
und ihnen - entgegen der Position der Mitgliedsstaaten der UNO, der Organisation Amerikanischer
Staaten und der Europäischen Union - Hilfe angedeihen lässt? … Wir wissen nicht, wie es in
Deutschland aufgefasst wird, dass die Fonds der
Stiftung unter anderem dafür verwendet werden,
eine Reise von Putschisten und Menschenrechtsverletzern nach Europa zu finanzieren oder einen
Wahlprozess in Honduras zu unterstützen, der die
wahrhaftige Ausübung der demokratischen Rechte
nicht garantiert.
Das sind klare Worte.
({7})
Das steht im Einklang mit unseren Anträgen, Herr
Barthel. Wir haben die Forderung der Demokratiebewegung in Honduras aufgegriffen, die ständig E-Mails
schickt und sehr in Bedrängnis ist. Jetzt erst wurde wieder ein Anführer der Demokratiebewegung, ein 56-jähriger Lehrer, ermordet. Die Demokratiebewegung braucht
dringend unsere Solidarität. Sie fordert ganz klar die
Nichtanerkennung dieser Wahlen. Wir brauchen Zeit,
um neue Wahlen durchführen zu können. Dann muss
man sehen, ob sie unter dem Präsidenten Zelaya durchgeführt werden, was immer noch möglich wäre, oder ob
man einen anderen Vorschlag macht und sie unter der
Kontrolle der Vereinten Nationen durchführt. Was aber
nicht geht - da sind Sie, Herr Barthel, inkonsequent -,
ist, zu sagen: Eigentlich sind die Zustände katastrophal,
man darf nicht zum Wahlboykott aufrufen, Menschen,
die gegen diese Wahl sind, werden systematisch verfolgt. - Die Armee ist mit der Durchführung der Wahlen
beauftragt worden. All das sind unrechtmäßige Zustände. Gleichzeitig aber sagen Sie: Man muss einmal
sehen, was dabei herauskommt, wir können uns aber
nicht entschließen, diese Wahlen nicht anzuerkennen. Es ist ganz klar: Es können keine demokratischen Wahlen unter diesen Bedingungen stattfinden. Hier sind alle
aufgerufen, deswegen diese Wahlen nicht anzuerkennen.
({8})
Zum Schluss möchte ich sagen: Es ist wichtig, dass
auch die Bundesregierung Stellung bezieht. Ich wundere
mich, dass sie sich auf EU-Ebene, zum Beispiel beim
Ratstreffen, dafür ausgesprochen hat, dass es bezüglich
des Ausgangs der Wahlen keine Vorfestlegungen geben
soll. So hat der Verhandlungsführer der Bundesregierung
auf Ratsebene argumentiert. Ich hätte gerne einmal eine
Stellungnahme der Bundesregierung, wie sie denn dazu
kommt, dass sie jetzt die Europäische Union dazu antreibt, keine Vorfestlegungen bezüglich der Bewertung
der Wahlen durchzuführen.
Kollegin Hänsel, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. - Ich setze mich dafür ein, dass wir diese Wahlen
insgesamt nicht anerkennen und dass wir damit die deutliche Botschaft in die Welt, nach Lateinamerika und
nach Honduras aussenden: Die Zeit der Militärputsche in
Lateinamerika muss vorbei sein.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Stinner das
Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr verehrte Kollegin, ich sage es jetzt zum vierten Mal - ich habe es zweimal in der Rede gesagt, ich habe es auf Nachfrage Ihrer
Kollegin gesagt, und ich sage es Ihnen noch einmal -:
Ich habe im Namen meiner Fraktion das Vorgehen gegen
Herrn Zelaya verurteilt.
({0})
Aber ich sage Ihnen sehr deutlich: Sie machen wiederum
etwas, was ich bei Ihnen schon vorhin kritisiert habe: Sie
nehmen die Fakten nicht zur Kenntnis. FFP - faktenfreie
Politik.
({1})
Ich lese Ihnen einmal etwas vor: Am 24. März, über drei
Monate vor dem Datum im Juni, hat Herr Zelaya ein Referendum angekündigt, und zwar ein Referendum auch
über nichtreformierbare Artikel der Verfassung. Der
Oberste Staatsanwalt - nicht das Militär, kein General hat am 25. März eine Presseerklärung herausgegeben, in
der er davor warnt, dass die angeordnete Volksbefragung
einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standhalte.
Am 8. Mai leitete der Oberste Staatsanwalt des Staates
Honduras ein Strafverfahren gegen die Exekutive aufgrund des fragwürdigen Dekrets dieser Regierung ein.
Am 20. Mai wies der Parlamentspräsident darauf hin,
dass ein solches Referendum nicht verfassungskonform
ist. Am 27. Mai erklärte der Oberste Gerichtshof das
Präsidialdekret, bei dem es um das Referendum ging,
aufgrund von Verfahrensfehlern für unwirksam. Ich
überschlage einige weitere Daten, weil Sie sich sowieso
nicht alles merken können.
({2})
Irgendwann bemächtigte sich Herr Zelaya widerrechtlich der Wahlurnen und machte den Spruch, auf den ich
eben hingewiesen habe. Außerdem gibt es die Aussage,
dass Herr Zelaya vor dem Obersten Gerichtshof angeklagt wird. Das alles sind Dinge, die vor dem Putsch geschehen sind.
Nochmals, sehr verehrte Kollegin Hänsel: Das entschuldigt nicht das, was mit Herrn Zelaya passiert ist;
aber es ist nun einmal der Vorlauf. Das müssen wir zur
Kenntnis nehmen.
Noch einmal: Sie weisen keinen Weg in die Zukunft.
Es geht uns um die Zukunft dieses Landes. Nur zu sagen: „Wir erkennen nichts an; wir machen so weiter; wir
stürzen das Land ins Chaos“, kann keine Lösung sein.
Auch wir als Deutsche müssen unsere Verantwortung
konstruktiv wahrnehmen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Hänsel.
Herr Kollege Stinner, was die Fakten angeht, empfehle ich Ihnen, gleich im Anschluss an diese Sitzung ein
Gespräch mit dem honduranischen Botschafter zu führen. Das wäre vielleicht überfällig; schließlich ist er hier,
und Sie haben ihn bisher noch kein einziges Mal getroffen.
({0})
Zunächst sollte man sich aus erster Hand informieren
und nicht immer nur über die interpretierenden Meinungsträger der Friedrich-Naumann-Stiftung.
Darüber hinaus möchte ich sagen: Es stimmt einfach
nicht, dass Zelaya ein Referendum durchgeführt hat; ein
Referendum hat nämlich bindende Wirkung. Zelaya hat
eine Volksbefragung durchführen wollen, deren Ergebnis keine bindende Wirkung hat. Ihr Ergebnis sollte vielmehr eine Empfehlung an das Parlament sein, sich mit
der Frage eines Referendums überhaupt erst einmal zu
befassen. Das ist ein grundlegender Unterschied, und ich
hoffe, dass Sie als Parlamentarier diesen Unterschied erkennen.
({1})
Sie haben vorhin behauptet, es sei um die Wiederwahl
von Zelaya gegangen. Das stimmt ebenfalls nicht. Erst
jetzt hätte man die Wahlurnen aufstellen können, um
über eine verfassunggebende Versammlung abzustimmen. Zelaya hätte sowieso nicht die Möglichkeit gehabt,
noch einmal anzutreten, da er nur eine Wahlperiode amtieren darf. Insofern verbreiten Sie hier nichts als Propaganda; auch die Friedrich-Naumann-Stiftung streut ständig dergleichen. Ich hoffe auf ein sehr erhellendes
Gespräch zwischen Ihnen und dem honduranischen Botschafter.
({2})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Anette
Hübinger das Wort.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! An der heutigen Debatte, die teilweise sehr
emotional geführt wird, hat man gesehen, dass Honduras
in einer der schwersten Krisen seiner Geschichte steckt.
Der Höhepunkt war - auch das muss man wiederholen ein rechtswidriger Putsch am 28. Juni. Seit dieser Zeit
geht ein tiefer Riss durch dieses Land: auf der einen
Seite die Anhänger des Interimspräsidenten Micheletti
und auf der anderen Seite die Anhänger des gestürzten
Präsidenten Zelaya.
Noch einmal: Die De-facto-Regierung unter
Micheletti wurde nach dem Putsch vom honduranischen
Kongress eingesetzt und wird auch vom obersten Gericht und der Armee getragen. Sie ist jedoch nicht durch
eine demokratische Wahl legitimiert. Deshalb hat
Deutschland gemeinsam mit den Mitgliedstaaten der EU
die gewaltsame Entfernung Zelayas verurteilt, die Defacto-Regierung nicht anerkannt und die Entwicklungszusammenarbeit mit Ausnahme der Unterstützung der
Zivilgesellschaft und der humanitären Hilfe ausgesetzt.
Das ist ein klares politisches Zeichen dafür, dass der
Putsch in keinster Weise zu rechtfertigen ist.
({0})
Im Antrag der Grünen und auch im Antrag der Linken
werden die Geschehnisse in Honduras leider recht einseitig dargestellt. Herr Kollege Stinner hat dies sehr ausführlich aufgezeigt.
({1})
Dennoch will ich es noch einmal wiederholen; denn
auch durch Wiederholung lernt man ja.
({2})
Der Putsch vom 28. Juni war der Höhepunkt einer
Reihe von bereits im Vorfeld begangenen verfassungswidrigen Handlungen. Das lassen Sie in Ihren Anträgen
leider außen vor. Der gestürzte Präsident Zelaya hatte
vor seiner Amtsentmachung die Verfassung seines Landes mehrmals gebrochen, auch wenn es die Linke nicht
so wahrhaben will. Das wurde vom Obersten Gerichtshof immer wieder angemahnt. Über Monate versuchte er
mithilfe der Abhaltung eines Referendums die Verfassung dahin gehend zu ändern, seine Wiederwahl zu ermöglichen. Nachdem der Kongress und das Oberste Gericht die Abhaltung eines Referendums nicht billigten,
versuchte Zelaya im Alleingang, eine Verfassungsänderung durchzusetzen. Ich erinnere an ähnliche Tendenzen
in Lateinamerika, zum Beispiel in Venezuela. Für eine
sachlich vollständige Analyse und Aufarbeitung des
Konfliktes muss auch Zelayas gesetzwidriges Verhalten
beachtet werden.
Der Konflikt in Honduras ist vielschichtiger, als es in
den heute hier vorliegenden Anträgen zum Ausdruck
kommt. Die Putschisten sind zu verurteilen wie auch das
verfassungswidrige Handeln Zelayas im Vorfeld.
Die politische Krise in Honduras ist leider keine Ausnahmeerscheinung in Lateinamerika, sondern spiegelt
den fragilen Zustand vieler Demokratien dort vor Ort wider. Obwohl Lateinamerika zweifelsohne weltweit die
demokratischste Entwicklungsregion ist, ist der Zustand
vieler Demokratien prekär. Die weit verbreitete Korruption, Defizite im Justizbereich, die mangelnde Teilhabe
der indigenen Bevölkerung sowie die extremen sozialen
Ungleichheiten stellen an die dortigen Demokratien besondere Herausforderungen, so auch in Honduras. Honduras ist eines der ärmsten Länder in Mittelamerika. Die
Einkommensunterschiede sind besonders gravierend. So
leben fast 80 Prozent der Bevölkerung Honduras unter
der Armutsgrenze.
Die Geschehnisse in Honduras zeigen, dass wir in unserer Entwicklungszusammenarbeit neben der technischen und finanziellen Zusammenarbeit viel stärker die
Zusammenarbeit im politischen Bereich ausbauen müssen.
({3})
Unsere Stiftungen sind auf diesem Gebiet sehr aktiv. Wir
als Entwicklungspolitiker schätzen deren Arbeit vor Ort.
Wir müssen diese Arbeit jedoch intensivieren.
({4})
Dabei muss es uns darum gehen, mit unseren Partnern in
einen kontinuierlichen Dialog zu treten. Wir müssen
mehr über Fragen von Rechtsstaatlichkeit, Demokratieverständnis und der sozialen Verantwortung von Eliten
sowie über Konzepte für eine nachhaltige Wirtschaftsund Sozialpolitik reden und aufrichtig über Presse- und
Meinungsfreiheit diskutieren. Unsere Entwicklungszusammenarbeit kann nicht losgelöst von einer gleichzeitigen Debatte über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
Wertevorstellungen stattfinden.
Die für Sonntag anberaumten Wahlen, bei denen die
Lokalregierungen, ein neuer Kongress und ein neuer
Präsident gewählt werden sollen, sind bereits unter
Zelaya - auch das kam hier schon zum Ausdruck - angesetzt worden, und die zur Wahl antretenden Präsidentschaftskandidaten wurden legitim bestimmt.
„Das Abhalten von Wahlen nach dem Putsch in Honduras ist eine sehr außergewöhnliche Situation. Aber die
Menschen wollen wählen. Das müssen wir akzeptieren.“ So äußerte sich der Präsidentschaftskandidat der Nationalen Partei, Pepe Lobo, am Montag dieser Woche.
Der ordnungsgemäße Verlauf der Wahlen wird der
Schlüssel dafür sein, dass Honduras zurück zu einer verfassungskonformen Ordnung findet. Aufrufe zum Wahlboykott und Forderungen nach Nichtanerkennung der
Wahlen im Vorfeld, wie sie von den Fraktionen Die
Linke und auch Bündnis 90/Die Grünen kommen, tragen
nicht zu einer friedlichen Konfliktlösung bei. Die Frage
der Bewertung der Wahlen werden wir in Abstimmung
mit unseren EU-Partnern und der internationalen Gemeinschaft hinterher beantworten müssen.
Sowohl der Antrag der Grünen als auch der Antrag
der Linken sind nicht zielführend. Deshalb lehnen wir
sie als CDU/CSU-Fraktion ab.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, auch
dem letzten Redner in dieser Debatte die notwendige
Aufmerksamkeit zu widmen und dringend erforderliche
Gespräche nach außerhalb des Plenarsaals zu verlagern.
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ein Putsch ist ein Putsch ist ein Putsch,
und eine Partei wie die FDP, deren politische Stiftung
diesen Putsch gerechtfertigt hat, bringt damit Schande
über das demokratische Verständnis, das wir in diesem
Haus haben. Das bleibt eine Tatsache.
({0})
Es ist zu spät, Herr Kollege Stinner, wenn Sie sich
heute, wenige Tage vor der Wahl in Honduras, ein Stück
weit von dem distanzieren, was Ihr Kollege Gerhardt
und die Stiftung Ihrer Partei betrieben haben. Denn in
der heißen Phase, als es darum ging, auf internationaler
Ebene eine Lösung zu finden, als wir ein Zeitfenster hatten, um eine Lösung herbeizuführen, haben Sie die internationalen Bemühungen hintertrieben, indem Ihre Stiftung den Putsch gerechtfertigt hat, Putschisten hofiert
und eingeladen hat und Herr Gerhardt mit eigenen fragwürdigen Vorschlägen die internationalen Friedensbemühungen konterkariert hat. Das darf nie wieder vorkommen. Damit haben Sie dem Frieden und der
Demokratie bei uns, aber auch in Honduras einen Bärendienst erwiesen.
({1})
Mich als Entwicklungspolitiker ärgert daran besonders, dass durch diese Haltung der Friedrich-NaumannStiftung die gute Arbeit der politischen Stiftungen, die
seit Jahrzehnten in Entwicklungsländern gemacht wird,
in ein schlechtes Licht gerückt wird. Denn wir haben in
Lateinamerika - ich will den Beitrag nicht überhöhen,
weil es natürlich zuerst das Verdienst der dort lebenden
Menschen ist - Gott sei Dank auch deshalb mehr Demokratie und Stabilität im Vergleich zu der Zeit von vor
10 bis 20 Jahren, weil es uns im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit mit den politischen Stiftungen gelungen ist, dort Strukturen, Transparenz, Partizipation
der Bevölkerung und auch Parlamente aufzubauen, die
so stark sind, dass wir eigentlich gedacht haben, dass es
zu so einem Putsch wie im Sommer in Honduras nicht
mehr kommen kann. Deswegen möchte ich an dieser
Stelle ausdrücklich allen politischen Stiftungen, die sich
in Lateinamerika und weltweit engagieren - mit Ausnahme der von mir kritisierten -, ganz herzlich für ihre
Arbeit danken.
({2})
Natürlich, Frau Hänsel, haben wir an dieser Stelle
eine unterschiedliche Bewertung. Auch ein Rechtsbruch
ist ein Rechtsbruch und bleibt ein Rechtsbruch. Was Präsident Zelaya gemacht hat, ist vom dortigen Verfassungsgericht verurteilt worden. Sie sollten vielleicht
nicht versuchen, von Deutschland aus das Recht in Honduras zu interpretieren. Deswegen sagen wir mit Blick
auf die Anträge der Grünen und der Linken: Wir könnten
fast jeden Satz darin unterschreiben. Aber da Sie nicht
berücksichtigen, wenn Sie den Titel „Demokratie in
Honduras“ wählen, dass sich dort auch die Gegner und
der rechtmäßig gewählte Präsident in Zukunft anders
verhalten müssten, wollen wir uns enthalten. Aber das
heißt nicht, dass wir Ihre Anträge nicht ansonsten voll
unterstützen würden.
Lassen Sie mich zum Schluss einen ganz wichtigen
Punkt ansprechen. In Honduras und in Lateinamerika
ebenso wie in vielen anderen Staaten der Welt - auch in
Afghanistan, um das es in der folgenden Debatte noch
geht - werden wir Demokratie und Stabilität nicht dauerhaft erreichen, wenn wir nicht die Ursachen der Instabilität bekämpfen, wenn wir es nicht schaffen, Hunger und
Armut zu überwinden. Wir haben vereinbart, für 2008
bis 2010 44 Millionen Euro für die Entwicklungszusammenarbeit in Honduras zur Verfügung zu stellen. Das ist
ganz wichtig. Es gibt mittlerweile 1 Milliarde hungernde
Menschen weltweit. Präsident Zelaya hat den Mindestlohn verdoppelt und viele gute Schritte zur Armutsbekämpfung unternommen. Der Konflikt in Honduras ist
auch ein Konflikt zwischen den Eliten und denen, die zu
Recht Chancen einfordern.
Auch die Friedrich-Naumann-Stiftung hat die Verantwortung, endlich einmal den Eliten, mit denen man sich
dort sehr gut versteht, die Meinung zu sagen und deutlich zu machen: Es geht nicht, dass ihr weiter jahrzehntelang, wie ihr es gemacht habt, die Ärmsten der Armen
knechtet, Großgrundbesitz habt und nie etwas abgebt.
Jetzt ist die Stunde der kleinen Leute dort gekommen. Dafür müssen wir sorgen.
({3})
Wir müssen an den Zielen unserer Entwicklungszusammenarbeit insgesamt festhalten und auch daran, die
international vereinbarten Steigerungen der Mittel für
die Entwicklungszusammenarbeit durchzusetzen. Die
Bundesregierung hat sich international verpflichtet, im
Jahre 2010 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens
für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu
stellen.
Herr Entwicklungsminister Niebel, dass ausgerechnet
Sie sich in den letzten Tagen von diesem Ziel verabschiedet haben und angesichts 1 Milliarde hungernder
Menschen gesagt haben: „Wir steigen aus“, ist diesen
Menschen gegenüber, denen Sie und die Frau Kanzlerin
die Steigerung der Mittel versprochen haben, unmenschlich. Frau Merkel, Sie erinnern sich: Ich habe, als Sie
zum G8-Gipfel gefahren sind, hier eine Rede gehalten
und Ihnen gesagt, Sie sollten Herrn Berlusconi, der die
Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit zurückgeschraubt hat, sagen, dass er, wenn er schon den G8-Gipfel in Italien durchführt, zu seiner Verpflichtung stehen
soll, den ODA-Stufenplan einzuhalten. Ich schäme mich,
dass jetzt Deutschland selbst aus dieser Verpflichtung
aussteigt. Da sind wir keinen Deut besser als die Italiener.
Deswegen sage ich, Frau Merkel: Halten Sie Ihr Versprechen gegenüber 1 Milliarde hungernder Menschen
ein! Erhöhen Sie wie versprochen die Gelder für die Entwicklungshilfe auf 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens, und lassen Sie hier nicht die größte Wahllüge
in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland entstehen! Dafür sollten wir gemeinsam kämpfen.
Danke.
({4})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Dr. Wolfgang Gerhardt das Wort.
({0})
Ich höre mir sehr gerne Vorschläge zum Engagement
der Friedrich-Naumann-Stiftung und dazu an, wofür wir
in manchen Ländern eintreten sollen. Wir tun das auch.
Wir haben die Rechte des tibetischen Volkes vertreten
und mussten unser Büro in Peking schließen. Ich würde
mir solche Vorträge noch lieber anhören, wenn sich auch
andere politische Parteien deutlicher im Hinblick auf Venezuela und Nicaragua äußern würden. Wo sind solche
Stellungnahmen?
({0})
Ich selbst habe die Außerlandesverbringung von Präsident Zelaya für unmenschlich gehalten; das ist gar
keine Frage. Aber wir sollten nicht unter uns entscheiden, wer recht hat. Der oberste Gerichtshof in Honduras,
besetzt mit unabhängigen Richtern,
({1})
hat seine Festnahme veranlasst - und nicht die FriedrichNaumann-Stiftung; das will ich hier gesagt haben.
({2})
Heute beschäftigen wir uns mit der Frage, wie wir aus
dieser Lage herauskommen. Da wäre es doch vernünftig,
den Sonntag abzuwarten und zu sehen, wie hoch die
Wahlbeteiligung ist, ob die Wahlen fair stattgefunden haben und wie die Wahlergebnisse aussehen. Wir sollten
uns nicht an die Stelle der Menschen in Honduras setzen,
die am Sonntag entscheiden wollen. Nach diesem Sonntag sollten wir klug weiter beraten.
({3})
Das Wort zu einer Erwiderung hat der Kollege Raabe.
Sehr geehrter Herr Kollege, da Sie es seit mehreren
Wochen nicht verstanden haben, gehe ich nicht davon
aus, dass Sie es jetzt durch meine Antwort verstehen
werden. Trotzdem sage ich noch einmal: Ein Putsch ist
ein Putsch ist ein Putsch. Dass Sie dies verurteilen und
gleichzeitig Putschisten nach Berlin einladen und eigene
Vorschläge unterbreiten, zeigt, dass Sie leider bis jetzt
nicht verstanden haben, dass es hier darum geht, die Vorgänge eindeutig und unmissverständlich zu verurteilen
und sie nicht mit Verweisen auf andere Länder zu rechtfertigen. Sie haben es immer noch nicht verstanden; das
haben wir jetzt wieder sehen können. Also: Putsch bleibt
Putsch.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/33
mit dem Titel „Demokratie in Honduras“. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/60 mit dem Titel
„Demokratiebewegung in Honduras unterstützen - Wahlen der Putschisten nicht anerkennen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte zu der von Bundesminister Dr. Franz Josef Jung in Aussicht gestellten
Erklärung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundesminister Dr. Franz Josef Jung.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den Vorgängen vom 4. September dieses Jahres in Kunduz und
den aktuellen Behauptungen in der Öffentlichkeit nehme
ich vor diesem Parlament wie folgt Stellung:
Zunächst einmal will ich deutlich machen, dass es mir
bei diesem gesamten Sachverhalt um sachgerechte Aufklärung gegangen ist, die durch die NATO durchgeführt
wurde, und auch darum, dass bei einer solch schwierigen
Entscheidung unsere Soldaten, die in diesem Einsatz mit
Risiko für Leib und Leben unsere Sicherheit gewährleisten, nicht mit Vorverurteilungen alleingelassen werden.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nachdem
erhebliche Vorwürfe in der Öffentlichkeit gegen den
Bundeswehroberst Klein vonseiten einiger europäischer
Außenminister und anderer erhoben worden sind, habe
ich mit Oberst Klein in Kunduz telefoniert und mich
über den Sachverhalt aus seiner Sicht unterrichten lassen. Ich habe ihm versichert, dass wir diesen Vorverurteilungen entgegentreten und ihn dabei nicht alleine lassen.
({1})
Als am 6. September ein Bericht der Washington
Post im Hinblick auf 125 Opfer - darunter auch zivile
Opfer - öffentlich geworden ist, habe ich noch einmal
mit Oberst Klein in Afghanistan telefoniert, aber auch
mit General McChrystal, dem COMISAF. Wir waren
übereinstimmend der Auffassung, dass jetzt alles getan
werden muss, um den Sachverhalt korrekt aufzuklären
und danach gegebenenfalls die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Am gleichen Tag, also an diesem 6. September, habe
ich auch gegenüber der Öffentlichkeit unterstrichen,
dass, wenn es zivile Opfer gegeben hat, wir dies sehr bedauern,
({2})
und ich habe auch mein Mitgefühl gegenüber den Angehörigen zum Ausdruck gebracht. Ebenfalls habe ich hinzugefügt, dass wir uns in einem solchen Fall um die Angelegenheit kümmern werden.
Mir ist dann ein Bericht über die Vorgänge vom
4. September aus Afghanistan zugegangen, der unterzeichnet worden ist von dem Gouverneur der Provinz
Kunduz, dem Polizeichef der Provinz Kunduz, dem
NDS-Chef der Provinz Kunduz, dem Provinzratsvorsitzenden der Provinz Kunduz und dem Kommandeur der
zweiten ANA-Brigade.
Dieser Bericht enthält unter anderem folgende Formulierungen - ich zitiere -:
Durch die Explosion wurden 56 bewaffnete Personen getötet und 12 Personen verletzt. Die Verletzten
hatten Verbrennungen und wurden ins Krankenhaus
nach Kunduz gebracht, wo ein Verletzter am
4. September 2009 seinen Verletzungen erlag.
Der Bericht geht dann weiter - ich zitiere wiederum
wörtlich -:
Um diesen Vorfall besser zu untersuchen, ist auf
Anordnung des Präsidenten der Islamischen Republik Afghanistans eine Untersuchungskommission
eingesetzt worden. Dieser Kommission gehören
Vertreter des Innenministeriums, des Verteidigungsministeriums, des NDS und ein Vertreter des Präsidenten an.
Ich zitiere weiter:
Am 5. September 2009 ist die Untersuchungskommission mit einer ISAF-Delegation zusammengetroffen, um ihre Informationen abzugleichen. Nach
Gesprächen mit Dorfbewohnern und Augenzeugen
wurde bewiesen, dass alle Getöteten zu den Taliban
und deren Verbündeten gehören.
Ende des Zitats.
In der Parlamentsdebatte am Dienstag, dem 8. September 2009, habe ich ebenfalls auf diesen Bericht, den
ich gerade zitiert habe, hingewiesen, aber dann Weiteres
noch hinzugefügt - ich zitiere -:
Weil es jetzt auch andere Informationen gibt, ist es
notwendig und richtig, dass wir alles daransetzen,
unseren Beitrag zur sachgerechten Aufklärung zu
leisten. Ich sage noch einmal: Wenn es zivile Opfer
gegeben hat, fordert dies unsere Anteilnahme und
unser Mitgefühl. Wir werden uns auch darum kümmern, dass die Situation vor Ort geregelt wird. Das
halte ich für einen wichtigen Punkt. Aber um Entscheidungen in dieser Richtung treffen zu können,
muss erst das abschließende Untersuchungsergebnis vorliegen.
Ende des Zitats.
Nach den entsprechenden Voruntersuchungen hat am
8. September 2009, also an diesem Tag, der COMISAF
die NATO-Untersuchungen eingeleitet und General
Sullivan mit der Untersuchung beauftragt. Ich habe sowohl mit dem Generalinspekteur als auch mit Herrn
Staatssekretär Dr. Wichert besprochen, dass wir alles
tun, um diese Untersuchungen zu unterstützen, ohne allerdings eigene Untersuchungen durchzuführen.
Anfang Oktober, aus meiner Erinnerung am 5. oder
6. Oktober, informierte mich der Generalinspekteur, dass
es noch einen Feldjägerbericht gebe. Da allerdings die
Untersuchung der NATO entscheidend sei, bitte er um
Freigabe, dass wir diesen Bericht der NATO-Untersuchungskommission zuleiten. Für mich war wichtig, dass
alle Untersuchungen der NATO zur Kenntnis gegeben
werden. Deshalb habe ich auch diese Freigabe erteilt.
Konkrete Kenntnis von diesem Bericht habe ich allerdings nicht erhalten.
({3})
Am 7. Oktober ist dieser Bericht dann der NATO-Untersuchungskommission übergeben worden. Heute weiß
ich, nach Einsichtnahme in die Akten, dass dieser Bericht am 9. September in Masar-i-Scharif zusammengeführt worden ist und dann über das Einsatzführungskommando am 14. September dem Einsatzführungsstab des
Bundesverteidigungsministeriums zugeleitet worden ist.
Für mich war allerdings entscheidend, dass der Bericht
der NATO-Untersuchungskommission hier entsprechend
berücksichtigt wird. Dieser Bericht der NATO-Untersuchungskommission ist dann auch nach Amtswechsel im
Bundesverteidigungsministerium eingegangen. Dieser
NATO-Untersuchungsbericht ist auch der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke,
dass aus diesem gesamten Sachverhalt eindeutig hervorgeht, dass ich sowohl die Öffentlichkeit als auch das Parlament korrekt über meinen Kenntnisstand hinsichtlich
dieser Vorgänge informiert habe.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Jung, Sie haben Ihre Rede mit Herrn
Oberst Klein begonnen. Wir müssen zunächst einmal
festhalten: Es geht uns überhaupt nicht um Herrn Oberst
Klein. Wir haben großes Verständnis für die ernste und
schwierige Situation der Soldatinnen und Soldaten, die
in Kunduz im Auftrag des Deutschen Bundestages eine
schwierige Aufgabe zu erledigen haben. Es geht also
nicht darum: Machen Soldaten unter dem Druck in ihrem Alltag, der nicht einfach ist, Fehler? Vielmehr geht
es darum: Wie geht Politik mit der Wahrheit und mit
möglichen Fehlern um?
({0})
Herr Minister Jung, wir sagen sehr deutlich: Wir hätten uns heute eine andere Rede gewünscht:
({1})
nicht wegdrücken, wenn es schwierig wird, sondern das zeichnet Politik aus - politische Verantwortung übernehmen.
({2})
Ihr Parteifreund, der frühere Verteidigungsminister
Stoltenberg, hat im Jahr 1992 gezeigt, was es bedeutet,
Verantwortung zu übernehmen, wenn man sein Haus
nicht unter Kontrolle hat, wenn Beamte möglicherweise
Fehler gemacht haben.
({3})
All dies weisen Sie weit von sich.
Es ist schon interessant, dass Frau Hoff aus der Fraktion Ihres Koalitionspartners heute erklärt hat, falls Sie
nicht die Wahrheit gesagt hätten, fordere sie Ihren Rücktritt.
({4})
- Frau Hoff, ich kann es vorlesen. - Für den Fall, dass
Sie nicht informiert waren: Sie sagte sinngemäß: Wenn
der Minister sein Haus nicht im Griff hat, erfordert auch
dies Konsequenzen.
({5})
So ging das Zitat über den Ticker. Frau Kollegin Hoff,
ich muss Ihnen sagen: Wo Sie recht haben, haben Sie
recht.
Herr Minister Jung, das Problem ist doch: Wir Verteidigungspolitiker haben vom ersten Tag an mit Ihnen darüber geredet, dass es nicht korrekt ist, dass sie uns immer nur scheibchenweise, im Sinne einer Salamitaktik,
über diesen Freitag, den 4. September, informiert haben.
({6})
Um es klar zu sagen: Auch wir Obleute erhielten - das
haben wir schon damals kritisiert - immer erst dann Informationen, wenn sie in der Zeitung gestanden hatten.
Erst dann haben wir einen Anruf oder eine Einladung zu
einer Obleuterunde erhalten. Das sind die Fakten. Der
Umgang mit dem Bericht der Feldjäger reiht sich also in
die gesamte Kette der Vernebelung der Vorgänge ein.
Wir wollen wissen - deshalb haben wir für morgen
eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses beantragt -: Wo sind Informationen angekommen? Wann
sind sie angekommen? Wer alles im Haus hat sie auf
dem Tisch gehabt? Wie wurden sie zur ISAF weitergeleitet? Viele andere Fragen kommen hinzu. Uns interessiert auch: Was ist eigentlich mit dem Abschlussbericht
des damaligen ISAF-Kontingentes, in den zwangsläufig
die Erkenntnisse der Feldjäger einfließen? Wo ist dieser
Abschlussbericht angekommen? Wie wurde er ausgewertet? Welche Konsequenzen hat der jetzige Minister
aus diesem Abschlussbericht gezogen? All dies muss
morgen geklärt werden.
Eines ist auch klar: Wenn die Regierung morgen nicht
die Chance nutzt, alle Fakten präzise auf den Tisch zu legen, dann muss das Parlament zum schärfsten Schwert
greifen, das es hat, nämlich einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzen, der die Möglichkeit hat,
alle Akteure einzubestellen und mit ihnen zu reden.
({7})
Herr Minister Jung, ich erinnere mich noch sehr gut
an die Tage zwischen dem 4. und dem 7. September dieses Jahres. Wir wissen, dass am 7. September, am Montagabend, der Vorabbericht von ISAF im Ministerium
eingegangen ist, wohl auch auf dem Schreibtisch des beamteten Staatssekretäres gelandet ist. Sie können zwar
sagen: Das war nur ein Vorabbericht. - Da haben Sie
recht. Dieser Vorabbericht enthält aber ziemlich dramatische Indizien dafür, dass es eben leider auch zivile Opfer
gegeben hat. Am nächsten Morgen sitzen wir Obleute
mit Ihnen drüben im Briefing-Raum zusammen, und Sie
sagen nach wie vor: Es hat keine zivilen Opfer gegeben.
Da wollen wir dann schon wissen: Haben Sie den Bericht gelesen? Wurden Sie informiert? Ich frage auch
weiter: Hatten Sie überhaupt Interesse daran,
({8})
von den Soldaten und vom Generalinspekteur die Informationen zu bekommen? Die Soldaten haben eine
Bringschuld - die haben sie zweifellos -; aber der MinisRainer Arnold
ter hat in so einer sensiblen, heiklen Lage auch eine Holschuld. Wir hatten manchmal den Eindruck, dass es eine
politische Strategie gab, auch ausdiskutiert in Ihrem
Umfeld, die im Grunde genommen darauf abgezielt hat,
die tragischen Ereignisse von dem Minister und seiner
Verantwortung möglichst weit fernzuhalten. Dies alles
wollen wir morgen geklärt haben.
Wir schauen darauf, wie der jetzige Minister mit diesem Thema umgeht. Herr Minister zu Guttenberg, Sie
haben sehr schneidig den Generalinspekteur in die
Wüste geschickt, ihn gehen, ziehen lassen, und den
Staatssekretär zumindest in den Urlaub. Sie pflegen damit auch Ihr Image, tatkräftig und entscheidungsfreudig
zu sein. Gelegentlich würden wir uns allerdings wünschen, dass in solch einer Situation auch ein bisschen
Demut aus Ihren Aktionen ins Spiel kommt,
({9})
Demut vor der Komplexität und der großen Verantwortung in diesem Amt.
({10})
Es geht nicht nur um schöne Bilder, Herr zu Guttenberg,
sondern es geht vor allem um einen verantwortlichen
Umgang. Das ist das Erste. Die schönen Bilder - jeder
von uns sieht sich ja gerne in der Zeitung - dürfen das
Zweite sein, aber nicht das Erste.
Herr Minister zu Guttenberg, Sie haben heute zum
ersten Mal eingeräumt, dass Sie möglicherweise ein
bisschen zurückrudern werden, falls der Feldjägerbericht
neue Erkenntnisse bringt. Ich sage Ihnen: Wer den ISAFBericht sorgfältig liest, stellt fest, dass der Feldjägerbericht keine neuen Erkenntnisse bringt. Wer den ISAFBericht sorgfältig liest, darf auch nicht zu Ihrer Einschätzung kommen, Herr zu Guttenberg, und am Ende sagen:
Da wurden zwar Fehler gemacht, aber das Falsche erklären wir jetzt als richtig. Es wurden Fehler gemacht, nicht
nur Verfahrensfehler. Diese Fehler haben tragische Auswirkungen gehabt. Ich erwarte vom Verteidigungsminister, dass er sich dieser Verantwortung stellt und nicht der
deutschen Öffentlichkeit erklären will, dieser Einsatz sei
angemessen und verhältnismäßig gewesen. Es war nicht
angemessen, ohne Gefahr im Verzug Luftunterstützung
anzufordern. Dies besagen die NATO-Regeln eindeutig.
Es ist auch nicht angemessen und verantwortbar, auf
eine große Menschenansammlung schwere Bomben zu
werfen, weil das Risiko, dass Unschuldige zu Tode kommen, latent ist. Leider hat die Nacht dies auf grausame
Weise bestätigt.
Herr Minister zu Guttenberg, ich glaube, auch Sie
sollten die Chance nutzen, morgen im Verteidigungsausschuss Ihre Position nochmals zu überdenken. Auch hier
gilt: Wenn dies nicht geschieht, muss das Parlament mit
seiner parlamentarischen Waffe „Untersuchungsausschuss“ nachvollziehen, wie Sie zu dieser Entscheidung
kommen können, wenn fast alle, die diesen Abschlussbericht geschrieben und gelesen haben, dies anders bewerten. Dies ist insgesamt ein sehr ernster Vorgang.
Ich komme zum Schluss. Das eigentlich Tragische ist:
Wir reden von Parlamentsarmee und meinen damit nicht
nur unser parlamentarisches Recht, Soldaten in den Einsatz zu schicken, und das Parlamentsbeteiligungsgesetz,
sondern wir verstehen im Kern unter Parlamentsarmee
„Armee in der Demokratie“. Das heißt, Armee und deren
Führung müssen transparent und beispielhaft sein beim
Umgang mit der Bundeswehr und den Problemen in der
Bundeswehr. Das ist unser Anspruch, und das ist der Anspruch der deutschen Öffentlichkeit. Er wurde bisher
nicht erfüllt. Sie verspielen das allzu wichtige Vertrauen
in die Arbeit der Bundeswehr. Sie verursachen dies als
Verantwortlicher für die Kommunikation in den letzten
Wochen. Das finden wir schwierig, weil wir in diesen
Tagen sehr ernste Einsatzentscheidungen treffen müssen.
Das lastet auf all diesen Diskussionen. Dies bedauern
wir. Sie sollten das korrigieren.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Arnold, es
hätte sicherlich hervorragend in Ihre Argumentation gepasst, wenn diese Pressemeldung, auf die Sie sich bezogen haben, nicht wenige Minuten nach Erscheinen korrigiert worden wäre, weil genau dieser Satz, den Sie in
dieser Form interpretiert haben, so nicht gesagt wurde.
Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! Ich finde, man sollte
auch hier im Plenum so viel Fairness besitzen, darauf
aufmerksam zu machen.
({0})
Ich stimme Ihren Ausführungen insofern zu, Herr
Kollege Arnold, als es sich hier um einen sehr ernsten
Sachverhalt handelt. Ich glaube, dass es für einen Sicherheitspolitiker sicherlich angenehmere Minuten gibt, als
über das Thema zu diskutieren, mit dem wir uns hier
auseinandersetzen müssen. Aber ich warne auch davor
- davor sollten wir uns hüten; ich glaube, das habe ich
und das hat auch unser Außenminister heute Vormittag
deutlich gemacht -, der Öffentlichkeit vor einer lückenlosen Aufklärung der Fakten im Deutschen Bundestag
Vorverurteilungen kundzutun. Wir sind nicht das Tribunal, das darüber zu entscheiden hat, was in Kunduz im
Einzelnen vorgefallen ist. Das ist eine Aufgabe, die zurzeit wichtig ist, die wir aber wirklich in der gebotenen
Ruhe und angemessenen Reihenfolge angehen sollten.
Auch meine Fraktion hat ein Interesse an einer lückenlosen Aufklärung, vor allem im Interesse der Bundeswehr,
vor allem im Interesse der Soldatinnen und Soldaten, die
im Auslandseinsatz sind.
Ich habe mir heute - erlauben Sie mir an dieser Stelle
bitte diese persönliche Bemerkung - natürlich auch die
Frage gestellt: Was denken unsere Soldatinnen und Soldaten in Kunduz über diese Debatte, die wir jetzt führen
müssen? Es ist unser Anliegen, gemeinsam mit der Bundesregierung so schnell wie möglich dafür zu sorgen,
dass es eine transparente Aufarbeitung dieses Sachverhaltes gibt. Ich freue mich, dass wir morgen früh im Verteidigungsausschuss ein umfassendes Briefing der Bundesregierung bekommen werden.
({1})
Ich hoffe sehr, dass dann keine weiteren Fragen mehr offen sind. Sollten wir zu dem Ergebnis kommen, dass
Fragen noch nicht beantwortet sind, Herr Kollege
Arnold, und Sie den Vorschlag machen, dass ein Untersuchungsausschuss einzusetzen ist, dann wird sich, wie
ich glaube, keine Fraktion hier im Hause diesem Anliegen verschließen.
({2})
Insofern bitte ich an dieser Stelle darum, dass wir gemeinsam eine saubere Aufarbeitung dieses Vorganges
durchführen. Wenn es am Ende der Reise Ergebnisse
gibt, dann sollten wir darüber in den dafür zuständigen
Gremien und natürlich auch im Deutschen Bundestag
diskutieren.
Herr Minister zu Guttenberg, ich freue mich sehr auf
Ihre Aufklärung morgen früh. Herr Minister Dr. Jung,
wir als FDP-Fraktion nehmen Ihre Ausführungen in der
hier vorgetragenen Form zur Kenntnis.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe jetzt gehört, an wen man alles denken
muss. Ich finde das auch richtig, füge aber hinzu: Vielleicht sollten wir zuerst einmal an die bis zu 142 Toten
denken, die es dort am 4. September 2009 gegeben hat.
({0})
Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, mit welcher Salamitaktik wir Schritt für Schritt informiert worden sind und dass das ziemlich unerträglich war. Aber es
kommt noch etwas anderes hinzu: Sie selbst haben die
Situation der Staatsanwaltschaft ungeheuer erschwert,
Herr Jung, weil Sie immer bestritten haben, dass dort ein
Krieg stattfindet. Wenn dort kein Krieg stattfindet, dann
gilt auch kein Völkerrecht und kein Kriegsrecht. Dann
gilt das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland. Sie konnten niemals im Ernst davon ausgehen, dass
eine Notwehrsituation vorlag, als die Menschen getötet
worden sind.
({1})
- Nein. - Wissen Sie, Herr Jung, manchmal ist es so:
Man will aus bestimmten Gründen einen bestimmten
Begriff nicht verwenden und richtet nur noch größeren
Schaden an, weil man es nicht zugibt. Es ist nichts anderes als Krieg; denn es wird geschossen und auch getötet.
({2})
Aber auch nach dem Völkerrecht war das natürlich nicht
legitim, weil Zivilpersonen zu schützen sind. Hier gibt es
klare Vorgaben wie „Gefahr im Verzug“ und vieles andere mehr, was hätte bedacht werden müssen. Das ist das
Erste.
Das Zweite ist: Als Bundesminister sind Sie verpflichtet, in einem Ermittlungsverfahren sämtliche Unterlagen zur Verfügung zu stellen, damit die Staatsanwaltschaft tatsächlich ermitteln kann. Sie haben heute
mit keinem Satz erklärt, warum das nicht geschehen ist.
Die Antwort darauf sind Sie uns nach wie vor schuldig.
({3})
Ich habe gelesen, was heute in der Bild-Zeitung stand.
Wenn ich mir eine kritische Bemerkung gestatten darf:
Herr zu Guttenberg, wieso immer dieser Weg? Warum
können Sie nicht einfach vor die Presse treten und das
erklären? Warum muss erst dafür gesorgt werden, dass
eine Information an die Bild-Zeitung geht und die BildZeitung das veröffentlicht, bevor Sie Stellung nehmen?
Warum gehen Sie nicht von selbst den Weg, zu sagen:
„Das und das habe ich als neuer Minister festgestellt, das
wird offengelegt, und das ist jetzt zu korrigieren“?
({4})
Ich habe den Artikel gelesen. Die entscheidenden Fragen haben Sie nicht beantwortet, Herr Jung: Haben Sie
die Videos gesehen? Wenn nicht: Warum sind sie nicht
an die Staatsanwaltschaft gegeben worden? Sie haben
nun von einem Feldjägerbericht mit 42 Anlagen gesprochen. Sie haben gesagt - ich habe Sie doch richtig verstanden? -, Sie hätten ihn freigegeben, ohne ihn gelesen
zu haben.
({5})
- Moment! - Ich habe dazu eine Frage: Wie können Sie
etwas freigeben, was Sie nicht einmal gelesen haben?
({6})
Nach welchen Kriterien geben Sie denn etwas frei? Das
möchte ich gerne wissen.
({7})
Meine zweite Frage: Wenn Sie den Bericht freigeben,
warum geben Sie ihn nicht der Staatsanwaltschaft? Auch
darauf ist hier keine Antwort erfolgt. Das geht nicht.
Ich sage Ihnen: Ich kenne schwierige Situationen, und
ich weiß, wie sich das hinzieht. Ich möchte im Augenblick nicht in Ihrer Rolle stecken.
({8})
Ich weiß, wie unangenehm das ist. - Nein, verstehen Sie:
Ich sehe durchaus auch den Menschen, Sie nicht, aber
ich schon. Ich habe darauf hingewiesen, dass wir in erster Linie die Toten sehen müssen. Herr Jung, Sie kommen sowieso nicht umhin, die Konsequenzen zu ziehen.
Ziehen Sie es nicht in die Länge! Das hilft Ihnen nicht.
({9})
Ich weiß auch nicht: Wer war denn noch informiert?
Frau Bundeskanzlerin, haben Sie davon gewusst? Ich
weiß es nicht. Warum erfolgen keine Stellungnahmen?
Das wäre doch wohl das Mindeste. - Hören Sie zu! Das
ist doch ein außergewöhnlicher Vorgang: Durch den
Befehl eines Soldaten der Bundeswehr sind bis zu
142 Menschen gestorben; aber man erfährt so gut wie
nichts und wenn, dann immer nur ein kleines Stückchen.
Das geht einfach nicht. Die deutsche und die internationale Öffentlichkeit haben einen Anspruch auf Aufklärung; diesen Anspruch sollten Sie befriedigen.
({10})
Glauben Sie mir, Herr Jung: Sie werden letztlich
keine andere Wahl haben. Ziehen Sie am besten gleich
die Konsequenzen! Das ist in unserem Interesse, aber
auch in Ihrem.
({11})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan ist zurückgetreten.
Er hat damit Verantwortung für einen Fehler übernommen. Ich finde, wir sollten Herrn Schneiderhan unseren
Respekt dafür nicht versagen.
({0})
Dieser Generalinspekteur stand in vieler Hinsicht für die
Haltung: Schutz der Soldaten und der Zivilistinnen und
Zivilisten. Ich kann für meine Fraktion sagen: Wir haben
Einsätzen in vielen Fällen eher trotz Ihnen, Herr Jung,
zugestimmt, weil es diesen Generalinspekteur gegeben
hat.
({1})
Ich hätte mir gewünscht, dass Sie heute die gleiche
mannhafte Courage an den Tag legen und die gleiche
Konsequenz ziehen und für diesen Fehler zurücktreten.
({2})
Sie haben - ob wissentlich oder unwissentlich - gegenüber der deutschen Öffentlichkeit und diesem Deutschen Bundestag faktisch die Unwahrheit gesagt; das
können wir heute feststellen.
({3})
Wir wissen, dass bereits am Abend des 4. September,
vor dem Bombardement, bekannt war, dass die Taliban
Zivilisten an den Tatort beordert hatten, und wir wissen,
dass bereits wenige Stunden nach diesem Bombardement im Einsatzführungskommando in Potsdam Informationen vorlagen, wonach es mehrere Patienten im Alter von 10 bis 20 Jahren gegeben hat, die verletzt waren,
und dass es zwei Leichen im Teenageralter gegeben hat.
All dies war im Einsatzführungszentrum in Potsdam am
5. September bekannt. Was erklärte der Bundesverteidigungsminister am 6. September in der Bild am Sonntag?
Er erklärte - wörtliches Zitat -, es seien „ausschließlich
terroristische Taliban getötet worden“. Herr Jung, Sie
haben an dieser Stelle die Unwahrheit gesagt.
({4})
Sie haben an einem weiteren Punkt auch in diesem
Parlament die Unwahrheit gesagt. Sie haben erklärt, es
habe zwei Quellen gegeben, die aufgeklärt hätten und an
dieser Stelle erklärt hätten, hier seien keine Menschen in
Gefahr. Die Wahrheit ist: Bereits am 6. September, zwei
Tage vor der Bundestagsdebatte, hat die NATO festgestellt, dass es anhand der Bilder des Videos unmöglich
sei, die Aussagen des Informanten, von dem wir heute
wissen, dass er keinen Kontakt vor Ort hatte, zu bestätigen. Das heißt, dieser Befehl ist entgegen den öffentlich
zugänglichen Einsatzregeln erfolgt. Auch in diesem
Punkt haben Sie, Herr Jung, diesem Parlament die Unwahrheit gesagt.
({5})
Es wäre daher gut gewesen, wenn Sie heute die Konsequenz gezogen hätten. Stattdessen haben Sie sich erneut verstrickt. Sie haben gesagt, Anfang Oktober - der
Hinweis vom Kollegen Gysi ist richtig - hätten Sie einen
Bericht freigegeben. Ich sage Ihnen: Diese Feldjägerberichte sind keine Geheimakten; sie sind „VS - Nur für
den Dienstgebrauch“. An dem Tag, an dem Sie diesen
Feldjägerbericht an die NATO weitergeleitet haben, hätten Sie veranlassen müssen, dass dieser Bericht diesem
Parlament, seinem Verteidigungsausschuss und seinem
Auswärtigen Ausschuss sofort und unmittelbar ebenfalls
zur Verfügung gestellt wird. Sie haben hier nicht nur die
Unwahrheit gesagt. Sie haben uns alle hinter die Fichte
geführt, und das gehört sich nicht in einer Demokratie.
({6})
Ja, wir wollen das jetzt aufgeklärt sehen. Liebe Frau
Kollegin Hoff, ich habe mit großem Interesse gehört,
dass Sie sich für eine lückenlose Aufklärung ausgesprochen haben. Ich freue mich schon darauf, wenn morgen
Nachmittag die Entscheidung ansteht. Ich weiß nicht, ob
Sie angesichts der Praxis von Herrn Jung noch Hoffnung
haben, dass morgen eine lückenlose Aufklärung erfolgt.
Ich freue mich aber schon darauf, dass Sie sich gemeinsam mit uns mit dafür einsetzen werden, dass diese Fakten mit den Mitteln des Parlamentes, weil auf diese Exekutive kein Verlass ist, aufgeklärt werden, und dass Sie
sich mit uns dafür einsetzen werden, dass sich der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss konstituiert.
({7})
Liebe Frau Bundeskanzlerin, lieber Kollege zu
Guttenberg, ich finde, Sie hätten an dieser Stelle allen
Grund gehabt, sich hier zu erklären. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben uns gegenüber in der Regierungserklärung
gesagt, Sie bedauerten das; wenn dort unschuldige Menschen zu Tode gekommen seien, dann entschuldigten Sie
sich.
Herr zu Guttenberg ist aber so weit gegangen, nicht
nur zu sagen, das sei militärisch angemessen und verhältnismäßig gewesen. Sie haben sich sogar zu der Formulierung verstiegen, dieser Angriff sei unabweisbar
gewesen. Ich zitiere dies jetzt nur aus öffentlich zugänglichen Quellen der NATO und aus dem im Internet für
jedermann anzusehenden Film. Ich frage Sie, warum
diese Piloten, wenn es unabweisbar war, fünfmal gefragt
haben: Sollen wir keinen Tiefflug machen, um die dort
versammelten Menschen vor dem zu warnen, was gleich
passiert?
({8})
Wenn man sich dieses Video anschaut, dann bestätigt
sich auch eine weitere schlimme Tatsache, nämlich dass
entgegen der Frage der Piloten angeordnet worden ist,
direkt zwischen die beiden Tanklastzüge zu zielen: dorthin, wo auf dem Video die Menschen zu erkennen sind.
Meine Damen und Herren, Frau Bundeskanzlerin,
Herr Bundesverteidigungsminister, das ist nicht Schutz
der Zivilbevölkerung; das ist Vorsatz, und das können
wir in diesem Lande nicht dulden. Das geht nicht. Damit
desavouieren Sie auch die Arbeit der Bundeswehr, die
sie in Afghanistan macht.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt Bundesminister Jung für die klare Stellungnahme.
({0})
Er hat das Notwendige zur Entkräftung des Vorwurfs gesagt, er habe wissentlich oder wahrheitswidrig ihm vorliegende Informationen verschwiegen.
({1})
Heute Morgen hat der Bundesminister der Verteidigung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass
absolute Transparenz und Offenheit bei der Information
gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit für ihn
oberste Priorität haben. Dies begrüßen wir außerordentlich; denn nur das ermöglicht, dass die Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr für ihren Einsatz in Afghanistan den Rückhalt bei den Bürgerinnen und Bürgern finden, auf den sie einen Anspruch haben.
Wo diese Vorgabe der Transparenz und Offenheit
nicht befolgt wird, müssen Konsequenzen gezogen werden.
({2})
Deswegen war es folgerichtig, dass der Bundesminister
der Verteidigung heute unmittelbar nach Bekanntwerden
und Prüfung der ihm bisher nicht bekannten Berichte die
Bitte des Generalinspekteurs, ihn von seinen Dienstpflichten zu entbinden, angenommen und den verantwortlichen Staatssekretär entlassen hat.
({3})
Die Aufklärung der Hintergründe dieses komplexen
Vorgangs liegt in unserem unbedingten Interesse. Vor allem hat auch Bundesminister Jung einen Anspruch darauf.
({4})
Sollten die Oppositionsfraktionen nach der morgigen
Sitzung des Verteidigungsausschusses und nach der Aussprache über den Bericht von Bundesminister zu
Guttenberg einen Untersuchungsausschuss für erforderlich halten, ist die CDU/CSU-Fraktion damit sehr einverstanden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Beredsamkeit der Redner der Koalitionsfraktionen
spricht Bände.
({0})
Ich stimme der Kollegin Hoff zu. Das kann man erst einmal nur zur Kenntnis nehmen. Ich stimme zu, dass man
nur sehr kurz sagen kann: Wenn etwas aufzuklären ist,
dann muss es aufgeklärt werden. Da gibt es offenbar bei
den Regierungsfraktionen ein ähnliches Informationsbedürfnis wie bei uns.
Es wird um vier Komplexe gehen. Erstens. Warum
hat Minister Jung Informationen, die die Bundeswehr
besaß, verschwiegen und einen falschen Eindruck erweckt? Die Faktenlage ist durchaus so, dass es in dem
Umfeld des Interviews, das die Bild-Zeitung heute zitiert
hat, in dem er sagt, dass nur Terroristen getroffen wurden, bereits andere Informationen gab, etwa der NATO.
Der NATO-Pressesprecher von ISAF hat Krankenhäuser
besucht und sich dabei fotografieren lassen. Am
6. September war das in allen Zeitungen Deutschlands
zu lesen. Das sind doch Informationen, die allen zugänglich sind, Herr Minister.
({1})
Die Antwort kann nur lauten: Entweder wusste er es
besser, aber es passte ihm nicht ins Konzept - damals
waren Wahlkampfzeiten -,
({2})
oder er wusste es nicht besser. Aber dann hatte er sein
Ministerium nicht im Griff. Warum soll er jetzt ein anderes Ministerium ruinieren?
({3})
Will er nach der Reform der Jobcenter auch sagen, dass
er es nicht besser gewusst hat?
Komplex zwei. Wusste Minister zu Guttenberg, als er
sich öffentlich äußerte, eigentlich alles? Ich komme auf
die Frage, weil sich der Fraktionschef der Union, Kollege Kauder, heute wie folgt geäußert hat - ich zitiere
aus Spiegel Online -:
Ich gehe mal davon aus, wenn man es dem Herrn zu
Guttenberg nicht vorgelegt hat, obwohl der sich bei
Dienstantritt zu diesen Vorgängen ja geäußert hat,
dass es dem Herrn Jung auch nicht vorlag.
Das Ganze also anders herum.
Kollege Bartels, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lindner?
Gerne.
Herr Kollege, der damalige Minister des Auswärtigen
war der Kollege Steinmeier. Wollen Sie uns bitte darlegen, was der Kollege Steinmeier damals in seiner Funktion als Bundesaußenminister wusste,
({0})
welche Berichte er sich hat vorlegen lassen und wie er
als Minister des Auswärtigen seiner Holschuld in Bezug
auf Afghanistan nachgekommen ist?
({1})
Herr Kollege, „Holschuld“ ist ein prima Stichwort.
Als Minister, der für die Bundeswehr zuständig ist, hat
man, wenn ganz Deutschland über einen solchen Vorfall
diskutiert, eine Holschuld,
({0})
in seinem eigenen Haus mitzubekommen, was passiert
ist. Ich denke, dann wird man auch die Kollegen in der
Bundesregierung informieren. Das ist offensichtlich
nicht geschehen. Er sagte, er sei selbst nicht informiert
gewesen.
Uns interessiert, was Minister zu Guttenberg gewusst
hat, was der Kollege Jung nicht gewusst hat - das war
Wochen später -, und was er sich hat vorlegen lassen, als
er sich öffentlich äußerte.
Komplex drei. Wenn das alles so nachvollziehbar ist,
wie Sie das vorgetragen haben, Herr Minister Jung: Warum mussten dann heute der Generalinspekteur und der
Staatssekretär Wichert entlassen oder beurlaubt werden?
({1})
Wir haben heute nicht gehört, welche Fehler diesen beiden Spitzenleuten des Ministeriums vorgeworfen werden. Sind sie Bauernopfer?
Komplex vier. Der Generalinspekteur und der Bundesminister zu Guttenberg haben sich durchaus unterschiedlich - Kollege Trittin hat das zitiert - zu dem Vorfall im Kunduz-Fluss geäußert. Ich zitiere Minister zu
Guttenberg aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
- das entscheidende Wort einer langen Stellungnahme
lautet „müssen“ -:
Selbst wenn es keine Verfahrensfehler gegeben
hätte, hätte es zu dem Luftschlag kommen müssen.
Das hat der Generalinspekteur dezidiert anders dargestellt. Er spricht nicht von „müssen“. Er sagt in Solidarität mit den Kameraden in Afghanistan: Die Lage war so,
dass es möglicherweise angemessen gewesen sein kann.
Nicht „müssen“! Welche Informationen haben Sie denn
gehabt, als Sie sagten, dass dieser Luftschlag hätte stattfinden müssen, Herr zu Guttenberg? Der NATO-Untersuchungsbericht gibt dafür wahrscheinlich nicht die
Grundlage her. Zu diesem Schluss käme man, wenn man
ihn kennen würde. Er ist aber geheim. Insofern reden wir
sozusagen unter Einäugigen.
({2})
- Niemand will Geheimnisse verraten. - Es ist aber kein
Geheimnis, wenn ich sage, dass der Eindruck, der öffentlich erweckt wird, durch den NATO-Untersuchungsbericht meiner Meinung nach nicht gedeckt ist. Da geht
es nicht um „müssen“, sondern um Fehler, die gemacht
worden sind und die abzustellen sind, sowie um Vorschläge, wie man sie abstellen kann. Die NATO kritisiert
das, was Sie rechtfertigen.
({3})
Herr Minister Jung, es ist richtig - auch Kollege Gysi
hat darauf hingewiesen -: Man muss nicht alles wissen.
Man kann in einem so riesigen Verantwortungsbereich
auch nicht alles wissen.
({4})
Aber in einer Zeit, in der ganz Deutschland im Wahlkampf tagelang über die Frage diskutiert: „Was ist da eigentlich gewesen?“, ist es die verdammte Pflicht und
Schuldigkeit des Inhabers der Befehls- und Kommandogewalt, sich selbst aktiv darüber schlau zu machen, was
die Bundeswehr und sein Haus darüber wissen.
({5})
Es ist dann das Recht des Parlaments - auch wenn
Wahlkampf ist und man nicht mehr regelmäßig zusammenkommt -, zu erfahren, was Sie wissen. Es ist armselig, wenn Sie sagen, Sie haben nichts gewusst, und nach
und nach scheibchenweise herauskommt, was in der
Bundeswehr an Informationen vorhanden war. Wir werden morgen früh im Verteidigungsausschuss und vermutlich auch danach in einer Sonderveranstaltung einigen Informationsbedarf haben.
Vielen Dank.
({6})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Rainer Stinner von der FDP-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ohne jeden Zweifel beschäftigt uns dieses Thema
in einer kritischen Situation, nämlich der Diskussion
über die Verlängerung von Afghanistan-Mandaten. Ohne
jeden Zweifel haben wir es mit einem sehr gravierenden
Vorgang zu tun, nämlich der Fragestellung: Wann sind
welche wichtigen Informationen bei wem angekommen,
und wie sind sie verarbeitet worden?
Wir als Parlament haben selbstverständlich die Aufgabe, diese Fragen zu stellen und aufzuklären. Diejenigen, die mich kennen, wissen, dass ich in den letzten vier
Jahren im Verteidigungsausschuss sehr wohl das Informationsverhalten des Verteidigungsministeriums des Öfteren - um es höflich auszudrücken - problematisiert
habe.
({0})
Deswegen stehe ich nicht dafür, dass wir hier in irgendeiner Weise etwas vertuschen. Gerade angesichts
der Diskussion, die wir diese und nächste Woche führen
und für die wir gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten Verantwortung
tragen, plädiere ich sehr nachdrücklich dafür, dass wir
uns nicht vorschnellen oppositionellen Empörungsreflexen - die ich verstehen kann - hingeben.
({1})
Ich bitte Sie allerdings, daran zu denken: Was richten Sie
mit vorschnellen Urteilen an? Ich habe nichts gegen endgültige Urteile. Die Fraktion der FDP wird sich dem Urteil und den Fakten, die eines Tages herausgefunden
werden, mit Sicherheit stellen. Wir werden einem Untersuchungsausschuss zustimmen, wenn das die Mehrheit
im Ausschuss will und wenn Klärung anders nicht
erreicht werden kann. Ich plädiere aber nachdrücklich
dafür, dass wir erst dann, wenn die Untersuchung abgeschlossen ist, Bewertungen vornehmen und die politischen Konsequenzen ziehen. Sonst tun wir unseren Soldaten und unserem Volk einen schlechten Dienst.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der
gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen
und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags
sowie der Resolutionen 1368 ({0}) und 1373
({1}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/38 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen, die der Aussprache nicht beiwohnen wollen, den
Plenarsaal zu verlassen, damit die anderen den Rednern
in Ruhe folgen können.
Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile als erstem
Redner dem Bundesminister Dr. Guido Westerwelle das
Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die Bekämpfung des
Terrorismus ist nicht alleine eine militärische Aufgabe,
erforderlich ist ein umfassender politischer Ansatz. Das
OEF-Mandat, um das es jetzt geht, ist nur noch ein Faktor in unseren Gesamtbemühungen. Seit der ersten Mandatierung von OEF im Jahr 2001, damals unter dem
unmittelbaren Eindruck der Terroranschläge des
11. September, wurde die Beteiligung der Bundeswehr
an OEF schrittweise reduziert. Bereits im letzten Jahr ist
die Schwerpunktverlagerung bei den militärischen Operationen in Afghanistan - weg von OEF, hin zu ISAF auch in unserem Bundestagsmandat, das hier beschlossen worden ist, nachvollzogen worden. Unsere Aktivitäten unter dem OEF-Mandat beschränkten sich seitdem
auf die Beteiligung der deutschen Marine an der Seeraumüberwachungsoperation am Horn von Afrika und
dem Einsatz im Mittelmeer im Rahmen der NATO-geführten Operation Active Endeavour.
Die Bundesregierung wird spätestens bis zum
Sommer 2010, also bis zum Sommer des nächsten Jahres, die Notwendigkeit der weiteren deutschen Beteiligung an Operation Enduring Freedom am Horn von
Afrika und gegebenenfalls eine Überführung der bisher
im Rahmen von OEF am Horn von Afrika eingesetzten
Kräfte in eine gemeinschaftliche Mission zur Pirateriebekämpfung überprüfen. Die Beteiligung an Operation
Active Endeavour bleibt hiervon unberührt. Das werden
wir mit der gebotenen Zeit und Ruhe tun, die einer Bundesregierung, die nicht einmal einen Monat im Amt ist,
naturgemäß bisher nicht zur Verfügung stand. Wir werden diese Überprüfung in engem Austausch mit unseren
Partnern und Verbündeten vornehmen. Unverkennbar ist
- bei allen Risiken durch den internationalen Terrorismus, die fortbestehen -, dass sich der Schwerpunkt der
maritimen Gefährdung am Horn von Afrika in den letzten Jahren immer stärker in Richtung Piraterie verlagert
hat. Das hat dieses Hohe Haus nun wirklich schon mehrfach beschäftigt. Das ist der Grund, warum wir, wie bereits in der Vergangenheit geschehen, deutsche Kräfte,
die bei OEF eingesetzt sind, bei Bedarf der EU-Pirateriebekämpfungsoperation Atalanta unterstellen werden.
Wie wir haben auch andere bislang an OEF beteiligte
Staaten, auch die USA, ähnliche Schlüsse aus der veränderten Bedrohungslage am Horn von Afrika gezogen.
Sie setzen ihre im Seegebiet vorhandenen Kräfte seit
Anfang 2009 fast ausschließlich zur Pirateriebekämpfung ein. Die Bundesregierung wird diese Entwicklung
in den nächsten Monaten aufmerksam weiterverfolgen
und im Lichte neuer Erkenntnisse die weitere deutsche
Beteiligung an OEF am Horn von Afrika überprüfen.
Bei dieser Überprüfung ist auch unser AfghanistanEngagement zu berücksichtigen, dessen Verlängerung
der Deutsche Bundestag heute Vormittag debattiert hat.
Selbstverständlich wird die Bundesregierung in diese
Evaluation des OEF-Einsatzes auch die Punkte einbringen, die aus der heutigen Debatte und aus weiteren Beratungen erwachsen. Ebenso selbstverständlich ist, dass
die Bundesregierung den Deutschen Bundestag umgehend über das Ergebnis der Evaluierung unterrichten
wird.
Für die Bundesregierung bitte ich um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag und zu den skizzierten weiteren Verfahren. Ich bitte trotz der verständlichen Debatte
von eben, dass auch diesem wichtigen außenpolitischen
Punkt entsprechende Aufmerksamkeit in diesem Hohen
Hause gewidmet wird.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
sozialdemokratische Bundestagsfraktion bleibt im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik in der Kontinuität der Verantwortung; wir haben dies heute diskutiert.
Dies gilt für Afghanistan. In einer schwierigen Entscheidung stehen wir zu der Notwendigkeit des Mandates.
Wir haben das beim Thema Libanon vor wenigen Minu492
ten nochmals bestätigt, und zwar eher mehr als der Außenminister, weil wir die politische Dimension des Auftrages im Libanon sehen. Auch bei OEF bleiben wir in
unserer Kontinuität, wenn wir sagen: Dieser Einsatz
sollte nicht verlängert werden.
({0})
Bereits in der Debatte vor einem Jahr haben wir in
komplizierten Diskussionen erreicht, dass wenigstens
die Komponente von OEF an Land nicht mehr mandatiert wurde. Schon damals hätten wir gern gehabt, dass
das OEF-Mandat hinsichtlich der Seekomponente am
Horn von Afrika ausläuft. Dies ist nicht gelungen, weil
Verteidigungsminister Jung und die CDU in der Koalition diesen Weg nicht mitgegangen sind. Jetzt ist es aber
an der Zeit, noch einmal genau zu schauen: Was ist OEF
wirklich, und was macht dort noch Sinn?
Wir möchten daran erinnern, dass dies eben kein Einsatz ist, der NATO- oder UNO-geführt ist, sondern dass
das eine Koalition der Willigen ist, die in verschiedenen
Erdteilen Terror bekämpfen soll. Da ist eines natürlich
ganz deutlich: Die Legitimation des Kampfes gegen den
Terror, die damals, vor neun Jahren, darauf basiert hat,
dass man gesagt hat: „Nach Art. 51 der UN-Charta hat
jedes Land das Recht, sich allein oder kollektiv zu verteidigen“ - die Anschläge in New York und Washington
waren ein Angriff -, schwindet natürlich im Laufe der
Jahre. Das Eis der völkerrechtlichen Begründung wurde
von Jahr zu Jahr dünner, und im neunten, oder wie Sie
meinen, gar im zehnten Jahr kann dieses Eis sicherlich
nicht mehr tragen.
Es gibt eine zweite, mindestens genauso wichtige Begründung, warum dieses Mandat enden sollte. Wir alle
wissen, dass der Kampf gegen Piraterie am Horn von
Afrika, auch mit deutscher Unterstützung, engagiert geführt werden muss. Als größtes Handelsland haben wir
eine besondere Verantwortung und ein besonderes Interesse, Seesicherheit und stabile Seewege herzustellen.
Aber was sehen wir am Horn von Afrika? Mehrere Operationen arbeiten dort mehr oder weniger nebeneinanderher: die Operation Atalanta, geführt von Europa, gelegentlich zusätzlich Schiffe, die die NATO als
Einsatzverband in diesem Seeraum hat, außerdem OEF
und einzelne Schiffe anderer Staaten zur Pirateriebekämpfung. Dies alles macht doch keinen Sinn.
Was ich damit sagen will, ist: Wir wollen nicht, dass
Deutschland mit einem Ausstieg aus OEF weniger Verantwortung am Horn von Afrika übernimmt. Wir wollen,
dass Deutschland die richtige Verantwortung am Horn
von Afrika übernimmt und seine Schiffe und seine Seeluftaufklärer eben auch der Operation Atalanta und europäischen Missionen zur Verfügung stellt. Dies wäre der
richtige Weg, und den sollten wir jetzt einschlagen.
Es ist schon interessant, Herr Außenminister, dass Sie
und Ihre Partei heute angedeutet haben, ganz wohl sei es
Ihnen beim OEF-Mandat auch nicht. Auch haben Sie gesagt: Eigentlich müsste es schon überprüft werden. So
habe ich Sie verstanden. Dies schreiben Sie aber nicht in
den Antrag. Sie legen uns das gleiche Mandat wie in der
Vergangenheit vor. Das heißt, Sie wollen so wie in der
Vergangenheit weitermachen. Dies ist nicht unser Ansatz, auch aus sehr grundsätzlichen Erwägungen.
Ich glaube, der Einsatz bewaffneter Streitkräfte im
Kampf gegen Terror erweist sich zunehmend als Irrweg.
({1})
- Langsam, langsam. Ich bin noch nicht fertig. Die Kollegen von der Linken müssen schon bis zum Ende zuhören. - Über diesen Einsatz findet so langsam auch in den
Vereinigten Staaten eine Diskussion statt. Wir wissen, es
gibt eine Parallele zum Afghanistan-Einsatz, aus dem
wir uns aus guten Gründen zurückziehen werden. Die
eindeutig von der UNO mandatierte ISAF-Mission ist
wichtig: Sie ist dazu da, den Afghanen zu helfen, ihr
Land zu stabilisieren, wirtschaftlich voranzubringen, für
medizinischen Fortschritt und Bildung zu sorgen. All
dies ist richtig, und auch da ist es auf Dauer nicht klug,
wenn parallel dazu eine Mission wie die OEF stattfindet,
die im Grunde genommen auch für uns nicht ausreichend transparent ist. Darüber haben wir immer wieder
diskutiert. Deshalb waren wir sehr dankbar, dass der Außenminister letztes Jahr erreicht hat, dass unsere Beteiligung an dem Teil der OEF-Mission, die sich auf Afghanistan erstreckt, gestrichen wurde. Deshalb sind wir sehr
dafür, dass wir uns auch nicht mehr am Horn von Afrika
an dieser Mission beteiligen.
Ich habe auch keine große Sorge, dass das zu schwierigen Diskussionen mit den Verbündeten führt. Ich habe
den Eindruck, der neue Präsident in den Vereinigten
Staaten setzt sich von der Haltung seines Vorgängers ab,
weil er verstanden hat und weiß, dass der Krieg gegen
einzelne Terroristen nicht über die OEF-Mission oder
Koalitionen von Freiwilligen zu gewinnen ist, sondern
der Krieg gegen Terroristen - das sehen wir in Afghanistan jeden Tag - viel komplexer ist und das Zusammenwirken aller Kräfte verlangt, eben auch der zivilen und
der polizeilichen Kräfte sowie der militärischen Kräfte.
All dies spricht dafür, die Beteiligung an OEF jetzt zu
beenden und damit der Marine den Spielraum zu geben,
der es ihr ermöglicht, weitere gute Beiträge im Rahmen
der Operation Atalanta zu leisten.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. KarlTheodor zu Guttenberg.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zum dritten Mal in diesem Marathon der Mandatsdebatten, die wir heute führen.
Ich fühle mich, Herr Arnold, an das vorhin von Ihnen
gebrauchte Wort „Demut“ erinnert. Zur Demut gehört
übrigens auch, dass man gelegentlich zuhört, wenn man
angesprochen wird, Herr Arnold.
({0})
Wenn Sie sich in aller Bescheidenheit eben auch über
den UN-Sicherheitsrat hinwegsetzen, ist das mit Demut
auch nur bedingt vereinbar. Wenn Sie die Kontinuität der
Verantwortung betonen - davon halte ich sehr viel -,
gleichzeitig aber ein Stück Verantwortungsvergessenheit
mit einspielen lassen, möchte ich Ihnen sagen: Es war
nicht nur Verteidigungsminister Jung, der zuletzt über
das UNIFIL-Mandat mitentschieden hat, es waren auch
Ihr Außenminister und die SPD in der Regierung, die
das mitentschieden haben. Das sollte man auch an einem
solchen Abend nicht vergessen, Herr Arnold. Darauf
darf man schon einmal hinweisen.
({1})
So schnell geht es dann plötzlich in der Opposition.
Ende 2001 hat dieses Hohe Haus erstmalig unseren
militärischen Einsatz im Kampf gegen den internationalen Terrorismus gebilligt. Mittlerweile ist Afghanistan
- ja, aus beachtlichen Gründen - aus unserem OEF-Portfolio gestrichen worden, doch bis heute leisten wir auf
dieser Grundlage erfolgreich unseren Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus am Horn von
Afrika und im Rahmen der NATO-Operation Active Endeavour im Mittelmeer.
Der internationale Terrorismus ist auch heute, acht
Jahre nach dem 11. September 2001, weiterhin eine
weltweite Gefahr, mit allen Wirkkräften, die damit verbunden sind. Die umfassende Bekämpfung des internationalen Terrorismus bleibt deshalb die zentrale Herausforderung für die internationale Staatengemeinschaft.
Das gilt es weiterhin zu betonen.
({2})
Deshalb wird auch heute OEF noch gebraucht. OEF ist
erfolgreich und verbindet die Vereinigten Staaten mit ihren transatlantischen Partnern.
({3})
Auch diesen Aspekt sollten wir nicht gänzlich ausblenden.
Es braucht gleichermaßen die Anwendung politischer,
entwicklungspolitischer, polizeilicher, nachrichtendienstlicher, aber eben auch militärischer Mittel, um den
Terrorismus und seine Ursachen zu bekämpfen. Deshalb
ist es richtig, dass wir unseren Einsatz fortsetzen.
Deutschland stellt sich seiner Verantwortung, wenn es
darum geht, gemeinsam in der internationalen Staatengemeinschaft auch für Terrorismusbekämpfung einzustehen. Nur solange wir uns beteiligen, können wir auch
mitsprechen und die Operation mitgestalten.
({4})
Das ist gerade mit Blick auf Afghanistan auch nicht
gänzlich ohne Bedeutung für die Sicherheit unserer Soldaten dort. Das darf auch einmal betont werden.
({5})
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat am
8. Oktober 2009 mit der Resolution 1890 ({6}) seine
fortdauernde Unterstützung für die internationalen Bemühungen zur Bekämpfung des Terrorismus im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen bekräftigt.
Wir wollen das bisherige Mandat für die Operation
Enduring Freedom fortschreiben. Das Mandat schließt
den NATO-Einsatz mit ein.
Wir wollen aber auch hier einen Prozess erkennbar
werden lassen, wie wir es heute schon bei UNIFIL angesprochen haben, indem wir die Obergrenze von 800 auf
700 Soldaten absenken;
({7})
denn wir sind auch so in der Lage, das erforderliche Fähigkeitsprofil für den Antiterroreinsatz am Horn von
Afrika und im Mittelmeerraum abzubilden.
({8})
- Ich habe schon einmal beredtere Zwischenrufe von Ihnen gehört, Herr Trittin.
({9})
Schreibt sich Ihr Zwischenruf „Wow!“ oder „Wau!“?
Die Operation Enduring Freedom sowie der Einsatz
der NATO im Mittelmeer im Rahmen der Operation Active Endeavour sind ein guter militärischer Beitrag zur
Bekämpfung des internationalen Terrorismus.
Ich sage aber auch, Bezug nehmend auf den Kollegen
Westerwelle, dass es Sinn macht, im nächsten Jahr eine
gemeinschaftliche Mission zu überprüfen. Dann wird
man sehen, inwieweit man das, was ich als Prozess beschrieben habe, auch als Prozess gestalten kann. Ich
glaube, das ist wichtig und auch ein wichtiges Signal,
dass die Koalition hier zusammensteht.
Durch den Einsatz von See- und Seeluftstreitkräften
der Operation Enduring Freedom wird Terroristen am
Horn von Afrika und in angrenzenden Seegebieten der
Zugang zu Rückzugs- und Aktionsräumen und die Nutzung potenzieller Verbindungswege zu terroristischen
Strukturen auf der arabischen Halbinsel erschwert.
Gleichzeitig wird ein Beitrag zum Schutz dieser für den
Welthandel strategisch wichtigen Seepassage vor terroristischen Anschlägen geleistet. Auch das ist nicht unter
den Tisch zu kehren. Diese Seepassagen sind für uns entscheidend. Sie sind wichtige Handelswege. Nicht nur die
Piraterie spielt hier eine Rolle, sondern auch der Terrorismus.
Herr zu Guttenberg, der Kollege Ströbele würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Kollege Ströbele, ich habe bereits heute Morgen umfassend auf Ihre Frage geantwortet. Soll das eine Fortsetzung dieser Fragerunde sein?
({0})
- Nein. Dann bitte sehr.
({1})
Wenn man so angelächelt wird.
Herr Minister, Sie haben davon gesprochen, dass die
Einsätze erfolgreich gewesen seien. Können Sie bestätigen, dass die Einsätze am Horn von Afrika unter anderem dazu geführt haben, dass die Anzahl der Kaperungen von Schiffen durch Piraten allein in diesem Jahr um
50 Prozent zugenommen hat und weiter zunimmt und
dass sich das Einsatzgebiet der Bundeswehr inzwischen
über den halben Indischen Ozean erstreckt? Halten Sie
es nicht für besser, dass man am Horn von Afrika die Ursachen der Piraterie bekämpft und dass man insbesondere gegen die Schiffe vorgeht, die dort alle Fischgründe
leerfischen - Schiffe aus Japan, aber auch aus Europa,
vor allen Dingen aus Frankreich und Spanien, die Fischfabriken an der Küste von Somalia versorgen -, sodass
den Fischern und ihren Familien die Existenzgrundlage
genommen wird?
({0})
Jetzt darf ich den Kollegen Trittin kurz mit „Wow!“
zitieren. Sie haben sozusagen die ganze intellektuelle
Tiefe dieser Frage abgefischt.
({0})
Bei einem Punkt bin ich - überraschend genug - bei Ihnen, Herr Ströbele, und das habe ich hier auch schon betont: Es geht sehr wohl darum, die Ursachen der Piraterie zu bekämpfen, auch, wie ich vorhin gesagt habe, in
entwicklungspolitischer Hinsicht. Aber der dialektische
Sprung, den Sie gemacht haben, ist schon bemerkenswert. Sie sagen, dass die Piraterie dramatisch zunimmt,
sobald dort unten die Seewege auch militärisch gesichert
werden. Das übersteigt zumindest meinen Horizont, lieber Herr Ströbele.
({1})
Ich bin ganz froh, wenn ich am Horizont gelegentlich ein
Schiff sehe, das vor Piraterie schützt.
Dem gleichen Ziel dienen im Mittelmeer die NATOSee- und -Seeluftstreitkräfte im Rahmen der Operation
Active Endeavour. Ich bitte deshalb heute um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des Einsatzes bewaffneter
Streitkräfte im Rahmen der genannten Operationen und
um ein klares Votum, damit ein aktives Eintreten
Deutschlands im Kampf gegen den internationalen Terrorismus weiterhin erkennbar bleibt, ein Zeichen der Solidarität mit unseren Partnern gesetzt wird und darüber
hinaus deutlich gemacht wird, dass wir bereit sind, im
Zuge der Entwicklung dieses Mandates zu überprüfen,
ob eine gemeinschaftliche Mission in diesem Sinne zugelassen werden könnte oder sollte.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung spricht in ihrem Koalitionsvertrag von einer „wertegebundenen“ Außenpolitik. Gehört zu diesen
Werten auch die Ehrlichkeit? Das, was wir eben vom Exverteidigungsminister zum Massaker von Kunduz vernommen haben, legt etwas anderes nahe: Im Krieg stirbt
die Wahrheit zuerst.
({0})
Zu den Unwahrheiten gehört es, den Eindruck zu erwecken, die Auslandseinsätze der Bundeswehr wären
eine Art humanitäre Hilfsmission. Es gibt de facto keine
Trennung zwischen ISAF und OEF in Afghanistan.
Beide werden von demselben General geführt. Beide
führen einen Krieg, dessen Hauptleidtragende die afghanische Bevölkerung ist. Laut UNO starben allein 2008
über 1 200 Zivilisten. Dieser Krieg wird mit Lügen geführt, und dieser Krieg wurde mit einer Lüge begonnen.
Operation Enduring Freedom soll angeblich dem Kampf
gegen den Terror dienen. Die NATO begann den Einsatz
im Zuge der bedingungslosen Solidarität mit den USA
nach den schrecklichen Anschlägen vom 11. September
2001.
Die Friedensbewegung hat diese Begründung schon
damals abgelehnt und darauf hingewiesen, dass die Taliban selbst 2001 die Auslieferung Bin Ladens unter bestimmten Bedingungen angeboten hatten. Aber die
Bush-Regierung suchte gar nicht Bin Laden. Sie suchte
einen Vorwand, um den Nahen und Mittleren Osten mit
militärischen Mitteln neu zu ordnen,
({1})
um direkten Zugriff auf die Ölreserven des Irak zu bekommen, um den Iran zu isolieren, um den Transport der
Ressourcen des kaspischen Raums zum Indischen Ozean
zu ermöglichen und um Truppen an der Südflanke Russlands und an der chinesischen Westgrenze zu stationieren. Diese Vision für die US-Außenpolitik hatten spätere
Mitglieder der Bush-Regierung bereits 1999 in dem
Strategiepapier „For a New American Century“ formuliert. Wir meinen, bei diesem als globalem Feldzug für
die andauernde Freiheit verkauften Krieg gegen den Terror geht es in Wirklichkeit um eines: um geostrategische
und ökonomische Interessen.
({2})
Deshalb macht Deutschland dabei mit. Wie in Ihrer
Koalitionsvereinbarung steht, ist das Ziel Ihrer Außenpolitik die Wahrung deutscher Interessen. Es geht dabei
um den Zugang zu Märkten und Rohstoffen, die Sicherung von Handelswegen und um die Aufrechterhaltung
der Weltwirtschaftsordnung, einer Weltwirtschaftsordnung, in der Profite und nicht das Wohl der Menschen
das Maß aller Dinge sind. Dafür töten und sterben junge
Männer und Frauen aus Deutschland in Afghanistan, am
Horn von Afrika und wo in Zukunft auch immer. Diese
Weltwirtschaftsordnung ist für den Tod von über
10 Millionen Kindern im Jahr verantwortlich, die an
Hunger und leicht heilbaren Krankheiten sterben. Für
Milliarden Menschen auf der ganzen Welt ist dies der
alltägliche Terror. Nur 40 Milliarden Dollar pro Jahr
würden reichen, um all diese Leben zu retten. Allein der
Krieg in Afghanistan hat inzwischen ein Vielfaches davon gekostet.
Wir freuen uns, dass sich in der SPD die Erkenntnis
durchgesetzt hat, dass die Operation Enduring Freedom
abzulehnen ist. Leider führt die SPD - das hat Kollege
Arnold eben deutlich gesagt - in Wirklichkeit die bisherige Außenpolitik fort, wenn sie die Aufgaben von OEF
jetzt unter der Flagge von Atalanta und ISAF durchführen will. Mit dieser Augenwischerei muss endlich
Schluss sein.
({3})
Die einzig richtige Entscheidung kann nur sein, gegen
die Verlängerung des OEF-Mandats und gegen alle weiteren Kriegseinsätze zu stimmen. Das ist die Position der
Friedensbewegung, und das ist die Position der Fraktion
der Linken.
({4})
Frau Kollegin Buchholz, ich gratuliere Ihnen dazu,
dass Sie heute Ihre erste Rede vor dem Deutschen Bundestag gehalten haben.
({0})
Der nächste Redner ist der Kollege Omid Nouripour
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an den Einsätzen im Rahmen von Operation Enduring Freedom und Operation Active Endeavour. Wenn
man den Text des Mandates liest, dann stellt man wieder
einmal sehr schnell fest, dass er dem Koalitionsvertrag
komplett widerspricht. Im Koalitionsvertrag steht - vielleicht bin ich der Einzige, der diesen Vertrag ernst
nimmt; ich habe ihn zumindest gelesen -, „eine kritische
Überprüfung der Vielzahl der Mandate“ stünde an. Nun
hat der Außenminister erklärt, man habe keine Zeit dafür
gehabt, das werde man irgendwann nachholen. Wenn
das so ist, dann frage ich mich, warum wir diesem Mandat für zwölf Monate zustimmen müssen, wenn wir beispielsweise das UNIFIL-Mandat auch nur um sechs
Monate verlängern. Auch hier wären in der Tat sechs
Monate angebracht, wenn Sie noch Zeit zur Prüfung
brauchen.
({0})
Der Kollege Stinner hat der Presse gegenüber erklärt,
dass es in seiner Fraktion erhebliche Probleme bei der
OEF-Mission gebe. Das ist sehr ermutigend. Doch es
mutet ein wenig merkwürdig an, wenn man sieht, dass
sich die Bundesregierung die Mehrheit in diesem Haus
angesichts dieser Probleme mit einer Protokollnotiz sozusagen erkauft. Das muss man sich schon auf der
Zunge zergehen lassen, Herr Verteidigungsminister: Sie
starten als Mister Klartext und landen in dem Fall als
Protokollnotiz.
({1})
- Aber doch.
Klar ist aber - das sieht man auch an dem Brief der
beiden Minister an die Fraktionsvorsitzenden -: Die völkerrechtliche Grundlage ist einfach nicht mehr gegeben.
({2})
Wenn Sie nach neun Jahren immer noch behaupten, dass
das Selbstverteidigungsrecht der USA die völkerrechtliche Grundlage sei, dann ist das schlichtweg absurd. In
dem Brief schreiben Sie, was die völkerrechtliche
Grundlage der UNIFIL-Mission und von ISAF ist. Bei
OEF fehlt das schlicht, und zwar deswegen, weil diese
Grundlage einfach nicht gegeben ist.
Deshalb freut es mich auch, dass die SPD OEF nicht
mehr zustimmen wird, dass diese Einsicht gewachsen
ist. Guten Morgen! Ich hoffe, dass diese Einsicht - nachdem Sie das Ganze lange überprüft haben; ich hoffe, das
dauert keine zwölf Monate - demnächst auch bei der
Bundesregierung ankommen wird. Wir haben die Bewertung vor uns. Diese Bewertung kann nur ein einziges
Ergebnis haben: Es gibt nicht nur keine völkerrechtliche
Grundlage für diese Mission mehr, sie macht auch keinen Sinn.
Wir haben drei Mandate: die NATO-Mission, OEF
und die EU-geführte Atalanta-Mission. Sie können uns
nicht ernsthaft erzählen, dass OEF eine Mission gegen
den Terrorismus sei, wenn man bedenkt, dass in den
neun Jahren am Horn von Afrika kein einziger Kontakt
entstanden ist. Wir alle wissen: OEF ist am Horn von
Afrika, um die Piraterie zu bekämpfen.
({3})
Das schreiben Sie selbst auch. Deshalb ist es eindeutig:
Statt dass wir die Flaggenoffiziere in den Brigaden bemühen, permanent die eine Flagge herunter- und die andere Flagge hochzuziehen, lassen Sie diesen Quatsch
doch einfach. Lassen Sie uns ein Mandat verabschieden,
und zwar für die Pirateriebekämpfung durch die Atalanta-Mission.
Deshalb kann ich nur hoffen, dass die erheblichen
Probleme, die es zu Recht in der FDP-Fraktion gibt, dahin führen, dass die Kolleginnen und Kollegen sich diesem unsinnigen Mandat verweigern. Ich glaube, dass das
der Wahrheit und der Klarheit der Einsätze der Bundeswehr sehr dienen würde.
({4})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Philipp Mißfelder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst möchte selbstverständlich auch ich der
Kollegin Buchholz zu ihrer Jungfernrede gratulieren,
selbst wenn sie gerade vor Freude erst einmal im Büro
anruft.
Frau Kollegin Buchholz, bei vielem hätte ich Ihnen
widersprechen können. Aber an einer Stelle möchte ich
Ihnen ganz entschieden widersprechen. Ich glaube nicht,
dass es in den Deutschen Bundestag gehört, Verschwörungstheorien zu verbreiten und so zu tun, als sei der Ursprung unserer militärischen Einsätze in dieser Region
nicht der 11. September 2001, sondern irgendwelche
strategischen Planungen, die Sie gerade skizziert haben.
So ein Unsinn!
({0})
Das gehört in irgendwelche folkloristische Verschwörungsbelletristik, die Sie selbst in der schlechtesten
Bahnhofsbuchhandlung der Welt nicht finden dürften,
aber in den Reden der Linkspartei. Deshalb weise ich
das entschieden zurück.
Auch wenn es zum Glück in Europa und in den USA
seit einiger Zeit zu keinen Terroranschlägen gekommen
ist, bleibt die Bekämpfung des internationalen Terrorismus eine entscheidende Aufgabe. Diesem Zweck dient
der Einsatz, der, wie schon von den Vorrednern skizziert,
nicht nur an diesem Ort stattfindet, an dem Deutschland
seinen Beitrag leistet. Der Beitrag ist in der Gesamtheit
vielmehr in eine Struktur eingebunden. Für die Bundeswehr ist es wichtig - deswegen nenne ich dieses Argument in dieser Debatte, auch wenn es militärstrategisch
erscheint -, in diese Strukturen eingebunden zu sein. Das
zu negieren, halte ich für falsch. Wir wissen doch alle,
dass die Kooperation verschiedener militärischer Einsatzformen, sei es der Europäischen Union, sei es der
NATO, immer schwierig ist. Insofern ist es für die Bundeswehr hinsichtlich der Informationsstränge sehr wichtig, auch dort zusammenzuarbeiten.
({1})
Das ist zwar ein fachliches Argument, aber gelegentlich
schadet es nicht, fachliche Argumente in einer solchen
Debatte zur Kenntnis zu nehmen.
({2})
Wir stellen zunehmend fest, dass sich der Terrorismus
in der Region, in der die Bundeswehr aktiv ist, wie
selbstverständlich ausbreitet. Denken Sie an den Jemen
oder an die Aktion der saudischen Luftwaffe gegen Aufständische in der Region. Allein daraus können Sie ableiten, dass wir dort vor großen terroristischen Herausforderungen stehen. Ich würde es gerade deshalb als
Erfolg bezeichnen, dass wir in den vergangenen Jahren
keinen direkten terroristischen Kontakt hatten. Wir sehen, dass dort, wo Präsenz gezeigt wird, Erfolge eintreten und sich der Terrorismus auf dem Rückzug befindet.
Das ist ein strategischer Vorteil, den wir nicht unterschätzen dürfen.
({3})
Der Einsatz der See- und Luftstreitkräfte am Horn
von Afrika ist und bleibt erforderlich, um Terroristen
den Zugang zu Rückzugs- und Aktionsräumen in der Region zu erschweren und damit die Kommunikation innerhalb dieser terroristischen Netzwerke zu verhindern
oder zumindest zu erschweren.
Denken Sie nur einmal daran, was in der Region los
war, welches terroristische Potenzial dort schlummerte:
Im Jahr 2000 hat eine Serie von Anschlägen, unter
anderem gegen die USS „Cole“, dazu beigetragen, dass
die Anschläge vom 11. September 2001 von den Terroristen in dieser Region mit vorbereitet wurden, bei denen
al-Qaida zum ersten Mal groß in Erscheinung getreten
ist. Sie dürfen das große terroristische Potenzial, das in
dieser Region herrscht, nicht unterschätzen. Das muss
ernst genommen werden.
Die Bundeswehr leistet mit ihren Soldatinnen und
Soldaten auch dort - das möchte ich an diesem wichtigen Tag zum Schluss meiner Rede noch einmal sagen einen wichtigen Beitrag, den wir nicht unterschätzen
dürfen. Ich glaube, dass wir diesen Beitrag aus Gründen
der Bündnissolidarität und zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus fortsetzen sollten. Deshalb werbe
ich um Ihre Unterstützung für diesen Einsatz.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/38 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Kinderrechte stärken - Erklärung zur UNKinderrechtskonvention zurücknehmen
- Drucksache 17/57 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Josef Philip Winkler, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
UN-Kinderrechtskonvention unverzüglich vollständig umsetzen
- Drucksache 17/61 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
UN-Kinderrechtskonvention umfassend umsetzen
- Drucksache 17/59 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Marlene Rupprecht von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Silvester gibt es immer einen Film, in
dem es heißt: „The same procedure as every year!“ Bei
uns ist es in jeder Legislaturperiode die gleiche Prozedur: Dann sitzen hier diejenigen, die sich für Kinderrechte einsetzen und kämpfen. Wir haben gerade über
Terrorismus geredet. Manchmal habe ich schon Gelüste,
die Hartleibigen etwas unsanfter anzugehen, um endlich
das durchzusetzen, was der Grund dafür ist, dass wir uns
heute hier versammelt haben.
Es geht um die Kinderrechte. Wir haben am Freitag,
den 20. November 2009, 20 Jahre UN-Kinderrechte gefeiert. Alles, was Rang und Namen hat, war vertreten.
Alle haben es toll gefunden, dass man für Kinder etwas
tut. Wenn es aber ans Eingemachte geht, ist das auf einmal anders.
Was fordern wir? Wir fordern die Umsetzung der UNKinderrechtskonvention in die Tat. Wir fordern, dass
Kinder im Alter von null bis 18 Jahren, egal wo sie auf
dieser Welt geboren wurden, in jedem Land so behandelt
werden wie inländische Kinder.
({0})
Bevor die Bundesregierung - es war eine schwarzgelbe Regierung; das war leider so - die Konvention, die
anschließend vom Bundestag ratifiziert wurde, gezeichnet hat, hat sie Vorbehalte eingetragen. Sie haben gesagt:
Wir wollen bestimmte Punkte so regeln, wie sie aus unserer Sicht richtig geregelt werden. Ich möchte Art. 41,
auf den Sie sich berufen, vorlesen. Da heißt es:
Dieses Übereinkommen lässt zur Verwirklichung
der Rechte des Kindes besser geeignete Bestimmungen unberührt …
Wir haben in einigen Bereichen Vorbehalte eingetragen, obwohl wir die entsprechenden Bestimmungen der
Konvention bereits erfüllen. Eigentlich könnte man
diese Vorbehalte herausstreichen, ohne dass es sich bemerkbar macht. Bei einem Punkt ist das allerdings anders. Dabei geht es um Kinder, die als Flüchtlinge nach
Deutschland kommen. Flüchtlingskinder im Alter von
16 bis 18 behandeln wir wie Erwachsene. Wir geben sie
in Abschiebungsräume und halten sie monatelang in
Clearing-Stellen fest. Wir geben ihnen nicht das Recht,
dem wir per Unterzeichnung grundsätzlich zugestimmt
haben, nämlich das Recht auf Gleichbehandlung. Hier
kommt es zu massiven Diskriminierungen. Dafür werden uns auf internationaler Ebene permanent Vorwürfe
gemacht.
Bisher wurde eine Aufhebung der Vorbehalte immer
mit dem Argument abgelehnt, dass die Bundesländer
nicht mitmachen. Sie erklären im Koalitionsvertrag - dafür möchte ich Sie ausdrücklich loben -, dass Sie die
Vorbehaltserklärung aufheben wollen. Leider sind die
Länderminister aber nicht ausgetauscht worden. Jetzt
hoffen wir einmal, dass es Ihnen gelingt, was wir in vielen Wahlperioden zuvor nicht geschafft haben. Wir hoffen, dass die Länderminister und vor allem der Bundesinnenminister in der Lage sind, endlich die Aufhebung
der Vorbehalte durchzusetzen.
({1})
Darum sind wir hier.
Die SPD, die Linken und die Grünen haben dazu Anträge eingebracht. Ich würde Ihnen anbieten: Nehmen
Sie doch die drei Anträge und machen Sie daraus einen.
Dann unterstützen wir Sie bei der Aufhebung der Vorbehalte. Ich habe schon dem Staatssekretär Hoofe gesagt:
Sie haben mich an Ihrer Seite, wenn es darum geht, die
Vorbehalte aufzuheben; ich halte auch den Innenminister
fest, der immer z'widerwurzig ist. Machen Sie es, und
Marlene Rupprecht ({2})
zwar nicht erst irgendwann. Drei gute Anträge liegen
vor. Nehmen Sie die Anträge und machen Sie einen daraus! Ich garantiere Ihnen, dass die Fraktionen, die die
Anträge eingebracht haben, Sie unterstützen. Es ist nämlich beschämend, dass es bei uns nach wie vor solche Regelungen gibt, dass wir Kinder abschieben, ihnen keine
Schulbildung zukommen lassen, wenn sie 16 oder älter
sind, dass wir sie gesundheitlich benachteiligen und ihnen keine Maßnahmen der Jugendhilfe angedeihen lassen, dass wir also den Flüchtlingskindern all das, was
den anderen Kindern zusteht, nicht gewähren.
Mit einer Aufhebung der Vorbehalte würden wir deutlich machen: Wir erfüllen jetzt endlich die UN-Kinderrechtskonvention. Dies hätte bestimmte Folgen: Wir
müssten alle Regelungen überprüfen, die noch Diskriminierungen von Kindern enthalten, zum Beispiel im Flüchtlingsrecht und im Ausländerrecht, aber auch alle Bestimmungen, die aus meiner Sicht europaweit längst geregelt
worden wären, wenn die deutschen Länderinnenminister
dies nicht permanent blockiert hätten.
Ich fordere die Regierung, die die Vorbehalte aufheben muss, dazu auf, schnell eine Vorlage einzubringen,
damit die UN-Kinderrechtskonvention nach 20 Jahren
endlich auch in Deutschland gilt. Ursprünglich haben
viele gedacht, dass die Regelungen deshalb nur im Ausland und nicht bei uns gelten sollten, weil die Situation
der Kinderrechte bei uns schon recht gut ist. Wir sollten
endlich eingestehen, dass auch bei uns Nachholbedarf
besteht, wenn wir hier wie in allen anderen Bereichen in
der ersten Liga spielen wollen, dass wir also rechtlich
nachbessern müssen.
In diesem Sinne wünsche ich viel Erfolg. Ich bin mir
nicht sicher, dass es gelingt, die Vorbehalte aufzuheben.
Es wäre toll, wenn Sie die Innenminister davon überzeugen könnten. Ich wünsche es Ihnen, ich wünsche es uns
allen, und ich wünsche es vor allem für die Kinder- und
Menschenrechte. Denn die UN-Kinderrechte sind die
Ausformulierung der Menschenrechte für Kinder. Sie
haben verdient, dass sie anerkannt werden.
In diesem Sinne: Viel Erfolg.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Rupprecht, ich habe gehört, dass dies
ungefähr Ihre 25. Rede zu diesem Thema gewesen ist.
Das ist natürlich praktisch für Sie; Sie können immer
wieder die Redemanuskripte hervorholen. Aber deswegen sind wir heute nicht hier. Wir sind hier, weil die drei
Oppositionsfraktionen drei Anträge eingebracht haben.
Wir freuen uns, dass wir diese Anträge zum Anlass nehmen können, heute über Kinder und Kinderrechte zu
sprechen. Denn vor fast genau 20 Jahren, am 20. November 1989, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Übereinkommen über die Rechte des
Kindes verabschiedet. Alle Kinder auf der ganzen Welt
haben damals verbriefte Rechte bekommen: das Recht
auf Überleben, auf Entwicklung, auf Schutz und auf Beteiligung. Ich glaube, dass wir auf die vergangenen
20 Jahre mit Stolz zurückblicken können, weil wir für
die Kinder weltweit, aber natürlich ganz besonders hier
in Deutschland in diesen 20 Jahren sehr viel erreicht haben.
Sie wissen - das wurde angesprochen -, dass wir damals in Deutschland mit der Ratifizierung eine aus fünf
Punkten bestehende Vorbehaltserklärung hinterlegt haben. Vier der fünf Punkte sind inzwischen gesetzlich geregelt. Der einzig relevante verbliebene Punkt betrifft
den ausländerrechtlichen Status minderjähriger Jugendlicher. Es ist richtig, dass es bislang keiner Bundesregierung gelungen ist, den Vorbehalt zurückzunehmen.
({0})
- Keiner, Herr Ströbele, auch nicht der rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005.
({1})
Die Forderungen in den nun vorliegenden Anträgen
der Opposition nach Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung beschäftigen uns demnach seit vielen Jahren. Wir haben im Koalitionsvertrag zwischen Union
und FDP festgehalten, dass wir uns das für diese Legislaturperiode vornehmen.
({2})
Wir werden dies in enger Abstimmung nicht nur mit den
Familienpolitikern - ich denke, zwischen den Familienpolitikern herrscht hier Konsens -, sondern auch mit unseren Innenpolitikern, zum einen den Innenpolitikern der
Fraktionen, zum anderen den Innenministern der Bundesländer, tun und tun müssen. Wir brauchen deshalb
keinen der drei vorliegenden Anträge, um tätig zu werden.
({3})
Die neue Bundesregierung von Union und FDP hat
sich also nicht nur vorgenommen, die Vorbehaltserklärung zurückzunehmen, sondern wir wollen weitere
wichtige Schritte hin zu einem noch kinderfreundlicheren Deutschland gehen. Ich freue mich über die Anträge,
weil ich jetzt dadurch die Möglichkeit habe, Ihnen zu erklären, wie es in den nächsten vier Jahren funktionieren
soll, dass Deutschland noch kinderfreundlicher wird.
Einige Herausforderungen, die wir uns vorgenommen
haben, sind ein wirksamer Kinderschutz, gleiche Bildungschancen für alle Kinder von Anfang an und die
Bekämpfung von Kinderarmut. Wir wollen Chancengleichheit schaffen. Dafür brauchen wir für alle Kinder
die besten Rahmenbedingungen, damit die Talente, die
wir in unserem Land haben, sehr früh gefördert und die
Schwächen rechtzeitig ausgeglichen werden.
Wir wissen auch, dass sich die meisten Kinder sehr
liebevoll in ihren Familien aufgehoben fühlen können,
von ihren Eltern gut versorgt werden und viel Zuwendung erhalten. Daneben gibt es aber auch Eltern, die mit
der Erziehung der Kinder überfordert sind und ganz
dringend unserer Hilfe bedürfen. Deswegen möchte ich,
dass wir alle dafür sorgen, dass diesen Eltern und Kindern rechtzeitig geholfen wird, dass wir alle früh hinschauen und auf diese Familien zugehen.
({4})
Eine besondere Pflicht zum Hinschauen haben die
Behörden. Deswegen wird die schwarz-gelbe Bundesregierung ein Kinderschutzgesetz auf den Weg bringen,
das einen Schwerpunkt auf präventive Maßnahmen legt.
({5})
Wir werden verlässliche Netzwerke frühzeitiger Hilfen
ausbauen. Einen weiteren Schwerpunkt setzen wir auf
die Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz.
Um für alle Kinder gleiche Teilhabemöglichkeiten
und gute Bildung zu gewährleisten, werden wir, wie angekündigt, auch die Zahl der Kinderbetreuungsplätze
weiter ausbauen
({6})
sowie die Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern besser fördern und mehr in sie investieren. Gemeinsam mit den Ländern werden wir auch Eckpunkte zur
frühkindlichen Bildung und insbesondere zur Sprachförderung entwickeln. Wir werden die Kinderarmut verringern, indem wir den Kinderzuschlag weiter ausbauen.
({7})
Auch wir wissen, dass mehrere Kinder noch mehr
Geld kosten.
({8})
- Frau Rupprecht, ich verstehe, ehrlich gesagt, Ihre ausgelassene Heiterkeit an dieser Stelle nicht.
({9})
Wenn es wirklich so ist, dass Ihnen die Kinder so wahnsinnig am Herzen liegen, dann würde ich mich eigentlich
freuen, wenn Sie mehr durch zustimmendes, wohlwollendes Nicken auf sich aufmerksam machen würden.
({10})
Frau Kollegin Rupprecht würde Ihnen gerne eine
Frage stellen, Frau Bär. Erlauben Sie das?
Sie ist eine fränkische Landsfrau, auch wenn man es
nicht hört. Selbstverständlich darf sie eine Frage stellen.
Frau Bär, ich möchte Sie gern fragen, ob Sie zur
Kenntnis nehmen, dass man sich, wenn man schon so
lange, wie es einige Kolleginnen und Kollegen quer
durch die Fraktionen tun, an diesem Thema arbeitet, riesig freuen kann, dass das, was ein paar wenige Kollegen
durchzusetzen versucht haben, jetzt endlich angekommen ist.
({0})
Ich freue mich deshalb, weil ich den Lernprozess bezüglich der Rücknahme der Vorbehalte bisher bei keinem
festgestellt habe. Wenn beim Kinderschutz ab jetzt auch
die Prävention eine Rolle spielt, dann bin ich wirklich
sehr stolz. Denn dafür haben wir gekämpft wie die Irren,
und jetzt haben wir es erreicht.
({1})
Ich freue mich, daran mitzuwirken, dass wir damit erfolgreich sind. Würden Sie das bitte zur Kenntnis nehmen?
Sie sind jetzt neu in unserem Ausschuss. Deshalb
glaube ich, dass es noch ein bisschen Zeit braucht, bis
das, was wir bisher erreicht haben, überall angekommen
ist. Wenn Sie bereit wären, auch dies zur Kenntnis zu
nehmen, wäre ich Ihnen dankbar.
({2})
Meine Frage ist, ob Sie sich bereits damit befasst haben,
welche Maßnahmen, auch zur Zeit der Großen Koalition, als wir diesen Weg gemeinsam gegangen sind, bereits eingeleitet oder durchgeführt wurden. Ich breche
nämlich nicht mit der Vergangenheit; schließlich haben
wir alle unseren Beitrag geleistet.
({3})
Meine Frage lautet also: Haben Sie sich schon angesehen, was wir damals gemacht haben?
Erstens, Frau Kollegin, nehme ich Ihre Freude natürlich sehr gerne zur Kenntnis.
Zweitens. Wenn Sie das Neue feststellen, dann wissen
Sie auch, dass neue Besen gut kehren.
({0})
Insofern freue ich mich natürlich auf eine sehr gute Zusammenarbeit mit Ihnen.
Wenn Sie mit Ihrer Frage noch bis zu meinem nächsten Absatz gewartet hätten, hätten Sie feststellen können,
dass ich auch die letzte Legislaturperiode besonders hervorgehoben hätte, weil in der letzten Legislaturperiode
unsere hervorragende Bundesfamilienministerin Frau
von der Leyen verantwortlich war.
({1})
Ich fahre in meiner Rede fort. Bereits in der letzten
Legislaturperiode haben wir die Staffelung des Kindergeldes für kinderreiche Familien, den Kinderbonus und
das Schulbedarfspaket beschlossen. All diese Maßnahmen waren natürlich sehr wichtig.
Ein kleiner Punkt, der die Wertschätzung der Gesellschaft gegenüber Familien mit Kindern ausdrückt, ist
unser Vorhaben, die bestehenden Gesetze so zu ändern,
dass Kinderlärm nicht mehr als Störung, sondern als Zukunftsmusik empfunden wird und dass er keinen Anlass
für gerichtliche Auseinandersetzungen mehr sein darf.
({2})
Ich würde mich sehr freuen, wenn alle Kolleginnen und
Kollegen, auch die der Oppositionsfraktionen, unsere
Regierung mit der gleichen Freude, Begeisterung und
Ausgelassenheit wie die Frau Kollegin Rupprecht in den
nächsten vier Jahren begleiten würden.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Diana Golze von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bedeutung des internationalen
Übereinkommens über die Rechte von Kindern kann gar
nicht hoch genug eingeschätzt werden. Keine andere
Menschenrechtskonvention ist von so vielen Staaten ratifiziert und unterzeichnet worden. Gegenüber keiner anderen gab und gibt es leider aber auch so viele Vorbehalte wie gegenüber dieser Konvention.
Auch Deutschland hat einen solchen Vorbehalt geäußert. In diesem Haus wurde bereits viermal beschlossen,
dass die Vorbehaltserklärung endlich zurückgenommen
werden soll. Mehrmals wurde dieses Thema auch in der
letzten Legislatur von den damaligen Oppositionsfraktionen auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist das zweifelhafte Verdienst der Großen Koalition, dafür gesorgt zu
haben, dass diese Anträge in der vergangenen Legislatur
nicht einmal die Hürde der Fachausschüsse nehmen
konnten. Vor allem wegen der Blockadehaltung der
CDU/CSU-Fraktion, Frau Bär, setzt sich dieser zwei
Jahrzehnte schwelende Streit über die vollständige Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland fort.
({0})
Natürlich freut es mich und meine Fraktion, dass sich
in den Koalitionsverhandlungen zumindest in der Frage
der Rücknahme der Vorbehaltserklärung die FDP anscheinend durchsetzen konnte.
({1})
So steht im Koalitionsvertrag:
Wir wollen die Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen.
Dies wurde von den Medien als Erfolg meiner Kinderkommissionskollegin Miriam Gruß gedeutet, die sich
damit in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt
habe. Allerdings muss dieser Erfolg mit Vorsicht betrachtet werden; denn Frau Gruß hat hier im Plenum für
ihre Fraktion erklärt, dass sie die Auffassung der Bundesregierung teilt, das deutsche Recht stehe schon jetzt
in Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen,
die sich aus der Kinderrechtskonvention ergäben, und
eine Änderung des deutschen Rechts sei deshalb nicht
erforderlich.
({2})
Das kann man in den bisherigen Anträgen der FDP nachlesen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, dies ist
deutlich zu kurz gesprungen. Es geht nicht nur darum,
„ein Signal für ein kinderfreundliches Deutschland“ zu
setzen, oder darum, „Irritationen zu vermeiden“, oder
darum, den „Dialog mit den Kinderrechtsorganisationen
… [zu] entspannen“, wie Frau Gruß und ihre Fraktion es
formuliert haben.
Wir wollen nicht wie in den vergangenen Jahren reine
Symbolpolitik an die Stelle von wirklicher Umsetzung
der Kinderrechte setzen. Wir wollen nicht, dass eine
Rücknahme der Vorbehaltserklärung wieder an den Ländern scheitert. Wir wollen, dass die dringend erforderlichen Änderungen im deutschen Aufenthalts-, Asylverfahrens- und Sozialrecht endlich vorgenommen werden.
({3})
Das, meine Damen und Herren, läge bereits jetzt in der
Macht dieses Parlaments; es müsste nur endlich den Mut
dazu finden. Genau aus diesem Grund müssen sich alle
Bundesregierungen, die das Parlament vertröstet haben,
fragen lassen, wie ernst sie es mit den Kinderrechten
wirklich meinen.
({4})
Es hilft den betroffenen jungen Menschen nicht weiter,
dass sich die Politik lautstark über den rechtlichen Stellenwert der Vorbehaltserklärung streitet. Fakt ist, dass
die Vorbehaltserklärung existiert und Folgen hat.
Die Zahl der unbegleiteten Flüchtlinge zwischen
16 und 18 Jahren hat sich gegenüber dem Vorjahr mehr
als verdoppelt: 616 waren es in diesem Jahr. Diese Kinder sind geflüchtet vor Krieg, vor drohender Zwangsrekrutierung, vor Verfolgung, vor Beschneidung, vor
Zwangsverheiratung. Diese Kinder kommen nach einer
dramatischen Flucht hier in Deutschland an, erhalten
aber nicht, was jedes Kind bekommen würde, dem so etwas hier in Deutschland widerfahren wäre. Nein, stattdessen folgen ein Asylverfahren ohne Beistand, die Unterbringung in Sammelunterkünften und fragwürdige
Altersfeststellungsverfahren.
Wir müssen dafür sorgen, dass diese Kinder endlich
menschenwürdig und ihrer Situation entsprechend behandelt werden.
({5})
Genau das ist der Grund, warum es um mehr geht als um
eine symbolische oder formelle Rücknahme der Vorbehaltserklärung.
Es freut mich, dass die Kolleginnen und Kollegen der
Grünen ihren Antrag aus der vergangenen Wahlperiode
um diesen Punkt erweitert haben. Ich freue mich auch
über den Antrag der SPD; allerdings hat die SPD das,
was wir in unserem Antrag fordern, lediglich in der Feststellung formuliert.
({6})
Aus Ihrer Regierungserfahrung müssten Sie wissen, dass
durch eine bloße Feststellung weder das Asylrecht noch
das Aufenthaltsrecht geändert wird. Insofern hoffe ich,
dass Sie sich den weiter gehenden Forderungen der Grünen und meiner Fraktion, der Linken, anschließen.
Die Linke hat in der letzten Wahlperiode gesagt und
bleibt dabei: Die Kinderrechte müssen für alle Kinder
gelten. Es ist nicht schwer, zu erahnen, was der UN-Ausschuss sagen wird, wenn die Bundesregierung den längst
überfälligen Staatenbericht zur Umsetzung der UNKinderrechtskonvention endlich abgegeben hat:
Deutschland ist meilenweit davon entfernt, ein kinderfreundliches Land zu sein: wachsende Kinderarmut, Bildungsungerechtigkeit, fehlende Beteiligungsrechte für
Kinder und letztlich die massive Verletzung der Rechte
von Flüchtlingskindern. Für die Bundesrepublik
Deutschland gibt es in Sachen Umsetzung der Kinderrechte also eine schlechte Note: Ungenügend.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von
der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Es freut mich, dass das Thema
Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention erneut auf der heutigen Tagesordnung
steht. Ich denke, inhaltlich gibt es in der Debatte um die
Rücknahme der Vorbehaltserklärung nicht mehr viel hinzuzufügen. Wie Sie wissen, haben wir uns als FDP in
den letzten Jahren für eine Rücknahme stark gemacht.
Durch die UN-Kinderrechtskonvention werden allen
Kindern Grundrechte gewährt: das Recht auf Überleben,
das Recht auf Schutz vor Missbrauch und Gewalt, das
Recht auf Bildung, das Recht auf einen eigenen Namen,
auf Information und auf Beteiligung am gesellschaftlichen Leben.
Vor über 16 Jahren trat für die Bundesrepublik
Deutschland das Übereinkommen über die Rechte des
Kindes vom 20. November 1989 in Kraft. Eine im Zuge
der Ratifizierung abgegebene Erklärung enthält jedoch
Vorbehalte, die sich insbesondere auf das elterliche Sorgerecht, die anwaltliche Vertretung und weitere Rechte
von Kindern im Strafverfahren sowie im Vorbehalt IV
auf die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, auf
die Bedingungen ihres Aufenthalts und auf Unterschiede
zwischen In- und Ausländern beziehen.
Das deutsche Recht muss im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen, die sich für die
Bundesrepublik Deutschland aus der UN-Kinderrechtskonvention ergeben. Es besteht daher keine Notwendigkeit, länger an der Erklärung festzuhalten.
({0})
Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung ist aber
nicht nur rechtlich notwendig, sie ist auch politisch geboten; denn es gilt, national wie international bestehende
Zweifel am Willen Deutschlands, die UN-Kinderrechtskonvention uneingeschränkt durchzusetzen, auszuräumen.
({1})
Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung stellt ein dringend notwendiges und überfälliges Signal für ein kinderfreundliches Deutschland dar.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich
darauf hinweisen, dass es hier um das fundamentale
Thema Menschenrechte geht, und zwar insbesondere um
die Rechte minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge.
({3})
Es kann und darf nicht sein, dass Flüchtlingskinder ab
16 Jahren im Asylverfahren wie Erwachsene behandelt
werden und keinen juristischen Beistand bekommen.
({4})
Es kann und darf nicht sein, dass ihre Asylanträge abgelehnt werden, weil ihr Schicksal angeblich keine politische Verfolgung im Sinne des deutschen Asylrechts
darstellt. Es kann und darf nicht sein, dass diese Kinder
und Jugendlichen in Abschiebehaft geraten können.
Schließlich kann und darf es nicht sein, dass sie beim
Schulbesuch, bei der medizinischen Versorgung oder bei
den Ausbildungsmöglichkeiten schlechter als deutsche
Kinder gestellt sind.
({5})
Dass all diese Szenarien nach jetziger Rechtslage in
Deutschland denkbar sind, ist ein inakzeptabler Missstand. Davon abgesehen machen wir uns auf internationalem Parkett lächerlich. Es darf keine Irritationen und
kein Zweifel am Willen Deutschlands geben, die UNKinderrechtskonvention uneingeschränkt durchzusetzen.
Wir dürfen anderen Staaten keine Gründe liefern, selbst
Vorbehalte anzumerken.
({6})
Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung stärkt die
Position der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich
des internationalen Menschenrechtsschutzes und hilft innerhalb und außerhalb Deutschlands, Irritationen zu vermeiden. Durch die Rücknahme der Erklärung wird sich
zudem der Dialog mit den Kinderrechtsorganisationen,
die die Rücknahme seit langem fordern, merklich entspannen.
Kinderrechte sind Menschenrechte. Die Rücknahme
der Vorbehaltserklärung ist ein dringend notwendiges
und überfälliges Signal für ein kinderfreundliches
Deutschland. Deswegen haben wir es uns in unserer Koalitionsvereinbarung auch so vorgenommen.
({7})
Wir müssen den heute hier vorliegenden Anträgen auch
nicht zustimmen, weil wir handeln werden.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Dörner von
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Nicht schlecht, habe ich bei meinem
ersten Blick in den Koalitionsvertrag gedacht. Denn die
Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention sollen
zurückgenommen werden. Wir alle sind uns einig, so
habe ich hier gehört: Die Rücknahme ist lange gefordert,
sie ist auch schon oft beschlossen worden, und sie ist
wirklich mehr als überfällig.
({0})
Jetzt, so wenige Wochen später, bin ich leider schon
enttäuscht. Die Koalition hat es noch nicht einmal geschafft, zu dieser heute nun wirklich erwartbaren Debatte einen eigenen Antrag vorzulegen.
Von dem einen oder anderen war zu hören, die Zeitspanne sei auch etwas kurz gewesen. Aber ich finde, dieses Argument kann man nicht gelten lassen. Die Koalition hat es sogar geschafft, einen Gesetzentwurf
vorzulegen, um das Kindergeld und den Kinderfreibetrag zu erhöhen.
({1})
Eine solche Maßnahme kommt aber gerade den ärmsten
Kindern in unserem Land - das haben wir hier schon einige Male gehört - nicht zugute.
({2})
Ich möchte darauf verweisen, dass UNICEF Deutschland in der vergangenen Woche anlässlich des 20. Geburtstags der Kinderrechtskonvention ausdrücklich die
wachsende Kluft zwischen den armen und reichen Kindern, zwischen Kindern mit Chancen und solchen ohne
auch hier bei uns in Deutschland problematisiert hat.
({3})
Frau Bär, Sie haben eben gesagt, dass Sie die Kinderarmut in Deutschland bekämpfen wollen. Lesen Sie einmal in Ihrem Wachstumsbeschleunigungsgesetz nach,
was Sie an der Stelle machen! Gerade den ärmsten Kindern in unserem Land wird das nicht zugutekommen.
({4})
Um es ganz deutlich zu sagen: Die Rücknahme der
Vorbehalte ist mitnichten ein formaler Akt. Ich vermisse
im Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zu der Tatsache, dass die Rücknahme echte rechtliche Folgen haben
muss.
({5})
Ich bin leider sehr skeptisch, dass hier von CDU/CSU
und FDP tatsächlich etwas bewegt werden wird, damit
endlich der Zustand beendet wird, Kinder, die traumatisiert und alleine in Deutschland Schutz und Zuflucht suchen, in Sammellager zu verfrachten und 16-Jährige in
ihren Asylverfahren wie Erwachsene zu behandeln. Ihnen wird der Zugang zu medizinischer und psychologischer Behandlung verwehrt. In manchen Bundesländern
sind sie noch nicht einmal schulpflichtig. Ich finde, das
ist ein Skandal in unserem Land.
({6})
Es muss ganz klar sein: Die Vorbehalte zurückzunehmen, darf keine Mogelpackung sein, mit der sich die
Bundesregierung schmückt, ohne rechtliche Konsequenzen folgen zu lassen.
Welche Rolle spielen die Bundesländer? Ich gehe davon aus, dass das zukünftig kein Problem mehr sein
wird. Denn in früheren Jahren haben alle Abfragen ergeben - darauf wurde schon hingewiesen -, dass es die
schwarz-gelben Länder waren, die sich geweigert haben.
Zu denen werden Sie jetzt einen Superzugang haben.
Deshalb gehe ich einfach davon aus, dass das zukünftig
nicht mehr vorkommen wird.
({7})
- Genau. Ich bin neu und darf noch optimistisch sein.
Grundsätzlich finde ich aber auch, dass die Bundesregierung an dieser Stelle keine falsche Rücksicht auf die
Bundesländer nehmen sollte. Den Bundesländern gegenüber rücksichtsvoll zu sein - viele Bundesländer haben
sich mittlerweile selber dahin gehend geäußert, dass sie
die Vorbehaltserklärung gerne zurückgenommen sehen
wollen -, aber rücksichtslos gegenüber den Flüchtlingskindern: Das wäre ein kinderrechtliches Trauerspiel.
({8})
Ich bin von CDU/CSU und FDP auch deshalb enttäuscht, weil ihr Engagement für die Kinderrechte in
Deutschland insgesamt wenig ambitioniert ist. Ich finde,
es braucht viel mehr als das, was wir wohl in den nächsten vier Jahren erwarten dürfen. Wir brauchen beispielsweise eine umfassende Strategie zur Umsetzung der
Kinderrechte in Deutschland. Der Nationale Aktionsplan
muss weiterentwickelt und engagiert fortgeführt werden. Der deutsche Staatenbericht muss endlich vorgelegt werden. Darauf warten wir seit Monaten. Wir müssen auch - davon bin ich überzeugt - unsere Verfassung
ändern. UNICEF-Botschafterin Sabine Christiansen hat
den Satz geprägt - ich zitiere -:
Der Tierschutz ist im Grundgesetz verankert, das ist
auch gut so, die Kinderrechte nicht.
({9})
Ich finde, das sollte nicht so bleiben. Kinderrechte gehören in unser Grundgesetz. Das ist weit mehr als nur
Symbolik. Auch das ist aus meiner Sicht längst überfällig.
({10})
Frau Kollegin Dörner, ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Michaela Noll von der
CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Marlene, „the same
procedure“. Du hast recht in diesem Punkt.
Ich freue mich sehr darüber, dass hier viele ehemalige
Mitglieder der Kinderkommission sitzen. Wir haben das
Thema UN-Kinderrechtskonvention immer wieder besprochen. Ich schätze, Kollegin Ingrid Fischbach hat ihre
achtzehnte Rede dazu gehalten. Du, Marlene, bist bei der
fünfundzwanzigsten angekommen. Über dieses Thema
ist immer wieder im Plenum diskutiert worden. Ich bin
froh, dass wir im Koalitionsvertrag darauf eingegangen
sind. Es war dabei sicherlich nicht schädlich, dass zwei
Mitglieder der Kinderkommission an den Koalitionsverhandlungen teilgenommen haben. Das war der Sache nur
dienlich. Deswegen richte ich an dieser Stelle meinen
Appell an alle Fraktionen. Ich würde mich freuen, wenn
es uns wieder gelingt, eine Kinderkommission einzurichten; denn eine solche Kommission setzt eigene Akzente, hat das Kindeswohl im Auge und kann eine überparteiliche Beschlussfähigkeit aufweisen. Es würde
mich für die Sache sehr freuen.
({0})
Ich bin sehr dankbar, liebe Marlene, dass du uns gelobt hast. Ich bin zuversichtlich, dass es uns diesmal gelingen kann; denn wir haben nun die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Ich hoffe, dass die Innenminister
zu der Einsicht gelangen, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht. Ich jedenfalls habe diese Hoffnung
nicht aufgegeben. Wir werden entsprechende Gespräche
führen.
Ich bin auch sehr dankbar, dass Kollegin Dorothee
Bär den Spannungsbogen aufgezeigt und geschildert hat,
was wir über die Konvention hinaus für Kinder machen
wollen. Der aktive Kinderschutz, die Bildungschancen
und die Kinderarmut wurden schon angesprochen. Es
geht auch darum, wie Kinder in Deutschland tatsächlich
leben. Sie hat das Stichwort „Kinderlärm“ erwähnt. Ich
hätte nicht gedacht - ich glaube, das trifft wohl auf fast
jeden Wahlkreis zu -, dass Einrichtungen geschlossen
werden, weil Nachbarn plötzlich der Ansicht sind, es
werde zu viel Kinderlärm gemacht. Ich habe es bei einem alle zwei Jahre stattfindenden Schüler-SponsorenLauf zugunsten eines südamerikanischen Schulprojekts
- Schüler unterstützen Schüler - erlebt: Wir dürfen den
Startschuss nicht mehr geben, weil sich die Nachbarn
genervt fühlen. Ich bin froh, dass im Koalitionsvertrag
auch auf dieses Thema eingegangen wird; denn auch das
trägt zu einer Änderung in den Köpfen bei und rückt die
Frage in den Mittelpunkt, wie wir mit Kindern umgehen.
Schaffen wir ein kinderfreundliches Land!
Liebe Kollegin Golze, ich bin froh, dass wir in der
heutigen Debatte einen etwas gemäßigten Ton angeschlagen haben. Ich hatte schon die größten Befürchtungen. Was wir in der Geschäftsordnungsdebatte in der
letzten Legislaturperiode gehört haben, war zum Teil alles andere als schön. Aber eines ist falsch: Ich denke, unsere Bilanz der letzten vier Jahre ist wirklich gut.
Schauen Sie sich an, was wir in der Familienpolitik auf
den Weg gebracht haben! Nicht umsonst hat Familienpolitik im Fokus der Öffentlichkeit gestanden. Wir haben den Ausbau der Betreuungsplätze vorangebracht sowie das Elterngeld und die Elternzeit eingeführt. Es gibt
noch viele andere Aspekte. Eltern haben sich in
Deutschland plötzlich ernst genommen und wahrgenommen gefühlt. Unter vielen anderen Regierungen war die
Familienpolitik leider ein Randthema. Deswegen
möchte ich das, was Sie gesagt haben, so nicht stehen
lassen.
Frau Dörner, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede. In einem Punkt haben Sie recht. Sie haben
am Anfang Ihrer Rede gesagt, dass Sie beim Lesen des
Koalitionsvertrages gedacht hätten: Nicht schlecht! Genau so ist es. Sie haben dann gefragt, warum wir
keine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht haben.
Richtig ist: Wir sind erst in der zweiten Sitzungswoche.
Die Ausschüsse haben sich gerade erst konstituiert.
Ich finde folgende Aussage in Ihrem Antrag sehr
wichtig: Die UN-Kinderrechtskonvention ist ein Meilenstein in der Geschichte der Kinderrechte. - In diesem
Punkt gibt es große Akzeptanz und einen großen Konsens in diesem Plenum. Dass es nach wie vor zwei Länder gibt, die diese Konvention nicht ratifiziert haben,
finde ich bedauerlich.
(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]:
Somalia ist dabei!
- Dann ist es ja gut. Dann gibt es nur noch ein Land. Wir
können versuchen, auf internationaler Ebene Einfluss zu
nehmen.
({1})
Bislang ist aber noch nicht deutlich geworden, was
wir alles im Zusammenhang mit der UN-Kinderrechtskonvention auf den Weg gebracht haben. Ich nenne ein
paar Punkte. Ein Beispiel ist die Kindschaftsrechtsreform. Das war 1998 eines der großen Projekte. Das
Herzstück war die Regelung zum gemeinsamen Sorgerecht.
({2})
Für Eltern und vor allem für die Kinder war es wichtig,
dass sich hier etwas getan hat. Wir haben zudem das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und das
Tagesbetreuungsausbaugesetz auf den Weg gebracht. Ich
finde, einiges ist erreicht worden.
Die Aussage - das ist auch der Tenor des Antrags der
Linken -, dass die Kinder, die sich illegal in Deutschland
aufhalten, nicht entsprechend betreut werden, möchte
ich so nicht stehen lassen. In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen heißt es - es
wäre ganz sinnvoll, wenn die Linken das nachlesen würden; Drucksache 16/6076 -:
Nach Auffassung der Bundesregierung entspricht
das Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht in vollem
Umfang den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge berücksichtigt bei der Bearbeitung von Asylanträgen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge
deren spezifische Bedürfnisse auf vielfältige Weise.
Gerade die asylverfahrensrechtliche Anhörung bei
Minderjährigen wird einfühlsam und weniger formal durchgeführt als bei den Volljährigen.
({3})
Wir haben Sonderbeauftragte, die wirklich versuchen,
im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf die Bedürfnisse der
Kinder einzugehen. Deswegen, meine ich, ist das, was
Sie hier vorgetragen haben, in der Sache nicht korrekt.
({4})
Seit 1992 gab es nicht nur schwarz-gelbe Regierungen. An der Aufrechterhaltung der Vorbehalte waren alle
beteiligt. Es ist aber keinem gelungen, ihre Rücknahme
der Vorbehalte durchzusetzen.
({5})
- Auch die hatten schon Innensenatoren, die sich ablehnend angestellt haben.
({6})
Wichtig ist, zu fragen: Was wollen wir? Ich glaube,
wir sollten die gute Chance durch den jetzigen Koalitionsvertrag einfach nutzen. Wir sollten uns dafür einsetzen, die Rücknahme der Vorbehalte wirklich zu erreichen. Das wäre auf internationaler Ebene ein gutes
Zeichen. Ich glaube, dass wir die Kraft dazu haben. Wir
werden uns daher alle in diesem Rahmen entsprechend
bemühen. Das ist versprochen.
Danke.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Strässer von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Von denjenigen, die nicht
zum ersten Mal zu diesem Thema sprechen, bin ich
wahrscheinlich derjenige, der am ältesten aussieht.
({0})
Das soll aber nichts daran ändern, dass es auch im gesteigerten Alter noch wichtig und richtig ist, sich für die
Rechte von Kindern einzusetzen.
Frau Kollegin Noll, Sie haben recht: Natürlich würde
es der Bundesrepublik Deutschland gut anstehen, wenn
sie mit hoher Legitimation die Umsetzung der Kinderrechtskonvention in den Staaten, wo dies noch nicht geschehen ist, vorantreiben könnte. Wieso sollen aber ausgerechnet wir aus Sicht anderer Länder Glaubwürdigkeit
besitzen, wenn wir selbst nicht in der Lage sind, die Kinderrechtskonvention ihrem Sinne und Inhalt nach komplett und vollständig umzusetzen? Das ist doch genau
der Punkt, mit dem wir es die ganze Zeit zu tun haben.
({1})
Ich bin weiß Gott nicht jemand, der alles auf andere
schieben will. Herr Kollege Haibach, wir haben in den
letzten vier Jahren im Menschenrechtsausschuss wirklich eingehend versucht, einen Konsens in der Großen
Koalition hinzubekommen. Ich weiß, dass das Hindernis
nicht die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist. Ich muss
aber doch konstatieren, dass es im letzten Jahr, im
Herbst 2008, eine Bundesratsinitiative von SPD-regierten Ländern gegeben hat. Die gibt es immer noch, und
im Mai wird wahrscheinlich noch Weiteres dazukommen; das ist ja ganz gut. Ich darf Sie daran erinnern, woran dieser Vorstoß gescheitert ist. Er ist daran gescheitert, dass diese Initiative im Bundesrat noch nicht einmal
diskutiert worden ist. Die CDU-regierten Länder haben
die Diskussion verweigert. Sie haben gesagt: Wir machen das nicht.
Ich kann Ihnen auch sagen, warum das so ist. Man hat
damals - das ist doch der eigentliche Skandal - den ausländerrechtlichen Vorbehalt in den Ratifizierungsprozess
eingeführt, weil man der Meinung war - Entschuldigung, ich sage das etwas platt und überspitzt -: Wenn
Deutschland das macht, dann werden wir von Kindern
überschwemmt, auf die diese Kinderrechtskonvention
zutrifft. - Das ist absurd. Das ist zynisch. Das ist menschenfeindlich. Das muss man ganz einfach einmal sagen.
({2})
Die Zahlen, die genannt worden sind, sprechen eine
ganz deutliche Sprache. Es ist wirklich nicht nachvollziehbar, mit welchen Argumenten ein Bundesland - welches auch immer - sagen kann: Wir wollen diese Umsetzung in dieser Situation nicht durchführen. Ich kann nur
sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber auch das, was
ich im Koalitionsvertrag gelesen habe, überzeugt mich
definitiv nicht. Auf die einfache, pauschale Formulierung „Wir wollen etwas erreichen“ müssen Taten folgen.
Sie können sich nicht darauf zurückziehen, dass die Legislaturperiode gerade erst angefangen hat.
({3})
Ich habe in den letzten Wochen und Monaten gehört
und gelesen, dass sich CDU/CSU und FDP darauf vorbereitet haben, gemeinsam zu regieren. Wenn es möglich
gewesen wäre, in einem solch relativ einfachen Fall
schnell eine Abstimmung herbeizuführen, dann hätten
wir diese Diskussion heute Abend nicht. Ich unterstütze
Sie doch, Frau Laurischk. Sie sind doch diejenigen, die
das wahrscheinlich betrieben haben. Sie können darauf
zählen, dass Sie die Unterstützung der Opposition haben,
wenn Sie das umsetzen wollen. Aber die Erfahrungen,
die wir haben - das sage ich Ihnen noch einmal ganz
deutlich -, sprechen eine ganz andere Sprache.
Ich möchte Ihnen deshalb ein Beispiel nennen, um zu
zeigen, um was es eigentlich geht.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Fischbach?
Ja, sicher. Ich habe heute schon viele gute Zwischenfragen gehört, die immer beste Profilierungschancen geboten haben.
Dann hoffe ich jetzt auf eine gute Antwort, Herr Kollege Strässer.
Ich wollte nur fragen, ob Ihnen bewusst ist, dass in
den rot-grünen Regierungsjahren selbst Ihre Minister vor
der Kinderkommission gesagt haben, sie brauchten es
gar nicht zu versuchen, und sie würden es auch nicht
versuchen, die Vorbehalte zurückzunehmen, weil da eigentlich nichts richtig zurückzunehmen ist. Die Entwicklungen seien eigentlich so fortgeschritten, dass man
sie gar nicht mehr zurücknehmen müsse. Deshalb sei
man diesen Weg nicht gegangen.
Stimmen Sie mit mir darin überein, dass es auch unter
Ihrer Ägide - Sie sagten gerade, es liege nur an der
CDU -, also selbst unter Rot-Grün, nicht möglich war,
diesen Weg zu gehen?
Ich glaube, Sie haben mir nicht richtig zugehört. Ich
habe zu Beginn gesagt: An der Tatsache, dass wir jetzt
darüber streiten, sind alle mitschuldig. Nur, ich kann Ihnen noch einmal sagen - das betraf den Hinweis auf die
Bundesratsinitiative des letzten Jahres -: Alle SPD-regierten Bundesländer haben diesen Antrag im Bundesrat
eingebracht, und er ist ausschließlich an den Bundesländern gescheitert, die von Ihrer Partei regiert werden.
Dann können Sie sich bitte schön hier nicht hinstellen
und bei uns Glaubwürdigkeit in Anspruch nehmen, die
Sie in den letzten vier Jahren aus meiner Sicht massiv
verspielt haben.
({0})
Wie gesagt: Mir geht es gar nicht darum, jetzt die Vergangenheit zu bewältigen, sondern mir geht es darum,
dafür zu sorgen, dass es nach vorne geht. Ich will Ihnen
dazu ein Beispiel nennen, was sich in diesem Jahr, im
Jahr 2009, im Land Niedersachsen abgespielt hat. Wir
reden hier immer ganz pauschal über Verfahren, wir reden ganz pauschal über Grundrechte, aber es sind Einzelschicksale. Da wird ein 16-jähriges Romamädchen
unbegleitet in das Kosovo abgeschoben. Dieses Mädchen ist aus Furcht vor sexuellen Übergriffen, die es erlitten hat, nach Deutschland gekommen. Wo seine Eltern
sind, weiß kein Mensch. Es wird alleine nach Pristina
abgeschoben, obwohl wir wissen, dass das die europäische Drehscheibe für Menschenhandel, für Frauenhandel und für Prostitution ist. Das ist die praktische Folge
dessen, was wir hier seit vielen Jahren bekämpfen. Alleine deshalb sage ich: Die Frage der Umsetzung der
Kinderrechtskonvention hat auch massiv etwas mit Menschenwürde, mit Kinderrechten insgesamt zu tun.
({1})
Ich sage das angesichts aller fortschrittlichen Dinge,
die unter Rot-Grün und der Großen Koalition geschehen
sind: Solange das nicht geregelt ist, ist für viele Kinder
und Jugendliche in diesem Alter der Anspruch, dass
Deutschland ein kinderfreundliches Land ist, ein purer
Etikettenschwindel. Wir sind gerne bereit, diesen Etikettenschwindel dadurch zu beseitigen, dass wir es jetzt
endlich in den nächsten vier Jahren hinbekommen.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Dr. Peter Tauber von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine
Herren! Liebe Frau Rupprecht, ich habe Ihnen wegen Ihrer mitreißenden und Ihrer optimistischen Art sehr gerne
zugehört. Aber nach dem weiteren Verlauf der Debatte
bin ich doch geneigt, mein ebenfalls relativ optimistisch
gehaltenes Manuskript beiseite zu legen und auf vier
Punkte einzugehen, die aus meiner Sicht in den letzten
Minuten der Debatte einen zu großen Schwerpunkt eingenommen haben.
Der erste Punkt: Wir haben, anstatt nach vorne zu
schauen - gerade Sie, Herr Kollege, haben das jetzt noch
einmal getan -, eine Verursacherdebatte geführt und gefragt, wer eigentlich wann schuld gewesen ist und warum wir die Vorbehaltsregelung in der gegenwärtigen
Form noch haben. Ich glaube nicht, dass das weiterhilft,
und ich glaube auch nicht, dass das jemanden, der betroffen ist, interessiert. Auch das sage ich Ihnen ganz offen. An der Stelle kann ich mir eine Bemerkung nicht
verkneifen. Schauen Sie sich an, wer 1992 die Mehrzahl
der westlichen Bundesländer regiert hat.
({0})
- Ja, aber ich nehme mir heraus, der Wahrheit die Ehre
zu geben und von unserer Seite daran zu erinnern.
({1})
Wie gesagt: Schauen Sie sich an, wer 1992 in neun Ländern die Regierung gestellt hat. In diesen Ländern gab es
rot-grüne Landesregierungen. Der Ministerpräsident des
Saarlandes hieß Oskar Lafontaine. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir mit solch einer Verursacherdebatte
nicht weiterkommen.
({2})
Der zweite Punkt ärgert mich auch. Sie suggerieren,
dass wir durch die Rücknahme der Vorbehaltsregelung
zu fundamental anderen Rechtsgrundlagen kommen
würden. Die Kollegin hat dankenswerterweise aus der
Antwort auf die Große Anfrage der Grünen zur Rücknahme der Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention vom
Juli 2007 zitiert. Die Antwort auf die Frage 10 ist ganz
klar: Das deutsche Asylverfahrensrecht und das Aufenthaltsrecht entsprächen schon heute in vollem Umfang
der UN-Kinderrechtskonvention. Wir können da vielleicht noch über rechtliche Details streiten, aber doch
nicht darüber, dass wir von dem, was angestrebt wird,
längst nicht so weit weg sind, wie Sie es suggerieren.
Auch das ärgert mich.
Der dritte Punkt - ihn halte ich eigentlich für besonders schlimm -: Durch die Art der Argumente und die
Wahl der Worte nehmen Sie bewusst in Kauf, dass der
Eindruck entstehen könnte, dass Deutschland massive
Defizite im Bereich Kinderrechte hat. Natürlich stimme
ich Ihnen zu: Es gibt immer etwas, was wir im Interesse
der Kinder, im Interesse der Familien noch besser machen können; das gilt gerade für so zentrale Fragen wie
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei jungen Paaren. Natürlich haben wir da immer noch viel zu tun.
Aber wahr ist auch, dass es auf diesem Globus wahrscheinlich nur wenige Länder gibt, in denen Kinder solche Zukunftsperspektiven haben, in denen Kinder in einer solchen Sicherheit groß werden, wie es in unserem
Land der Fall ist.
({3})
Durch solche Diskussionen schaffen Sie eher Verunsicherungen und machen Sie eben nicht deutlich, dass
das, was man gemeinhin eine glückliche Kindheit nennt,
für den größten Teil der Kinder in diesem Land allein
aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
- damit meine ich nicht nur das Sozialsystem, das Gesundheitssystem und das Bildungssystem, sondern vor
allem die Tatsache, dass es unheimlich viele Menschen
gibt, die sich für Kinder engagieren - möglich ist. Das
blenden Sie aus oder nivellieren es, und das halte ich für
nicht sehr glücklich.
Der vierte Punkt - das finde ich persönlich ein bisschen schade -: Durch Ihre Ausführungen haben Sie eigentlich die Chance vertan, dass wir gemeinsam, also
FDP, CDU/CSU und die drei Fraktionen der Opposition,
etwas auf den Weg bringen.
Damit möchte ich schließen. Ich glaube, die betroffenen Kinder, aber auch die Eltern fragen nicht danach,
wer wann wie schuld war. Sie fragen nicht danach, wer
was getan hat oder wer wann welchen Schaufensterantrag formuliert hat. Sie fragen ganz konkret: Wann
verändert sich was? Wenn wir das in den künftigen Debatten ein bisschen mehr in den Mittelpunkt stellen,
dann wäre allen geholfen.
Herzlichen Dank.
({4})
Herr Kollege Tauber, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/57, 17/61 und 17/59 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Aufenthaltsgesetzes
- Drucksache 17/56 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Rüdiger Veit von der SPD-Fraktion
das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
Deutschland gibt es nach Schätzungen zwischen
500 000 und 1,5 Millionen ausländische Mitbürgerinnen
und Mitbürger ohne Papiere. Im Gegensatz zur Gruppe
der Geduldeten, über die wir hier vor ungefähr zweieinhalb Stunden gesprochen haben, sind das Menschen, die
offiziell überhaupt nicht existent sind. Aber sie sind da,
und deswegen ist die Schätzungsschwankungsbreite so
groß.
Es gibt seit mindestens zehn Jahren - diesen Zeitraum
kann ich überblicken - hier in Berlin den Arbeitskreis
IIlegalität, der von den beiden großen christlichen Kirchen maßgeblich gestaltet und organisiert wird. Wenn
Sie mir das an der Stelle erlauben, möchte ich mich bei
denjenigen, die von den beiden großen Kirchen daran
mitgewirkt haben, herzlich für ihre Leistung bedanken.
Ich denke da vor allen Dingen an Schwester Bührle und
Pater Alt, die im Augenblick an anderer Stelle im Einsatz sind, sich aber große Verdienste erworben haben, indem sie sich um diese illegal bei uns lebenden Menschen
gekümmert haben.
({0})
In diesem Arbeitskreis Illegalität - das ist zunächst
einmal positiv hervorzuheben - haben eigentlich Mitglieder aller Fraktionen dieses Hauses die ganze Zeit
über mitgewirkt und, wie ich finde, konstruktiv mitgewirkt. Wir haben uns immer wieder gefragt: Wie können
wir wenigstens die humanitäre Situation der Menschen
dann, wenn sie krank werden, Arbeitslohn einklagen
wollen oder müssen oder ihre Kinder schulpflichtig werden, ein bisschen verbessern? Niemand hat in dem Zusammenhang jemals die Behauptung aufgestellt, wir
müssten sie alle im Hinblick etwa auf einen Aufenthaltsstatus regelrecht legalisieren. Das will ich einmal klar
und deutlich sagen. Wir haben jedoch alle die humanitären Notwendigkeiten gesehen.
Das hat dazu geführt, dass wir eine ganze Zeit lang
parteiübergreifend überlegt haben, wie wir durch entsprechende Veränderungen unserer Rechtslage oder der
Verwaltungspraxis eine Verbesserung der sozialen Situation bewirken können. Eine Zeit lang haben wir uns dabei auf die Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsrecht konzentriert, weil wir nicht so richtig wussten, wie
wir das Ganze gesetzlich fassen sollten. Später hat das
etwas andere Formen angenommen.
Wir haben dann zu Zeiten der Großen Koalition die
Verabredung getroffen, zu prüfen, welche Möglichkeiten
zum Helfen bestehen, und danach zu handeln. Dazu ist
es schlussendlich aber leider nicht mehr gekommen. Ich
will Ihnen auch sagen, warum: Die Unionskollegen waren mit uns eigentlich durchaus der Auffassung, dass
man zumindest einmal die Übermittlungspflichten einer
kritischen Würdigung unterziehen sollte; denn - das
wurde auch durch den Prüfbericht, den der Bundesminister des Innern veranlasst hat, festgestellt - diese sogenannten Übermittlungspflichten sind bei uns in Deutschland - typisch deutscher Perfektionismus - eigentlich
einmalig in Europa dergestalt geregelt, dass jedermann,
der von Illegalen und ihrem Aufenthalt hier in Deutschland Kenntnis erhält, darüber den Behörden, insbesondere der Ausländerbehörde, Mitteilung machen muss.
({1})
- Selbstverständlich jeder im öffentlichen Dienst, jede
öffentliche Stelle. In der Tat, Kollege Wieland. - Vor
diesem Hintergrund war dann immerhin mit der Union
eine Verständigung darauf erreichbar, dass der Schulbesuch der Kinder von Illegalen nicht verunmöglicht werden sollte. An dieser Stelle war man bereit, sich ein
Stück zu bewegen. Das hat dann aber leider nicht funktioniert, wie wir wissen. Auch ein Gesetzentwurf, den
wir in der letzten Legislaturperiode schon fertiggestellt
hatten, konnte nicht auf den Weg gebracht werden, weil
namentlich die B-Länder gesagt hatten, sie machten da
nicht mit.
Worum geht es uns mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf? Wir wollen erstens erreichen, dass Kinder
Illegaler hier in Deutschland zur Schule gehen können,
ohne dass sie oder ihre Eltern Angst davor haben müssen, dass die Lehrer oder die Schulleiter der Ausländerbehörde Mitteilung machen. Wir wollen zweitens erreichen, dass sich illegal in Deutschland aufhaltende
Menschen ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen können,
ohne dass sie Angst haben müssen, dass der Krankenhausträger, die Abrechnungsstelle oder auch das Sozialamt den Tatbestand des illegalen Aufenthalts der Ausländerbehörde mitteilen.
({2})
Wir wollen drittens erreichen, dass die Illegalen, die hier
in Deutschland zum Teil auch entgeltpflichtig beschäftigt werden, in der Zukunft von ihren Arbeitgebern mindestens nicht mehr um ihren Lohn geprellt werden können. Das ist bisher der Fall, weil auch die Arbeitsrichter
verpflichtet sind, wenn sie denn Kenntnis davon erhalten, der Ausländerbehörde den Status der Illegalen und
ihre Personalien mitzuteilen.
Ich glaube, wir alle hier im Hause stimmen überein,
dass man diese Gewährung humanitärer Mindeststandards in Deutschland jetzt dringend wiederherstellen
muss, um auf die Art und Weise dann auch den Standards der Mehrheit der übrigen europäischen Staaten zu
entsprechen.
({3})
Im Übrigen gibt es auch eine europäische Richtlinie aus
diesem Jahr, also von 2009, die gerade in der Frage des
Einklagens von Arbeitslohn entsprechende Vorgaben
macht. Hier haben wir also auch Handlungsbedarf.
Außerdem haben wir im Arbeitskreis Illegalität des
Öfteren folgende Situation diskutiert: Jemand, der in
Deutschland aus rein humanitären Gründen Illegalen
Hilfe leistet, läuft Gefahr, sich damit strafbar zu machen.
Aufgrund dieser Erkenntnis haben wir den Fall der qualifizierten Beihilfe, übrigens mit einem entsprechenden
Umsetzungsgesetz, richtigerweise aus dem Aufenthaltsgesetz herausgestrichen. Wir haben damals aber übersehen, dass auch der Fall der einfachen Beihilfe nach den
Vorschriften des StGB Allgemeiner Teil nach wie vor
strafbar wäre.
({4})
Deswegen ist es notwendig, an der Stelle nachzubessern
und im Gesetz klarzustellen, dass derjenige, der aus rein
humanitären Gründen, ohne einen Vorteil davon zu haben, Illegalen in Deutschland hilft, sich nicht strafbar
macht. Das ist das, was wir jetzt erreichen wollen.
({5})
- Herr Kollege Dr. Uhl, Ihr Zwischenruf gibt mir die
Möglichkeit, diesen Gedanken auszuweiten. Sie fragten,
ob es einen solchen Fall gebe. Nein, den gibt es in der
Tat nicht. Es gibt einen einzigen Fall, der aber unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt behandelt wird,
nämlich unter dem der Veruntreuung öffentlicher Gelder
bei der Hilfeleistung für Illegale. Aber es gibt eine ganze
Reihe von Menschen in dieser Republik - Ärzte, Sozialarbeiter, Geistliche, Lehrer usw. -, die vielleicht bereit
wären, Illegalen zu helfen, die aber Angst davor haben,
sich strafbar zu machen. Diese Angst sollten wir ihnen
nehmen. Auch oder gerade weil es bisher noch keinen
entsprechenden Fall gab, sollten wir in dieser Hinsicht
im Gesetz endlich für eine Klarstellung sorgen. Es dürfte
wohl niemanden stören, wenn wir das jetzt ausdrücklich
festschreiben. Das Gleiche gilt, wie gesagt, für die Übermittlungspflichten. Auch da ist eine Regelung überfällig.
Dass wir jetzt, in der Oppositionszeit, mit diesem Antrag kommen, liegt auf der Hand. In der Koalition mit
der Union war eine solche Regelung nicht möglich, weil
- ich wiederhole es - uns die Innenminister der B-Länder ausgebremst hätten, denn auch hierfür hätten wir die
Zustimmung im Bundesrat gebraucht. Wir wollen das
jetzt hier auf den Tisch legen, zumal sich auch in Ihrer
Koalitionsvereinbarung ein Hinweis findet. Dort steht,
Sie wollen die Wahrnehmung des Schulbesuchs von
Kindern ermöglichen. Wir begrüßen das ausdrücklich.
Wir hätten uns auch in diesem Punkt, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der FDP, noch ein bisschen mehr gewünscht, als Sie in der Koalitionsvereinbarung haben
durchsetzen können.
({6})
So weit waren wir in diesem Punkt in der Großen Koalition auch schon. Aber auch hier gilt der Satz, der vorhin
vom Kollegen Strässer geprägt wurde und den ich als
Zwischenruf wiederholt habe: Die Hoffnung stirbt zuletzt. - Jetzt sollten wir uns bewegen. Sehen Sie bitte zu,
dass Sie die B-Länder auf die richtige Seite bekommen!
Dann können wir endlich das tun, was seit mehr als zehn
Jahren überfällig ist.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Kristina Köhler von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte über die Situation von illegalen Ausländern in Deutschland ist schwierig. Man ist allzu leicht
geneigt, sich gegenseitig fehlende Humanität oder ein
fehlendes rechtsstaatliches Verständnis vorzuwerfen. Ich
glaube, dass uns solche Vorwürfe nicht weiterführen.
({0})
Denn tatsächlich sind Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit keine Widersprüche. Humanitäre Standards können nur in einem Rechtsstaat verwirklicht werden. Umgekehrt muss sich jede ordnungsrechtliche Maßnahme
im Lichte der Grundrechte bewähren.
Lassen Sie mich deshalb für meine Fraktion zwei
Dinge klarstellen:
Erstens. In einem Rechtsstaat kann illegale Migration
nicht akzeptiert werden.
({1})
Wer sich unerlaubt in einem Land aufhält, hat dieses
Land zu verlassen. Das ist keine deutsche Eigenheit,
sondern dieser Grundsatz gilt auf der ganzen Welt. Sie
würden die Integrationsbereitschaft der Bevölkerung
überfordern, wenn Sie unbegrenzt illegalen Aufenthalt
akzeptieren würden.
({2})
Zweitens ist aber auch richtig, dass illegale Ausländer
natürlich Menschen und damit Träger der unantastbaren
Menschenwürde sind.
({3})
Illegale Migration ist zwar rechtswidrig; aber sie ist
eine Realität, der wir uns stellen müssen und der auch
diese Bundesregierung sich stellen muss. Wenn wir uns
aber dieser Realität gemeinsam stellen wollen, dann
müssen wir uns erst einmal auf eine gemeinsame Realität einigen. Da gibt es gerade in der Debatte über illegale
Migration einige unterschiedliche Sichtweisen.
Das beginnt schon mit der Frage nach dem Umfang
von illegaler Migration; Herr Veit, Sie sprachen es eben
an. Die Wahrheit ist: Niemand weiß genau, wie viele es
sind.
({4})
Wir wissen aber auch, dass die Sicherheitsbehörden davon ausgehen, dass die kursierenden Zahlen - auch die,
die Sie genannt haben - maßlos übertrieben sind. Das
Seriöseste, was man sagen kann, ist, dass wir keine genauen Zahlen haben. Ich denke, wir sollten nicht so tun,
als ob wir mehr wüssten.
Zu dieser Gruppe gehören nun Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen. Das sind Zwangsprostituierte, das sind abgelehnte Asylbewerber, das sind
aber auch Akteure im Bereich der organisierten Kriminalität. In ihrem Gesetzentwurf sucht die SPD nun nach
Lösungen, wie man in den unterschiedlichen Bereichen
verhindern kann, dass die Ausländerbehörde Kenntnis
davon erhält, dass sich jemand illegal in Deutschland
aufhält.
Gehen wir einmal die einzelnen Themenfelder durch.
Zunächst: Wie ist die Rechtslage im Bereich der Krankenbehandlung? Die Realität ist: Auch wer sich illegal in
Deutschland aufhält, hat das Recht auf medizinische
Versorgung; das ist klar. Deshalb kann sich jeder - auch
jeder Illegale - natürlich auf eigene Rechnung bei einem
Arzt behandeln lassen, und er muss keine Angst haben,
dass da irgendetwas übermittelt wird.
Jetzt ist es natürlich völlig richtig, dass sich dies nur
die wenigsten Illegalen leisten können. Deshalb gilt in
Deutschland auch, dass illegale Migranten in Notfällen
genauso behandelt werden wie jeder andere auch. Wer
mit einem gebrochenen Bein in ein Krankenhaus
kommt, muss nicht befürchten, entdeckt zu werden.
({5})
Das schreiben auch Sie in Ihrem Gesetzentwurf. Das Sozialamt zahlt in diesen Fällen; aber es übermittelt keine
Daten an die Ausländerbehörde.
({6})
Jetzt gibt es aber nicht nur Notfälle. Unser Rechtsstaat
sieht vor, dass Illegale in sogenannten akuten Krankheitsfällen genauso wie diejenigen Ausreisepflichtigen
behandelt werden, die sich legal in Deutschland aufhalten, nämlich nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Hier übernimmt der Sozialträger die Behandlung, ist
aber verpflichtet, seine Kenntnis vom illegalen Aufenthalt an die Ausländerbehörde weiterzugeben. In der Praxis spielt dies zwar keine große Rolle. Aber dies ist der
Grund dafür, warum man als kranker Mensch ohne Papiere sagen kann: Dann sehe ich lieber von einer Behandlung ab.
({7})
Meine Damen und Herren, ich kann durchaus verstehen, dass man an dieser Stelle sagt: „Unterlasst doch in
diesen akuten Fällen so wie bei Notfällen eine Übermittlung der Daten“, weil die Betroffenen ansonsten notwendige Behandlungen nicht vornehmen lassen. Das klingt
im ersten Moment sehr humanitär. Aber ich sage Ihnen
auch: Die Manifestierung eines rechtsfreien Zustands ist
keine Lösung des Problems. Wenn wir den Rechtsstaat
Dr. Kristina Köhler ({8})
unterhöhlen, dann ist niemandem geholfen. Es ist nicht
Aufgabe der Sozialkassen, dauerhaft Illegalität zu stützen.
Die Befürworter dieser Streichung - auch Sie haben
sie befürwortet - verweisen sehr gerne auf andere europäische Länder. Oft heißt es: Deutschland ist das einzige
Land mit einer Übermittlungspflicht. So einfach ist es
aber nicht. Dies ist nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich
sind die Gesundheitssysteme in den unterschiedlichen
europäischen Ländern sehr verschieden. Es gibt ganz unterschiedliche Wege, wie die Ausländerbehörden jeweils
zu ihren Informationen kommen, beispielsweise im viel
gelobten Spanien. Hier brauchen Illegale eine Gesundheitskarte, und für deren Erhalt müssen sie sich registrieren lassen. Zu diesen Listen haben auch die Ausländerbehörden Zugang. Es stimmt also: In Spanien findet
keine Übermittlung statt. Aber die Ausländerbehörden
holen sich in Spanien ihre Daten eben selbst. De facto
besteht also kein Unterschied zur Situation in Deutschland.
Ein zweites Beispiel: Schweden. Als Illegaler können
Sie dort zum Arzt gehen und sich dort behandeln lassen,
ohne Angst haben zu müssen, aufgedeckt zu werden.
Der Nachteil ist nur: In Schweden zahlen Sie diese Behandlung grundsätzlich aus eigener Tasche. Damit besteht dort aber exakt die gleiche Situation wie in
Deutschland. Auch hier werden, wenn die Behandlung
selbst gezahlt wird, keine Daten übermittelt. Daten werden erst dann übermittelt, wenn die Behandlung vom
Staat gezahlt werden soll.
Man kann also nicht so tun, als nehme Deutschland
einen Ausnahmestatus ein. Es ist nicht so einfach, die
verschiedenen Länder innerhalb der Europäischen Union
mal soeben miteinander zu vergleichen.
Kommen wir zum Thema Arbeitnehmerschutz.
Grundsätzlich gilt: Auch bei Illegalen entsteht mit der
Arbeitsaufnahme ein faktisches Arbeitsverhältnis, und
daraus ergibt sich ein Lohnanspruch. Dieser Lohnanspruch kann auch gerichtlich eingeklagt werden. Allerdings muss hier der Richter, wenn er in einem Prozess, in dem es um den Arbeitslohn eines Illegalen geht,
davon erfährt, dieses Wissen an die Ausländerbehörde
weitergeben. Dies wollen Sie ändern, und das halten wir
für falsch.
({9})
Zum einen wollen Sie gerade Richter, die der Inbegriff von Recht und Gesetz sein sollen, davon abhalten,
dass sie gegen einen rechtswidrigen Zustand vorgehen.
Das ist schon eine bemerkenswerte Vorstellung. Aber
noch viel wichtiger ist der folgende Einwand: Illegale
Arbeiter arbeiten grundsätzlich schwarz und billig. Jede
illegale Beschäftigung geht zulasten der Arbeitnehmer
und der Arbeitsuchenden, egal, ob Einheimische oder
Migranten.
({10})
Deshalb können Sie doch nicht ernsthaft von uns verlangen, dass wir Schwarzarbeit unterstützen.
({11})
Frau Köhler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Veit?
Ja, bitte sehr.
Bitte schön, Herr Veit.
Frau Kollegin Köhler, kennen Sie die europäische
Richtlinie mit der Nummer 2009/52/EG vom 18. Juni
2009? Darin heißt es in Art. 6 Abs. 2, dass die Mitgliedstaaten Mechanismen einrichten müssen, mittels derer
sich illegal aufhaltende Ausländer Ansprüche gegen ihren Arbeitgeber geltend machen können oder sich an die
zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaates
wenden können, um ein Verfahren auf Beitreibung einzuleiten, ohne dass sie in diesem Fall Gefahr laufen müssen, entdeckt zu werden. Kennen Sie diese Richtlinie?
Würden Sie mir zustimmen, dass wir als Deutsche gehalten sind, diese europäische Richtlinie in deutsches
Recht umzusetzen?
Herr Kollege, ich kenne diese Richtlinie. Ich empfehle Ihnen, auch Art. 1 dieser Richtlinie zu lesen. Darin
steht, warum diese Richtlinie erlassen worden ist. Dort
steht explizit, dass diese Richtlinie zu dem Zweck erlassen wurde, illegale Beschäftigung so weit wie möglich
zurückzudrängen. Das ist der eigentliche Grund dieser
Richtlinie, während das, was Sie fordern, genau das Gegenteil bewirkt: Es setzt Anreize zu weiterer illegaler
Beschäftigung. Deswegen werden Sie mit Ihrem Gesetzentwurf diesem eigentlichen Ziel der Richtlinie nicht gerecht.
({0})
Kommen wir zum letzten Thema, zum Thema Schule.
Auch das ist ein eher theoretisches Problem, weniger ein
praktisches. Fragen Sie doch zum Beispiel in Ihrem
Bundesland bei Ihrem Innenministerium nach, wie viele
Kinder, die sich illegal in Deutschland aufhalten, von
Schulleitern gemeldet wurden und dann auch tatsächlich
abgeschoben wurden. Ich habe das in Hessen gemacht.
Dort wurde in den letzten zehn Jahren kein einziger Fall
bekannt.
({1})
Dr. Kristina Köhler ({2})
Nichtsdestotrotz verstehe ich, wenn man sagt: Die
Kinder können am allerwenigsten für diese Situation.
Ich verstehe auch, wenn man sagt, dass die Kinder in der
Zeit, die sie in Deutschland verbringen, auch etwas lernen sollen; denn hier wird die Grundlage für ihr gesamtes weiteres Leben gelegt. Deswegen ist sich die Koalition einig, dass wir in diesem Bereich im Hinblick auf
die Übermittlungspflichten etwas tun werden. Darauf
können Sie sich verlassen: Das wird kommen.
Der Antrag der SPD mag gut gemeint sein.
({3})
Aber er führt zu einer Art klandestinen Parallelwelt, einer Parallelwelt, in der sie zum Arzt gehen können, ohne
gemeldet zu sein, in der sie zur Arbeit gehen können,
ohne gemeldet zu sein, in der sie zur Schule gehen können, ohne gemeldet zu sein. Dies kann und darf nach unserer Auffassung in einem Rechtsstaat nicht möglich
sein, weil es zu einer Aufspaltung des Rechts führen
würde, die mit unserer Grundrechtsordnung unvereinbar
ist.
({4})
Verstehen Sie mich richtig: Es ist ehrenwert, in dieser
Frage nach Lösungen zu suchen. Aber ich glaube, Sie
suchen an der falschen Stelle. Denn wenn Sie bei Ausländerbehörden nachfragen, stellen Sie fest, dass es für
den großen Teil der Illegalen Legalisierungsmöglichkeiten gäbe. Darum muss es uns doch eigentlich gehen und
nicht darum, die Menschen in der Illegalität zu halten.
Vielmehr soll es darum gehen, dass die bestehenden Legalisierungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sevim Dağdelen von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Köhler, ich kann es nicht lassen. Eines muss ich Ihnen
sagen: Das Problem besteht doch nicht darin, dass man
versucht, einen Rechtsbruch in einem Rechtsstaat - ({0})
- Nein, darum geht es nicht. Es geht darum, dass man in
einem Verfassungsstaat, der sich wie die Bundesrepublik
Deutschland als Rechtsstaat definiert, Menschenrechte
für jeden geltend macht. Es geht nicht darum, sozusagen
klandestin sich aufhaltenden Menschen irgendwelche
Möglichkeiten einzuräumen. Es geht darum, dass wir in
Deutschland unseren Pflichten nachkommen.
({1})
Sie sprechen in den Debatten über Illegalität immer
von illegalen Menschen. Ich muss für meine Fraktion
klarstellen: Es gibt keine Menschen, die illegal sind. Es
gibt nur Menschen, die illegalisiert werden, wie von Ihnen.
({2})
In Debatten über Illegalisierte wird immer gesagt, dass
es eine Pflicht des Staates gebe, illegale Einwanderung
oder den illegalen Aufenthalt zu bekämpfen. So eine
Verpflichtung gibt es nicht. Was es allerdings gibt, sind
Verpflichtungen, die sich aus dem Grundgesetz ergeben,
zum Beispiel die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt,
die Menschenwürde zu achten, sie zu schützen und sich
zu den unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft zu bekennen. Das
ergibt sich aus Art. 1 Grundgesetz. Es gibt die Verpflichtung des Staates, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf körperliche Unversehrtheit als absolut geltende Rechte aller Menschen zu schützen. Das
ergibt sich aus Art. 2 Grundgesetz. Es gibt auch noch
Art. 20 Grundgesetz, in dem erklärt wird, dass die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und
sozialer Rechtsstaat ist und eben kein Staat, der sich gegen Flüchtlinge abschottet, die aus anderen Teilen der
Welt hierherkommen wollen.
Ich war in dieser Woche mit dem Kollegen Tören von
der FDP bei „Ärzte der Welt“, die zu einer Tagung zu genau diesem Thema eingeladen haben. Ich hätte mich gefreut, wenn die CDU oder die CSU eine Vertreterin oder
einen Vertreter geschickt hätte. Wenn Sie mit den Menschen dort gesprochen hätten, hätten Sie verstanden,
dass es um Folgendes geht: Diese Menschen müssen befürchten, festgenommen, inhaftiert und abgeschoben zu
werden, wenn sie die Umsetzung eines ihrer unveräußerlichen Menschenrechte in Anspruch nehmen. Zu diesen
Menschenrechten gehören zum Beispiel das Recht auf
Schulbildung, das Recht auf ein Privatleben, das Recht
auf medizinische Versorgung und das Recht auf eine gerechte Entlohnung für ihre Arbeit sowie das Recht auf
körperliche Unversehrtheit. Frau Köhler, die engstirnige,
bürokratische Verweigerungshaltung muss aufgegeben
werden, nach der Betroffenen nicht geholfen werden
könne oder dürfe, weil ihr Aufenthalt auf einem Rechtsbruch basiere
({3})
und der Aufenthalt deswegen nicht durch Legalisierung
oder auch nur durch die Gewährung des Zugangs zu Bildung oder medizinischer Versorgung in Deutschland belohnt werden dürfe.
Bei der Debatte über illegalisierte Menschen in
Deutschland geht es aber eigentlich um die Abschottungspolitik und die restriktive Migrationspolitik in
Deutschland und Europa. In den letzten Jahren ist vor
allen Dingen der ehemalige Bundesinnenminister
Schäuble auf europäischer Ebene mit Verve dafür eingetreten, dass Spanien, Frankreich, Portugal und andere
Länder damit aufhören, solchen Menschen einen Zugang
zu Menschenrechten zu gewähren. Das halte ich für einen Skandal.
({4})
Der sogenannte illegale Aufenthalt von schätzungsweise einer halben Million bis 1,5 Millionen Menschen
in Deutschland ist in erster Linie Folge dieser restriktiven Flüchtlings- und Migrationspolitik, einer Politik, die
in den letzten Jahren bedauerlicherweise auch - das
muss ich hinzufügen, Herr Veit - von der SPD getragen
wurde. Solange ungleichgewichtige soziale, ökonomische und gewaltsame Verhältnisse in der Welt existieren
und Nationalstaatsgrenzen sich zwischen Menschen
schieben, wird es Migration geben, wenn nicht mit, dann
eben ohne behördliche Erlaubnis.
In diesem Zusammenhang möchte ich aus Die Nacht
von Lissabon von Erich Maria Remarque zitieren:
Die Küste Portugals war die letzte Zuflucht geworden für die Flüchtlinge, denen Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz mehr bedeuteten als Heimat und
Existenz. Wer von hier das gelobte Land Amerika
nicht erreichen konnte, war verloren. Er musste verbluten im Gestrüpp der verweigerten Ein- und Ausreisevisa, der unerreichbaren Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen, der Internierungslager, der
Bürokratie, der Einsamkeit, der Fremde und der
entsetzlichen allgemeinen Gleichgültigkeit gegen
das Schicksal des einzelnen, die stets die Folge von
Krieg, Angst und Not ist. Der Mensch war um diese
Zeit nichts mehr; ein gültiger Pass alles.
Wir müssen uns an unsere Geschichte erinnern. Kein
Mensch ist illegal. Deshalb unterstützen wir den Gesetzentwurf, gehen aber in unseren Forderungen weiter, weil
wir der Auffassung sind, dass wir eine humanitäre
Flüchtlingspolitik brauchen, um die Ursache des Problems zu bekämpfen.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Serkan Tören von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
Liberale waren uns mit Vertretern anderer Fraktionen in
diesem Hause, von Kirchen, gemeinnützigen Organisationen und Wohlfahrtsverbänden immer einig darüber,
dass die gegenwärtige Situation der in Deutschland lebenden Ausländer ohne gültige Papiere unbefriedigend
ist. Zentrale Themen sind hierbei immer wieder die medizinische Versorgung und der Schulbesuch.
Wir stehen hier in der Verantwortung, diese Punkte
ins Auge zu fassen, kritisch zu diskutieren und Lösungen
zu finden. Genau das haben wir in den Koalitionsverhandlungen getan.
({0})
Das Ergebnis - das sage ich hier voller Freude und Zuversicht - ist bemerkenswert und stellt endlich einen
echten Fortschritt dar.
Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen. Ein
Punkt ist die Stärkung der Kinderrechte. Die FDP ist seit
jeher dafür eingetreten, die Vorbehaltserklärung zur UNKinderrechtskonvention zurückzunehmen. Auch die
SPD hatte sich das immer großspurig auf die Fahnen geschrieben; das Ergebnis konnten wir jedes Jahr in den
UNICEF-Berichten nachlesen. Wir haben uns mit dem
Koalitionspartner CDU/CSU eindeutig und klar dazu bekannt, die Vorbehaltserklärung zurückzunehmen.
({1})
Das bedeutet, allen Kindern in Deutschland die gleichen
Rechte zuzugestehen. Das ist auch in Bezug auf den Zugang minderjähriger Flüchtlinge zur Gesundheitsversorgung ein wesentlicher Fortschritt.
Ich möchte einen weiteren wesentlichen Fortschritt
darstellen, und zwar bei der Übermittlungspflicht für öffentliche Schulen, die vielen von uns Bauchschmerzen
bereitet hat. Lassen Sie mich klar sagen: Kinder tragen
nicht die Verantwortung für den illegalen Aufenthalt der
Eltern.
({2})
Kinder, egal ob mit oder ohne gültigen Aufenthaltsstatus, haben ein Recht auf Bildung. Die FDP steht seit eh
und je für dieses Recht ein; es ist unter anderem in der
UN-Kinderrechtskonvention verankert.
({3})
In einigen Bundesländern gibt es hierzu bereits erfreuliche Regelungen, beispielsweise in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Hier unterliegen statuslose Kinder der
Schulpflicht und können auf diese Art und Weise ihr
Recht auf Bildung verwirklichen. Nehmen wir Hessen:
Dort wird aktuell eine Verordnung vorbereitet, nach der
auch solche Kinder zum Schulbesuch berechtigt sind,
die nicht schulpflichtig sind, aber ihren tatsächlichen
Aufenthaltsort in Hessen haben.
({4})
Zugleich soll in Zukunft auf die Vorlage einer gültigen
Meldebescheinigung verzichtet werden. In diesen Bundesländern bewegt sich etwas. Ich muss in diesem Hause
sicherlich nicht erwähnen, welche Regierungen diese
Länder führen.
({5})
Dennoch: Wir wollen die Verantwortung für diese
Problematik nicht abschieben, wie Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es in Ihrer Regierungszeit jahrelang getan haben. Es wird hierzu auf BundesSevim DaðdelenSevim Dağdelen
ebene eine Regelung geben; denn FDP und CDU/CSU
bekennen sich im Koalitionsvertrag eindeutig dazu, die
Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen dahin gehend abzuändern, dass der Schulbesuch von Kindern ermöglicht wird.
({6})
Das ist ein riesiger Fortschritt, der nicht häufig genug
betont werden kann.
Wir stellen uns der Verantwortung, einen angemessenen Umgang mit illegaler Migration und bereits hier lebenden Menschen ohne gültige Papiere zu entwickeln.
({7})
Wir haben aber immer auch den Standpunkt vertreten:
Wenn man in den Bereichen Migration und Integration
Politik betreibt, ist es dringend notwendig, sich dabei
immer Gedanken über die Grundlagen unseres Zusammenlebens zu machen. Deshalb sage ich Ihnen hier klipp
und klar: Die Einhaltung und der Vollzug des Ausländerrechts sind wesentliche Bestandteile unserer demokratischen Rechtsordnung.
({8})
Wir können und dürfen nicht das Spannungsfeld ignorieren, das sich hieraus in Bezug auf den Umgang mit Menschen ergibt, die sich nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten. Dabei wende ich mich aber ganz klar
dagegen, diese Debatte im Sinne einer einfachen Dichotomie beispielsweise von rechtsstaatlicher Ordnung versus Menschenrechte zu führen, wie es einige Kolleginnen und Kollegen gerne tun. Diese Kolleginnen und
Kollegen verkennen die Komplexität dieses Themas und
ignorieren eindeutig die Belange aller Betroffenen.
Noch einmal: Wir sollten Menschenrechte nicht gegen unsere rechtsstaatliche Ordnung ausspielen. Wir stehen im Dialog mit den relevanten Akteuren, mit Leuten
aus der Praxis und mit Betroffenen. Wir werden gemeinsam mit unserem Koalitionspartner die Herausforderungen bewältigen und Lösungen finden. Aber ich betone
noch einmal: Es müssen pragmatische Lösungen sein,
die menschenrechtliche Standards berücksichtigen, aber
im Rahmen unserer rechtsstaatlichen Ordnung liegen.
Alles andere wäre verantwortungslos.
({9})
Die SPD ist, als sie die Chance dazu hatte, nicht über
die Vereinbarung eines Prüfauftrags zur Illegalität im
Koalitionsvertrag hinausgekommen. Da haben wir Liberale bisher mehr erreicht. Darauf können wir stolz sein.
Vielen Dank.
({10})
Herr Kollege Tören, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Memet Kilic von
Bündnis 90/Die Grünen.
Der Arme ist ohne Trost, der Fleißige ohne Ruhe,
selbst der König ohne Sicherheit. - Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf unserer
Erde gibt es genauso viele Einzelschicksale, wie es Menschen gibt. Viele Menschen in unserem Land müssen
ohne gültige Papiere leben, weil sie für sich und für ihre
Kinder keine anderen Auswege kennen. Aufgrund meines Berufes und meines Engagements habe ich viel über
die Schicksale von papierlosen Menschen erfahren.
Diese Menschen müssen ständig in Angst leben, dass sie
denunziert werden oder bei einer einfachen Kontrolle
ihre Identität nicht nachweisen können. Sie besuchen
keinen Arzt, selbst wenn sie schwer krank sind. Sie können ihren niedrigen Lohn nicht einfordern, wenn der Arbeitgeber diesen nicht ausbezahlen will.
Vielen von ihnen tut am meisten weh, dass sie ihre
wissenshungrigen und intelligenten Kinder nicht auf die
Schule schicken können. Wenn unsere Kinder krank
sind, gehen wir zu Recht sofort zum Arzt und lassen sie
behandeln. Können Sie sich vorstellen, was die papierlosen Väter und Mütter in solchen Fällen erleben? Sie fühlen sich hilflos und einsam. Auch wer diesen Menschen
in Not helfen will oder sogar muss, wie die Ärzte oder
Schuldirektoren, hat es nicht leicht. Sie sind eingeklemmt zwischen rechtlichen Zwängen und ihrem Berufsethos.
Liebe Frau Dr. Köhler, wenn wir von sogenannten
Illegalen reden, reden wir nicht über die jungen Männer,
die mit dem Messer im Mund durch die Wälder laufen,
sondern über Familienväter und -mütter, die in den Hinterzimmern von Restaurants arbeiten, um ihre Familie
über Wasser zu halten.
({0})
Heute haben Sie eine gute Gelegenheit, den Menschen,
die sich in einem humanitären Drama befinden, zu helfen und Barmherzigkeit und Nächstenliebe zu praktizieren, indem Sie Ihre Meinung zu diesem Gesetzentwurf
ändern und Zustimmung signalisieren.
({1})
Es ist sicherlich traurig, dass die SPD während ihrer
Regierungszeit solch einen Gesetzentwurf nicht über ihr
Herz gebracht hat, sondern vielmehr mit den Verschärfungen der Voraussetzungen für Familienzusammenführung und Einbürgerung beschäftigt war.
({2})
Wir hoffen aber, dass der uns vorliegende Gesetzentwurf
Erfolg hat.
„Weigere dich nicht, dem Dürftigen Gutes zu tun“ bitte, Hand aufs Herz; denn kein Mensch ist illegal.
Vielen Dank.
({3})
Herr Kollege Kilic, ich gratuliere auch Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag im Namen des
ganzen Hauses.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/56 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Klaus Ernst, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das
Arbeitslosengeld II
- Drucksache 17/76 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Matthias Birkwald von der Fraktion
Die Linke das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Viele Schülerinnen und Schüler jobben in den Schulferien, um sich etwas zu erarbeiten, zum
Beispiel einen PC, Reitunterricht oder ein Mofa. Ich
kann mich noch gut an meine Ferienjobs als Bahnpostfahrer oder am Fließband in der Hundekuchenproduktion erinnern. Nach einigen Wochen den selbstverdienten Lohn in den Händen zu halten, das war sehr
befriedigend.
Für Jugendliche aus Hartz-IV-Familien gilt das nicht.
Sie können sich so viel anstrengen, wie sie wollen. Weil
sie in sogenannten Bedarfsgemeinschaften leben, werden ihre Einkommen bis auf einen kleinen Betrag angerechnet. Das heißt, der Familie des Ferienjobbers oder
der Ferienjobberin wird das Sozialgeld gekürzt, weil die
Tochter oder der Sohn in den Ferien etwas geleistet hat.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht nur leistungsfeindlich. Es ist auch ungerecht, und vor allem demütigt es die betroffenen Jugendlichen.
({0})
Der Ferienjob wird für die Schülerinnen und Schüler
aus armen Familien fast zu einem Nullsummenspiel. Die
Anrechnung der Ferienjobs diskriminiert Jugendliche
aus Arbeitslosengeld-II-Haushalten, und sie demotiviert
die Betroffenen. Durch die Kürzung wird ihnen der Eindruck vermittelt, dass sich ihre Leistung nicht lohnt. Das
Gegenteil ist doch richtig: Die Eigeninitiative junger
Schülerinnen und Schüler muss honoriert und darf nicht
bestraft werden.
({1})
Während andere über ihre Einkünfte aus Ferienjobs
beliebig verfügen können, bleibt den Schülerinnen und
Schülern aus SGB-II-Haushalten fast nichts übrig. Dabei
sind diejenigen, die von ihren Eltern wenig bekommen
können, weil sie selbst nichts haben, ganz besonders auf
das Geld aus dem Ferienjob angewiesen. Nein, diese zusätzliche Benachteiligung ist entwürdigend, und sie
muss dringend korrigiert werden.
({2})
Meine Damen und Herren, die Linksfraktion rechnet
dabei mit Ihrer Unterstützung. Schließlich hatten Vertreter fast aller Fraktionen im Fernsehen erklärt, dass dieser
Unsinn geändert werden muss. In der Sendung „Hart
aber fair“ vom 26. August dieses Jahres, also mitten im
Wahlkampf, wurde der Fall der 15-jährigen Laura geschildert. Sie hatte sich in den Ferien einen elektronischen Bass erarbeitet, und ihrer Mutter wurde daraufhin
das Sozialgeld gekürzt. Dazu sagte der Vorsitzende der
CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag in der
ARD - ich zitiere -:
Wir müssen uns das noch mal sehr genau anschauen. Ich will, dass ein solcher Fall nicht bestehen bleibt.
Volker Kauder versprach - Zitat -:
Ich sage Ihnen: Dieser Fall wird geregelt werden.
Der wird so nicht mehr vorkommen können.
Zitat Ende.
Klaus Wowereit, heute stellvertretender SPD-Vorsitzender, versprach - Zitat -:
Da muss eine Korrektur her. … Da gibt es eine Gerechtigkeitslücke, die geschlossen werden muss.
Zitat Ende.
Für die Grünen forderte Fritz Kuhn in der Sendung
- Zitat -:
Ferienarbeit muss ein zweckbestimmtes Einkommen sein. Sie darf nicht angerechnet werden.
So weit, so gut.
({3})
Am 8. September dieses Jahres wurde hier im Plenum
über den Antrag der Linken dazu abgestimmt. Was geschah? Die Grünen stimmten mit Ja, die FDP enthielt
sich, aber SPD und Union lehnten unseren Antrag ab.
({4})
Versprochen, gebrochen.
Meine Damen und Herren, auch wir Linken kennen
die Geschichte von Saulus, der zum Paulus wurde, sehr
gut.
({5})
Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Söhne
und Töchter von Erwerbslosen bei der Ferienarbeit genauso behandelt werden wie die Kinder von Normalverdienenden oder Wohlhabenden. Von der Anrechnungsfreiheit der Ferienjobs ginge die Bundesrepublik
Deutschland nicht unter und auch nicht pleite. Stehen
Sie zu Ihrem Wort.
Danke schön.
({6})
Lieber Kollege Birkwald, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratulieren möchte.
({0})
Wäre diese Debatte live im Fernsehen übertragen worden, was, wie Sie wissen, nur noch selten vorkommt,
({1})
hätte sie außer der Aufmerksamkeit im Plenum bei überschaubarer Besetzung der Tribünen sicher eine beachtliche zusätzliche Aufmerksamkeit gefunden, die nun über
das pünktlich fertiggestellte Protokoll des Deutschen
Bundestages hoffentlich hergestellt wird.
Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für
die CDU/CSU-Fraktion,
({2})
für den die gleiche Versuchsanordnung gilt.
({3})
- Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
werte Kollegen! Herr Präsident, gemeinsam mit Ihnen
bedauere ich, dass wir für dieses zweifelsohne wichtige
Thema nicht mehr Aufmerksamkeit haben.
Herr Birkwald, auch von mir Gratulation zu Ihrer ersten Rede! Sie haben mit Ihrer ersten Rede etwas geschafft, was die Linkspartei die letzten vier Jahre nicht
geschafft hat: Zustimmung bzw. die ausgestreckte Hand
anzubieten und zu sagen: Wir wollen hier etwas
ändern. - Das ist mir bei wenigen Anträgen Ihrer Partei
in den letzten Jahren leichter gefallen als heute, lieber
Herr Wunderlich.
Liebe Kollegen von den Linken, mit Ihrem Antrag,
über den wir heute diskutieren, sprechen Sie ein Thema
an, das in der letzten Zeit häufiger in den Medien präsent
war. Sie haben die Sendung aus der Reihe Hart aber fair
vom 26. August dieses Jahres angesprochen, in der es
um die Anrechnung von Ferienjobs auf Hartz IV ging.
Es ist richtig, dass unser Fraktionsvorsitzender in der
Weisheit, für die er bekannt ist, geäußert hat: Wir müssen uns das anschauen, und wir müssen hier tätig werden.
({0})
- Bitte? Das ist bei uns nicht anders als bei der FDP. Sie behandeln damit ein Problem, das sicherlich einer
Lösung bedarf. Ich gehe davon aus, dass die Rednerin,
die nach mir für die SPD sprechen wird, Frau Katja
Mast, das ähnlich sehen wird. Ich glaube, da haben wir
einen ziemlich breiten Konsens.
Allerdings erliegen Sie, liebe Freunde von der Linken, auch hier Ihrem Hang zur Vereinfachung. Sie stellen den konkreten Fall so dar: Jobben Kinder, die in einer Bedarfsgemeinschaft von SGB-II-Beziehern leben,
in den Ferien, komme ihr Zubrot, von den 100 Euro pro
Monat, die anrechnungsfrei sind, abgesehen, ausschließlich der öffentlichen Hand zugute. Deshalb müsse die
Anrechnung von Einkommen aus Ferienjobs von Schülern grundsätzlich ausgeschlossen werden.
In Ihrem Antrag zu demselben Thema vom September dieses Jahres haben Sie außerdem gefordert, das
Schonvermögen zur Alterssicherung von SGB-II-Beziehern zu erhöhen.
In Teilen Ihrer Begründung muss ich Ihnen recht geben: Auch ich bin der Meinung, dass die Eigeninitiative
von Schülern nicht blockiert werden darf.
({1})
- Wollen Sie nicht klatschen? Das gilt doch auch für die
SPD. - Ein Ferienjob stellt in der Regel den ersten Kontakt mit der Arbeitswelt dar und führt im Idealfall später
zum ersten Arbeitsverhältnis. Ferienjobs helfen, die eigenen Fähigkeiten realistisch einzuschätzen und geben
Selbstbewusstsein für die Bewerbungsphase. - Sie haben es ausgeführt, Herr Kollege. Was haben Sie produziert: Hundekuchen? Etwas Vernünftiges auf jeden
Fall. - Mit einem Ferienjob kann man testen: Wo kann
ich mich einbringen? Man kann Disziplin lernen, kann
lernen, früh aufzustehen, kann stolz sein auf das, was
man selber erwirtschaftet hat. Nicht zuletzt können Ferienjobs Jugendlichen, deren Eltern auf Hartz IV angewiesen sind und die eigenes Erwerbseinkommen aus ihrem familiären Umfeld nicht oder zu wenig kennen, Mut
machen. Sie können helfen, Perspektivlosigkeit und Resignation vorzubeugen. Deshalb kann niemand wollen,
dass die SGB-II-Gesetzgebung einen gegenläufigen, die
Schüler demotivierenden Effekt entwickelt.
({2})
Nach der Lektüre Ihres Antrages, liebe Kollegen von
den Linken, muss ich anerkennend feststellen, dass Sie
das Wahlprogramm der Union gelesen haben. Ja, es
stimmt: Wir müssen uns über die Höhe des Schonvermögens und die Hinzuverdienstgrenzen Gedanken machen.
Wenn Sie sich die Ergebnisse der Kabinettsklausur auf
Schloss Meseberg genauso gründlich vorgenommen hätten, wüssten Sie: Wir haben uns längst an die Arbeit gemacht und das gründlicher und umfassender, als Sie es
vorschlagen. Diese Tatsache hätten Sie in Ihrem Antrag
ruhig erwähnen können.
Der gesamte Komplex SGB II ist sehr wichtig. Wenn
wir Änderungen vornehmen wollen, müssen wir deren
Auswirkungen und auch die Wechselwirkungen im
Blick haben, damit die Änderungen wirklich im Sinne
der Betroffenen sind.
({3})
Im Rahmen einer geordneten Gesetzgebung dürfen wir
keinen Flickenteppich schaffen, frei nach dem Motto
„Eine Reform zu einem Teilaspekt hier, eine Änderung
eines Teilproblems dort“. Deshalb müssen wir Ihren Antrag, liebe Kollegen von den Linken - so viel Sinn das,
was Sie vorschlagen, im Einzelnen sicherlich macht ablehnen.
({4})
- Ja, Herr Wunderlich; Sie werden nicht überrascht sein.
({5})
- Das kommt sicherlich nicht überraschend für Sie, Herr
Wunderlich; dafür kennen wir uns lange genug.
Auf Schloss Meseberg hat die Bundesregierung am
17./18. November dieses Jahres den Beschluss gefasst,
Änderungen der Erwerbstätigenfreibeträge insgesamt zu
prüfen und unter anderem das Schonvermögen von
Hartz-IV-Empfängern zu erhöhen. Ziel ist nach wie vor,
die Anreize, eine Arbeit aufzunehmen - bis hin zu einer
voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung -, zu
erhöhen. Dazu wird eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesarbeitsministeriums bis Ende Juni 2010 einen Vorschlag erarbeiten, in
dem das Zusammenspiel mit Kinderzuschlag und Wohngeld sowie eintretender Sozialversicherungs- und Steuerpflicht berücksichtigt wird.
Mitbeteiligt werden auch das Bundesministerium für
Finanzen, das Bundesministerium für Wirtschaft und
Technologie, das Bundesministerium für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung und das Bundesgesundheitsministerium sein. Alle Regelungen des SGB II werden dort
auf den Prüfstand gestellt werden.
Schon im Koalitionsvertrag haben wir unter anderem
festgeschrieben, dass wir den Freibetrag beim Schonvermögen im SGB II, der verbindlich der Altersvorsorge
dient, auf 750 Euro pro Lebensjahr wesentlich erhöhen
und die Hinzuverdienstregelung in der Grundsicherung
für Arbeitsuchende deutlich verbessern werden. Dasselbe gilt auch für den Hinzuverdienst bei sozialversicherungsfreien Minijobs.
Sie sehen: Wir bevorzugen Lösungsmechanismen,
mit denen sicherlich wichtige Einzelaspekte nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang betrachtet werden. - Jetzt wäre ein Applaus fällig.
({6})
- Ja, das muss man schon einmal sagen.
Herr Kollege Lehrieder, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass es weder verfassungsrechtlich noch
nach unserer Geschäftsordnung einen Anspruch auf Beifall während der Reden gibt.
({0})
Dass auf Ihre Aufforderung dieser Beifall jetzt scheinbar spontan erfolgt, ist eine bemerkenswerte Großzügigkeit der Kolleginnen und Kollegen, die ich ausdrücklich
im Protokoll vermerken möchte.
({1})
Ich weiß, Herr Präsident. Sie dürfen versichert sein,
dass ich diese großzügige Geste des Plenums unterwürfig und ehrerbietig zu würdigen weiß.
Mir ist es wichtig, kurz genauer zu beleuchten, worum es bei der Anrechnung von Ferienjobs eigentlich
geht.
Sie können sich vielleicht noch an die Antwort der
Bundesregierung vom 26. August 2008 auf Ihre Anfrage
zum selben Thema erinnern. Dort heißt es unter anderem:
Die Bundesregierung teilt nicht die Auffassung …,
wonach bei der Bemessung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts das Einkommen von
Schülerinnen und Schülern als Einkommen der gesamten Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt wird.
Auch trifft es nicht zu, dass ein Schüler oder eine
Schülerin
- das hatten Sie in Ihrer damaligen Anfrage dargestellt 80 Prozent des Einkommens aus seinem Ferienjob,
das 100 Euro übersteigt, „in den Topf der Bedarfsgemeinschaft werfen“ müsse. Im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch … ist geregelt, dass das Einkommen
unverheirateter Kinder, die mit ihren Eltern in Bedarfsgemeinschaft leben, nur als eigenes Einkommen und nicht als solches der Bedarfsgemeinschaft
zu berücksichtigen ist.
({0})
Darüber hinaus mindert das bei Schülerinnen und
Schülern zu berücksichtigende Einkommen lediglich ihren Anspruch auf Leistungen zur Sicherung
des Lebensunterhalts, so dass diesen das ({1})
Einkommen auch faktisch in voller Höhe zur Verfügung steht.
In der Vergangenheit ist es allerdings auch vorgekommen, dass aufgrund nicht gemeldeter Einnahmen aus Ferientätigkeit die Erstattung überzahlter Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts verlangt worden ist.
Dieser Hintergrund sollte mitberücksichtigt werden,
wenn man die SGB-II- und die Hinzuverdienstregelungen reformieren will.
Im Sommer wurde der Eckregelsatz von 351 Euro auf
359 Euro erhöht, und auch der eigene Sicherungsbetrag
für Kinder zwischen dem 6. und dem 15. Lebensjahr
wurde im Sommer bereits eingeführt. Derzeit läuft das
Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht darüber,
ob die Regelsätze für Kinder und Jugendliche ausreichend sind. All dies wird hier angepasst.
Es wurde heute bereits ausgeführt: Hartz IV ist ein
lernendes System. Wir haben das System jetzt einige
Jahre auf dem Prüfstand gehabt. Wir merken, dass es
noch zu bestimmten Korrekturen und Nachjustierungen
kommt.
Ich hätte noch etwas zu sagen, aber für die Großzügigkeit des Auditoriums bedanke ich mich dadurch, dass
ich dem Auditorium 1 Minute und 20 Sekunden Redezeit schenke und Sie etwas eher nach Hause lasse.
Herzlichen Dank.
({2})
Herr Kollege Lehrieder, falls ich bei Ihrer nächsten
Rede zufällig wieder hier auf dem Stuhl sitzen sollte,
dann würde ich Ihnen diese Gutschrift auch ohne geschäftsordnungsrechtlichen Anspruch zur Verfügung stellen.
Ich werde mich darauf verlassen. Danke schön.
Im Protokoll haben wir das jedenfalls so vermerkt.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Mast für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege Lehrieder hat, glaube ich, ein bisschen zu
einem alten Antrag gesprochen, weil er sehr viel auf das
Schonvermögen verwiesen hat.
({0})
Heute diskutieren wir aber nicht über den Antrag aus der
letzten Legislaturperiode, sondern über den aktuell vorliegenden Antrag. Darin geht es ausschließlich um die
Anrechnung von Ferienjobs.
Mit Ferienjobs verdienen junge Menschen in der Tat
etwas hinzu. Der Ferienjob dient auch mehr als nur dem
Geldverdienen; denn dies ist auch praktizierte Berufsorientierung. Erste Eindrücke vom Berufsleben werden
gesammelt, egal, ob am Band, im Restaurant oder im
Kaufhaus. Es ist nur schade, dass diese Ferienjobs nicht
für jeden jungen Menschen gleich attraktiv sind. Denn
die Jugendlichen, deren Eltern Arbeitslosengeld II erhalten, bekommen ihren Lohn angerechnet und müssen einen Teil davon für ihre Lebenshaltung ausgeben.
({1})
Sie sind also in doppelter Hinsicht benachteiligt: Einerseits steht ihnen das Geld nicht zur Verfügung, und andererseits - das scheint mir fast der wichtigere Punkt kommt es bei ihnen zu einem mangelnden Anreiz, sich
beruflich zu orientieren.
Warum ist das so? Lassen Sie mich ein Beispiel aus
meinem Wahlkreis nennen. Julia und Markus gehen
beide in Pforzheim zur Schule. Beide haben in den Ferien bei einem Hersteller für Autoteile gearbeitet.
({2})
Sie haben vier Wochen Stecker verpackt. Von Mitte Juli
bis Mitte August haben beide jeden Tag gearbeitet. Dafür haben sie 1 200 Euro Lohn bekommen. Julia wird
davon ihren Führerschein machen, und Markus will eine
E-Gitarre kaufen, damit er in der Schulband mitspielen
kann.
Aber ein kleines Detail unterscheidet Julia und
Markus. Denn Markus lebt in einer sogenannten Bedarfsgemeinschaft. Während Julia ihr Geld in voller
Höhe behalten darf, bekommt Markus zwar auch das
Geld in voller Höhe auf sein Konto überwiesen, aber
seine Eltern bekommen im Juli und August jeweils
287 Euro weniger vom Amt. Das sind rund 600 Euro.
Markus muss also von seinen 1 200 Euro fast die
Hälfte seinen Eltern geben, damit sie den Lebensunterhalt bestreiten können. Aus der E-Gitarre wird nichts,
und damit auch nichts aus der Schülerband. Markus sagt
sich, dass er nächstes Jahr lieber ins Schwimmbad geht
als zu arbeiten.
Was läuft da schief? Grundsätzlich will die SPD-Bundestagsfraktion, dass sich die Arbeit für Markus genauso
lohnt wie für Julia. Wir wollen es uns aber nicht so leicht
machen wie die Antragsteller und einfach nur die Bundesregierung zum Handeln auffordern. Wir wollen einen
eigenen Antrag vorlegen. Denn wir haben nicht nur eine
Aufforderung im Sinn, sondern eine klare denkbare Lösung. Wir wollen nämlich, dass das einmalige Einkommen aus dem Ferienjob nicht nur im Monat der Überweisung berücksichtigt, sondern auf zwölf Monate verteilt
wird. In unserem Beispiel würde das praktisch heißen,
dass Markus auf das Jahr gerechnet die gesamten
1 200 Euro behalten kann und die E-Gitarre und damit
auch die Teilnahme an der Schülerband an seiner Schule
möglich sind.
Ich will aber noch darauf eingehen, was die Linke mit
ihrem Antrag will und wo bei diesem Thema der Unterschied zu uns Sozialdemokraten liegt. Unser sozialdemokratisches Kernverständnis von Sozialstaat ist: Wenn
du dir selbst nicht mehr helfen kannst, dann hilft dir die
Solidargemeinschaft. Die Linke will dieses Grundprinzip abschaffen. Das steht im Übrigen auch in ihrem sogenannten 10-Punkte-Sofortprogramm. Genau dieser
Punkt steht unter dem Motto „Abschaffen des Arbeitslosengeldes II“. Im Kern will die Linke, dass jeder trotz
eigenem Einkommen die Solidarität der Gemeinschaft in
Anspruch nehmen kann. Dazu haben wir ein grundsätzlich anderes Verständnis. Wir wollen fördern und fordern.
({3})
- Das gilt nach wie vor, aber Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn es Sie genauer interessiert.
({4})
Bei den Jugendlichen gibt es eine Gerechtigkeitslücke, die man so schließen kann, dass sie ihr Ferienjobgehalt behalten können, ohne mit der Grundüberzeugung
zu brechen: Wer sich selbst helfen kann, soll das auch
tun. Das ist unser sozialdemokratischer Weg, und wir
fordern von der Bundesregierung, dass auch aus Markus
ein Eric Clapton oder vielleicht sogar ein Jimi Hendrix
werden kann. Denn sozial gerecht handeln, heißt auch
verantwortlich handeln.
Da wir davon ausgehen, dass die Bundesregierung
und mit ihr die schwarz-gelbe Koalition nicht ausreichend kreativ sein wird, werden wir den versprochenen
eigenen Antrag einbringen.
({5})
- Daran können Sie sich gerne beteiligen, Herr Kolb.
Schon heute fordere ich Sie auf, auf unsere Kreativität
bei der Anrechnung von Ferienjobs zurückzugreifen und
unseren Vorschlag schnell umzusetzen.
({6})
- Dann werden wir darüber diskutieren. - Wir sollten
das Ferienjobeinkommen von Jugendlichen so auf die
Monate verteilen, dass ein Anreiz bleibt, und zwar nicht
nur für Ferienjobs, sondern auch für Berufserfahrung
und Berufsorientierung in frühen Jahren.
Ich weiß mich mit dieser Forderung nicht nur mit
meiner Bundestagsfraktion einig. Ich bin vor allen Dingen froh, dass die SPD das nicht nur in Talkshows verkündet, sondern auch auf ihrem Dresdner Parteitag beschlossen hat, die Anrechnung des Verdienstes aus
Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II zu verändern. Wir
stehen am Anfang der Beratungen. Wir haben noch Zeit.
Sie können sicher sein: Wir werden konkreter werden
als der vorliegende Antrag. Das Ziel ist klar: Wir wollen
erreichen, dass die jungen Menschen mehr von ihrem
Verdienst behalten können. Wir setzen uns für eine Lösung ein, die Eigenverantwortung und Berufsorientierung fördert. Unser Sozialstaatsversprechen gilt auch bei
der Anrechnung des Verdienstes aus Ferienjobs: Wer
sich selbst nicht helfen kann, dem hilft die Solidargemeinschaft.
Vielen Dank.
({7})
Der Kollege Pascal Kober ist der nächste Redner für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
wird Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, wohl kaum verwundern, dass wir von der FDP eine
grundsätzliche Sympathie für den Kerngedanken Ihres
Antrages empfinden. Immerhin greifen Sie ein Kernelement liberaler Gerechtigkeitsvorstellungen auf, das wir
gerne unter dem Motto „Leistung muss sich lohnen“
zum Ausdruck bringen.
({0})
Dass das natürlich für jede und jeden gelten muss, ist uns
völlig klar. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten für
ALG-II-Empfänger verbessern möchten.
({1})
Sie greifen allerdings mit Ihrem Antrag viel zu kurz.
Es kann doch nicht nur um die Jugendlichen gehen, die
in den Schulferien arbeiten. Was ist denn beispielsweise
mit denen, die wöchentlich Zeitungen austragen oder
wöchentlich als Babysitter jobben? Auch in der Begründung Ihres Antrages greifen Sie viel zu kurz. Ihnen geht
es dort vor allen Dingen um die materielle Gleichstellung von Jugendlichen aus ALG-II-Bedarfsgemeinschaften mit anderen Jugendlichen. Das ist in der Tat ein berechtigtes Anliegen. Wir von der FDP haben aber noch
einen anderen Fokus. Ganz entscheidend sind für uns Liberale die Erfahrungen, die Jugendliche bei der Aufnahme einer solchen Tätigkeit machen können. Es geht
dabei um Erfahrungen des Gelingens, die Entwicklung
von Selbstbewusstsein und das Erlernen von Vertrauen
in die eigenen Fähigkeiten.
({2})
Das alles sind innere Kompetenzen. Wir wissen aufgrund von Studien, dass solche Kompetenzen leider bei
Kindern aus Familien in prekären Lebensverhältnissen
überdurchschnittlich häufig fehlen oder zu gering ausgeprägt sind. Der Gedanke der Vermittlung von Erfahrung
des Gelingens steht für uns Liberale im Vordergrund.
Natürlich dürfen wir nicht vergessen, Missbrauch auszuschließen. Wir müssen Regelungen finden, bei denen die
Vorzüge für die Jugendlichen herausgearbeitet sind und
bei ihnen ankommen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Ihr
Antrag greift nicht nur zu kurz, sondern ist nach unserer
Auffassung auch etwas voreilig. Wir haben im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir die Verbesserung der
Hinzuverdienstmöglichkeiten für ALG-II-Empfänger in
Angriff nehmen wollen, dass wir in diesem Bereich also
tätig werden wollen.
({4})
In diesem Zusammenhang werden wir Ihren Kerngedanken aufgreifen und ihn in ein schlüssiges Gesamtkonzept
einarbeiten, das sicherstellt, dass Missbrauch ausgeschlossen ist und alle - auch in Ihrem Sinne - profitieren
können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Von der sozialrechtlichen Systematik des
SGB II her scheint alles klar zu sein: Auch der Verdienst
aus einem Ferienjob stellt ein Einkommen dar, und Einkommen ist vorrangig einzusetzen, bevor Sozialleistungen greifen. Insofern gilt der Nachranggrundsatz bei der
Leistung nach SGB II.
Das, was sozialrechtlich einleuchtet, muss aber nach
dem Alltagsverständnis und dem Verständnis von Gerechtigkeit längst nicht plausibel sein. Ebenso wie die
Menschen im Lande nicht verstehen können, warum
eine Kindergelderhöhung, die jetzt anstehen soll, bei
denjenigen nicht greift, die das Geld am nötigsten haben,
nämlich bei den ALG-II-Beziehern, versteht die Öffentlichkeit auch nicht, warum ausgerechnet Ferienjobs von
Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die auch der
Stärkung des Selbstbewusstseins des Einzelnen dienen
- das wurde schon vielfach beschworen -, größtenteils
angerechnet werden sollen.
({0})
Ich bitte Sie alle, sich einmal an die eigene Jugend zu
erinnern. Der Kollege Birkwald hat sein erstes eigenes
Geld mit dem Backen von Hundekuchen und ich selber
habe es mit anderen Tätigkeiten, nämlich mit dem Eintüten von Kalendern, verdient. Wir alle haben unser erstes
Geld wahrscheinlich als Schülerinnen und Schüler hinzuverdient. Versuchen Sie einmal, sich emotional in die
Lage zu versetzen, in der Sie sich damals befunden haben, als am ersten Zahltag endlich die knisternden Geldscheine in der Hand lagen und Sie sich voller Stolz sagen
konnten: Das ist meins. Das ist nicht das Taschengeld.
Das ist mein erstes selbst verdientes Geld.
Versuchen Sie einmal, sich vorzustellen, wie Sie sich
gefühlt hätten, wenn in diesem Moment die harte Hand
des Jobcenters zugegriffen und man Ihnen gesagt hätte:
Nein, das stimmt gar nicht. Mehr als die Hälfte davon
bekommst du erst gar nicht. - Diese Demotivation bedeutet eine Zerstörung der Eigenmotivation und auch,
Herr Schiewerling, der kleinbürgerlichen Tugendhaftigkeit, auf die Sie aufbauen und auf die Sie sich in Ihrer
Politik beziehen.
({1})
Insofern müssten Sie ein Interesse daran haben, das
zu ändern.
Ich sage Ihnen aber auch: Sie kommen nicht damit
durch, dass Sie sich mit verbesserten Hinzuverdienstmöglichkeiten oder erhöhtem Schonvermögen an der
Stelle sozialpolitisch reinwaschen. Was bleibt, ist die
große Aufgabe, die Regelsätze für Kinder und Jugendliche zu erhöhen. Das dürfen wir in dieser Debatte nicht
vergessen.
({2})
Ich sage Ihnen heute auch - vielleicht haben Sie es
schon im Nachrichtenticker gelesen -: Auf der Arbeitsund Sozialministerkonferenz in Berchtesgaden, die
heute getagt hat, wurde mit 15 Stimmen bei einer Enthaltung entschieden, zu fordern, im Rahmen des Kinderregelsatzes Kosten für Bildung vorzusehen, also endlich
einen höheren Regelsatz für Kinder zu verlangen. Das
bleibt eine Aufgabe, die Ihnen ins Stammbuch geschrieben ist. Darauf werden wir auch immer hinweisen.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 17/76 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden?
({0})
- Ganz überwiegend? Gibt es irgendjemanden, der damit
nicht einverstanden ist? - Das ist nicht der Fall. Dann
stelle ich das vermutete Einvernehmen zu dieser Überweisung hiermit fest.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf
Mittwoch, den 2. Dezember 2009, 13 Uhr, ein.
Bis dahin wünsche ich Ihnen, für welche anderen Interessen und Verpflichtungen auch immer, alles erdenklich Gute.
Ich schließe hiermit die Sitzung.