Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/26/2009

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben. ({0}) Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges Mitglied Hans Matthöfer, der am 14. November dieses Jahres im Alter von 84 Jahren nach langer und schwerer Krankheit verstarb. Hans Matthöfer wirkte als Mitglied des Deutschen Bundestages und als Angehöriger der Bundesregierung über viele Jahrzehnte in herausragenden Ämtern für die Bundesrepublik Deutschland. Hans Matthöfer wurde am 25. September 1925 in Bochum als Kind eines Hütten- und Fabrikarbeiters geboren. Nach Volksschule und Beginn einer kaufmännischen Lehre durchlebte er als junger Soldat von 1943 bis 1945 die Schrecken des Krieges. Nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft schloss Hans Matthöfer im Juli 1946 eine Dolmetscherprüfung sowie anschließend seine Lehre als Industriekaufmann erfolgreich ab. Über den zweiten Bildungsweg schloss er das Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 1953 als Diplomvolkswirt ab und arbeitete dann bis 1957 in der Abteilung Wirtschaft beim Vorstand der Industriegewerkschaft Metall. Danach war er bei der Vorläuferorganisation der OECD in Washington und Paris tätig und kehrte 1960 nach Frankfurt zurück, wo er bis Anfang der 70er-Jahre die Abteilung Bildungswesen beim Vorstand der IG Metall leitete. Seit 1950 engagierte sich Hans Matthöfer in der SPD, deren Bundesvorstand er von 1973 bis 1984 angehörte. Von 1985 bis 1987 war er Schatzmeister der SPD sowie bis 1990 Mitherausgeber des Vorwärts. Hans Matthöfer wurde 1961 in den Deutschen Bundestag gewählt, dem er ohne Unterbrechung bis 1987 angehörte. In den 26 Jahren seiner Parlamentszugehörigkeit gehörte er verschiedenen Ausschüssen an und war 1985/1986 stellvertretender Vorsitzender der EnqueteKommission „Technikfolgenabschätzung und -bewertung“. Von 1972 bis 1982 gehörte Hans Matthöfer in verschiedenen Funktionen der Bundesregierung an, zunächst als Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Von 1974 bis 1978 war er Bundesminister für Forschung und Technologie. Von 1978 bis 1982 übernahm er das Amt des Bundesministers der Finanzen, und von Mai bis Oktober 1982 war er Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen. Nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag 1987 hat er sich aktiv in der Wirtschaft, insbesondere in gemeinwirtschaftlichen Unternehmen, engagiert. Zeitlebens war Hans Matthöfer sowohl in Europa als auch international für Demokratie und Menschenrechte engagiert. Besondere Würdigung verdient sein Einsatz für die Demokratisierung Spaniens. Hans Matthöfer hat Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik in wichtigen Ämtern und Funktionen mitgestaltet und sich durch sein Handeln um unser Land und seine Menschen große Verdienste erworben. Wir werden ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren. Ich spreche seiner Familie im Namen des Hauses meine Anteilnahme aus. Sie haben sich zu Ehren des Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben; ich danke Ihnen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin Christel Humme hat gestern ihren 60. Geburtstag gefeiert. Ich darf ihr im Namen des Hauses herzlich gratulieren, ({1}) ebenso dem Kollegen Dr. Hermann Kues, der den gleichen Geburtstag bereits vor einigen Tagen beging. ({2}) Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz auf Drucksache 17/15 soll dem Haushaltsausschuss zusätzlich nach § 96 unserer Geschäftsordnung überwiesen werRedetext Präsident Dr. Norbert Lammert den. Hier handelt es sich also nur um die Ergänzung einer bereits stattgefundenen Überweisung. Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan ({3}) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 ({4}) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1890 ({5}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksache 17/39 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({6}) Innenausschuss Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Auf der Ehrentribüne hat eine afghanische Delegation Platz genommen. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Bundestages begrüße ich Sie herzlich. Wir freuen uns über Ihr Interesse an dem für Sie wie für uns bedeutsamen Tagesordnungspunkt. ({7}) Für Ihren Aufenthalt in Deutschland und für Ihr weiteres Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister des Auswärtigen Dr. Westerwelle. ({8})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren aus Afghanistan, die Sie heute diese Debatte mitverfolgen! Wir freuen uns, wie Sie an dem Begrüßungsbeifall gemerkt haben, dass Sie heute als demokratische Repräsentanten unserer Debatte beiwohnen. Wie schwierig und wie gefährlich der Einsatz in Afghanistan ist, davon konnte ich mich erneut in der letzten Woche in Kabul und Masar-i-Scharif überzeugen. Ich kehre mit großem Respekt vor der Leistung der Frauen und Männer zurück, die dort ihre Arbeit tun. Darum beginne ich ausdrücklich mit dem Dank an diejenigen, die in Afghanistan für Deutschland ihren Dienst tun, sei es in Zivil, sei es in Uniform. ({0}) Ich füge hinzu: Dieser Einsatz ist ein schwieriger Einsatz; das weiß hier jeder. Es ist auch ein politisch schwieriger Einsatz, weil ein Auslandseinsatz der Bundeswehr selbstverständlich getragen werden muss von dem Parlament, von der Gesellschaft, auch von dem Vertrauen unseres Parlamentes und unserer Gesellschaft. Deswegen füge ich mit großem Nachdruck hinzu: Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit schaffen die Grundlage für Vertrauen. Das ist die Regierung dem Parlament auch schuldig. Ich will das nachdrücklich sagen. ({1}) Wir engagieren uns in Afghanistan aus Menschlichkeit, aber vor allem aus unserem ureigenen Sicherheitsinteresse. Afghanistan und das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet dürfen nicht erneut zum Rückzugsgebiet für Terroristen werden. Damit wir hier in Freiheit und Sicherheit leben können, auch dafür ist der Einsatz da. Deswegen möchte ich zunächst einmal nachdrücklich unterstreichen: Ja, wir wollen den zivilen Aufbau. Wir wollen dafür sorgen, dass ein Aufbau eigener ziviler und Sicherheitsstrukturen in Afghanistan möglich ist. Ja, wir wollen auch menschlich helfen, aber die menschliche Hilfe setzt Sicherheit voraus, und ohne die Frauen und Männer der Bundeswehr gibt es keine Sicherheit für den zivilen Aufbau. Dieser Zusammenhang darf nicht geleugnet werden. ({2}) Deswegen knüpfe ich an das an, was von dem Außenminister der letzten Bundesregierung immer wieder gesagt worden ist: Ein kopfloses Ende des internationalen Einsatzes in Afghanistan wäre unverantwortlich. Dadurch würde in dieser explosiven Region der Welt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Iran und zu den Nuklearmächten Pakistan und Indien eine Zone der Instabilität von bisher unbekanntem Ausmaß geschaffen. Das können wir nicht zulassen. Hier geht es um unsere eigene Sicherheit. Auch deswegen beschließen wir diesen Einsatz. ({3}) Sicherheit ist das Schlüsselwort. Ohne Sicherheit gibt es in Afghanistan keine wirtschaftliche Entwicklung, keinen Aufbau demokratischer Institutionen, keine Freiheit und keine Gleichberechtigung. Ohne Sicherheit werden in Afghanistan keine Brunnen, keine Krankenhäuser und keine Schulen gebaut, schon gar nicht für Mädchen. Sicherheit ist daher das Schlüsselwort für unseren Einsatz. Darauf konzentrieren wir uns: auf den Schutz und die Sicherheit Deutschlands und Europas, auf die Verbesserung der Sicherheit für die Menschen in Afghanistan, aber auch auf die bestmögliche Sicherheit für deutsches Zivilpersonal und unsere Soldaten. Ihnen müssen wir vor allem die richtige Ausrüstung zur Verfügung stellen, und auch darauf wird die Bundesregierung ihr Handeln ausrichten. In der letzten Woche habe ich den Grundstein für eine Außenstelle der Polizeiakademie in Masar-i-Scharif legen können. Das ist das ganz praktische Ergebnis unserer Strategie. Wer Afghanistan sicherer machen will, muss für mehr afghanische Polizisten sorgen. Der deutsche Beitrag zur Polizeiausbildung ist beträchtlich und wird nicht nur in Afghanistan, sondern auch international hoch geschätzt. Er muss rasch weiter ausgebaut werden. Unser Ziel ist eine selbsttragende Sicherheit in Afghanistan, damit eine Übergabe der Verantwortung in Verantwortung erfolgen kann. Wir wollen mit dem Konzept der selbsttragenden Sicherheit so weit kommen, dass eine Abzugsperspektive in Sicht gerät. Niemand will diesen Einsatz bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag, und weil niemand das will - das wissen wir -, muss selbsttragende Sicherheit geschaffen werden. Das steht im Mittelpunkt unserer politischen Bemühungen. ({4}) Das heißt, dass es um den Aufbau der Polizei vor Ort geht. Dazu werden wichtige Weichenstellungen schon im Januar, mutmaßlich auf einer eigenen AfghanistanKonferenz, gemeinsam mit unseren internationalen Partnern vorgenommen werden. Ich möchte nachdrücklich darauf hinweisen: Über 40 Staaten beteiligen sich an der vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mandatierten Mission. Deutschland wird und muss einen seiner wirtschaftlichen und politischen Bedeutung entsprechenden Beitrag dazu leisten. Weil diese Diskussion stattfindet, möchte ich noch einmal unterstreichen: Wir setzen das Afghanistan-Mandat fort - in der bekannten Zahl. Wir wissen, dass es bei unseren Verbündeten international eine Diskussion über Ziele und Strategien gibt. Aber das ist die richtige Reihenfolge: Erst die Ziele definieren, dann die Strategie im Bündnis mit unseren Partnern verabreden, und erst dann kann es um die Frage gehen, was das konkret für den Einsatz bedeutet. Wenn man sagt, dass mehr Soldaten eingesetzt werden müssen, bevor man die Strategie im Bündnis gemeinsam verabredet hat, ist das die falsche Reihenfolge. Das sage ich hier mit großem Nachdruck. ({5}) Der wichtigste Bündnispartner in diesem Einsatz bleiben die Afghanen selbst. Nicht die internationale Gemeinschaft fällt Entscheidungen über Afghanistan, sondern wir helfen, damit Afghanen mit Afghanen über die Zukunft ihres Landes entscheiden können. Das bedeutet auch, dass die Vorstellung, die es gelegentlich noch gibt, wir könnten ein Afghanistan gewissermaßen nach unserem westlichen Bilde schaffen, nicht realistisch ist. Auch das gehört zur Ehrlichkeit dazu. Mit Blick auf die anstehende Afghanistan-Konferenz und unser künftiges Engagement bedeutet das folgende Zielvorgaben - ich will sie kurz schildern -: Erstens. Wir müssen an eine stärkere afghanische Eigenverantwortung appellieren. Deswegen werden wir mit dem gewählten Präsidenten Karzai zusammenarbeiten. Gleichzeitig haben wir unsere Ansprüche an ihn und seine Regierung, insbesondere bei der guten Regierungsführung und bei der Korruptionsbekämpfung; das haben alle Bündnispartner, auch ich selbst, vor Ort ausdrücklich und glasklar formuliert. In seiner Rede zur Amtseinführung fand Präsident Karzai die richtigen Worte; das will ich ausdrücklich anerkennen. Jetzt müssen den richtigen Worten richtige Taten folgen. Je mehr die Afghanen für sich selbst tun, desto mehr kann die internationale Gemeinschaft für Afghanistan tun. Korruptionsbekämpfung und gute Regierungsführung sind für den Erfolg unverzichtbar. ({6}) Zweitens. Wir müssen erreichen, dass mehr Afghanen den Aufständischen widerstehen. Wer zur Aufgabe des Kampfes bereit ist und bestimmte Mindestkriterien erfüllt, der sollte ein Angebot zur Rückkehr in die afghanische Gesellschaft erhalten. Nur so können wir auch den harten Kern der Taliban isolieren. Drittens. Wir müssen auf eine regionale Lösung hinarbeiten. Die von der Region ausgehende Destabilisierungsgefahr kann nur verringert werden, wenn wir die Nachbarstaaten in unsere Bemühungen einschließen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Bitte, Herr Kollege.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön, Herr Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Außenminister, bevor Sie zum Ende kommen, wollte ich wissen - Sie haben den Punkt der Ehrlichkeit angesprochen -: Wie bewerten Sie angesichts des in der Bild-Zeitung veröffentlichten Berichts, demzufolge von Anfang an Kenntnis über zivile Opfer vorlag, die Informationspolitik des Verteidigungsministeriums in der Amtszeit Ihres Kollegen Jung? Dieses Haus wurde von der Bundesregierung bislang nicht darüber unterrichtet.

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Ich mache darauf aufmerksam, dass in dieser Debatte noch andere Wortmeldungen erfolgen werden, und bitte um Verständnis dafür. ({0}) Offen gestanden glaube ich: Wenn ich hier als Außenminister zum ersten Mal ein solches Mandat einbringe, dann sollten wir der Debatte Genüge tun. Das gilt auch für Zwischenfragen, die nichts anderes zum Zwecke haben, als eigene Süppchen zu kochen. Das ist völlig unangemessen. ({1}) Sie wissen, dass es längst Entscheidungen gibt. Es ist nicht an mir, hier zu diesen Entscheidungen zu sprechen. ({2}) - Frau Kollegin Künast, Sie rufen dazwischen. Ich muss Sie fragen: Wissen Sie eigentlich, worüber wir hier reden? ({3}) Wir reden darüber, dass Frauen und Männer in Gefahr kommen. Sie sitzen in der ersten Reihe und lesen Zeitung. Es ist absolut inakzeptabel und würdelos, wie Sie das hier machen. ({4}) Ich bitte Sie im Namen der Bundesregierung um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des ISAF-Mandates, damit Deutschland entsprechend seinen wohlverstandenen eigenen Sicherheitsinteressen handeln kann, damit unser Land ein verantwortungsvoller und verlässlicher Bündnispartner bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus bleibt, damit die Stabilisierung Afghanistans gelingt und wir die Voraussetzungen für eine verantwortungsvolle Übergabe schaffen können. Ich würde mir wünschen, dass sich die Damen und Herren aus der Opposition in dieser Stunde ihrer eigenen Verantwortung in diesem Hohen Hause bewusst sind, so wie wir uns in der Opposition bei dieser Frage immer unserer Verantwortung bewusst gewesen sind. Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zunächst aber erhält das Wort der Kollege Johannes Pflug für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Pflug (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit dem Jahre 2001 engagieren wir uns nun zivil und militärisch in Afghanistan. Es ist heute das zehnte Mal, dass der Deutsche Bundestag das ISAFMandat für Afghanistan verlängern soll. Ziele des Einsatzes in Afghanistan waren im Jahre 2001 - ich habe damals dazu gesprochen - folgende: Punkt eins. Wir wollen versuchen, das internationale Terrornetzwerk von Bin Laden, von al-Qaida zu zerstören, mindestens nachhaltig zu stören. Punkt zwei. Wir wollen versuchen, so etwas wie regionale Stabilität in Afghanistan zu erreichen. Punkt drei. Wir wollen versuchen, den Afghanen dabei zu helfen, einen Staat, eine Verwaltung aufzubauen und eine - so habe ich mich auch damals ausgedrückt halbwegs funktionierende Demokratie zu errichten. Wer diese Ziele betrachtet, muss zu dem Ergebnis kommen: Es sind Ziele, die im afghanischen Interesse sind, die im internationalen Interesse sind und die natürlich auch im deutschen Interesse sind. Mittlerweile sind acht Jahre vergangen. Wir stehen nicht zuletzt bei der afghanischen Bevölkerung im Wort. Seit dem Sturz der Taliban im Jahre 2001 haben wir manches erreicht. Unser militärisches und ziviles Engagement in Afghanistan hat Früchte getragen. Sie kennen die Zahlen: 3 500 Schulen sind errichtet worden. Landesweit geht rund die Hälfte der Kinder zur Schule, davon sind mittlerweile 40 Prozent Mädchen. 25 Prozent des Lehrpersonals sind Frauen. 85 Prozent der afghanischen Bevölkerung haben Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung. Die Kindersterblichkeit ist erheblich zurückgegangen. Das sind Erfolgszahlen. Das ist das Ergebnis internationaler Solidarität. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linken, wenn ich solche Zahlen sehe, dann erinnere ich mich immer daran, dass Sie auf Ihren Veranstaltungen gerne rufen: Hoch die internationale Solidarität. ({0}) Ich frage mich, ob Sie übersehen, was diese Mädchen und Frauen, die uns hier regelmäßig besuchen, einfordern. Sie sagen immer: Ihr könnt uns nicht im Stich lassen. Ihr könnt jetzt nicht aus Afghanistan weggehen. ({1}) Dennoch führen massive Rückschläge zu zunehmender Besorgnis und Ablehnung des deutschen Afghanistan-Einsatzes in unserer Bevölkerung. Das bedeutet: Wir können nicht einfach so weitermachen wie bisher. Denn es gibt gewaltige Probleme in Afghanistan. Es gibt eine steigende Zahl von Selbstmordanschlägen. Es gibt eine starke Korruption. Es gibt die Drogenproblematik. Es gibt aber auch Probleme im Zusammenhang mit unseren eigenen Einsätzen. Herr Minister Jung, Sie werden erwartet haben, dass dies angesprochen wird. Man kann heute nicht einfach so tun, als sei nichts geschehen. ({2}) Die Berichte, die es seit letzter Nacht bzw. heute Morgen gibt, lassen sehr ernste Befürchtungen aufkommen. Ich sage ganz deutlich: Wenn es richtig ist, was die Medien berichten - Sie schütteln mit dem Kopf; ich bin nicht für das verantwortlich, was die Medien berichten; ({3}) es steht in der Bild-Zeitung und war heute Morgen im Fernsehen zu hören -, dass Sie dem Parlament Informationen gezielt vorenthalten haben, ({4}) Informationen nicht gegeben haben, dann ist das mehr als ein ernster Vorgang. ({5}) Herr Minister Jung, wenn das richtig ist, dann wird Ihnen klar sein, dass Sie an einem Untersuchungsausschuss nicht vorbeikommen, es sei denn, Sie ziehen vorher die Konsequenzen. ({6}) Heute Morgen wurden im Fernsehen Ausschnitte eines Videofilms gezeigt, und es wurde darüber berichtet, dass ein Bericht der Feldjäger vorgelegen haben soll, den Sie offensichtlich entweder nicht zur Kenntnis bekommen oder über den Sie das Parlament nicht informiert haben. Wenn es stimmt, dass angeordnet wurde, die Zivilpersonen oder meinetwegen auch die Taliban, die sich an dem Platz in Kunduz aufgehalten haben, nicht durch Tiefflüge zu vertreiben - das wurde in der Berichterstattung auch gesagt -, dann ist das ein verdammt ernster Vorgang. Ich sage ganz deutlich: Das erfordert einen Untersuchungsausschuss. ({7}) Wir müssen klarstellen: Nach dieser langen Zeit steht der Einsatz der Bundeswehr natürlich an einem Wendepunkt. Wir müssen uns fragen: Was haben wir in Afghanistan bisher erreicht? Was können wir dort noch erreichen? Welche Dinge sind schiefgelaufen? Herr Minister zu Guttenberg, ich vertraue darauf, dass Sie das, wie Sie gesagt haben, rückhaltlos überprüfen und das Parlament entsprechend unterrichten werden. Die Fragen „Was ist schiefgelaufen?“ und „Was können wir noch machen?“ müssen wir ehrlich beantworten. Der Hintergrund muss dabei sein, dass wir uns natürlich nicht ewig in Afghanistan aufhalten können, unser Engagement dort nicht ewig fortsetzen können. Unser Fraktionsvorsitzender und ehemaliger Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat frühzeitig eine sogenannte Roadmap bzw. einen Zehnpunkteplan vorgelegt, in dem die für einen Abschluss des AfghanistanEinsatzes in den nächsten Jahren notwendigen Schritte aufgezeigt werden. Dabei gilt natürlich der Grundsatz - er ist für uns unbestritten -: Je schneller die afghanische Armee und Polizei in der Lage ist, selbst für Sicherheit im Land zu sorgen, desto früher können die internationalen Truppen abziehen. Wir müssen sehr viel entschlossener gegen Korruption, Misswirtschaft und organisierte Kriminalität vorgehen. Die internationale Gemeinschaft muss eine gute Regierungsführung stärker und entschiedener einfordern. Auch das Problem des Drogenanbaus muss endlich gelöst werden. Dabei muss vor allen Dingen der neue, wiedergewählte Präsident Karzai - natürlich darf man erhebliche Zweifel am Grad seiner demokratischen Legitimation anmerken; aber er ist nun einmal im Amt in die Pflicht genommen werden. Die Stabilität Afghanistans ist für die Sicherheitslage in der gesamten zentralasiatischen Region wichtig und notwendig. Ohne ein stabiles Afghanistan wird die Stabilität der benachbarten Staaten immer bedroht sein. Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan grenzen unmittelbar an Afghanistan und müssen ihre Grenzen schützen. Letzte Berichte über eine zunehmende Konzentration von Islamisten und Terroristen im FerghanaTal müssen uns sehr besorgt machen. Die zentrale Rolle spielt allerdings Pakistan. Das Land ist für die Islamisten immer noch logistisches Hinterland. Zwar ist Pakistan am Kampf gegen den Terror beteiligt; aber Pakistan ist viel zu schwach, instabil und intern zerstritten, um wirksam handeln zu können. Es hat keinerlei Kontrolle über sein Grenzgebiet zu Afghanistan. Gleichzeitig ist Pakistan Atommacht. Es ist in unser aller Interesse, dass die Atomwaffen nicht in falsche Hände geraten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor genau einem Jahr war ich eine Woche in Pakistan. Damals standen die Taliban 150 bis 180 Kilometer von Islamabad entfernt. Es heißt, dass die amerikanische Regierung 200 bis 400 Millionen Dollar ausgegeben hat, um das Atomwaffenpotenzial zu sichern. Aber es gibt gerade in Pakistan neuere Erkenntnisse darüber, dass es um diese Sicherung gar nicht so gut bestellt ist, sondern dass es sehr schnell zu erheblichen Problemen kommen könnte. Deshalb werden wir die Idee einer internationalen Konferenz, die voraussichtlich am 28. Januar nächsten Jahres in London stattfinden soll, nachhaltig unterstützen. Allerdings sind wir der Meinung: Es wäre gut, wenn eine solche Konferenz in Afghanistan selbst stattfinden könnte, wenn dort die notwendige Sicherheit garantiert werden könnte.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Pflug.

Johannes Pflug (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich komme zum Ende. - Wir werden der Verlängerung des ISAF-Mandates zustimmen. Ich sage aber nochmals: Herr Minister zu Guttenberg, wir vertrauen darauf, dass Sie das, was passiert ist, rückhaltlos überprüfen und das Parlament darüber informieren. Ich wiederhole: Wenn sich die Berichte als richtig erweisen, werden wir die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss stellen. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung, Dr. zu Guttenberg. ({0})

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Pflug, ich will gerne Stellung nehmen zu dem geheimen Untersuchungsbericht, über den die Bild-Zeitung heute berichtet. Dieser Bericht war mir zum Zeitpunkt meiner Erklärung zu dem Bericht des ISAF-Kommandeurs nicht bekannt. Ich habe ihn jetzt zum ersten Mal vorgelegt bekommen. Dieser Bericht wurde - wie andere Berichte und Meldungen aus der letzten Legislaturperiode - nicht vorgelegt. Hierfür wurde an maßgeblicher Stelle Verantwortung übernommen, und die personellen Konsequenzen sind erfolgt. ({0}) - Lassen Sie mich bitte ausreden! - Der Generalinspekteur hat mich gebeten, ihn von seinen Dienstpflichten zu entbinden. Ebenso hat Staatssekretär Wichert Verantwortung übernommen. - Wenn ich hier hämisches Lachen höre, will ich an dieser Stelle trotzdem beiden für ihren jahrzehntelangen Dienst für unser Land danken, meine Damen und Herren. ({1}) Selbstverständlich werden diese Berichte unverzüglich ausgewertet ({2}) und den Fraktionen zur Einsicht zur Verfügung gestellt. Das versteht sich von selbst, und das ist auch mein Verständnis von Transparenz, was den Umgang mit solchen Vorfällen anbelangt. ({3}) Der Bericht wird auch der Generalbundesanwaltschaft übergeben. Bei meinen jüngsten Besuchen in Afghanistan - ich grüße die Gäste, die heute hier sind - in Kunduz und in Masar-i-Scharif haben mir unsere Soldaten, aber auch die zivilen Helfer in persönlichen Gesprächen wiederholt mitgegeben, wie wichtig ihnen ist, dass die Debatte und die Diskussion über ihren Einsatz verantwortungsvoll geführt wird, in dem Sinne verantwortungsvoll, dass wir uns auch in diesem Rahmen ein gewisses Niveau in der Diskussion leisten, meine Damen und Herren. Umso wichtiger ist es, dass wir immer wieder darauf hinweisen, welchen Dienst die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen Helfer vor Ort leisten: Sie sind motiviert, sie sind professionell, sie sind pflichtbewusst, sie haben selbstverständlich auch Emotionen, und sie leisten Vorbildliches. Auch an einem Tag, wo man über Dinge diskutiert wie die, über die wir heute diskutieren, dürfen wir ihnen von Herzen danken für ihren Einsatz, den sie vor Ort annehmen und entsprechend wahrnehmen. ({4}) Sie stellen sich jeden Tag der Gefahr von Verwundung oder Tod. Diese Wahrheit gehört zu dem Einsatz ebenso wie die, dass in Teilen Afghanistans kriegsähnliche Zustände herrschen. Unsere Soldatinnen und Soldaten wissen das. Ihre Einschätzung muss für uns ebenso wichtig sein wie manche, die wir gelegentlich aus der Ferne wahrnehmen. Seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes bis heute sind 36 Soldatinnen und Soldaten gefallen bzw. gestorben und über 120 wurden verletzt bzw. verwundet. Von daher, meine Damen und Herren, dürfen wir uns unsere Entscheidung wie bislang alles andere als leicht machen. Unsere Entscheidung hat in dieser Hinsicht größtes Gewicht. Sie hat mit unserer Verantwortung gegenüber unseren Soldaten zu tun, einer Verantwortung, die letztlich Leben und Tod beinhaltet. Sie ergibt sich - Kollege Westerwelle hat darauf hingewiesen - aus unseren Sicherheitsinteressen. Diese Sicherheitsinteressen sind weiterhin maßgeblich gegeben. Unsere Verantwortung ergibt sich aber auch aus Bündnisverpflichtungen; auch das wollen wir nicht vergessen, meine Damen und Herren. Es ist eine gestaltende Aufgabe, bei der wir gefordert sind und bei der wir Ergebnisse nur im Zusammenwirken mit unseren Partnern erzielen können. Meine Damen und Herren, wir sollten aufhören, den Afghanistan-Einsatz lediglich zum Lackmustest für die NATO herabzustilisieren. Wenn er überhaupt ein Lackmustest ist, dann einer für die gesamte internationale Gemeinschaft. ({5}) Ich halte es für einen richtigen und für einen klugen Schritt, dass wir Anfang des nächsten Jahres auf einer Afghanistan-Konferenz zusammen mit den Vertretern Afghanistans auch diesen unseren Einsatz neu justieren und auf eine neue Grundlage stellen. Die Frau Bundeskanzlerin hat dazu gemeinsam mit dem britischen PreBundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg mierminister und mit dem französischen Präsidenten den Anstoß gegeben. Sie können von der Bundesregierung daher zu Recht einen entsprechenden Beitrag erwarten, einen gestaltenden Beitrag inhaltlicher Art zunächst: wie diese Afghanistan-Konferenz zu sehen ist und welche Impulse wir geben können. Ich fand sehr richtig, dass Kollege Westerwelle gesagt hat, wie die Abfolge zu sein hat: dass wir uns jetzt nicht den Planungen anderer unterwerfen, sondern dass wir unseren Zeitrahmen so einhalten, dass auch eine sinnvolle Debatte im Bundestag, eine Einbindung des Parlamentes, stattfinden kann, damit wir auch unseren Traditionen gerecht werden. Meine Damen und Herren, wir müssen den Afghanistan-Einsatz gerade auch - das klingt so furchtbar banal und ist trotzdem so entscheidend - vom Ende her denken. Das erfordert eine Klarheit hinsichtlich der Ziele, eine klare Ansprache dessen, was wir erreichen wollen, und eine entsprechend tief gehende Diskussion. Vor allen Dingen müssen wir noch deutlicher festlegen, wie und unter welchen Umständen wir diesen Einsatz auch beenden können. Ich werde mich dafür einsetzen, dass hier ein klarer Rahmen definiert wird. Das erwarten die Menschen in unserem Lande von der politischen Führung, und auch die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz dürfen von uns erwarten, dass wir uns hier klar sind. ({6}) Deshalb trete ich auch und gerade international für die Festlegung klarer Benchmarks, wie man das heute neudeutsch nennt, ein. Wir werden auch unsere nationalen Grundlagen und Strukturen angehen, wenn wir über die Koordinierung und über die Führung unseres Gesamtengagements sprechen. Das schließt im Übrigen die eigentlich selbstverständliche Erkenntnis mit ein, dass die Bundeswehr alleine nicht für die Erreichung unserer Ziele und die Lösung der jeweiligen Probleme sorgen kann. Es ist also gut und richtig, dass wir im Zuge der heutigen Diskussion über das Mandat ISAF, über den Einsatz, gerade auch diese Vernetzung miteinander diskutieren. Es reicht jedoch nicht, immer nur den Blick auf einen Teil zu richten. Wir müssen ressortgemeinsam handeln. Ich kann nur sagen: Die Art, wie wir uns miteinander abstimmen, ({7}) stimmt mich sehr zuversichtlich, dass die jeweils beteiligten Ressorts den Afghanistan-Einsatz als eine gemeinsame Aufgabe ansehen und dieser gemeinsamen Aufgabe auch mit aller Kraft und unter Bündelung aller Anstrengungen nachgehen. Dieses Ziel ist klar formuliert: Wir wollen, dass die Afghanen bald selbst in der Lage sind, für ihre Sicherheit zu sorgen. Das ist das, was wir „Übergabe in Verantwortung“ nennen. Die Übergabe in Verantwortung ist übrigens nicht mit einer Exit-Strategie gleichzusetzen, mit der ein Enddatum gesetzt wird. Es zeugt nur von einer begrenzten Weisheit, ein Enddatum zu setzen, weil wir damit, wenn wir sagen: „Zu diesem oder jenem Zeitpunkt soll der letzte Soldat Afghanistan verlassen haben“, im Grunde eine Steilvorlage für all jene liefern, die die Destabilisierung Afghanistans weiterhin zum Ziel haben. Von daher ist es wichtiger, Zielmarken zu setzen - auch Zielmarken für den Beginn der Übergabe von Verantwortung - und diese Zielmarken klar zu definieren. Von Afghanistan darf keine Gefahr mehr für die internationale Sicherheit ausgehen. Wir sprechen gerne über Aufständische, und wir sprechen in dem Zusammenhang gerne auch darüber, dass der Konnex zur internationalen Sicherheit gesucht werden muss; das ist richtig. Wahrscheinlich muss man auch noch etwas genauer hinblicken und prüfen, ob jeder, den wir bisher unter „aufständisch“ subsumiert haben, jemand ist, der die internationale Sicherheit gefährdet, oder ob man an der einen oder anderen Stelle auch klarere Trennlinien ziehen muss. Wir müssen es verhindern, dass Afghanistan wieder zum Ruhe- und Rückzugsraum für den internationalen Terrorismus wird. Es gibt weiterhin klare Gefährdungen: auch durch terroristische Maßnahmen und damit auch mit Blick auf unser Land.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Aber gerne.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, nach dem, was Sie vorhin zu den Berichten der Bild-Zeitung gesagt haben, frage ich Sie, bevor Sie diese allgemeinen Ausführungen zur Strategie in Afghanistan zu Ende führen: Sind Sie bereit, Ihre persönliche Rechtfertigung des Einsatzes der Bundeswehr gegen die Tanklastwagen bei Kunduz zu korrigieren? Nach dem, was Sie jetzt wissen - offenbar sind die Berichte ja richtig, sonst hätten Sie sie dementiert -, können Sie Ihre Rechtfertigung doch nicht mehr aufrechterhalten. Ich schließe eine zweite Frage an: Halten Sie es im Deutschen Bundestag nicht mehr für richtig, dass ein Minister, dessen Ministerium hinsichtlich der Kommunikationspolitik ganz offensichtlich völlig versagt hat und den Eindruck eines Tollhauses macht - man muss sich nur ansehen, dass die Berichte angeblich nicht angekommen sein sollen -, die Verantwortung für den Zustand seines Ministeriums übernimmt und die Konsequenzen daraus zieht?

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Kollege Ströbele, ich habe auf die Konsequenzen hingewiesen, und ich habe diese Konsequenzen nicht einem Medium mitgeteilt, sondern den Mitgliedern des Deutschen Bundestages, weil ich finde, dass sich das so gehört. Das ist der erste Schritt. ({0}) Zum Zweiten habe ich zu Beginn gesagt - Sie haben sicherlich genau zugehört; davon gehe ich bei Ihnen grundsätzlich aus -, dass ich meine Bewertung auf der Grundlage des COMISAF-Berichtes abgegeben habe. Das war der einzige Bericht, der mir - wann war das? ein paar Tage nach Amtsantritt vorlag. Ich werde selbstverständlich auch selbst eine Neubewertung der Fälle auf der Grundlage der Berichte, die mir in einer Gesamtschau gegeben sind, vornehmen. Auch das gehört sich, Herr Kollege. Ich glaube, damit sind die beiden Fragen entsprechend beantwortet. ({1}) Deutschland ist weiterhin der drittgrößte Truppensteller in Afghanistan. Das wird gelegentlich vergessen. Wir tragen die Verantwortung für einen großen Teil des Nordens Afghanistans. Es geht um eine Region - daran kann man gelegentlich erinnern -, die halb so groß ist wie Deutschland, in der rund 35 Prozent der afghanischen Bevölkerung leben. Die Stabilität und die Wirtschaftskraft dieser Region sind wichtig für ganz Afghanistan. Es lohnt auch gelegentlich, an den Aspekt Wirtschaftskraft einer Region zu erinnern. Auch das gehört in den Gesamtkontext mit hinein. Wir führen das Regionalkommando Nord und stellen dort maßgebliche Unterstützungsleistungen in den Bereichen Führung, Führungsunterstützung, Lufttransport, Sanitätsdienst, Sanitätsdienstlogistik sowie Aufklärung. Wir betreiben zwei der sogenannten PRT im Norden, namentlich in Kunduz und in Faizabad. Man darf an der Stelle auch sagen, dass sich in den letzten Monaten die Situation in Faizabad vergleichsweise positiv entwickelt hat, wohingegen bekannt ist, dass sich um Kunduz herum die Sicherheitslage signifikant verschärft hat und wir auch immer damit rechnen müssen, dass angesichts der Versorgungsrouten die laufende Situation nicht zwingend an jedem Ort einfacher werden muss. Wir beteiligen uns maßgeblich an der Ausbildung der afghanischen Streitkräfte. Eines der Schlüsselelemente zu einem Erfolg wird weiterhin gerade dieser Ausbildungsaspekt sein: Training, Training, Training, damit man die Übergabe an entsprechend ausgebildete Sicherheitskräfte stattfinden lassen kann. Daneben stellt die Bundeswehr Feldjäger zur Unterstützung der Polizeiausbildung im Einsatz. Auch die Polizeiausbildung bleibt eine wichtige Säule. Wir müssen hier weiterhin auch mit den europäischen Partnern alle Kraft daransetzen, dass die Polizeiausbildung in dem Umfang gewährleistet werden kann, den wir uns in seinen Höchstgrenzen vorstellen. Seit dem Jahr 2002 unterstützen wir den Aufbau der „Drivers and Mechanics School“ der afghanischen Streitkräfte in Kabul. Aus dieser Schule wächst mit unserer Unterstützung die Logistikschule der Armee auf. Wir werden uns auch weiterhin mit der „Afghan Defence University“ und der Pionierschule noch stärker in der Schullandschaft der Streitkräfte engagieren. Auch das ist ein wichtiger Punkt. Für unser Ziel selbsttragender Stabilität investieren wir in dem Sinne noch intensiver in die Ausbildungsunterstützung. Im kommenden Jahr werden innerhalb des Mandates und der Mandatsstruktur, die wir heute vorschlagen, noch mehr deutsche ISAF-Soldaten als Ausbilder der afghanischen Streitkräfte tätig sein. Ich will auch darauf hinweisen - das ist schon mitgeteilt worden -, dass ich zur Verstärkung unserer Truppe die Verlegung einer Infanteriekompanie nach Kunduz angewiesen habe. Diese Kräfte geben dem militärischen Führer vor Ort eine Handlungsfreiheit dahin gehend zurück, dass zusätzlich eine entsprechende Sicherheitskomponente gewährleistet werden kann, sodass die Durchhaltefähigkeit gewährleistet werden kann, was in dieser Provinz derzeit von größter Bedeutung ist. Wir werden dann den deutschen Beitrag im Rahmen des internationalen Gesamtengagements in Afghanistan aufgrund der Ergebnisse der internationalen Afghanistan-Konferenz einer erneuten Prüfung unterziehen und dort, wo es nötig ist, auch unter der notwendigen Befassung des Deutschen Bundestages Anpassungen vornehmen. Was erforderlich ist, soll getan werden. Aber das kann erst im Lichte der Afghanistan-Konferenz und im Lichte der nächsten Schritte gesehen werden. Ich will allerdings in Ergänzung zu dem, was Kollege Westerwelle bereits festgestellt hat, auch sagen: Der Rhythmus, der dadurch vorgegeben wird, dass wir zum einen wohl am 1. Dezember die Rede des amerikanischen Präsidenten zu erwarten haben und zum anderen bereits am 7. Dezember - sehr ehrgeizig - eine NATOTruppenstellerkonferenz stattfinden soll, wird uns nach meiner bzw. unserer Überzeugung nicht dazu bringen, zum 7. Dezember sofort und nacheilend Vorschläge auf den Tisch der internationalen Gemeinschaft zu legen. Wir wollen eigene Impulse geben. Wir wollen unseren strategischen Ansatz deutlich machen. Wir lassen uns deswegen nicht in ein Zeitkorsett zwängen. Das haben wir den Partnern schon mitgeteilt. Ich glaube, wenn wir hier eine eigene, klare Handschrift erkennen lassen und deutlich machen, wie wir im Rahmen des vernetzten Ansatzes Afghanistan so in die Lage versetzen wollen, dass eine Verantwortungsübergabe möglich ist, dann ist eine klare und gute Grundlage gelegt. Ich darf Sie alle um Unterstützung der Verlängerung dieses ISAF-Mandates bitten. Herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Paul Schäfer ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich beginne, wie Sie sich denken können, mit den Enthüllungen in der Tagespresse. Erstens. Herr Minister zu Guttenberg, es ist unumgänglich, diesem Haus den in Rede stehenden Geheimbericht zugänglich zu machen. Wir werden darauf bestehen, dass diese Vorgänge im Rahmen dieses Parlaments sorgfältig untersucht werden. Das ist unumgänglich. ({0}) Zweitens. Wenn es sich bestätigt, dass Herr Minister Jung sehr früh über zivile Opfer des Bombenangriffs vom 4. September Bescheid wusste und dennoch Parlament und Öffentlichkeit belogen hat, dann fordere ich die Kanzlerin auf, dem Herrn Minister Jung unverzüglich die Entlassungspapiere auszustellen. ({1}) Ein solcher Minister ist entweder unehrlich oder unfähig. Das gilt für jedes Ressort. Drittens. Wenn nun selbst die Bundeswehr feststellt, dass am 4. September inadäquat gehandelt wurde - so verstehen wir das -, dann fordere ich Sie auf, Herr Minister zu Guttenberg: Korrigieren Sie Ihre Aussage, dass die damalige Bombardierung militärisch angemessen gewesen sei! ({2}) Für die Linke jedenfalls gilt - wir bleiben dabei -: Es kann nicht angemessen sein, Menschen zu töten, nur weil sie möglicherweise Taliban oder Talibansympathisanten sind. Es ist nicht rechtens, wenn der Tod Unschuldiger leichtfertig in Kauf genommen wird. Das werden wir niemals akzeptieren. ({3}) Nun haben wir vom Herrn Minister gehört, man müsse die Strategie neu justieren. Es wurde gesagt: Wir sind jetzt an einem Wendepunkt. - Das Verblüffende ist: Das haben wir schon vor einem Jahr gehört. Damals haben sich die Hoffnungen auf die Präsidentschaftswahl fokussiert, und es wurde gesagt: Jetzt werden wir hoffentlich stabile Verhältnisse bekommen. - Ich könnte Ihnen nun jede Menge Zitate zum Beispiel aus der Tornadodebatte am 9. März 2007 präsentieren. Damals hat ein Kollege von der CDU, der jetzt auf der Regierungsbank sitzt, gesagt: Es bleiben uns realistischerweise nur noch 18 bis 24 Monate, um den Trend zur Destabilisierung zu stoppen und die Trendumkehr zu bewerkstelligen. Was sagen Sie denn heute, Herr von Klaeden? Ich könnte, wie gesagt, noch viel mehr Aussagen präsentieren. Die Sache ist doch ganz einfach: Wir werden seit Jahren mit Durchhalteparolen traktiert, die bislang nur auf eines hinausgelaufen sind, nämlich auf mehr Krieg. Es ist eine Tatsache: Seit 2007 hat sich die Zahl der NATOSoldaten in Afghanistan mehr als verdoppelt. Im gleichen Zeitraum hat sich die Zahl der Gefechte und Anschläge ebenfalls mehr als verdoppelt. Über diesen Zusammenhang muss man doch nachdenken. Es ist eine Tatsache, dass wir in diesem Jahr wieder einen traurigen Rekord an Opfern - auch an zivilen - haben werden. Die Bundeswehr war daran im September - auch das ist traurig - erstmals nennenswert beteiligt. Es ist auch eine Tatsache, dass sich nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Art der Kriegführung der Einflussbereich der Taliban immer weiter ausgedehnt hat und dass der zivile Aufbau vor allem dort, wo sich die Sicherheitslage zuspitzt, ins Stocken geraten ist. Schließlich ist es eine Tatsache, dass der militärisch gestützte Versuch, eine funktionierende Demokratie nach unserem Muster aufzubauen, gescheitert ist. Das hat nicht zuletzt die Wahlfarce gezeigt, die mit dem Geld und unter dem Schutz der NATO-Mitgliedstaaten durchgeführt worden ist. Deshalb sagen wir Ihnen: Hören Sie endlich auf, der Öffentlichkeit und sich selbst etwas vorzumachen. Nehmen Sie endlich diese Tatsachen zur Kenntnis und richten Sie Ihre Politik danach aus. ({4}) Selbst da, wo Sie diese Tatsachen anerkennen, ziehen Sie die falschen Schlüsse. Noch soll die Stärke des Bundeswehrkontingents nicht heraufgesetzt werden. Aber verklausuliert kündigen Sie Truppenerhöhungen an, spätestens nach der Afghanistan-Konferenz im nächsten Frühjahr. Wie sonst soll man es verstehen, wenn Sie sagen: Das muss auf den Prüfstand? Was die weitere Perspektive angeht, erfahren wir zumindest so viel - ich zitiere -: Die Bundesregierung strebt deshalb an, in dieser Legislaturperiode die Grundlagen dafür zu schaffen, dass im Rahmen von Isaf … mit einer Reduzierung auch der deutschen Militärpräsenz begonnen werden kann. Im Klartext: Bis Ende 2013 soll sich nichts tun. Dann, wenn es die NATO beschließt, soll der Rückzug Schritt für Schritt erfolgen. Distrikt für Distrikt soll den Afghanen übergeben werden. Afghanistan hat 400 Distrikte. Das kann also lang dauern. Ich frage Sie deshalb: Glauben Sie ernsthaft, dass Sie die Truppen noch acht Jahre oder mehr in Afghanistan werden halten können? Ich glaube das nicht. Das, was der Verteidigungsminister jetzt als neue strategische Ausrichtung präsentiert, geht in die falsche Richtung und ist völlig illusionär. Alle Welt weiß, dass die Taliban und die Aufständischen militärisch nicht zu besiegen sind. Dieser Krieg kann nicht gewonnen werden. Aber die NATO hält daran fest, dass man die Taliban durch noch entschlosseneres militärisches Vorgehen doch noch in die Knie zwingen kann. ({5}) Warum sonst sollen die Truppen nennenswert aufgestockt werden? Sie werden aufgestockt werden. Es ist illusionär, zu meinen, man könne durch mehr Aufbauhilfe die Bevölkerung dazu bringen, sich von den Taliban abzuwenden, wenn man gleichzeitig den Einsatz von Paul Schäfer ({6}) Gewalt vorantreibt. Mehr Bombardierung heißt mehr Hass, mehr Gewaltbereitschaft und mehr Entfremdung. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck, Herr Kollege?

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, gerne.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, Sie wissen, dass es in sehr dramatischen Situationen keine ganz klaren Antworten gibt. Ich bin jetzt sechs Tage in Pakistan gewesen, wo kein westliches Militär stationiert ist und wo in den Stammesgebieten, den Grenzgebieten zu Afghanistan, die Zahl der Toten in der Zivilbevölkerung in den letzten fünf Jahren von 180 auf über 6 000 gestiegen ist. Inzwischen haben die Taliban und al-Qaida, wobei sich das überschneidet, die Zivilbevölkerung auch in den Stammesgebieten so tyrannisiert, dass jetzt die Stammesältesten selber die Grenze für überschritten halten und gefordert haben, dass das pakistanische Militär gegen diese Gruppen vorgeht. Dem vorausgegangen ist im Februar die Entscheidung einer Regionalregierung, mit den Taliban ein Konsensabkommen zu schließen. Die Grundlage war Waffenstillstand gegen Einführung der Scharia. Diese Vereinbarung ist geschlossen worden, der Waffenstillstand jedoch keine Minute eingehalten worden. Es gab hier also den Versuch einer Konsensbildung. Sind das Überlegungen, die bei uns in die Entscheidungen einfließen müssen, die zu treffen sind?

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank für die Frage. Sie haben insofern recht, Frau Kollegin Beck, als bestimmte Entwicklungen an einen Punkt kommen können, wo es schwierig ist, Antworten zu geben. Aber die Frage ist - das ist für uns Linke der Ausgangspunkt -: Warum ist es in Pakistan zu genau dieser Entwicklung gekommen? ({0}) Herr Präsident Sharif wurde im Terrorkrieg als ein Bündnispartner behandelt. Er hat schon immer versucht, diesen Konflikt militärisch zu befrieden. Er hat jedoch keinerlei soziale und wirtschaftliche Entwicklungen vorangebracht. Das ist die Ursache dafür. ({1}) Deshalb sagen wir: Wir müssen aus diesem Teufelskreis herauskommen. Wir müssen diese Spirale der Gewalt durchbrechen. Damit müssen wir irgendwann anfangen. ({2}) Jetzt wird versucht - ich bin noch bei der NATO-Strategie -, auf die klassischen Mittel der Aufstandsbekämpfung zurückzugreifen, wie wir sie auch aus Vietnam kennen. Ich will nur einen Punkt herausgreifen: Es ist und bleibt ein unauflöslicher Widerspruch, wenn man in großem Stil - das geschieht gegenwärtig - die Anführer dieser Aufstandsbewegung umbringt, gleichzeitig aber politische Gespräche mit diesen Talibankommandeuren anbahnen will. Mit demjenigen, den ich montags erschieße, kann ich dienstags nicht mehr reden, auch nicht mit seinem Umfeld. Damit werden die Hürden auf dem Weg zu einer politisch-diplomatischen Verhandlungslösung immer höher gesetzt, und der Krieg wird verlängert, wo es doch jetzt gilt, den Krieg und das Leiden zu beenden. ({3}) Es gibt hierzulande eine stabile Mehrheit in der Bevölkerung, die sagt: Wir müssen die Bundeswehrsoldaten zurückziehen. - Deshalb sagen wir Ihnen: Hören Sie auf die Menschen, die sehr genau sehen, dass man mit der Afghanistan-Unternehmung auf eine schiefe Bahn geraten ist, dass man jetzt in einem Schlamassel steckt und dass man so schnell wie möglich dort heraus muss. Die Afghaninnen und Afghanen - das zeigen auch neuere Studien, zum Beispiel die, die Oxfam jetzt durchgeführt hat - wollen vor allem eins: das Blutvergießen, das sie seit 30 Jahren durchleben müssen, beenden. Die Mehrzahl will auch keine Rückkehr zum alten Talibanregime, aber die Menschen wissen, dass man, wie die Dinge stehen, jetzt einen Kompromiss finden muss, und zwar einen Kompromiss, der vor allem darauf gerichtet ist, diesen gewaltförmigen Konflikt in einen politischen Konflikt zu transformieren. Es geht in die völlig falsche Richtung, wenn man jetzt die Afghanisierung des Krieges betreibt, indem man die afghanischen Streitkräfte aufrüstet. Wir brauchen eine Afghanisierung des Friedens. Es geht um eine innerafghanische Verhandlungslösung. ({4}) Um Frieden machen zu können, muss man auch mit den Gegnern, ob sie einem passen oder nicht, reden, und zwar ohne Vorbedingungen. Damit bin ich bei dem Punkt, was getan werden müsste. Erstens müssen alle diplomatischen und politischen Anstrengungen darauf gerichtet werden, einen Waffenstillstand mit den Aufständischen im Land auszuhandeln. Ohne einen Waffenstillstand gibt es keine Entwicklung, gibt es keinen Aufbau und gibt es keine Freiheit. ({5}) Was Afghanistan jetzt braucht, ist ein breiter innergesellschaftlicher Konsultationsprozess, der darin münden muss, dass die Waffen schweigen, dass der Konflikt entmilitarisiert und die nationale Aussöhnung vorangebracht wird. Das ist nicht naiv, wie manche meinen, das ist nicht blauäugig. Dafür gibt es jede Menge Anknüpfungspunkte. Aus der traditionellen Stammesgesellschaft heraus haben sich Kräfte aufgemacht, die diesen Dialogprozess wollen, zum Beispiel in Gestalt der afghanischen Friedensjirga. Es gibt die moderneren, sehr aktiPaul Schäfer ({6}) ven zivilgesellschaftlichen Initiativen wie das Afghan Civil Society Forum und andere, die zusammen mit Oxfam diese Studie erstellt haben, die auch diesen Dialogprozess wollen, und es gibt die gesprächsbereiten Kreise bei den Aufständischen, die sehr genau realisieren, dass auch sie nicht militärisch gewinnen können. Worauf es jetzt aber besonders ankommt, ist, dass die Regierung Karzai energisch dazu gedrängt wird, statt salbungsvolle Worte zu verbreiten, endlich eine eindeutige und stringente Konzeption des innerafghanischen Dialogs vorzulegen und umzusetzen. ({7}) Zweitens. Eine Voraussetzung dafür, dass die Waffen zum Schweigen gebracht werden können, ist die unzweideutige Festlegung auf den Abzug sämtlicher NATOTruppen, und zwar ohne Bedingungen und nicht irgendwann. ({8}) Wer diesen Truppenabzug, Herr Minister Westerwelle, an Voraussetzungen knüpft - eine stabile Zentralregierung in Kabul, vielleicht 400 000 Soldaten -, der verschiebt diesen Termin dann doch auf den Sankt-NimmerleinsTag. Der Abzug ist aus unserer Sicht alternativlos, weil er - das wird manche erstaunen, aber es ist so - den bewaffneten Widerstand schwächt, der seine Stärke doch gerade aus dem um sich greifenden Gefühl der Afghanen zieht, in einem besetzten Land zu leben und politisch bevormundet zu werden. Der Abzug ist alternativlos, weil er das entscheidende Signal an die Afghaninnen und Afghanen gibt, dass sie ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen müssen. ({9}) Drittens sollte alles dafür getan werden, dass das Waffenstillstandsübereinkommen in das weite regionale Umfeld eingepasst wird. Alle Anrainerstaaten müssen beteiligt werden und ein solches Waffenstillstandsübereinkommen garantieren. Viertens gibt es in der Tat eine Verantwortung auch der Deutschen für Afghanistan, eine Verantwortung für Unterstützung und Wiederaufbau. Wir sind deshalb der Auffassung, dass die Mittel für den zivilen Aufbau erhöht werden müssen, dass sie dort ankommen müssen, wo sie gebraucht werden, und dass die zivile Aufbauhilfe von der Einordnung in militärische Strategien endlich befreit werden muss. ({10}) Das ist nicht nur unsere Forderung, sondern auch die der deutschen entwicklungspolitischen Organisationen, zuletzt diese Woche. VENRO sagt klipp und klar: Die schädliche und irreführende Vermischung von zivilen und militärischen Aufgaben muss endlich beendet werden. ({11}) Ich fasse zusammen: Der Einmarsch in Afghanistan hatte keine völkerrechtliche Grundlage. Für den Aufbau des Landes hatte die NATO kein Konzept, und jetzt, wo man im Morast steckt, hat man keinen Plan, wie man wieder herauskommt. Das ist schlimm. Um Schlimmeres zu verhüten, fordern wir von Ihnen eines: Ziehen Sie die deutschen Truppen aus Afghanistan zurück, und zwar unverzüglich! ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz aller Tagesaktualität, zu der ich gleich noch komme, möchte ich mit einer grundsätzlichen Bemerkung beginnen. Die Entscheidung über den ISAF-Einsatz hat sich meine Fraktion nie leicht gemacht. Wir stehen zu unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Afghanistan, gegenüber den vielen Helferinnen und Helfern der Entwicklungsorganisationen, gegenüber den Polizeiausbildern und den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die in Afghanistan ihr Bestes tun, um den Menschen dort zu helfen. In Richtung der Kollegen von der Linkspartei will ich hier sagen: Diese Solidarität ist für uns unvereinbar mit der Forderung nach einem Sofortabzug. ({0}) Da soll man sich nichts vormachen: Es gibt nicht die einfache Alternative: Bundeswehr raus, Helfer rein. Auch die meisten Helferinnen und Helfer müssten dann mit der Bundeswehr tatsächlich herausgehen, und das wollen die Menschen in Afghanistan, insbesondere im Norden des Landes, eben nicht. Es ist wichtig, diesen Zusammenhang zu begreifen. ({1}) Die Sicherheitslage hat sich allerdings deutlich verschlechtert, gerade im Einsatzgebiet der Bundeswehr. Daher muss man von kriegsähnlichen Zuständen sprechen. Die weitgehend gefälschten Präsidentenwahlen sind mehr als problematisch für den weiteren politischen Prozess in Afghanistan, aber auch für die Legitimation des Einsatzes der internationalen Gemeinschaft dort. ({2}) Es gibt aber auch eine große Chance: Das ist die neue Offenheit, mit der international über einen Strategiewechsel diskutiert wird. Nun geht es darum, diesen Kurswechsel voranzutreiben in Richtung einer zivilen Aufbauoffensive in Verbindung mit einem konkreten Abzugsplan. Daher wünsche ich mir wirklich konkretere Vorschläge hier im Deutschen Bundestag von Regierungsseite. ({3}) Meine Damen und Herren von der Koalition, vor diesem Hintergrund ist das Handeln der Bundesregierung zu bewerten. Sicherlich, Sie sind erst seit einigen Wochen im Amt; aber dass Sie uns ein Mandat vorlegen, das, bis auf deutlich mehr Geld für das Militär, komplett unverändert ist, das ist schlecht. ({4}) Sie hätten mehr tun können und müssen. Sie hätten eine unabhängige, ehrliche Evaluierung des Engagements in Afghanistan vornehmen können. Das Fehlen einer solchen Bilanzierung hängt schon seit Jahren als Ballast an der deutschen Afghanistan-Politik. Andere Bündnispartner haben diesen Schritt gewagt. Schauen Sie einmal, was die Kanadier vorlegen. Davon kann man einiges lernen. Außerdem hätten Sie eine zivile Aufbauoffensive entwickeln können. Alle Experten sind sich einig, dass für den Erfolg des Einsatzes der Aufbau von staatlichen Strukturen und die Verbesserung der Lebensbedingungen der Afghaninnen und Afghanen entscheidend sind. Aber was tun Sie? Sie fordern mehr Geld - fast 300 Millionen Euro - für das Militär. Ein vergleichbarer Ausbau der zivilen Hilfe? Da ist Fehlanzeige. VENRO, der Verband der deutschen Nichtregierungsorganisationen, hat vor zwei Tagen vorgerechnet, dass sich unter der neuen Bundesregierung das Verhältnis von militärischen Mitteln zu zivilen Mitteln von drei zu eins auf vier zu eins verschlechtert. Das ist doch ein absurder Vorgang. ({5}) Das ist doch das genaue Gegenteil einer zivilen Aufbauoffensive. Ich sage Ihnen: Es grenzt an Vertuschung, wenn gleichzeitig die Spatzen von allen Dächern pfeifen, dass eine Truppenerhöhung geplant sei. Herr zu Guttenberg, schenken Sie dem Deutschen Bundestag dazu reinen Wein ein! ({6}) Meine Damen und Herren von der Koalition, die Bundesregierung hat den Kurswechsel von Oberbefehlshaber McChrystal - der will nämlich endlich den Schutz der Zivilbevölkerung in den Mittelpunkt stellen - rhetorisch unterstützt. Aber Sie, Herr Verteidigungsminister, konterkarieren dieses Bekenntnis völlig, wenn Sie die Bombardierung der zwei Tanklaster bei Kunduz und der Menschenmenge um diese herum als „angemessen“ bewerten. Ich hoffe, dass Sie im Lichte der neuen Erkenntnisse, die Sie jetzt gewonnen haben, das zurücknehmen werden. ({7}) In der Stabilisierungsmission ISAF darf kein Platz sein für eine Kriegslogik, die auf die physische Vernichtung möglichst vieler Gegner zielt. Das müssen Sie geraderücken! ({8}) Und Herr Jung, wenn sich bestätigen sollte, dass Sie de facto den Deutschen Bundestag in diesem Zusammenhang belogen haben, dann sind Sie als Minister nicht mehr haltbar, egal, in welcher Funktion. ({9}) Das muss aufgeklärt werden. Deswegen wollen wir, dass der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss tätig wird. ({10}) Meine Damen und Herren von der Koalition, die wenigen Wochen der Afghanistan-Politik der neuen Bundesregierung muss ich leider so zusammenfassen: Sie ist eine Mischung aus Vertagungen, Versprechungen und Verschlechterungen. Das geht an den realen Herausforderungen in Afghanistan vorbei. ({11}) Die Entscheidung nächste Woche ist sicherlich eine Gewissensentscheidung für alle Abgeordneten. Die Abwägungen sind nicht leicht. Sie wollen von uns einen Blankoscheck für ein weiteres Jahr. Ich spreche für einen großen Teil meiner Fraktion, wenn ich sage: Dem können wir nicht zustimmen. Danke. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für eine Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Wolfgang Gehrcke das Wort.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Schmidt, ich möchte Sie gerne auf zwei Punkte ansprechen. Erster Punkt: Meinen Sie nicht, dass es auch Solidarität ist, dass man einem Partner sagt, was erfolgreich ist und was nicht erfolgreich ist, was geht und was nicht geht, wenn man mit ihm über Werte diskutiert? Sollte man also der Bevölkerung in Afghanistan nicht sagen: „Unsere Solidarität wird darin liegen, dass wir versuchen, von kriegerischen Lösungen wegzukommen und zivile Lösungen zu finden“? ({0}) Ich möchte hier vor allen Dingen einen Begriff gewertet wissen: Das ist der Begriff der Selbstbestimmung. Wir haben über alles gesprochen, nur nicht über Selbstbestimmung. Mein zweiter Punkt: Finden Sie es nicht auch unerträglich, dass der ehemalige Verteidigungsminister Herr Jung hier sitzt, er aber, obwohl ihm schlimme Vorhaltungen gemacht werden, er von fast allen Rednern bezichtigt wird, dass er gelogen hat, und selbst sein Nachfolger sich von ihm hier absetzt, nicht das Wort ergreift? ({1}) Ich denke, der ehemalige Verteidigungsminister muss jetzt reden und Stellung nehmen. Ich würde mich freuen, wenn Sie es ähnlich sähen. ({2})

Dr. Frithjof Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004145, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zum zweiten Punkt kann ich nur sagen: Da haben Sie sicher recht. Es wäre gut für die politische Kultur in diesem Land und in diesem Haus, wenn Sie, Herr Jung, hier heute einmal direkt Stellung nehmen würden. ({0}) Zu Ihrer ersten Frage muss ich sagen: Es ist ganz entscheidend, dass man den Zusammenhang im politischen Handeln versteht, dass eben ziviler Aufbau in dieser kriegsähnlichen Situation in Afghanistan auch militärischen Schutz braucht. Wenn man eine Abzugsperspektive eröffnen will, muss man diesen Zusammenhang berücksichtigen und schrittweise vorgehen. Deswegen ist die Forderung nach einem Sofortabzug falsch und kein Ausdruck von guter Solidarität. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte vorneweg dem Bundesverteidigungsminister dafür danken, dass er vor dem Hintergrund der ihm vorliegenden Informationen unverzüglich die Konsequenzen gezogen hat. Ich respektiere ausdrücklich seine Bereitschaft, im Lichte der ihm zugehenden Informationen eine Neubewertung seiner Aussagen im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit vorzunehmen. Ich denke auch, dass es der Respekt gebietet, abzuwarten, bis die Informationen wirklich vorliegen, um Mitgliedern der Bundesregierung tatsächlich ein persönliches Fehlverhalten zuordnen zu können. Ich bitte hier um die notwendige Seriosität und Geduld. Ich gehe davon aus, dass dann die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden. ({0}) - Das wäre für den Vertreter Ihrer Fraktion möglich gewesen, sehr verehrter Herr Trittin. In der Kürze der Zeit sollten wir versuchen, die Diskussion auf einen eher rationalen Aspekt zurückzuführen. Wir werden auf der Afghanistan-Konferenz im nächsten Jahr die Gelegenheit haben, die Strategie neu zu justieren. Es ist dringend an der Zeit, dass wir das tun. ({1}) Dabei müssen wir einige Punkte berücksichtigen. Erstens darf sich die Situation in Afghanistan nicht durch irgendwelche Maßnahmen, sei es ein Abzug oder Ähnliches, gegenüber der Zeit, in der die internationale Gemeinschaft dort tätig wurde, verschlechtern. ({2}) Zweitens müssen wir unbedingt gemeinsam dafür sorgen, dass ein nationaler Versöhnungsprozess entsteht; denn nur dieser kann die Voraussetzung für alle weiteren Schritte sein. Drittens darf der militärische Abzug nicht unverzüglich erfolgen, lieber Kollege Paul Schäfer; denn dies würde zu einem neuen Bürgerkrieg in Afghanistan führen. Das wissen auch Sie. Ich halte das für unverantwortlich. ({3}) Aber wir müssen gemeinsam dafür sorgen, auch im Respekt vor dem afghanischen Volk, dass der Primat der Politik zum Zuge kommt, dass die Politik wieder die Möglichkeit erhält, die Rahmenbedingungen zu bestimmen. Der militärische Einsatz ist notwendig, kann aber nur Teil einer Gesamtstrategie sein. Ich glaube, dass auch die Reaktion unseres Entwicklungsministers, Dirk Niebel, gezeigt hat, dass er bereit ist, durch die Zurverfügungstellung erhöhter finanzieller Mittel diesen Prozess aktiv zu begleiten. ({4}) Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr auf die Debatte nach der Afghanistan-Konferenz, weil wir dann alle gemeinsam die Möglichkeit haben, eine Neujustierung der Afghanistan-Politik vorzunehmen. Wir werden als Fraktion mehrheitlich dem Einsatz und der Verlängerung des Mandates ISAF zustimmen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Gernot Erler ist der nächste Redner für die SPDFraktion. ({0})

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat am 18. November beschlossen, die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Internationalen Sicherheits- und Unterstützungstruppe in Afghanistan, ISAF, fortzusetzen, und bittet den Deutschen Bundestag um Zustimmung dazu. Die SPD-Bundestagsfraktion wird diese Zustimmung nicht verweigern. Wir beschließen dies allerdings zu einem Zeitpunkt, zu dem die Entwicklung in Afghanistan Anlass zu großer Sorge gibt, zu dem wichtige Entscheidungen über das künftige Vorgehen der Vereinigten Staaten, der NATO und der Weltgemeinschaft in Afghanistan noch nicht getroffen sind und zu dem wir sicher sein können, dass wir nicht etwa erst in einem Jahr, wenn die nächste Verlängerung ansteht, erneut über Afghanistan im Deutschen Bundestag beraten werden, sondern wesentlich früher. Insofern enthält unsere Entscheidung etwas Vorläufiges. Wir sind auf einem Weg, den wir ganz offenbar nicht verlassen können; aber er verliert sich vor uns schon nach wenigen Kurven in einem schwer einsehbaren Gelände. Wir spüren eine drückende Verantwortung bei der Aufgabe, ein Scheitern in Afghanistan zu verhindern, bei der Herausforderung, sich jetzt auf das Wesentliche zu konzentrieren, und aufgrund des Bewusstseins, alle zivilen und bewaffneten Kräfte - es handelt sich schließlich um Menschen, die wir nach Afghanistan schicken - erheblichen Gefahren aussetzen zu müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen mehr Verbindlichkeit. Das betrifft zunächst Präsident Karzai. Der Wahlprozess hat das Vertrauen in ihn nicht bestärkt. In seiner Antrittsrede vor einer Woche hat er eine Reihe begrüßenswerter Ankündigungen gemacht. Es soll einen nationalen Versöhnungsprozess geben und dazu die traditionelle Große Ratsversammlung, die Loya Jirga, einberufen werden. Afghanische Sicherheitskräfte sollen Distrikt für Distrikt, Provinz für Provinz die Sicherheitsverantwortung selbst übernehmen. Dieser Prozess soll in fünf Jahren abgeschlossen sein. Ferner hat der Präsident gute Regierungsführung angekündigt. Darunter fallen Transparenz bei den Einkünften von Leuten mit öffentlichen Ämtern und ein Ende der Kultur der Straflosigkeit, einer Schwester der Korruption, die ebenso bekämpft werden soll wie illegaler Drogenanbau und -handel. Da haben die Zuhörer geklatscht, und die internationale Gemeinschaft hat zustimmend genickt. Aber wir haben diese Botschaften in ähnlicher Form schon öfter gehört. Es sind zwar gute Botschaften, aber sie bleiben zu allgemein und zu unverbindlich. Was wir brauchen, sind überprüfbare Zwischenschritte. Wie sollen sie aussehen? Welche Fristen gibt es für die Umsetzung dieser Zwischenschritte? Es darf nicht mehr sein, dass wir nach einem, zwei oder gar fünf Jahren feststellen müssen: Es wurde zwar versucht, aber leider ist es wieder nicht gelungen. - Wir brauchen eine konkretisierte Verbindlichkeit. ({0}) Sie muss für den nächsten Compact ausgehandelt werden, das heißt bis zu der internationalen AfghanistanKonferenz Ende Januar. Wir brauchen diese Verbindlichkeit aber auch auf der anderen Seite, also auf unserer Seite. So lesen wir zum Beispiel im Antrag der Bundesregierung: Dabei steht im Zentrum des zivilen Engagements der Bundesregierung die Aus- und Fortbildung der afghanischen Polizei. Die Bundesregierung … beabsichtigt, die bilaterale deutsche Polizeimission zu diesem Zweck personell erheblich aufzustocken … Irgendeine konkrete Zahlenangabe dazu suchen wir allerdings vergeblich. Das ist genauso unverbindlich wie die präsidialen Ankündigungen in Kabul. In jeder Afghanistan-Diskussion wird die Bedeutung der Selbstverteidigungsfähigkeit Afghanistans beschworen. Dazu gehört natürlich die Polizeiausbildung. Auch Sie, Herr Westerwelle und Herr zu Guttenberg, haben das eben vorgetragen. Man muss schon tief in das neue Papier der Bundesregierung mit dem Titel „Afghanistan. Auf dem Weg zur ,Übergabe in Verantwortung‘“ einsteigen, um überhaupt einmal auf eine Angabe zu den Dimensionen zu stoßen. Auf Seite 15 steht dazu: Die Bundesregierung strebt an …, den Personaleinsatz im bilateralen deutschen Polizeiprojekt bis Mitte 2010 auf rund 200 Polizisten aufzustocken, was etwa eine Verdreifachung der Anzahl von Mitte 2009 bedeutet … Mit anderen Worten: Im Jahre acht des deutschen Afghanistan-Einsatzes haben wir für die Erledigung der Aufgabe, die wir für am wichtigsten halten und bei der wir uns besonders engagieren, im bilateralen Bereich ganze 70 Ausbilder vor Ort. Es werden zwar bis zu 4 500 Soldaten eingesetzt, aber bei der Aufgabe, die afghanischen Sicherheitskräfte auszubilden, kommen bisher nur 70 Leute zum Einsatz. In den letzten Tagen sind hier mit einem Federstrich die Zielgrößen erhöht worden, ja mehr als verdoppelt worden. Plötzlich reden wir nicht mehr von 92 000 afghanischen Soldaten und 84 000 afghanischen Polizisten, die für die Eigensicherung notwendig sind, sondern von 240 000 Soldaten und 160 000 Polizisten. Aber wer soll diese denn in welchem Zeitraum eigentlich ausbilden? Die 70 deutschen Ausbilder oder die - wenn es überhaupt jemals so viele werden - 400 Ausbilder der EU? Es ist höchste Zeit, dass wir uns ehrlich machen, um an dieser Stelle ehrlich zu bleiben. Das, Herr zu Guttenberg, ist eigentlich der Zweck einer ressortübergreifenden Handlungsfähigkeit. Das müsste tatsächlich geklärt werden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Stinner?

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das möchte ich jetzt nicht. ISAF zu verlängern, ist unumgänglich. Aber ebenso unumgänglich ist es, die nächsten Wochen zu nutzen, um bis zu der Afghanistan-Konferenz tatsächlich konkrete eigene Leistungen mit konkreten Zeitangaben für ihre Umsetzung zu definieren. Diese Leistungen sind notwendig, um wenigstens das wichtigste Ziel in Afghanistan zu erreichen. Nur dann haben wir die Chance, diese Verbindlichkeit auch von der afghanischen Seite zu verlangen. Das erwarten wir von der Bundesregierung. Seitens der Opposition sind wir bereit, unseren Beitrag zu leisten. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für eine Kurzintervention erhält der Kollege Stinner das Wort.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Kollege Erler, halten nicht auch Sie es für außerordentlich peinlich, dass gerade Sie, der Sie bis vor vier Wochen vier Jahre lang die Verantwortung hatten, für den Polizeiaufbau zu sorgen, die neue Bundesregierung kritisieren, die einen neuen Ansatz wählt und erstmals eine ausführliche Mandatsbegründung vornimmt, deren Entwicklungshilfeminister erstmals einen gemeinsamen Ansatz schafft und in den ersten Amtstagen dafür gesorgt hat, dass mehr Mittel bereitgestellt werden? Herr Kollege Erler, das halte ich für außerordentlich peinlich. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Stinner, ich glaube nicht, dass ich Sie darüber aufklären muss, wie die Aufgabenverteilung in der vergangenen Bundesregierung ausgesehen hat. Ich könnte nachweisen, dass uns das Thema der Polizeiausbildung immer wieder beschäftigt hat. Es ist nicht zu erkennen, dass das Konzept an dieser Stelle verändert wurde. Von einem Tag auf den anderen wird die Zahl derjenigen, die in Afghanistan ausgebildet werden sollen, verdoppelt. Es sollen jetzt 162 000 Polizisten ausgebildet werden. Dies bildet sich aber nicht in dem Konzept ab, das die Bundesregierung vorschlägt. Es wird vielmehr gesagt: Wir werden die Polizeimission von 60 bzw. 70 vielleicht auf 200 Personen aufstocken. Es ist doch wohl berechtigt, dass wir, wenn wir schon von Ehrlichkeit und Offenheit sprechen, im Bundestag beraten, ob das die richtige Größenordnung ist, ob diese Zahl ausreicht oder nicht. Ich habe mir das Recht genommen, dies anzusprechen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe nicht gehört, wer gerade einen Zuruf gemacht hat. Es scheint ein Kollege der SPD gewesen zu sein. ({0}) - Der Kollege Kelber bekennt sich freiwillig dazu, dass er es war. Herr Erler, die Dinge, die Sie zuletzt angesprochen haben - Kollege Stinner hat dankenswerterweise darauf hingewiesen -, waren Ihnen bislang nicht neu. Auch die Entwicklung des Ganzen ist Ihnen nicht neu. Als Staatsminister waren Sie an verantwortungsvoller Stelle maßgeblich daran beteiligt und haben in den letzten Jahren vieles erreicht. ({1}) Ich bin schon der Meinung, dass das, was Sie gesagt haben, der Sie ja auch noch von Offenheit und Ehrlichkeit geredet haben, nicht ganz zutreffend war. Ich möchte an dieser Stelle, wie es auch der Kollege Stinner getan hat, darauf hinweisen, dass der amtierende Außenminister, Herr Westerwelle, die Dinge richtig dargestellt hat und unsere volle Unterstützung hat. ({2}) Ich finde es richtig, dass das Parlament an einem so wichtigen Tag wie heute, an dem wir über mehrere Mandate zu entscheiden haben, breit und mit starker Beteiligung über diese Mandatsverlängerungen diskutiert. Ich hätte mir gewünscht, dass im Laufe dieser Debatte mehr über Afghanistan selbst diskutiert worden wäre. Ich sehe in den Angriffen, die seitens der Opposition gegenüber Minister Jung gestartet worden sind, den plumpen Versuch, sich nicht mit der Realität in Afghanistan auseinanderzusetzen, sondern eine politische Show aufzuführen, die der Wichtigkeit des Themas nicht entspricht. Ich glaube, dass dieser Punkt deutlich herausgearbeitet werden muss. ({3}) - Gerade Sie, Herr Ströbele, der Sie permanent Zurufe machen, sollten zuhören, wenn es um die Sache geht. ({4}) Frau Kollegin Beck beispielsweise hat vorhin im Rahmen ihrer Zwischenfrage die Wichtigkeit des Themas Afghanistan deutlich gemacht und darauf hingewiesen, welche Bedeutung die Lage in Afghanistan für die Situation in Pakistan und für die gesamte Region hat. Herr Ströbele, als Frau Beck diesen wichtigen Beitrag geleistet hat, waren Sie noch nicht einmal hier im Raum. Immer, wenn Sie hier sind, schreien Sie die ganze Zeit dazwischen. Deshalb möchte ich Ihre Zwischenfrage jetzt auch nicht zulassen, sondern mich dem Thema widmen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Es gibt einen weiteren Wunsch zu einer Zwischenfrage des Kollegen Ströbele.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, das lasse ich jetzt nicht zu. ({0}) Das zu Ende gehende Jahr 2009 war kein gutes Jahr für Afghanistan. Der jüngste Wahlprozess hat die Defizite, die schon in den vergangenen Jahren offensichtlich waren, deutlich herausgestellt und der Weltöffentlichkeit sehr plastisch vor Augen geführt. Ich will zunächst drei Punkte ansprechen, die wir deutlich im Blick unserer Argumentation haben müssen: Das sind die sich deutlich verschlechternde Sicherheitslage, die grassierende Korruption und die schlechte Regierungsführung in der Administration von Karzai. Diese Defizite sind für die weitere soziale und wirtschaftliche Entwicklung des Landes eine große Hypothek. Gerade deshalb muss die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft besonders herausgestellt werden. Nach der erneuten Amtseinführung von Karzai und auch nach seiner Rede in der vergangenen Woche sehe ich die Chance und habe wie alle die Hoffnung, dass dieser Negativtrend durchbrochen werden kann. Die Chance muss genutzt werden. Dies ist angesichts der Dauer des Einsatzes mittlerweile sehr schwierig, weil wir schon oft Hoffnung geschöpft haben und diese Hoffnung sich dann nicht erfüllt hat. Es ist trotzdem kein Grund, aufzugeben. Es ist trotzdem kein Grund, die Menschen in Afghanistan alleine zu lassen und sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. Die Konsequenz aus einem Rückzug wäre, dass Afghanistan in ein heilloses Chaos stürzt, dass Afghanistan zu einem Rückzugsraum für Terroristen und - wie es das schon einmal war - wieder zu einer Operationsbasis für den weltweiten Terrorismus wird. Frau Beck, ich habe es bereits angesprochen: Die Auswirkung auf die gesamte Region ist nicht zu unterschätzen: Wenn ein islamistisches Talibanregime die Macht ergreifen würde, würde dies nicht ohne Folgen bleiben für Pakistan, für die zentralasiatischen Staaten, für Russland und China, die dies im Übrigen auch als Worst-Case-Szenario sehen. Deshalb haben sie ein großes Interesse an einer Stabilisierung Afghanistans, die sie mit uns gemeinsam voranbringen wollen. Ich danke allen Fraktionen im Haus, dass - es bröckelt ja in manchen Fraktionen - insgesamt, gerade im Auswärtigen Ausschuss, diese Diskussion mit großer Ernsthaftigkeit geführt wird. Ich möchte auch daran erinnern, dass die rot-grüne Regierung 2001 unter der Führung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer diesen Einsatz, damals noch unter dem Motto der uneingeschränkten Solidarität, begonnen hat. Deshalb weiß ich es, gerade auch durch die Zusammenarbeit mit Ihnen, Herr Erler, besonders zu schätzen, dass das Thema Afghanistan eben nicht zu einem populistischen Ja-neinThema gemacht wird. Vielmehr müssen wir darüber diskutieren, was tatsächlich der beste Weg für Afghanistan ist. Das möchte ich anbieten. Deshalb glaube ich auch, dass Ihre Anmerkung wichtig war. Wir dürfen es, was die Auseinandersetzung mit diesem Thema angeht, nicht nur bei dieser heutigen Debatte belassen, sondern wir müssen auch dann, wenn die Afghanistan-Konferenzen stattgefunden haben, im Deutschen Bundestag weiterhin die Möglichkeit haben, zeitnah über den Fortgang zu diskutieren und nicht erst in zwölf Monaten. Das kann ich für meine Arbeitsgruppe und auch für mich persönlich anmelden. Selbstverständlich wollen wir auch in diesen Prozess eingebunden sein. Ich denke, das ist ein gemeinsames Interesse. Die NATO und die Weltgemeinschaft haben eine große Verantwortung für Afghanistan. Wenn wir über die Kriterien des Erfolgs sprechen, wenn wir Erfolgsmaßstäbe beschwören und sie darstellen, dürfen wir dabei nicht vergessen, dass auch die Öffentlichkeit in Afghanistan ganz genau darauf achtet, ob wir es mit der Durchsetzung dieser Erfolgskriterien ernst meinen. Die Erwartungshaltung - die afghanische Delegation ist angesprochen worden, sie hat sich auch mit Vertretern unserer Fraktion getroffen - sowohl von Politikern als auch von Bürgern in Afghanistan ist riesengroß. Gerade Deutschland als drittgrößter Truppensteller trägt dort eine große Verantwortung, der wir gerecht werden müssen. ({1}) Eine Anmerkung in Richtung der Linken: Ich glaube, dies ist nicht nur eine Frage der Bündnistreue unseres Landes, sondern auch eine Frage der Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit unseres Landes insgesamt. Vor allem ist zu fragen, ob wir der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung unseres Landes, die wir an anderer Stelle immer gerne für uns reklamieren, gerecht werden, wenn wir diesen Einsatz auch nur ansatzweise infrage stellen. Deshalb sage ich: Wir müssen dieses Thema im Einvernehmen mit unseren Partnern in der internationalen Gemeinschaft angehen und unserer Verantwortung gerecht werden; denn man kann nicht an der einen Stelle mehr Bedeutung für Deutschland reklamieren und sagen, dass man bei vielen Themen führend sein will, sich an anderer Stelle aber vor der Verantwortung drücken. Wir müssen zu unserer Verantwortung stehen. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit und der Verlässlichkeit Deutschlands. Ich bin der Meinung, dass wir den Antrag der Bundesregierung unterstützen, die Ziele, über die diskutiert wird, stärker herausarbeiten und das polizeiliche und das militärische Engagement Deutschlands in Afghanistan fortsetzen sollten. Außerdem glaube ich sehr wohl, dass wir auf günstigere Umstände in der Zukunft hoffen können. Aber es muss klar sein, dass dies kein einfacher Prozess ist, für den es eine einfache Lösung gibt. Man unterliegt einem Irrglauben, wenn man annimmt - ich glaube, der Kollege Frithjof Schmidt von den Grünen hat das gesagt -, dass den Menschen dadurch geholfen werden könnte, dass man das Militär abzieht und gleichzeitig mehr Entwicklungshelfer ins Land schickt. Tatsächlich ist es doch so, dass die Entwicklungshelfer massiv auf Schutz und Unterstützung angewiesen sind. Dort, wo eine Befriedung erreicht werden konnte, ist Engagement notwendig. Aber gerade dort, wo die militärische Auseinandersetzung besonders intensiv ist, kann man als Antwort doch nicht mehr Entwicklungshelfer anbieten. Gerade diejenigen, die vor Ort verantwortungsbewusst einen großen Dienst für die internationale Gemeinschaft und für die Menschen in Afghanistan leisten, müssen geschützt werden. Deshalb ist der Einsatz der Bundeswehr auch und gerade für die Entwicklungshelfer sehr wichtig. ({2}) Die Bundeskanzlerin hat kürzlich in ihrer Regierungserklärung gesagt, dass die Ziele des deutschen Engagements in Afghanistan nach wie vor die Schaffung selbsttragender Sicherheit und der Aufbau funktionsfähiger staatlicher Strukturen sind. Wie weit wir davon noch entfernt sind, haben uns die letzten Wochen sehr deutlich vor Augen geführt. Deshalb glaube ich, dass wir die afghanische Regierung sehr stark dabei unterstützen müssen, die folgenden drei Ziele zu erreichen: Zunächst einmal geht es um die Stabilisierung und die Sicherheit, dann darum, gutes Regieren durchzusetzen, und darum, die weitere Entwicklung zu unterstützen. Die Verbesserung der Sicherheitslage ist die Voraussetzung für die Erreichbarkeit der beiden weiteren Ziele. Deshalb ist - das ist in der Debatte schon angesprochen worden - der weitere Aufbau von Polizei und Armee in afghanischer Eigenverantwortung dringend notwendig. Wir müssen über unseren Beitrag hierfür diskutieren. An zweiter Stelle steht die gute Regierungsführung. Es gibt in Afghanistan viele Absichtserklärungen und konkrete Vorschläge wie die Pflicht für einzelne Minister, ihre Einkunftsquellen offenzulegen. Es ist wichtig, dass wir bei allen Gesprächen, bei allen anstehenden Konferenzen, bei jeder Gelegenheit darauf drängen, dass die Grundstrukturen, die für eine gute Regierungsführung notwendig sind, auch durchgesetzt werden. Obwohl Karzai in seiner letzten Rede wieder deutlich herausgestellt hat, dass er das nun machen will, ist es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft und insbesondere Deutschland den Druck weiterhin aufrechterhält, damit gegen das Geschwür der Korruption in Afghanistan engagiert vorgegangen wird. Der dritte Punkt bezieht sich auf die weitere Entwicklung. Natürlich ist klar, dass Deutschland neben den Vereinigten Staaten von Amerika, die sich in der Entwicklungshilfe ebenfalls sehr stark engagieren, gefragt ist. Deshalb wollen wir unser Engagement auf diesem Gebiet fortsetzen. Unsere Fraktion begrüßt es, dass die Bundesregierung die Afghanistan-Konferenzen im kommenden Jahr angestoßen hat und engagiert begleiten will. Auch das ist für uns klar: Es wird keinen Schnellschuss bezüglich der Afghanistan-Strategie geben. Ohne ein Gesamtkonzept können und wollen wir bei diesen Konferenzen keine seriöse Entscheidung zur Zukunft unseres Engagements treffen. Natürlich ist klar, dass sich unser Engagement an erfüllbaren Erfolgskriterien orientieren muss, die bei der Bevölkerung in Deutschland auf Rückhalt stoßen und im Deutschen Bundestag nach Möglichkeit mit Unterstützung aller Fraktionen - wenn sich die Linke herausnimmt, wird das nicht zu erreichen sein durchgesetzt werden können. Ich begrüße ausdrücklich, dass Karl-Theodor zu Guttenberg bei seinem Antrittsbesuch in Kabul deutliche Worte gegenüber Präsident Karzai gefunden hat und deutlich gesagt hat, was unsere Erwartungshaltung ist. Dies muss auch unsere Strategie für die AfghanistanKonferenzen sein. Wir müssen deutlich machen, was wir von unseren afghanischen Partnern erwarten. Wir haben diese Erwartungen zu Recht; denn die Bundesrepublik leistet einen nicht unerheblichen Beitrag, der für viele Angehörige von Bundeswehrsoldaten und Entwicklungshelfern eine große Belastung ist. Deshalb ist es richtig, dass unsere Interessen ernsthaft formuliert und gegenüber der afghanischen Regierung durchgesetzt werden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Ströbele hat um eine Kurzintervention gebeten. - Bitte schön, Herr Kollege.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Mißfelder, Sie haben mich angesprochen, weil wir hier über die Videoaufnahmen und die Meldungen, die heute durch die Presse gehen, reden. Wenn wir über diese neuen Fotos, Zeichnungen und die Originalzitate der Ärzte aus den Krankenhäusern in Afghanistan reden, dann reden wir nicht nur über die Unwahrheiten, die seitens der Bundeswehr und des Ministeriums und dieses Herrn, der immer noch auf der Regierungsbank sitzt und nichts anderes tut als lächeln oder lachen, verbreitet worden sind, sondern auch über 142 in Afghanistan getötete Menschen. Das heißt, wir reden über Afghanistan, über die Kinder und Jugendlichen, die dort auf Befehl eines deutschen Obersts im Bombenhagel umgekommen sind. Wir reden darüber, dass diese Offensivstrategie dazu beiträgt, dass der Krieg in Afghanistan immer schlimmer und skrupelloser wird, dass damit der Terrorismus nicht bekämpft, sondern gefördert wird. Jede solche Bombardierung mit zivilen Opfern, die hier im Deutschen Bundestag, auch vom neuen Verteidigungsminister, gerechtfertigt wird, brutalisiert und verlängert den Widerstand und den Krieg in Afghanistan, lässt ihn eskalieren. Darüber reden wir. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis und stellen Sie sich nicht hinter diesen ewig nur lachenden oder lächelnden Minister, der die Regierungsbank besser heute als morgen verlassen sollte! ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ströbele, ich nehme das, was Sie gesagt haben, natürlich zur Kenntnis. Ich finde, dass jedes Menschenleben, das - egal auf welcher Seite - in dieser Auseinandersetzung verloren geht, eines zu viel ist. Ich glaube, dass dies bei jeder Debatte hier deutlich geworden ist. Angesichts der Diskussionen im Wahlkreis, aber auch im privaten Umfeld spürt jeder einzelne Abgeordnete die Last, die auf ihm liegt, wenn es hier darum geht, Einsätze zu verlängern. Ich sehe gerade auch an den Gesichtern der Kollegen in Ihrer Fraktion, dass sie es sich in dieser Debatte nicht leicht machen; das war auch in der Vergangenheit der Fall. Herr Ströbele, ich verstehe, dass Sie jede Gelegenheit nutzen - sei es durch Zwischenrufe, sei es durch Interventionen -, um Ihre persönliche Haltung deutlich zu machen. Aber diskutieren Sie das auch in Ihrer eigenen Fraktion! ({0}) In den vergangenen Jahren wurden die Einsätze in Afghanistan mit einer breiten Mehrheit beschlossen. Sie können nicht wegen eines Artikels in der heutigen Ausgabe der Bild-Zeitung so tun, als trage nur eine Person in der Bundesregierung die Verantwortung, die heute gar nicht mehr für das Ressort zuständig ist. Tatsächlich tragen wir eine Gesamtverantwortung. Dies zu erwähnen, gehört zur Redlichkeit dazu. Herr Ströbele, Sie greifen den Fall, der in dem Artikel geschildert ist, heraus, um Ihre persönliche Fundamentalkritik am Einsatz zu begründen. Dies lasse ich Ihnen einfach nicht durchgehen. Ich bin der Meinung, dass wir uns mit der Sache auseinandersetzen müssen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir ein paar Vorbemerkungen zu dem Gesagten. ({0}) Kollege Mißfelder, es geht nicht um einen einzigen Artikel. Es geht darum, dass aufgrund dessen, was in diesem Artikel steht, heute der oberste Soldat der Republik entlassen worden ist. ({1}) Sie machen den gleichen Fehler wie der Außenminister. Auch er hat in seiner Rede ein bisschen banal über diesen Zwischenfall gesprochen, was im Übrigen massiv dem Ansatz des Verteidigungsministers widerspricht, der ja angekündigt hat, es gebe jetzt eine herausragende Kooperation zwischen den Ressorts. Das scheint noch nicht der Fall zu sein. ({2}) Zweite Vorbemerkung. Herr Minister, Sie haben sich in der Vergangenheit geweigert, einen eigenständigen Bericht über diesen Zwischenfall vorzulegen, über den wir hier im Plenum diskutieren könnten. Dies taten Sie mit der Argumentation, es gebe nur diesen einen Bericht von COM ISAF und der sei geheim. Vorhin haben Sie gesagt, es gebe deutlich mehr Berichte. Deshalb müssen Sie Ihre Bewertung hinterfragen. Legen Sie hier bitte einen Bericht vor. Jetzt gibt es ja die Möglichkeit; Sie haben selber gesagt, dass es mehr Quellen gibt. Wir brauchen einen Bericht, damit wir hier endlich darüber diskutieren können. ({3}) Wir diskutieren heute über die Verlängerung des ISAF-Mandates. Dabei geht es nicht um Planspiele, sondern darum, dass wir Frauen und Männer in Einsätze schicken, in denen es auch um ihr Leben geht. Deshalb möchte ich die Gelegenheit nutzen, auch seitens meiner Fraktion den Soldatinnen und Soldaten, den zivilen Aufbauhelferinnen und -helfern und natürlich erst recht ihren Familien für den Einsatz, den sie erbringen, von ganzem Herzen zu danken. ({4}) Dieser Einsatz erfordert eine Gegenleistung von der Politik. Diese Gegenleistung kann nur sein, dass wir Verantwortung übernehmen, dass wir schauen, welchen Auftrag wir erteilen. Der Auftrag muss klar sein, er muss durchdacht sein, und er muss Aussicht auf Erfolg und Wirksamkeit haben. Das sind drei Anforderungen, denen das Konzept der Bundesregierung mit dem schönen Titel „Übergabe in Verantwortung“ leider nicht gerecht wird. ({5}) Dieses Konzept bleibt sehr viele Antworten schuldig. Damit meine ich nicht nur Antworten auf ZwischenfraOmid Nouripour gen, die an den Bundesaußenminister gestellt werden. Ich meine fundamentale Fragen, die wir hier stellen müssen. Ich zitiere: Mein Eindruck ist, wir werden „von der Regierung im Unklaren gelassen“ und nur „in einer Salamitaktik“ über die Strategie informiert. Das Zitat stammt vom Abgeordneten Karl-Theodor zu Guttenberg, 30. Juni 2008, Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ich kann nur sagen: Er hatte damals recht. Die Situation hat sich bisher aber nicht verändert. Die Konsequenz, die der damalige Abgeordnete gezogen hat, war: Wir brauchen eine Kommission zur Bewertung des Einsatzes in Afghanistan, nicht nur um darzustellen, was schlecht läuft, sondern auch um darzustellen, was gut läuft. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Notwendigkeit einer solchen Kommission gerade mit der Ernennung des neuen Verteidigungsministers endlich Reife erreicht hat. Wir brauchen eine Bewertung. Wir brauchen eine Evaluation dessen, was in Afghanistan passiert. Das schulden wir nicht nur den Soldatinnen und Soldaten, sondern auch den Menschen in Afghanistan und der deutschen Öffentlichkeit. ({6}) Es gibt aber noch mehr Fragen, die wir derzeit nicht klären können. Der Kostenansatz explodiert um nahezu 40 Prozent; es sind 230 Millionen Euro mehr. Ich habe in den letzten Tagen sehr häufig versucht, Herr Minister, aus Ihrem Haus eine schriftliche Begründung für diese Kostenexplosion zu bekommen. Ich habe keine bekommen. Ich finde, das entspricht nicht Ihrem Ansatz von Transparenz. Es ist sehr bedauernswert und nahezu ein Skandal, dass wir im Hohen Hause über einen Ansatz diskutieren, dessen Grundlage fehlt; wir wissen nicht, warum die Kosten so steigen. ({7}) Es gibt noch mehr Fragen. Der Entwicklungshilfeminister hat vorgestern verkündet, 52 Millionen Euro mehr für den zivilen Aufbau zur Verfügung zu stellen. Wenn man genau hinschaut, muss man feststellen, dass dieses Geld von der Vorgängerregierung bereits versprochen und beschlossen worden ist. Hier wird uns altes Geld als frisches verkauft; auch das hat mit Transparenz und Ehrlichkeit überhaupt nichts zu tun. Wer so stiefmütterlich mit dem Ansatz für den zivilen Bereich umgeht, legt den Grundstein für eine sichere Niederlagenstrategie. ({8}) Wir als Grüne stehen zu unserer Verantwortung gegenüber den Menschen in Afghanistan. Genau deswegen fordern wir eine Bewertung und einen längst überfälligen Strategiewechsel. Vor allem fordern wir einen klar formulierten konkreten Zeitplan, der die Perspektive für einen Abzug aufzeigt, zumal die Kanadier und die Niederländer das machen. Das ist nicht unbedingt als großer Erfolg für die Taliban verkauft worden, Herr Minister. Wir müssen die Worte „Verantwortung“ und „Engagement“ - sie sind häufig gefallen - endlich mit Sinn füllen. Das müssen wir tun, weil wir es den Menschen schulden: der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, den Soldatinnen und Soldaten, den Polizeiausbildern und zivilen Helfern, vor allem aber den Menschen in Afghanistan. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Holger Haibach ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine gute Analyse beginnt bekanntlich mit der Betrachtung der Realität. Ich bin mir nicht sicher, ob jeder hier im Haus die Realität schon betrachtet und richtig erkannt hat. ({0}) - Weil Sie ihn gerade ansprechen, würde ich gerne das eine oder andere zu dem, was in dieser Debatte bisher geäußert worden ist, sagen. ({1}) Wir haben einen großen Teil dieses Vormittags mit der Diskussion über einen Bericht verbracht, den noch keiner von uns gelesen hat. ({2}) Trotzdem sind wir der Meinung, wir könnten schon jetzt unsere Schlüsse daraus ziehen. Ich glaube, dass dies die falsche Betrachtung der Realität ist. ({3}) Ich finde, wir sollten uns die Dinge erst einmal in aller Ruhe anschauen und dann unsere Schlüsse ziehen. ({4}) - Sie möchten vielleicht gerne darüber diskutieren. Das hat mit dem ursprünglichen Thema aber nur relativ wenig zu tun. Zweitens. Herr Schmidt und Herr Nouripour haben die Kanadier dafür gelobt, dass sie eine Kommission eingesetzt haben. Es ist richtig: Die Kanadier haben eine Kommission eingesetzt. Sie haben den Bericht dieser Kommission auch entgegengenommen, aber etwas anderes gemacht. Sie haben ihre Soldaten nämlich entgegen der Empfehlung dieses Berichts länger in Afghanistan gelassen. Insofern kann man die Kanadier hier nicht als gutes Beispiel anführen und sagen: Das kann man auch in Deutschland so machen. ({5}) Eine Kommission bringt nur dann etwas, wenn man auch bereit ist, ihren Empfehlungen zu folgen. Deswegen finde ich, dass man darüber noch einmal nachdenken muss. Die Kanadier setzen übrigens wieder eine Kommission ein; zumindest ist das geplant. Insofern glaube ich, dass uns eine Strukturdebatte an dieser Stelle nicht weiterhilft. Ein letzter Punkt. Kollege Gehrcke hat vorhin in seiner Zwischenfrage gesagt, es gehe um die Selbstbestimmung der Afghanen. ({6}) Das ist völlig richtig, ({7}) und das bestreitet hier auch keiner. Aber ausgerechnet Ihre Fraktion ist nicht bereit, den Afghanen die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen. Sie sagen nämlich: kein Militär, keine Unterstützung und kein Schutz unserer Entwicklungshelfer in Afghanistan. Diese Politik, meine sehr geehrten Damen und Herren von der Linken, ist die falsche Politik. ({8}) Wir sollten einmal in der Rückschau betrachten, was in Afghanistan bereits erreicht wurde.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke?

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber gerne.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege, ich weiß, dass Sie ein gebildeter und kenntnisreicher Entwicklungspolitiker sind. Trotzdem kann man zu falschen Schlüssen kommen. Meinen Sie, dass der Weg zur Selbstbestimmung bedeutet, dass man den Afghanen dieses Recht erst einmal vorenthält und zensierende Anforderungen an sie stellt? Ich fand das Auftreten des Verteidigungsministers zu Guttenberg in Afghanistan brüskierend für das Volk. Dem Präsidenten, den ich nicht sympathisch finde und dessen rechtliche Grundlage sehr dünn ist, ({0}) sind in einer Art und Weise Vorhaltungen gemacht worden, die man nur an den Tag legt, wenn man einen kolonialen Ansatz verfolgt. ({1}) Deswegen meine Frage: Glauben Sie, dass der Weg zur Selbstbestimmung heute tatsächlich über Militär und die Vorenthaltung der Selbstbestimmung gehen kann?

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich glaube, in Kenntnis des Charakters des Kollegen Guttenberg kann ich den Begriff „kolonial“ sofort zurückweisen. ({0}) Zu Ihrer Frage, Herr Gehrcke. Es ist völlig unbestreitbar - das wird, wenn man seinen Worten Glauben schenkt, nicht einmal vom afghanischen Präsidenten bestritten -, dass es in der afghanischen Regierung große Defizite gibt, zum Beispiel beim Aufbau eines Rechtsstaates und bei der Korruptionsbekämpfung. Nichts anderes hat der Bundesverteidigungsminister gesagt. Er hat zu Recht deutlich gemacht, dass es darum geht, den Präsidenten hinsichtlich seiner Rede zur Amtseinführung beim Wort zu nehmen. Ich glaube, dass es nicht nur unser Recht ist, sondern auch unsere Pflicht, das zu tun. ({1}) Noch einmal zurück zu der Frage, was wir für den Wiederaufbau in Afghanistan tun. Ich habe die Äußerungen in den letzten Wochen zu diesem Thema verfolgt. Aber ich finde, sie sind ein wenig einseitig. Deutschland ist mit 1,2 Milliarden Euro der drittgrößte Geber. Es ist nicht so, als würden wir uns unserer Verantwortung an dieser Stelle in irgendeiner Form entziehen. Es ist bei allen Problemen und bei allen Defiziten, die es definitiv gibt, auch nicht so, als hätten wir nichts erreicht. Über unsere Investitionsagentur sind 400 000 neue Arbeitsplätze in Afghanistan geschaffen worden. Von unserer Mikrokreditfinanzierung profitieren 400 000 Haushalte, Handwerker, Händler und Dienstleister; sie haben eine Existenz. 500 000 Schüler können eine Grundschule besuchen. Das alles ist auch das Ergebnis deutscher Entwicklungspolitik. Das muss an dieser Stelle einmal anerkannt werden. ({2}) Natürlich wird der Afghanistan-Einsatz in Deutschland kritisch begleitet, und zwar zu Recht. Natürlich stellen sich Fragen. Ist unser Einsatz dort richtig? Ist dieser Einsatz auch gut verzahnt? Über diese wichtige Frage ist schon intensiv diskutiert worden. Das Afghanistan-Mandat der internationalen Gemeinschaft kann nur dann erfolgreich sein, wenn wir die richtige Zielsetzung haben, wenn wir zivile und militärische Komponenten miteinander verzahnen und wenn wir mit unseren Partnern in der internationalen Gemeinschaft die richtige Verabredung, was Arbeitsteilung und Burden-Sharing betrifft, finden. Deshalb ist es richtig, keine Vorfestlegung zu machen, wie wir uns verhalten, wenn es eine Afghanistan-Konferenz Ende Januar gegeben haben wird, sondern jetzt das Afghanistan-Mandat zu verlängern und im Januar im Lichte der neuen Beschlüsse unsere EntscheiHolger Haibach dungen zu treffen. Das müssen wir an dieser Stelle deutlich sagen. ({3}) Dass zur Selbstbestimmung der Aufbau funktionierender staatlicher Strukturen gehört, ist unbestritten. In Meseberg hat das Kabinett unter anderem beschlossen, dass die Zahl der deutschen Polizisten, die zur Ausbildung der afghanischen Polizei herangezogen werden sollen, von 70 auf 200 erhöht werden soll. ({4}) Das ist notwendig. Natürlich wissen wir, dass wir noch einiges zu tun haben, wenn wir zu einem Aufbau staatlicher Strukturen kommen wollen. Zum Aufbau staatlicher Strukturen gibt es, wie wir wissen, keine Alternative. Deswegen denke ich, dass wir unsere Rolle dabei spielen müssen. Wir brauchen an dieser Stelle aber auch den Dialog, den Wiederaufbau, die sichtbare Friedensdividende, wie Herr Niebel es genannt hat. An dieser Stelle will ich deutlich sagen: Ich bin froh, dass der neue Minister als eine der ersten Maßnahmen verkündet hat, dass er durch Umschichtungen im Haushalt in diesem Jahr 52 Millionen Euro zusätzlich bereitstellt, damit mehr Wiederaufbau, mehr Entwicklungszusammenarbeit geleistet werden kann. Das ist ganz klar ein Zeichen dafür, dass wir erkannt haben, was für Afghanistan notwendig ist. ({5}) Wenn man sich die Kritik der Nichtregierungsorganisationen anschaut - diese Woche fand die VENRO-Konferenz statt -, wird man zugestehen, dass man über vieles diskutieren kann. Wer die Presseberichterstattung verfolgt, muss jedoch den Eindruck gewinnen, das alles sei niemals erkannt worden und nichts davon sei Teil deutscher Politik. Ich will ein Beispiel anführen. Wir müssen uns intensiv Gedanken darüber machen, wie wir nicht nur in den Städten und in den Gegenden rund um unsere PRTs Sicherheit schaffen und beim Wiederaufbau vorankommen, sondern auch in den ländlichen Räumen. Da ist Deutschland durchaus Vorreiter. Nehmen wir das Konzept der Provincial Development Funds. Da sitzen Afghanen, zivile Entwicklungshelfer und Militärs an einem Tisch und entscheiden gleichberechtigt darüber, wie beträchtliche Mengen an Geld zur Stärkung ländlicher Regionen verteilt werden. Das kommt in der Öffentlichkeit kaum zur Sprache; man hört immer nur Kritik. Mit diesem Konzept hat Deutschland aber eine Vorreiterrolle eingenommen; denn bisher gibt es kaum ein anderes Land, das in Afghanistan ebenfalls diese Politik verfolgt. Um es zusammenzufassen: Ich glaube, dass es notwendig ist, insbesondere drei entwicklungspolitische Ziele zu sehen. Erstens. Wir müssen die Kapazitäten auf der afghanischen Seite ausbauen; dazu habe ich etwas gesagt. Das bedeutet, dass wir die größeren finanziellen Mittel, die uns jetzt zur Verfügung stehen, in den staatlichen Aufbau, in die Bildung und natürlich auch in den Aufbau entsprechender Sicherheitsstrukturen, einer Rechtsstaatlichkeit stecken. Zweitens. Wir müssen die internationale Zusammenarbeit und die Arbeitsteilung stärken. Ich denke, dass auf der Konferenz in London Ende Januar nächsten Jahres dafür gesorgt werden kann, dass dies geschieht. Drittens. Natürlich müssen wir auch dafür sorgen, dass die Mittel noch unmittelbarer bei der Bevölkerung ankommen. Es gibt einen dicken Bericht darüber, wie die internationale Gemeinschaft, wie das internationale Engagement in Afghanistan gesehen wird. Es ist vollkommen klar: Wenn die Bürgerinnen und Bürger, die Menschen in Afghanistan das Gefühl haben, dass die Hilfe bei ihnen ankommt, dann steigt auch die Akzeptanz und dann ist es möglich, mit dem Wiederaufbau nicht nur die Köpfe, sondern auch die Herzen zu erreichen. Ich glaube, das muss unser entscheidendes Ziel sein. Dazu gehört am Ende auch, dass wir uns im internationalen Bereich über den regionalen Ansatz einig werden. Pakistan ist von einer ganz entscheidenden Bedeutung für Afghanistan; denn wenn es dort zu einer instabilen Lage kommt, wird es sehr schwierig. Das betrifft aber auch viele andere Staaten wie China, Indien, den Iran und die zentralasiatischen Staaten. All das muss in unserer Entwicklungszusammenarbeit auch eine Rolle spielen. Fazit ist: Ich glaube, wir haben eine gute Strategie, mit der wir weiter gut voranschreiten können. Wir müssen unsere Entscheidungen im Lichte der Konferenz von London betrachten. Wenn wir das machen, dann, so glaube ich, können wir trotz der schwierigen Lage in Afghanistan am Ende auch Erfolg haben. Herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Karin Evers-Meyer für die SPD-Fraktion. ({0})

Karin Evers-Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003523, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir unterstützen den ISAF-Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Dieser Einsatz ist richtig und notwendig; denn ein sicheres Afghanistan liegt im deutschen Interesse und im Interesse der Menschen dort. Für den Einsatz unserer Armee ist das Parlament verantwortlich; ich betone das heute ganz besonders. Herr Minister zu Guttenberg, deswegen haben Sie mit der Zuweisung der Verantwortung an Herrn Staatssekretär Wichert und den Generalinspekteur Schneiderhan zwar schnell, unserer Meinung nach aber längst nicht ausreichend gehandelt. Es geht hier um politische Verantwortung. ({0}) Sie, Herr Minister zu Guttenberg, haben die tragischen Ereignisse in dieser Nacht, den Bombenabwurf auf zwei Tanklaster und die Menschenmenge, noch bis gestern als angemessen bezeichnet, und der frühere Verteidigungsminister Jung hat nach Presseberichten sowohl das Parlament als auch die Staatsanwaltschaft nicht korrekt informiert. In diesem Zusammenhang haben wir heute mit besonderem Interesse verfolgt, wie er von der Regierungsbank daran gehindert wurde, an das Rednerpult zu treten. Wenn das, was wir gerade gehört haben, wirklich richtig ist, dass er nämlich im Anschluss an die Parlamentssitzung bei Phoenix zu diesem Thema Stellung nimmt, dann halten wir das für eine Respektlosigkeit ohnegleichen dem Parlament gegenüber. ({1}) Herr Jung, ich fordere Sie hier in aller Ernsthaftigkeit auf, hier vor dem Parlament Stellung zu nehmen und nicht zuerst vor den Medien. Nun zurück zu unserem Thema. An der Begründung für den deutschen Afghanistan-Einsatz hat sich nichts geändert. Ich muss sagen: Leider hat sich daran noch nichts geändert, weil die Lage in Afghanistan eben nicht so stabil ist, wie wir uns das wünschen. Wir wollen einen Rückfall Afghanistans in die Zeiten des Bürgerkriegs und in die Zeiten der Talibanherrschaft verhindern. Deswegen sind deutsche Soldaten in Afghanistan und leisten dort anspruchsvolle Arbeit - eben auch unter Einsatz ihres Lebens. Sie unterstützen vor Ort die internationalen Bemühungen und die Bemühungen Afghanistans zur Stabilisierung des Landes. Dieses Ziel - ein stabiles Afghanistan für die Menschen Afghanistans - ist und bleibt richtig. Aber ohne die Unterstützung unserer Soldatinnen und Soldaten wird dieses Ziel in weite Ferne rücken, nicht zuletzt deshalb, weil unser Einsatz auch die afghanische Regierung und die internationalen Partner auffordert, aktiver beim Aufbau des Landes mitzuhelfen. Das bedeutet aber nicht, dass wir die Frage, wie lange dieser Einsatz noch dauert, noch länger unbeantwortet lassen können. Es ist sogar höchste Zeit, dass wir uns über die zeitliche Perspektive dieses Einsatzes verständigen. Das erwartet nicht nur die deutsche Öffentlichkeit von uns; das schulden wir vor allen Dingen auch den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die wir in diesen gefährlichen Einsatz schicken. Am Ende unseres Einsatzes muss die Regierung in Afghanistan selbst in der Lage sein, Verantwortung für die Sicherheit im Land zu übernehmen. Damit das gelingt, müssen wir Afghanistan eine klare Perspektive geben: Auch Afghanistan braucht einen Zeitplan und damit eine konkrete Zielvorgabe, eine Perspektive für die Entwicklung des Landes, eine Perspektive für das internationale Engagement und vor allem auch eine Perspektive für die Soldatinnen und Soldaten, die uns zu Recht immer häufiger fragen, wie lange der Einsatz in Afghanistan wohl dauern wird. Deswegen muss jetzt im Interesse Afghanistans und in unserem Interesse die Grundlage für einen durchdachten Abzug geschaffen werden. Die Zeit dafür ist doppelt günstig. Nach den Präsidentschaftswahlen gibt es jetzt Gelegenheit, Defizite beim Wiederaufbau offen anzusprechen. Hinzu kommt, dass der aktuelle Afghanistan-Compact im nächsten Jahr ausläuft. Das können wir nutzen, um auch unserem Engagement in Afghanistan eine neue Perspektive zu geben. Was die SPD-Fraktion will, ist ein verbindlicher Fahrplan, der gemeinsam mit der afghanischen Regierung und unseren internationalen Partnern erarbeitet wird. Am Ende des Fahrplans muss stehen, dass die Afghanen alleine für die Sicherheit ihres Landes sorgen können. Das Ziel ist ambitioniert, aber wir sollten den Anspruch haben, dieses Ziel zu erreichen. In den vergangenen Jahren gab es Fortschritte bei der Zusammenarbeit mit den afghanischen Sicherheitskräften. An 90 Prozent aller ISAF-Einsätze sind mittlerweile afghanische Armeeeinheiten beteiligt. Das ist ein Fortschritt. Ich weiß aber, dass zur Wahrheit auch gehört, dass nur knapp die Hälfte der afghanischen Bataillone in der Lage ist, auch eigenständige Operationen durchzuführen. Das macht deutlich: Wir bewegen etwas, aber wir können und müssen noch etwas mehr tun, insbesondere in Sachen militärischer und polizeilicher Ausbildung. Deswegen fordern wir von der Bundesregierung heute verlässliche Aussagen darüber, mit welchen Zielen sie in die Gespräche mit der afghanischen Regierung geht. Wir fordern klare Konzepte und deutliche Forderungen in Richtung Afghanistan-Konferenz. Das ist die Voraussetzung dafür, dass konkrete Ziele vereinbart werden können. Das Gleiche gilt für den neuen AfghanistanCompact. Das Engagement der internationalen Partner muss mehr als bisher zielgerichtet koordiniert werden. Der neue Pakt muss tragfähige Ziele für den Aufbau des Landes benennen, und dazu gehört eben auch ein konkreter Zeitplan. Deutschland ist bereit, seinen Beitrag zu leisten, sich noch stärker um die Ausbildung der afghanischen Armee und der Polizei zu bemühen. Sicherlich können wir die Wirkung unseres Engagements noch erhöhen, wenn wir uns mehr auf Brennpunkte konzentrieren und die Zusammenarbeit mit den zivilen Helfern und Organisationen weiter ausbauen. Ich erinnere daran: Die Grundlage des ISAF-Einsatzes ist „Keine Sicherheit ohne Aufbau und kein Aufbau ohne Sicherheit“. Das muss heute mehr gelten denn je. Es liegt jetzt an der Bundesregierung, ein entsprechend klares Konzept vorzulegen. Ein klares „Weiter so wie bisher!“ reicht einmal mehr nicht aus. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bevor wir in der Tagesordnung fortfahren, erteile ich das Wort zur Geschäftsordnung Herrn Kollegen Oppermann.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsminister hat heute Morgen hier erklärt, dass er uns als Parlament direkt darüber informiert, dass der Generalinspekteur militärisch Verantwortung übernommen hat und dass der Staatssekretär administrativ Verantwortung übernommen hat. Uns wurde aber nicht erklärt, wer die politische Verantwortung trägt. ({0}) Der amtierende Verteidigungsminister war noch nicht zuständig, als sich die Luftangriffe in Afghanistan ereigneten. Aber der damals zuständige und verantwortliche Minister ist heute hier im Plenum. Wenn wir jetzt hören, dass ein Interview mit dem Verteidigungsminister a. D. Jung bei Phoenix bevorsteht, dann finde ich, dass das Parlament den Anspruch und das Recht hat, vorher persönlich Herrn Jung zu hören. ({1}) Wenn Herr Jung als nicht mehr zuständiger Minister hier nicht reden darf, dann muss allerdings jemand anderes die politische Verantwortung übernehmen und über die politische Verantwortung reden. Wenn Herr Jung es nicht tun kann, dann kann es nur die Person tun, die damals im Amt war und heute im Amt ist; das ist die Bundeskanzlerin. ({2}) Ich beantrage zunächst, dass der Informationsanspruch des Parlamentes dadurch erfüllt wird, dass jetzt Verteidigungsminister a. D. Jung das Wort erhält. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat der Kollege Altmaier.

Peter Altmaier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002617, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es handelt sich bei den Vorwürfen, über die wir heute Morgen diskutiert haben, um einen ernsten Vorfall. Der Bundesminister der Verteidigung hat in angemessener, umfassender und klarer Weise dem Parlament Rechenschaft darüber abgelegt. Ich möchte mich im Namen der CDU/CSU-Fraktion dafür ganz herzlich bedanken. ({0}) Ich finde es, Herr Kollege Oppermann, mit Verlaub gesagt, der Situation nicht angemessen, wenn Sie versuchen, bei der Ernsthaftigkeit dieses Themas mit Geschäftsordnungsanträgen und mit Vorwürfen, die durch nichts begründet sind, ({1}) eine Debatte, die in angemessener Art und Weise geführt worden ist, für parteipolitische Zwecke auszuschlachten. ({2}) Mir ist nicht bekannt, dass der Bundesminister für Arbeit und Soziales in nächster Zeit ein Phoenix-Interview geben wird. ({3}) Mir ist auch kein Argument bekannt, das dafür spricht, Ihrem Geschäftsordnungsantrag zuzustimmen. Deshalb beantragen wir, diesen Geschäftsordnungsantrag abzulehnen. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Antrag zur Geschäftsordnung gestellt worden. Eine Gegenrede ist ermöglicht worden. Es besteht nach unserer Geschäftsordnung die Möglichkeit, darüber abzustimmen. ({0}) - Nicht zwingend. Ich verweise auf § 29 Abs. 2 der Geschäftsordnung: Der Präsident kann die Worterteilung bei Geschäftsordnungsanträgen, denen entsprochen werden muss …, auf den Antragsteller, bei anderen Anträgen auf einen Sprecher jeder Fraktion beschränken. ({1}) Ich hätte also die Worterteilung auf den Antragsteller beschränken können. Ich habe aber mehr zugelassen. ({2}) - Der Präsident entscheidet. Ich entscheide so, weil es in der Sache nicht mehr bringt, sondern nur die Zeit verlängert. Ich bitte deshalb jetzt um Abstimmung. ({3}) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt - Die Kollegin will einen weiteren Geschäftsordnungsantrag stellen. Wir sind aber in der Abstimmung über den vorliegenden Geschäftsordnungsantrag. Der Kollege Oppermann hat einen Geschäftsordnungsantrag gestellt, und über diesen Antrag lasse ich abstimmen. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! ({4}) Wir sind uns nicht einig. Deshalb muss ausgezählt werden. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Saal zu verlassen. - Darf ich darum bitten, dass alle Kolleginnen und Kollegen, die nicht Schriftführer sind, den Saal definitiv verlassen? - Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze an den Türen einzunehmen. Darf ich um ein Zeichen bitten, ob die Schriftführer ihre Plätze eingenommen haben? - Ja, das ist der Fall. Der Saal ist derzeit leer. Ich weise noch einmal darauf hin, dass wir über den Geschäftsordnungsantrag der SPD-Fraktion abstimmen. Ich bitte nun, mit dem Auszählen zu beginnen. Sind jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, die zunächst vor der Tür standen, im Saal? - Dann bitte ich Sie, Platz zu nehmen. Die Auszählung ist geschlossen. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mir das Ergebnis mitzuteilen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen das Ergebnis der Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag bekannt: Mit Ja haben gestimmt 231, mit Nein haben gestimmt 293 Abgeordnete, Enthaltung keine. ({5}) Der Geschäftsordnungsantrag ist damit abgelehnt. Unabhängig vom Ausgang der Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag hat Herr Bundesminister Jung angeboten, eine Stellungnahme abzugeben. ({6}) Herr Minister, bitte.

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst sagen, dass ich es gerade in dieser wichtigen und ernsten Debatte für notwendig erachte, dass Offenheit, Transparenz und Ehrlichkeit die Grundlage sind für Vertrauen und dass dies auch und gerade für mich im Hinblick auf die Information für das Parlament gilt. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte allerdings Folgendes erbitten: Sie haben von diesen Vorwürfen, von diesen Berichterstattungen und von dem gesprochen, was hier alles im Einzelnen behauptet worden ist. Ich möchte die Chance haben, diese Unterlagen zu überprüfen, auch den Sachverhalt zu überprüfen, um dann korrekt Ihnen gegenüber, vor dem Parlament, Stellung nehmen zu können, und zwar im Laufe des heutigen Tages. Dies halte ich für ein sachgerechtes Vorgehen. Ich bitte diesbezüglich um Ihre entsprechende Zustimmung. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wurde vereinbart, die Vorlage auf Drucksache 17/39 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Altersteilzeitgesetzes - Drucksache 17/20 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Ich darf Sie bitten, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Gespräche außerhalb des Saales fortzuführen und den Rednerinnen und Rednern der nächsten Debatte Aufmerksamkeit zu schenken. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Hubertus Heil von der SPDFraktion. ({1})

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe Verständnis dafür, dass dies für den Bundesminister für Arbeit und Soziales aufgrund der Debatte, die wir eben geführt haben, und der Berichterstattungen kein einfacher Tag ist. Mich hat eben eine Nachricht erreicht, die auf die Situation, in der sich der Minister in seinem neuen Amt befindet, ein bezeichnendes Licht wirft. Ich habe gerade gehört, dass auf der Konferenz der Arbeitsund Sozialminister der Bundesländer, nachdem gestern Abend mit dem Bundesarbeitsminister beraten wurde, mit sage und schreibe 15 Stimmen bei einer Enthaltung Hubertus Heil ({0}) entschieden wurde, dass im Rahmen der Reform des SGB II - Stichwort „Jobcenter“ - der alte von Olaf Scholz erarbeitete und von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion torpedierte Kompromiss und Gesetzentwurf beschlossen werden soll. Das zeigt den Rückhalt, den Sie in der Arbeitsmarktpolitik haben. ({1}) Es ist also in mehrerlei Hinsicht kein einfacher Tag für den Bundesarbeitsminister. Ich habe zwar Verständnis dafür, dass er sich, wie er eben gesagt hat, die nötige Zeit nimmt, und finde es fair, dass er heute in der alten Angelegenheit Stellung nimmt. Wir brauchen aber im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, zumal in diesen Zeiten, einen Bundesminister für Arbeit und Soziales, der den Kopf und den Rücken frei hat, um sich um den Arbeitsmarkt in diesem Land zu kümmern. ({2}) Herr Fuchtel, als zuständiger Staatssekretär sind Sie hier in Vertretung des Ministers; vielleicht hören Sie einmal zu. Es geht nämlich um ein arbeitsmarktpolitisches Instrument, das aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion in dieser Krise unerlässlich ist. Es ist richtig und vernünftig, dass Sie in der Tradition von Olaf Scholz im nächsten Jahr die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes wieder verlängert haben, um ein Instrument zur Verfügung zu haben, den Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland effektiv begegnen zu können. Umso weniger verstehe ich aber, dass Sie gerade in dieser Krise ein weiteres wichtiges Instrument, nämlich die geförderte Altersteilzeit, die eine Beschäftigungsbrücke zwischen Jüngeren und Älteren darstellt, auslaufen lassen wollen. Das ist weder logisch noch sinnvoll. ({3}) Deshalb legt die SPD-Bundestagsfraktion heute einen Gesetzentwurf vor, der die Verlängerung der Regelung zur geförderten Altersteilzeit um fünf Jahre vorsieht. Wir sind der festen Überzeugung, dass es notwendig und richtig ist, sich die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt genau anzusehen. Ja, es ist richtig, dass im Jahre 2009 die Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise abgefedert werden konnten, dass die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt bis dato nicht so schrecklich war wie prognostiziert. Aber wir müssen feststellen, dass diese Aussage für bestimmte Altersgruppen auf dem Arbeitsmarkt bereits in diesem Jahr so nicht gilt. Probleme gibt es bei unter 25-Jährigen und über 50-Jährigen. Gerade deshalb ist es notwendig, eine Beschäftigungsbrücke, das heißt geförderte Altersteilzeit, zu bauen und zu erhalten. Die Frage ist doch, meine Damen und Herren von der Koalition, ob wir in dieser Situation pragmatisch reagieren, um das zu tun, was notwendig ist, nämlich Beschäftigung zu sichern und vor allen Dingen Berufseinstiegschancen für Jüngere zu schaffen. Ich kann die ideologische Position, mit der Sie uns hier begegnen, nicht verstehen. Dann auch noch Ihre falschen Argumente: Es gibt eine Untersuchung der Universität Duisburg-Essen zur Altersteilzeit aus dem Herbst letzten Jahres, ({4}) in der all die Argumente, die Frau Connemann gleich noch einmal auflisten wird, entkräftet werden. Es ist schlicht und ergreifend falsch, dass die geförderte Altersteilzeit den Trend zur Frühverrentung unterstützt. Im Gegenteil: Wir in der Verantwortung der Bundesregierung haben in den letzten Jahren den Trend zur Frühverrentung in diesem Land gestoppt und umgekehrt. Das ist gut so, und das ist richtig so. ({5}) - Entschuldigen Sie, ist Ihnen aufgefallen, dass die Regelung der geförderten Altersteilzeit noch in Kraft ist ({6}) und dass die geförderte Altersteilzeit also kein Brandbeschleuniger für den Trend zur Frühverrentung sein kann? ({7}) Denn wir haben diese zurückgedrängt. Wenn Sie einmal ein bisschen nachdenken würden, dann würde sich das auch Ihnen erschließen. Helmut Kohl hat einmal den schönen Satz gesagt: Die Realität ist anders als die Wirklichkeit. Ich habe damals als Jungsozialist oft darüber geschmunzelt. Inzwischen, mit zunehmendem Lebensalter, begreife ich, was der philosophiebegabte Altbundeskanzler damit gemeint hat. Die Realität im nächsten Jahr wird sein, dass sich die Probleme am Arbeitsmarkt infolge der Wirtschaftsund Finanzkrise verschärfen werden. Das wissen wir alle. Aber die Wirklichkeit ist, dass diese Bundesregierung den Menschen in Deutschland die gerade in diesen Zeiten notwendigen Instrumente, um dieser Entwicklung zu begegnen, verweigert. Frau Connemann, als niedersächsischer Kollege will ich Ihnen im Vorfeld Ihrer Rede einen Tipp geben. Bevor Sie wieder erzählen, das Instrument der Altersteilzeit werde von den Unternehmen zum Personalabbau missbraucht, empfehle ich Ihnen, sich die Salzgitter AG in unserem Heimatland Niedersachsen anzuschauen. Das ist ein Unternehmen, das mit dem Werk in Peine auch in meinem Wahlkreis vertreten ist. Es hat in den letzten Jahren das Instrument der geförderten Altersteilzeit sehr wohl genutzt, um in einer Branche, die sehr konjunkturabhängig ist, Beschäftigungsbrücken zu bauen, um Jüngeren konsequent den Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen. Wenn wir davon ausgehen, dass in Zeiten einer Wirtschaftskrise Kurzarbeit oder neue Instrumente zur Verkürzung der Arbeitszeit - auch der Wochenarbeitszeit, wie sie Herr Kannegiesser und die IG Metall ins Gespräch gebracht haben - grundsätzlich Instrumente zur Beschäftigungssicherung sein können, dann sollten wir Hubertus Heil ({8}) uns das bewährte Instrument der geförderten Altersteilzeit nicht entgehen lassen. Deshalb haben wir diesen Gesetzentwurf binnen kürzester Zeit erarbeitet und vorgelegt. Ich bitte Sie von der Koalition, nicht aus ideologischen Gründen oder weil er von uns als Opposition vorgelegt worden ist, an dieser Stelle tatsächlich noch einmal nachzudenken und umzukehren. Die jungen Menschen, die unter 25-Jährigen, verdienen eine Chance. Die Chance, Älteren - die es wollen oder auch brauchen - durch Arbeitszeitverkürzung, das heißt durch geförderte Altersteilzeit, einen flexiblen Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen, ist nicht nur pragmatisch richtig, sondern auch menschengerecht und in dieser Phase des Arbeitsmarktes unerlässlich. Deshalb ist unser Vorschlag konsequent. Wir haben damit zu rechnen, dass auch im Bundesrat entsprechende Initiativen ergriffen werden. Ich bitte Sie an dieser Stelle, sowohl auf das zu hören, was aus dem Bereich der Personalvorstände und der Unternehmensleitungen, als auch auf das, was von den Gewerkschaften und aus dem Bereich der Betriebs- und Personalräte gefordert wird. Es ist eine Chance, ein in dieser Krise notwendiges Instrument nicht zu verspielen, das eine Beschäftigungsbrücke zwischen Jüngeren und Älteren darstellt. Deshalb ist es auch eine gesamtwirtschaftliche Frage, ob wir über dieses Instrument dem drohenden Fachkräftemangel der Zukunft begegnen können, indem wir jungen Menschen konsequent einen Einstieg über die Möglichkeit der geförderten Altersteilzeit ermöglichen, ({9}) damit sie diese Beschäftigungsbrücken zwischen den Generationen beschreiten können. Deshalb, meine Damen und Herren, bitte ich Sie im Namen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, in Zeiten, in denen der Bundesarbeitsminister mit Dingen aus seiner Vergangenheit belastet ist, den Blick für die Gegenwart und die Zukunft am Arbeitsmarkt nicht zu verlieren und unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Gitta Connemann. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, seit der Bundestagswahl scheinen Sie sich ein neues Hobby zugelegt zu haben: der Kollege Heil das der Hellseherei; denn er wusste schon vor meiner Rede, was ich sagen würde. ({0}) Sie haben offenbar ein weiteres Hobby, nämlich einen Sport der besonderen Art: die Rolle rückwärts. ({1}) Herr Kollege Heil, Ihre Rede war eine bemerkenswerte Darbietung dieser neuen Disziplin. Ich habe wirklich mit Ihnen gelitten; denn Sie müssen sich bei dieser Übung außerordentlich verrenkt haben. Die Linken haben in der vergangenen Legislaturperiode viermal die Verlängerung der geltenden Altersteilzeitregelung beantragt. ({2}) Viermal haben Sie diesen Antrag abgelehnt, meine Damen und Herren von der SPD. ({3}) Heute bringen Sie einen nahezu inhaltsgleichen Gesetzentwurf ein. Das nenne ich eine Rolle rückwärts. ({4}) Doch wenn Sie glauben, dafür eine Goldmedaille zu gewinnen, muss ich Sie enttäuschen, liebe Sportsfreunde; ({5}) denn die Rolle rückwärts ist keine olympische Disziplin. Damit schaffen Sie es noch nicht einmal aufs Podium; denn wir werden Ihren gemeinsamen Verrenkungen mit den Linken auf Kosten der Arbeitslosenversicherung nicht zustimmen, und genau darum geht es heute.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? - Der Herr Kollege Heil würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne, Herr Kollege. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kollegin Connemann, Ihnen sollte eigentlich bekannt sein, was Koalitionsverträge bedeuten, und Sie sollten wissen, dass Sie uns, Ihren damaligen Koalitionspartner, in der letzten Legislaturperiode daran gehindert haben, die Regelung zur geförderten Altersteilzeit zu verlängern. ({0}) Meine Frage ist: Meinen Sie mit „Rolle rückwärts“ auch die „Rolle Rüttgers“, die Position des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers, der gegenHubertus Heil ({1}) über Gewerkschaften und Arbeitgebern eine Verlängerung der Regelung zur geförderten Altersteilzeit ganz ausdrücklich befürwortet hat? Meine Frage ist: Wollen Sie Herrn Rüttgers auch in die kommunistische Ecke rücken? ({2})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Heil, allenfalls in sportlicher Hinsicht. Ich beurteile in diesem Plenum Ihre Leistung, und Fakt ist, dass die Koalitionsvereinbarung auch mit Ihren Stimmen geschlossen worden ist. Übrigens ging von Ihrem damaligen Bundesminister für Arbeit und Soziales, Franz Müntefering, langjähriger Parteivorsitzender und Vizekanzler, die Initiative zur Beendigung der geförderten Altersteilzeit aus. ({0}) Dabei ging es im Wesentlichen, und zwar aus gutem Grund, um die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. ({1}) - Ich bin noch nicht fertig. ({2}) - Gut, vielen Dank, dass Sie selbst bestimmen, wann die Frage beantwortet ist. Ich hätte Ihnen gerne noch erklärt, wie der Staat fördert, und darauf hingewiesen, dass er weiterhin fördert. Sie erzeugen einen Irrglauben, wenn Sie sagen, dass die Altersteilzeit nicht weitergeführt werden kann. Tatsache ist, dass sie auch nach 2009 weitergeführt werden wird, und zwar mit einer erheblichen staatlichen Förderung. Der Betrag, mit dem das Teilzeitgehalt aufgestockt wird, ist von Steuern und Sozialabgaben befreit. Davon profitieren heute 500 000 Arbeitnehmer. Diese erhebliche Förderung wird es weiterhin geben. Es geht um den zweiten Teil, nämlich um die Tatsache, dass die Bundesagentur für Arbeit die Mindestaufstockung des Gehalts um 20 Prozent übernimmt, wenn der frei werdende Arbeitsplatz neu besetzt bzw. ein Ausgebildeter dafür eingestellt wird. Diese Förderung aus der Kasse der Arbeitslosenversicherung erfolgt in 20 Prozent der Fälle. Mit einer außerordentlich hohen Summe. 1,3 Milliarden Euro werden pro Jahr für nur 94 000 Beschäftigte in Altersteilzeit aufgewandt, und zwar aus Beiträgen, die an sich das Risiko der Arbeitslosigkeit absichern sollen. Das geht auf Kosten aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. Das heißt, viele subventionieren die Frührente einiger weniger. Das ist in jeder Hinsicht ungerecht. Deswegen sagen wir sehr deutlich: Mit dieser Frühverrentung muss am Ende dieses Jahres endlich Schluss sein. ({3}) Darüber waren wir uns in der letzten Legislaturperiode mit Ihnen einig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Nun starten Sie aber wieder in Ihrer Paradedisziplin: Es geht zurück in die Vergangenheit. Nun soll die Förderung mit Arbeitslosengeldern fortgeführt werden, nur mit einigen kleinen Änderungen, mit Marginalien, sodass die Grundprobleme erhalten bleiben: Erstens. Die Altersteilzeit ist fast nie, was ihr Name verspricht. Sie ist keine echte Teilzeit mit halbierter Arbeitszeit, wie es der Gesetzgeber 1996 eigentlich wollte. Heute wählen fast 90 Prozent das sogenannte Blockmodell. ({4}) Bis zu einem Stichtag wird voll gearbeitet. Dann folgt abrupt die Freizeitphase. Ein gleitender Übergang in den Ruhestand findet gerade nicht statt. Damit sind nicht nur gesundheitliche Risiken verbunden. Die Älteren verlassen die Betriebe faktisch einige Jahre vor der Altersgrenze. Das ist ein großer Verlust angesichts der demografischen Entwicklung. Gerade diese wird von der SPD in ihrem Gesetzentwurf als Begründung angeführt. Dort heißt es: Die demografische Entwicklung macht es erforderlich, das Beschäftigungspotenzial der Älteren voll auszuschöpfen. Absolut richtig, liebe SPD! Weiter steht dort, man müsse ihr wertvolles Erfahrungswissen länger in den Unternehmen nutzen. Absolut richtig! Aber wenn Sie flexible Übergänge wirklich wollen, dann müssen Sie konsequenterweise das Blockmodell abschaffen. Davon steht in Ihrem Gesetzentwurf ebenso wenig wie in den damaligen Anträgen der Linken. ({5}) Das macht im Umkehrschluss deutlich, was Sie eigentlich wollen: Weiter mit der subventionierten Frühverrentung. ({6}) Zweitens. Von dieser Praxis profitieren laut Deutscher Rentenversicherung und dem Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung, IAB, vor allem Besserverdienende, die kaum arbeitslos gewesen sind. Die Büroberufe der öffentlichen Verwaltung und im Kreditgewerbe liegen dabei vorne. Im Baugewerbe profitieren dagegen nur 2 Prozent von der Frühverrentung. Das heißt, die Rede vom Bauarbeiter, der in die Altersteilzeit geht, ist eigentlich eine Mär, die der heutigen Realität faktisch nicht entspricht. ({7}) Gerade diejenigen, die körperlich hart arbeiten müssen und wenig verdienen - der Bauarbeiter und die Friseurin -, können sich dieses Modell nicht leisten, müssen es aber mit ihren Beitrags- und Steuermitteln finanzieren. Die Kleinen zahlen für die Großen; das ist unsozial. ({8}) Deswegen werden wir es nicht mittragen. Drittens. Lieber Herr Kollege Heil, die Altersteilzeit hat nicht zu mehr Einstellungen geführt. Dies möchte der Kollege Heil nicht hören; deswegen dreht er mir offensichtlich den Rücken zu. - Sicherlich sind Auszubildende übernommen worden. Allerdings wären sie ohnehin übernommen worden; denn angesichts des trotz der Krise bestehenden Fachkräftebedarfs hat jedes Unternehmen ein Interesse daran, seinen qualifizierten Nachwuchs zu behalten. Mitnahmeeffekte anstatt einer Beschäftigungsbrücke. So findet sich in einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit die Deutung - ich zitiere -, „dass es vermehrt zu Mitnahmeeffekten durch Unternehmen kam, die Auszubildende sowieso eingestellt bzw. übernommen hätten“. Viertens. Diese Mitnahmepraxis wird insbesondere von Konzernen genutzt. Auf die Betriebe mit mehr als 1 000 Beschäftigten entfallen mehr als ein Drittel der Altersteilzeitbeschäftigten. Dagegen beträgt der Anteil in Betrieben mit weniger als 20 Arbeitnehmern weniger als 2 Prozent, obwohl mehr als ein Drittel der Arbeitnehmer in Deutschland in solchen Betrieben arbeitet. Das heißt, die Altersteilzeit gehört in den Großbetrieben zum Standard. Die Konzerne nutzen die Altersteilzeit, um sich bequem und auf Kosten der Steuer- und Beitragszahler von älteren Arbeitnehmern zu verabschieden; auch das ist unsozial. ({9}) Es gibt also kein einziges Argument, die Altersteilzeit nach 2009 mit Mitteln der Arbeitslosenversicherung zu fördern. Die Förderung ist unsozial, der Nutzen zweifelhaft; Mitnahmeeffekte sind vorprogrammiert. Herr Kollege Heil, davon geht auch ein vollkommen falsches Signal aus: Ältere raus aus den Betrieben, subventioniert von der Allgemeinheit. Genau das brauchen wir nicht. Wir brauchen in dieser Gesellschaft die Älteren ebenso wie die Jüngeren. Wir dürfen kein Konkurrenzverhältnis erzeugen; das ist mit uns von der Union nicht zu machen. ({10}) Wir benoten die derzeitige Altersteilzeitregelung ebenso wie die Bundesagentur - ich zitiere -: „Beliebt, aber nicht zukunftsgerecht.“ In der neuesten Studie vom August 2009 lehnt das IAB, die Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit, die Altersteilzeitregelung mit folgender Begründung ab - ich zitiere -: In ihrer gegenwärtigen Form gibt die Altersteilzeit die falschen Signale. … Deshalb gewinnen Maßnahmen an Bedeutung, die dazu beitragen, die Beschäftigungsfähigkeit der älteren Mitarbeiter zu erhalten. So sollte die Arbeitsmarktpolitik auf längere Sicht den Fokus auf die Beschäftigung möglichst bis an die Ruhestandsgrenze legen - gerade bei einer bis zum 67. Lebensjahr verlängerten Lebensarbeitszeit. ({11}) Liebe Sportsfreunde von der SPD, Ihr Gesetzentwurf weist genau in die entgegengesetzte Richtung: Sie wollen die Renaissance der staatlich geförderten Frühverrentung. Das ist angesichts der demografischen Entwicklung ein schwerer Fehler. Sie wissen um diesen Fehler; denn im Jahre 2005 war es kein Geringerer als Ihr Genosse Franz Müntefering, der den Rentenbeginn mit 67 initiierte. ({12}) Seine Idee war und ist noch heute richtig - wir haben es mitgetragen -; denn immer weniger Arbeitnehmer müssen in Zukunft immer mehr Menschen im Alter finanzieren. Die Behauptung, damit werde jüngeren Arbeitnehmern der Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt, ist tatsächlich längst widerlegt. In vielen Branchen fehlt trotz der Krise der Nachwuchs. Mit dem Prinzip der Rente mit 67 ist die Wiederbelebung der staatlich geförderten Frühverrentung vollkommen unvereinbar. Damit wird an Ihrem Gesetzentwurf eines deutlich: Es geht Ihnen letztlich nur darum, ein Feigenblatt zu finden, um sich von der Rente mit 67 und damit auch von der Agenda 2010 zu verabschieden. ({13}) Nichts anderes ist dieser Gesetzentwurf: ein Feigenblatt. Es steht völlig außer Frage, dass wir in bestimmten Branchen mit schwerster Belastung Kranken und Ausgebrannten eine Möglichkeit geben müssen. Das haben wir mit den Programmen getan, die wir in der letzten Legislaturperiode gemeinsam aufgelegt haben. Wir haben dort Möglichkeiten geboten, und zwar durch finanzielle Leistungen, durch die Förderung der beruflichen Weiterbildung, durch Modernisierung und altersgerechte Gestaltung von Arbeitsbedingungen - mit Erfolg: Die Erwerbstätigenquote bei Älteren ist signifikant angestiegen. Verlassen Sie doch diesen Pfad der Vernunft nicht! Meine Damen und Herren von der SPD wie auch von der Linken, ich kann nur sagen: Nehmen Sie Abstand von diesem Gesetzentwurf! Damit werden Sie weder einen Platz in der Sportgeschichte noch im Bundesgesetzblatt finden. Wir werden ihn ablehnen. Vielen Dank. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der SPD geht angesichts der Situation, die wir zurzeit, in der Krise, in den Betrieben ganz real vorfinden, in die richtige Richtung. Ich werde zu Frau Connemann noch das eine oder andere über die Realität sagen. Aber ein paar Bemerkungen kann ich natürlich auch der SPD nicht ersparen. Es ist richtig, dass Ihr Weg, die Anhebung des Renteneintrittsalters - dafür sind Sie mit verantwortlich - und das Auslaufen der geförderten Altersteilzeit - in der Zeit, in der Sie regiert haben, ist sie ausgelaufen, und Sie haben nicht dazu beigetragen, dass das vernünftig geregelt wird -, die Probleme herbeigeführt hat, die Sie jetzt versuchen zu regeln. Dass Sie es jetzt regeln wollen, ist schön; aber besonders loben können wir Sie dafür nicht. ({0}) - Ich kann Ihnen auch sagen, warum: Wenn man einen Brand legt, dann kann man nicht dafür gelobt werden, dass man als Erster die Feuerwehr ruft. ({1}) Wir müssen daran erinnern, wo Ihre Verantwortung liegt. Hier wird richtigerweise angeführt, dass Sie Ihre Position in der Rentenpolitik ändern. Das eigentliche Problem ist also Ihre Rentenpolitik. Sie sind sich nach wie vor überhaupt nicht einig, was Sie wollen. Auf Ihrem Parteitag hieß es zur Rente mit 67 - ich zitiere -: Wir werden uns dazu im nächsten Jahr konkret verhalten, wenn die Bundesregierung den Bericht zu der Anhebung der Regelaltersgrenze gibt. Sie haben im Wahlmanifest von 2005 geschrieben - ich zitiere -: Unser Ziel ist, das faktische Renteneintrittsalter an das gesetzliche Eintrittsalter von 65 Jahren heranzuführen. Herausgekommen sind die Rente mit 67 und das Auslaufen der geförderten Altersteilzeit. Ich sage Ihnen: Das Problem, das Sie zurzeit in dieser Frage haben, ist, dass Sie herumeiern. Sie haben noch keinen Kurs gefunden. In dieser Frage hat die CDU/CSU leider recht. Ich kann nur hoffen, dass Sie Ihren Kurs endlich finden. Denn die letzten Wahlergebnisse und Umfrageergebnisse sind für Sie ja nicht berauschend. Das hängt damit zusammen, dass Sie noch keinen Kurs gefunden haben. Ich kann Ihnen auch sagen: Wenn man sich dreht und wendet, wird man von denen nicht mehr erkannt, wo man her kommt, und von denen nicht akzeptiert, wo man hin will. Das ist Ihr Problem. ({2}) Kehren Sie um, und versuchen Sie, zumindest in dieser Frage wieder Sozialdemokraten zu werden; Sie sind es noch nicht ganz. Zum Inhalt Ihres Gesetzentwurfes: Der Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung, weil er tatsächlich versucht, einen Übergang zwischen Menschen, die im Betrieb sind, und Menschen, die in den Betrieb wollen, zu gewährleisten. Allerdings verschließt sich mir jede Logik bei der Frage, warum Sie diese Förderung eigentlich nur dann gewähren wollen, wenn Auszubildende eingestellt werden. Wir haben momentan folgende Situation auf dem Arbeitsmarkt - das dürfte Ihnen doch nicht entgangen sein -: Die Ersten, die rausgeflogen sind, waren die Leiharbeiter. Das waren die Ersten, die die Betriebe verlassen mussten und momentan händeringend Jobs suchen. Die Zweiten, die nicht mehr im Betrieb sind, sind die, die befristete Beschäftigungsverhältnisse hatten. Sie wollen diese befristeten Beschäftigungsverhältnisse jetzt auch noch ausweiten und damit dazu beitragen, dass noch mehr Menschen nicht in einer Beschäftigung sind, übrigens ohne dass ihnen gekündigt werden muss; denn am Kündigungsschutz wollen Sie nichts ändern. Ich sage: Wenn man nicht zur Kenntnis nimmt, dass es nicht nur um die Auszubildenden geht, sondern auch um die vielen Menschen, die ihren Job aufgrund der Krise schon verloren haben, dann liegt man an dieser Stelle falsch. Ihr Gesetzentwurf geht in die richtige Richtung. Aber wir brauchen, bitte schön, auch dann eine Förderung, wenn Arbeitslose eingestellt werden oder wenn Leute eingestellt werden, die vorher Leiharbeiter oder befristet Beschäftigte waren und dann arbeitslos geworden sind. Warum wollen Sie die Förderung bei diesen Leuten nicht gewähren? Das ist vollkommen unlogisch. Ändern Sie an dieser Stelle Ihren Gesetzentwurf! ({3}) Meine Damen und Herren, Schwarz-Gelb lehnt eine weitere Förderung der Altersteilzeit ab. Das ist natürlich problematisch. Dieses Gesetz ist nämlich nicht von der SPD eingeführt worden, sondern es ist unter SchwarzGelb entstanden. ({4}) Damals gab es in Ihren Reihen noch Sozialpolitik. ({5}) Damals gab es in Ihren Reihen auch noch einen Norbert Blüm. Er hat damals zwar nicht immer das gesagt, was wir gedacht haben. Zur Frage der Altersteilzeit hatten Sie damals aber eine Position, die lautete: Es ist im Prinzip besser, die Jüngeren in die Betriebe zu lassen, als die Alten so lange in den Betrieben zu lassen, bis sie wirklich nicht mehr können. ({6}) Das war damals Ihre Position, und die war richtig. ({7}) - Nein, sie war richtig. Zu den Grünen komme ich auch noch. Lassen Sie mir nur ein bisschen Zeit, einer nach dem anderen. 412 ({8}) Sie haben damals eine richtige Position vertreten mit dem Ergebnis, dass immer dann, wenn es Beschäftigungsprobleme gab, sodass die Jüngeren nicht in die Betriebe kamen, die Möglichkeit eröffnet wurde, die Auszubildenden trotzdem zu übernehmen und die Älteren - ich sage es einmal so: in Würde -, ohne dass sie vorher arbeitslos wurden, in Rente gehen zu lassen. Das war einmal. Inzwischen lehnen Sie das vollkommen ab. Sie sagen - das habe ich gerade bei Frau Connemann gehört -, dass Sie Erfahrungswissen länger halten wollen. Ich weiß nicht, ob Sie zur Kenntnis nehmen, was zurzeit im Lande passiert. Ich weiß nicht, ob Sie zur Kenntnis nehmen, was zum Beispiel in meiner Region geschieht. Dort gibt es vier größere Betriebe in der Größenordnung von 2 000 bis 7 000 Beschäftigten. In einem dieser Betriebe geht es jetzt in der Krise um ein Sparprogramm von 200 Millionen Euro. In einem anderen Betrieb wurde ein Personalabbau um 25 Prozent angekündigt. Im dritten Betrieb sollen Umstrukturierungen stattfinden, damit man sich nach der Krise vernünftig aufstellen kann. All das geht zulasten der Beschäftigung. Mit Ihrer Ablehnung der geförderten Altersteilzeit sagen Sie letztendlich: Die Jungen sollen in die Arbeitslosigkeit gehen, und die Alten sollen arbeiten bis zum Umfallen. - Um es einmal ganz deutlich zu sagen: Wenn Sie die geförderte Altersteilzeit ablehnen, ist das ein Skandal. ({9}) Frau Connemann, Sie müssen mir einmal den Beschäftigten zeigen, der ein großes Erfahrungswissen hat, nicht arbeiten will und, obwohl er gebraucht wird, seinen Arbeitsplatz aufgibt. Diesen Beschäftigten gibt es nicht. ({10}) Es gibt allerdings Beschäftigte, die ihr Wissen in den Betrieben gerne weiter einsetzen würden, ({11}) es aber nicht können, weil in den Betrieben gegenwärtig ein Personalabbau in der Größenordnung von 10 bis 15 Prozent stattfindet. Im Übrigen trifft das Argument, das Sie vorhin im Hinblick auf eine öffentliche Subventionierung angeführt haben - mit der Folge, dass dann Leute zu Hause bleiben könnten -, auf die Kurzarbeit genauso zu. ({12}) Wo ist der Unterschied? ({13}) Auch das wird letztendlich von der Bundesagentur finanziert, genauso wie letztendlich auch von der Bundesagentur finanziert wird, dass Menschen rechtzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Dies gegeneinander auszuspielen, ist aus meiner Sicht absolut unakzeptabel. ({14}) In dieser Frage nehmen Sie die Realität überhaupt nicht zur Kenntnis. Wie ist die Realität? In der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen hatten wir von Mai 2008 bis Mai 2009 eine Zunahme der Arbeitslosigkeit um 16,1 Prozent zu verzeichnen. Ich wiederhole: eine Zunahme um 16,1 Prozent. Bei den Älteren, den über 55-Jährigen, hatten wir im selben Zeitraum eine Zunahme um 17,3 Prozent zu verzeichnen. Das ist die Realität. Zur Realität gehört auch, dass die Betriebsräte in den Betrieben zurzeit mühsam verhandeln, wie der Personalabbau zu bewerkstelligen ist. Hinzu kommt, dass sich diese Entwicklung in einer Situation, in der die Altersteilzeit dichtgemacht wird, weil die Förderung fehlt, auf andere Beschäftigtengruppen ausweiten wird, zum Beispiel auf die Jungen. Glauben Sie, dass es billiger und für den Staat verträglicher ist, wenn wir die Jungen nicht mehr in die Betriebe lassen? Darauf hätte ich von Ihnen, Frau Sportsfreundin, gerne einmal eine klare Antwort, da Sie sich hier so arrogant hingestellt haben. ({15}) Meine Damen und Herren, die Konsequenz Ihrer Ablehnung einer solchen Position ist, dass Sie die Perspektivlosigkeit der Jugend fördern. Es wäre allemal besser, wenn die Jungen beschäftigt würden, als dass die Alten nicht rauskönnen. Mit Ihrer Politik tragen Sie dazu bei, dass sich ein Teil der Jugend von der Politik und von diesem Staat abwendet. Wenn man der Jugend die Perspektiven verwehrt, muss man sich darüber nicht wundern. Die Wahlbeteiligungen, die wir zurzeit haben, sprechen ihre eigene Sprache. Mit Ihrer Politik tragen Sie dazu bei, dass die Alten so lange arbeiten müssen und nicht rauskönnen, obwohl in den Betrieben die Arbeit nicht mehr vorhanden ist. Das geht aus meiner Sicht in die vollkommen falsche Richtung. Eine Bemerkung zu den Grünen: Ich weiß, ihr seid dagegen. Aber wer nicht akzeptiert, dass es für die Älteren würdevoller ist, dann, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, vernünftig und gesund aus dem Betrieb rauszukommen als vor der Rente in die Arbeitslosigkeit geschickt zu werden - das ist ja die Konsequenz der Zahlen -, braucht mir in diesem Parlament nicht mit Würde zu kommen. ({16}) Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, Sie sagen immer, wir würden die Demografie nicht berücksichtigen. Wir wissen, wie sich die Demografie entwickelt: Bis 2050 haben wir 8 Millionen Einwohner weniger. Wir wissen aber auch, dass sich das Bruttoinlandsprodukt, wenn man eine jährliche Steigerungsrate von 1,5 Prozent unterstellt, im selben Zeitraum verdopKlaus Ernst pelt. Wir haben also weniger Leute, aber einen doppelt so großen Kuchen; das ist die Demografie. Jetzt frage ich Sie: Sind die einzelnen Kuchenstücke dann kleiner oder größer? Selbstverständlich sind sie größer; das besagt der Dreisatz. Jetzt muss man sich fragen: Warum geht die Rechnung dann nicht auf? Offensichtlich deswegen nicht, weil uns jemand den Kuchen klaut. ({17}) Es wäre besser, wenn Sie weniger über die Demografie schwafelten und sich stattdessen um die Kuchendiebe kümmerten. Dann gäbe es auch wieder eine vernünftige Rente. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({18})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Johannes Vogel das Wort. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schauen wir uns einmal an, was in dem Gesetzentwurf der SPD steht. Die Analyse in der Begründung ist teilweise korrekt: Wir stehen vor den Herausforderungen des demografischen Wandels, und wir haben einen Fachkräftemangel; deshalb sind Unternehmen und Arbeitsmarkt umso stärker auf das Potenzial der Älteren angewiesen. - Gleichzeitig sagen Sie: Der Arbeitsmarkt war in der Krise bisher relativ robust; aber es bleibt unsere Aufgabe, darauf zu achten, dass wir Beschäftigung für Ältere und Jüngere schaffen. - So weit, so gut. Aber dann wird es absurd. Denn was ist Ihre Antwort darauf? Die Frühverrentung. ({0}) - Nein! Schauen wir uns einmal an, was Altersteilzeit so, wie Sie sie sich vorstellen, nämlich beitragsfinanziert, heißen würde: Sie wäre nicht nur - darauf hat die Kollegin Connemann hingewiesen - sehr teuer, sondern faktisch ein Anreiz zur Frühverrentung; denn 90 Prozent nutzen die Altersteilzeit in Form des Blockmodells, gehen de facto früher in Rente. ({1}) Wenn Sie das auch noch fördern, senden Sie an die Älteren das Signal: Wir wollen euch nicht mehr. - Da liegt der zentrale Widerspruch: Sie führen in Ihrem Gesetzentwurf zwar lang und breit aus, dass die Älteren wichtig seien; Ihre Argumentation läuft aber darauf hinaus, dass die Älteren früher gehen sollten. Das ist absurd, denn dadurch werden die Älteren aus dem Arbeitsmarkt gedrängt. Mit Würde, lieber Herr Ernst, hat das überhaupt nichts zu tun. ({2}) Warum ist Altersteilzeit gerade jetzt die falsche Antwort? Wir müssen konstatieren, dass die Trendwende am Arbeitsmarkt endlich geschafft ist. Seit Jahren reden wir - über alle politischen Lager hinweg - davon, dass die Qualität der Arbeit der älteren Menschen in den Unternehmen endlich stärker anerkannt werden müsse und dass, weil das noch nicht der Fall sei, die Chancen Älterer auf dem Arbeitsmarkt heutzutage nicht gut seien. Wenn wir uns jetzt die Zahlen der letzten Jahre anschauen, sehen wir, dass sich bei der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer endlich ein deutlicher Anstieg feststellen lässt: Der Anteil der 55- bis 59-Jährigen, die sich noch in Beschäftigung befinden, ist in den letzten vier Jahren um mehr als 25 Prozent gestiegen. Bei den 60- bis 65-Jährigen beträgt der Anstieg immerhin noch mehr als 20 Prozent. ({3}) - Ja, trotz Altersteilzeit; aber darum geht es jetzt nicht. An diesen Zahlen zeigt sich, dass der Paradigmenwechsel endlich da ist: Ältere werden von den Unternehmen endlich nachgefragt, ({4}) wegen ihres Wissens und wegen ihrer Erfahrung und nicht zuletzt wegen des Fachkräftemangels. ({5}) Ausgerechnet jetzt die beitragsfinanzierten Anreize zur Frühverrentung zu verlängern, ist das fatalste Signal, das man geben kann, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Dafür fehlt mir jedes Verständnis. ({6}) Der zweite Grund, warum das in meinen Augen und in den Augen der FDP die falsche Antwort ist, lautet: weil damit im Grundsatz einfach der Geist von vor 20 Jahren gezeigt wird. Sie sind im Kern noch immer davon überzeugt, dass es nur eine bestimmte Summe an Arbeitsplätzen gibt. ({7}) - Doch, doch, doch. - Sie machen sich nur Gedanken darüber, wie man diesen Kuchen, den es gibt, zwischen den verschiedenen Generationen verteilen kann. ({8}) - Doch. - Worum wir uns Gedanken machen - das müsste doch die Antwort sein -, ist, wie wir den Kuchen vergrößern können, statt ihn nur anders zu verteilen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Johannes Vogel ({9}) ({10}) - Ich sage Ihnen, wo unsere Wachstumsstrategie ist. ({11}) Was wir machen - damit komme ich genau zum Punkt; das wäre eine wirkliche Antwort für Ältere und Jüngere -, ist, auf Wachstum zu setzen, Herr Heil. Das tun wir ({12}) durch eine gute Wirtschaftspolitik, durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, ({13}) durch bessere Rahmenbedingungen für den Mittelstand ({14}) und dadurch, dass wir einen Schwerpunkt auf Bildung legen. Dadurch werden Arbeitsplätze für Junge und für Ältere geschaffen, und das ist die einzig vernünftige Antwort, die man geben kann. ({15}) - Ich übernachte relativ selten in Hotels, Herr Heil. Gehen wir doch einmal weiter und schauen wir uns an, welche Teile der Analyse in Ihrem Antrag durchaus richtig sind. Sie weisen darauf hin: Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie der Renteneinstieg in Deutschland flexibler gestaltet werden kann. ({16}) Das ist richtig, natürlich. Die Menschen fangen in einem unterschiedlichen Lebensalter an zu arbeiten. Sie machen unterschiedliche Jobs. Teilweise müssen oder wollen sie zu unterschiedlichen Zeiten in den Ruhestand treten. Das ist richtig. Darüber können wir gerne reden. Das muss aber dann doch mit dem FDP-Modell geregelt werden, nämlich mit korrekten Zu- und Abschlägen, und ohne dass die Älteren künstlich in die Verrentung gedrängt werden, liebe SPD-Kollegen. ({17}) Ich halte unter dem Strich fest - ich glaube, zu diesem Schluss muss man bei Ihrem Gesetzentwurf kommen -: Sie loben in Ihrem Gesetzentwurf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für ihr Erfahrungswissen. Das ist gut. Etwas mehr davon hätte ich mir aber auch bei Ihrem Antrag gewünscht; denn statt einer Umtauschaktion Alt gegen Jung zuzustimmen, wollen wir durch Wirtschaftswachstum dafür sorgen, dass für Ältere und für Jüngere Arbeitsplätze geschaffen werden. Das ist die einzig vernünftige Antwort. ({18}) - Das hat mit Klientelpolitik überhaupt nichts zu tun. Schauen wir uns aber auch einmal das Verfahren an; denn was Sie da vorschlagen, ist aus meiner Sicht nicht nur inhaltlich ein alter Hut. Warum das der Fall ist, habe ich gerade ja schon ausgeführt. Damit aber nicht genug. Ihr Kollege Scholz, der ehemalige Arbeitsminister, hat im letzten Juli davon gesprochen, er habe einen Gesetzentwurf zur Verlängerung der Altersteilzeit schon fertig in der Schublade; man wolle ihn in der Großen Koalition einbringen. Dazu ist es leider nicht gekommen. ({19}) - Das sagt der Herr Scholz. - Genau diesen Gesetzentwurf legen Sie uns jetzt hier vor, ({20}) auch wenn Sie, Herr Heil, eben behauptet haben, dass Sie ihn jetzt in kürzester Zeit erarbeitet haben. Das glaubt doch niemand. Bei allem Verständnis für den Umzugsstress, den Sie im Moment haben - auch ich habe ihn als neugewählter Abgeordneter; es ist nicht so leicht, ein Büro zu finden -: ({21}) Bitte entleeren Sie Ihre Aktenordner doch nicht dadurch, dass Sie Ihr Altpapier im Gesetzgebungsverfahren hier ins Plenum kippen. Das hilft niemandem. Vielen Dank. ({22})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die geförderte Altersteilzeit ist gescheitert. Sie ist gescheitert als Beschäftigungsbrücke, und sie ist auch gescheitert als Instrument zum Übergang in den Ruhestand. ({0}) Die geförderte Altersteilzeit ist ein Frühverrentungsmodell in Form einer Stilllegungsprämie. Das gehört so schnell wie möglich abgeschafft. Es ist richtig, dass sie ausläuft. ({1}) Die Altersteilzeit hat uns in den letzten Jahren einen erheblichen Bärendienst erwiesen, weil sie einen Beitrag dazu geleistet hat, dass Deutschland eine ungeheuer negative Kultur der Altersarbeit hat. In fast keinem vergleichbaren europäischen Land ist der Beschäftigungsanteil Älterer so niedrig wie in Deutschland, obwohl sich da langsam etwas ändert. Aber immer noch sind wir da ganz, ganz schlecht. Ältere werden insbesondere in großen Betrieben - darauf lege ich die Betonung - als defizitäre Wesen betrachtet, die es nicht mehr bringen und die so schnell wie möglich ausgemustert werden müssen. Für dieses Bild ist diese Vorruhestandsregelung in erheblichen Teilen mitverantwortlich. Deswegen gehört sie abgeschafft, weil sie die Älteren mit ihren wertvollen Erfahrungen aus den Betrieben herausdrängt. Sie gehört auch abgeschafft, weil wir wegen der demografischen Entwicklung, die es tatsächlich gibt, Herr Ernst, auf einen gigantischen Fachkräftemangel zulaufen. Das ist sogar bei den Gewerkschaften angekommen. Lesen Sie einmal die neueren Papiere! ({2}) Es lohnt sich übrigens, einmal die Frage zu stellen, wer von der geförderten Altersteilzeit profitiert. Es sind die großen Unternehmen, der öffentliche Dienst und die gutverdienenden, hochqualifizierten und überwiegend männlichen Beschäftigten. In 85 Prozent aller Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten gibt es Altersteilzeit.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich würde gerne erst einmal weiterreden. - In Firmen mit weniger als 50 Beschäftigten sind es nur 4 Prozent. Herr Ernst, ich frage jetzt Sie: Glauben Sie allen Ernstes, dass in diesen kleineren Betrieben die Belastung für die Beschäftigten weniger groß ist? Glauben Sie, dort gibt es keine Verschleißerscheinungen? Es sind die kleinen und mittleren Betriebe, die nicht davon profitieren. Es sind die Geringqualifizierten und die Geringverdienenden, die nicht davon profitieren. Aber bezahlen sollen sie es. ({0}) Das ist Ihre Gerechtigkeitsphilosophie, und das ist die neue Gerechtigkeitsphilosophie der Sozialdemokraten. ({1}) Nach den grünen Gerechtigkeitskriterien ist das zutiefst ungerecht. Deswegen lehnen wir das ab. ({2}) Jetzt kommen wir zu der Frage, ob dieses Instrument als Kriseninterventionsinstrument geeignet ist, wie Herr Heil es vorgetragen hat. ({3}) Anders als die Kurzarbeit reduziert Altersteilzeit das Beschäftigungsvolumen in einem Betrieb nicht, Herr Heil. Darum geht es aber bei großen Auftragseinbrüchen. Dabei geht es darum, das Beschäftigungsvolumen zu reduzieren. Hier werden nur ältere durch jüngere Beschäftigte ersetzt. Der Personalbestand bleibt gleich, er wird nur verjüngt. Mit anderen Worten: Mit der geförderten Altersteilzeit entledigen sich in erster Linie Großbetriebe ihrer älteren Beschäftigten und formen daraus olympiareife Mannschaften, und das sollen die Kleinbetriebe und die Geringqualifizierten bezahlen. Das machen wir so nicht mit. ({4}) Außerdem wirkt dieses Instrument mit erheblicher zeitlicher Verzögerung. Denn das Blockmodell läuft im Regelfall über sechs Jahre. Das heißt, drei Jahre lang bewegt sich in dem Betrieb gar nichts. ({5}) So lange gibt es auch keine Mittel der Bundesagentur für Arbeit. In drei Jahren werden wir hoffentlich die Krise auf dem Arbeitsmarkt einigermaßen bewältigt haben. Aber dann werden wir auf die nächste Krise zulaufen. Das ist die Krise des Fachkräftemangels. ({6}) Ich prognostiziere Ihnen: Der letzte Tag der Krise wird der erste Tag des Fachkräftemangels sein. Deswegen ist es falsch, dass wir die hochqualifizierten älteren Beschäftigten jetzt rauskaufen. Wir werden sie dann dringend brauchen. ({7}) Für diese Krisenbewältigung haben wir das Kurzarbeitergeld. Es ist weitaus geeigneter als diese Vorruhestandsregelung. Herr Heil, noch eine andere Sache: Wirklich skandalös finde ich an Ihrem Gesetzentwurf, dass zukünftig nur die jungen Beschäftigten von Ihrem Vorschlag profitieren können, die schon einen Fuß im Betrieb haben, also entweder diejenigen, die schon eine Ausbildung hinter sich haben, oder diejenigen, die in einer Ausbildung sind. Die 340 000 Arbeitslosen unter 25 Jahren haben nach Ihrer Auffassung offensichtlich keine Chance verdient. Das ist eine signifikante Verschlechterung des Status quo. Diese Arbeitslosen jedenfalls haben Sie offensichtlich nicht mehr im Blick. Bei der Neuaufstellung der SPD wollen Sie sich offensichtlich als Partei der Arbeitsplatzbesitzer profilieren. ({8}) - Doch. Ganz offensichtlich haben die Arbeitslosen Sie bei der letzten Wahl nicht in hinreichender Zahl gewählt. ({9}) Deswegen haben Sie Ihr Recht verwirkt, sie weiter zu vertreten. ({10}) Herr Heil, auf ihrem Parteitag hat die SPD gesagt: „Klarer Blick im Aufbruch“. Das war die Botschaft, mit der Sie aus Dresden zurückgekommen sind. Ich kann nur feststellen: In der Arbeitsmarktpolitik ist Ihr Blick trübe. Ich diagnostiziere bei Ihnen eine fortgeschrittene Alterssichtigkeit, die Ihren Blick sehr trübt. ({11}) Mit Aufbruch jedenfalls hat der vorgelegte Gesetzentwurf nichts zu tun. Das sind die Rezepte der 80er-Jahre, die schon damals mehr geschadet als genutzt haben. Aber in den 80er-Jahren hatten Sie, Herr Heil, noch gute Wahlergebnisse. Das ist offensichtlich der Magnet, der Sie zurückzieht. Aber das gehört der Vergangenheit an. Ich danke Ihnen. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun der Kollege Klaus Ernst.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Pothmer, einige Aussagen möchte ich infrage stellen. Sie sagen, der Personalbestand bleibe gleich. Wie kommen Sie denn darauf? Ist Ihnen entgangen, dass es zurzeit einen massiven Personalabbau in den Betrieben gibt? Ist Ihnen entgangen, dass diejenigen, die die derzeitige Regelung zur Kurzarbeit in Anspruch nehmen, in ein, zwei Jahren entlassen werden? Ist Ihnen entgangen ({0}) - Herr Weiß, wenn Sie dran sind, dürfen Sie wieder -, dass es wahrscheinlich vier, fünf Jahre dauern wird, bis wir das frühere Beschäftigungsniveau wieder erreichen werden, weil die Krise sehr lang anhaltend ist und die momentanen Wachstumsraten nicht die durch den Einbruch verursachten Verluste ausgleichen? Wenn das alles so ist, dann geht es nicht um die Frage, ob der Personalbestand gleich bleibt. Entscheidend wird vielmehr die Frage sein, wie viele Menschen auf Dauer nicht von den Betrieben eingestellt werden, eben so lange nicht, bis ein entsprechender Aufschwung einsetzt. Sie haben den Fachkräftemangel angesprochen. Hier geht es doch um junge Menschen. Man muss ihnen in einer Situation, in der die Beschäftigung insgesamt abnimmt, die Chance geben, nicht nur vernünftig ausgebildet zu werden, sondern nach der Ausbildung auch übernommen zu werden. In allen Betrieben in meiner Region, über die ich einen Überblick habe, kämpfen die Betriebsräte darum, dass die Auszubildenden unbefristet übernommen werden, wobei aber die Betriebe größte Schwierigkeiten machen. Frau Pothmer, Sie nehmen die Realität nicht zur Kenntnis. Sie halten nur schöne, lustige Reden. Das wollte ich Ihnen sagen. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Pothmer, bitte.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Ernst, das Drama meines Lebens ist, dass Sie mir nicht zuhören. ({0}) Ich habe Ihnen - im Prinzip zum Mitschreiben - erklärt, dass das Modell der Altersteilzeit nicht dazu führt, dass das Beschäftigungsvolumen in den Betrieben abnimmt - anders als bei der Kurzarbeit -, sondern dazu, dass ältere lediglich durch jüngere Beschäftigte ersetzt werden. ({1}) - Richtig, wenn überhaupt. - Nun komme ich auf die Frage zu sprechen, ob sich die Chancen der Auszubildenden oder derjenigen, die eine Ausbildung beendet haben, dadurch tatsächlich erhöhen. Nicht nur das IAB, sondern alle Forschungsinstitute sagen: Die Mitnahmeeffekte sind unglaublich hoch. Nicht nur die Arbeitgeberverbände, das IAB und die BA, sondern langsam auch die Gewerkschaften stellen die Zukunftsfähigkeit dieses Modells infrage. Lesen Sie das neue Papier der IG Metall zu dieser Frage! ({2}) Ihre Partei, meine Damen und Herren von der Linken, hat es in den 80er-Jahren noch nicht gegeben. Aber Sie wären da gut aufgehoben gewesen. Ich danke Ihnen. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bevor in dieser Debatte mit vielen Wortwechseln die Dinge verunklart werden, will ich eines feststellen: Die Inanspruchnahme von Altersteilzeitregelungen ist auch in Zukunft in Deutschland möglich. Daran ändern wir gar nichts. Betriebe können auch in Zukunft Altersteilzeitregelungen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vereinbaren. - Das ist der erste Punkt. ({0}) Der zweite Punkt ist: Die Altersteilzeit wird auch in Zukunft durch den Staat und die Sozialversicherungen gefördert, indem auf die Aufstockungsbeiträge keine Steuern und keine Sozialversicherungsabgaben gezahlt werden müssen. Das ist eine massive Subventionierung der Altersteilzeit durch den Steuerzahler und durch die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler in den deutschen Sozialversicherungen. Auch daran ändern wir nichts. ({1}) Über was diskutieren wir eigentlich? Wir, die Sozialdemokraten und die CDU/CSU in der Großen Koalition, haben beschlossen, dass eine Regelung im Altersteilzeitgesetz zum Ende dieses Jahres ausläuft: die Regelung, dass dann, wenn ein Betrieb anstelle eines Mitarbeiters, der in Altersteilzeit gegangen ist, einen neuen Mitarbeiter einstellt, Geld der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler von der Bundesagentur für Arbeit zusätzlich zur Verfügung gestellt wird. Die Bilanz bis heute ist, dass in 80 Prozent der Fälle, in denen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Betriebes Altersteilzeit beantragt haben, anschließend überhaupt niemand neu eingestellt worden ist. ({2}) Sprich: Trotz der Aussicht auf zusätzliches Geld von der Bundesagentur für Arbeit ist niemand neu eingestellt worden. In der Regel war das ein Arbeitsplatzabbau, kein Arbeitsplatzaufbau. ({3}) Verehrte, liebe Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ({4}) - die Große Koalition ist noch nicht lange zu Ende, deswegen darf ich das noch sagen -, ({5}) ich bitte Sie, sich wirklich zu überlegen, ob es eine kluge Strategie ist, jetzt, da die Große Koalition beendet ist und Sie sich in der Opposition befinden, nicht nur in der Frage der Altersteilzeit, ({6}) sondern auch in immer mehr anderen Politikbereichen das eigene Handeln infrage zu stellen. ({7}) Ich behaupte: Die SPD gewinnt dadurch, dass sie sich plötzlich von ihrer eigenen Politik verabschiedet, nicht an Glaubwürdigkeit, sondern verliert an Glaubwürdigkeit. ({8}) Wer diese zusätzliche Förderung der Altersteilzeit bei Neueinstellung eines Mitarbeiters weiterführen will, der muss dafür die entsprechenden Finanzmittel aufbringen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Schaaf, bitte.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Geschätzter Kollege Weiß, würden Sie mir recht geben und zugestehen, dass der ehemalige Arbeitsminister Olaf Scholz, SPD, schon im letzten Sommer zur Frage der Verlängerung der gesetzlich geförderten Altersteil418 zeit initiativ geworden ist und es die Union war, die abgelehnt hat, darüber überhaupt zu diskutieren? ({0}) Ich möchte noch eines anfügen, was mir sehr wichtig ist, weil wir beide sehr lange in verschiedenen Fragen zusammengearbeitet haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich zumindest die Sozialpolitiker in der Union ganz schnell nach dem sozialdemokratischen Partner sehnen werden, nach dem, was aufseiten des neuen Partners an Marktradikalität da ist. ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erster Punkt. Verehrter Herr Kollege Schaaf, ich nehme an, dass Sie die Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und FDP mit hohem Interesse gelesen haben. ({0}) Ich kann zum Ergebnis unserer gemeinsamen Koalitionsverhandlungen und zu dem, was als Koalitionsvertrag vorliegt und was die Frau Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung hier vorgetragen hat, nur sagen: Ich glaube, dass in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auch die neue Koalition einen Weg der Vernunft und des Maßes beschreitet. ({1}) Vor allen Dingen setzt sie darauf, dass Deutschland möglichst schnell aus dieser Krise herauskommt und vielen Menschen in Deutschland neue Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet werden. ({2}) Zweiter Punkt. Sie haben in Ihrer Frage eingangs zu Recht angemerkt, dass es vonseiten des damaligen sozialdemokratischen Bundesarbeitsministers Initiativen gab, ob wir diese zusätzliche Förderung der Altersteilzeit noch einmal verlängern sollten. Ich will Ihnen aber auch sagen - darauf werde ich in meiner Rede zurückkommen, um nicht meine ganze Rede in der Antwort unterzubringen, was man auch machen kann, um die Redezeit zu verlängern -: Wir haben uns auf eine Reihe weiterer Maßnahmen verständigt, um gerade jungen Menschen zusätzlich zu helfen, einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu erlangen. Ich glaube, die Bilanz der Großen Koalition ist, wenn wir auch den einen Wunsch der Sozialdemokraten abgelehnt haben, dass wir insgesamt ein Instrumentarium gerade der Förderung der Beschäftigungsmöglichkeiten junger Leute geschaffen haben, das sich sehen lassen kann. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Ernst?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gut.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Weiß, ich nehme zur Kenntnis, dass Sie sich große Sorgen um die Zukunft Ihres ehemaligen Koalitionspartners machen.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich finde, menschliche Anteilnahme ist auch für einen Abgeordneten der Regierungsfraktionen durchaus etwas, was man zeigen kann.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Möglicherweise. Ihr Wahlergebnis war auch nicht so besonders.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß nicht, was an meinem Wahlergebnis nicht so besonders war.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lassen Sie mich meine Frage stellen. - Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie Ihrem ehemaligen Koalitionspartner vielleicht ganz besonders helfen würden, wenn Sie ihn darauf hinweisen würden, dass die Rentenpolitik, die dieser Koalitionspartner mit vertreten hat, nämlich die Rente mit 67, abgelehnt werden muss angesichts der Tatsache, dass, wie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 22. November 2009 zu lesen war, insgesamt 75 Prozent der Bevölkerung diese Rentenpolitik ablehnen? Im Übrigen sind es 70 Prozent der CDU/CSUWähler - also auch Sie könnten davon profitieren -, immerhin 74 Prozent der SPD-Wähler und 75 Prozent selbst der FDP-Wähler, die sich eine andere Rentenpolitik wünschen. Könnte es also sein, dass Sie, wenn Sie Ihrem ehemaligen Koalitionspartner einen wirklich guten Tipp geben wollten, ihm eher raten müssten, er solle doch bitte schön die Position der Rente mit 67 grundsätzlich überdenken? ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ernst, ich denke, dass ich mit der Vermutung nicht falsch liege, dass vor allen Dingen Sie und Ihre Fraktion in den nächsten vier Jahren noch für viele Rentendebatten in diesem Hause sorgen werden, bei denen wir dieses Thema noch einmal ausführlich besprechen können. ({0}) Peter Weiß ({1}) Ich glaube, der Punkt ist folgender: Erstens. Es ist nicht Aufgabe eines frei gewählten Abgeordneten, Politik danach zu machen, welche Stimmung gerade herrscht. Wir haben zuallererst Politik danach zu machen, was für die Zukunft unseres Volkes und vor allem für die Zukunft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland notwendig ist. ({2}) Das Zweite ist: Wenn Umfragen gemacht werden, antworten Menschen verständlicherweise aus ihrer Betroffenheit jetzt und heute heraus. Ich will Sie darauf aufmerksam machen, dass wir in der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD beschlossen haben, die Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahr 2029 auf 67 Jahre anzuheben. Das ist das Jahr, in dem der Übergang der geburtenstarken Jahrgänge in das Rentenalter seinen Höhepunkt erleben wird. ({3}) Danach wird Jahr für Jahr ein Drittel weniger junge Leute in Beschäftigung gehen können, als Ältere in Rente gehen. Deswegen ist das Projekt der Rente mit 67 ein Zukunftsprojekt, Herr Ernst. ({4}) - Die Kollegen von der Linksfraktion setzen sich deshalb immer vorzeitig hin, weil sie gar keine Antwort auf eine Frage erwarten. ({5}) Wer die zusätzliche Förderung der Altersteilzeit noch einmal verlängern will, muss auch über Geld sprechen. Nun ist es so, dass mit Unterstützung der beiden damaligen Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD der damalige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz den Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung für dieses Jahr und für das kommende Jahr 2010 auf 2,8 Prozent festgesetzt hat, eine richtige Festsetzung, weil wir gerade in der Krisensituation Beitragszahlerinnen und Beitragszahler nicht zusätzlich belasten wollen. ({6}) Ich hoffe, dass die Sozialdemokraten jetzt nicht noch einen Antrag stellen, dass wir die Festsetzung auf 2,8 Prozent rückgängig machen. Wie Sie wissen, kommt auf die Bundesagentur für Arbeit ab dem kommenden Jahr ein massives Finanzierungsdefizit zu. Voraussichtlich müssen wir 16 Milliarden Euro an Bundesmitteln - wir haben sie nicht; wir müssen sie also durch zusätzliche Schuldenaufnahme finanzieren ({7}) an die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg überweisen, ({8}) und wir wollen das auch tun. In einer solchen Finanzsituation muss man die Frage stellen: Was sind die wirklich effektiven Arbeitsmarktinstrumente, um Beschäftigung in Deutschland zu sichern? ({9}) Das wichtigste Instrument, zu dessen Anwendung wir uns in der Großen Koalition gemeinsam entschieden haben, war und ist die Möglichkeit, den Bezug des Kurzarbeitergeldes zu verlängern. Das ist das wichtigste Instrument in der Krise. Wir wenden erhebliches Geld auf, um Beschäftigung in Deutschland zu sichern. Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit noch einmal ausdrücklich dafür bedanken, dass die Bundesregierung gestern auf Initiative des neuen Bundesarbeitsministers Dr. Jung ({10}) beschlossen hat, ({11}) dass Kurzarbeitergeld auch im nächsten Jahr nicht 6 Monate, wie ursprünglich gesetzlich geregelt, sondern 18 Monate lang bezogen werden kann. ({12}) Diese Entscheidung von gestern ist das wichtigste Signal für das nächste Jahr: Wir sichern Beschäftigung in Deutschland durch eine längere Bezugszeit von Kurzarbeitergeld. ({13}) Hinzu kommt - auch das haben wir gemeinsam politisch beschlossen; so steht es im Gesetz -, dass die Bundesagentur für Arbeit auch während des gesamten Jahres 2010 die Sozialversicherungsbeiträge ab dem siebten Monat des Bezuges von Kurzarbeitergeld zu 100 Prozent erstattet. Das ist ein wichtiger, für viele Betriebe vielleicht sogar der ausschlaggebende Grund, Kurzarbeiterregelungen zu wählen und keine Entlassungen vorzunehmen. In dieser finanziellen Situation sollten wir uns tatsächlich darauf konzentrieren, die Mittel aus der Bundeskasse für die Bundesagentur für Arbeit - sie sind ohnehin nicht ausreichend vorhanden, sondern wir müssen sie zusätzlich beschaffen ({14}) Peter Weiß ({15}) für das effektivste arbeitsmarktpolitische Instrument einzusetzen und nicht für Instrumente, bei denen sich schon in der Vergangenheit gezeigt hat, dass sie gar nicht zur Beschäftigungssicherung taugen. ({16}) Zu Recht ist auf die Situation der jungen Menschen in der Krise hingewiesen worden. Da der Kollege Schaaf vorhin danach gefragt hat, will ich noch einmal ausdrücklich erwähnen: Die Große Koalition hat zum Ende der letzten Legislaturperiode mit dem Ausbildungsbonus ein wichtiges Instrument geschaffen, um vor allen Dingen jungen Menschen, die einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt haben, eine zusätzliche Hilfe zu geben. Der Ausbildungsbonus ist ein wichtiges neues arbeitsmarktpolitisches Instrument, um jungen Menschen eine Brücke in Arbeit zu ermöglichen. ({17}) Kurzarbeitergeld ist nicht nur eine Hilfe, dass Menschen, die schon in Beschäftigung sind, insbesondere ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihren Arbeitsplatz nicht verlieren; Kurzarbeitergeld ist darüber hinaus auch eine Hilfe, Beschäftigungsmöglichkeiten für junge Menschen zu schaffen. Die von der SPD in ihrem Antrag angesprochenen Auszubildenden, die zum Abschluss ihrer Ausbildung darauf hoffen, übernommen zu werden, können dank Kurzarbeitergeld übernommen werden. Ein Betrieb kann einen jungen, fertig ausgebildeten Menschen einstellen und ab dem ersten Tag der Anstellung Kurzarbeitergeld Null beantragen. Angesichts dessen ist unsere Kurzarbeitergeldregelung auch eine Perspektive für junge Menschen. Betriebe können sagen: Jawohl diesen jungen Mann, diese junge Frau brauchen und wollen wir; unser Betrieb hat zurzeit zwar nicht genügend Arbeit; wir hoffen aber, dass es in den nächsten Monaten wieder aufwärtsgeht; wir stellen ihn oder sie ein. Machen wir erst einmal Kurzarbeitergeld Null und hoffen, dass wir für die Betreffenden dann bald auch ausreichend Arbeit haben, um sie richtig beschäftigen zu können. Deswegen eröffnet die von uns vorgenommene Verlängerung der Kurzarbeitergeldregelung auch eine Beschäftigungsperspektive für die jungen Leute in unserem Land. Diese Möglichkeit sollte man bitte beachten und auch nutzen. ({18}) Ich fasse zusammen: Die Herausforderungen der Zukunft, vor denen wir insbesondere im Hinblick auf die Bewältigung der Krise stehen, meistern wir nicht, indem wir zu alten Rezepten der Arbeitsmarktpolitik, die vielleicht früher einmal gestimmt haben, zurückkehren. Wenn die Mittel knapp sind, dann gilt erst recht: Konzentration auf die Instrumente, die am effektivsten Beschäftigung sichern. ({19}) Das ist jetzt in der Krise die Kurzarbeitergeldregelung. In diesem Sinne hat die neue Koalition bereits gehandelt. Wir setzen auf Zukunft und nicht auf Vergangenheit. Vielen Dank. ({20})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat die Kollegin Anette Kramme für die SPD das Wort. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Weiß, Sie haben sich gerade netterweise daran erinnert, dass Herr Scholz doch für die Altersteilzeit gekämpft hat. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie 2005 bei den Koalitionsverhandlungen dabei waren. Wenn Sie dabei gewesen wären, würden Sie sich - da bin ich mir ganz sicher - auch erinnern, dass sich Herr Müntefering damals schon für eine Verlängerung der Altersteilzeitregelungen eingesetzt hat. Meine sehr geehrten Damen und Herren, an sich könnten wir Party feiern. ({0}) Die Altersteilzeit ist ein langjährig erprobtes Arbeitsmarktinstrumentarium, das sich bewährt hat. Ich befürchte aber, die Feier wird ausfallen, wenn SchwarzGelb keine Vernunft annimmt. Sie, liebe Frau Connemann, haben erwähnt, dass 2008 die Altersteilzeit 1,8 Milliarden Euro gekostet hat. Das ist richtig. Sie wissen wahrscheinlich auch, dass die zukünftigen Kosten niedriger eingeschätzt werden. Wir haben nämlich Modifikationen am Altersteilzeitgesetz vorgenommen. Ich gebe zu: Damit einher geht eine Menge an finanziellen Belastungen, zugegebenermaßen keine Kleinigkeit. Aber, Frau Connemann, Sie werden mir auch zugestehen, dass das im Vergleich zu den Steuerentlastungen, die Sie für Ihre Klientel vornehmen - für Erben, für Unternehmer, für Hotelketten -, eine unbeachtliche Größenordnung ist. Es ist blanker Zynismus, wenn eine Regierung, die Geschenke an ihre Klientel verteilt und das Ganze „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ nennt, eine sinnvolle Verlängerung der Altersteilzeitregelungen ablehnt. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich die Arbeitsmarktpolitik von Schwarz-Gelb anschaut, dann stellt man eines fest: Sie ist nicht nur ideenlos, sie ist nicht existent. Sie haben sich zwar gestern zur Kurzarbeit geäußert. Das ist richtig. Ich frage mich, ob Sie mit Ihren neuen Regelungen tatsächlich etwas bewirken werden. Es trifft zu: Kurzarbeit war für das Jahr 2009 ein großartiges Instrument, von Olaf Scholz damals an die Bedürfnisse angepasst. Ich bin mir sicher, dieses Instrument wird auch in 2010 noch beachtliche Wirkungen entfalten. Wir müssen aber auch eines sehen: Es wird immer mehr Firmen geben, die sich Kurzarbeit nicht leisten können, ({2}) vor allen Dingen zu den neuen Bedingungen. Es wird auch immer mehr Firmen geben, die Kurzarbeit nicht mehr länger betreiben wollen, weil sie die zukünftigen Probleme sehen. Deshalb wäre es an sich erforderlich, dass Sie eine Fortschreibung arbeitsmarktpolitischer Instrumente in der Krise vornehmen. ({3}) Ich sehe aber nicht, dass Sie sich zum Beispiel mit dem Instrumentarium der Transfergesellschaft beschäftigen, das sicherlich viel effizienter gestaltet werden könnte. Und bezüglich des Umganges, den Sie mit der Altersteilzeit pflegen, kann man nur sagen: Das ist ein rein ideologischer Umgang mit einem vernünftigen Instrumentarium. ({4}) Altersteilzeit steht schon lange nicht mehr für Frühverrentungspolitik. ({5}) Altersteilzeit ist mittlerweile zu einem Instrumentarium geworden, das dazu dient, Arbeitnehmer an die Regelaltersgrenze heranzuführen. ({6}) Altersteilzeit verhindert Existenzabstürze. Ich sage: Altersteilzeit ist wesentlich besser als Arbeitslosigkeit und der Bezug von Arbeitslosengeld. Es ist ein vernünftiger Übergang in die Rente. Wir verhindern Altersarmut, wenn über einige Jahre höhere Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt werden, und zwar fast in der Höhe von Vollzeitarbeit. Das Durchschnittsalter bei der Altersteilzeit ist in den letzten zehn Jahren von 57,7 auf 59,1 Jahre gestiegen. Immer mehr Altersteilzeitbeschäftigte gehen erst mit 63 Jahren oder noch später in Rente. Altersteilzeit ist vor allem eines: Fairness. Es ist Fairness gegenüber denjenigen, denen ansonsten gekündigt würde, Fairness gegenüber denjenigen, die nicht mehr können und trotzdem nicht die Erwerbsminderungsrente bewilligt bekommen. Das betrifft beispielsweise den Pflege- und Sozialbereich. Gerade dort sind besonders viele Altersteilzeitfälle zu beobachten. Es ist Fairness auch gegenüber denjenigen, die unendlich lange gearbeitet haben, die mit 14 oder 15 Jahren in den Beruf eingestiegen sind und die deshalb auch einfach nicht mehr wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Krise wird sich auf dem Arbeitsmarkt noch jahrelang auswirken. Die Umsätze in den Firmen sind zwar teilweise angestiegen, aber sie sind von denen des Jahres 2008 noch weit entfernt. Altersteilzeit nutzt somit auch den Jungen. Es ist auch Fairness gegenüber den Jungen. Der DGB hat im letzten Sommer festgestellt, dass die Jugendarbeitslosigkeit dreimal stärker angestiegen ist als die Arbeitslosigkeit im Bereich der anderen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Gerade die Schwelle zum Berufseinstieg ist seit Jahren eine große Hürde, die es zu überwinden gilt. Außerdem haben wir auf dem Arbeitsmarkt noch unendlich viele Altbewerber, die versorgt werden müssen. Mit der Altersteilzeit erhöhen wir die Chancen. Sie ist ein ganz beachtlicher Arbeitsmarktfaktor. Immerhin gibt es 500 000 Altersteilzeitfälle gleichzeitig. Das betrifft 20 Prozent aller Beschäftigten. Die geförderte Altersteilzeit nimmt - das ist richtig - davon nur einen Anteil von 100 000 ein. ({7}) Aber wir müssen eines sehen: Die geförderte Altersteilzeit ist das Zugpferd für die gesamte Altersteilzeit. Unendlich viele Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge knüpfen an die geförderte Altersteilzeit an, und viele dieser Regelungen laufen aus. Meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb, Sie machen vielen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen vieles kaputt, wenn Sie dem Altersteilzeitantrag nicht zustimmen. ({8}) Sie sollten deshalb noch einmal nachdenken. Sie wissen vielleicht: Hochmut kommt vor dem Fall. In diesem Sinne herzlichen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Debatte in ihrem bisherigen Verlauf einmal zusammenfassend vor Augen führt, kann man sagen: Herr Heil, Frau Kramme, das wird nichts! Eine breite Mehrheit in diesem Hause, die über die ohnehin breite Mehrheit der Koalition noch hinausgeht, lehnt Ihr Vorhaben ab, und das ist auch gut so. Ihr Vorschlag ist ein Modell von gestern. Ich freue mich, dass es jetzt im Koalitionsvertrag gelungen ist, das Auslaufen der beitragsgeförderten Altersteilzeit zu vereinbaren. Ich bin lange genug dabei, um sagen zu können, dass die FDP die erste Fraktion in diesem Hause war, die Abstand von diesem beitragsfinanzierten Altersteilzeitmodell genommen hat und schon seit Jahren darauf hinweist, dass es Zeit ist, dieses Modell zu beenden. Ihr Motto, Herr Heil, Frau Kramme, ist: Vorwärts, Leute, es geht zurück! Ich sage Ihnen: Wir, eine Mehrheit in diesem Hause, gehen diesen Weg nicht mit. ({0}) Dafür gibt es gute Gründe, Frau Kramme und auch Anton Schaaf. Der wichtigste aus meiner Sicht ist: Die Beschäftigungsbrücke trägt nicht. Es ist über lange Jahre eine Lebenslüge der deutschen Sozialpolitik gewesen, dass man für jeden Älteren, den man in den Ruhestand schickt, einen Jüngeren einstellt. Das hat insgesamt nie funktioniert. Im Gegenteil: Die Wiederbesetzungsquote ist seit der Verabschiedung des Altersteilzeitgesetzes von 43 auf heute nur noch 34 Prozent gesunken. Das heißt, zwei von drei Arbeitsplätzen bleiben unbesetzt. Man kann daher nicht sagen, dass dieses Modell erfolgreich gewesen wäre. ({1}) Zweiter Punkt. In der Regel wird das Blockmodell gewählt. Neun von zehn Altersteilzeitlern wählen dieses Modell. Das führt im Ergebnis dazu - da stimme ich mit Brigitte Pothmer vollkommen überein -, dass wir die Menschen früher in den Ruhestand schicken. Das halten wir für falsch. Es wird immer gesagt, die jüngeren Facharbeiter müssten eine Chance haben. Aber auch die älteren Menschen sind Facharbeiter; sie sind sogar mehr als das: Sie sind Erfahrungsträger und Träger sozialer Kompetenz, die in den Betrieben eine wichtige Rolle spielen. ({2}) Es ist daher wichtig, dass man eine ausgewogene Mischung von Jüngeren und Älteren in den Betrieben erreicht. Diese Balance geht aber verloren, wenn die Älteren per Altersteilzeit aus den Betrieben herausgedrängt werden. Der dritte Punkt müsste Sie eigentlich nachdenklich machen, weil Sie doch immer Kämpfer für die Schwachen und Entrechteten sein wollen: Es sind eben nicht die Angehörigen der körperlich belastenden Berufe, die mehrheitlich von der Altersteilzeit Gebrauch machen. Es sind vielmehr - hören Sie genau hin! - die Bankkaufleute und die Versicherungskaufleute - sie gehören nicht unbedingt zur Klientel der SPD -, die die Altersteilzeit regelmäßig wählen. Auf den nächsten Plätzen in der Statistik folgen bei den Frauen die Lehrerinnen und bei den Männern die Chemiearbeiter. ({3}) Man kann doch nicht sagen, dass diese Menschen nicht so lange arbeiten können. Offensichtlich spielen da ganz andere Überlegungen eine Rolle. Vierter Punkt. Es gehen auch Arbeitnehmer mit höheren Einkommen in Altersteilzeit, während Arbeitnehmer in einfachen Arbeitsverhältnissen vielfach gerade nicht von dieser Regelung profitieren. Fünfter Punkt. Für mich ist auch die überproportionale Nutzung der Altersteilzeit durch Großunternehmen interessant. In den Betrieben mit mehr als 1 000 Beschäftigten arbeiten 14 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zwischen 55 und 64 Jahren. Aber fast 30 Prozent der Altersteilzeitler kommen aus diesen Unternehmen. Das heißt, die Großen profitieren und die Kleinen zahlen. Wir sind nicht bereit, das länger mitzumachen. Deswegen sind wir froh, dass die beitragsfinanzierte Altersteilzeit jetzt ausläuft. ({4}) Die großen Unternehmen - das hat Peter Weiß zu Recht gesagt - können so weitermachen, wenn sie das wollen - aber dann bitte auf eigene Kosten. Natürlich bleibt die Steuervergünstigung in der Regel erhalten. Aber es kann nicht mehr auf Kosten der Beitragszahler gehandelt werden. Sechster Punkt. Sagen Sie bitte nicht, das Ganze kostet doch am Ende gar nicht so viel. Es sind brutto 1,4 Milliarden Euro und netto 1 Milliarde Euro. Das ist aus unserer Sicht schon eine relevante Größenordnung. Das Entscheidende ist: Es kostet zu viel und bringt zu wenig. Auch das ist ein wichtiges Argument, die Altersteilzeit zu beenden. Es gibt zu diesem Thema einiges an Literatur. Ich finde es interessant, dass auch aus den Bundesländern Initiativen kommen. Die Länder Rheinland-Pfalz und Bremen haben einen Antrag eingebracht, der eine bemerkenswerte Analyse enthält. Leider kommt er am Schluss zu dem falschen Ergebnis, man müsse die Altersteilzeit verlängern. Ich will Ihnen die Analyse, die ich durchaus teile, aus der Bundesratsdrucksache 842/09 einmal vortragen: Notwendig ist daher die Weiterentwicklung von Instrumenten, die einen flexiblen Übergang aus dem Erwerbsleben in die Ruhestandsphase, die einerseits individuelle Entscheidungsmöglichkeiten verbessern bzw. neu eröffnen, und andererseits einer nachhaltigen Finanzierung des Sozialstaates entsprechen. Darauf, liebe Kolleginnen und Kollegen, will ich Ihr Augenmerk lenken: individuelle Entscheidungsmöglichkeiten, Verbesserung der Nachhaltigkeit unseres Sozialstaates. Dann sind wir sehr schnell bei den Überlegungen, die die FDP als Partei und die FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag schon bisher vorgetragen haben und die ich Ihrer eingehenden Lektüre empfehle. ({5}) Ich habe den Eindruck, dass sich diejenigen, die sich mit dem FDP-Modell für einen flexiblen Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand auf der Basis einer eigeDr. Heinrich L. Kolb nen, freien Entscheidung bei Wegfall aller Zuverdienstgrenzen beschäftigt haben, ({6}) dies bisher nur sehr oberflächlich getan haben. Sie werden feststellen: Mit unserem Modell kann die Lücke gefüllt werden. Ich bin in einem Punkt durchaus bei Ihnen: Wenn man die Altersteilzeit abschafft und die Regelaltersgrenze bei 67 Jahren belässt, dann sollte es ein entsprechendes Angebot geben. Denn ansonsten nimmt der Druck in Richtung Erwerbsminderungsrente deutlich zu. Ein solches geeignetes Instrument sehe ich eher in unserem Vorschlag. ({7}) Lassen Sie jetzt einmal die Vollrente weg, Frau Ferner. Wir sehen in unserem Modell Möglichkeiten für eine Teilrente vor. ({8}) Das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, das IAB, das nicht unbedingt ein Sprachrohr des ThomasDehler-Hauses ist, schlägt vor, dass man die Möglichkeiten, eine Teilrente in Anspruch zu nehmen, verbessert. ({9}) Wir sollten die Menschen entscheiden lassen, Frau Ferner. Welchen Grund gibt es - ich frage Sie sehr direkt -, einem Rentner, der nach einer Altersteilzeit in Form eines Blockmodells in den Ruhestand geht, anschließend vorzuschreiben, dass er nur noch 400 Euro verdienen darf? Es gibt keinen Grund, wenn seine Rente über dem Niveau der Grundsicherung liegt. Da beschneiden Sie die Entscheidungsmöglichkeiten des Einzelnen. Wir wollen ändern, dass jemand, der raus aus dem System ist, nicht mehr zurückkommt. ({10}) Deswegen sagen wir: Die Menschen entscheiden selbst, ob und in welchem Umfang sie in den Ruhestand gehen wollen, gerne auch in Form eines Teilrentenbezuges als Alternative zur Altersteilzeit. Die Menschen sollen selber entscheiden, was sie hinzuverdienen wollen. Es gibt keinen Grund, sie zu bevormunden. Das ist ein liberaler Ansatz. Wenn die heutige Debatte - wie gesagt, der Gesetzentwurf, Frau Kramme, wird wahrscheinlich abgelehnt werden; das deutet sich an - trotzdem einen Sinn gehabt hat, dann ist es der, dass ich Ihnen das noch einmal vortragen ({11}) und darum werben durfte, sich mit unserem Modell objektiver als bisher zu befassen. Ich bin sicher: Nichts ist stärker als eine gute Idee, deren Zeit gekommen ist. In den kommenden vier Jahren werden wir uns sicherlich mit diesem Vorschlag noch öfter beschäftigen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn hat jetzt das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen sind entschieden dafür, Teilzeitarbeit im Alter zu fördern, um den Arbeitsmarkt zu entlasten und einen gleitenden Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen. Insofern klingt „geförderte Altersteilzeit“ erst einmal ganz gut. Aber vielleicht nehmen Sie einmal zur Kenntnis - ich wiederhole mich zum x-ten Mal -, dass das, was als „geförderte Altersteilzeit“ bezeichnet wird, ein Etikettenschwindel ist; denn 90 Prozent der Betroffenen - diese Zahl ist schon des Öfteren genannt worden arbeiten nicht in Teilzeit, sondern in Blockteilzeit, die zunächst eine Vollzeitarbeit ist und dann zu einem früheren Ausstieg führt. Dies ist gar keine Teilzeit, ({0}) sondern ein früherer vollständiger Ausstieg aus dem Erwerbsleben. Auf die fehlenden Arbeitsmarkteffekte ist meine Kollegin Brigitte Pothmer schon überzeugend eingegangen. Vielleicht sollten Sie noch einmal darüber nachdenken. Von einem gleitenden Übergang ins Alter - Herr Kolb hat es eben schon angesprochen - ist da keine Spur. Insofern gehen der vorliegende Gesetzentwurf der SPD und der Antrag der Linken völlig an den Problemen vorbei und bieten keine Lösungen, sondern schreiben eine schlechte und teure Lösung fort. Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Linken, Sie behaupten immer, dass Sie die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten. Was Sie hier vorlegen, liegt allerdings überhaupt nicht im Interesse der Erwerbstätigen. ({1}) Es ist ja richtig: Vielen ist nicht zuzumuten, dass sie bis 65 oder demnächst bis 67 arbeiten; denn sie können einfach nicht mehr. Aber die meisten Menschen wollen nicht von heute auf morgen komplett aufhören, sondern wünschen sich einen gleitenden Übergang in den Ruhestand. Nehmen Sie das doch mal zur Kenntnis! Wenn Sie mit den Erwerbstätigen reden, bekommen Sie das mit. ({2}) - Ich rede sehr oft mit Erwerbstätigen und komme selber aus einer Arbeiterfamilie. ({3}) Ich habe sehr viele Erfahrungen aus dem engeren persönlichen Umfeld. Daher brauchen Sie nicht die ganze Zeit dazwischenzurufen. ({4}) Wir brauchen flexiblere Möglichkeiten, sowohl später als auch früher in Rente zu gehen, und mehr Möglichkeiten, Erwerbstätigkeit und Rentenbezug miteinander zu verbinden. Wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir bis zu einem bestimmten Alter in Vollzeit arbeiten und dann Knall auf Fall nichts mehr tun. Das schadet vielen Erwerbstätigen. Ich selber habe das in meinem persönlichen Umfeld erfahren. Es ist für viele Menschen ein Problem, wenn sie ihren Arbeitsplatz von heute auf morgen komplett verlassen müssen. Insofern vertreten Sie nicht die Interessen der Erwerbstätigen in diesem Land. Andere Länder sind schon wesentlich weiter, vor allen Dingen die Länder in Skandinavien. Dort gibt es wesentlich flexiblere Möglichkeiten, den Rentenbezug teilweise vorzuziehen und dies mit einer reduzierten Erwerbstätigkeit zu verbinden. Die Länder in Skandinavien sind ja eher sozialdemokratisch und weniger neoliberal ausgerichtet. Das wird den Lebensbedingungen der Einzelnen wesentlich besser gerecht, als dies bei uns der Fall ist. Das Ergebnis dort ist, dass im Durchschnitt die Erwerbsbeteiligung im Alter gestiegen ist und deutlich höher liegt als bei uns. Das ist ein großer Erfolg dieser Regelung. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, tatsächlich früher in den Ruhestand zu gehen. Auch das ist sehr sinnvoll. Insgesamt betrachtet muss man darauf achten, dass es möglich sein muss, einfacher, unbürokratischer und sozial abgesichert in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. Das ist die Richtung, in die wir auch gehen sollten. Ich komme zum Schluss. Ich glaube, dass wir es den Menschen schuldig sind, gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und längerer Lebenserwartungen, mehr Möglichkeiten zu schaffen, wie sie den Übergang in den Ruhestand selbst gestalten können. Eine Verlängerung der geförderten Altersteilzeit, wie Sie das vorschlagen, trägt dazu überhaupt nicht bei. Wir Grüne setzen nach skandinavischem Vorbild auf eine Stärkung des Konzepts der Teilrente,

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- wobei auch bei frühzeitigem Ausstieg aus dem Erwerbsleben eine existenzsichernde Rente gewährleistet sein muss.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin gespannt auf die Vorschläge von allen Seiten und freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit in den nächsten vier Jahren. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Max Straubinger hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Man merkt es: Der Wettbewerb zwischen SED/Linkspartei und SPD ist in diesem Haus angekommen. Nur unter diesem Gesichtspunkt ist der eingereichte Gesetzentwurf zu erklären. ({0}) Er wurde seinerzeit etwas frühzeitig vom Arbeitsminister Scholz vorbereitet. ({1}) Es wundert mich, dass er heute nicht anwesend ist, obwohl es doch sein Antrag war. ({2}) Offensichtlich ist die Distanz zu diesem Antrag schon so groß. ({3}) Ich glaube, dass es um etwas Entscheidendes geht, und wir werden dies im weiteren Verlauf sicherlich noch mehrmals diskutieren. Ob es für die SPD immer gut ausgeht, das wage ich zu bezweifeln. Es geht darum, nachzudenken, wie für ältere Bürgerinnen und Bürger der Übergang in die Rente flexibler gestaltet werden kann. Das ist sicherlich immer eine interessante Frage. Vor allen Dingen ist es aber wichtig, altersgerechte Arbeitsplätze in unseren Betrieben zur Verfügung zu stellen. Ich möchte ausdrücklich feststellen, dass wir in den vergangenen vier Jahren durchaus gute Grundlagen dafür geschaffen haben. ({4}) Das belegen auch die Zahlen, die ich hier nennen möchte. Deshalb bin ich über die Begründung, warum die geförderte Altersteilzeit um weitere fünf Jahre verlängert werden soll, die die SPD in ihrem Gesetzentwurf liefert, schon etwas verwundert. Sie begründen es - wenn ich es kurz darstellen darf - damit, dass ältere Menschen über 50 Jahre und junge Menschen unter 25 Jahren angeblich überproportional von Arbeitslosigkeit bedroht bzw. dieser ausgesetzt sind. Ich darf Ihnen einen Hinweis mit auf den Weg geben, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass sich innerhalb von vier Monaten der Blickwinkel derart geändert hat. Die Fraktion Die Linke hat am 17. Juni dieses Jahres eine Kleine Anfrage im Deutschen Bundestag zu diesem Thema gestellt. Was der zuständige Bundesarbeitsminister Olaf Scholz damals geantwortet hat, ist in der Drucksache 16/13751 vom 7. Juli nachzulesen. Ich zitiere: Die in der Vorbemerkung der Fragesteller vertretene Auffassung einer grundsätzlich verschlechterten Arbeitsmarktlage Älterer wird von der Bundesregierung nicht geteilt. ({5}) Ihre Einstellung scheint aufgrund des Wahlergebnisses sehr getrübt zu sein, wodurch sich Ihr Blickwinkel wohl geändert hat. ({6}) In der Drucksache heißt es weiter: Die Bundesregierung schätzt die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe 55 bis unter 65 Jahre daher im Vergleich zu anderen Altersgruppen nach wie vor als relativ günstig ein. Diese Aussage stammt vom damaligen Arbeitsminister Olaf Scholz. Werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie sollten sich daran noch erinnern können. Das waren Erfolge unserer gemeinsamen Regierungspolitik. ({7}) Das sollte man nach zwei oder drei Monaten nicht gleich alles infrage stellen. ({8}) Ich glaube, es ist auch entscheidend, dass wir die Beschäftigungsmöglichkeiten der älteren Generation in den vergangenen vier Jahren erheblich verbessert haben. Das belegen die Zahlen: Die Anzahl der 50- bis 54-Jährigen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen ist zwischen 2005 und 2009 von circa 2 922 000 auf circa 3 282 000 gestiegen. Das zeigt sehr deutlich, dass die Arbeitsmarktinstrumente, die wir in der Vergangenheit geschaffen haben, dazu angetan waren, ältere Menschen in Lohn und Brot zu halten. Das sollte letztendlich doch das Ziel unserer Arbeit sein. Heute ist von der Finanzkrise und deren Auswirkungen gesprochen worden. Vor allen Dingen vonseiten der Linken und der SPD ist hier ein Bild gezeichnet worden, nach dem der Arbeitsmarkt im nächsten Jahr regelrecht zusammenbrechen wird. Ich sehe eine völlig andere Perspektive: Ich bin davon überzeugt, dass wir einen stabilen Arbeitsmarkt haben werden. Das zeigt sich auch daran, dass für die Altersgruppe der 50- bis 54-Jährigen sowie für die Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen während der Krise, die im September 2008 begonnen hat, mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse entstanden sind. Das heißt: mehr Beschäftigung für ältere Bürgerinnen und Bürger. ({9}) Deshalb zielt dieser Gesetzentwurf völlig an der Sache vorbei. ({10}) Heute wurde vielfach bereits dargelegt, dass die Sache mit der Altersteilzeitregelung nicht vorbei ist. Es gibt weiterhin die Möglichkeit für die Tarifparteien, entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Es ist bemerkenswert, dass insbesondere der Kollege Ernst entweder nicht im Bilde ist oder bewusst verschweigt, ({11}) dass die IG Metall für die Beschäftigten in der Metallund Elektroindustrie bereits einen Tarifvertrag mit diesbezüglichen Regelungen geschlossen hat. Es wurde vereinbart, dass ab dem 57. Lebensjahr Altersteilzeit in den Betrieben bis zum 31. Dezember 2016 möglich ist. Da Sie Mitglied der IG Metall sind, müssten Sie das eigentlich wissen. Das, was Sie hier darstellen, entspricht nicht den Tatsachen. Es wird nichts abgeschafft; im Gegenteil: Die Tarifparteien haben die Möglichkeit, Altersteilzeitregelungen zu vereinbaren. Ihre IG Metall hat diese Möglichkeit ergriffen. ({12}) Das ist das Entscheidende. Dasselbe gilt für die Chemische Industrie und für die Kunststoffverarbeitende Industrie. ({13}) Herr Kollege Ernst, es kann nicht sein, dass die Beschäftigten in den kleinen Bauarbeitsbetrieben und die Verkäuferinnen in den Einkaufsläden, also die Beschäftigten in den mittleren und kleinen Betrieben, letztendlich die Zeche dafür zahlen, dass diejenigen, die in Großbetrieben beschäftigt sind, dort, wo die Arbeitsbedingungen möglicherweise sogar noch besser sind, weil sie besser organisierbar sind, frühzeitig in Rente gehen. ({14}) Es geht um die Beiträge der Maurer, der Schuster und all der anderen Beschäftigten. Diese Beiträge sind viel zu schade, um in ein solches Programm gesteckt zu werden, Herr Kollege Ernst. ({15}) Wir haben der Arbeitslosigkeit in den vergangenen vier Jahren erfolgreich den Kampf angesagt. Wir werden das auch in Zukunft mit Wachstums- und Beschäftigungsprogrammen tun, ({16}) die darauf ausgerichtet sind, mehr Arbeitsplätze in unserem Land entstehen zu lassen und nicht weniger Arbeitsplätze. Das ist letztendlich das beste Programm, damit Menschen in selbstbestimmter Art und Weise für ihren Lebensunterhalt sorgen können. ({17}) Wir werden gerade in dieser bürgerlich-liberalen Koalition im Sinne der Bürgerinnen und Bürger dafür Sorge tragen, ({18}) dass viele neue Arbeitsplätze zukünftig die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg dieses Landes und die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme - Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung - schaffen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({19})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu uns spricht die Kollegin Elke Ferner für die SPDFraktion. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Hier wird in gewisser Weise eine Gespensterdiskussion geführt. ({0}) CDU/CSU und FDP, also diejenigen, die in den 80erJahren die gesetzliche Grundlage für die Vorruhestandsregelungen geschaffen haben, 1988 das erste Gesetz zur Förderung der Altersteilzeit verabschiedeten und die dann 1996 mit dem jetzigen Altersteilzeitgesetz das Blockmodell nachträglich eingefügt haben, beklagen sich jetzt darüber, dass die Gesetze nicht in Ordnung sind. ({1}) Jetzt gibt es auch noch Beifall von den Grünen. Man könnte sagen, hier bildet sich Jamaika oder ein Fluch der Karibik; die Beurteilung ist jedem selbst überlassen. ({2}) Es ist schon merkwürdig, welche Argumente angeführt werden. Einerseits sind Sie stolz darauf, dass die ungeförderte Altersteilzeit fortgeführt wird. Wenn das kein Problem für Sie ist, frage ich mich, warum es ein Problem sein soll, die Altersteilzeit dann durch die Bundesagentur für Arbeit fördern zu lassen, ({3}) wenn dadurch junge Menschen nach ihrer Ausbildung die Perspektive eines Jobs in einem Betrieb erhalten ({4}) und nicht die Perspektive der Arbeitslosigkeit, eines unbezahlten Praktikums, eines ungewollten Teilzeitbeschäftigungsverhältnisses oder eines befristeten Arbeitsverhältnisses. Schauen Sie sich doch einmal die Zahlen an! Was ist denn mit den jungen Leuten, die ihre Ausbildung absolviert haben und gerade in Zeiten der Krise vor verschlossenen Betriebstüren stehen, weil die Stammbelegschaft ausreicht? Warum soll denn gerade in Zeiten der Krise dieses Instrument nicht verlängert werden? Darauf habe ich bisher überhaupt keine Antwort erhalten. ({5}) Sie beklagen, dass die Fortführung etwa 1,3 Milliarden Euro kosten würde. ({6}) Jetzt frage ich mich, warum Sie dann diese Hotelkettensubventionierung finanzieren wollen, die in etwa genauso viel kostet. ({7}) Was ist Ihnen denn mehr wert: Hotelketten zu subventionieren oder aber dafür zu sorgen, dass junge Leute endlich wieder ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis aufnehmen können? Gerade die jungen Leute, die sich ein Stück weit vom Elternhaus unabhängig machen oder eine Familie gründen möchten, lassen Sie in prekären Beschäftigungsverhältnissen verharren, anstatt mit relativ wenig Geld Arbeits- und Perspektivlosigkeit zu vermeiden. ({8}) Es ist immer wieder merkwürdig, wie aus gleichen Berichten unterschiedliche Zahlen herangezogen werden. Auch ich habe mir diesen IAB-Bericht angeschaut. Ich sage Ihnen hier ganz offen: Gerade im Hinblick auf flexiblere Übergänge wäre es mir lieber, wenn sich mehr Menschen für eine Teilzeitbeschäftigung, für das echte Altersteilzeitmodell, entscheiden würden. Es wird aber niemand in die Altersteilzeit oder in ein Blockmodell gezwungen; jeder kann sich für eine Variante entscheiden. Die Gründe für die Entscheidung, das Blockmodell oder die tatsächliche Teilzeit zu wählen, sind so unterschiedlich wie die Lebenssituationen der Menschen. ({9}) Es wundert mich schon, dass ausgerechnet die Freiheitspartei FDP meint, man dürfe nicht mehr selber entscheiden, ob man in Altersteilzeit geht oder nicht. Das ist schon sehr merkwürdig. ({10}) Herr Kollege Kolb, Ihr Modell sieht im Übrigen eine Rente ab 60 mit Abschlägen von 25 Prozent vor. Das ist selbst für die meisten Menschen aus Ihrer Klientel überhaupt nicht darstellbar, weil keiner einen so hohen Rentenanspruch hat. ({11}) Wir werden uns in diesem Hause mit Sicherheit noch mit den Konzepten für einen flexiblen Übergang vom Erwerbsleben in die Rente beschäftigen müssen. Dazu gehört aus unserer Sicht auch, aber nicht alleine die Verlängerung der geförderten Altersteilzeit. Wir werden Ihnen dazu noch etwas vorlegen. Ich bin gespannt, ob Sie in dieser Koalition überhaupt in der Lage sind, zu diesem Thema ein gemeinsames Konzept vorzulegen. Man hat bei Ihrem Vortrag eben die Begeisterung bei den Kollegen von der CDU/CSU förmlich spüren können. ({12}) Noch einmal zurück zu den Zahlen. Die Zahlen des IAB zeigen, dass im September 2008 von den freigewordenen Stellen 56,3 Prozent mit jungen ausgebildeten Menschen besetzt worden sind. ({13}) Im September 2009 waren es 57,8 Prozent; es gibt also eine Steigerung, selbst wenn es den einen oder anderen Mitnahmeeffekt gibt. ({14}) Man muss sich fragen: Wo gibt es überhaupt keinen Mitnahmeeffekt? Mich wundert jetzt gerade das Verhalten der Grünen, die sich, wenn es darum geht, jungen Menschen eine Berufsperspektive zu eröffnen oder sie in die Arbeitslosigkeit zu schicken, für die Arbeitslosigkeit entscheiden. Das ist wirklich skandalös, liebe Kollegin. ({15}) Es ist nicht so, dass nur diese Maßnahme etwas kostet. Arbeitslosigkeit kostet auch Geld. Dequalifizierung kostet auch Geld. Perspektivlosigkeit kostet vielleicht sogar etwas mehr als nur Geld. ({16}) Ich frage mich wirklich, warum Sie sich gerade in einer Zeit, in der es darum geht, nicht nur möglichst viele Menschen in den Betrieben zu halten, sondern auch den Wissenstransfer und die Beschäftigungsbrücke zwischen Jung und Alt zu organisieren, nicht in der Lage sind, über dieses Instrument wenigstens noch einmal nachzudenken. Ich muss sagen: Von der Union bin ich wirklich enttäuscht. Sie haben schon im letzten Sommer unser Angebot abgelehnt, die geförderte Altersteilzeit zu verlängern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage von Herrn Kolb. Möchten Sie diese zulassen?

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bedanke mich, dass Sie mir die Redezeit verlängern wollen.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Ferner, gerne, aber warten Sie erst einmal meine Frage ab. - Nachdem Sie aus dem IAB-Kurzbericht stellenweise zitiert haben, würde ich Sie gerne fragen, wie Sie das Fazit dieses IAB-Kurzberichtes bewerten, das wie folgt lautet: Es spricht vieles dafür, die Förderung der Altersteilzeit in heutiger Form nicht weiter zu verlängern. Weiter unten heißt es: In ihrer gegenwärtigen Form gibt die Altersteilzeit die falschen Signale und reduziert den Druck auf Unternehmen, rechtzeitig umfassende Konzepte für ein alternsgerechtes Arbeiten zu entwickeln. Noch weiter unten heißt es: Dagegen wäre es auf längere Sicht ein falsches Signal, die Förderung des Blockmodells zu verlängern. Wie bewerten Sie dieses Fazit? ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich teile dieses Fazit nicht, Herr Kolb. ({0}) Das wird Sie nicht wundern; denn sonst würde dieser Gesetzentwurf heute nicht zur Debatte stehen. Wir haben eine besondere arbeitsmarktpolitische Situation. Unter normalen Bedingungen, Herr Kolb, wie wir sie Ende 2007 bis Mitte 2008 gehabt haben, hätte ich gesagt: Man macht vielleicht noch eine Verlängerung ohne das Blockmodell, um wenigstens die Brücke für die Jüngeren in die Beschäftigung zu schaffen. Dank - ich sage dies in Anführungszeichen - der Ausbildungsunwilligkeit vieler Betriebe in der Wirtschaft besteht das Problem, dass nicht alle jungen Menschen, die eine qualifizierte Ausbildung machen wollen, einen Ausbildungsplatz bekommen. Die Warteschlangen sind immens. Wenn ich mir die Beschäftigungsstruktur hinsichtlich der Sicherheit der Beschäftigung bei den jüngeren Menschen anschaue, dann muss ich sagen, dass ich froh bin, 51 Jahre alt zu sein. Denn in meiner Jugendzeit hatte ich die Sicherheit, dass ich, wenn ich einen ordentlichen Ausbildungsabschluss hinlege, auch in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis komme. ({1}) - Nein, das ist Teil der Antwort auf Ihre Frage. Denn die Frage lautete, ob ich das Fazit teile. Ich habe gesagt: Ich teile es nicht, ({2}) weil wir jetzt eine andere arbeitsmarktpolitische Situation haben und auch im nächsten Jahr haben werden. Ich muss sagen: Ich bin enttäuscht, dass Ihnen Hotelketten mehr wert sind als die Chance für junge Menschen, in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu kommen. Vielen Dank. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Als Letzter in der Debatte spricht der Kollege Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich verkneife mir, all das schon Gesagte jetzt noch einmal in Zahlen oder Zitaten aufzugreifen, aufzurühren, neu aufzukochen. Ich möchte einen Schritt zurückgehen und zu etwas Grundsätzlichem kommen. Wir reden heute nicht in erster Linie über Zahlen und Konzepte, sondern über Menschen. Wir reden über Menschen, die sich mit Blick auf die Verantwortung für ihr eigenes Leben, ihre Familien und unsere Gesellschaft nicht zurücklehnen wollen, sondern am Erwerbsleben teilhaben und aktiv sein wollen. Wir reden nicht über Almosen, sondern wir reden über Chancen. Wir reden über Menschen, die nicht nach ihrer Kompetenz oder ihrem Fleiß beurteilt, sondern schlicht und ergreifend auf ihr Alter reduziert werden. Es geht darum, ob das Alter ein Kriterium für den Zugang zum Arbeitsmarkt ist oder nicht. Ich selbst habe einige Menschen vor Augen, die das sehr wohl betrifft und auch betroffen macht. Ich finde, es verdient Anerkennung, das Schicksal dieser Menschen auf die Agenda zu setzen. Schon in der Präambel unseres Koalitionsvertrages hat sich die Bundesregierung ausdrücklich zum Fleiß und zur Verantwortungsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger geäußert: Deutschland ist ein starkes Land mit starken Menschen, und Menschen brauchen Chancen. ({0}) Was die Diskussion über den Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Altersteilzeit angeht, bin ich jedoch ziemlich verwundert. Ich werde den Eindruck nicht los, dass Sie, liebe Kollegen von der SPD, hier ein Medikament in die Verlängerung schicken wollen, das das Mindesthaltbarkeitsdatum schon längst überschritten hat. ({1}) Davon stirbt man nicht sofort. Hier geht es aber nicht nur um Schadensbegrenzung. Vielmehr müssen wir an die Menschen und ihre Zukunft denken. Nachdem wir in den letzten Wochen immer wieder Angriffe von Ihnen erlebt haben - Sie verwendeten Begriffe wie „Nebeltaktik“ und „Klientelpolitik“ -, ist es ziemlich verwunderlich, dass gerade dieser Gesetzentwurf genau diesen Geschmack hinterlässt. Wollen Sie uns etwa anhand eines praktischen Beispiels die Bedeutung dieser beiden Worte erklären? Sowohl von meinen Fraktionskollegen als auch von Mitgliedern anderer Fraktionen haben wir heute gehört, dass klare Argumente gegen Ihren Gesetzentwurf sprechen. Die demografische Entwicklung hat sich geändert; darauf muss man reagieren. In den Ausführungen wurden gravierende Widersprüche aufgezeigt. Die Blockmodellwirkung ist schädlich für den Arbeitsmarkt. Diese Regelung führte nachweislich zum Abbau von Arbeitsplätzen, insbesondere in großen Firmen. Hinzu kommt, dass ausschließlich Alter mit Alter verrechnet wird. Die Frage nach der Qualifikation wird nicht gestellt. Das Ziel dieses Gesetzes, einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben ins Rentendasein zu ermöglichen, wird so nicht erreicht. ({2}) Bei diesem Gestaltungsmittel zu bleiben, wäre vollkommen kontraproduktiv und ein denkbar schlechtes Signal für die Menschen, um die es uns eigentlich geht. Was wir brauchen, ist eine konstruktive Auseinandersetzung mit den jetzigen Gegebenheiten. Gesetze für eine Gesellschaft werden nämlich nicht ausschließlich auf der nüchternen Basis finanzieller Eckdaten gemacht, sondern sie werden für Menschen gemacht. Dabei geht es auch um Flexibilität; darauf haben meine Kollegen von der FDP hingewiesen. Es gilt, zwischen Berufsgruppen zu unterscheiden: Zwischen dem Dachdecker und dem Versicherungskaufmann gibt es nun einmal einen gravierenden Unterschied, was die Wahrnehmung dieses Gesetzes angeht. Es gilt, auch regionale Unterschiede mit einzubeziehen: In den neuen Bundesländern, aus denen ich komme, kann man nicht die gleichen Maßstäbe anlegen wie in Niedersachsen oder in Baden-Württemberg. Lieber Kollege Heil, Ihre Bemerkung bezüglich der „Rolle Rüttgers“ ganz am Anfang unserer Debatte bestätigt, dass es solche regionalen Unterschiede gibt und dass die Notwendigkeit besteht, sie mit einzubeziehen. In Zeiten des demografischen Wandels müssen die Beschäftigungschancen älterer Menschen gestärkt werden und dürfen nicht geschwächt werden. ({3}) Dazu haben wir heute gute Vorschläge gehört. Auch hier geht es um individuelle Ausstiegschancen und einen flexibleren Renteneinstieg, aber nicht in Form des Blockmodells. Damit sind wir noch lange nicht fertig. Wir sind gespannt, welche Vorschläge die Opposition in den Ausschüssen macht. Sie propagieren jetzt - 50 Jahre nach dem Godesberger Programm -, die neue SPD zu sein. Bleiben Sie bitte nicht zu lange bei den Abschiedsschmerzen! Wir möchten, dass Sie nicht bei Gedanken und Konzepten von vorgestern bleiben, wie sie in diesem Gesetzesvorschlag deutlich zum Vorschein gekommen sind. ({4}) Sie werden hier gebraucht als Opposition - so sind Sie gewählt worden -, und das sind Sie sich, diesem Parlament und den Bürgern und Bürgerinnen dieses Landes schuldig. Meine abschließende Bemerkung: Menschen sollen und werden der Mittelpunkt der Politik dieser Koalition sein. Wo es um Menschen geht, die fertig, die krank, die ausgebrannt, die ausgepowert sind, um Berufsgruppen, denen ein Weiterarbeiten nicht zuzumuten ist, gibt es weiterhin die benannte Regelung, wenn auch ohne Förderung durch die Bundesagentur. Wir haben immer wieder betont, dass die Anschlussregelungen zur Kurzarbeit momentan die beste Möglichkeit ist; ({5}) dies darf aber nicht der einzige Schritt bleiben. Die CDU/CSU steht für eine nach vorn gerichtete sowie am Menschen orientierte Arbeits- und Sozialpolitik. ({6}) Wir, die CDU/CSU, sagen in aller Deutlichkeit: Menschen, die fleißig und verantwortlich in Deutschland leben, dürfen nicht faktisch frühverrentet werden. Sie sind bis ins Alter vollwertige Mitglieder dieser Gesellschaft, auch am Arbeitsmarkt. ({7}) Unsere Gesellschaft braucht keine Frühverrentungspraxis, sondern flexible und vielfältige Regelungen, um die längere Lebensarbeitszeit bestmöglich - sowohl ökonomisch als auch sozialethisch vertretbar - zu nutzen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Heinrich, das war Ihre erste Rede im Hohen Haus, wozu ich Sie herzlich beglückwünsche. Für Ihre Arbeit hier wünsche ich Ihnen im Namen des gesamten Hauses viel Erfolg und auch Gottes Segen. ({0}) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/20 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu gibt es offensichtlich keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf: Wahl der Schriftführer gemäß § 3 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/58 Für die Wahl der Schriftführerinnen und Schriftführer liegen auf Drucksache 17/58 Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor. Ich frage Sie: Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit sind diese Wahlvorschläge einstimmig angenommen. Ich gratuliere den gewählten Kolleginnen und Kollegen im Namen des gesamten Hauses, freue mich auf die Zusammenarbeit und danke gleichzeitig den vorläufigen Schriftführerinnen und Schriftführern dieser Legislaturperiode für ihren unermüdlichen Einsatz. ({1}) Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Die Linke Bildung für alle - Gebührenfrei Als erste Rednerin spricht Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke. ({2})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Frau Bundesbildungsministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bundesweit sind 100 000 Schülerinnen und Schüler, Eltern, Lehrer und Studierende diese und letzte Woche auf die Straße gegangen. Die Linksfraktion steht an der Seite all derer, die mit Demonstrationen und Blockaden, mit Besetzungen und Streiks für bessere Bildung und für grundsätzliche Veränderungen im Bildungssystem streiten. ({0}) Nach den Protesten vom Sommer ist es jetzt das zweite Mal, dass Schülerinnen und Schüler sowie Studierende gegen die massive Unterfinanzierung und gegen die soziale Selektion im Bildungsbereich kämpfen. Neu an den jetzigen Protesten ist, dass Studierende landauf, landab die größten Hörsäle besetzt halten: inzwischen an mehr als 40 Hochschulen von Hamburg über Potsdam bis nach München. ({1}) Diese Besetzungen sind Ausdruck dafür, dass die Studierenden auch nach dem letzten Bildungsstreik im Sommer nicht das Gefühl haben, irgendwie ernst genommen zu werden. Sie zeigen mit den Besetzungen, dass sie bereit sind, entschlossen für ihre Forderungen zu kämpfen, und dass es für sie an der Zeit ist, sich den Raum zurückzuholen - es geht um ihre eigenen Hochschulen und ihr Studium -, den sie an undemokratische Hochschulräte und an private Unternehmen, Sponsoren und Profitmacherei verloren haben. ({2}) Die Proteste der Schülerinnen und Schüler sowie Studierenden sind bereits jetzt ein voller Erfolg. Nicht nur, dass sehr viele die Proteste unterstützen, auch manche Politiker haben etwas gelernt. So scheint es zumindest; denn nur noch ganz wenige beschimpfen die Proteste als zum Beispiel gestrig, wie das die Bildungsministerin noch im Sommer getan hat. Inzwischen äußern viele Politiker Verständnis für die Anliegen, die hinter dem Bildungsstreik stehen. Frau Schavan meint sogar, zu wissen, dass die Studierenden für ihre eigenen Pläne und für die Reformpläne der Bundesregierung streiken. So sagte Frau Schavan in der Tagesschau am 12. November 2009, sie finde es richtig, wenn die Studenten darauf pochten, dass das, was beschlossen wurde, jetzt auch tatsächlich umgesetzt wird. Liebe Frau Schavan, dies ist nichts anderes als ein ziemlich plumper Versuch, die Proteste zu vereinnahmen. Das zeigt, dass Sie sich mit den Forderungen und den Anliegen dieser Bewegung nicht im Geringsten auseinandergesetzt haben. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein wichtiger Slogan des Bildungsstreiks ist: „Für Solidarität und freie Bildung“. Dieser Spruch steht auf vielen Transparenten und T-Shirts der Aktivistinnen und Aktivisten. Solidarität und freie Bildung haben jedoch nichts mit den Ideen der Regierung gemein, sie haben nichts gemein mit dem Kredit- und Stipendiensystem und auch nichts gemein mit dem sogenannten Bildungssparen. Nein, die Forderungen der Studierenden sind andere: Die Studierenden fordern die Abschaffung von Studiengebühren, sie fordern den freien Bildungszugang für alle, unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, sie wollen ihre Hochschule selbst gestalten, und sie wollen eine radikale Überarbeitung der Bachelor- und Masterstudiengänge. Mit diesen Forderungen haben die Studierenden recht. Sie verdienen unsere Solidarität. ({4}) Der Bundesregierung muss klar sein: Durch Lippenbekenntnisse alleine werden die Streikenden diesmal nicht zufriedengestellt. Den netten Worten, die Sie in den letzten Tagen zur Besänftigung gefunden haben, müssen endlich auch Taten folgen. Es reicht eben nicht aus, wie beim BAföG nur das Bestehende aufzustocken. 63 Prozent der Studierenden müssen neben dem Studium arbeiten. Die meisten bekommen keine Unterstützung vom Staat. Frau Bildungsministerin, wenn Sie, wie Sie es vorgeben, tatsächlich daran interessiert sind, mehr Kinder aus einkommensschwachen Familien an die Hochschulen zu bringen, dann erhöhen Sie endlich das BAföG, schaffen Sie die Rückzahlungspflicht ab, verlängern Sie die Bezugsdauer, ({5}) und setzen Sie sich endlich dafür ein, dass Studiengebühren bundesweit verboten werden. ({6}) Mittlerweile traut sich glücklicherweise fast keiner mehr, den Bologna-Prozess, durch den das BachelorMaster-System auf den Weg gebracht wurde, als gelungene Reform hinzustellen. Insgesamt drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass es bei dieser Reform so ähnlich wie beim schlechten Wetter ist: Alle ärgern sich darüber, aber niemand will es gewesen sein oder will jetzt dafür verantwortlich sein. Der Regierung und den Kultusministern sollte aber schon klar sein, dass die Studierenden genau wissen, wer ihnen das Bologna-System eingebrockt hat. Die Fraktion Die Linke fordert eine Korrektur der gescheiterten Bologna-Reform. Das Bachelor-Master-System ist in der bestehenden Form absolut unhaltbar, das heißt, die Arbeitsbelastung muss gesenkt werden, das Angebot muss deutlich breiter und vielfältiger werden und alle Bachelor-Absolventinnen und -Absolventen müssen das verbindliche Recht auf einen Masterstudienplatz bekommen. ({7}) Frau Bildungsministerin, wenn Sie die Proteste weiterhin als Bestätigung Ihrer Politik begreifen, dann haben Sie die Schüler und die Studierenden nicht verstanden. Nötig ist ein Richtungswechsel in der Bildungspolitik, ein Richtungswechsel weg von Eliteuniversitäten und Exzellenz für wenige, ({8}) hin zu guter Bildung für alle, weg von einem Verständnis, das Bildung als Ware begreift, hin zu einem Begriff von Bildung als Menschenrecht. Seien Sie sich sicher: Bis diese Forderungen erfüllt sind, werden die Schülerinnen und Schüler sowie Studierenden keine Ruhe geben und weiter für ihre Ziele kämpfen. Meine Fraktion wird sie dabei unterstützen. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Gohlke, auch für Sie war das die erste Rede, zu der wir Sie herzlich beglückwünschen und Ihnen alles Gute für die Arbeit hier im Haus wünschen. ({0}) Das Wort hat der Kollege Michael Kretschmer für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Politik beginnt mit der Wahrnehmung der Realität. Das bedeutet beim Thema Bildung, dass wir in den vergangenen Jahren sehr viel Geld in die Hand genommen haben und dass Bund und Länder in einem nationalen Kraftakt einen Hochschulpakt verabschiedet und einen Bildungsgipfel mit dem klaren Bekenntnis durchgeführt haben, in den nächsten Jahren bis zu 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung auszugeben. Ich komme gerade von der Jahrestagung der LeibnizGemeinschaft in Rostock. Dort war eines ganz klar - der Präsident hat es noch einmal deutlich gesagt -: Zu keiner Zeit hatten Bildung und Wissenschaft einen so hohen Stellenwert wie heute. Das ist das Ergebnis unserer Politik. ({0}) Das Thema dieser Aktuellen Stunde „Bildung für alle Gebührenfrei“ ist wirklich nicht die Herausforderung unserer Zeit. Schon eher wären es Themen wie „Wir wollen die beste Bildung für alle“, „Wir wollen mit Bildung den sozialen Aufstieg schaffen“ oder „Wir wollen Bildung als universellen Wert begreifen“. Das sind unsere programmatischen Sätze, die wir linker Gleichmacherideologie entgegenschleudern. ({1}) Das sind Ziele, hinter denen wir den Bund und die Länder versammeln müssen, die wir brauchen, um am Ende tatsächlich die Kraft zu haben, das Geld aufzubringen und den Rahmen so zu setzen, dass Bildung für alle und sozialer Aufstieg durch Bildung möglich ist. Wir müssen Kinder und Eltern ansprechen und Anstrengung und Leistung einfordern. Es gibt keine Bildung ohne eigene Anstrengung und eigene Leistung. Deswegen ist Ihre Aussage völlig falsch. ({2}) CDU/CSU und auch die FDP, denke ich, stehen für einen Sozialstaat, aber nicht für einen Verschenkerstaat. Wir wollen die eigene Leistung fördern. ({3}) Jede Rede heute beginnt mit dem Bekenntnis, dass man Verständnis für die Protestierenden hat. Auch mein Studium ist noch nicht sehr lange her. Ich kann mich auch an Dinge erinnern, die nicht in Ordnung waren und über die wir im Fachschaftsrat, im Studentenrat und an anderer Stelle gesagt haben: So geht es nicht. Ich habe auch Verständnis, aber mein Verständnis schwindet langsam, wenn ich sehe, was in letzter Zeit bei diesen Protesten tatsächlich abläuft. Es ist richtig, dass mit dem Bologna-Prozess nach 50 Jahren eine gewaltige große Studienreform stattgefunden hat, und es ist richtig, dass einiges dabei nicht so glücklich gelaufen ist. Darüber kann man auch reden. Wir haben eine viel zu hohe Spezialisierung und eine Inflation an Studiengängen, die man eindämmen muss. Es gibt in Teilen zu viele Prüfungen, und es gibt in der Tat das Problem, dass Seminare und Vorlesungen zeitgleich stattfinden, sodass der organisatorische Ablauf nicht gewährleistet ist. Das ist aber kein Beleg dafür, dass der Bologna-Prozess gescheitert oder die Hochschulautonomie falsch ist. Im Gegenteil: Diese organisatorischen Defizite müssen in der nächsten Zeit schleunigst behoben werden. Dabei nehmen wir auch die Hochschulen in die Pflicht. Wir, die Union, sagen ganz klar: Wir stehen zur Hochschulautonomie und zur Hochschulfreiheit. Freiheit bedeutet auch, dass man diejenigen in die Verantwortung nehmen muss, die diese Freiheit haben. Aus diesem Grunde ist ganz klar: Wir wollen, dass die Hochschulen die Verantwortung übernehmen und dass diese organisatorischen Defizite beendet werden. ({4}) Im Übrigen sind alle drei Punkte - weder die Anzahl der Studiengänge noch die Frage der Anzahl der Prüfungen oder die Organisation von Seminaren und Vorlesungen - keine Frage der Finanzen. Es ist einfach eine Frage von schlechter Organisation, die in der Tat beendet werden muss. ({5}) Es war vom BAföG die Rede. Wir werden das BAföG im nächsten Jahr erhöhen. Aber das ist nur ein Schritt. Uns ist an einem insgesamt stimmigen Konzept der Studienfinanzierung in diesem Land gelegen. Dazu gehört als wichtigster Punkt das BAföG. Deswegen haben wir es vor wenigen Jahren erhöht, und wir werden es in den nächsten Jahren weiter erhöhen. Wir werden auch den Kreis derer verbreitern, die das BAföG in Anspruch nehmen können. Es gehören aber auch andere Dinge dazu. Ich sage ganz klar: Wir stehen zu einem vernünftigen Stipendiensystem. Wir wollen das, und wir werden es auch in dieser Legislaturperiode einführen. ({6}) Ich habe die Hoffnung, dass die Kollegen irgendwann die Realität zur Kenntnis nehmen und sich daran erinnern, was sie vor kurzer Zeit gesagt haben, nämlich dass wir eine Stipendienkultur in diesem Land haben wollen und gemeinsam versuchen, etwas Gutes zu machen. Wir sind dazu bereit. Wir wollen das tun. Wir sind im Übrigen auch offen für Kritik, gerade von denjenigen, die studieren. Aber die Kritik muss sowohl in der Sache als auch in der Art und Weise vernünftig sein. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion spricht die Kollegin Ulla Burchardt. ({0})

Ulla Burchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000306, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Kretschmer, beste Bildung für alle und Aufstieg durch Bildung für alle, das sind, glaube ich, völlig unstreitige Ziele. Aber diese sind mit Gebühren für Bildung nicht zu erreichen. Die Studierenden haben völlig recht, wenn sie die Abschaffung der Gebühren fordern. ({0}) Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Hochschule ist für die SPD nicht nur Programm, sondern auch Praxis. Schauen Sie sich die SPD-regierten Länder an! Dort gibt es keine Studiengebühren. Mittlerweile gibt es eine Wanderungsbewegung hin zu diesen Ländern. Bei den Kitas sind erste wichtige Schritte getan. Es ist hinreichend wissenschaftlich belegt - es gibt kein Erkenntnisproblem, sondern ganz offensichtlich ein Handlungsproblem -, dass Gebühren soziale Barrieren für Chancengleichheit und Teilhabe sind. Gebühren beschränken die individuellen Freiheitsrechte, behindern den freien Zugang zu Bildung in allen Bereichen und - auch das ist hinreichend belegt - sind kontraproduktiv für Wachstum und Innovation. ({1}) In jeder Hinsicht schädlich ist die ideologisch motivierte Privatisierung von Bildung, wie sie jetzt von dieser Rechtsregierung vorbereitet wird. ({2}) - Wenn Sie ein Fass aufmachen und von „links/rechts“ sprechen, dann greife ich das gerne auf. - Nötig sind massive Investitionen in das öffentliche Bildungssystem. ({3}) Ein Großteil der Probleme des Bildungssystems - darauf weisen die Studierenden in ihren Protesten zu Recht hin - sind der eklatanten Unterfinanzierung des Bildungssystems und insbesondere des Hochschulwesens geschuldet. Zu Recht werden die Studenten ungeduldig, wenn sie feststellen, dass es eine fortdauernde Diskrepanz zwischen Reden und Handeln gibt. Ich will dafür vier deutliche Beispiele nennen. Die Bundesbildungsministerin warf vor einigen Tagen in zwei Interviews der damaligen rot-grünen Koalition und ihrer Vorgängerin im Amt, Frau Bulmahn, vor, sie hätten nichts getan, um den Bologna-Prozess vorzubereiten. Das ist schlicht und ergreifend falsch. Fakt ist vielmehr, dass Frau Bulmahn damals, unterstützt von beiden Koalitionsfraktionen, den Ländern einen echten Hochschulpakt mit einem finanziellen Volumen in Höhe von 50 Millionen Euro angeboten hat. Aber die B-Länder, darunter auch Baden-Württemberg, wo Sie auch damals Verantwortung hatten, haben diesen Hochschulpakt abgelehnt. Gegen das Kompetenzzentrum zur Unterstützung der Bologna-Reform hat der hessische Ministerpräsident Koch Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Selbst eine abgespeckte Version, die wir dann auf den Weg gebracht hatten, nämlich den Bologna-Unterstützungsprozess, für den wir bis 2005 17 Millionen Euro ausgegeben haben und für den weitere Mittel in der Finanzplanung bis 2009 vorgesehen waren, haben Sie zunichtegemacht. Frau Schavan, Sie haben zweimal die Zweckbestimmung des Titels geändert und damit die Mittel zur Unterstützung des Bologna-Prozesses für die Länder zweckentfremdet. Das ist die ganze Wahrheit. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Wir werden das ausführlich dokumentieren. ({4}) Der Kollege Kretschmer hat den Bildungsgipfel angesprochen. Vor fast einem Jahr hat die Kanzlerin versprochen: Jetzt wird sich vieles bewegen; jetzt gibt es ganz viel Geld. - Was ist dabei herausgekommen? Eine Kommission höherer Beamter hat zwei Semester gebraucht, um mit 73 Berichten offenzulegen, dass es Streit zwischen Finanzministern, Kultusministern und GWK gibt und bislang nicht mehr ganz so viel Geld. Stichwort „Geld“. Es ist unbestritten, dass 25 Milliarden Euro pro Jahr notwendig sind, um die Bildungsausgaben auf OECD-Niveau zu heben. Allein für den Bund wären das 12 Milliarden Euro in den nächsten vier Jahren. Diese Zahl wird auch von der Bundesregierung in die Welt gesetzt. Aber nur Insider wissen, dass diese 12 Milliarden Euro nicht allein für Bildung vorgesehen sind, sondern für die drei Pakte, und ein erheblicher Teil in die Forschung geht. So tut sich eben nicht nur eine Zahlenlücke, sondern auch eine Glaubwürdigkeitslücke auf. Das ist nicht mehr übersehbar. Die Studierenden weisen zu Recht darauf hin. ({5}) Die Scharade, wenn ich das so nennen darf, hat noch eine ganz andere Dimension. Das stellt man fest, wenn man nicht nur die Bildungspolitik, sondern auch die steuerpolitischen Vorhaben der Bundesregierung betrachtet. Die interessierte Öffentlichkeit erfährt hier, dass 24 Milliarden Euro für Steuergeschenke vorgesehen sind. 12 Milliarden Euro Mindereinnahmen bedeutet dies alleine für die Länder, die den größten Teil schultern müssen, wenn es um das Erreichen des 7- bzw. 10-Prozent-Ziels geht. Das Geld wird dort fehlen, wo die Länder überhaupt noch finanzielle Spielräume haben, nämlich bei der Bildung und beim kommunalen Finanzausgleich. Um es kurz zu machen: Das bedeutet in der Konsequenz, wenn Sie diese Pläne verfolgen: Diese Bundesregierung legt die Axt an Kitas, Hochschulen und Schulen. Dann fehlt in den Ländern noch mehr Geld für Qualitätsverbesserung, für mehr Personal und für den Kampf gegen Bildungsarmut. Das wird das ganz konkrete Ergebnis sein, wenn Sie bei Ihrem Vorhaben bleiben. ({6}) Da kann man nur sagen: So wird die Bildungsrepublik allenfalls ein Potemkinsches Dorf. Mit Ihrer Steuerpolitik zerstören Sie das Fundament des Bildungssystems und schwächen die Innovationsfähigkeit der gesamten Bundesrepublik auf Dauer. Was wir in Deutschland brauchen, ist eine Politik, die die Wachstumspotenziale unserer Volkswirtschaft nachhaltig erhöht und gezielt ausschöpft. Das setzt voraus, dass auch die Bundesinvestitionen in Bildung deutlich steigen. Das ist der Kern unseres Angebots für einen Pakt der wirtschaftlichen Vernunft in Deutschland. Bis zum Bildungsgipfel, Frau Schavan, haben Sie und die Kanzlerin nicht mehr sehr viel Zeit, um die Glaubwürdigkeitslücke zu schließen. Deswegen nutzen Sie die Chance, sich in den nächsten drei Wochen von ideologischen Schatten zu befreien und tatsächlich nicht nur vom Aufstieg durch Bildung zu reden, sondern dafür endlich etwas Handfestes zu tun. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Abgeordnete Sylvia Canel für die FDP-Fraktion. ({0})

Sylvia Canel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004024, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es war sehr interessant, was Frau Burchardt gesagt hat. Wenn es wirklich so wäre, dass Studenten aus Ländern mit Studiengebühren abwandern würden, würden die Hochschulen in Hamburg leer stehen. Aber: Es gibt Studiengebühren, die Zahl der Studierenden nimmt zu, und auch die Geburtenrate steigt. So ganz kann das, was sie gesagt hat, nicht stimmen. ({0}) Bildung bewegt. Bildung mobilisiert. Für Bildung wird gelitten und gestritten. Dies gilt mittlerweile nicht nur für die protestfreudigen Studenten, sondern auch für die Bürgerinnen und Bürger der Mitte; denn Bildung geht uns alle an. So können wir gerade erleben, dass der rot-roten Regierung in Berlin per Volksbegehren ordentlich eingeheizt wurde. Die Zustände an Berlins Kindergärten wurden von den Betroffenen als derart schlecht empfunden, dass sich der Protest formierte. Letztlich blieb SPD und den Linken nichts anderes übrig, als endlich für Abhilfe zu sorgen. Gut so, meine Damen und Herren! Das ist der richtige Weg. ({1}) Ein ähnliches Bild auch in Hamburg, meiner Heimatstadt. Hier haben sich besorgte Eltern und Großeltern in einer Initiative mit dem bezeichnenden Namen „Wir wollen lernen!“ zusammengetan, um gegen die verfehlte grüne Bildungspolitik von Christa Goetsch vorzugehen. Auch hier zeichnet sich ein Erfolg der Bürger gegenüber dem Senat ab. Längeres gemeinsames Lernen mit der Brechstange, unterfinanzierte Schulen ohne entsprechende Qualitätsoffensive? Nein! Über 182 000 Hamburgerinnen und Hamburger lehnen das ab und stehen für mehr Leistungsorientierung in der Bildung. Und das ist gut so, meine Damen und Herren! ({2}) Es geht um die Zukunft unserer Töchter und Söhne. Bildung für alle? Ja! Das ist richtig, aber nicht auf Kosten der Qualität. Qualität ist leider nicht immer zum Nulltarif zu bekommen. ({3}) Wer das noch immer denkt, verschließt die Augen vor der anhaltenden nationalen Bildungskatastrophe. Jeder fünfte 15-Jährige kann kaum lesen und rechnen. Das ist dramatisch für die Schüler. Das ist ebenso dramatisch für den Staat. ({4}) Wenn die Zahl der Risikoschüler nicht sinkt, kostet das laut der neuen Bertelsmann-Studie in den nächsten acht Jahrzehnten die gigantische Summe von 2,8 Billionen Euro. Die schwächsten Schüler müssen endlich stärker gefördert werden, und zwar von Anfang an. ({5}) Mittelfristig strebt die FDP daher eine Beitragsfreiheit für den Bereich der frühkindlichen Bildung an, dort, wo Integration, sozialer Ausgleich und Chancengerechtigkeit am besten gelingen. Wir wollen damit Bildungsgerechtigkeit und ein Fundament für erfolgreiche Bil434 dungskampagnen schaffen. Dafür müssen wir jedoch die öffentliche Bildungsfinanzierung vom Kopf auf die Füße und die Priorität der Investitionen an den Anfang stellen. Der Einsatz der öffentlichen Mittel ist auf den Bereich, wo die meisten Kinder zu erreichen sind, auf den Bereich der frühkindlichen Bildung, auf Kindergarten, auf Schule und Grundschule, zu konzentrieren. Gleichzeitig muss der Einsatz privater Mittel im Hochschulsektor und beim lebenslangen Lernen erleichtert und gefördert werden. Genau das haben wir vor. ({6}) Dementsprechend hat uns die OECD ins Stammbuch geschrieben: Mit Ausnahme von Deutschland und Griechenland ist in allen OECD-Ländern der Anteil der privaten Mittel an der Bildungsfinanzierung im Hochschulbereich weitaus höher als im Primar- und Sekundarbereich. Kein Wunder; denn für bessere Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Einkommen ist eine stärkere Beteiligung des Einzelnen an den Kosten seines eigenen Studiums völlig legitim. Dies stammt wohlgemerkt nicht aus dem Bundeswahlprogramm der FDP, nein, das sind Zahlen der OECD, die auch Sie selber immer gerne hier zitieren. Der investive Charakter eines Studiums für den Einzelnen liegt auf der Hand, und auch der gesellschaftliche Nutzen ist unverkennbar; denn deutsche Akademiker sind dreimal seltener von Armut betroffen als Personen ohne Abschluss. Kurzum: Die Investition lohnt sich für alle, und deshalb müssen sich auch alle daran beteiligen, der Staat durch die Finanzierung der Studienplätze, der Studierende durch die Studiengebühren und die Wirtschaft durch entsprechende Stipendiensysteme. ({7}) Wir wollen mehr junge Leute zur Aufnahme eines Studiums bewegen. Gleichzeitig brauchen wir exzellente Bedingungen an unseren Hochschulen. Das kann gelingen. Die OECD legt ja die Daten vor. Privates Engagement setzt eine soziale Flankierung voraus. Deshalb stehen wir für das Bildungssparen. Es soll staatlich gefördert werden. Jedes Neugeborene soll ein Zukunftskonto mit einem Guthaben von 150 Euro bekommen. Das Denken muss sich dahin gehend ändern, dass wir nicht nur Vermögen für ein kleines Häuschen ansparen, sondern auch für die Bildung, also die Investition in die Person selbst. ({8}) Wir werden gemeinsam mit der Wirtschaft den Aufbau des Stipendienwesens vorantreiben und dafür sorgen, dass die besten 10 Prozent aller Studierenden 300 Euro im Monat erhalten; denn Leistung soll sich lohnen und nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängig sein. ({9}) Schließlich werden wir das BAföG stärken und das Angebot an Studiendarlehen ausbauen. So stellen wir sicher, dass keiner an finanziellen Hürden zum Studium scheitert. Gute Bildung zum Nulltarif gibt es nicht. Einsatz ist gefordert. Jeder muss hier mit anpacken, jeder nach seinen Kräften. Dabei muss endlich die Priorität der staatlichen Investition auf den Anfang der Bildungslaufbahn gelegt und die Selbstverantwortung am Ende gefördert werden. Wir brauchen mehr privates Engagement. Wir sehen aber auch den Staat in der Pflicht. Nicht zuletzt deswegen wird die Koalition eine noch nie dagewesene Investition von 12 Milliarden Euro in Bildung, Wissenschaft und Forschung leisten. Entweder hat Bildung eine Zukunft in diesem Land, oder dieses Land hat keine Zukunft. Danke sehr. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Canel, auch für Sie war das die erste Rede. Dazu beglückwünsche ich Sie im Namen des gesamten Hauses mit dem freundlichen Hinweis, dass die Redezeiten normalerweise eingehalten werden müssen. Alles Gute für die Arbeit hier. ({0}) Das Wort hat der Kollege Kai Gehring für das Bündnis 90/Die Grünen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Vorrednerin, Ihr Beitrag ist sicherlich ein Beispiel für ein neues Ständedenken in unserem Bildungssystem gewesen und dafür, wie der Begriff Bildungsgerechtigkeit entkernt und geradezu pervertiert werden kann. Das ist nicht unser Verständnis von Bildungsgerechtigkeit. ({0}) Auch der zweite bundesweite Bildungsstreik in diesem Jahr hat unsere Unterstützung. Es ist ein starkes Signal und ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft, wenn Schülerinnen und Schüler und Studierende für gleiche Bildungschancen, für bessere Studienbedingungen und gegen soziale Spaltung in unserem Bildungsund Hochschulsystem protestieren. Dazu gehört übrigens auch, für längeres gemeinsames Lernen zu werben. Bildung ist ein Menschenrecht und keine Ware. Schüler und Studierende sind mündige Bürger und keine Kunden auf Bildungsmärkten. Das sind die gesellschaftlichen Debatten, die jetzt anstehen. ({1}) Ich gebe zu: Frau Ministerin Schavan, Sie haben offenbar dazugelernt. Noch im Juni haben Sie dieselben Forderungen der protestierenden Studierenden als „gestrig“ abgekanzelt. Momentan können sich die Streikenden vor Ihren Solidaritätsbekundungen kaum retten. Die Schüler und Studierenden wollen aber keine Lippenbekenntnisse; sie erwarten unverzüglich konkrete Maßnahmen, spürbare Ergebnisse und Verbesserungen in den KlassenzimKai Gehring mern und Hörsälen. Wenn Sie, Frau Schavan, nicht als Bundesankündigungs- und -beschwichtigungsministerin in die Geschichtsbücher eingehen wollen, dann müssen Sie jetzt unverzüglich handeln und müssen für ein gerechteres Bildungssystem sorgen. ({2}) Wir als Grüne haben längst Konzepte vorgelegt, wie sich eine chancengerechte Bildungsrepublik bauen ließe. Wir fordern eine tiefgreifende Reform der vielerorts schlecht umgesetzten Bologna-Reform. Das Studium muss entfrachtet, studierbar und flexibler werden anstatt verschult, verdichtet und überstrukturiert. Dabei muss endlich Schluss sein mit dem permanenten SchwarzerPeter-Spiel zwischen Bund, Ländern und Hochschulen. Nein, die Korrektur muss jetzt angepackt werden. Wir fordern einen Pakt für Studierende, der 500 000 Studienplätze schafft und unsere Hochschulen endlich auch für Nichtakademiker öffnet. Wir fordern den Abbau von Zugangshürden und die Abschaffung von Studiengebühren, wie es in Hessen gelungen ist und wie es im Saarland verabredet wurde. Wir wollen darüber hinaus einen Ausbau der staatlichen Studienfinanzierung zu einem Zwei-Säulen-Modell, und zwar mit einem elternunabhängigen Sockel für alle und einer sozialen Komponente für diejenigen, die es brauchen. Das wären echte Bildungsreformen, die zu mehr Gerechtigkeit und Teilhabe führen. Dazu fehlen Schwarz-Gelb offenbar Mut und Kraft. ({3}) Noch schlimmer: Offenbar wird Frau Schavan gerade oberste Insolvenzverwalterin ihrer Möchtegernbildungsrepublik. Wir wissen ja, dass unserem Bildungssystem pro Jahr 20 Milliarden Euro zusätzliche Investitionen im Vergleich zum OECD-Schnitt fehlen. Was machen Sie, statt diese eklatante Unterfinanzierung zu überwinden? Sie reißen immer neue Milliardenlöcher in den Bundeshaushalt: mit der Abwrackprämie, eingeführt zu Zeiten der Großen Koalition, jetzt mit Steuergeschenken für Besserverdienende und für Lobbyverbände. Das geht so nicht. Wenn das Bundeskabinett jetzt Steuersenkungen beschließt, dann entzieht es der Bildungsrepublik die finanzielle Grundlage und wird Bildungskürzungen in den Ländern und in den Kommunen hervorrufen. ({4}) Daher gehören Steuersenkungen eingemottet; sonst verkommt die Bildungsrepublik gänzlich zum Märchenland. Es wird aber noch doller: Die Rechnungen für Frau Schavans Feuerwerk an Ankündigungen landen zum Großteil bei den Ländern, sei es für das ungerechte Stipendiensystem, die vage BAföG-Erhöhung oder die unterfinanzierten Wissenschaftspakte. Sie stehen sozusagen auf dem Sonnendeck des Bundes und bestellen Champagner, während die Ländermannschaft im Maschinenraum verdurstet. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wer bestellt, der muss auch zahlen, und deshalb Butter bei die Fische bei der Bildungs- und Studienfinanzierung! ({5}) Wir haben als Grüne längst einen Finanzierungsvorschlag gemacht: Wandeln Sie doch einfach den Soli Ost in einen Bildungssoli um! So lässt sich der gesamtstaatliche Bildungsaufbruch finanzieren, anstatt ihn durch Steuersenkungen abzuwürgen. Den Bildungssoli können Sie übrigens auf dem Bildungsgipfel II im Dezember genauso verabreden wie die Korrektur Ihrer bildungsfeindlichen Föderalismusreformen. Ich denke, hier im Haus werden Sie Unterstützung finden, das unsinnige Kooperationsverbot wieder abzuschaffen; es gehört entsorgt. ({6}) Letzter Punkt. Wenn Sie schon ankündigen, dann setzen Sie, bitte, wenigstens die richtigen Prioritäten, statt falsche Weichen zu stellen. Mit einer BAföG-Erhöhung machen Sie einen Trippelschritt vorwärts zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Mit Bildungssparkonten für Reiche und Stipendien für Privilegierte machen Sie zwei Riesenschritte rückwärts. ({7}) Wenn man die für das Stipendiensystem vorgesehenen Mittel nehmen würde, könnten Sie hier sofort einen Gesetzentwurf vorlegen und das BAföG um 10 Prozent erhöhen. Darauf warten wir. Das BAföG auszuweiten, das ist wichtiger als ein Stipendiensystem. ({8}) Jetzt noch die Länder zu erpressen nach dem Motto: „BAföG-Erhöhung gibt es nur, wenn die Stipendien kommen“, das geht so nicht. ({9}) - Ja, das ist doch klar. Das ist der goldene Zügel. Das ist Erpressung.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, kommen Sie zum Ende, bitte.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir sagen ganz klar: „Privat vor Staat“ ist das falsche Rezept für Bildungsreformen. Ein Kurswechsel im Bildungssystem ist überfällig: für mehr Chancengerechtigkeit, für höhere Bildungsinvestitionen, für bessere Institutionen und Strukturen und für eine höhere Qualität.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn Schwarz-Gelb einen solchen Kurswechsel einleitet, dann haben sich die Bildungsstreiks gelohnt. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Annette Schavan. ({0})

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im Studienjahr 2009 beginnen 423 000 Studierende ihr Studium, so viele wie noch nie in Deutschland. Ein Plus von 7 Prozent. ({0}) Im Studienjahr 2009 nehmen nun über 43 Prozent des Jahrgangs ein Studium auf, weil sie davon überzeugt sind, dass das attraktiv ist. ({1}) Deutschland ist außerdem nach den USA und Großbritannien das drittbeliebteste Gastland für Studierende aus aller Welt. Auch das ist ein guter Hinweis auf die Attraktivität des Wissenschaftssystems in Deutschland. ({2}) Angesichts dessen finde ich, die Reden, die ich eben gehört habe, sind schlicht ziemlich gewagte Auftritte. ({3}) Sie tun so, als kämen Sie aus einer anderen Welt, hätten mit Bildungspolitik in Deutschland gar nichts zu tun. ({4}) Interessanterweise, verehrte Frau Kollegin, haben die Streiks in Brandenburg und Berlin begonnen. ({5}) In Brandenburg und Berlin ({6}) - zu Freiburg komme ich gleich - regieren SPD und Linke. ({7}) Also gebe ich Ihnen den guten Tipp: Sorgen Sie doch einfach einmal dafür, dass man irgendwann in Deutschland sagt: ({8}) Bildungspolitik in Brandenburg und Berlin ist super. Bislang kommt in Deutschland niemand auf die Idee, in Berlin eine besonders gute Bildungspolitik vorzufinden. ({9}) - Sie haben eben geredet, und ich war still; jetzt rede ich, und Sie sind still. Ja, so sind die Spielregeln im Parlament. ({10}) Weder in Brandenburg noch in Berlin gibt es Studiengebühren. In beiden Ländern können Studierende überhaupt nicht gegen Studiengebühren demonstrieren, weil es da keine gibt. ({11}) Gewagt finde ich ({12}) - Frau Burchardt, ich bin jetzt am Umlernen; wenigstens haben Sie jetzt für die Opposition geredet und nicht mehr für die eigene Koalition; das beruhigt mich ({13}) schon, dass von Ihnen, kaum dass das Statistische Bundesamt die neuen Studienanfängerzahlen veröffentlicht hatte, eine Pressemitteilung mit dem Inhalt kam: Der Jubel sei verfrüht. ({14}) Da argumentieren Sie mit den Stärken der Jahrgänge. Ja, das sagen Sie. Aber die einzige Zeit, in der die Stärke der Jahrgänge und die Prozentzahl derjenigen, die ein Studium aufnehmen, sich unterschiedlich entwickelt haben, waren die Jahre 2003 bis 2006. Da hat genau das gestimmt, was Sie sagen: stärkere Jahrgänge, dennoch Rückgang der Zahl derer, die studieren. Seit 2006 ist es anders. Heute ist völlig klar: starke Jahrgänge und noch stärkerer Andrang an den Hochschulen. ({15}) - Die Debatte ist ein Vorgeschmack auf die kommenden vier Jahre. Ich nehme das an. Das macht mir großen Spaß. Sie müssen nur mit all dem, was Sie sagen, irgendwie auch in der Öffentlichkeit bestehen können. ({16}): Gehen Sie doch mal in Versammlungen! Gehen Sie doch einfach mal zu den Leuten!) Sehen Sie sich einmal den Zuwachs bei den Zahlen der Studienanfänger in den Ländern an. Die höchsten Zuwachsquoten gibt es in Nordrhein-Westfalen, in Baden-Württemberg, in Bayern, also in Ländern, in denen es Studiengebühren gibt. Denn für die Studierenden ist nicht interessant, ob es eine Studiengebühr gibt, sondern interessant ist, was sie an einer Universität erwartet, wo es die besten Lehrkonzepte gibt. ({17}) Den Vergleich können Sie anhand folgender Zahlen selber ziehen: In Nordrhein-Westfalen beträgt der Zuwachs 8,2 Prozent, in Baden-Württemberg 7,3 Prozent, in Bayern 9,2 Prozent, in Brandenburg, Bremen und Rheinland-Pfalz 4 Prozent. Auch wenn einem das nicht passt: Das sind die Fakten. Die Studierenden haben ein gutes Gespür dafür, wo sie ernst genommen werden. ({18}) - Es wird überhaupt keine Studie zurückgehalten. Sie wird dann veröffentlicht, wenn sie fertig ist. ({19}) In drei Wochen wird eine weitere Studie veröffentlicht. Darin sind die Studierenden befragt worden, wie zufrieden sie sind und was ihnen wichtig ist. Das wird eine wunderbare Debatte geben. Ich freue mich schon sehr auf die Veröffentlichung. ({20}) Aus all dem können Sie ersehen, wie sehr die Studierenden spüren: In diesem Land ist etwas los, ({21}) hier bewegt sich etwas, hier wird investiert. Diejenigen, die Verantwortung tragen, aber mit dieser Verantwortung nicht fertig werden, sollten sich überlegen, was sie sagen. ({22}) Ich mag ja die Kollegen und Kolleginnen von den Grünen sehr. Nur, die Schulreform in Hamburg ist für sie jetzt zumindest ein Kommunikationsproblem. Ich sage das einmal ganz vorsichtig: Das ist überhaupt noch nicht vollendet. Man kann lange darüber diskutieren, warum. Jedenfalls ist die Öffentlichkeit in Deutschland nicht von jedem Satz, den ich unaufhörlich von Ihnen höre, überzeugt. Da haben Sie ein politisches Problem. So einfach ist das. ({23}) Abschließend will ich sagen: Ich nehme die Studierenden ernst, sowohl im Sommer als auch heute. ({24}) Ernst nehmen heißt: auch widersprechen. ({25}) Ernst nehmen heißt: korrigieren. Die Korrekturen sind beschlossen, und sie werden umgesetzt. Die Bundesregierung investiert 12 Milliarden Euro. Sie hat in der letzten Legislaturperiode ungewöhnlich viel geholfen. Liebe Frau Burchardt, wenn Sie mir da wieder mit der Agentur und dem Bologna-Prozess kommen, kann ich nur sagen: In der Tat, die rot-grüne Bundesregierung hat diese Reform 1999 in Gang gesetzt. ({26}) Ich stehe dazu. Ich halte die Einführung für richtig. Aber die Frage, wer welchen Pakt mit den Ländern umsetzt, ist eine Frage der politischen Kunst. Es ist etwas anderes, ob ich als Bundesregierung den Eindruck erwecke, dass ich unentwegt Reformen mache, die irgendwie gegen die Länder gerichtet sind, oder ob ich mit den Ländern gemeinsam Vorhaben wie den Hochschulpakt, die Exzellenzinitiative und anderes umsetze. ({27}) Wir haben es umgesetzt, und Sie sind beim Bundesverfassungsgericht gescheitert. Das ist die Realität. Es waren nicht die B-Länder, sondern das Bundesverfassungsgericht. ({28}) Die Maßnahmen sind genannt worden: Weiterentwicklung des BAföG, nationales Stipendienprogramm, Bildungssparen. So sieht eine Politik guter Balance aus. ({29}) Auf diese Weise machen wir deutlich, dass wir zu den Studierenden stehen und zu der Aussage, dass für jeden in dieser Gesellschaft gilt: Investition in Bildung lohnt sich. Vielen Dank. ({30})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Abgeordnete Daniela Kolbe hat das Wort für die Fraktion der SPD. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Vorgestern zogen circa 10 000 Studierende anlässlich der Hoch438 Daniela Kolbe ({0}) schulrektorenkonferenz durch meine Heimatstadt Leipzig. Sie demonstrierten dort für mehr Qualität und gegen Studiengebühren, gegen die Selektion, gegen die Selektivität in unserem deutschen Bildungssystem. In ausnahmslos jeder Rede waren diese beiden Punkte Thema: Die Qualität der Bildung muss gesteigert werden, und es darf keine Studiengebühren geben. Ich weiß das, weil ich dort war; denn es war mir ein Herzensanliegen, meine Solidarität mit den Studierenden zu zeigen. ({1}) Ich teile ihre Auffassung, dass so manches in unserem Bildungssystem, in den Schulen und in den Hochschulen, verkehrt läuft. Bei den derzeitigen Protesten der Schülerinnen und Schüler sowie der Studierenden geht es nicht um Detailfragen. Es geht um die ganz grundsätzliche Frage: Welchen Stellenwert hat Bildung in unserer Gesellschaft? Geht es darum, Bildung in guter Qualität als Menschenrecht für alle zur Verfügung zu stellen, oder geht es nur darum, ausreichend Fachkräfte für die Wirtschaft und gute Bildung für manche zur Verfügung zu stellen? Sehr geehrte Frau Ministerin, die Menschen glauben Ihnen nicht, dass Ihnen gute und gleichwertige Bildung für alle ein Herzensanliegen ist. ({2}) Im Gegenteil: Mit Sorge betrachten viele Eltern und viele Studierende die derzeitige Entwicklung hin zu Studiengebühren und zur Privatisierung von Bildung. Dabei wäre es wichtig, gerade den Nichtakademikerfamilien Sicherheit in Fragen der Studienfinanzierung zu geben und ihnen ein gebührenfreies, diskriminierungsfreies Studium zu ermöglichen. ({3}) Denn: Ob und wie viel Geld man für Bildung bezahlen muss, ist in vielen Familien ein extrem wichtiges Thema. Eine Untersuchung des Institutes für Wirtschaftsforschung Halle von diesem Montag belegt - Sie hatten vorhin gelacht -, dass mittlerweile immer mehr junge Leute gerade aus einkommensschwachen Familien in Länder ziehen, wo es keine Studiengebühren gibt. ({4}) Ich kann das aus meiner eigenen Biografie belegen. Für mich war klar, dass ich studieren will. Meine Eltern haben sich gefreut. Aber in die Freude mischte sich dann die Sorge: Können wir uns zwei intelligente Kinder eigentlich leisten? Meine Großeltern waren da ein bisschen direkter und haben gefragt: Muss das denn sein? Mach doch erst mal was Vernünftiges! Verdiene doch erst mal Geld! Das waren ihre Fragen zu einer Zeit, in der das BAföG sicher war und es keine Studiengebühren gab. Verschulden fürs Studium - das wäre niemals infrage gekommen. ({5}) Was ist die Antwort der Frau Ministerin auf die Fragen solcher Familien? Die Antworten lauten: Studiengebühren: ja; BAföG: erst eher nein, dann vielleicht und jetzt ganz ohne Zweifel ja; ({6}) BAföG-Erhöhung: erst nein, dann vielleicht und jetzt aus vollem Herzen ja. Statt den Rechtsanspruch auf Ausbildungsförderung zu stärken, wollen Sie ein Stipendiensystem installieren. Statt sich um Bildungschancen für alle zu kümmern, veranstalten Sie eine Lebenschancenlotterie. Sehr geehrte Frau Ministerin, mit Lebenschancen spielt man nicht. ({7}) Anders als in einer fairen staatlichen Lotterie, bei der jedes Los die gleiche Chance auf einen Gewinn hat, sieht es in diesem Stipendienspiel ganz anders aus. Wir alle wissen doch, dass schon unser Schulsystem diejenigen begünstigt, die aus Elternhäusern mit guter Bildung stammen. Einkommensschwache, gegebenenfalls bildungsfernere Familien werden benachteiligt. Das heißt aber eben auch, Menschen aus bildungsnahen Familien haben eine größere Chance, ein Gewinnlos zu ziehen und damit ein Stipendium zu erhalten. Doch anstatt Ihren Stipendienvorschlag sozial gerechter zu gestalten oder zumindest zur Kenntnis zu nehmen, dass die Selektivität in unserem Bildungssystem ein Problem ist, werden Sie diese Selektivität verschärfen. Wo ist denn Ihr vehementer Widerstand gegen die Herdprämie, gegen das Betreuungsgeld? ({8}) Dieses Betreuungsgeld macht aus Kindern bildungsferner Familien bildungsferne Kinder. Für diese Kinder rückt doch ein solches Stipendium schon vor dem Beginn der Schule in unerreichbare Ferne. Was soll dieser Vorschlag zum Thema Bildungssparen? 1,7 Millionen Kindern, die auf Grundsicherung angewiesen sind, und ihren Familien wird doch schon von vornherein signalisiert, dass sie sich an diesem Wettbewerb um beste Chancen auf Bildung erst gar nicht zu beteiligen brauchen. ({9}) Frau Schavan, auch wenn Sie dreimal behaupten, wie Sie das in Ihrer Regierungserklärung und auch heute getan haben, es habe der SPD geschadet, so auf der Kostenfreiheit zu bestehen, will ich sagen: Die Zehntausenden Studierenden draußen auf der Straße, in den RektoDaniela Kolbe ({10}) raten und in den Hörsälen geben uns recht. Es bleibt bei der sozialdemokratischen Forderung: Kostenfreie Bildung von der Kita bis zum Master. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Liebe Frau Kolbe, auch für Sie war dies die erste Rede hier im Haus. Dazu herzlichen Glückwunsch von uns allen und viel Erfolg bei Ihrer Arbeit im Parlament. ({0}) Der Kollege Patrick Meinhardt spricht jetzt für die FDP-Fraktion. ({1})

Patrick Meinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003807, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist immer richtig, wenn Schüler und Studierende für ihre Interessen auf die Straßen gehen, und es ist allemal richtig, dass wir im Deutschen Bundestag über den besten Weg im Hinblick auf die Grundlinien des zentralen Zukunftsthemas Bildung miteinander streiten, aber auf realistischer Grundlage. Schüler und Studierende dürfen nicht wie hier vor den falschen politischen Karren gespannt werden. ({0}) Wir sollten eine wirkliche Debatte darüber führen, wie das Bildungsland Deutschland vorangebracht wird. Es geht bei der Bildungsdebatte definitiv nicht um einen Discountartikel nach dem Motto: billig, billiger, am billigsten. Es geht vielmehr um eine Qualitätsdebatte, darum, wie wir Bildung gut, besser und am besten gestalten. Das ist unsere Zielrichtung in dieser Debatte. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, geschätzte Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, warum gehen gerade die Eltern in Berlin auf die Barrikaden - die Ministerin hat darauf hingewiesen -, obwohl der rot-rote Senat hier in Berlin das Füllhorn der Beitragsfreiheit ausschüttet, und warum haben die Streiks in Brandenburg angefangen? Weil die Eltern sehen, dass ihnen Sand in die Augen gestreut wird. Die Umfrage des Landeselternausschusses war doch desaströs: 8 Prozent der Eltern waren für einen Wegfall der Kita-Kosten, 92 Prozent wollten keine Beitragsfreiheit, sondern eine Qualitätsverbesserung. Diese 92 Prozent haben recht. ({2}) Ich zitiere einmal eine gewisse Carola Bluhm - sie ist momentan Sozialsenatorin; als sie am 23. Juli dieses Jahres ihr Interview gegeben hat, war sie noch die Vorsitzende der Fraktion der Linken hier in Berlin -: Wir würden das Geld lieber in die Qualität der Kitas stecken. … Aber es ist schwierig, Wahlversprechen rückgängig zu machen. Dann hätten wir ein Glaubwürdigkeitsproblem. Wenn wir es aber von Anfang an anders gemacht hätten, hätten wir jetzt 50 Millionen Euro mehr für die Qualität der Kitas, für mehr Personal, für eine bessere Erfüllung des Bildungsauftrags. So schwer es mir als Liberalem fällt: Diese Abgeordnete der Linken, diese Senatorin hat recht. Mehr Qualität in den Kitas, mehr Personal, eine bessere Erfüllung des Bildungsauftrages und die Schaffung besserer Voraussetzungen, das ist das Thema. Aber es geht nicht darum, dies kostenlos auf allen Ebenen zur Verfügung zu stellen. ({3}) Absolute Funkstille herrscht anscheinend bei allen, wenn es um ein weiteres zentrales Thema unserer deutschen Bildungspolitik geht, um die berufliche Bildung. Sie sagen immer, es solle überall Kostenfreiheit geben. Aber keiner denkt darüber nach, wie viel die Ausbildung eines Auszubildenden kostet und wie viel die Meisterausbildung - durchschnittlich 6 000 Euro; die Zahlen des ZDH geben das her - kostet, die privat getragen wird. Wir diskutieren in diesem Land immer so, als ob es keine berufliche Bildung geben würde. Wer für Gleichwertigkeit ist, sollte auch an dieser Stelle redlich diskutieren und darauf hinweisen, dass hier ganz selbstverständlich Geld privat in die Hand genommen wird. Und es gibt keine Streikbewegung; denn die Betroffenen sagen: Es ist gut, einen eigenen Beitrag zu leisten. ({4}) Eine ähnliche Debatte wird immer wieder über Studiengebühren geführt. Wir brauchen ein starkes BAföG; wir brauchen intelligentes Bildungssparen, wir brauchen ein nationales Stipendienprogramm. Dieser Dreiklang - und nur dieser Dreiklang - kann und muss die Trendwende hin zu einem anderen Bewusstsein für lebenslanges Lernen bringen - und das ist in den nächsten vier Jahren eine wichtige Voraussetzung für mehr Bildungsgerechtigkeit, der sich diese Bundesregierung verpflichtet fühlt. ({5}) Die FDP will starke Hochschulen, die selbstständig, eigenständig und autonom mit Lehrenden und Studierenden entscheiden, ob und in welcher Höhe Studiengebühren bzw. Studienentgelte zu erheben sind. Das ist der richtige Weg. Diese Entscheidung sollten wir den Hochschulen nicht wegnehmen. Wenn wir dort Autonomie hinbekommen würden, wäre das der richtige Weg. Vor Ort sollte entschieden werden: Ja oder nein, und, wenn ja, in welcher Höhe Studiengebühren erhoben werden sollten - nicht hier im Deutschen Bundestag. ({6}) Im Hinblick auf die Bildungsdebatte und das, was in Berlin abläuft, erlauben sie mir zum Abschluss denjenigen zu Wort kommen zu lassen, der diese Problematik wie kein anderer auf den Punkt bringt: Professor Dr. Dieter Lenzen, Präsident der FU Berlin. ({7}) Er hat dem rot-roten Kabinett einiges ins Stammbuch geschrieben. Er stellt fest, dass es kein Vertrauen mehr in die Planungssicherheit gibt. Er stellt fest, dass der Senat den Hochschulen eine gegenseitige Kapitulationserklärung aufgedrückt hat. Er fühlt sich düpiert. Der Senat sei kein seriöser Partner mehr. Die Ausbildung der Studierenden werde einen weiteren Qualitätsverlust hinnehmen müssen, weil nur noch Quantität zähle. Wissenschaftssenator Zöllner hat - so Dr. Lenzen - ein völlig anderes Verständnis von der Steuerung von Hochschulen als alle Länder der Welt, abgesehen von China. Deswegen ist die rot-rote Bildungspolitik zerstörerisch. - Das ist die Realität roter Bildungspolitik vor Ort. Erzählen Sie uns also nicht, wie Bildung besser organisiert werden soll. ({8}) Statt gebührenfreier Bildung für alle wollen wir die beste Bildung für jeden. Das ist unsere Überzeugung. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Rosemarie Hein hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Rosemarie Hein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004053, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In einem sind sich die Streikenden in den Hochschulen mit der Regierung tatsächlich einig: Um Bildungsarmut den Kampf anzusagen, bedarf es einer nationalen Anstrengung. Die Studierenden leisten mit ihrem Streik gerade einen Beitrag dazu. Allerdings würden sie lieber gut studieren können. ({0}) Herr Meinhardt, es wäre sehr schön gewesen, wenn Sie beim Thema geblieben wären und darüber geredet hätten, was die Studierenden bei ihrem Streik bewegt. ({1}) Es ist mitnichten so, dass die ersten Länder, in denen gestreikt wurde, Berlin und Brandenburg gewesen wären. Zuerst wurde in Heidelberg und auch in Österreich gestreikt. Es war also auf jeden Fall woanders und nicht dort, wo Sie es uns eben weismachen wollten. ({2}) Die Streikenden haben eine andere Vorstellung als die Regierung davon, was nötig ist, um die extreme Abhängigkeit des Bildungserfolgs vom sozialen Hintergrund der Lernenden endlich zu beenden. Da können Sie uns entgegenschleudern, was Sie wollen, Herr Kretschmer, das bleibt auch so. Studienplätze müssen nämlich ausfinanziert werden. Das ist derzeit nicht der Fall. Seit dem Bildungsgipfel 2008 gibt es eine Verständigung auf die ominösen 10 Prozent, 7 plus 3 heißt die Formel. Das war nicht immer die einheitliche Meinung, weder bei der CDU/CSU noch - meines Wissens - bei der FDP. In der Koalitionsvereinbarung steht nun, dass Bildung zukünftig eine gesamtstaatliche Aufgabe sein soll. Es wundert mich schon sehr, wie Sie diese staatliche Aufgabe definieren. In Ihrer Vereinbarung steht: Die Länder, die Wirtschaft und die Privaten sollen ihre Beiträge auf 10 Prozent anheben. - Das ist sehr seltsam. 10 Prozent wovon denn bitte? Seit wann sind Wirtschaft und Private staatliche Einrichtungen? Das habe ich anders gelernt. ({3}) Ein Viertel aller Bildungsausgaben wird tatsächlich durch Private geleistet. Nur sind damit eben nicht nur die Unternehmen gemeint, die für die Fort- und Weiterbildung ihrer Beschäftigten aufkommen. Das wäre ja zu akzeptieren. Nein, hier geht es auch um die Mittel, die für private Nachhilfe aufgewendet werden, und die sind inzwischen erheblich. Bei allem Respekt: Die massenhafte Notwendigkeit von Nachhilfe ist ein Ausweis dafür, dass das öffentliche Schulwesen seiner Aufgabe nicht mehr gerecht werden kann. Das muss Ihnen zu denken geben. ({4}) Die Konsequenz, die die Regierung aus dieser Tatsache zieht, ist fatal. Mit der Betonung des privaten Engagements für die Bildung soll - ich hätte fast gesagt: durch die Hintertür; aber das stimmt nicht, das geschieht ganz offen - eine weitere Privatisierung der Bildungskosten gesellschaftsfähig gemacht werden. Dieses Gesellschaftsfähigmachen heißt: Bildungssparen. Sie liegen sehr falsch, wenn Sie glauben, dass damit für mehr soziale Gerechtigkeit gesorgt würde. Das Bildungssparen, das wurde hier schon gesagt, nutzt vor allem denen, die sparen können. Wie viel Geld jemand auf die Seite legen kann, hat etwas damit zu tun, wie viel er verdient. Wer viel Geld hat, kann viel auf die Seite legen, wer Hartz IV bekommt, nichts. ({5}) Das Kinderhilfswerk stellt in seinem jüngsten Kinderreport fest, dass sich die Zahl der von Armut betroffenen Kinder inzwischen bei 3 Millionen einpendelt. Es sind also nicht 1,7, 1,8 oder 2,5 Millionen, sondern 3 Millionen Betroffene. Denen ist mit Bildungssparen überhaupt nicht geholfen, aber gerade die brauchen Hilfe. ({6}) Ihre Rechnung ist eine Milchmädchenrechnung. Mit ganzen 12 Milliarden Euro, verteilt auf vier Jahre, wollen Sie die Peinlichkeit des völlig unterfinanzierten Bildungssystems in Deutschland kaschieren. Die Länder bringen längst 50 Prozent aller Ausgaben für Bildung auf. Der Bund hat im Jahr 2005 - aktuellere Zahlen sind im Bildungsbericht leider nicht zu finden - gerade einmal 8,5 Prozent aufgebracht. Auch wenn Sie 3 Milliarden Euro jährlich drauflegen, hat das noch lange nichts mit gesamtstaatlicher Verantwortung zu tun. In SachsenAnhalt, dem Land, aus dem ich komme, machen die Ausgaben für Bildung und Forschung zusammen inzwischen 16 Prozent des Gesamtetats aus. Der entsprechende Einzelplan des Bundes liegt bei weniger als 5 Prozent. Frau Schavan, angesichts dessen ist Ihr Verweis auf die Länder gewagt. Sie rufen: „Haltet den Dieb!“ und schauen dabei auf die Länder, obwohl der Bund gefragt ist. ({7}) Die Föderalismusreform ist ein Flop. Das wissen Sie wahrscheinlich schon längst. Ihr Bildungskonzept schreibt die Entsolidarisierung der Gesellschaft fort, frei nach dem Motto: Wenn jeder an sich denkt, ist auch an jeden gedacht. ({8}) So wird es dabei bleiben, dass ein Akademikerkind eine sechsmal höhere Chance hat, das Abitur zu machen, als ein Kind aus einer Arbeiterfamilie. Selbstzufriedenheit, wie Sie sie hier gerade demonstriert haben, ist da wirklich fehl am Platze. ({9}) Wir werden die Streikenden weiter unterstützen; wir können sie gut verstehen. Wir werden sie darin bestärken, in ihrem Protest nicht nachzulassen, bis Vernunft in die Politik einzieht. Doch ich habe die Befürchtung, dass das noch eine ganze Weile dauern wird. Danke schön. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Dr. Hein, das war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Herzlichen Glückwunsch dazu! Alles Gute für Sie und Ihre Arbeit! ({0}) Albert Rupprecht hat jetzt das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({1})

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Der Vorwurf, die Bildungspolitik dieser Bundesregierung sei unsozial, ist abenteuerlich, absurd und durch Fakten in keiner Weise zu bekräftigen. ({0}) Aus der Sicht anderer Länder, die diese Debatte verfolgen, stellt sich die Frage, ob das noch verhältnismäßig ist. Es gibt wohl kaum ein Land, kaum einen Staat, der in der Bildungspolitik sozialer ausgerichtet ist als die Bundesrepublik Deutschland. ({1}) Die Bundesrepublik hat eine soziale Bildungspolitik. ({2}) Diese Bundesregierung ist Vorreiter und verfolgt eine Bildungspolitik, die sozialer ist, als die einer jeden Bundesregierung davor es war. ({3}) Die wichtigsten Fakten noch einmal zur Erinnerung. Die Bildung hat bei dieser Bundesregierung absolute Priorität. Das wird an mehreren Zahlen deutlich. Künftig werden in der Bundesrepublik Deutschland 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Forschung investiert werden. Das ist international absolute Spitze. Wir erhöhen die Ausgaben für Bildung und Forschung in dieser Legislaturperiode um sage und schreibe 12 Milliarden Euro; das entspricht gegenüber 2005 einer Verdoppelung des Etats. Das ist die größte Mittelsteigerung bei einem Ressort in der Bundesrepublik Deutschland. ({4}) Der Bildungspakt ist eine Investition, von der insbesondere sozial schwache Familien profitieren. 275 000 zusätzliche Studienplätze bis 2015 - dadurch werden insbesondere sozial schwache Familien unterstützt. Mehr Geld für jeden Studienplatz - auch dadurch werden insbesondere Studenten aus sozial schwachen Familien unterstützt. Es gibt noch vieles andere mehr. Unser klares Ziel ist - das ist ein Riesenkraftakt -, dass das Bildungssystem Deutschlands eines der besten weltweit wird. Deswegen sind die Anliegen der Studenten, die derzeit protestieren, in der Tat berechtigt. Es ist in der Tat notwendig, den Bologna-Prozess kritisch zu begleiten, genau hinzuschauen und dort, wo Verbesserungen notwendig sind, diese nicht nur anzumahnen, sondern auch umzusetzen. ({5}) Ich persönlich glaube zunehmend, dass wir den Bologna-Prozess zwar nicht umkehren sollten, ihn aber grundsätzlich hinterfragen müssen, wenn wir auch künftig das Ziel einer aufgeklärten und mündigen Gesellschaft verfolgen wollen. ({6}) Albert Rupprecht ({7}) Das gelingt aber nicht im Klassenkampf gegeneinander, sondern nur im konstruktiven Gespräch miteinander. Wir müssen gemeinsam mit den Studenten, den Ländern und der Bundesregierung die Probleme bei den Hochschulen anpacken. ({8}) Die Länder müssen in der Tat mitmachen. Beispielsweise hat das bayerische Kabinett vor wenigen Tagen beschlossen, 500 Millionen Euro zusätzlich in Bildung zu investieren. Die rot-rote Regierung in der Stadt Berlin hingegen hat unter Wowereit genau das Gegenteil beschlossen: Die drei großen Universitäten bekommen 75 Millionen Euro weniger; 220 Professuren werden gestrichen, ganze Fachbereiche werden abgewickelt. ({9}) Es ist richtig, dass Sie von der Linken, der SPD und den Grünen im Bundestag mehr Geld für Bildung und Forschung fordern; das ist unser gemeinsames Anliegen. Wir erheben aber den Anspruch, dass Sie diese Forderung dort, wo Vertreter Ihrer Parteien regieren, mit Leben füllen. ({10}) Die Wirklichkeit spricht eine andere Sprache. Wir stellen die Finanzierung des Studiums auf mehrere Füße. Wir erweitern das traditionelle BAföG um ein Stipendienprogramm und fördern künftig Bildungssparen. Es macht doch Sinn, der Bildung auch im Bewusstsein der Eltern einen höheren Stellenwert zu geben. ({11}) Das bürgerliche Leitbild im Nachkriegsdeutschland war die Aussage der Eltern: Meinen Kindern soll es einmal besser gehen. - Sie haben gespart, um ihren Kindern eine gute Zukunft und eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Damals haben Eltern für ihre Kinder etwas zurückgelegt, die wesentlich ärmer waren, als heute Hartz-IVEmpfänger sind. ({12}) Wenn wir zukünftig Eltern beim Bildungssparen einen Zuschuss gewähren, dann eröffnen wir vor allem Kindern aus sozial schwachen Familien eine Chance, nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch weil dadurch die Wertschätzung für Bildung als solche steigt und sie in den Familien an Bedeutung gewinnt. ({13}) Darüber hinaus werden wir das BAföG, das traditionelle und stärkste Standbein, ausbauen und damit insbesondere Jugendlichen aus sozial schwachen Familien ein Studium ermöglichen. Mit dem Dreiklang aus Bildungssparen, Stipendien und einem höheren BAföG werden wir die finanzielle Situation der Studenten verbessern. Wir ermöglichen Chancengerechtigkeit. Wir wollen nicht alle gleichmachen; wir wollen aber, dass junge Menschen die Vielfalt ihrer Fähigkeiten und Begabungen entwickeln können. Natürlich erwarten wir auch einen eigenen Beitrag, eigene Anstrengungen. Ich glaube, es ist nicht zu viel verlangt, wenn junge Akademiker, die im Leben im Schnitt 120 000 Euro mehr verdienen als der Durchschnitt der Bevölkerung, einen kleinen eigenen Beitrag leisten. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sofort. - Deswegen bin ich nicht der Meinung, dass Bildung in jedem Fall kostenlos sein muss, ganz im Gegenteil. Es ist aber wichtig, dass jeder junge Mensch unabhängig vom Geldbeutel der Eltern seine Talente entfalten kann. Genau das ermöglicht diese Bundesregierung besser als jede andere zuvor. Noch nie hat eine Bundesregierung so viel Geld für Bildung in den Bundeshaushalt eingestellt, wie es diese Regierung plant.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das hilft an erster Stelle Kindern und Jugendlichen aus ärmeren Familien. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Swen Schulz hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Schon seit längerem gibt es Proteste, die Probleme sind ebenfalls seit langem bekannt. Auch diese Aktuelle Stunde ist nicht gerade überraschend auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages gesetzt worden. Das wäre doch die Stunde gewesen, in der die Regierungskoalition und die Ministerin ihre Konzepte, Ideen und Vorschläge für die Lösung der Probleme darstellen. ({0}) Nun habe ich die ganze Zeit zugehört. ({1}) Swen Schulz ({2}) Ich muss leider sagen: Fehlanzeige! Nichts Hilfreiches, nichts Sinnvolles wurde gesagt. Stattdessen gab es von der Ministerin erstaunlich dünnhäutige und beleidigte Reaktionen auf Kritik. ({3}) Beim Kollegen Rupprecht bleibt einem ja schon die Spucke weg, wenn man sieht, wie er die Augen vor den Problemen verschließt. Sie kommen hier immer wieder auf Berlin und Brandenburg zu sprechen. ({4}) Zwei Informationen dazu. In Berlin sind die Studierenden besonders aktiv; das hat Tradition, und das ist auch ganz in Ordnung so. Wenn alle Bundesländer im Bildungswesen, gerade im Hochschulbereich, so viel tun würden wie Berlin, dann hätten wir in Deutschland viele Probleme, über die wir heute reden, nicht. ({5}) Zum Thema Brandenburg. Frau Schavan, dass ich Sie da aufklären muss, ist schon verwunderlich. Wir hatten dort bis vor kurzem neun Jahre lang eine Große Koalition. Wer war die zuständige Ministerin? Frau Wanka von der CDU. So viel dazu. ({6}) Im Umgang mit den Studierenden, Frau Schavan, haben Sie Kreide gefressen. Vor einigen Monaten waren sie Ihrer Meinung nach noch gestrig, das ginge doch gar nicht. Inzwischen haben Sie Ihre Rhetorik geändert. Sie haben sogar nach einigem Hin und Her eine BAföG-Erhöhung angekündigt. Das ist gut; die SPD unterstützt das. Wir werden darauf achten, dass das auch vernünftig abläuft. ({7}) - Ja, wir werden darauf achten. Verlassen Sie sich darauf! Man muss ein Stück weit darauf achten, was mit den angekündigten Instrumenten verbunden ist. Über Stipendiensysteme ist schon einiges gesagt worden. Auch das Bildungssparen hört sich super an. ({8}) Die Bürgerinnen und Bürger finden es großartig, dass sie vom Staat Geld geschenkt bekommen. Aber es ist ein vergiftetes Geschenk. Man muss sich einmal überlegen, was tatsächlich geschieht. Zum einen ist es so, dass nur diejenigen Geld bekommen, die selber für die Kinder Geld zur Seite legen wollen und können. Das schließt viele aus. Damit verfestigen Sie eine Spaltung der Gesellschaft. ({9}) Vor allem aber schieben Sie die Lasten der Finanzierung von Bildung ein Stück weit vom Staat auf die Familien, auf die Einzelnen. Sie wollen sich für die Zuschüsse feiern lassen, dabei stehlen Sie sich aus der öffentlichen Verantwortung für Bildung. ({10}) Sie betrachten Bildung als eine Ware, die man sich leisten können muss. Wer sie sich nicht leisten kann, der hat halt Pech gehabt. Ich will das an einem Beispiel festmachen: Für Hausaufgabenhilfe und Nachhilfe werden jedes Jahr Milliarden ausgegeben. Viele können sich das nicht leisten. Die Reaktion der Bundesregierung, der politisch Verantwortlichen, kann doch nicht sein, einigen ein bisschen mehr Geld zu geben, damit sie sich mehr Hausaufgabenhilfe leisten können. ({11}) Vielmehr muss die Reaktion sein, dass die Schulen besser werden, damit die Pädagogen die entsprechende Unterstützung leisten können, damit sich niemand mehr Bildung kaufen muss. ({12}) Das ist der entscheidende Unterschied zwischen der Regierungskoalition und uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten: Für uns ist Bildung ein Menschenrecht. Der Staat ist in der Verantwortung, dass dieses Recht realisiert wird. Bildung darf nicht vom Geldbeutel abhängig sein. Dafür setzen wir uns ein. ({13}) Sie, Frau Schavan, sollten sich, statt Nebelkerzen zu werfen, dafür einsetzen, dass es keine Kita-Gebühren mehr in Deutschland gibt, ({14}) dass in den Schulen kein Büchergeld mehr erhoben wird und dass keine Studiengebühren gefordert werden. Das wäre tatsächlich ein Beitrag, der allen helfen würde. Das ist ein vernünftigerer Schritt als Stipendiensysteme oder das Bildungssparen. ({15}) So viel zum Bereich der sozialen Situation. Zum Thema gehört aber natürlich auch der Bereich der Studiensituation. Die Zahl der Studienanfänger steigt. Umso wichtiger ist es, dass wir die Situation verbessern. Dazu hat die Regierung - auch das haben wir heute gehört keinen Plan, keine Idee. Da ist nichts. Sie haben nur den Hochschulpakt, der ohne die SPD in der letzten Legislaturperiode gar nicht möglich gewesen wäre. ({16}) Swen Schulz ({17}) Was macht diese Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP? Wir wollen einen Rechtsanspruch auf Masterstudiengänge. Was sagt die Bundesregierung? Wir haben ein Konzept für gute Lehre. Wo ist hier die Bundesregierung? Wir haben einen Finanzierungsvorschlag. Was macht die Bundesregierung? Die Regierungskoalition klopft sich für Maßnahmen, die wir zum größten Teil noch in der Großen Koalition verabredet haben, auf die Schulter. Ansonsten hauen Sie den Ländern und Gemeinden, die die Hauptlast der Finanzierung von Bildung tragen, finanziell die Beine weg. ({18}) Etwa 15 Milliarden Euro zusätzlich müssten die Länder und Gemeinden für eine Verbesserung des Bildungswesens investieren. Diese Regierungskoalition hilft nicht. Im Gegenteil: Sie erschwert die Situation noch, indem irrsinnige Steuergeschenke gemacht werden. 15 Milliarden Euro werden den Ländern und Gemeinden fehlen. Dieses Geld fehlt dann in den Kitas, in den Schulen, an den Hochschulen. Das ist eine Politik, die geradezu bildungsfeindlich ist. ({19}) Ich stelle die Frage: Wo ist die Bildungsministerin? Frau Schavan, Sie sollten weniger Kreide fressen, sondern in der Bundesregierung die Zähne zeigen, ({20}) und zwar denen, die diese irrsinnigen Steuergeschenke machen wollen. Das wäre ein vernünftiger Beitrag zu einer besseren Bildung in Deutschland. Herzlichen Dank. ({21})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Anette Hübinger spricht für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Anette Hübinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Heute haben wir wieder gemerkt: Das Thema Bildung ist in aller Munde. Das ist gut so; denn von einer guten Bildung hängt die Zukunft unseres Landes ab. Ich möchte auf die Studentenproteste zurückkommen. In den Mittelpunkt ihrer Proteste haben die Studierenden die in vielen Bereichen schlechte Umsetzung des Bologna-Reformprozesses gestellt, und das zu Recht. Wir in diesem Haus haben die Reform der Reform schon seit mehreren Jahren, seit der Konferenz in London, eingefordert. Bei aller berechtigten Kritik: Der Bologna-Prozess darf dabei nicht infrage gestellt werden. Die Hochschulkonferenz stellte dazu vorgestern in Leipzig treffend fest: Die Bologna-Reform ist unumkehrbar. Ähnlich verhält es sich beim Thema Studiengebühren. Studiengebühren dürfen nicht von vornherein verteufelt werden. Auch hier kommt es auf die praktische Umsetzung an. ({0}) Auch Studierende mit kleinem Geldbeutel müssen in der Lage sein, ihren Beitrag zugunsten ihres Studiums und ihrer Universität zu leisten; denn die Studierenden von heute sind die gut verdienenden Akademiker von morgen. ({1}) Das Wohl und Wehe der Studierenden an unseren Universitäten hängt nicht vom gebührenfreien Studium ab, sondern von einer praktikablen Umsetzung des BolognaProzesses. Diese hat nämlich grundlegende Auswirkungen auf die Berufschancen unserer Studierenden. ({2}) Des Weiteren werden in der aktuellen Diskussion nur zu oft die falschen Adressaten angesprochen. Speziell zum Thema „gebührenfreies Studium“ muss klargestellt werden: Das Ob und das Wie der Studiengebühren liegen allein in den Händen der Bundesländer. ({3}) Eigentlich sollten Sie das wissen, werte Kolleginnen und Kollegen; denn auch Ihnen müsste das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum 6. Hochschulrahmengesetz bekannt sein. In einigen Bundesländern hat man sich gegen die Erhebung von Studiengebühren ausgesprochen, in anderen für ihre Abschaffung. Ein aktuelles Beispiel für ein Bundesland, in dem man sich für die Abschaffung von Studiengebühren entschieden hat, ist mein eigenes Heimatland, das Saarland. Ich empfinde dies als den falschen Weg. Ich kann mich der grundsätzlichen Einschätzung von Frau Professor Wintermantel, der Präsidentin der Hochschulkonferenz, anschließen: Dort, wo Studienbeiträge erhoben wurden, sind sie zum größten Teil zur qualitativen Verbesserung der Lehre eingesetzt. ({4}) Darauf kommt es an: auf die Qualität. ({5}) Jetzt muss auch im Saarland zur Kenntnis genommen werden, dass alle Steuerzahler zum großen Teil die Ausbildung der zukünftigen - wie schon gesagt: gut verdienenden - Akademiker bezahlen müssen. Eine gerechte Lastenverteilung sieht in meinen Augen anders aus. Unser Ziel muss es sein, die staatliche Unterstützung für Studierende zu verbessern. Bereits in der zurückliegenden Legislaturperiode wurden Verbesserungen auf den Weg gebracht, und zwar Verbesserungen, die der Bund vornehmen kann. So sind die Mittel der Begabtenförderung in den vergangenen vier Jahren kontinuierlich gestiegen. Im Rahmen der Qualifizierungsstrategie haben wir die sogenannten Aufstiegsstipendien eingeführt. Zum Wintersemester 2008/2009 wurden das BAföG um 10 Prozent und die Freibeträge für das anrechenbare Einkommen um 8 Prozent angehoben. Die von der Bundesbildungsministerin Professor Dr. Annette Schavan angekündigte BAföG-Erhöhung ist deshalb im Zusammenhang mit dem angestrebten und geplanten nationalen Stipendienprogramm und dem Vorschlag der Einführung eines Bildungskontos zu verstehen. Die geplante BAföG-Erhöhung wird zweifelsfrei für mehr soziale Durchlässigkeit an den deutschen Hochschulen sorgen und von vielen Studierenden den Druck nehmen, zur Finanzierung ihres Lebensunterhalts neben dem Studium einen Job ausüben zu müssen. Als zweite Säule unserer Bemühungen werden wir - auch das wurde schon öfter erwähnt - begabten Studierenden ein Stipendium zukommen lassen. ({6}) Ziel ist es, den Anteil der Studenten in der Begabtenförderung von 2 auf 10 Prozent zu erhöhen. Auch das ist ein lohnendes Ziel. ({7}) Als dritte Säule haben wir in unserem Koalitionsvertrag die Einführung eines Bildungskontos für Neugeborene festgeschrieben. Es ist eine Starteinlage in Höhe von 150 Euro geplant. Weitere Einzahlungen sollen in Anlehnung an die Riester-Rente steuerlich begünstigt werden. Das ist ein Anreiz zum Sparen. Wenn ich an meinen anderen Politikbereich, die Entwicklungspolitik, erinnern darf: In der Entwicklungspolitik arbeiten wir grundsätzlich mit Anreizsystemen, und wir haben gute Erfahrungen damit gemacht. Solche Anreizsysteme sollten wir auch hier nutzen. ({8}) Damit wird auch dem Anspruch auf lebenslanges Lernen Rechnung getragen; denn Bildung gibt es nicht ein Leben lang kostenlos. Jeder trägt in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung wie der unseren auch ein Stück Eigenverantwortung für seine Bildung und damit für seine Chancen im Leben. ({9}) Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, dass die Situation der Studierenden von der Koalition ernst genommen wird. Die Weiterentwicklung der vorhandenen Instrumente in Kombination mit neuen Ansätzen wie dem Bildungskonto wird die Rahmenbedingungen der Studierenden verbessern und stärken. Populistische Forderungen - noch dazu an die falsche Stelle - sind hier nicht angebracht. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Monika Grütters hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Monika Grütters (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003761, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Schulz, Sie sagen, dass die Debatte nicht überraschend kommt. Als dreizehnte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde sage ich: Dass wir allein in diesem Jahr zum zweiten Mal eine so große Bildungsdebatte führen, ist doch sehr beachtlich. Ich finde es auch beachtlich, dass das ein Ergebnis der Studentenproteste ist; das muss ich sagen. Der Bundestag muss sich also keineswegs verstecken. ({0}) Der Tenor der Reaktion hat sich deutlich geändert. Wir hören allenthalben, dass sich etwas ändern muss, dass die Reformen nicht gut durchgeführt sind. An die Adresse der Studierenden gerichtet sage ich: Das haben Sie richtig gemacht, und wir sind auch bei Ihnen. Aber es lohnt sich, richtig hinzuschauen und richtig hinzuhören, Frau Kollegin Gohlke. Nehmen wir einmal Ihren Aufreger, die Studiengebühren. Keiner bestreitet, dass Studiengebühren für Einzelne tatsächlich ein Hemmnis sind, ein Studium aufzunehmen. ({1}) Aber Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass Studiengebühren für genau so viele Menschen in Deutschland kein Hindernis darstellen. ({2}) Es gibt keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Erhebung von Studiengebühren und der Zahl der Immatrikulationen an dieser Hochschule. ({3}) Im Gegenteil: In Baden-Württemberg, in Hamburg, im Saarland, wo Studiengebühren erhoben werden, steigt die Zahl der Studierenden, während sie in anderen Bundesländern - übrigens insbesondere in den neuen Bundesländern - zurückgeht. Ein zweiter Befund, der uns alle - auch Sie - etwas angeht: In den neuen Bundesländern bleiben viele Kapazitäten frei, während die Großstädte und viele Studienorte in den alten Bundesländern von Studierenden geradezu überschwemmt werden. Die Studierenden beschweren sich über schlechte Bedingungen. Wenn es uns allen gelingen würde, statt die Situation zu beklagen dafür zu sorgen, dass sich die Studierenden anders vertei446 len, und für die neuen Bundesländer viel mehr zu werben, ({4}) bekämen sehr viele Studierende wesentlich bessere Studienbedingungen. Ja, Frau Gohlke: Bildung ist ein Menschenrecht. Aber wenn Herr Gehring prompt erklärt, wir hätten in Deutschland ein Ständedenken, muss ich Sie daran erinnern, dass von den 2 Millionen Studierenden immerhin 41 Prozent BAföG bekommen. Insofern geht Ihre Polemik an der Realität vorbei. ({5}) Frau Kolbe hat gesagt: Bildung für alle! - Irgendeine „Bildung für alle“ zu fordern, finde ich sehr problematisch. Macht es nicht viel mehr Sinn, jedem seine Bildung zu ermöglichen? ({6}) Nicht zuletzt solche Differenzierungsmöglichkeiten waren ein wesentlicher Anstoß für die Zweiteilung des Studiums mit der Einführung eines ersten berufsbefähigenden Abschlusses im Rahmen der Bologna-Reform. Übrigens: Das einzige Ziel, das wirklich erreicht worden ist, ist, die Studienabbrecherquote signifikant zu senken. Die Differenzierungen müssen sein. Manche Professoren haben sich nichts Besseres einfallen lassen, als das Wissen von neun Semestern in sechs Semestern zu lehren. Hier hätte ich mir mehr Fantasie gewünscht. Aber zumindest eines der Ziele, nämlich die Abbrecherquote zu senken, ist beim jetzigen Stand der Reform erreicht worden. ({7}) Außerdem möchte ich Ihnen an dieser Stelle eine Frage stellen, Frau Gohlke. Die Arbeitswelt hat in den vergangenen Jahren eine beispiellose Verdichtung erlebt. Das ist unter anderem am Produktivitätsfortschritt ablesbar. Ein Großteil der Menschen in unserem Land arbeitet und lernt bereits jetzt viel mehr, schneller und intensiver als zuvor. Ist es wirklich so schlimm, das auch von Studierenden zu erwarten und das auch auf das Studium zu übertragen? ({8}) Im Übrigen: Der Hinweis, es gebe nicht genug Masterstudienplätze, ist schlichtweg falsch. Gerade Masterstudienplätze bleiben an ganz vielen Hochschulen leer. ({9}) Die Jobaussichten für Bachelorabsolventen haben sich gegenüber den ersten zwei Jahren deutlich verbessert. Die Kritik der Wirtschaft hat sich inzwischen zu einem regelrechten Bachelor-Welcome gewandelt. Ich finde, in den Protesten drückt sich auch konstruktive Kritik der Betroffenen aus. Es hat viele Änderungen gegeben. Wir wollen weiter einen intensiven Dialog. Die bildungspolitischen Grabenkämpfe jedenfalls sind vorbei. Wir brauchen eine Reformstufe zwei, mit der die Kinderkrankheiten geheilt werden. ({10}) Herr Gehring, ich finde, wir haben mit dem Hochschulpakt, den wir mit den Ländern vom Sonnendeck des Bundes herab ausgehandelt haben, ({11}) mit der Exzellenzinitiative und mit einem Bildungsetat, der nie so hoch war wie in der letzten Legislaturperiode - jetzt gibt es noch einmal 12 Milliarden Euro mehr -, einen intelligenten Weg gefunden, mit dem Kooperationsverbot umzugehen. So soll das auch weiterhin sein. Die ritualisierte Aufregung überlassen wir lieber der Opposition. Vielen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Lebanon ({0}) auf Grundlage der Resolution 1701 ({1}) vom 11. August 2006 und folgender Resolutionen, zuletzt 1884 ({2}) vom 27. August 2009 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen - Drucksache 17/40 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort hat der Außenminister, Dr. Guido Westerwelle. ({4})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Für die Bundesregierung bitte ich Sie um Ihre Zustimmung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an UNIFIL, der Operation der Vereinten Nationen im Libanon und vor seiner Küste. ({0}) Ich tue das als jemand, der vor drei Jahren in diesem Hause gegen eine deutsche Beteiligung an dieser Mission gestimmt hat - wohlgemerkt: nicht gegen die Mission selbst. Jede Bundesregierung steht in der Verantwortung des Handelns auch ihrer Vorgängerregierungen. Zu Beginn einer neuen Amtszeit gilt das selbstverständlich auch in der Außenpolitik. Das ist kein Makel, das ist eine Stärke. Darauf gründet die Kontinuität, die die deutsche Außenpolitik so erfolgreich gemacht hat. Damit gar kein Zweifel aufkommt: Zu den Vereinbarungen, die in Ihrer Amtszeit getroffen worden sind, steht selbstverständlich auch die neue Bundesregierung, auch meine Person als Außenminister. Es ist die Kontinuität in der Außenpolitik, die die Bundesrepublik Deutschland zu einem verlässlichen Bündnispartner für die internationale Staatengemeinschaft gemacht hat. Kontinuität bedeutet aber nicht ein schlichtes Weiter-so. Deshalb wird die Bundesregierung die Zahl der maximal einzusetzenden Soldatinnen und Soldaten von 1 200 auf 800 reduzieren und den UNIFILEinsatz bis zum 30. Juni des kommenden Jahres befristen. Deutschland hat ein strategisches Interesse an einem dauerhaften Frieden im Nahen Osten. Wie schwierig das ist, das wissen Sie; das wissen alle. Ich habe es insbesondere bei meiner gerade stattgefundenen Reise im Nahen Osten noch einmal persönlich sehr in den Gesprächen spüren können. Wir haben eine Resolution, nämlich die Resolution 1701 aus dem Jahr 2006. Das ist ein wesentliches Element zur Vermeidung erneuter bewaffneter Auseinandersetzungen und zur Stärkung der Souveränität und Stabilität des Libanon. Dies zählt neben der Sicherheit für den Staat Israel und der Schaffung eines lebensfähigen palästinensischen Staates zu den Schlüsselelementen einer regionalen Friedenslösung. Diese regionale Friedenslösung bleibt unser übergeordnetes Ziel. Weil wir durch die Erklärung von Ministerpräsident Netanjahu einen aktuellen Anlass haben und weil diese Erklärung wenige Stunden nach meiner Reise und meinem Antrittsbesuch in Israel und in den palästinensischen Gebieten in Ramallah abgegeben worden ist, möchte ich auch dazu etwas sagen. Das ist für uns alle, denke ich, Staatsräson: Wir haben als Deutsche ein besonderes Verhältnis und eine besondere Partnerschaft zu dem Staat Israel. Daran gibt es nichts zu rütteln. Wir haben eine besondere Verantwortung, übrigens nicht nur aus historischen Gründen, sondern auch aus Gründen der Gegenwart und unserer gemeinsamen Zukunft. Das bedeutet aber nicht, dass Meinungsunterschiede nicht ausgesprochen werden könnten. Wir in Deutschland bleiben dabei: Wir wollen eine Zwei-StaatenLösung. Auf der einen Seite hat Israel unzweifelhaft das Recht, in sicheren Grenzen leben zu können. Auf der anderen Seite haben aber auch die Palästinenser das Recht auf einen eigenen Staat. Es bleibt bei der Roadmap von 2003. Das heißt, es bleibt bei unserer Haltung in Deutschland wie in der internationalen Staatengemeinschaft insgesamt, dass die Siedlungspolitik eingefroren werden muss. Das ist nicht nur die deutsche Haltung; das ist die Haltung der internationalen Gemeinschaft insgesamt. ({1}) Die jüngsten Ankündigungen sind ein wichtiger erster Schritt. Sie könnten Bewegung in die Siedlungsfrage bringen. Entscheidend ist, dass die Parteien nun rasch den Weg in direkte Verhandlungen finden. Zurück zum eigentlichen Mandat: Die Befähigung der libanesischen Streitkräfte zur eigenständigen Aufgabenerfüllung spielt dabei eine zentrale Rolle. Deshalb hat Deutschland im Rahmen von UNIFIL von Anfang an zwei Handlungsstränge verfolgt: die Überwachung der Seegrenzen und die Unterstützung der libanesischen Marine zum Aufbau eigener Fähigkeiten. Dies versetzt die libanesische Marine zunehmend in die Lage, die Küste und territorialen Gewässer des Landes selbstständig zu überwachen. In Zukunft werden die bilateralen Ausbildungs- und Ausrüstungsmaßnahmen noch an Bedeutung gewinnen. Vor diesem Hintergrund soll das Mandat verlängert werden. Der Einsatz der Bundeswehr vor Ort ist eingebettet in das umfassende Engagement der Bundesregierung für den Libanon und die Region. Wir beraten die zuständigen libanesischen Behörden in Fragen der Grenzsicherheit und bei der Aus- und Fortbildung von Zollpersonal. Beim innerlibanesischen nationalen Dialog, der Antworten auf die militärischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen des Landes finden soll, tragen von der Bundesregierung finanzierte Berater zum Gelingen bei. Damit wir uns nicht missverstehen: Das ist kein Engagement und Verdienst der neuen Bundesregierung, sondern das ist Ausfluss der Kontinuität bisheriger Außenpolitik. Mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit und der zivilen Krisenprävention helfen wir, die Lebensbedingungen palästinensischer Flüchtlinge zu verbessern. Im Rahmen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit unterstützen wir die libanesische Regierung beim Wiederaufbau. Wir leisten darüber hinaus entsprechende Unterstützung bei Ausbildungs- und Ausrüstungsmaßnahmen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss: Diese Anstrengungen zur Stärkung der Souveränität und Stabilität des Libanon zeigen erste Erfolge. Die Parlamentswahlen am 7. Juni dieses Jahres und die Bildung einer neuen Regierung waren wichtige Schritte in die richtige Richtung. Es geht jetzt darum, dass alle Kräfte im Libanon den eingeschlagenen Weg des Dialogs verantwortungsvoll und mutig fortsetzen, um die großen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen das Land steht. Gemeinsam mit unseren Partnern werden wir den Libanon auf diesem Weg unterstützen, um einer regionalen Friedenslösung näherzukom448 men. Die deutsche Beteiligung an UNIFIL soll noch bis zum Sommer nächsten Jahres dazu beitragen. Ich denke, das ist Kontinuität, aber zugleich auch die Erkenntnis der entsprechenden Entwicklungen. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu dem Antrag der Bundesregierung. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion.

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Verteidigungsminister, Sie haben in den letzten Tagen und Wochen notwendige sicherheitspolitische Debatten angestoßen. Aber Sie waren manchmal, glaube ich, relativ voreilig oder sind über das Ziel hinausgeschossen. Ich möchte Sie zitieren, als Sie in Washington über die Auslandseinsätze gesprochen haben: „Was heute eine Ausnahmesituation ist, muss zur Selbstverständlichkeit werden.“ Herr Verteidigungsminister, ich sage Ihnen für die SPD-Fraktion: Auslandseinsätze sind für uns keine Selbstverständlichkeit. Sie stellen eine Ausnahme in Momenten dar, in denen die Sicherheit nicht anders hergestellt werden kann und Diplomatie und Prävention versagt haben. Das ist die Schlussfolgerung, die wir Sozialdemokraten in der Regierung in den letzten Jahren verantwortungsvoll mitgetragen haben. Das leitet sich auch aus der Charta der Vereinten Nationen ab. ({0}) Ich halte Ihre Auffassung für fatal. Die Außenpolitik Deutschlands wird nicht dadurch normaler, dass man sich auf das Militärische bezieht, im Gegenteil. Ich glaube, die Schlussfolgerungen aus der historischen Verantwortung Deutschlands müssen andere sein. Ein Verteidigungsminister, der sagt, dass es sich bei Auslandseinsätzen nicht um eine Ausnahmesituation, sondern um eine Selbstverständlichkeit handele, muss natürlich sicherstellen, dass die Bundeswehr für alle Auslandseinsätze ausreichend gerüstet ist und insbesondere für eine entsprechende psychologische Begleitung der Soldatinnen und Soldaten, die wir in Auslandseinsätze schicken, sorgen. Ich sage Ihnen als Abgeordneter - ich glaube, ich spreche hier für das gesamte Haus -: Auslandseinsätze sind eine Gewissensentscheidung. Sie können für den einzelnen Abgeordneten nicht zu einer Selbstverständlichkeit werden. Das wird nach meinem Dafürhalten zumindest für meine Fraktion auch in Zukunft so sein. ({1}) Bei der damaligen Abstimmung über den UNIFILEinsatz haben wir uns gefragt: Können wir diesen Einsatz verantworten? Meine Fraktion ist damals mehrheitlich zu der Schlussfolgerung gekommen - im Gegensatz zum Kollegen Westerwelle, der Oppositionsführer war -, UNIFIL zu unterstützen, weil es sich hier um verantwortungsvolle Politik im Nahen Osten handelt. Die SPD-Bundestagsfraktion steht mehrheitlich weiterhin zu diesem Einsatz. Herr Kollege Westerwelle, Sie waren damals gegen diesen Einsatz. ({2}) Ich kann mich noch gut an die Debatte von vor drei Jahren erinnern. Ich glaube, es war Ihrem innenpolitischen Tunnelblick gegenüber der damaligen Regierung geschuldet, dass Sie gesagt haben: Wir schicken im Rahmen dieses Mandates keine deutschen Soldaten. - Ich habe das damals für falsch gehalten. Jetzt stehlen Sie sich aus der Verantwortung, die Sie übernommen haben, ({3}) indem Sie plötzlich sagen. Ja, wir machen das, und zwar bis zum 30. Juni 2010. - Aber das ist ein willkürlicher Termin; denn erst im September nächsten Jahres wird der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wieder über die Verlängerung entscheiden. Was Sie machen, weicht von der bewährten Praxis aller Vorgängerregierungen ab. Das ist keine Kontinuität. Sie stehlen sich aufgrund Ihrer früheren Haltung, die jetzt nur noch mit Ihrer damaligen innenpolitischen Blickrichtung nachvollziehbar ist, aus der Verantwortung. Ich zumindest glaube, Sie drücken sich um eine klare Entscheidung. Sie überantworten dem Bundestag nur die Zustimmung zu einem halben Mandat. Das wird der Aufgabe der Bundesregierung und der Aufgabe eines Außenministers, der in der Kontinuität stehen will, nicht gerecht. ({4}) Ich kann mich auch an die Debatte erinnern, als die Bundeskanzlerin hier vor drei Jahren erklärt hat, dass sich die Bundesregierung an UNIFIL beteiligen wolle, weil es dabei um die Sicherheit Israels gehe. Alleine mit der Begründung, UNIFIL diene der Sicherung israelischer Interessen im Nahen Osten, hat sich damals die Bundeskanzlerin bereit erklärt, an UNIFIL teilzunehmen. Ich frage die Bundesregierung: Erlischt diese Verpflichtung am 30. Juni 2010? Warum erlischt sie nicht am 2. Juli 2010? Können wir dieses Datum wirklich so setzen, wie Sie das gemacht haben? Ich glaube, dabei ist Willkür im Spiel. Mich interessiert, ob Sie vor wenigen Tagen mit den israelischen Kolleginnen und Kollegen möglicherweise über diese Frage gesprochen haben. Wir zumindest hören aus Israel, dass es dort Fragen und Verunsicherung gibt, und zwar zu Recht. Israel hat erkannt, dass das UNIFIL-Mandat ein gutes Mandat gewesen ist, dass es Israel in dieser Situation geholfen hat, den brüchigen Waffenstillstand zwischen dem Libanon und Israel zu sichern. Auch gegenüber dem Libanon war das ein ganz wichtiges Mandat gewesen. Sie übergehen das und werden insbesondere der Verpflichtung, die die Bundeskanzlerin noch vor kurzem im US-amerikanischen KonDr. Rolf Mützenich gress ausgesprochen hat, mit dem hier vorgelegten Antrag nicht gerecht. ({5}) Herr Außenminister, Sie sind mit den Worten angetreten: Ich arbeite im Sinne der europäischen Partner. Wir haben das immer unterstützt; das habe ich hier auch vor 14 Tagen erklärt. Aber was sagen Sie denn eigentlich in Italien, Spanien, Frankreich und Belgien? Haben Sie gesagt, dass unser Einsatz am 30. Juni 2010 endet? Haben Sie in Paris erklärt, dass dann die Franzosen mehr Soldaten schicken müssen? Diese entscheidenden Fragen müssen Sie im Zusammenhang mit einer glaubwürdigen Außenpolitik gegenüber den europäischen Partnern klären. Das haben Sie heute nach meinem Dafürhalten nicht getan. Ich will Ihnen eines sagen: Für uns - deswegen habe ich das an den Anfang gestellt - müssen Auslandseinsätze immer in eine politische Strategie eingebettet sein. Wir haben damals dem UNIFIL-Mandat zugestimmt, weil wir es als Chance gegenüber dem Staate Libanon gesehen haben, ihm Integrität und Souveränität zu signalisieren. Israel hat die Seeblockade aufgehoben. Es hat damals ganz wichtige Entwicklungen gegeben, zum Beispiel als der damalige Außenminister Steinmeier die Tür nach Syrien etwas weiter aufgestoßen hat. Das hat geholfen, dass es Botschafteraustausche zwischen dem Libanon und Syrien gegeben hat. Ich finde, das sind hervorragende Fortschritte, die wir jetzt nicht einfach aufs Spiel setzen dürfen, insbesondere wenn es um UNIFIL geht. ({6}) Ich erinnere an Folgendes: Auch die arabischen Staaten und Regierungen haben erkannt, dass Syrien ein ganz wichtiger Partner ist. Der saudi-arabische König hat alles daran gesetzt, mit dem syrischen Präsidenten Assad zu einem zumindest pfleglicheren Umgang zu kommen, als das in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Gerade gegenüber dem Libanon wäre es wichtig, dass sich Deutschland klar für ein Mandat ausspricht, um diese Politik im Nahen Osten zu unterstützen. Ich habe gesagt: Insbesondere Israel wird eine Menge Fragen stellen, wenn ihm klar wird, dass dieses Mandat für uns am 30. Juni 2010 endet. Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Die Bundesregierung hat mit diesem Antrag schlecht gearbeitet. Ihr Antrag wird den außenpolitischen Herausforderungen nur unvollkommen gerecht. Sie ziehen auch nicht die richtigen Schlussfolgerungen. In Ihrem eigenen Antrag steht, dass UNIFIL bisher „ein wesentlicher Stabilisierungsfaktor“ für das gesamte Umfeld, aber gerade auch für den Libanon gewesen ist. Deswegen wäre es besser gewesen, Sie hätten gesagt: Wir müssen das UNIFILMandat weiter wahrnehmen, auch aus Respekt gegenüber dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Zudem hätten Sie deutlich sagen müssen: Wir unterstützen die libanesische Regierung. Das ist eine neue Regierung. Es ist ein Wagnis, das in diesem Land eingegangen worden ist. Ich glaube, wir sind das dem Libanon schuldig, der damals ein Failing State gewesen ist. Die Libanesen versuchen, sich wieder aus diesem Sumpf zu befreien und alles zu offerieren, dass Deutschland in dieser sehr schwierigen Situation hilft. Deswegen wäre ein klares und deutlicheres Signal besser als eine willkürliche Befristung gewesen. Zum anderen - das ist meine Bitte an Sie -: Wenn Sie in der Kontinuität der deutschen Außenpolitik aller Vorgängerregierungen stehen, dann kümmern Sie sich stärker um Syrien! Versuchen Sie, Syrien stärker am Friedensprozess im Nahen Osten zu beteiligen, Syrien stärker zu integrieren. Da muss man sich vielleicht gegen die Kanzlerin durchsetzen. Das hat der frühere Außenminister Frank-Walter Steinmeier getan. Ich glaube, es wäre gut, insbesondere die türkische Regierung in dieser schwierigen Situation, in der sie sich sowohl gegenüber Israel als auch gegenüber dem Iran und dem gesamten Umfeld befindet, durch wichtige Beiträge zu unterstützen. UNIFIL wäre das richtige außenpolitische Instrument gewesen. ({7}) Deshalb: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen zum Mandat für UNIFIL. Der Sicherheitsrat hat einen klaren Beschluss gefasst. Ich bitte Sie, Ihren Antrag nachzubessern. Versuchen Sie das in den Beratungen im Auswärtigen Ausschuss und im Verteidigungsausschuss. Ich sehe konstruktiven Gesprächen mit meiner Fraktion entgegen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als Nächstem erteile ich das Wort Bundesminister Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg.

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Kollege Mützenich, das war ein in vielerlei Hinsicht interessanter Beitrag, um es einmal so auszudrücken, ({0}) aber ein nicht immer nur schlüssiger. Ich will auf die Punkte eingehen, die Sie bezüglich meiner Person angesprochen haben und die die Auslandseinsätze anbelangen. Armee im Einsatz: Ich glaube, es ist unbestritten, dass es sich um eine Armee im Einsatz handelt. ({1}) Ich selbst gehe sehr vorsichtig mit den Begriffen „Ausnahmesituation“ und „Selbstverständlichkeit“ um. Selbstverständlichkeit hat sich immer am Maßstab der hohen, ja, der höchsten Verantwortung auszurichten, die wir gerade in diesem Zusammenhang tragen. Ich warne nur davor, dass es zur Selbstverständlichkeit wird, dass man verdruckst damit umgeht, dass wir eine Armee im Auslandseinsatz seit Mitte der 90er-Jahre haben. ({2}) Man sollte deutlich machen, dass sich in vielerlei Hinsicht einiges in den letzten Jahren verändert hat. Ich lege diesen Maßstab der Verantwortung an. Keiner macht es sich leicht. Ich habe das heute Morgen anlässlich der Debatte über die Verlängerung des ISAF-Mandats schon einmal gesagt. Keiner macht es sich mit seiner Entscheidung leicht, weder die Bundesregierung noch irgendeiner hier in diesem Hohen Hause. Vor diesem Hintergrund kann man den Ansatz der Gewissensentscheidung sofort unterschreiben; aber in diesem Sinne bitte ich das verstanden zu wissen. Das heißt in diesem Zusammenhang, natürlich eine optimale Ausrüstung zur Verfügung zu stellen. Die psychologische Begleitung und Betreuung ist ein großes Thema, ein diffiziles Thema. Auch das ist etwas, was uns in besonderer Weise trifft. Ich hoffe hier auf die entsprechende Unterstützung der Opposition, weil im Zusammenhang mit der Ausrüstung sofort wieder andere Debatten losgehen und man sich bequem in die eine oder andere Richtung schlagen könnte. Sie haben den Vorwurf der Willkür, was den Zeitraum dieses Mandats anbelangt, erhoben. Ich bitte Sie, zwei Dinge in Betracht zu ziehen. Der eine Punkt ist, dass wir im Frühjahr eine Evaluierung seitens der Vereinten Nationen haben werden. Es ist absehbar, dass diese Evaluierung in eine Neubetrachtung dieses Mandats einfließen könnte. Deswegen ist es verantwortlich und verantwortbar und auch dringend geboten gewesen, das Mandat nicht vor der Evaluierung enden zu lassen - das wäre in seiner Weisheit überschaubar gewesen -, aber eine entsprechende zeitliche Nähe zu suchen. Zum Zweiten: Verantwortung. Wir haben über 21 Monate selbst Führungsverantwortung bei UNIFIL getragen. Dieser Verantwortung sind wir in dieser Zeit erstklassig gerecht geworden. Jetzt übergeben wir zum 1. Dezember die Verantwortung an Italien. Auch daran ließe sich ein entsprechender Zeitraum bemessen. Aber ich will damit kein apodiktisches Signal gesetzt sehen. Dieses Signal hat sich vielmehr - Guido Westerwelle hat es angesprochen - an der Verantwortung gegenüber Israel, gegenüber Libanon zu orientieren; aber es hat sich auch im Rahmen des Verständnisses der Vereinten Nationen zu bewegen. Ich glaube, vor diesem Hintergrund kann man das durchaus vertreten. Wir beteiligen uns mittlerweile seit dem 8. Oktober 2006 am UNIFIL-Flottenverband und haben, wie ich bereits angesprochen habe, diese Führungsverantwortung gut, ja - ich sage noch einmal - erstklassig wahrgenommen. Ich begrüße die Soldatinnen und Soldaten, die heute hier sind. Ich darf mich in dieser Hinsicht auch an dieser Stelle noch einmal für den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten vor Ort bedanken. ({3}) Es ist richtig und kann gar nicht laut genug wiederholt werden, dass Deutschland ein strategisches Interesse an einem dauerhaften Frieden im Nahen Osten hat, mit all den komplexen Zusammenhängen, die dort gegeben sind. Wir wissen alle, dass Lösungen nicht aus dem Ärmel zu schütteln sind, sondern dass wir die Zusammenhänge, die Vielschichtigkeit in besonderer Weise zu begreifen haben, dass die Sicherheit des Staates Israel von besonderer Bedeutung ist; Herr Westerwelle hat das benannt. Ebenso wichtig ist für uns ein lebensfähiger palästinensischer Staat. Beides ist maßgeblich dafür, dass eine regionale Friedenslösung gefunden werden kann. Zur Befähigung der libanesischen Streitkräfte zur eigenständigen Wahrnehmung ihrer Aufgaben ist in diesem Zusammenhang von zentraler Bedeutung, dass wir diesen Kontext bei der Ausgestaltung des Mandats berücksichtigen. Wir wollen dabei helfen, das Ziel Befähigung zu realisieren. Der UNIFIL-Flottenverband hat seit seiner Aufstellung in sehr enger Kooperation mit der libanesischen Marine den Waffenschmuggel auf dem Seeweg verhindert. Immer wieder heißt es: Ihr habt ja nichts gefunden. Aber auch der Umstand, dass man einmal keine Waffen findet, kann durchaus Ausdruck einer erfolgreichen Mission sein. Ich glaube, das Ganze kann wirklich in diesem Sinne dargestellt werden. Bisher wurden mehr als 30 000 Abfragen auf See getätigt - auch ich habe erst in den letzten Tagen lernen dürfen, wie viele Abfragen es bislang tatsächlich waren -, und mehr als 390 Schiffe wurden durch die libanesischen Behörden weitergehend kontrolliert. An dem etwa 1 000 Soldatinnen und Soldaten starken UNIFIL-Flottenverband beteiligen sich neben Deutschland derzeit Italien - zum 1. Dezember in der Verantwortung -, Griechenland und die Türkei. Insgesamt leisten etwa 12 400 Soldatinnen und Soldaten auf See und an Land Dienst bei UNIFIL. Das deutsche Engagement bei UNIFIL vor der Küste Libanons ist erfolgreich. Ich sage noch einmal: Wir tragen wirksam dazu bei, dem Waffenschmuggel über See keine Chance zu geben. Ich glaube, wir werden uns weiterhin darüber unterhalten müssen, ob es andere Umgehungswege dieses Waffenschmuggels gibt und wie diesem Waffenschmuggel generell entgegengetreten werden kann. Es ist nicht so, dass sich dieses Problem in der Region in irgendeiner Weise erschöpft hätte, im Gegenteil. Wir helfen dem Libanon bei der Ausübung seiner Souveränitätsrechte vor seiner Küste, und wir befähigen die libanesische Marine, diese Aufgabe über kurz oder lang selbst wahrzunehmen. Auch das ist ein Punkt, der mehr und mehr ins Zentrum rückt; schließlich sprechen wir darüber, wie selbstverständlich das Konzept einer Einsatzarmee oder einer Armee im Einsatz ist. Ich glaube, der Grundgedanke, dass unsere Einsätze zur Befähigung von Armeen, die uns verbunden sind, beitragen - sei es in Afghanistan, sei es im Libanon, sei es an anderen Orten dieser Erde; wir werden darüber möglicherweise in anderen Diskussionen sprechen -, ist durchaus ein positiver Ausfluss dieses Einsatzes. Ich glaube, dass diese Arbeit und diese Ausbildungsleistungen gerade unserer Armee im Ausland in diesem Zusammenhang zu Recht geschätzt werden. ({4}) Ich darf noch einen Hinweis geben: Gespräche der letzten Tage mit Vertretern Israels und auch Libanons haben gezeigt, wie sehr man unseren Einsatz wertschätzt. Sie haben auch gezeigt - hier habe ich eine andere Perzeption als Sie, Herr Kollege Mützenich -, dass man gerade jetzt nicht verunsichert ist, sondern dass man eine klare Ansage bekommen hat. Ich glaube, das war auf der Reise ebenso der Fall. Wir müssen aufpassen, dass wir durch Debatten wie diese nicht zur Verunsicherung beitragen. Das wäre ein Fehler. Wenn dadurch letztlich Verunsicherung geschaffen würde, wäre damit gar nichts gewonnen. ({5}) Ich halte es für richtig, dass - auch um trotzdem das Signal eines erfolgreichen Prozesses zu zeigen - die Obergrenze von 1 200 auf 800 abgesenkt wird. Damit kann man deutlich machen, dass an der einen oder anderen Stelle gerade der Grundauftrag erfolgreich erfüllt wurde. Ich werbe deshalb auch bei Ihnen um die Mandatierung des Kräftedispositivs, das wir jetzt vorstellen, bis zum 30. Juni 2010. Die Grundlage ist dem Waffenschmuggel noch nicht entzogen, und das Verhältnis zwischen Israel und Libanon - das wurde richtigerweise angesprochen - ist natürlich noch verbesserungsfähig. Wir würden uns einer Illusion hingeben, wenn wir uns über alle Maßen freuten, wie die Dinge jetzt sind. Es gibt in diesem Sinne noch keinen Grund, das Engagement apodiktisch zur Disposition zu stellen, sondern es ist weiterhin auch in der Kontinuität zu sehen. Ich selbst bin gespannt, wie die Betrachtung der Vereinten Nationen, die im Frühjahr vorgelegt wird, ausfällt. Ich darf Sie aber jetzt um ein klares Votum in dieser Sache bitten. Unsere Soldatinnen und Soldaten, aber auch alle zivilen Helferinnen und Helfer, die daran beteiligt sind, haben ein solches Votum verdient. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, dass Sie alle gespannt darauf warten, ob sich auf der Regierungsbank noch Bewegungen vollziehen, also ob der Ex-Verteidigungsminister hier noch erscheint oder nicht. Das ist aber nicht so spannend: Wenn er nicht kommt, dann weiß man, er ist weg. Wenn er kommt, signalisiert er, er wird um sein Amt kämpfen. ({0}) Da hat er ganz schlechte Karten. Ich hörte, dass es mittlerweile schon mehrere Strafanzeigen gegen ihn gibt. ({1}) - Seien Sie nicht so aufgeregt! Wir werden sehen, wie die Sache ausgeht. Jetzt zu UNIFIL selber. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, Herr Außenminister: Was hat sich eigentlich in letzter Zeit geändert, seitdem die FDP zweimal im Bundestag gegen das UNIFIL-Mandat gestimmt hat? Es muss sich substanziell etwas geändert haben, dass man zu einer geänderten Auffassung kommt. Das einzige Argument, das Sie hier vorgetragen haben, ist, dass Sie mittlerweile in der Regierung sitzen. An der Substanz hat sich sonst überhaupt nichts geändert. Das allerdings signalisiert, dass man seine politischen Entscheidungen danach ausrichtet, welche Ämter man einnimmt. Das finde ich allerdings zu wenig. ({2}) Ich wünsche mir sehr, dass es meiner Fraktion nicht so geht. Sie wissen ja, dass ich da selber sehr kritisch bin. Ich finde die ganze Art und Weise des Vorgehens nach dem Motto: „Kleider machen Leute - Ämter bestimmen die Politik“ letztendlich nicht überzeugend. Der Kollege Mützenich hat gesagt, es handle sich nur um ein halbes Mandat, das hier erteilt würde. Ich finde, auch ein halbes Mandat für eine falsche Politik ist ein halbes Mandat zu viel. Deswegen möchte ich dem nicht zustimmen. ({3}) Ich möchte Ihnen nun die Argumente vortragen, die uns bewegt haben, bislang nicht zuzustimmen. Aus meiner Sicht sind diese Argumente stimmig. Ich sage Ihnen zugleich: Ich bin froh, dass es nicht zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit der UNIFIL-Truppe bzw. den daran beteiligten deutschen Soldaten gekommen ist. Das haben ja viele befürchtet. Ich bin dankbar, dass das nicht der Fall war. Ich bin auch dankbar dafür, dass die deutschen Soldaten keine Waffen auf irgendwelchen Schiffen beschlagnahmen mussten. Das kann man dazu doch einmal erklären. Jetzt zur Sache selber: Der UNIFIL-Einsatz war notwendig, um einen Waffenstillstand im Krieg zwischen Libanon und Israel zu erreichen. ({4}) Das hat nie jemand bestritten. Wir haben ihn immer als notwendig bezeichnet. Aus dieser Notwendigkeit resultiert aber nicht, dass sich Deutschland unbedingt mit Soldaten an diesem Einsatz beteiligen muss. Es kann auch Entscheidungen der Vereinten Nationen geben, die sinnvoll sind, aber es eben nicht erfordern, dass deutsche Soldaten mithelfen, sie durchzusetzen. Wir haben uns die Frage gestellt, ob es nicht sinnvoll wäre, vor allen Dingen neutrale Staaten damit zu beauftragen. Deutschland war nicht neutral - das hat die Bundeskanzlerin zigfach in den Auseinandersetzungen erklärt - und konnte nicht neutral sein. Deswegen war es nicht sinnvoll, dass Deutschland diesen Auftrag übernommen hat. Wir haben uns die Frage gestellt, ob es einen Sinn macht, dass deutsche Soldaten im Rahmen des UNIFILEinsatzes erstmalig im Nahen Osten tätig werden. Wir waren der Auffassung: Deutsche Soldaten sollen nicht im Nahen Osten agieren, weil, wie Sie genau wissen, in der Perspektive möglicherweise an anderen Stellen die Frage nach deutschen Soldaten erneut und verstärkt kommt. Ich möchte nicht, dass deutsche Soldaten in eine solche Situation gebracht werden. Wir haben uns die Frage gestellt, ob die Bundesregierung denn eigentlich alles getan hat, eine aktive Nahostpolitik zu entwickeln. Das Ergebnis war, dass die Bundesregierung wenig getan hat, um in der Nahostpolitik etwas zu bewegen. Ich habe den damaligen Außenminister in seinem Bemühen in Bezug auf Syrien immer unterstützt. Von der jetzigen Bundesregierung höre ich nichts. Sie treffen sich ja am Montag nächster Woche zu Regierungsgesprächen mit Israel in Berlin. Ich bin gespannt, ob Sie Israel mitteilen werden, dass Sie die aktive Politik mit Syrien aufrechterhalten wollen. Bislang hört man dazu von Ihnen nichts. Ich habe sehr wohl vernommen, dass man sich, auch der Herr Außenminister, skeptisch äußert, was die Frage der Siedlungspolitik angeht. Aber mittlerweile befinden sich 500 000 Siedlerinnen und Siedler in der Westbank, dem besetzten Gebiet, und 180 000 im Umfeld von Ostjerusalem. Deshalb muss klar sein: Wenn die Siedlungspolitik nicht gestoppt wird, wird es keine Friedensgespräche mehr geben. Das muss man, auch im Interesse Israels, den israelischen Partnerinnen und Partnern in aller Deutlichkeit vor Augen führen. ({5}) Sie wissen, Herr Außenminister - auch dazu werden Sie hier Stellung nehmen müssen -, dass die palästinensische Autonomiebehörde mitgeteilt hat, dass sie über eine einseitige Ausrufung der Gründung des Staates Palästina nachdenkt. Ich kann das verstehen; denn dadurch entsteht ein Rechtssubjekt. Ich möchte wissen, was die deutsche Bundesregierung in diesem Fall macht. Ohne eine aktive Nahostpolitik bewegt sich das Mandat auf dünnem Eis. Deswegen werden wir der Verlängerung des Mandates, auch wenn es nur befristet ist und die Zahl der Soldaten reduziert wird, diesmal wiederum nicht zustimmen. Schönen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich mich an meinen Vorredner wenden. Herr Gehrcke, auch ich bin froh, dass es zu keiner Handlung kommen musste, durch die eine größere Gefahr für deutsche Soldatinnen und Soldaten entstanden wäre. Ebenso bin ich froh, dass wir, schon aufgrund der Tatsache, dass deutsche Soldaten dort keine Waffen aufspüren konnten, wahrscheinlich richtigerweise den Schluss ziehen können, dass weniger Waffen geschmuggelt werden. Auch wenn es entsprechende Vorfälle gibt, glaube ich, dass schon allein durch die Präsenz der Soldaten der Schmuggel reduziert worden ist. Auch die vielfachen Kontrollen auf den Schiffen, die erbracht haben, dass dort keine Waffen waren, legen den Schluss nahe, dass der Schmuggel insgesamt zurückgegangen ist. Insofern ist der Einsatz auch der deutschen Soldaten ein großer Erfolg. Ich habe nicht ganz verstanden, wie Sie es geschafft haben, in Ihrem Beitrag all das, was Sie in der Nahostpolitik im Allgemeinen beschwert, einzubringen. Es wäre besser gewesen, Sie hätten sich mit UNIFIL auseinandergesetzt - Sie sagen ja, dass Sie grundsätzlich kein Problem mit UNIFIL haben, dass Sie das Mandat angeblich allzeit begrüßt hätten -, statt hier in eine allgemeine Kritik an der Bundesregierung zu verfallen, bei der Sie die Gespräche außer Acht lassen, die der Bundesaußenminister in dieser Woche in Israel geführt hat. Ich glaube, bei dieser Reise ist die Position der Bundesregierung gegenüber Israel sehr klar geworden. Israel ist einer unserer engsten Freunde. Kritik ist deshalb nicht verboten. Herr Bundesaußenminister, ich möchte, auch im Namen meiner Fraktion, die Gelegenheit nutzen, Ihnen für diese Reise, diesen schwierigen Besuch in Israel, zu danken. Man kann die Reise durchaus als Erfolg bezeichnen. Sie war ein guter Start in Ihrem neuen Amt. Deshalb herzlichen Dank von unserer Fraktion! ({0}) Die Gründe, die zu diesem Mandat geführt haben, bestehen weiterhin. Denn obwohl sich die innen- und außenpolitische Situation im Libanon seit der letzten Verlängerung des UNIFIL-Mandates durch den Bundestag im September 2008 grundsätzlich verbessert hat, bleibt die Lage instabil. Das wird zum Beispiel auch daran deutlich, dass die Leitung des Hauptquartiers der UNIFIL-Mission zu Protokoll gibt, dass die Situation im Südlibanon nach wie vor sehr besorgniserregend ist. Man kann klar erkennen, wie groß die Akzeptanz des Einsatzes auf beiden Seiten ist. In den Gesprächen mit unseren israelischen Freunden wird immer wieder an uns herangetragen, wie wichtig der deutsche Beitrag und der Einsatz insgesamt sind. Auch libanesische Besucherinnen und Besucher in Deutschland machen deutlich, dass sie sehr großen Wert darauf legen, dass wir diesen Beitrag leisten, und dass der UNIFIL-Einsatz insgesamt nach wie vor notwendig und unverzichtbar ist. Ich glaube, dass dies in dieser Debatte bisher sehr deutlich geworden ist. Vordringliche Aufgabe dieser Mission bleibt es, die weitere Aufrüstung islamistischer und israelfeindlicher Terrorgruppen zu verhindern und - das ist in der innenpolitischen Situation, in der sich der Libanon befindet, ebenfalls wichtig - den libanesischen Staat beim Aufbau eigener Sicherheitsstrukturen zu unterstützen, was angesichts der Tatsache, dass auch die Hisbollah in der Regierung ist, von Grund auf keine einfache, sondern eher eine schwierige Aufgabe ist. Eine erneute Aufrüstung dieser Terrorgruppen wäre für die gesamte Stabilität im Nahen Osten fatal und würde das Erreichte gefährden. Deshalb ist die Fortführung der UNIFIL-Mission so wichtig. Ich werbe hier daher für eine breite Zustimmung zu diesem Einsatz, der nach wie vor notwendig ist. Die Hisbollah - ich sprach sie gerade an - stellt heute 14 von 128 Abgeordneten im libanesischen Parlament und bekleidet zwei Ministerposten in der aktuellen libanesischen Regierung. Deshalb ist es ein besonderes Signal, wenn wir denjenigen Kräften im Libanon unsere Hilfe zusagen, die sie nach wie vor für notwendig halten. Dabei kommt der Evaluierung dieses Einsatzes mit Blick auf die innenpolitische Situation im Libanon besondere Bedeutung zu. Auch wenn die Lage gefährlich und instabil bleibt, gibt es doch Fortschritte. Die Konfliktparteien akzeptieren die Waffenstillstandsresolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen weiterhin als Grundlage, um eine erneute Eskalation zu unterbinden. Dieser stabile Waffenstillstand an der Grenze zwischen Israel und Libanon bleibt eine wichtige Voraussetzung für die Lösung des Konflikts zwischen Israel und dem Libanon. Er ist auch eine Grundvoraussetzung für weitere Friedensgespräche zwischen Israel und seinen palästinensischen Nachbarn. UNIFIL hat mit deutscher Beteiligung die ihr zugewiesenen Aufgaben erfolgreich erfüllt. Der Herr Bundesverteidigungsminister hat sich bei den Soldatinnen und Soldaten angesichts der heiklen Umstände beim Zustandekommen dieses Einsatzes zu Recht bedankt. Ich glaube, dass wir unter Beachtung der Frage, ob dieser Einsatz überhaupt erwünscht ist, die richtige Entscheidung getroffen haben. Die Soldatinnen und Soldaten werden ihrer großen Verantwortung mit Blick auf die deutsche Geschichte in vollem Umfang gerecht und tragen damit zu einer Akzeptanz Deutschlands in der gesamten Region, also sowohl in Israel als auch im Libanon, enorm bei. Der UNIFIL-Flottenverband hat in enger Kooperation mit der libanesischen Marine den Waffenschmuggel auf dem Seeweg wirksam verhindert. Dieser Aspekt ist besonders wichtig, wenn wir darüber diskutieren wollen, was der Begriff „vernetzte Sicherheit“ überhaupt bedeutet. Ich glaube, dass der UNIFIL-Beitrag, den Deutschland an dieser Stelle leistet, deutlich macht, was vernetzte Sicherheit bedeuten kann. Es ist wichtig, das Zusammenwirken verschiedener Bereiche deutlich herauszustellen. Dazu gehören Zollaufgaben, klassische militärische Aufgaben und Grenzüberwachungsaufgaben. In diesen Bereichen ist vernetzte Sicherheit tatsächlich umsetzbar und auch operativ durchführbar. Allein dieser Erkenntnisgewinn zeigt, dass wir uns in der praktischen und in der operativen Ausrichtung der Bundeswehr auf dem richtigen Weg befinden und dass dieser Einsatz Modell für andere Einsätze in der Zukunft sein kann. Vernetzte Sicherheit bedeutet aus unserer Sicht eben nicht nur, die militärische Komponente zu sehen, sondern auch, andere Bereiche mit einzubeziehen. Deshalb halte ich es für richtig, ganz genau hinzuschauen, wie sich dieser Einsatz entwickelt, zu evaluieren, ob er auch im neuen Mandatszeitraum erfolgreich ist, sich zu fragen, wie man ihn erfolgreicher gestalten kann, und daraus die Konsequenzen für weitere Schritte abzuleiten. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kerstin Müller, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige Vorredner haben es dargestellt: Die Stationierung der UNIFIL-Mission 2006 hat den Krieg zwischen Libanon und Israel beendet. Der Einsatz der deutschen Bundeswehr auf der Seeseite war die Voraussetzung dafür, dass die Seeblockade gegen Libanon aufgehoben wurde und dass es dort vorangeht. Bis heute, Herr Kollege Gehrcke, stellt UNIFIL einen außerordentlich wichtigen Beitrag dazu dar, dass dieser Waffenstillstand noch immer hält, ({0}) und zwar sowohl nach Aussagen der Konfliktparteien der Israelis, der libanesischen Regierung und im Übrigen auch der Hisbollah - als auch nach Aussagen der UNO. Sogar der äußerst schwierige politische Prozess ist etwas vorangekommen. Das heißt, Herr Gehrcke, ich kann wirklich nicht nachvollziehen, dass man, obwohl man all diese Argumente teilt, sagt: Wir lehnen die Beteiligung an diesem Einsatz ab. - Das ist nicht konsequent. ({1}) UNIFIL und der deutsche Beitrag dazu sind ein zwar nicht hinreichender - das ist klar -, aber ein notwendiger, verantwortbarer und erfolgreicher Beitrag zur Stärkung des Friedensprozesses im Libanon und in der Region. Meine Fraktion ist also mehrheitlich der Meinung, dass er deshalb fortgesetzt werden sollte. ({2}) Umso mehr erstaunt es mich, meine Damen und Herren von der Koalition - Herr Mißfelder, Herr Guttenberg, Sie haben dazu nichts gesagt -, dass nicht nur die Zahl der maximal einzusetzenden Soldatinnen und Soldaten reduziert wird - das kann ja durchaus verantwortbar sein, wenn das die Einsatzfähigkeit vor Ort nicht einschränkt -, sondern das Mandat auch bis Juni 2010 zeitlich begrenzt wird. Dafür kann es generell sachliche Gründe geben; diesen verschließen wir uns als Grüne nicht. Ich kann aber aus der Lage vor Ort solche sachlichen Gründe nicht Kerstin Müller ({3}) erkennen, und ich habe sie auch in dieser Debatte nicht vernommen. Ich habe nach dieser Debatte und nach der einen oder anderen Ausschusssitzung den Eindruck - das will ich Ihnen ganz klar sagen -: Hier geht es darum, dass der neue Außenminister und die FDP irgendwie ihr Gesicht wahren wollen, weil sie in der Opposition gegen den Einsatz gestimmt haben. ({4}) Die FDP plant mit dieser Begrenzung den Einstieg in den Ausstieg - und das, obwohl der Einsatz erfolgreich und sinnvoll ist. Das, verehrter Außenminister Westerwelle, ist das Gegenteil von seriöser Außenpolitik. Das ist meines Erachtens nicht verantwortbar. ({5}) Ich habe mir die Debatten des Jahres 2006 und der Jahre danach noch einmal angesehen. Seinerzeit und in den Folgejahren haben Sie mit den Argumenten der besonderen Verantwortung gegenüber Israel und der fehlenden Neutralität Deutschlands gegenüber Israel eine Zustimmung zu UNIFIL verweigert. Sie haben den Einsatz abgelehnt. Ich will solche Bedenken keinesfalls abtun. Das Problem aber ist: Israel hat damals wie heute eine deutsche Beteiligung sogar ausdrücklich gewünscht. Die Bedenken, die Sie und andere in diesem Hause hatten, „dass es zu Konfrontationen kommen könnte, weil wir nicht neutral sind“, haben sich - Gott sei Dank, könnte man sagen - nicht bestätigt. Ich kann mir jedenfalls kaum vorstellen, dass Ihnen die Israelis anlässlich Ihrer jetzigen Reise etwas anderes gesagt haben, Herr Außenminister. Jedenfalls meine ich, Sie hätten auf diese Argumente eingehen müssen. Es ist wirklich sehr dünn, dass Sie einfach sagen: „Wir machen jetzt Kontinuität in der deutschen Außenpolitik“, dass Sie aber nichts zu diesen Argumenten sagen, die Gott sei Dank nicht Realität geworden sind. ({6}) Der ehemalige Außenminister Kinkel hatte seinerzeit bei der Mandatserteilung im September 2006 prophezeit: Würde die FDP den Außenminister stellen, könnten wir uns ein Nein nicht leisten. - So ist es. Sie sind in der Regierung, und die Welt sieht anders aus. Ich bin der Meinung: Sie werkeln hier an der falschen Baustelle herum; denn nicht der Umfang des UNIFILEinsatzes müsste heruntergefahren werden. Vielmehr müsste OEF beendet werden; ({7}) denn OEF ist kontraproduktiv. Das wäre eine sinnvolle Maßnahme gewesen. Eine Überprüfung des UNIFILEinsatzes bis Mitte 2010 reicht an dieser Stelle nicht aus. Meine Damen und Herren von der Union, Herr Verteidigungsminister, Sie können sicher sein: Wir werden sehr genau darauf achten, ob Sie ein solches Gehampel mit sich machen lassen und ob das Mandat, wie Frau Hoff im Ausschuss gesagt hat, Mitte nächsten Jahres beendet ist. Ich will ein weiteres wichtiges Argument für den Einsatz nennen. Er ist der einzige UN-geführte Einsatz, an dem sich Deutschland mit einem relevanten Beitrag beteiligt. Ausgerechnet diesen Beitrag ohne sachlichen Grund einzuschränken oder gar zu beenden, schwächt unsere Rolle bei der UNO enorm. Sie können sich Wünsche nach einer stärkeren Rolle Deutschlands bei den Vereinten Nationen, die Sie im Koalitionsvertrag formuliert haben, abschminken, wenn Sie eine solche Politik verfolgen. ({8}) Die UNO wird weiter Bedarf anmelden; denn die Lage im Libanon ist nach wie vor alles andere als stabil. Es kommt immer wieder zu Feindseligkeiten. Experten sagen: Die Hisbollah verfügt inzwischen über mehr Raketen als vor dem Krieg 2006. Das heißt, die Lage birgt nach wie vor das Potenzial zur Eskalation und zur Destabilisierung. Gerade deshalb, weil die Lage so ist, weil die Hisbollah in der Regierung der nationalen Einheit ist und ihrer eigenen Entwaffnung nicht zustimmen wird, ist es wichtig, dass UNIFIL und der deutsche Beitrag fortgesetzt werden und einen stabilisierenden Beitrag in dieser Region, in der es immer wieder zu Eskalationen kommen kann, leisten. Fest steht: Wenn wir uns durch einseitige, fahrlässige Ankündigungen zurückziehen, verspielen wir nicht nur unsere Rolle bei den Vereinten Nationen, sondern es besteht auch die Gefahr, dass Deutschlands Stimme im Nahen Osten insgesamt an Gewicht verliert. Das ist nicht im Interesse Israels, und das ist auch nicht im Interesse Deutschlands. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/40 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für ein umfassendes Bleiberecht - Drucksache 17/19 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({1}), Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes - Drucksache 17/34 ({2}) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke das Wort. ({4})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute wieder einmal über Menschen, die aus ihren Herkunftsländern geflohen sind und hier in Deutschland nur geduldet sind. Geduldet zu sein, bedeutet ständige Angst vor Abschiebung, bedeutet, den Wohnort nicht verlassen zu dürfen, keine Bewegungsfreiheit zu haben, also Residenzpflicht, bedeutet Arbeitsverbot und vor allen Dingen, von reduzierten Sozialleistungen leben zu müssen. Die Gesundheitsversorgung ist nur auf Notfälle reduziert. Weil die Duldung immer wieder neu verlängert werden musste, hat es seit Jahren in diesem Hause eine Debatte darüber gegeben - genauer gesagt mit dem Zuwanderungsgesetz von 2001, das von Grünen und SPD eingebracht wurde -, dass diese Kettenduldung endlich abgestellt werden muss. Was ist bis dahin passiert? Rein gar nichts. Stattdessen hat die Koalition eine Altfallregelung eingebracht. Diese wird von Pro Asyl, einer Flüchtlingsorganisation, als kleinmütige Teillösung bezeichnet. Wir können uns dieser Aussage nur anschließen; denn das ist für die Betroffenen wirklich nicht mehr zu ertragen. ({0}) 60 000 Menschen sollen ein Bleiberecht erhalten, versprach damals die SPD. Nur 8 000 Menschen haben ein Bleiberecht bekommen. 30 000 Menschen haben ein Aufenthaltsrecht auf Probe bekommen. Das muss man sich einmal vorstellen. Sie müssen bis zum Ende dieses Jahres ein Einkommen aufbringen, das über Hartz-IVNiveau liegt, sonst heißt es: Abschiebung. Es ist unseres Erachtens ein Skandal, dass die Regierung bis heute keinerlei Vorschläge vorgelegt hat, um bis Jahresende diese Abschiebungen zu verhindern. ({1}) Im Koalitionsvertrag steht - ich zitiere -: … sind wir uns einig, dass vor dem Hintergrund der momentanen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Handlungsbedarf … besteht. … Zeitgerecht wird eine angemessene Regelung gefunden werden. Herr Kollege Wolff von der FDP, Sie haben in den vergangenen Tagen immer wieder in den Medien verlauten lassen: Wir brauchen noch ein Jahr Zeit, um in Ruhe über eine vernünftige und tragfähige Lösung zu reden. Ich frage Sie: Warum schiebt es diese Regierung erneut der Innenministerkonferenz zu, eine Lösung zu finden? Auf der Innenministerkonferenz hat Innenminister Herrmann zum Beispiel gesagt: erst Arbeit, dann Daueraufenthalt; das muss das Prinzip sein. ({2}) Das ist fast so, als wenn man sagt: Wer keine Arbeit hat, soll auch nicht essen, Herr Grindel. Das ist die Mentalität, die aus diesen Positionen spricht. ({3}) Ich will hier noch einmal ganz deutlich sagen: Sie sind diejenigen, die diesen Menschen lange Zeit ein Arbeitsverbot auferlegt und ihnen durch die Residenzpflicht die Möglichkeit genommen haben, sich um Arbeit zu bemühen. Auch die Fachleute sagen: Aufgrund der Wirtschaftskrise haben diese Menschen die geringsten Chancen, einen Job zu finden. Und nun soll ausgerechnet die Innenministerkonferenz im Konsens eine Lösung finden. Ich sage hierzu nur: Dieses Spiel kennen wir seit langem und zur Genüge. Die Bundesregierung und die Innenminister schieben sich die Verantwortung gegenseitig zu. Wer genau hinschaut, sieht: Auch die Innenministerkonferenz hat bis heute überhaupt keine Lösung. Deswegen fordern wir die Koalition auf, sofort eine Lösung zu finden. Wir fordern das Bleiberecht für alle, die diesen seltsamen Status „Aufenthalt auf Probe“ haben. ({4}) Die Linksfraktion stellt in ihrem Antrag zunächst einmal fest - ich kann leider nur zwei Punkte nennen -, dass wir dieses Bleiberecht ganz dringend brauchen, und wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag auf, die Kettenduldung endlich zu beenden. Ich möchte hier noch einmal daran erinnern, dass Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Gewerkschaften vor der Sommerpause an die Politik appelliert haben, die Altfallregelung wenigstens zu verlängern. Die Regierung hat damals abgestritten, dass es einen Handlungsbedarf gibt. Ich lese besonders gerne aus der Stellungnahme des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes vom heutigen Tag vor, in der steht: Die Aufenthaltserlaubnis muss erteilt werden können, sobald die Ausreise unzumutbar ist. Es wäre einfach kaltherzig und inhuman, wenn Kinder, die hier aufgewachsen sind, ständig Angst vor Abschiebung haben müssen, nur weil ihre Eltern keine Arbeit finden. Dort steht weiter, die Menschen brauchten keine Duldung, sondern Rechtssicherheit. ({5}) Das sehen wir ganz genauso. Es ist nicht akzeptabel, - sagt der Paritätische Wohlfahrtsverband weiter wenn hunderttausend Menschen über Jahre hinweg als Mitmenschen „auf Abruf“ behandelt werden. Wir können uns dem nur anschließen und hoffen, dass die Bundesregierung endlich zu einer Lösung kommt. Ich danke. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Reinhard Grindel für die Fraktion der CDU/CSU.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will zunächst der Kritik an der bestehenden gesetzlichen Bleiberechtsregelung entgegentreten. Frau Jelpke, die Frage ist doch: Nach welchen Kriterien bewerte ich, ob eine Bleiberechtsregelung erfolgreich ist oder nicht? Die Linke führt dabei vor allem Zahlen ins Feld. Wenn es nur auf Zahlen ankäme, dann wäre die erfolgreichste Bleiberechtsregelung die, die aus nur einem Satz besteht: Alle Ausländer, die da sind, können bleiben. ({0}) Das wäre aber keine verantwortliche Zuwanderungspolitik. Das muss ich Ihnen vorhalten, da hier auch noch Beifall geklatscht wird. Tatsächlich verdient derjenige ein Bleiberecht, bei dem es aus nicht von ihm zu vertretenden Gründen zu einem so langjährigen Aufenthalt in Deutschland gekommen ist, dass eine Verwurzelung in unserem Land stattgefunden hat, die eine Rückführung in das ursprüngliche Heimatland aus humanitären Gesichtspunkten als nicht vertretbar erscheinen lässt. Wir unterhalten uns hier über einen Weg der legalen Zuwanderung. Die Personen, um die es geht - das muss man auch unseren Zuschauern deutlich machen -, sind eigentlich allesamt ausreisepflichtig und erhalten durch das Bleiberecht eine dauerhafte Aufenthaltsperspektive. Wir müssen also integrationspolitische Überlegungen in den Blick nehmen. Deshalb sind an das Bleiberecht aus wohlerwogenen Gründen eine Reihe von Bedingungen wie zum Beispiel das Beherrschen der deutschen Sprache oder ein regelmäßiger Schulbesuch geknüpft worden. Mit der Aufenthaltsgenehmigung auf Probe, die Sie hier völlig zu Unrecht diskreditiert haben, wollten wir Geduldeten vor allem die Arbeitsaufnahme erleichtern. Für diejenigen, die so gut integriert sind, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können, haben wir sogar die Möglichkeit zur Erteilung einer regulären Aufenthaltserlaubnis eröffnet. Um es klar zu sagen: Die Bleiberechtsregelung ist nicht nur, aber auch ein humanitärer Akt. Wir wollen Geduldeten, die sich gut integriert haben, helfen. Eines wollen wir aber auf jeden Fall: Wir wollen Zuwanderung in die Sozialsysteme nachhaltig verhindern. Auch das müssen wir bei der Bleiberechtsregelung in den Blick nehmen. ({1}) Vor diesem Hintergrund ist die jetzige Bleiberechtsregelung ein Erfolg. Über 10 300 Geduldete haben eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, weil sie in der Lage waren, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Weitere knapp 30 000 Personen besitzen eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe. Es ist interessant, sich die Statistiken der einzelnen Bundesländer anzuschauen. Dann stellt man fest, dass bei der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen kein Land so engherzig ist wie das Land Berlin, wo die Linke Regierungsverantwortung trägt: Hier hat es ganze 74 Aufenthaltserlaubnisse gegeben. In Bayern waren es knapp 1 000. Sie brauchen uns von der Union in der Frage des humanitären Bleiberechts keinen Nachhilfeunterricht zu erteilen. Dort, wo Sie Regierungsverantwortung tragen, sieht die Bilanz am schlechtesten aus. ({2}) Eine Verlängerung des Aufenthaltsrechts auf Probe um zwei Jahre ist bereits im Gesetz selber vorgesehen, sofern der Lebensunterhalt zumindest überwiegend aus eigener Erwerbstätigkeit bestritten worden ist. Das Bundesinnenministerium hat in einer Reihe von Bundesländern eine stichprobenartige Untersuchung durchgeführt. Danach ist zu erwarten, dass rund die Hälfte der Besitzer dieses Aufenthaltsrechts auf Probe mit einer Verlängerung rechnen kann. Zu den 10 000 Personen mit dauerhafter Aufenthaltserlaubnis kommen also 15 000 Personen hinzu, die keine oder nur geringe Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Insofern ist es nicht richtig, wenn der Paritätische Wohlfahrtsverband heute in einer Pressemitteilung den Eindruck erweckt - Frau Jelpke, Sie haben das angesprochen -, als ob fast alle gut 30 000 Besitzer dieser Aufenthaltserlaubnis auf Probe zum Jahresende ein Problem bekämen. Es ist sicher nicht zu bestreiten - das räumen wir ein -, dass manch gutwilliger Inhaber eines Aufenthaltsrechts auf Probe wegen der augenblicklich schwierigen wirtschaftlichen Lage keine Verlängerung erhalten wird, weil es ihm nicht gelungen ist, seinen Lebensunterhalt überwiegend aus eigener Erwerbstätigkeit zu bestreiten, sondern möglicherweise nur zu einem geringen Teil. ({3}) Deshalb stellen wir uns gemeinsam mit den Ländern die Frage: Wie gehen wir damit um? Die Grünen und die Linken schlagen vor, die Bleiberechtsregelung pauschal um mindestens ein Jahr zu verlängern. ({4}) Ich möchte das einmal deutlich machen, auch weil Sie hier Beifall klatschen: Sie wollen eine pauschale Regelung. Das heißt, Sie wollen denjenigen, der sich um Arbeit bemüht hat, der für kleines Geld gearbeitet hat, ({5}) der sich immer wieder beworben hat, genauso behandeln wie denjenigen, der überhaupt nichts getan hat, sondern nur von Sozialhilfe gelebt hat. Das halte ich nicht für richtig. Wir brauchen eine differenzierte Lösung für den Umgang mit den ausländischen Mitbürgern. ({6}) Welche Botschaft geht von Ihrem Vorschlag aus? Das Gesetz sieht vor, dass man sich um Arbeit bemühen muss. Viele Geduldete haben das getan, weil sie davon ausgegangen sind, dass man den Gesetzgeber ernst nehmen kann. Sie sagen dann aber: Wer nichts getan hat, der wird genauso behandelt. Das ist nicht in Ordnung. Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion eindeutig, dass wir keine gesetzliche Verlängerung der Bleiberechtsregelung wollen, sondern schon aus Zeitgründen eine Lösung durch Beschluss der Innenministerkonferenz vor Jahresende anstreben. Weil durch die Verlängerung der Bleiberechtsregelung zusätzliche Kosten auf Länder und Kommunen zukommen werden, macht es großen Sinn, die Länder daran zu beteiligen. Dabei ist uns völlig klar, dass eine Verlängerung des Aufenthaltsrechts auf Probe nur in Betracht kommen kann, wenn der geduldete Ausländer nachweist, dass er sich um die Sicherung seines Lebensunterhalts zumindest bemüht hat. In den Genuss einer Verlängerung müssen diejenigen kommen, die tatsächlich unter der schwierigen Wirtschaftslage leiden, nicht aber diejenigen, die ohnehin, unabhängig von der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, nichts tun, ob es Arbeit gibt oder nicht. Wir sind für eine differenzierte Lösung, wie sie von vielen Bundesländern und den dortigen Innenministern angestrebt wird. ({7}) Ich betone noch einmal: Eine Zuwanderung in die Sozialsysteme durch die Verlängerung der Bleiberechtsregelung darf es nicht geben. ({8}) Dementsprechend ist es auch falsch, dass die Grünen in ihrem Gesetzentwurf schreiben, eine pauschale Verlängerung verursache keine zusätzlichen Kosten. Natürlich würden Kommunen, die ansonsten einen Ausländer in sein Herkunftsland zurückführen könnten, mit zusätzlichen Hartz-IV-Leistungen belastet. ({9}) Das ist angesichts der schwierigen Lage der kommunalen Haushalte nicht unproblematisch. Bei dieser Gelegenheit möchte ich, weil Frau Jelpke das Thema Kettenduldungen angesprochen hat, darauf hinweisen, dass Ihre Bemerkung in die völlig falsche Richtung gegangen ist. Es war nie unser Wille, Duldungen generell abzuschaffen. ({10}) Selbstverständlich können diejenigen Ausländer kein Aufenthaltsrecht beanspruchen, die durch das eigene Handeln, nämlich durch das Vernichten von Ausweispapieren, durch die Täuschung über ihre Identität und Reisewege, selber dazu beigetragen haben, dass sich ihr Aufenthalt zum Teil über mehrere Jahre hingezogen hat, weil zum Beispiel keine Passersatzpapiere herbeigeschafft werden konnten. Wer selber dafür verantwortlich ist, dass die Behörden die Rückführung nicht möglich machen konnten, wer in der Zeit vielleicht sogar straffällig geworden ist, darf kein Aufenthaltsrecht bekommen und dessen Rückführung muss grundsätzlich möglich sein. Deshalb wollen wir für diese Fälle an der Duldung festhalten. ({11}) Unsere Beratungen sind im Übrigen ein Beleg dafür, dass Stichtagsregelungen immer dann unehrlich sind, wenn allen Beteiligten sowieso klar ist, dass man ein Problem nur verschiebt und der Stichtag letztendlich nicht so ernst genommen wird. Ich will deshalb nicht verhehlen, dass es in unserer Fraktion Sympathie dafür gibt, über eine generelle Regelung hinsichtlich der Lebenssituation von gut integrierten Kindern nachzudenken. ({12}) Viele Kinder aus geduldeten Familien gehen erfolgreich in die Schule und haben eine gute Bildungs- und Ausbildungsperspektive in unserem Land. ({13}) Für sie ist Deutschland oftmals längst neue Heimat geworden. Ich sage hier: Im Zusammenwirken mit den Innenministern der Länder bleibt es eine Aufgabe in dieser Legislaturperiode, zu prüfen, ob wir für diese Kinder und natürlich auch ihre Familien eine weitergehende Regelung treffen können. Gleichzeitig bleibt es eine ebenso wichtige Aufgabe, diejenigen, die kein Recht haben, auf Dauer bei uns zu bleiben, konsequent in ihre Heimat zurückzuführen und dabei etwaige Abschiebungshindernisse zu beseitigen. Beides gehört zusammen: tragfähige humanitäre Lösungen für gut integrierte geduldete Aus458 länder und eine Rückführung derjenigen, die erfolgreiche Integration in unserem Land eher erschweren. Vielen Dank fürs Zuhören. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Rüdiger Veit für die SPDFraktion.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Ich möchte mit einer Art Amtsanmaßung beginnen. Normalerweise gratulieren Sie, Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen zu ihren runden Geburtstagen; es ist erfreulich, wenn Kolleginnen und Kollegen älter werden und runde Geburtstage haben. Ich möchte einen anderen Glückwunsch aussprechen, der mir ein aufrichtiges Bedürfnis ist. Herr Kollege Grindel, Sie sind vor zwei Tagen Vater geworden. Ich wünsche Ihnen, Ihrer Frau und dem neuen Erdenbürger, dass er gesund heranwächst und allzeit liebevolle und auch sehr kluge Eltern hat, damit er ein ganz wichtiger Mitbürger in unserer Gesellschaft wird. ({0}) Auch wenn wir ein bisschen schmunzeln, der Glückwunsch ist sehr ernst und sehr herzlich gemeint. Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, wir reden wieder einmal über die Altfall- oder Bleiberechtsregelung in Bezug auf Geduldete. Wir wissen aus der letzten Statistik, die das Bundesinnenministerium auf Anfrage der Linken zusammengetragen hat, dass wir Mitte dieses Jahres immer noch rund 100 000 geduldete ausländische Mitbürger in Deutschland hatten; rund 60 000 davon haben sich hier bereits seit sechs und mehr Jahren aufgehalten. Jetzt muss man sowohl an die Adresse der hier neu im Haus befindlichen Kolleginnen und Kollegen als auch an die Adresse der Öffentlichkeit bzw. des Publikums klar sagen: Wir betreiben hier keine Übungen in einem juristischen Trockendock von Fachsprache. Es ist auch nicht so, dass uns daran gelegen wäre, Zuständigkeitsfragen zwischen diesem Parlament und der Innenministerkonferenz hin und her zu schieben. Vielmehr reden wir konkret über das Schicksal dieser über 100 000 Menschen; ganz viele davon sind Kinder und Jugendliche, die hier in Deutschland geboren und/oder aufgewachsen sind. Deswegen muss man sich im Interesse eines Sozial- und Rechtsstaates sehr wohl ein paar Gedanken mehr darüber machen, was mit diesen sinnvollerweise zu geschehen hat. Duldung ist nichts anderes als die Erklärung an die Betroffenen: Ihr seid hier nicht willkommen; ihr bekommt hier keinen gesicherten Aufenthalt; wir wollen euch abschieben, das heißt, notfalls auch mit Anwendung unmittelbaren Zwanges außer Landes bringen, sobald wir das können. - Das ist die klare Ansage der Aussetzung einer Abschiebung, also einer Duldung. Das bedeutet im Extremfall - machen wir uns da nichts vor; ich habe das in meiner früheren Praxis leider manchmal miterleben müssen -, dass beispielsweise um 5 Uhr morgens der entsprechende Mitarbeiter der Ausländerbehörde mitsamt zwei Polizeistreifen vor der Tür steht, weil er nur so sicher sein kann, die gesamte Familie zwecks Rückführung - in der Regel auf dem Luftweg zu erreichen. ({1}) Das ist die Realität. Dieses Leben, das aus einem Sitzen auf gepackten Koffern besteht, ist unseres Staates eigentlich unwürdig. Es ist inhuman und auch unvernünftig, weil man die Betreffenden außerstande setzt, sich hier bei uns sinnvoll zu integrieren und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten; ich will das ausdrücklich so klar und deutlich sagen. Die damalige rot-grüne Mehrheit hatte sich bei den Beratungen zum neuen Aufenthaltsgesetz und zum Zuwanderungsgesetz in den Jahren 2002 und 2004 aus gutem Grund vorgenommen, die Duldung gänzlich abzuschaffen und klar zu sagen: Wer hier in Deutschland bleiben darf, der bleibt und bekommt eine Perspektive. Derjenige, für den das nicht möglich ist, muss Deutschland wieder verlassen. Dieses Zwischending, genannt Duldung oder Kettenduldung - manchmal für zehn und mehr Jahre -, wollen wir nicht mehr. Wir mussten in den damaligen Gesetzesberatungen aus Rücksicht auf die CDU/CSU sowohl hier im Parlament als auch im Bundesrat leider das Instrument des § 60 a wieder einführen. In einem neuen Gesetz weist eine a-Nummerierung immer ziemlich deutlich darauf hin, dass die entsprechende Regelung - entschuldigen Sie bitte diese Formulierung - im Nachhinein noch „hineingewürgt“ worden ist. Um was geht es heute konkret? Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat einen Gesetzentwurf eingebracht, um die Möglichkeit der Aufenthaltserlaubnis auf Probe um ein Jahr zu verlängern. ({2}) Die Fraktion Die Linke hat darüber hinaus eine Erweiterung dieses Bleiberechts, der Möglichkeit einer Aufenthaltserlaubnis, gefordert. Ich möchte für die SPD-Fraktion - natürlich unter dem Vorbehalt, dass unsere Gremien das genauso sehen - ankündigen, dass wir Ihnen in der nächsten oder übernächsten Woche einen Gesetzentwurf vorlegen, mit dem wir das Problem, wie wir hoffen, längerfristiger und sehr differenziert lösen können. Ich füge hinzu: Natürlich bleibt es dabei, dass wir die Duldung am liebsten ganz abgeschafft hätten; daran wird sich auch nichts ändern. Wir sind aber Realisten. Wir wissen, dass wir für eine solche Änderung des Aufenthaltsgesetzes auch die Zustimmung des Bundesrates brauchen. Demgemäß nehmen wir auf die dortigen Mehrheitsverhältnisse Rücksicht. Natürlich versuchen wir, den einen oder anderen Kollegen von der neuen Koalition, namentlich von der FDP, als Mitstreiter zu gewinnen. Ich kündige schon jetzt an, dass in diesem Gesetzentwurf in einer differenzierten Stufung klargestellt wird: Wer sich mit Familie seit zehn Jahren oder als Alleinstehender seit zwölf Jahren bei uns aufhält, weil er, aus welchen Gründen auch immer, aus guten Gründen nicht abgeschoben werden konnte, der kann bleiben. Diese Regelung wird, unserer Auffassung nach sinnvollerweise, deswegen stichtagsbezogen sein, weil wir für die Zukunft keinen Anreiz schaffen wollen, sich der Abschiebung durch Verschleppung absichtlich zu entziehen. Außerdem wollen wir bei deutlicher Verkürzung der bisherigen Fristen sagen: Wer sich als Alleinstehender acht Jahre oder mit Familie sechs Jahre hier aufhält, der kann auch dann bleiben, wenn er seinen Lebensunterhalt nicht gesichert hat. In einer weiteren Stufung von wiederum sechs Jahren bei Alleinstehenden und vier Jahren bei Familien wollen wir sagen: Wer sich ernsthaft um die überwiegende Sicherung seines Lebensunterhaltes bemüht, der kann ebenfalls bleiben. Wohlgemerkt sind solche Tatbestände und Konstellationen, in denen Ausweisungsgründe im Sinne schwerwiegender Straftaten oder des Verdachts terroristischer Bezüge vorliegen, immer ausgeschlossen. Wir wollen darüber hinaus sagen: Bei Minderjährigen und solchen Personen, die minderjährig eingereist sind, reichen uns auch vier Jahre Aufenthalt in Deutschland, wenn die Perspektive gegeben ist, dass sie sich hier integrieren werden. In der Konsequenz dessen gehen wir dann noch einen Schritt weiter und sagen: Kinder und Jugendliche, die mindestens einen Hauptschulabschluss oder einen vergleichbaren Schulabschluss erworben haben, sollen ebenfalls hierbleiben können, ohne die erforderlichen Mindestaufenthaltszeiten nachweisen zu müssen. Denn sie haben schon den Nachweis erbracht, dass und in welcher Weise sie in der Lage sind, sich in unsere Gesellschaft und unser Bildungssystem zu integrieren. Eine solche gesetzliche Regelung soll wohlgemerkt nicht stichtagsbezogen sein. Wir glauben, dass auch diejenigen, die aufgrund ihrer Aufenthaltszeiten immer wieder in diese Möglichkeit „hineinwachsen“, auch in der Zukunft das Recht erhalten müssen, eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Wir wollen uns nicht darauf verlassen, dass die Innenministerkonferenz auf ihrer Sitzung Anfang Dezember dieses Jahres einfach nur beschließt: Wir verlängern die Möglichkeit der Aufenthaltserlaubnis auf Probe um ein oder zwei Jahre. - Es gibt einen Berliner Vorschlag, der eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe auf zwei Jahre und weitere Voraussetzungen, die allerdings nicht so eng wie die bisherige Regelung gefasst sind, beinhaltet. Im Augenblick deutet aber nichts darauf hin, dass die Innenminister - sie müssten das gemeinsam und einstimmig machen - einem derartigen Vorschlag nähertreten. Dies löst auch nicht wirklich das Problem. Außerdem ist es von der Systematik her schwierig, wenn die Innenministerkonferenz in ihrer Weisheit - das ist jetzt gar nicht unbedingt nur ironisch gemeint - etwas korrigieren soll, was der Gesetzgeber ausdrücklich anders erklärt hat. Eigentlich wäre es unsere ureigenste Aufgabe als Gesetzgeber, die Hausaufgaben zu machen. ({3}) Die Idee ist auch gar nicht neu. Denn seit März haben wir versucht, unseren damaligen Koalitionspartner, die Union, davon zu überzeugen, dass wir eine solche gesetzliche Änderung dringend brauchen. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass die Zeit nach der Wahl, auf die wir vertröstet werden sollten, nicht ausreicht, weil wir mit einem regulären Gesetzgebungsverfahren bis zum Jahresende nur schwer fertig werden können und weil diejenigen, die damit rechnen müssen, dass ihre Aufenthaltserlaubnis auf Probe nicht wieder verlängert wird - das sind, wie wir heute wissen, ungefähr 15 000 Menschen -, in der Zwischenzeit entweder kein neues Arbeitsverhältnis eingehen können oder sogar ihre Arbeit verlieren. Das heißt, die bei uns lebenden ausländischen Mitbürger müssten entgegen dem, was wir eigentlich wollen, nämlich ihre Integration, zumindest eine Zwangspause einlegen. Leider haben wir uns gegenüber unserem Koalitionspartner nicht durchsetzen können. Unser Koalitionspartner war der Auffassung: Das machen wir alles nach der Wahl. Ich habe sogar noch die halbironische Bemerkung im Ohr, dieser Punkt könnte für die Koalitionsverhandlungen - mit wem auch immer - ein wichtiger Verhandlungsgegenstand oder vielleicht eine Art Morgengabe werden. Was sich jetzt in den Koalitionsvereinbarungen wiederfindet, geht über das, was die CDU sowieso zu machen bereit war, nicht wesentlich hinaus. Ich unterstelle einmal, bei der Union besteht - der Kollege Grindel hat das zart angedeutet - durchaus eine gewisse Bereitschaft, zumindest über eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf Probe nachzudenken. Ich sage aber noch einmal: Ich halte die Innenministerkonferenz für das falsche Instrument. Wir könnten das auch hier beschließen; es wäre noch nicht zu spät. Insgesamt - damit will ich eine gewisse Spitze gegenüber dem neuen Koalitionspartner der CDU/CSU nicht verhehlen - hätte ich der FDP angesichts der Denkweise, die sie in den vergangenen Jahren gezeigt hat, zugetraut, sich in manchen Punkten, gerade was das Ausländerrecht angeht, besser durchzusetzen. ({4}) Daher sage ich nur: Schon wir waren vielleicht nicht gut oder nicht optimal; aber Sie sind ein noch wesentlich kleinerer Teil der Koalition. So ist Ihr Erfolg in den Koalitionsverhandlungen noch bescheidener ausgefallen. Dafür kann ich Sie nicht loben. Gleichwohl werbe ich dafür, dass wir über den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen und den Antrag der Linken, auch wenn sie nach meinem Dafürhalten nicht differenziert genug, nicht weitgehend genug sind, gemeinsam mit der neuen Koalition beraten. Ich würde mich freuen, wenn wir zeitnah gemeinsam zu einem konstruktiven Ergebnis kämen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Hartfrid Wolff für die FDPFraktion. ({0})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reform des Bleiberechts durch die Bundesregierung 2007 war ein längst überfälliger Schritt. Das habe ich damals als Vertreter der Opposition gesagt, und das sage ich auch als Vertreter der FDP-Fraktion in der Regierungskoalition. ({0}) Wenn bei lange geduldeten, gut integrierten Ausländern eine Abschiebung nicht mehr vertretbar ist, muss dieser Tatsache durch eine vernünftige und unbürokratische Regelung Rechnung getragen werden. Die entscheidenden Kriterien waren und sind jedoch: lange geduldet und gut integriert. Eine eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts ist dabei von entscheidender Bedeutung. Das Zahlenmaterial, das die Grünen in ihrem Gesetzentwurf und die Linken in ihrem Antrag zitieren, deutet darauf hin, dass diese Anforderung für die Integration sehr bedeutsam ist. Anders als die Linken es in ihrem Antrag vorgaukeln, ist es zutiefst inhuman, Menschen den Aufenthalt zu ermöglichen, die keine Chance haben, ihren Lebensunterhalt hier selbst zu verdienen. Wer so etwas tut, hält Alimentierung für humane Politik. Wir Liberalen halten es für besser, Menschen Chancen zu eröffnen. Arbeit ermöglicht es Zuwanderern, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, und fördert dadurch das Selbstwertgefühl nicht nur der Berufstätigen, sondern auch ihrer Familienangehörigen. Ohne einen gleichberechtigten Arbeitsmarktzugang können sich Zuwanderer nicht aus ihrer ökonomischen Abhängigkeit befreien. Erwerbstätigkeit ist die Grundlage für wirtschaftliche Eigenständigkeit. Deshalb stellt die Koalition die Ermöglichung einer Erwerbstätigkeit in den Mittelpunkt. Daher sagen wir im Koalitionsvertrag: Die Residenzpflicht soll so ausgestaltet werden, dass eine hinreichende Mobilität insbesondere im Hinblick auf eine zugelassene Arbeitsaufnahme möglich ist … ({1}) Wir sind uns in der Koalition einig, und wir sind uns übrigens auch mit den Grünen einig, wenn ich ihren Antrag richtig verstehe. ({2}) Vor dem Hintergrund der momentanen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen besteht Handlungsbedarf in Bezug auf die Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis auf Probe, die die gesetzlichen Vorgaben zur Lebensunterhaltssicherung zum Jahresende voraussichtlich verfehlen werden. Auch der Kollege Grindel hat das gerade ausgeführt. Wir haben vereinbart, zeitgerecht eine angemessene Regelung zu finden. Zunächst gilt es, die zum Jahresende auslaufende Regelung so anzupassen, dass wir den notwendigen Raum gewinnen, eine tragfähige gesetzliche Grundlage für ein Bleiberecht zu schaffen, um den nicht mehr verständlichen Zustand der Kettenduldungen nachhaltig anzugehen. ({3}) Anfang Juli habe ich hier an dieser Stelle gesagt: Die FDP hält es für notwendig, die Frist - bisher 31. Dezember 2009 - zu verlängern, da nach der Neuwahl des Bundestages die Zeit zu kurz ist, um durch eine neue Gesetzgebung für eine praktikable Umsetzung zu sorgen. ({4}) Die damalige FDP-Position sieht man jetzt weitgehend wörtlich in dem Antrag der Grünen. Sie sind ihr beigetreten. ({5}) Ich finde es übrigens ganz interessant: Im Sommer konnten die Grünen dem noch nicht zustimmen. Auch die SPD wollte dem in der damaligen Koalition nicht beitreten. Eine Gesetzesänderung wäre Anfang Juli freilich das Mittel der Wahl gewesen. ({6}) Jetzt ist es arg spät dafür. Das war allen Kolleginnen und Kollegen hier in diesem Hause auch bereits in der letzten Legislaturperiode bewusst. ({7}) Unsere Befürchtung hat sich also als berechtigt herausgestellt. Die Alternative, die die Grünen im vorliegenden Entwurf aufzeigen, über ein Votum der Innenministerkonferenz eine Übergangslösung zu bewerkstelligen, ist deshalb der richtige Weg. Zeitlich erhalten wir so schneller als durch ein komplexes Gesetzgebungsverfahren, nämlich Anfang Dezember, eine verlässliche Grundlage für die Betroffenen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Wolff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sharma?

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das muss nicht unbedingt sein. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bitte schön.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das eigentliche Problem stellt sich danach. Das Problem der Kettenduldungen muss einer nachhaltigen Lösung zugeführt werden, und wir brauchen für alle, insbesondere auch für die bisher Geduldeten, Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. ({0}) Die große Schwierigkeit einer sinnvollen Bleiberechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren Zustand der Kettenduldungen abzuschaffen und andererseits die Zuwanderung nach Deutschland so zu steuern, dass diese eine nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürger findet. Hier muss die tatsächliche Integration das entscheidende Kriterium sein. ({1}) Wer einem schrankenlosen Daueraufenthaltsrecht in vermeintlich humanitärer Gesinnung das Wort redet, riskiert die steigende Ablehnung der Bevölkerung gegenüber Zuwanderern. Im Antrag der Linken wird die Notwendigkeit einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen verneint, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland suchen. Es hilft niemandem weiter, wenn die Fraktion Die Linke immer wieder fordert, de facto auf jegliche Zuwanderungssteuerung zu verzichten. Vielmehr erweist die Linke damit den Bemühungen um Ausländerintegration einen Bärendienst. Die Linken erwecken mit ihrem Antrag den Eindruck, Geduldete könnten sich allein dadurch, dass sie sich fünf oder gar nur drei Jahre lang hierzulande aufgehalten haben, ohne aktiv etwas für ihre Integration zu tun, einen Anspruch auf ein Bleiberecht erwirken. Damit werden falsche Hoffnungen geweckt. Eine solche Rücksichtslosigkeit gegenüber unseren Sozialsystemen, vor allem aber übrigens auch gegenüber den Betroffenen selbst, die die Linke offenbar nur als Unmutspotenzial in der Bevölkerung kultivieren will, trägt die FDP nicht mit. Die Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigenständigen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist deshalb sehr wohl ein wichtiges Kriterium bei der Bleiberechtsregelung. Das dient der Integration. Um die Arbeitsmigration sinnvoll zu steuern, hat die FDP konkrete Vorschläge gemacht, die auch von den Gewerkschaften und den Unternehmen dringend angemahnt werden und über die wir im Koalitionsvertrag Einvernehmen erzielt haben. Wir sind uns auch beim Bleiberecht einig. Wir brauchen eine Zuwanderungssteuerung mit nachvollziehbaren Kriterien. Zuwanderer sind zu fördern, aber auch selbst gefordert. Die deutsche Sprache, die Demokratie, der Rechtsstaat und die Grund- und Menschenrechte sind das für alle geltende Fundament unserer Gesellschaft. Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanz von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozialsysteme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie schlicht falsche Erwartungen weckt und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördert. ({2}) Wir Liberalen wollen dagegen Chancen eröffnen. ({3}) Wir wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen und Perspektiven eröffnet. Wir wollen, dass die Menschen, die zu uns kommen, sich ihre Zukunft selbst erarbeiten dürfen und können. Wir wollen, dass sie hier willkommen sind. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Raju Sharma.

Raju Sharma (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004156, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Wolff, ich habe zur Kenntnis genommen, dass Sie zur Lebenssituation der Menschen, die nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt überwiegend eigenständig zu sichern, ausgeführt haben, diese Menschen hierzubehalten, sei inhuman. Ich finde diese Aussage bemerkenswert, weil sie darauf rückschließen lässt, dass Sie die Lebenssituation dieser Menschen als inhuman betrachten. Wir können das unterstreichen. Ich frage mich bloß: Wie beabsichtigen Sie diese Situation zu ändern? ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Wolff.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege, wir sind uns doch darüber einig, dass das geltende Ausländerrecht demokratisches Recht ist und man dementsprechend beachten muss, dass man nicht meinen kann, dieses außer Kraft setzen und einen Anreiz dafür geben zu können, dass jeder, der in irgendeiner schwierigen Situation ist, nach Deutschland kommen kann. Das heißt, wir werden eine Lösung finden müssen, nach welchen Kriterien jemand bleiben und einen Aufenthaltsstatus bekommen kann. Dementsprechend müssen wir auch diese Regelung vollziehen. Hartfrid Wolff ({0}) Genau deshalb müssen wir klare, für die Betroffenen selbst, aber auch für unsere Gesellschaft nachvollziehbare Kriterien finden, die vernünftigerweise auch anerkannt sind. Ich glaube, dazu gehört auch die Möglichkeit, hier zu arbeiten und etwas für die Integration zu tun. Aber bei demjenigen, der sich nicht integrieren will, ist es verhältnismäßig schwierig, von den demokratischen Gesichtspunkten des Ausländerrechts Abstand zu nehmen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Josef Winkler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich wende mich gleich an den Kollegen Wolff. Nur weil der Deutsche Bundestag auf demokratische Weise ein Gesetz beschlossen hat, muss es nicht automatisch nur humane Auswirkungen haben. ({0}) Gerade im Bereich der Flüchtlingspolitik und des Flüchtlingsrechts kann man das sehr genau beobachten. Das alleine ist also noch kein inhaltlich starkes Argument gegen das gewesen, was der Kollege Sharma vorgebracht hat. Jetzt will ich aber für den Kollegen Grindel und den Kollegen Wolff aus unserem Gesetzentwurf zitieren: In § 104 a Absatz 5 Satz 1 und 2 wird das Datum „31. Dezember 2009“ jeweils durch das Datum „31. Dezember 2010“ ersetzt. Ich habe nicht gedacht, dass das so missverständlich sein könnte, wie es sich heute gezeigt hat. Sie haben eine große kreative Intelligenz bewiesen und hier Dinge hineininterpretiert, die damit wirklich nicht gemeint sind. ({1}) - Herr Kollege Grindel, Sie ignorieren meine Zwischenrufe auch immer. Deshalb rede auch ich jetzt einfach weiter. Im Übrigen habe ich Ihren Beitrag zur Bekämpfung des demografischen Wandels schon zustimmend zur Kenntnis genommen. Auch meine Gratulation hierzu. Aber jetzt zum Thema: Angesichts des Auslaufens der gesetzlichen Bleiberechtsregelung zum Jahresende ist es aus Sicht meiner Fraktion vordringlich, zunächst Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für die Betroffenen und auch für die Ausländerbehörden durch eine Fristverlängerung im Gesetz zu schaffen. Das ist jetzt am vordringlichsten. Den Menschen steht schon der Angstschweiß auf der Stirn, und zwar nicht nur den Betroffenen selbst, sondern auch ihren Arbeitgebern. Denn anders, als Sie gesagt haben, Herr Grindel, geht es nicht nur um die Menschen, die keine Arbeit haben, sondern gerade auch um die von Ihnen genannten, die für kleines Geld arbeiten gegangen sind. Sie fallen nämlich gar nicht mehr unter diese Regelung, weil sich die Rechtsprechung verändert hat. ({2}) Das heißt, wer ein sogenannter Aufstocker zusätzlich zum Arbeitslohn ist, der kommt nach dieser gesetzlichen Regelung nämlich gar nicht in den Genuss dieser Altfallregelung, die Sie als Große Koalition vorgelegt hatten. Wenn Sie schon unseren Gesetzentwurf nicht durchlesen, dann sollten Sie sich vielleicht wenigstens die Rechtsprechung und die geltende Rechtslage zu Gemüte führen. ({3}) Ein reiner Beschluss der Innenministerkonferenz stellt eindeutig einen Rückschritt dar. Zuvor gab es ein klares Wort des Gesetzgebers. Als die geltende Regelung demokratisch beschlossen wurde, waren Sie noch in der Opposition, Herr Kollege Wolff. Es wurde nicht mehr, wie das jahrzehntelang der Fall war, allein in geheimen Runden der Innenministerkonferenz, sondern in diesem Hohen Hause entschieden, wie mit den Menschen, die von der Duldungsregelung betroffen sind, umgegangen wird. Vor diesem Hintergrund können gerade Sie von der FDP es mir nicht als einen demokratischen Fortschritt verkaufen, wenn darüber wieder auf der Innenministerkonferenz unter Ausschluss der Öffentlichkeit - möglicherweise in berühmt-berüchtigten Kamingesprächen entschieden wird. ({4}) Nein, das ist sicherlich keine Verbesserung für die Betroffenen und erst recht nicht für das deutsche Parlament. Es handelt sich vielmehr um eine Selbstkastration des Deutschen Bundestages. Wie können Sie das hier vom Rednerpult aus begrüßen, Herr Kollege Grindel? Herr Kollege Wolff, Sie haben vor der Sommerpause genau das gesagt, was wir heute als Antrag vorgelegt haben. Danach soll das Aufenthaltsrecht auf Probe nicht durch das Aufenthaltsrecht nach § 23 Abs. 1 Satz 1 ersetzt werden, sondern es soll nur die Frist bis zum 31. Dezember 2010 verlängert werden. Das hielt auch die FDP für notwendig. Das waren Ihre Worte vor noch nicht einmal einem Vierteljahr. ({5}) Heute stellen Sie sich hierhin und erfinden irgendwelche Gründe, warum das auf keinen Fall sinnvoll sein kann. ({6}) Das, was wir damals und auch heute vorgelegt haben, wollen Sie nun nicht mehr mittragen. ({7}) - Herr Kollege Wolff, ich kann doch Ihre sinnvollen Beiträge kopieren. Das ist ja kein ernst zu nehmender Vorwurf. ({8}) - Der Vorwurf eines Plagiats ist nur dann berechtigt, wenn ich daraus einen unsittlichen Gewinn erziele, den Sie dann nicht mehr haben. Den Gewinn gönne ich Ihnen gerne. Ich will Ihnen nicht unterstellen, dass Sie niemals eine kluge Idee haben. Wenn Sie aber darauf bestehen, dass festgestellt wird, dass Sie niemals eine kluge Idee haben, tue ich Ihnen den Gefallen gerne und zitiere Sie in Zukunft nicht mehr. ({9}) Ich fasse zusammen: Wir wollen, dass den Geduldeten geholfen wird. Wir wollen Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Herr Kollege Veit, Ihr Angebot, eine längerfristige, dauerhafte Regelung für diese Gruppe zu finden, nehmen wir gerne an. Darüber können wir gemeinsam diskutieren. Auch wir werden im ersten Quartal zeitnah einen Vorschlag unterbreiten, aus dem hervorgeht, wie wir das dauerhaft für die nächsten Jahre regeln wollen. Dann können wir darüber vielleicht in diesem Hohen Hause beraten. Ich finde es aber sehr bedenklich, dass hier Parlamentarier ans Rednerpult treten und sich freuen, dass ein Gesetz ausläuft und die Innenminister das dann exekutiv alleine regeln. Danke für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegen Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr verehrte Kollegen! Ich bedaure, dass durch die Vertreter der Opposition und insbesondere durch die Vorlagen, die die Linkspartei und die Grünen eingebracht haben, der Eindruck vermittelt wird, dass zum 1. Januar 2010 eine humanitäre Katastrophe in Deutschland droht, und zwar dergestalt, dass Tausende von Menschen, die bisher über eine Aufenthaltsgenehmigung auf Probe verfügen, abgeschoben werden. Um dies ganz klar zum Ausdruck zu bringen: Dem ist mitnichten so. Wir haben derzeit in Deutschland zwei Bleiberechtsregelungen: eine gesetzliche Bleiberechtsregelung und eine Bleiberechtsregelung, die auf dem Beschluss der Innenministerkonferenz vom November 2006 beruht. Um mit Zahlen aufzuwarten - Stand 30. September 2009 -: Nach der Bleiberechtsregelung der Innenministerkonferenz sind bislang 24 527 Personen in den Genuss einer Aufenthaltserlaubnis gekommen. Darüber hinaus sind 10 373 Personen in den Genuss einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104 a Abs. 1 Satz 2 bzw. Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes gekommen. Dabei handelt es sich um Personen, die ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit eigenständig sichern konnten. Neben diesen rund 35 000 Personen gibt es 29 039 Personen, die eine sogenannte Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten haben. In einer stichprobenartigen Untersuchung in den Bundesländern ab Mai dieses Jahres wurde festgestellt, dass ungefähr die Hälfte dieser 29 000 Personen von Hartz IV lebt. Die restlichen Personen - ungefähr 15 000 - befinden sich mittlerweile in der Situation, dass sie ihren Lebensunterhalt eigenständig durch Erwerbsarbeit zumindest teilweise sichern können. Diesen Menschen droht keinesfalls die Abschiebung; das möchte ich klarstellen. ({0}) Daneben gibt es einen weiteren Bereich von 15 000 Personen, denen die Abschiebung ebenfalls nicht droht. Es gibt im gültigen Aufenthaltsgesetz bereits Vorschriften, die es verbieten, dass Personen abgeschoben werden, wenn rechtliche oder tatsächliche Hindernisse bestehen. ({1}) - Liebe Frau Kollegin Jelpke, wenn Sie es selber wissen, warum führen Sie es dann in Ihrem Antrag auf und behaupten, dass dem nicht so wäre? ({2}) Es stimmt auch nicht - das möchte ich klarstellen -, dass ein Großteil der 30 000 Personen, die momentan über den Aufenthaltstitel auf Probe verfügen, dann in die Duldung fallen wird. Dies wird nicht der Fall sein. ({3}) Ich möchte ganz offen sagen, meine sehr geehrten Vertreter von der Opposition: Es ist sinnvoll, die Bleiberechtsregelung zu verlängern, allerdings nicht in der Form, wie Sie das im Moment beantragen. ({4}) Dem Antrag der Linken wohnt das Motto inne: Ein Ausreisepflichtiger muss es nur lange genug schaffen, trotz seiner Ausreiseverpflichtung in Deutschland zu verbleiben, dann wird sein Aufenthalt schon legalisiert. Dem Entwurf der Grünen wohnt der Gedanke inne: Auf eine eigenständige Unterhaltssicherung kann es letzten Endes Stephan Mayer ({5}) gar nicht ankommen, weil dies ohnehin eine viel zu hohe Hürde wäre. Beiden Vorlagen ist deutlich entgegenzutreten. Wichtig ist, dass wir bei der Fortschreibung des Bleiberechts differenzieren, ob jemand wirklich aktiv versucht hat, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Die entscheidende Stellschraube für eine erfolgreiche Integration in eine Gesellschaft ist, dass man sich zumindest ernsthaft bemüht, Arbeit zu bekommen. ({6}) Ich gestehe durchaus: Wir befinden uns in der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit der Gründung der Bundesrepublik. Es ist derzeit schon für viele Deutsche nicht einfach, eine Arbeitsstelle zu bekommen. Umso schwieriger ist es für viele Ausländer - das ist vollkommen zugestanden -, in Deutschland Arbeit zu bekommen. ({7}) Deswegen würde ich sogar so weit gehen, nicht zu fordern, dass diese Personen tatsächlich eine Arbeitsstelle bekommen haben müssen. Das Einzige, was ich von einem Geduldeten verlange, ist - das ist nicht zu viel verlangt -, dass er sich ernsthaft bemüht, Arbeit zu bekommen. Weiterhin sollte es folgendermaßen sein: Wenn Kinder vorhanden sind, sollten diese eine Schule besuchen. Wenn jemand über ausreichenden Wohnraum verfügt, dann rechtfertigt dies meines Erachtens, ihm weiterhin den Verbleib in Deutschland zu gestatten. Natürlich kann man von jemandem, der ernsthaft versucht, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, auch erwarten, dass er sich zumindest Grundkenntnisse der deutschen Sprache aneignet. All dies sind Aspekte, die meines Erachtens zu gewichten und zu werten sind, wenn es darum geht, festzulegen, ob eine Person weiterhin eine Bleiberechtsregelung genießen darf oder nicht. ({8}) Ich halte nichts von einer gesetzlichen Regelung. Die Länder sind die verantwortlichen Instanzen, wenn es darum geht, das Ausländer- und das Aufenthaltsrecht zu exekutieren. ({9}) Die Bleiberechtsregelung ist nun einmal eine Ausnahmebestimmung. Deswegen halte ich es für durchaus sinnvoll und sachgerecht, dass sich die Bundesländer und die Innenministerkonferenz der Länder mit dieser Thematik beschäftigen. Die nächste Innenministerkonferenz steht alsbald an, und zwar am 3. und 4. Dezember dieses Jahres. Ich bin der guten Hoffnung, dass es den Innenministern aller unterschiedlichen Parteien gelingt, eine sachgerechte und vernünftige Fortschreibung der Bleiberechtsregelung zu erreichen. ({10}) Ich möchte eines klarmachen: Der Inhalt einer Bleiberechtsregelung darf nicht dazu führen, dass die Personen privilegiert werden, die sich nicht aktiv bemüht haben, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, die vielleicht sogar ihre Identität und ihre Herkunft verschleiert haben, die vielleicht ihre Legitimationspapiere weggeworfen haben und die sich nicht aktiv bemüht haben, eine Arbeitsstelle in Deutschland zu bekommen. ({11}) Es gilt ganz klar, diesen Personen das Bleiberecht zu versagen. Ich bin der festen Überzeugung, dass man diesem differenzierten Ansatz, den ich jetzt dargestellt habe, in allerbester Weise in Form einer Regelung durch die Innenministerkonferenz, die in der nächsten Woche stattfinden wird, gerecht wird. Diese unterschiedlichen Sachverhalte, diese unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten kann man meines Erachtens nicht in ein Gesetz und in einen oder zwei Paragrafen gießen. Es ist wesentlich sachgerechter und vernünftiger, eine ausdifferenzierte Regelung im Rahmen der Innenministerkonferenz zu finden. Die Anzeichen sind positiv. Die bisherigen Ankündigungen der Länderinnenminister gehen in die Richtung, dass es relativ einfach sein wird, eine Fortschreibung der Bleiberechtsregelung zu erreichen. Ich glaube, dass dies in allerbester Weise den unterschiedlichen Befindlichkeiten und den berechtigten Erwartungen auf allen möglichen Seiten gerecht wird. In diesem Sinne gilt es, den Vorlagen der Grünen und der Linken heute die Zustimmung zu verweigern. Ich hege die hoffnungsvolle Erwartung, dass es den Länderinnenministern in der nächsten Woche gelingt, eine sachgerechte und vernünftige Lösung zu finden. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/19 und 17/34 ({0}) an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 17/41 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bundesbeteiligung bei Kosten der Unterkunft nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch erhöhen - Drucksache 17/75 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Innenausschuss Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel das Wort.

Hans Joachim Fuchtel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000616

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heutige Beratungsbedarf ergibt sich aus dem Vierten Gesetz für Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Im Jahr 2004 hat man bekanntlich beschlossen, dass sich der Bund im Rahmen der Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe an den Kosten der Unterkunft beteiligt, und hat dann Modalitäten festgelegt. Nachdem man zunächst einmal zwei Jahre spitz abgerechnet hat, hat man gemerkt, dass das sehr viel Bürokratie verursacht. Dann hat man eine Formel entwickelt, die für die Zeit ab dem Jahr 2008 angewendet wird. Seitdem gilt die Formel, dass man die Kostenbeteiligung danach bemisst, ob die Zahl der Bedarfsgemeinschaften konstant ist oder gegenüber dem Vorjahreszeitraum abweicht. Wenn die Zahl der Bedarfsgemeinschaften gegenüber dem vorigen Berechnungszeitraum - das ist jeweils Juli eines Jahres bis Juni des nächsten Jahres - um mehr als 0,5 Prozent abweicht, dann muss eine nach der Formel vorgegebene Angleichung stattfinden. Aus dem Grund ist man jetzt bereits bei der sechsten Änderung angekommen. Im Zeitraum von Juli 2008 bis Juni 2009 ist die Zahl der Bedarfsgemeinschaften in Deutschland um 3,4 Prozent zurückgegangen. Aus der Formel ergibt sich damit ein Anpassungsbedarf von 3,4 Prozent zum letzten Berechnungszeitraum. Damit liegt der Rückgang über 0,5 Prozent, und daher haben wir die sechste Änderung. Bislang betrug die Kostenbeteiligung des Bundes durchschnittlich 26 Prozent. Wenn man die Formel anwendet, dann ergibt sich, dass die Rate um 2,4 Prozentpunkte sinkt und damit auf 23,6 Prozent festzuschreiben ist. Das ist der wesentliche Bestandteil dieses Gesetzes. Als alter Haushälter habe ich kurz ausgerechnet, wie sich das in Euro niederschlägt. Wir haben auf der Basis der derzeitigen gesamtwirtschaftlichen Daten Gesamtausgaben in Höhe von 15,8 Milliarden Euro auf diesem Gebiet zu erwarten. 23,6 Prozent davon ergeben circa 3,7 Milliarden Euro im Jahr 2010. Ich hoffe, ich habe richtig gerechnet. Nun gibt es in diesem Jahr eine Initiative des Bundesrats, die vorsieht, dass man die Berechnung künftig nicht mehr an der Zahl der Bedarfsgemeinschaften festmachen möge, sondern an den Ausgaben. Ich darf hier bereits ankündigen, dass die Bundesregierung nicht gedenkt, diesem Anliegen nachzukommen, sondern an dem bisherigen Standpunkt festhält. Täte sie das nicht, würde hier eine Entwicklung eintreten, dass bei Kosten, die der Bund nahezu nicht beeinflussen kann, eine Mitwirkung stattfindet, die außerhalb ihrer Einflussmöglichkeiten liegt. Das kann nicht im Interesse des Bundes sein. Daher bemühen wir uns, diese Intervention zurückzuweisen. Rasche Beratungen sind angesagt; denn bedingt durch die Bundestagswahl konnte dieses Gesetz nicht früher auf den Weg gebracht werden. Das bedeutet, dass die Ausschüsse jetzt sehr schnell an die Arbeit gehen müssen. Ich habe mit Freude festgestellt, dass das bereits geschehen ist. Am Montag wird noch eine Anhörung stattfinden. Die nächste Beratung wird bereits in der Folge stattfinden können. Die Voraussetzungen sind also gegeben, dass dieses Gesetz rechtzeitig in Kraft tritt. Ich bedanke mich bei dem Ausschuss, dass er diese Beschleunigung vorgenommen hat, und wünsche uns gute Beratungen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller für die SPD-Fraktion.

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Alle Jahre wieder …“, Sie kennen dieses Lied; immer vor Weihnachten fällt es uns ein. Wir kennen alle Strophen. Ein bisschen wie „Alle Jahre wieder …“ behandeln wir auch dieses Thema. ({0}) Worum geht es dabei? Es geht im Grunde darum, dass wir altbekannte Argumente austauschen. Dann wird eine Entscheidung getroffen, und wir fragen uns hinterher: Sind wir in der Sache weitergekommen? Heute wird es an einem Punkt ein bisschen spannender. Ich freue mich schon auf Ihre erste Rede im Bundestag, werter Kollege von der FDP. ({1}) - Mit Recht. - Denn er wird ein Kunststück vollbringen: Er wird uns zeigen, wie die FDP eine Volte macht von bisher „immer dagegen“ hin zu jetzt „voll dafür“. ({2}) Wir wissen, dass bei den Linken und den Grünen ebenso wie bei den kommunalen Spitzenverbänden das Herz höher schlägt, wenn man sagt: Wir beteiligen uns anteilig an den Kosten der Unterkunft, weil sie so gestiegen sind. Ich erinnere in diesem Zusammenhang immer sehr gern an eine Kleinigkeit: Dieser Kompromiss wurde mit Zustimmung der Bundesländer gefunden. Gelegentlich fehlt dafür das Erinnerungsvermögen. Jahr für Jahr haben wir mit den Bundesländern verhandelt - Basartechniken kamen zur Anwendung -, bis man eines Tages auf die Formel stieß, die die Lösung sein sollte. Jetzt wird genau diese Formel infrage gestellt. Was ist der Kern dieser Formel? Der Kern dieser Formel ist, dass wir abheben auf die Zahl der Bedarfsgemeinschaften. Herr Staatssekretär Fuchtel hat gerade erläutert, wie das funktioniert. Bestritten wird, dass das zielführend sei. Ich behaupte: Wer eine gute, aktivierende Arbeitsmarktpolitik auf Bundesebene macht, für den ist diese Formel richtig, weil es das entsprechende Steuerungsinstrument ist. ({3}) Aber ich muss schon sagen, Kollege Schiewerling: Sie stehen vor großen Herausforderungen. Im Augenblick kann ich nicht erkennen, dass die neue Regierung wirklich eine aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben will. ({4}) Herr Fuchtel hat sich an dieser Stelle erfreut darüber gezeigt, dass wir den Gesetzgebungsprozess beschleunigen. Dem entgegne ich: 50 000 Beschäftigte in den Argen hätten sich gefreut, wenn Sie etwas schneller gewesen wären. ({5}) Sie warten nämlich bis heute darauf, wie es weitergeht. Kommen wir zurück zu der Formel, um die es heute geht. Sie ist im Einvernehmen beschlossen worden. Ich erinnere nur an Folgendes - das hören einige ungern -: Es sind sozusagen Kompensationsgeschäfte gewesen. In diesem Zusammenhang wurden im Sommer 2008 - das ist noch nicht so lange her - verbessernde Regelungen zulasten des Bundes getroffen, was die Kostenbeteiligung an der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit betrifft. Wir haben das Wohngeld novelliert. Wir haben den Kinderzuschlag verbessert. Beides sind Instrumente, die sich mindernd auf die Kosten der Unterkunft auswirken. Einfach zu sagen, diese Formel sei nicht zielführend, ist deshalb, finde ich, zu kurz gesprungen. So viel will ich auch zum Antrag der Linken sagen. Ich stelle fest, dass die massive Kritik alte Kritik ist. Ich höre kein neues Argument. Ich habe aber einen Vorschlag, wie wir die Anhörung am kommenden Montag so nutzen können, dass es vielleicht zu Verbesserungen kommt. Mir ist aufgefallen, dass bei dieser Formel immer nur die Zahl der Bedarfsgemeinschaften zugrunde gelegt wird. Alle, die sich ein bisschen um Menschen vor Ort kümmern, wissen, dass die Zahl der Personen in den Bedarfsgemeinschaften höchst unterschiedlich ist. Möglicherweise kann man durch eine Verbesserung der Formel mehr Gerechtigkeit erzielen. Ich gebe das als Anregung mit auf den Weg. Deshalb, denke ich, wird die Anhörung am Montag interessant werden. Ich hoffe, dass wir im Ergebnis dann zu Lösungen kommen, die auch wirklich sachdienlich sind. Damit komme ich wieder zur Arbeitsmarktpolitik: Schwarz-Gelb schlägt einen ganz anderen Weg ein, als wir ihn bisher gegangen sind. Sie machen einen Niedriglohnsektor auf. ({6}) - Nein! ({7}) - Herr Kolb, wenn Sie eine Antwort haben möchten, dann können Sie mich fragen. Dann verlängert sich meine Redezeit. Dann gehe ich auch gerne auf Ihren Zwischenruf ein. ({8}) Jetzt aber sage ich: Dieser Niedriglohnsektor, der über die Erhöhung der Hinzuverdienstgrenzen und den Verzicht auf die Einführung von Mindestlöhnen massiv ausgeweitet wird, treibt Menschen in die Abhängigkeit, in Bedarfsgemeinschaften und macht sie zu Empfängern von Leistungen nach SGB II. Das finde ich unwürdig. ({9}) Ich will hinzufügen - das muss man in Kombination mit dem Vorherigen sehen -: Wir wissen, dass es zahlreiche Widerspruchs- und Klageverfahren gerade bezüglich Kosten der Unterkunft gibt. In Ihrem Koalitionsvertrag steht jedoch ein Prüfauftrag, und Sie geben da Ihrer Sorge Ausdruck, dass Prozesskosten- und Beratungshilfe sozusagen unzulässigerweise in Anspruch genommen werden. Das halte ich für hinterhältig. Wenn wir heute erkennen, dass es einen klaren Anspruch der Menschen auf eine Leistung gibt, den sie berechtigt erheben, dieser aber nicht immer sauber erfüllt wird, dann dürfen wir nicht noch die Möglichkeiten der Personen beschneiden, Recht zu bekommen. Das finde ich unanständig. ({10}) Deshalb - damit komme ich zum Schluss meiner Rede - werden wir uns nicht mit dem zufriedengeben, was wir haben. Wir sind strikt der Meinung, Herr Kolb, dass das, was arbeitsmarktpolitisch passiert, völlig in die falsche Richtung geht. ({11}) Als jemand, der auf kommunaler Ebene Verantwortung trägt, hoffe ich, Herr Kolb, dass Sie sich doch zumindest an das halten werden, was Sie im Koalitionsvertrag beschlossen haben. ({12}) Sollten Sie an der Stelle schon wortbrüchig werden, hätten Sie ein Tempo drauf, das atemberaubend wäre. ({13}) Kommunen schreien zurzeit auf, weil sie wirklich Sorge haben, an den Rand gedrängt zu werden. Das ist auch Fakt: Sie werden an den Rand gedrängt durch eine Steuerpolitik, die zu massiven Einnahmeausfällen auf kommunaler Ebene führt. Sie haben die Sorge, dass die Gewerbesteuer wegbricht. Sie müssen sich Sorgen machen, dass Dienstleistungen kommunaler Natur mehrwertsteuerpflichtig werden. Das heißt, in den Haushalten der Gemeinden wird es richtig eng. Sie aber kommen daher und sagen, das müsse man eben in Kauf nehmen. Ich sage Ihnen: Nein. Die Lösung liegt allerdings nicht darin, bei den Kosten der Unterkunft die Bemessungsgrundlage bzw. die Formel zu verändern, sondern die Lösung läge darin, eine Politik zu machen, die menschenwürdig ist und den Kommunen eine gute Zukunft gibt. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Pascal Kober für die FDPFraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Höhe der Beteiligungen des Bundes an den kommunalen Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 46 SGB II für das Jahr 2010 festgelegt werden. Frau Lösekrug-Möller, auch wenn wir als FDP-Fraktion im Bundestag in der Vergangenheit immer wieder Anfragen bezüglich des zugrunde liegenden Berechnungsverfahrens für den Bundesanteil formuliert haben, stellen wir uns dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung, der noch unter Federführung des alten Kabinetts beraten worden ist, nicht in den Weg. ({0}) Zu Ihrer Information, Frau Lösekrug-Möller: Wir haben uns das letzte Mal bei der Stimmabgabe in der Sache enthalten, wiewohl wir in der Tat Anfragen haben. ({1}) Im Moment geht es nach meiner Auffassung und nach Auffassung der FDP vor allen Dingen darum, dass die Kommunen in der Kürze der Zeit rasch die notwendige Planungssicherheit und letztendlich auch die zugesagte finanzielle Entlastung erhalten. ({2}) Für die Zukunft möchte ich allerdings - das sage ich auch in schwäbisch-freundlicher Verbundenheit zum Staatssekretär Fuchtel -, dass sich etwas ändert. Das wird nicht leicht, vielleicht auch nicht mit unserem Koalitionspartner, aber ich vertraue in diesem Fall zumindest am Anfang der Legislaturperiode auf die Kraft der guten Argumente. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, einem neuen Abgeordneten fällt bei der Vorbereitung auf die vorliegende Fragestellung zunächst und vor allem die schier unendliche Komplexität der Materie auf, die komplizierte Systematik der Anpassungsformel, die der Berechnung des zugesagten Bundeszuschusses an die Kommunen für Unterkunft und Heizung zugrunde liegt, die in der Vergangenheit übrigens auch von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen in einer Plenardebatte kaum mehr zu vermitteln schien. Es ist meiner Auffassung nach eine Frage politischer und damit auch sozialer Verantwortung, dass wir uns in Zukunft bemühen, die Ergebnisse unserer Politik so zu gestalten, dass die Menschen sie verstehen können. ({4}) Das ist eben auch eine Frage des Respekts vor den Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind; sie sollten die Prozesse und Ergebnisse unserer Politik, von denen sie abhängig sind, wenigstens verstehen und nachvollziehen können. Von daher bleibt die grundsätzliche Forderung der FDP nach Vereinfachung und Entflechtung der Finanzbeziehungen von Bund, Ländern und Kommunen hochaktuell. Wir werden in allen Bereichen unserer Politik in den kommenden vier Jahren darauf achten, dass wir an dieser Stelle entscheidend vorankommen werden. ({5}) Wir werden, bei aller Notwendigkeit unterstützender Transferleistungen, unsere Verantwortung vor allem darin sehen, es den betroffenen Menschen zu ermöglichen, aus schwierigen Lebenssituationen und aus der Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung möglichst rasch wieder herauszukommen und ein so weit es irgend geht selbstbestimmtes Leben zu führen. ({6}) Wir werden als FDP darüber hinaus in den kommenden vier Jahren Sozialpolitik auch als Präventionspolitik verstehen, definieren und gestalten; denn Vorsorge ist in diesem Bereich immer besser als Nachsorge. ({7}) Das gilt einerseits unter haushaltspolitischen Gesichtspunkten und ist deshalb auch eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber künftigen Generationen, also eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber in der Zukunft lebenden auf staatliche Unterstützung angewiesenen Menschen. ({8}) Aber das Prinzip „Vorsorge ist besser als Nachsorge“ gilt andererseits vor allem aufgrund unserer liberalen Perspektive bezüglich des Menschen und der Gesellschaft. Eine Gesellschaft muss - das ist meine Auffassung - so gestaltet sein, dass möglichst alle Menschen in der Lage sind, ihre jeweiligen Begabungen zu erkennen, sie auszubilden und schließlich dauerhaft und möglichst selbstbestimmt für sich selbst und andere einsetzen zu können. ({9}) Wir haben in diesem Bereich im Koalitionsvertrag bereits entscheidende Akzente gesetzt, insbesondere in der Bildungs- und Familienpolitik sowie der Integrationspolitik, aber nicht zuletzt auch in der Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. ({10}) Denn nach wie vor ist Arbeitslosigkeit die Hauptursache für Bedürftigkeit und Armut, für prekäre Lebenssituationen in unserem Land. Deshalb unterstützen wir alle Maßnahmen, die auf dauerhaftes wirtschaftliches Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen ausgerichtet sind. ({11}) Der häufig aus ideologischen Gründen künstlich aufrechterhaltene Gegensatz von ökonomischer Vernunft und sozialstaatlicher Verantwortung hilft keinem von Armut, prekärer Lebenssituation oder Arbeitslosigkeit Betroffenen und gehört daher endlich überwunden. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin stolz darauf, einer Bundestagsfraktion anzugehören, die an dieser Stelle im Sinne der Menschen einen ganzheitlichen und in sich stringent gedachten sozialpolitischen Ansatz verfolgt. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Kober, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen herzlich und wünsche Ihnen alles Gute für die weitere Zusammenarbeit in diesem Hause. ({0}) Das Wort hat nun Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke. ({1})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Hartz IV eingeführt wurde, wurde den Kommunen eine Entlastung von 2,5 Milliarden Euro versprochen. Dies wurde sogar im Gesetz verankert. Um diesem Versprechen nun gerecht zu werden, beteiligt sich der Bund an den Kosten der Unterkunft für Hartz-IV-Betroffene, die ansonsten von den Kommunen getragen werden. Doch Jahr für Jahr stiehlt sich der Bund weiter aus der Verantwortung. Um es einmal prozentual zu verdeutlichen: Betrug im Jahr 2007 der durchschnittliche Bundesanteil noch 31,8 Prozent, so soll er im Jahr 2010 nur noch 23,6 Prozent betragen. Die Mehrkosten werden auf die Kommunen abgewälzt. Für uns ist das nicht hinnehmbar. ({0}) Um einmal zwei Beispiele zu nennen: In der Stadt Dresden rechnet man damit, dass im Jahr 2010 im Vergleich zum Jahr 2008 Mehrkosten von 8 Millionen Euro entstehen. In Bochum sind im Jahr 2009 im Vergleich zum Vorjahr Mehrkosten von 1,5 Millionen Euro entstanden. Wir halten also fest, dass die einst versprochene Entlastung der Kommunen von 2,5 Milliarden Euro schon heute nicht mehr gesichert ist. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf will sich der Bund noch weiter aus der Verantwortung stehlen. Der Bundesrat kritisiert insofern zu Recht: Das Absenken des Bundesanteils auf durchschnittlich 23,6 Prozent widerspricht der gesetzlichen Zusage einer bundesweiten Entlastung. ({1}) Grundlage für den Rückzug des Bundes ist natürlich die Tatsache, dass sich der Bundesanteil nach der Zahl der Bedarfsgemeinschaften bemisst. Im Klartext: Wenn die Zahl der Bedarfsgemeinschaften sinkt, sinkt auch der Bundesanteil. Die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften sagt aber nur sehr bedingt etwas über die Gesamtkosten aus. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen: Nehmen wir, ganz einfach und schematisch gerechnet, einen Häuserblock, in dem es drei Bedarfsgemeinschaften gibt, deren Kosten der Unterkunft jeweils 200 Euro betragen. Dreimal 200 Euro ergeben Kosten von insgesamt 600 Euro. Wenn von diesen drei Bedarfsgemeinschaften zwei zusammenziehen und in eine größere Wohnung ziehen, so haben wir nur noch zwei Bedarfsgemeinschaften. Das heißt, der Anteil des Bundes fällt deutlich geringer aus. ({2}) Da aber zwei Leute Anspruch auf eine größere Wohnung haben und in der anderen Bedarfsgemeinschaft ein Kind geboren worden ist, fällt plötzlich die durchschnittliche Miete deutlich höher aus; sagen wir einmal 300 Euro. Zwei Bedarfsgemeinschaften mal eine Miete von 300 Euro ergeben wieder 600 Euro. Die Kosten bleiben also gleich; der Bund zahlt jedoch weniger. Wer hat die Mehrlasten zu tragen? Die Kommune. Wenn in den Kommunen das Geld fehlt, dann fehlt es konkret für Seniorenbegegnungsstätten, Jugendklubs oder aber Kitas. Das ist ein Fehlen an der falschen Stelle. ({3}) Wir haben immer deutlich gemacht: Hier kann nur ein Weg der richtige sein. Wir müssen von der Bezugsgröße der Bedarfsgemeinschaften wegkommen. Vielmehr müssen die tatsächlich entstandenen Kosten der Maßstab für die Bundesbeteiligung sein. - Meine Damen und Herren von der FDP, da könnten Sie ruhig klatschen; denn hierbei handelt es sich um ein Zitat Ihres Kollegen Haustein vor nicht allzu langer Zeit zu diesem Thema. Auf die Kommunen kommt in diesem und im nächsten Jahr ohnehin eine enorme Mehrbelastung aufgrund der Krise zu. Wir dürfen die Kommunen nicht länger im Regen stehen lassen. Deswegen hat die Linke einen eigenen Antrag eingebracht. Wir schlagen vor: Der Anteil des Bundes muss sich an den tatsächlichen Kosten bemessen; denn wenn in den Kommunen Geld fehlt, dann fehlt es an der falschen Stelle. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Britta Haßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn man Herrn Fuchtel so hört, hat man den Eindruck, es gehe heute um ein paar mathematische Formeln: Hier und da ein bisschen Formel ergibt die sechste Änderung dort. Herr Fuchtel, es geht hier knallhart um die Kommunen. Es geht darum, wie die Kommunen in Zukunft die Daseinsvorsorge sicherstellen können. Ich möchte Ihnen Folgendes in Erinnerung rufen - vielleicht interessieren Sie ein paar Zahlen -: Wir, der Deutsche Bundestag, sind durch die Bundesratsinitiative, die aus dem schwarz-gelben NRW kommt und einstimmig im Bundesrat verabschiedet wurde, aufgefordert worden, endlich zu agieren und uns nicht immer auf die Schulter zu klopfen und zu sagen: Wir haben 2005 eine wunderbare Formel verabschiedet, und jetzt schreiben wir diese zum sechsten, siebten, achten Mal fort. Die gestiegenen Ausgaben für die Kosten der Unterkunft, das heißt Sozialausgaben der Kommunen, sind von 2005 bis 2010 von 8,7 Milliarden Euro auf 12,1 Milliarden Euro gestiegen. Was hat der Deutsche Bundestag in dieser Zeit getan? Er will mit diesem Gesetzentwurf die Reduzierung des Bundesanteils von ehemals 31,8 Prozent auf 23,6 Prozent in 2010 beschließen. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein! In einer Situation, in der es dramatische Gewerbesteuereinbrüche gibt, in der die Kommunen immer höhere Soziallasten zu tragen haben - wir reden von Gewerbesteuereinbrüchen von 15 Prozent im Bundesdurchschnitt, wir reden über Steuermindereinnahmen von 10 Prozent auf die Steuern insgesamt bezogen, wir reden von 1,6 Milliarden zusätzlichen Mindereinnahmen durch Ihr sogenanntes Wachstumsbeschleunigungsgesetz -, reduzieren Sie abermals die direkten Zuweisungen an die Kommunen für die Kosten der Unterkunft. Sie wissen doch alle ganz genau, was das bedeutet. Das bedeutet, dass bei sogenannten freiwilligen Leistungen in einer Massivität gekürzt wird, dass uns allen die Augen tränen. ({0}) Ich frage gerade Sie auf der rechten Seite des Plenums: Wie bekommen Sie es eigentlich hin, in Wuppertal, in Remscheid, in Solingen, dort, wo Sie Verantwortung tragen, dort, wo Sie Ihre Wahlkreise haben, den Menschen zu erklären: Wir machen einfach eine kleine, neue Formelberechnung; das kostet euch mal eben 1,6 Milliarden zusätzlich, aber das ist halt so, wir können gerade nicht anders? ({1}) Ich glaube, Herr Schiewerling - Sie sind ja noch nach mir dran -, dass Sie das keinem erklären können. Im Gegensatz zu Ihnen hat Josef Laumann das kapiert. Deshalb gab es die Bundesratsinitiative von Schwarz-Gelb, im Übrigen mit Unterstützung aller anderen Bundesländer. Ich fordere Sie an dieser Stelle auf, nicht dauernd zu erklären, wir müssten über eine Änderung der Anpassungsformel reden. Liebe Kollegin von der SPD, das hat uns Herr Scholz in den letzten drei Jahren auch erklärt. Wir sollten endlich damit anfangen, die Kommunen wirklich zu entlasten. Sonst müssen Sie sich nicht wundern, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die Daseinsvorsorge sicherzustellen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling für die Unionsfraktion. ({0})

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An den Kosten der Unterkunft und der Verteilung der Kosten kann man manches festmachen, aber nicht die Kosten für Kitas, Jugendheime, Kindergärten usw., Frau Kollegin Haßelmann. Wir reden über ein Problem, das ich überhaupt nicht kleinreden will, aber das gehört nicht zusammen. 2005 hat kein Mensch im Blick gehabt, wie sich das wohl mit den Kosten der Unterkunft nach dem SGB II entwickeln würde. ({0}) Wir haben bereits von 2005 bis 2006 eine heftige Diskussion zwischen Bund, Ländern und Kommunen geführt. Deswegen haben sich 2006 Bund, Länder und Kommunen darauf verständigt, dass Grundlage für die Berechnung der Kosten der Unterkunft die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften ist. Ich kann mich noch gut an meinen Wahlkampf 2005 erinnern, als mich ein Apotheker zu einem Gespräch eingeladen hat. Ich sah einen Haufen von Bewerbungen in seinem Regal liegen. Ich habe ihn gefragt: Stellen Sie neue Mitarbeiter ein? Er sagte: Jawohl, ich suche eine neue Auszubildende, einen neuen Auszubildenden für meine Apotheke. Es gab viele Bewerbungen. Von den Bewerbern haben sich nur zwei bereit erklärt, zu kommen. Die übrigen haben gesagt, sie ziehen zu Hause aus, beziehen Hartz IV, haben ihre Wohnung, die sie auch noch finanziert bekommen. Deswegen verzichten sie auf die Ausbildungsstelle. - Das war 2005. ({1}) - Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit. Halten Sie einen Augenblick inne und sehen Sie sich die Situation an, wie sie war. Daraufhin hat der Deutsche Bundestag, die Große Koalition reagiert. Er hat eine Reform über die Frage herbeigeführt, wer zu einer Bedarfsgemeinschaft gehört. Er hat beschlossen, dass eine Bedarfsgemeinschaft die Geschäftsgrundlage sein soll, und das mit den Ländern und den Kommunen ausgehandelt. Ich halte diesen Weg, den wir in dieser Frage gegangen sind, für den richtigen. Unter diesen Gesichtspunkten ist und bleibt der Bund ein verlässlicher Partner in der gesamten Finanzierung des SGB II. Wir werden aufgrund der Berechnungsgrundlage, der Hochrechnung für 2010, 3,7 Milliarden Euro zur Verfügung stellen. Wir werden diese Mittel in den Haushalt einstellen, weil dies die Geschäftsgrundlage ist, auf die sich Bund, Länder und Kommunen miteinander verständigt haben. ({2}) Frau Kollegin Lösekrug-Möller, ich glaube übrigens, dass die Frage, die Sie gestellt haben, ob wir im nächsten Jahr schauen, inwieweit wir in der Berechnungsformel Besonderheiten berücksichtigen können, auch innerhalb der Koalition und bei uns eine Rolle spielt. ({3}) Das ist überhaupt keine Frage. Wenn wir jetzt aber nach dem Motto „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ anfangen, die Formel nach Gutsherrenart beliebig zu ändern, geraten wir mit dem gesamten System noch tiefer in ein Finanzierungsdurcheinander, und das können wir weder den Kommunen noch dem Bund noch den Betroffenen zumuten. ({4}) - Davon haben die Kommunen auch keinen Vorteil. ({5}) Der Grund, warum sich Bund, Länder und Kommunen damals auf diese Regelung der Kosten der Unterkunft im SGB II verständigt haben, ist schlicht und einfach, dass die Auswirkungen der arbeitsmarktpolitischen Situation besser an der Anzahl der Bedarfsgemeinschaften festgemacht werden können und nicht so gut daran, wie die Kosten insgesamt gestiegen sind. Die Kommunen haben ausdrücklich den Auftrag, in ihrem Bereich zu gestalten. Sie sind es, die feststellen können, ob die Wohnung angemessen ist. Sie sind es, die feststellen können, ob bezogen auf den jeweiligen Hilfeempfänger der Bedarf einer Neuregelung besteht. Die Kommunen haben die Verantwortung dafür. Das war der Grund, warum wir uns darauf verständigt haben, dass die Bedarfsgemeinschaften die Geschäftsgrundlage sind. ({6}) Ich sage an dieser Stelle in aller Deutlichkeit und wiederhole mich gerne: Das SGB II ist ein lernendes System. Das gilt nicht nur für die Argen vor Ort und für die Optionskommunen, sondern das gilt auch für den Bund, für die Länder, für die Kommunen und für die Betroffenen. Das gilt für all diejenigen, die dazu beitragen wollen, dass die Menschen, die im SGB-II-System sind, in der Grundsicherung für Arbeitsuchende, Hilfe und Unterstützung bekommen, damit sie aus dieser Grundsicherung so schnell wie möglich herauskommen. Das Ziel kann nicht sein, auf Dauer in dieser Situation zu bleiben, sondern die Menschen müssen da herauskommen. Ich gehe davon aus, dass wir die Entscheidungen bezüglich der Kosten der Unterkunft in diesem Jahr treffen. Ich halte das für absolut notwendig, damit Verlässlichkeit und Planbarkeit für alle Beteiligten in dem System weiterhin bestehen. Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/41 und 17/75 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Marieluise Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Demokratie in Honduras - Drucksache 17/33 - Vizepräsidentin Petra Pau b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE Demokratiebewegung in Honduras unterstützen - Wahlen der Putschisten nicht anerkennen - Drucksache 17/60 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor dem 28. Juni dieses Jahres dachte ich, dass Militärputsche in Lateinamerika endgültig der Vergangenheit angehören. Ich dachte, die Zeiten, in denen politisch unliebsame Präsidenten mit vorgehaltener Waffe nachts aus dem Bett geholt und nur mit Unterwäsche bekleidet außer Landes geflogen werden, seien ein für alle Mal vorbei. Ich hoffte, nie wieder lesen zu müssen, dass politische Gegner in Fußballstadien eingesperrt werden. Ich habe mich leider getäuscht. Der Putsch gegen den legitimen Präsidenten von Honduras, Manuel Zelaya, zeigt, dass diese dunklen Seiten der lateinamerikanischen Geschichte leider wieder Teil der Gegenwart sind. Die internationale Gemeinschaft hat diesen Putsch zu Recht deutlich und einstimmig verurteilt. Kein einziger Staat dieser Welt hat den von den Putschisten eingesetzten Präsidenten, Roberto Micheletti, anerkannt. Viele Botschafter von Honduras folgten nicht den Anweisungen der Putschisten, sondern blieben dem legitimen Präsidenten treu, so auch der honduranische Botschafter in Deutschland, Roberto Castañeda, der die heutige Debatte von der Tribüne aus verfolgt und den ich herzlich grüße. ({0}) Vor allem für die Staaten Lateinamerikas sind die Verurteilung dieses Putsches und die Kraftanstrengung für die Rückkehr des legitimen Präsidenten von enormer Bedeutung; zugleich ist es die Verteidigung der eigenen Demokratie. Hier geht es nicht nur um Honduras, sondern um ganz Lateinamerika. Es geht nicht um die Frage „Zelaya oder Micheletti?“, sondern um die Frage „Demokratie oder nicht?“; denn wenn die Rechnung der Putschisten aufgeht und sie aus dieser Aktion irgendeinen Vorteil ziehen können, dann ist die Gefahr groß, dass dieses Beispiel Schule macht und andere unliebsame Präsidenten in Gefahr geraten, beseitigt zu werden. Auch deshalb hat die Organisation Amerikanischer Staaten diesen Putsch so scharf und einmütig verurteilt und die Rückkehr Zelayas gefordert. Sie hat versucht, zu vermitteln - leider ohne Erfolg. Am kommenden Sonntag soll das honduranische Volk einen neuen Präsidenten, den Kongress, Bürgermeister und Gemeinderäte wählen. Die Putschisten haben alles getan, um bis zu den Wahlen an der Macht zu bleiben und sich dann mithilfe von Scheinwahlen zu legitimieren. Daran sind alle Vermittlungsbemühungen der internationalen Gemeinschaft gescheitert. Diese Wahlen sind aber keine Lösung für die Krise in Honduras; denn sie können nicht demokratisch sein, sie können kein legitimes Ergebnis hervorbringen. Die Pressefreiheit ist seit Monaten massiv eingeschränkt: Rundfunksender wurden besetzt, Journalisten und Gegner des Putsches verfolgt, bedroht, verprügelt, ermordet. Über 3 000 Menschen wurden seit dem Putsch festgenommen. Amnesty International spricht von exzessiver Gewaltanwendung gegenüber Demonstranten. Die Liberale Partei in Honduras ist gespalten. Ihr gehören sowohl Zelaya als auch Micheletti an. Vor der zweifelhaften Abstimmung im Kongress, die der Legitimierung des Putsches dienen sollte, wurden viele liberale Abgeordnete, die Zelaya treu geblieben waren, einfach ausgetauscht; ihnen wurde der Zugang zum Parlament verwehrt. Über 300 Kandidaten der Liberalen Partei haben aus Protest gegen den Putsch ihre Kandidatur zurückgezogen, ebenso der unabhängige Kandidat Carlos Reyes. Eine breite Widerstandsbewegung, der auch die Sozialdemokraten angehören, ruft zum Wahlboykott auf. Doch schon der Aufruf zum Wahlboykott ist strafbar und wird verfolgt; 530 Sonderstaatsanwälte wurden eingesetzt, um Verstöße gegen das Wahlgesetz zu ahnden. Ich bin sehr froh, dass die Europäische Union und die bisherige Bundesregierung den Putsch in Honduras scharf, klar und deutlich verurteilt haben und sich weigern, Wahlbeobachter zu entsenden; denn unter diesen Bedingungen kann es keine faire und demokratische Wahl geben, auch wenn am Wahltag keine Stimmzettel gefälscht werden sollten. ({1}) Wichtig ist jetzt aber, dass die Reihen geschlossen bleiben und das Ergebnis der Scheinwahlen am kommenden Sonntag auf keinen Fall anerkannt wird. Ich hoffe, dass die Position der bisherigen Bundesregierung jetzt nicht aufgegeben wird. Leider habe ich da Zweifel. Das liegt am haarsträubenden Agieren der Friedrich-Naumann-Stiftung. Wohl aufgrund einer engen Freundschaft zwischen dem Büroleiter der FriedrichNaumann-Stiftung in Tegucigalpa und dem jetzigen liberalen Präsidentschaftskandidaten Edwin Santos, einem Mitbetreiber des Putsches, bemühte sich die FriedrichNaumann-Stiftung schon zwei Tage nach dem Putsch, der erstaunten Öffentlichkeit zu erklären, dass sich die Vereinten Nationen, die Organisation Amerikanischer Staaten und die Europäische Union - schlicht die gesamte internationale Gemeinschaft - irren. Dieser Putsch sei gar kein Putsch gewesen, sondern die notwendige Verteidigung der Demokratie gegen einen Präsidenten, der einen Verfassungsbruch geplant habe. Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dringend bitten, auch auf die anderen Liberalen aus Honduras zu hören, die diesen Putsch verurteilen, auf den Botschafter in Berlin und auf den legitimen Vizepräsidenten von Honduras, der sich jetzt im Exil befindet und Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung ist. Ich hoffe sehr, dass der Kurs der Friedrich-NaumannStiftung noch korrigiert werden kann.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Hoppe, achten Sie bitte auf die Zeit.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ansonsten ist die Gefahr groß, dass die krasse Außenseiterposition der Friedrich-Naumann-Stiftung - gegen den Rest der Welt - zur Position des deutschen Außenministers wird. Das wäre fatal. Ich hoffe, dass es heute im Rahmen dieser Debatte eine Klarstellung der Position der Bundesregierung geben wird. Es muss Konsens unter Demokratinnen und Demokraten sein, einem Militärputsch eine klare Absage zu erteilen und Scheinwahlen nicht anzuerkennen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Erich Fritz. ({0})

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Hoppe, was Sie eingangs Ihrer Rede gesagt haben, ist, glaube ich, übereinstimmende Meinung dieses Hauses. ({0}) Sie haben richtig dargestellt, in welcher Weise die Bundesrepublik Deutschland durch ihre Regierung in dieser Frage agiert hat und dass wir das in großer Übereinstimmung mit unseren europäischen Partnern tun. Es kann keine Toleranz für die Außerkraftsetzung von Verfassungen und für die Beseitigung des Demokratieprinzips geben, auch nicht in Lateinamerika. ({1}) Ich muss hier jedoch sagen - das sei mir gestattet -, dass ich mir an einigen anderen Stellen, zum Beispiel im Vorfeld der Wahlen in Venezuela, manches klarstellende Wort gewünscht hätte. Denn auch dort wurden Wahlen unter nicht direkt vergleichbaren, aber doch nicht so unähnlichen Zuständen durchgeführt. ({2}) Seit fünf Monaten ist der Staatspräsident von Honduras, Zelaya, wie dargestellt, unrechtmäßig nicht mehr im Amt. Man kann nur bedauern, dass in einer Region, die wie kaum eine andere darauf angewiesen ist, Ruhe und Stabilität für die eigene Entwicklung zu gewinnen, jetzt eine so schwierige Situation entsteht, die das Volk auseinanderreißt, Entwicklungsfortschritte gefährdet und Perspektiven, die die Region hat, infrage stellt. Honduras ist ohnehin ein Land, das von den Krisenfolgen nicht unerheblich betroffen ist, und zwar auch deshalb, weil die Überweisungen der Arbeiter, die aus Honduras nach Nordamerika gegangen sind, ausbleiben; diese machen einen wesentlichen Teil des Bruttosozialprodukts von Honduras aus. Der Rückgang des Handels innerhalb der Region ist so dramatisch, dass neben den politischen Unruhen, neben der Instabilität, die im Land entsteht, jetzt auch noch erhebliche wirtschaftliche Nachteile zu verkraften sind. Dieses Land ist auf Integration angewiesen. In dem Zustand, in dem sich das Land jetzt mit einer unrechtmäßigen Regierung befindet, ist es von der Möglichkeit der Kooperation abgekoppelt. Deshalb ist es im Interesse des Landes selbst, zu demokratischen und rechtmäßigen Zuständen zurückzukehren. Die Bewertung ist international übrigens wesentlich einheitlicher als in Honduras selbst, was unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass es keine in unserem Sinne demokratische öffentliche Debatte über den Vorgang gegeben hat, sondern nur eine sehr eingeschränkte. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es all das gegeben hat, was zum Instrumentarium von Unrechtssystemen gehört, zum Beispiel Verhaftungen und Verbote in der Medienlandschaft. Die dauernden Unruhen in der Bevölkerung, zahlreiche Gewalttaten, Menschenrechtsverletzungen und das Verschwinden von Personen - diese Bilder haben wir aus anderen Regionen Lateinamerikas noch gut in Erinnerung - bewirken einen Zustand, in dem Versöhnung und Neuanfang in einer demokratischen Ordnung fast unmöglich werden. Deshalb ist es jetzt wichtig, darüber nachzudenken, wie man mit dem, was am Sonntag im Land vermutlich geschieht, umgeht. Das, was man im Vorfeld der Wahlen beobachtet, das Ausscheiden von Kandidaten per Zwang, eingeschränkte Medienberichterstattung und Versammlungsverbote, rechtfertigt als logische Konsequenz durchaus die Überlegung: Kann man eine solche Wahl überhaupt als ordnungsgemäße Wahl darstellen und bewerten? Wenn man sich darauf festlegt, dann muss man aber auch wissen, was anschließend geschieht. Das heißt nämlich, der gegenwärtige Zustand wird auf jeden Fall fortgesetzt. Das heißt auch, dass sich die innenpolitischen Fronten in Honduras weiter verhärten werden und dass die Mittel nicht zivilisierter, sondern eher noch gewalttätiger werden. Deshalb bitte ich darum, die eine oder andere Bewertung zurückzustellen, bis diese Wahlen zu Ende sind, die übrigens noch zu Zeiten ordnungsgemäßer, verfassungsmäßiger Zustände vorbereitet und in Gang gesetzt worden sind. ({3}) Freilich, was auf dieser Strecke geschehen ist, widerspricht einer einfachen Beurteilung nach dem Motto: Dort ist alles in Ordnung. - Das ist es nicht. Der Kollege Hoppe hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Vermittlungsbemühungen gescheitert sind, dass alle Aufrufe, Appelle und Resolutionen, die die Bundesregierung in den VN und in der Europäischen Union unterstützt hat, nicht zu einer Veränderung des Verhaltens geführt haben, was die Möglichkeit eröffnet hätte, die Wahlen zu einem wirklichen Neustart zu machen und auch für den Übergang einen Zustand zu erreichen, in dem sich keine Seite Vorteile verschaffen bzw. durch illegitime Maßnahmen einen Zustand herbeiführen kann, der durch Wahlen nicht mehr veränderbar ist. Sie haben es begrüßt, dass es keine Wahlbeobachter gibt. Wie wir wissen, wird es doch Wahlbeobachter geben, weil zwei wichtige nationale Organisationen diese Wahl aufmerksam beobachten werden und weil internationale NGOs - zu ihnen gehört die Konrad-AdenauerStiftung; zu ihnen gehören sicherlich aber auch die anderen Stiftungen -, die mit ihnen zusammenarbeiten, uns weit über das Medienbild hinaus, das uns vermittelt wird, informieren werden, wie die Wahl abgelaufen ist und ob demokratische Mindeststandards in der jetzigen Situation überhaupt eingehalten werden. Ich denke, dann wird man sich darauf verständigen müssen, dass die Europäische Union eine gemeinsame Bewertung vornimmt. Herr Kollege, Sie haben dargestellt, dass die Bundesregierung das Vorgehen der Putschisten von Anfang an missbilligt hat und dass sie im Einklang mit der internationalen Gemeinschaft die Rückkehr zu einer verfassungsgemäßen Situation noch vor den Wahlen verlangt hat. Das ist nicht geschehen, wäre aber die beste Voraussetzung gewesen, eine friedliche Versöhnungspolitik in Gang zu setzen. Wir haben darüber hinaus, immer im Einklang mit der Europäischen Union und den internationalen Partnern, alles getan, was geeignet war, den Druck zu erhöhen. Wir haben die Handelsgespräche ausgesetzt. Wir haben die Entwicklungszusammenarbeit auf das konzentriert, was die Menschen unmittelbar betrifft. All das haben auch Sie zustimmend zur Kenntnis genommen. Was bleibt eigentlich als Konflikt? Als Konflikt bleibt für mich der Umgang mit der Friedrich-Naumann-Stiftung. Es mag eine falsche Bewertung vorgelegen haben. Wir haben die Stiftungen aber nie als verlängerten Arm deutscher Außenpolitik betrachtet und deren Verhalten nie als Spiegel der Regierungspolitik angesehen. Jeder weiß, dass Stiftungen unabhängig agieren. Dadurch haben wir den Vorteil, auch Zugang zu politischen Kräften zu bekommen, mit denen man nicht gerade in großer Freundschaft verbunden ist. Deshalb halte ich die Bewertung, zu der Sie in Ihren beiden Anträgen kommen, für überzogen und nicht angemessen. ({4}) - Wenn sie auch falsch ist, dann kann die FDP dazu etwas sagen. Ich hätte mich gefreut, wenn es zur Zukunft Honduras’ eine übereinstimmende Position des Deutschen Bundestages gegeben hätte und wenn der ernsthafte Versuch unternommen worden wäre, im Auswärtigen Ausschuss einen gemeinsam Antrag zustande zu bringen. Dieser Versuch ist, vielleicht aus guten Gründen, nicht unternommen worden. Deshalb bleibt ein wenig der Beigeschmack, es handele sich eher um eine Auseinandersetzung mit der FDP als um eine Auseinandersetzung mit der Lage in Honduras; das bedaure ich sehr. Ansonsten ist dadurch klar, dass wir die Anträge ablehnen können was aber nicht heißt, dass wir an einer gemeinsamen Position nicht weiter arbeiten könnten. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Fritz, gestatten Sie eine Frage des Kollegen Hoppe?

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Hoppe.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Fritz, auf die Friedrich-Naumann-Stiftung will ich jetzt nicht näher eingehen. Ich teile Ihre Analyse, dass der Prozess der Vorbereitung der Wahl nicht nach demokratischen Regeln abgelaufen ist. Wenn diese Wahl jetzt unter indirekter Ausschaltung vieler oppositioneller Kräfte durchgeführt wird, geht dann nicht die Taktik der Putschisten, das auszusitzen, bis zum Wahltag durchzuhalten und sich durch Scheinwahlen legitimieren zu lassen, auf? Geben Sie mir da recht? Wäre es nicht sinnvoller und wäre es nicht auch die logische Konsequenz Ihrer Analyse, darauf zu drängen, dass die Wahl verschoben wird und unter Beobachtung durch die internationale Gemeinschaft faire Bedingungen für alle Akteure hergestellt werden?

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Wünschenswerte und das Durchsetzbare sind auch in diesem Fall leider nicht das Gleiche, Herr Kollege. Deshalb bitte ich darum, dass wir uns bis Sonntag Zeit nehmen; dann können wir den Wahlverlauf und das Zustandekommen des Wahlergebnisses beurteilen. Die Leute beobachten das jetzt aufmerksam im Lande, besser, als wir das von hier aus können. Lassen Sie uns dann gemeinsam eine Bewertung vornehmen. Von vornherein zu sagen: „Es gibt keine Chance, diesen Wahlakt - der durchaus nicht nur undemokratische Elemente enthält - als Schritt hin zu einer Lösung zu betrachten“, das ist zu wenig. ({0}) Natürlich können wir auch nicht sagen, dass die Probleme gelöst sind, weil irgendwie gewählt worden ist; auch darin sind wir uns einig. Wir sollten uns nicht im Vorfeld festlegen und dadurch dazu beitragen, dass eine aus dem Ergebnis unter Umständen erwachsende Chance für ein neues Gespräch der heute verfeindeten - oder wie auch immer man das bezeichnen will - Gruppen vertan wird. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Klaus Barthel das Wort. ({0})

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, ganz unabhängig davon, was nachher noch über die handelnden Personen und die politischen Hintergründe der Vorgänge in Honduras gesagt wird, muss man zunächst einmal feststellen: Ein Putsch bleibt ein Putsch und ist zu verurteilen. Für einen Putsch kann es keine Rechtfertigung geben. ({0}) Auch dafür - darüber dürfen wir nicht hinweggehen -, dass in Honduras die Menschen- und Bürgerrechte verletzt werden, kann es keine Rechtfertigung geben. Die neue Bundesregierung sollte sich deswegen in die Kontinuität ihrer Vorgängerin stellen. Ich will daran erinnern, dass Außenminister Steinmeier am 29. Juni deutlich gemacht hat, dass die Bundesrepublik Deutschland den Putsch verurteilt, dass wir fordern, dass zu Recht und Gesetz zurückgekehrt wird, dass die Entwicklungszusammenarbeit eingefroren wird, dass es für uns keine Zusammenarbeit mit den Putschisten, mit der jetzigen Regierung, gibt und dass es einen europäischen Konsens darüber gibt, die Botschafter abzuziehen. Schwarz-Gelb - da bin ich gespannt, was noch kommt - hat noch Klärungsbedarf bei allem, was Herr Fritz hier gesagt hat. Die Friedrich-Naumann-Stiftung ist nicht irgendwer: Ihre führenden Vertreter sitzen hier im Deutschen Bundestag, sogar in der Bundesregierung. Auf Veranstaltungen der Friedrich-Naumann-Stiftung wurde dieser Putsch verharmlost und gerechtfertigt. Anhänger des Putsches wurden nach Deutschland eingeladen und nach Strich und Faden hofiert. Verantwortlich dafür sind unter anderem Westerwelles Vorgänger MdB Dr. Gerhardt - heute scheinbar nicht anwesend - und der jetzige Staatsminister im Auswärtigen Amt Dr. Hoyer offensichtlich auch nicht anwesend. Bis heute haben wir zu diesen skandalösen Vorgängen noch kein Dementi der Bürgerrechtspartei FDP gehört. ({1}) Ich muss schon sagen, meine erste Assoziation war: Mich erinnert das Ganze an die 70er-Jahre und an die Zeit davor, als Unionspolitiker, vor allen Dingen aus der CSU, engste Kontakte zu den Putschisten und Rechtsdiktatoren in Lateinamerika unterhalten und demonstrativ gepflegt haben, in Chile, in den Fußballstadien, waren, es dort ganz angenehm gefunden haben usw. Ich dachte eigentlich, diese Zeiten sind vorbei. ({2}) Viele Kommentatoren Lateinamerikas haben festgestellt: Das, was dort passiert ist, war ein Rückschlag - 30 Jahre zurück. Wir haben eine Phase erlebt, in der die Demokratie gestärkt wurde. Die Putsche waren beendet. In Honduras gab es in den 150 Jahren seit der Unabhängigkeit dieses Landes immerhin 125 Militärputsche. Zu einer Stabilisierung kam es erst im Laufe der 80er-Jahre. Jetzt erleben wir eine neue Polarisierung und eine neue Brutalisierung in diesem Land, einem der ärmsten Länder dieses Kontinents mit 70 Prozent Armut, mit 45 Prozent extremer Armut, mit einer Herrschaft von Cliquen und mit einer Durchdringung aller Lebensbereiche durch die beiden dominierenden Parteien. Wir sehen jetzt wieder - der Spitzenkandidat einer dieser beiden Parteien ist Großgrundbesitzer, der andere ist Baulöwe -, wie es dort sozial und politisch weitergeht. Wir sehen, dass Honduras tiefgreifende Reformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft braucht, dass es in dieser Gesellschaft endlich eine Konsensbildung statt Polarisierung geben muss, dass die politische Apathie überwunden werden muss und dass eine regionale Lösung nötig ist, zum Beispiel auch durch die OAS. Durch die Verurteilung des Putsches und den Umgang mit dieser Situation in den gemeinsamen Reaktionen hat es jetzt zunächst einmal große Fortschritte gegeben. Jetzt komme ich zu den Anträgen. Je mehr man sich damit beschäftigt, desto komplizierter stellt sich die Situation dar. Ich glaube, mit den Anträgen wird keine wirkliche Lösung geliefert. Was soll es eigentlich bringen, jetzt, drei Tage vor der Wahl, die Rückkehr von Zelaya zu fordern? Wem soll das nützen? Er selber hat ja auch darauf verzichtet. Deswegen macht es keinen Sinn, heute hier so einem Antrag zuzustimmen. Was würde seine Rückkehr bis zum Januar 2010 bringen? Der neue Präsident und das neue Parlament sollen schon in drei Tagen, am 29. November, gewählt werden. Wollen wir wirklich das alte Parlament übergehen, in dessen Verantwortung er, Zelaya, sich ja selbst begeben hat und dessen Entscheidung am kommenden Mittwoch, also heute in sechs Tagen, ansteht? Wollen wir damit das Abkommen von San José, das Sie in Ihrem Antrag würdigen, einfach übergehen? Wie geht es nach der Anerkennung oder auch nach der Nichtanerkennung der Wahl am kommenden Sonntag eigentlich weiter? Darauf wird in keinem der beiden Anträge eine Antwort gegeben. ({3}) - Vorsicht mit dem Beifall von der FDP. ({4}) Wichtiger ist es, dass die Bundesregierung ihre Haltung einmal klärt. Die FDP ist mit ihrer FriedrichNaumann-Stiftung nämlich immerhin die Partei des Außenministers, und die hat sich in dieser Frage doch völlig vergaloppiert. Zunächst, 2005, hat man Zelaya unterstützt, obwohl man jetzt im Nachhinein erklärt, schon 2004 habe er sich von Herrn Chávez sponsern lassen. Zuerst hat man bestritten, dass es ein Putsch war. Immerhin schrieb der jetzige Staatsminister Hoyer: „Von einem ,Militärputsch‘, der keiner war“. - Das heißt, er hat bestritten, dass es ein Putsch war - siehe Die Welt, 3. Juli 2009. Ich kann nur sagen: Wenn er sich davon nicht distanziert - heute ist er ja nicht da -, dann ist er an verantwortlicher Stelle für die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland eigentlich nicht mehr tragbar. Dann muss die Bundesregierung die Konsequenzen daraus ziehen. ({5}) Inzwischen rudert die Friedrich-Naumann-Stiftung ja sogar zurück. Herr Lüth hat inzwischen wörtlich erklärt - auch das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen; es ging um den Militärputsch -: „So glatt, wie es am Anfang aussah, ist es nicht gelaufen“. - Das sagte er jetzt im November, da die Herrschaften regieren. Er fordert jetzt wieder die Einsetzung von Zelaya; denn sonst könne man die Wahlen vergessen. Was gilt denn jetzt eigentlich für die Partei, die den Außenminister stellt? Bleibt es jetzt bei der Position der alten Bundesregierung, bleibt es bei der Position vom Juli, oder bleibt es bei der jetzigen Position vom November? Wir sind sehr gespannt, etwas dazu zu hören.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Barthel, achten Sie bitte auf die Zeit.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. - Die beiden Anträge sind in vielen Punkten unterstützenswert, aber sie sind vereinfacht und überholt. Sie bieten auch keine Lösung für die verfahrene Situation. Deswegen werden wir von der SPD uns zu beiden Anträgen enthalten. Ich befürchte aber, dass wir uns mit Honduras noch öfter beschäftigen müssen. Das sollten wir aber bitte etwas gründlicher, differenzierter und lösungsorientierter tun. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Rainer Stinner das Wort. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es gibt in Südamerika leider seit Jahren und Jahrzehnten zwei unselige Traditionen. Die eine Tradition ist die der Militärputsche, die wir alle verurteilen und verdammen. Es hat sich aber leider in den letzten Jahren eine zweite unselige Tradition eingestellt, nämlich dass ursprünglich demokratisch gewählte und demokratisch legitimierte Präsidenten plötzlich in der Zeitdauer ihrer Präsidentschaft entdecken, dass es schön ist, Präsident zu sein, und deshalb durch nachhaltigen Verfassungsbruch versuchen, an der Macht zu bleiben. Auch das ist in Südamerika heutzutage gang und gäbe. ({0}) Auch bei dieser zweiten unseligen Tradition müssen wir genauer hinschauen, als Sie es getan haben, Herr Kollege von den Grünen. Was ist in Honduras geschehen, und was ist zu tun? Die beiden Antragsteller lassen die Verfassungskrise am 28. Juni beginnen, und sie fordern im Prinzip heute noch - im November 2009 - eine Wiederherstellung des Status quo ante, der vorherigen Situation. ({1}) Nachdem die erste Voraussetzung falsch war, ist die Folgerung auch falsch. Die Verfassungskrise hat eben nicht am 28. Juni begonnen. Ich sage ganz deutlich, Herr Barthel, meine Kolleginnen und Kollegen: Die Abschiebung Zelayas nach Costa Rica war widerrechtlich. Sie verstieß gegen die Verfassung, und wir verurteilen die Abschiebung des Präsidenten Zelaya nach Costa Rica. Das ist eine klare Aussage. ({2}) Dabei dürfen wir aber nicht stehen bleiben. Wir müssen zunächst fragen, was vor dem 28. Juni geschehen ist. Noch wichtiger - deshalb habe ich bei der Rede des Kollegen von der SPD geklatscht, die Anträge weisen auf keinerlei Zukunftsvisionen hin - ist die Frage, was wir in Zukunft machen müssen. Nach unserer Einschätzung - wir kennen die beiden Protagonisten Zelaya und Micheletti durch die Stiftung besser als viele andere haftet keinem der beiden ein politischer Heiligenschein an. Das muss man sehr deutlich feststellen, und damit müssen wir auch umgehen. Zelaya hat unbestritten vor dem 28. Juni gegen die Verfassung verstoßen. Er wollte mithilfe einer verfassungswidrigen Volksbefragung eine verfassungswidrige Wiederwahl möglich machen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Stinner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel?

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Im Moment nicht. Ich würde gerne noch ein bisschen weiterreden. - Er ließ verlauten - ich zitiere wörtlich -, dass er „die Gabe Gottes, mit dem Volk zu sprechen, sich nicht von einigen Abgeordneten verbieten lassen werde“. Stellen Sie sich bitte einmal vor, Bundespräsident Köhler würde in Deutschland sagen, die Gabe Gottes würde er sich von solchen Abgeordneten wie Herrn Barthel nicht verbieten lassen. Das kann doch wohl nicht wahr sein. ({0}) Dass die Linken an solchen Verfassungsbrüchen nichts auszusetzen haben, verwundert mich nicht. ({1}) Denn bei ihren Freunden und Kollegen Chávez und Ortega ist das an der Tagesordnung. Nochmals: Die Verfassungsbrüche Zelayas rechtfertigen nicht seine Abschiebung ins Ausland. Er hätte nach rechtsstaatlichen Grundsätzen im Land Honduras vor Gericht gestellt werden müssen. ({2}) Das ist nicht passiert, und das verurteilen wir. Aber Sie alle haben eines nicht gesagt: Vor dem 28. Juni hat es einen langmonatigen Prozess gegeben, in dem das oberste Verfassungsgericht und das Parlament eingeschaltet waren und der Präsident angeklagt war. Ihm ist widersprochen worden, und ihm wurde verboten, das zu tun, was er gemacht hat, weil er damit gegen die Verfassung verstoßen hat. Das nehmen Sie nicht zur Kenntnis, und von daher kommen Sie automatisch zu falschen Schlüssen. ({3}) Deshalb sind Reflexion und differenzierte Betrachtung nötig. Die üblichen Empörungsreflexe sind verständlich. Ich will gar nicht beschönigen, was dort passiert. Ich bin weit davon entfernt. ({4}) - Nein, das tue ich nicht. Ich habe deutlich gesagt, dass wir diese Abschiebung verurteilen; denn sie ist verfassungswidrig. Sie sind nicht in der Lage, zu erkennen, dass die Basis für die Ursachen vorher gelegt wurde; damit will ich nichts beschönigen. Aber das ist für die Linken nichts Ungewöhnliches. Sie verlieren zum Beispiel zu Nicaragua kein kritisches Wort und legen hier eine undifferenzierte Betrachtungsweise an den Tag. Beide Antragsteller fordern - wenn auch unterschiedlich scharf -, das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in Honduras am nächsten Sonntag nicht anzuerkennen. Dabei übersehen Sie völlig, was der Kollege Fritz gesagt hat, nämlich dass die Vorbereitungen dieser Wahl längst vor dem 28. Juni begonnen haben

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Stinner, es gibt einen weiteren Fragewunsch, diesmal von der Kollegin Dağdelen.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- im Augenblick nicht - und dass es sowohl bei der Auswahl der Kandidaten als auch bei der Terminierung vernünftig zugegangen ist. Nun gibt es Probleme; das will ich gar nicht bestreiten. Aber die FDP bedauert im Gegensatz zu Ihnen sehr nachdrücklich, dass es keine internationalen Wahlbeobachter in diesem Land gibt. Sie sagen: Weil der Wahlprozess zweifelhaft ist, schicken wir erst gar keine Wahlbeobachter hin. - Wenn wir uns Ihre Auffassung zu eigen machten, dann könnten wir unsere Wahlbeobachter aus drei Viertel der Länder nach Hause holen. Schließlich geht es bei sehr vielen Wahlen in der Welt fragwürdig zu. Aber genau deshalb schicken wir unsere Beobachter dorthin. Es wäre richtig gewesen, das auch in diesem Fall zu tun. ({0}) Herr Barthel, ich habe Ihnen zugestimmt und während Ihrer Rede Beifall gezollt, weil Sie deutlich gemacht haben - das ist noch bedeutsamer -, dass die Verfasser der Anträge keinen Weg in die Zukunft weisen. Wir müssen jedoch ein Interesse daran haben, dass Honduras möglichst schnell wieder eine legitime Regierung bekommt. Deshalb schlagen wir von der FDP das genaue Gegenteil von dem vor, was die beiden Antragsteller fordern. Wir wollen zuerst die Wahlen abwarten, die in drei Tagen stattfinden - es geht nicht um ein Jahr, sondern um drei Tage -, und dann gemeinsam bewerten, wie die Wahlen verlaufen sind. Danach können wir darüber nachdenken, wie wir vorgehen wollen. Alles andere ist völlig unverantwortlich, wenn wir ein Interesse an der Verbesserung der Situation in diesem Land haben. Sie sind auf Details gar nicht eingegangen. Besonders kritisch ist zum Beispiel die Übergangszeit zwischen der Wahl am 29. November 2009 und der Vereidigung des neuen Präsidenten am 27. Januar 2010. Was soll in diesem Zeitraum geschehen? Es gibt verschiedene Vorschläge. Wir machen uns keinen Vorschlag zu eigen. Die einen sagen: Zelaya muss wiederkommen. Die anderen sagen: Micheletti muss kommen. - Das ist aber nicht unser Bier. Wir hängen nicht aus dogmatischen Gründen an irgendeinem Namen. Wir wollen nur, dass diese Periode in Honduras möglichst friedlich zu Ende geht. Deshalb meinen wir, dass entsprechende Vorschläge aus dem Land selber kommen sollen. Zum Abschluss ein kurzer Satz zum Verhalten deutscher politischer Stiftungen im Ausland. Ich gebe zu: Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat etwas differenzierter als andere hingeschaut. Das machen Liberale nun einmal so. ({1}) Niemand von Ihnen, meine Damen und Herren, hat auf die Zeit vor dem 28. Juni geschaut. Wir haben das mithilfe unserer Stiftung getan. Ich könnte Ihnen das Protokoll darüber geben, was vorher passiert ist.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Stinner, Sie haben Ihre Redezeit jetzt tatsächlich überschritten. Aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Es gibt die Meldung zu einer Kurzintervention und damit die Chance, darauf zu reagieren. Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist außerordentlich erfreulich, Frau Präsidentin; denn ich möchte noch auf viele interessante Punkte hinweisen. Vielen Dank bis hierher. Wir sehen uns gleich wieder. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Dağdelen das Wort.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr geehrter Herr Kollege Stinner, da Sie mir und meiner Kollegin Frau Hänsel, die anschließend reden wird, nicht die Möglichkeit gegeben haben, eine Zwischenfrage zu stellen, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu einer Kurzintervention zu melden. Sie haben am Ende Ihrer Rede gesagt, dass die Friedrich-Naumann-Stiftung differenzierter als andere - die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, die Vereinten Nationen und viele Staaten - das Ganze betrachtet und klarer und deutlicher verurteilt hat, was in Honduras geschehen ist. Daher möchte ich Sie bitten, Herr Stinner, auf folgende Frage klar und kurz zu antworten: Verurteilen Sie das, was in Honduras geschehen ist, und bezeichnen Sie es als Putsch oder nicht?

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, ich bin immer sehr gerne bereit, meine Rede für Sie zu wiederholen. ({0}) Ich habe in meiner Rede zweimal sehr deutlich gesagt, dass die Ausweisung und die Verbringung von Herrn Zelaya verfassungswidrig und rechtswidrig waren und dass wir sie verurteilen. Das habe ich in meiner Rede zweimal deutlich gesagt. ({1}) - Das kann man selbstverständlich auch als Putsch bezeichnen. Ich habe die Widerrechtlichkeit dieses Aktes deutlich gemacht und dazu Stellung genommen. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zwiegespräche gibt es allerdings mit diesem Instrument der Geschäftsordnung nicht. ({0}) Es gibt aber eine Kurzintervention des Kollegen Hoppe, die Ihnen die Chance gibt, noch einmal zu antworten. Das ist dann auch die letzte Kurzintervention, die ich zu diesem Beitrag zulasse. - Bitte.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Stinner, ist Ihnen bewusst, dass eine große Gruppe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Volontären und ehemaligen Stipendiaten der FriedrichNaumann-Stiftung einen langen Brief geschrieben hat, in dem sie gegen den Kurs der Naumann-Stiftung in dieser Frage protestiert und sich davon distanziert? In dem Brief wird auch die FDP aufgerufen, eine andere Haltung einzunehmen. Haben Sie mit dem Botschafter, der der Liberalen Partei angehört, und beispielsweise mit dem legitimen Vizepräsidenten von Honduras, der sich im Exil befindet und auch der Liberalen Partei angehört, überhaupt gesprochen?

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege, ich persönlich habe nicht mit dem Herrn Botschafter gesprochen. Ich habe aber sehr deutlich gemacht, worauf es uns ankommt, nämlich darauf, Wege aufzuzeigen, um die verfahrene Situation in diesem geschundenen Land zu befrieden und es nach vorne zu bringen. ({0}) Sehr geehrter Kollege, ich habe deutlich gemacht, dass in den Anträgen, die Ihre Fraktion und Ihre verehrten Kollegen der Linken gestellt haben, nicht ein vernünftiger Ausweg für die Zukunft definiert worden ist. Uns kommt es darauf an, dass die Verfassungskrise in Honduras nachhaltig beendet wird, damit man dort zu einer demokratischen bzw. möglichst demokratischen Situation zurückkehrt. Dafür sollten wir uns einsetzen. Wir sollten abwarten, was die Wahlen bringen. Wir werden dann beurteilen müssen, wie sie gelaufen sind, um anschließend gemeinsam mit der Europäischen Union und anderen Partnern wie den Vereinigten Staaten zu beurteilen, wie wir diesem Land am besten helfen können, damit es eine gute Zukunft hat. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Heike Hänsel das Wort. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Stinner, ich muss Ihnen wirklich sagen: Das, was Sie hier gerade ausgeführt haben, lässt bezüglich des Demokratieverständnisses der FDP tief blicken. ({0}) Es ist überfällig, dass einer Ihrer Minister - ich begrüße Sie, Herr Westerwelle - eine Stellungnahme zu diesem Vorfall abgibt. Ich habe schon einmal angemahnt, dass es keine Stellungnahme von Minister Westerwelle oder Minister Niebel zu diesem Vorfall oder auch der jetzt wieder bestätigten Einschätzung des Putsches in Honduras gibt. Das ist in meinen Augen ein Skandal. Da ist eine Stellungnahme Ihrerseits überfällig. ({1}) Herr Stinner, Sie haben den Vorgang wiederholt falsch dargestellt; die Friedrich-Naumann-Stiftung tut dies auch ständig. Es gibt und gab keine Verfassungskrise in Honduras. Präsident Zelaya wollte eine Volksbefragung durchführen, die per Gesetz möglich ist. Es wur478 den 400 000 Unterschriften gesammelt. Damit war das Quorum erfüllt, um eine Volksbefragung durchzuführen. Diese sollte dann darüber befinden, ob das Parlament über eine Abstimmung für eine verfassungsgebende Versammlung debattiert und ob zu den Wahlen eine weitere Urne aufgestellt werden soll. Das heißt, er hat sich also für Volksdemokratie und Volksmitbestimmung eingesetzt. Sie allerdings verurteilen, dass hier eine direkte Mitbestimmung organisiert werden soll. ({2}) Das ist ein absolutes Unding. Das war rechtmäßig. Hier fordern Sie, dass wir Referenden und mehr direkte Demokratie brauchen. Das können Sie vergessen, wenn Sie es schon Honduras nicht zugestehen wollen. ({3}) Man muss sich das einfach noch einmal vorstellen: Hier wird ein legitimierter Präsident, ein demokratisch gewählter Präsident entführt. Sie sprechen immer von einer Ausweisung. Er wurde in einer Nacht-und-NebelAktion entführt, sitzt jetzt seit Wochen in der brasilianischen Botschaft und wartet darauf, dass er wieder in seine rechtmäßige Position eingesetzt wird. Aber die Friedrich-Naumann-Stiftung vor Ort unterstützt auch noch die Putschisten und spricht davon, dass es eine Legende sei, überhaupt von einem Putsch zu reden. Nicht nur die Friedrich-Naumann-Stiftung vor Ort tut das, auch Herr Gerhardt zum Beispiel hat Zelaya die moralische Autorität abgesprochen. Wo gibt es denn so etwas? Auch dazu hätte ich gerne eine Stellungnahme von Ihnen, Herr Gerhardt. Wie kommen Sie überhaupt zu so einer Beurteilung? Das steht Ihnen überhaupt nicht zu. ({4}) Herr Hoppe hat dankenswerterweise den Brief der Exstipendiaten der Friedrich-Naumann-Stiftung erwähnt. Ich möchte Ihnen daraus zwei Sätze vorlesen. ({5}) Ich zitiere: Wo sind die Menschenrechte, welche die FriedrichNaumann-Stiftung zu verteidigen behauptet, während sie sich in Honduras auf eine Verschwörung mit den Putschisten einlässt ({6}) und ihnen - entgegen der Position der Mitgliedsstaaten der UNO, der Organisation Amerikanischer Staaten und der Europäischen Union - Hilfe angedeihen lässt? … Wir wissen nicht, wie es in Deutschland aufgefasst wird, dass die Fonds der Stiftung unter anderem dafür verwendet werden, eine Reise von Putschisten und Menschenrechtsverletzern nach Europa zu finanzieren oder einen Wahlprozess in Honduras zu unterstützen, der die wahrhaftige Ausübung der demokratischen Rechte nicht garantiert. Das sind klare Worte. ({7}) Das steht im Einklang mit unseren Anträgen, Herr Barthel. Wir haben die Forderung der Demokratiebewegung in Honduras aufgegriffen, die ständig E-Mails schickt und sehr in Bedrängnis ist. Jetzt erst wurde wieder ein Anführer der Demokratiebewegung, ein 56-jähriger Lehrer, ermordet. Die Demokratiebewegung braucht dringend unsere Solidarität. Sie fordert ganz klar die Nichtanerkennung dieser Wahlen. Wir brauchen Zeit, um neue Wahlen durchführen zu können. Dann muss man sehen, ob sie unter dem Präsidenten Zelaya durchgeführt werden, was immer noch möglich wäre, oder ob man einen anderen Vorschlag macht und sie unter der Kontrolle der Vereinten Nationen durchführt. Was aber nicht geht - da sind Sie, Herr Barthel, inkonsequent -, ist, zu sagen: Eigentlich sind die Zustände katastrophal, man darf nicht zum Wahlboykott aufrufen, Menschen, die gegen diese Wahl sind, werden systematisch verfolgt. - Die Armee ist mit der Durchführung der Wahlen beauftragt worden. All das sind unrechtmäßige Zustände. Gleichzeitig aber sagen Sie: Man muss einmal sehen, was dabei herauskommt, wir können uns aber nicht entschließen, diese Wahlen nicht anzuerkennen. Es ist ganz klar: Es können keine demokratischen Wahlen unter diesen Bedingungen stattfinden. Hier sind alle aufgerufen, deswegen diese Wahlen nicht anzuerkennen. ({8}) Zum Schluss möchte ich sagen: Es ist wichtig, dass auch die Bundesregierung Stellung bezieht. Ich wundere mich, dass sie sich auf EU-Ebene, zum Beispiel beim Ratstreffen, dafür ausgesprochen hat, dass es bezüglich des Ausgangs der Wahlen keine Vorfestlegungen geben soll. So hat der Verhandlungsführer der Bundesregierung auf Ratsebene argumentiert. Ich hätte gerne einmal eine Stellungnahme der Bundesregierung, wie sie denn dazu kommt, dass sie jetzt die Europäische Union dazu antreibt, keine Vorfestlegungen bezüglich der Bewertung der Wahlen durchzuführen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Hänsel, kommen Sie bitte zum Schluss.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja. - Ich setze mich dafür ein, dass wir diese Wahlen insgesamt nicht anerkennen und dass wir damit die deutliche Botschaft in die Welt, nach Lateinamerika und nach Honduras aussenden: Die Zeit der Militärputsche in Lateinamerika muss vorbei sein. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Stinner das Wort.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Sehr verehrte Kollegin, ich sage es jetzt zum vierten Mal - ich habe es zweimal in der Rede gesagt, ich habe es auf Nachfrage Ihrer Kollegin gesagt, und ich sage es Ihnen noch einmal -: Ich habe im Namen meiner Fraktion das Vorgehen gegen Herrn Zelaya verurteilt. ({0}) Aber ich sage Ihnen sehr deutlich: Sie machen wiederum etwas, was ich bei Ihnen schon vorhin kritisiert habe: Sie nehmen die Fakten nicht zur Kenntnis. FFP - faktenfreie Politik. ({1}) Ich lese Ihnen einmal etwas vor: Am 24. März, über drei Monate vor dem Datum im Juni, hat Herr Zelaya ein Referendum angekündigt, und zwar ein Referendum auch über nichtreformierbare Artikel der Verfassung. Der Oberste Staatsanwalt - nicht das Militär, kein General hat am 25. März eine Presseerklärung herausgegeben, in der er davor warnt, dass die angeordnete Volksbefragung einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standhalte. Am 8. Mai leitete der Oberste Staatsanwalt des Staates Honduras ein Strafverfahren gegen die Exekutive aufgrund des fragwürdigen Dekrets dieser Regierung ein. Am 20. Mai wies der Parlamentspräsident darauf hin, dass ein solches Referendum nicht verfassungskonform ist. Am 27. Mai erklärte der Oberste Gerichtshof das Präsidialdekret, bei dem es um das Referendum ging, aufgrund von Verfahrensfehlern für unwirksam. Ich überschlage einige weitere Daten, weil Sie sich sowieso nicht alles merken können. ({2}) Irgendwann bemächtigte sich Herr Zelaya widerrechtlich der Wahlurnen und machte den Spruch, auf den ich eben hingewiesen habe. Außerdem gibt es die Aussage, dass Herr Zelaya vor dem Obersten Gerichtshof angeklagt wird. Das alles sind Dinge, die vor dem Putsch geschehen sind. Nochmals, sehr verehrte Kollegin Hänsel: Das entschuldigt nicht das, was mit Herrn Zelaya passiert ist; aber es ist nun einmal der Vorlauf. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Noch einmal: Sie weisen keinen Weg in die Zukunft. Es geht uns um die Zukunft dieses Landes. Nur zu sagen: „Wir erkennen nichts an; wir machen so weiter; wir stürzen das Land ins Chaos“, kann keine Lösung sein. Auch wir als Deutsche müssen unsere Verantwortung konstruktiv wahrnehmen. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Hänsel.

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Stinner, was die Fakten angeht, empfehle ich Ihnen, gleich im Anschluss an diese Sitzung ein Gespräch mit dem honduranischen Botschafter zu führen. Das wäre vielleicht überfällig; schließlich ist er hier, und Sie haben ihn bisher noch kein einziges Mal getroffen. ({0}) Zunächst sollte man sich aus erster Hand informieren und nicht immer nur über die interpretierenden Meinungsträger der Friedrich-Naumann-Stiftung. Darüber hinaus möchte ich sagen: Es stimmt einfach nicht, dass Zelaya ein Referendum durchgeführt hat; ein Referendum hat nämlich bindende Wirkung. Zelaya hat eine Volksbefragung durchführen wollen, deren Ergebnis keine bindende Wirkung hat. Ihr Ergebnis sollte vielmehr eine Empfehlung an das Parlament sein, sich mit der Frage eines Referendums überhaupt erst einmal zu befassen. Das ist ein grundlegender Unterschied, und ich hoffe, dass Sie als Parlamentarier diesen Unterschied erkennen. ({1}) Sie haben vorhin behauptet, es sei um die Wiederwahl von Zelaya gegangen. Das stimmt ebenfalls nicht. Erst jetzt hätte man die Wahlurnen aufstellen können, um über eine verfassunggebende Versammlung abzustimmen. Zelaya hätte sowieso nicht die Möglichkeit gehabt, noch einmal anzutreten, da er nur eine Wahlperiode amtieren darf. Insofern verbreiten Sie hier nichts als Propaganda; auch die Friedrich-Naumann-Stiftung streut ständig dergleichen. Ich hoffe auf ein sehr erhellendes Gespräch zwischen Ihnen und dem honduranischen Botschafter. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Anette Hübinger das Wort. ({0})

Anette Hübinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An der heutigen Debatte, die teilweise sehr emotional geführt wird, hat man gesehen, dass Honduras in einer der schwersten Krisen seiner Geschichte steckt. Der Höhepunkt war - auch das muss man wiederholen ein rechtswidriger Putsch am 28. Juni. Seit dieser Zeit geht ein tiefer Riss durch dieses Land: auf der einen Seite die Anhänger des Interimspräsidenten Micheletti und auf der anderen Seite die Anhänger des gestürzten Präsidenten Zelaya. Noch einmal: Die De-facto-Regierung unter Micheletti wurde nach dem Putsch vom honduranischen Kongress eingesetzt und wird auch vom obersten Gericht und der Armee getragen. Sie ist jedoch nicht durch eine demokratische Wahl legitimiert. Deshalb hat Deutschland gemeinsam mit den Mitgliedstaaten der EU die gewaltsame Entfernung Zelayas verurteilt, die Defacto-Regierung nicht anerkannt und die Entwicklungszusammenarbeit mit Ausnahme der Unterstützung der Zivilgesellschaft und der humanitären Hilfe ausgesetzt. Das ist ein klares politisches Zeichen dafür, dass der Putsch in keinster Weise zu rechtfertigen ist. ({0}) Im Antrag der Grünen und auch im Antrag der Linken werden die Geschehnisse in Honduras leider recht einseitig dargestellt. Herr Kollege Stinner hat dies sehr ausführlich aufgezeigt. ({1}) Dennoch will ich es noch einmal wiederholen; denn auch durch Wiederholung lernt man ja. ({2}) Der Putsch vom 28. Juni war der Höhepunkt einer Reihe von bereits im Vorfeld begangenen verfassungswidrigen Handlungen. Das lassen Sie in Ihren Anträgen leider außen vor. Der gestürzte Präsident Zelaya hatte vor seiner Amtsentmachung die Verfassung seines Landes mehrmals gebrochen, auch wenn es die Linke nicht so wahrhaben will. Das wurde vom Obersten Gerichtshof immer wieder angemahnt. Über Monate versuchte er mithilfe der Abhaltung eines Referendums die Verfassung dahin gehend zu ändern, seine Wiederwahl zu ermöglichen. Nachdem der Kongress und das Oberste Gericht die Abhaltung eines Referendums nicht billigten, versuchte Zelaya im Alleingang, eine Verfassungsänderung durchzusetzen. Ich erinnere an ähnliche Tendenzen in Lateinamerika, zum Beispiel in Venezuela. Für eine sachlich vollständige Analyse und Aufarbeitung des Konfliktes muss auch Zelayas gesetzwidriges Verhalten beachtet werden. Der Konflikt in Honduras ist vielschichtiger, als es in den heute hier vorliegenden Anträgen zum Ausdruck kommt. Die Putschisten sind zu verurteilen wie auch das verfassungswidrige Handeln Zelayas im Vorfeld. Die politische Krise in Honduras ist leider keine Ausnahmeerscheinung in Lateinamerika, sondern spiegelt den fragilen Zustand vieler Demokratien dort vor Ort wider. Obwohl Lateinamerika zweifelsohne weltweit die demokratischste Entwicklungsregion ist, ist der Zustand vieler Demokratien prekär. Die weit verbreitete Korruption, Defizite im Justizbereich, die mangelnde Teilhabe der indigenen Bevölkerung sowie die extremen sozialen Ungleichheiten stellen an die dortigen Demokratien besondere Herausforderungen, so auch in Honduras. Honduras ist eines der ärmsten Länder in Mittelamerika. Die Einkommensunterschiede sind besonders gravierend. So leben fast 80 Prozent der Bevölkerung Honduras unter der Armutsgrenze. Die Geschehnisse in Honduras zeigen, dass wir in unserer Entwicklungszusammenarbeit neben der technischen und finanziellen Zusammenarbeit viel stärker die Zusammenarbeit im politischen Bereich ausbauen müssen. ({3}) Unsere Stiftungen sind auf diesem Gebiet sehr aktiv. Wir als Entwicklungspolitiker schätzen deren Arbeit vor Ort. Wir müssen diese Arbeit jedoch intensivieren. ({4}) Dabei muss es uns darum gehen, mit unseren Partnern in einen kontinuierlichen Dialog zu treten. Wir müssen mehr über Fragen von Rechtsstaatlichkeit, Demokratieverständnis und der sozialen Verantwortung von Eliten sowie über Konzepte für eine nachhaltige Wirtschaftsund Sozialpolitik reden und aufrichtig über Presse- und Meinungsfreiheit diskutieren. Unsere Entwicklungszusammenarbeit kann nicht losgelöst von einer gleichzeitigen Debatte über Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Wertevorstellungen stattfinden. Die für Sonntag anberaumten Wahlen, bei denen die Lokalregierungen, ein neuer Kongress und ein neuer Präsident gewählt werden sollen, sind bereits unter Zelaya - auch das kam hier schon zum Ausdruck - angesetzt worden, und die zur Wahl antretenden Präsidentschaftskandidaten wurden legitim bestimmt. „Das Abhalten von Wahlen nach dem Putsch in Honduras ist eine sehr außergewöhnliche Situation. Aber die Menschen wollen wählen. Das müssen wir akzeptieren.“ So äußerte sich der Präsidentschaftskandidat der Nationalen Partei, Pepe Lobo, am Montag dieser Woche. Der ordnungsgemäße Verlauf der Wahlen wird der Schlüssel dafür sein, dass Honduras zurück zu einer verfassungskonformen Ordnung findet. Aufrufe zum Wahlboykott und Forderungen nach Nichtanerkennung der Wahlen im Vorfeld, wie sie von den Fraktionen Die Linke und auch Bündnis 90/Die Grünen kommen, tragen nicht zu einer friedlichen Konfliktlösung bei. Die Frage der Bewertung der Wahlen werden wir in Abstimmung mit unseren EU-Partnern und der internationalen Gemeinschaft hinterher beantworten müssen. Sowohl der Antrag der Grünen als auch der Antrag der Linken sind nicht zielführend. Deshalb lehnen wir sie als CDU/CSU-Fraktion ab. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, auch dem letzten Redner in dieser Debatte die notwendige Aufmerksamkeit zu widmen und dringend erforderliche Gespräche nach außerhalb des Plenarsaals zu verlagern. Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ein Putsch ist ein Putsch ist ein Putsch, und eine Partei wie die FDP, deren politische Stiftung diesen Putsch gerechtfertigt hat, bringt damit Schande über das demokratische Verständnis, das wir in diesem Haus haben. Das bleibt eine Tatsache. ({0}) Es ist zu spät, Herr Kollege Stinner, wenn Sie sich heute, wenige Tage vor der Wahl in Honduras, ein Stück weit von dem distanzieren, was Ihr Kollege Gerhardt und die Stiftung Ihrer Partei betrieben haben. Denn in der heißen Phase, als es darum ging, auf internationaler Ebene eine Lösung zu finden, als wir ein Zeitfenster hatten, um eine Lösung herbeizuführen, haben Sie die internationalen Bemühungen hintertrieben, indem Ihre Stiftung den Putsch gerechtfertigt hat, Putschisten hofiert und eingeladen hat und Herr Gerhardt mit eigenen fragwürdigen Vorschlägen die internationalen Friedensbemühungen konterkariert hat. Das darf nie wieder vorkommen. Damit haben Sie dem Frieden und der Demokratie bei uns, aber auch in Honduras einen Bärendienst erwiesen. ({1}) Mich als Entwicklungspolitiker ärgert daran besonders, dass durch diese Haltung der Friedrich-NaumannStiftung die gute Arbeit der politischen Stiftungen, die seit Jahrzehnten in Entwicklungsländern gemacht wird, in ein schlechtes Licht gerückt wird. Denn wir haben in Lateinamerika - ich will den Beitrag nicht überhöhen, weil es natürlich zuerst das Verdienst der dort lebenden Menschen ist - Gott sei Dank auch deshalb mehr Demokratie und Stabilität im Vergleich zu der Zeit von vor 10 bis 20 Jahren, weil es uns im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit mit den politischen Stiftungen gelungen ist, dort Strukturen, Transparenz, Partizipation der Bevölkerung und auch Parlamente aufzubauen, die so stark sind, dass wir eigentlich gedacht haben, dass es zu so einem Putsch wie im Sommer in Honduras nicht mehr kommen kann. Deswegen möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich allen politischen Stiftungen, die sich in Lateinamerika und weltweit engagieren - mit Ausnahme der von mir kritisierten -, ganz herzlich für ihre Arbeit danken. ({2}) Natürlich, Frau Hänsel, haben wir an dieser Stelle eine unterschiedliche Bewertung. Auch ein Rechtsbruch ist ein Rechtsbruch und bleibt ein Rechtsbruch. Was Präsident Zelaya gemacht hat, ist vom dortigen Verfassungsgericht verurteilt worden. Sie sollten vielleicht nicht versuchen, von Deutschland aus das Recht in Honduras zu interpretieren. Deswegen sagen wir mit Blick auf die Anträge der Grünen und der Linken: Wir könnten fast jeden Satz darin unterschreiben. Aber da Sie nicht berücksichtigen, wenn Sie den Titel „Demokratie in Honduras“ wählen, dass sich dort auch die Gegner und der rechtmäßig gewählte Präsident in Zukunft anders verhalten müssten, wollen wir uns enthalten. Aber das heißt nicht, dass wir Ihre Anträge nicht ansonsten voll unterstützen würden. Lassen Sie mich zum Schluss einen ganz wichtigen Punkt ansprechen. In Honduras und in Lateinamerika ebenso wie in vielen anderen Staaten der Welt - auch in Afghanistan, um das es in der folgenden Debatte noch geht - werden wir Demokratie und Stabilität nicht dauerhaft erreichen, wenn wir nicht die Ursachen der Instabilität bekämpfen, wenn wir es nicht schaffen, Hunger und Armut zu überwinden. Wir haben vereinbart, für 2008 bis 2010 44 Millionen Euro für die Entwicklungszusammenarbeit in Honduras zur Verfügung zu stellen. Das ist ganz wichtig. Es gibt mittlerweile 1 Milliarde hungernde Menschen weltweit. Präsident Zelaya hat den Mindestlohn verdoppelt und viele gute Schritte zur Armutsbekämpfung unternommen. Der Konflikt in Honduras ist auch ein Konflikt zwischen den Eliten und denen, die zu Recht Chancen einfordern. Auch die Friedrich-Naumann-Stiftung hat die Verantwortung, endlich einmal den Eliten, mit denen man sich dort sehr gut versteht, die Meinung zu sagen und deutlich zu machen: Es geht nicht, dass ihr weiter jahrzehntelang, wie ihr es gemacht habt, die Ärmsten der Armen knechtet, Großgrundbesitz habt und nie etwas abgebt. Jetzt ist die Stunde der kleinen Leute dort gekommen. Dafür müssen wir sorgen. ({3}) Wir müssen an den Zielen unserer Entwicklungszusammenarbeit insgesamt festhalten und auch daran, die international vereinbarten Steigerungen der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit durchzusetzen. Die Bundesregierung hat sich international verpflichtet, im Jahre 2010 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Herr Entwicklungsminister Niebel, dass ausgerechnet Sie sich in den letzten Tagen von diesem Ziel verabschiedet haben und angesichts 1 Milliarde hungernder Menschen gesagt haben: „Wir steigen aus“, ist diesen Menschen gegenüber, denen Sie und die Frau Kanzlerin die Steigerung der Mittel versprochen haben, unmenschlich. Frau Merkel, Sie erinnern sich: Ich habe, als Sie zum G8-Gipfel gefahren sind, hier eine Rede gehalten und Ihnen gesagt, Sie sollten Herrn Berlusconi, der die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit zurückgeschraubt hat, sagen, dass er, wenn er schon den G8-Gipfel in Italien durchführt, zu seiner Verpflichtung stehen soll, den ODA-Stufenplan einzuhalten. Ich schäme mich, dass jetzt Deutschland selbst aus dieser Verpflichtung aussteigt. Da sind wir keinen Deut besser als die Italiener. Deswegen sage ich, Frau Merkel: Halten Sie Ihr Versprechen gegenüber 1 Milliarde hungernder Menschen ein! Erhöhen Sie wie versprochen die Gelder für die Entwicklungshilfe auf 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens, und lassen Sie hier nicht die größte Wahllüge in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland entstehen! Dafür sollten wir gemeinsam kämpfen. Danke. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt das Wort. ({0})

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich höre mir sehr gerne Vorschläge zum Engagement der Friedrich-Naumann-Stiftung und dazu an, wofür wir in manchen Ländern eintreten sollen. Wir tun das auch. Wir haben die Rechte des tibetischen Volkes vertreten und mussten unser Büro in Peking schließen. Ich würde mir solche Vorträge noch lieber anhören, wenn sich auch andere politische Parteien deutlicher im Hinblick auf Venezuela und Nicaragua äußern würden. Wo sind solche Stellungnahmen? ({0}) Ich selbst habe die Außerlandesverbringung von Präsident Zelaya für unmenschlich gehalten; das ist gar keine Frage. Aber wir sollten nicht unter uns entscheiden, wer recht hat. Der oberste Gerichtshof in Honduras, besetzt mit unabhängigen Richtern, ({1}) hat seine Festnahme veranlasst - und nicht die FriedrichNaumann-Stiftung; das will ich hier gesagt haben. ({2}) Heute beschäftigen wir uns mit der Frage, wie wir aus dieser Lage herauskommen. Da wäre es doch vernünftig, den Sonntag abzuwarten und zu sehen, wie hoch die Wahlbeteiligung ist, ob die Wahlen fair stattgefunden haben und wie die Wahlergebnisse aussehen. Wir sollten uns nicht an die Stelle der Menschen in Honduras setzen, die am Sonntag entscheiden wollen. Nach diesem Sonntag sollten wir klug weiter beraten. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort zu einer Erwiderung hat der Kollege Raabe.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Kollege, da Sie es seit mehreren Wochen nicht verstanden haben, gehe ich nicht davon aus, dass Sie es jetzt durch meine Antwort verstehen werden. Trotzdem sage ich noch einmal: Ein Putsch ist ein Putsch ist ein Putsch. Dass Sie dies verurteilen und gleichzeitig Putschisten nach Berlin einladen und eigene Vorschläge unterbreiten, zeigt, dass Sie leider bis jetzt nicht verstanden haben, dass es hier darum geht, die Vorgänge eindeutig und unmissverständlich zu verurteilen und sie nicht mit Verweisen auf andere Länder zu rechtfertigen. Sie haben es immer noch nicht verstanden; das haben wir jetzt wieder sehen können. Also: Putsch bleibt Putsch. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/33 mit dem Titel „Demokratie in Honduras“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/60 mit dem Titel „Demokratiebewegung in Honduras unterstützen - Wahlen der Putschisten nicht anerkennen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Vereinbarte Debatte zu der von Bundesminister Dr. Franz Josef Jung in Aussicht gestellten Erklärung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Bundesminister Dr. Franz Josef Jung.

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den Vorgängen vom 4. September dieses Jahres in Kunduz und den aktuellen Behauptungen in der Öffentlichkeit nehme ich vor diesem Parlament wie folgt Stellung: Zunächst einmal will ich deutlich machen, dass es mir bei diesem gesamten Sachverhalt um sachgerechte Aufklärung gegangen ist, die durch die NATO durchgeführt wurde, und auch darum, dass bei einer solch schwierigen Entscheidung unsere Soldaten, die in diesem Einsatz mit Risiko für Leib und Leben unsere Sicherheit gewährleisten, nicht mit Vorverurteilungen alleingelassen werden. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, nachdem erhebliche Vorwürfe in der Öffentlichkeit gegen den Bundeswehroberst Klein vonseiten einiger europäischer Außenminister und anderer erhoben worden sind, habe ich mit Oberst Klein in Kunduz telefoniert und mich über den Sachverhalt aus seiner Sicht unterrichten lassen. Ich habe ihm versichert, dass wir diesen Vorverurteilungen entgegentreten und ihn dabei nicht alleine lassen. ({1}) Als am 6. September ein Bericht der Washington Post im Hinblick auf 125 Opfer - darunter auch zivile Opfer - öffentlich geworden ist, habe ich noch einmal mit Oberst Klein in Afghanistan telefoniert, aber auch mit General McChrystal, dem COMISAF. Wir waren übereinstimmend der Auffassung, dass jetzt alles getan werden muss, um den Sachverhalt korrekt aufzuklären und danach gegebenenfalls die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Am gleichen Tag, also an diesem 6. September, habe ich auch gegenüber der Öffentlichkeit unterstrichen, dass, wenn es zivile Opfer gegeben hat, wir dies sehr bedauern, ({2}) und ich habe auch mein Mitgefühl gegenüber den Angehörigen zum Ausdruck gebracht. Ebenfalls habe ich hinzugefügt, dass wir uns in einem solchen Fall um die Angelegenheit kümmern werden. Mir ist dann ein Bericht über die Vorgänge vom 4. September aus Afghanistan zugegangen, der unterzeichnet worden ist von dem Gouverneur der Provinz Kunduz, dem Polizeichef der Provinz Kunduz, dem NDS-Chef der Provinz Kunduz, dem Provinzratsvorsitzenden der Provinz Kunduz und dem Kommandeur der zweiten ANA-Brigade. Dieser Bericht enthält unter anderem folgende Formulierungen - ich zitiere -: Durch die Explosion wurden 56 bewaffnete Personen getötet und 12 Personen verletzt. Die Verletzten hatten Verbrennungen und wurden ins Krankenhaus nach Kunduz gebracht, wo ein Verletzter am 4. September 2009 seinen Verletzungen erlag. Der Bericht geht dann weiter - ich zitiere wiederum wörtlich -: Um diesen Vorfall besser zu untersuchen, ist auf Anordnung des Präsidenten der Islamischen Republik Afghanistans eine Untersuchungskommission eingesetzt worden. Dieser Kommission gehören Vertreter des Innenministeriums, des Verteidigungsministeriums, des NDS und ein Vertreter des Präsidenten an. Ich zitiere weiter: Am 5. September 2009 ist die Untersuchungskommission mit einer ISAF-Delegation zusammengetroffen, um ihre Informationen abzugleichen. Nach Gesprächen mit Dorfbewohnern und Augenzeugen wurde bewiesen, dass alle Getöteten zu den Taliban und deren Verbündeten gehören. Ende des Zitats. In der Parlamentsdebatte am Dienstag, dem 8. September 2009, habe ich ebenfalls auf diesen Bericht, den ich gerade zitiert habe, hingewiesen, aber dann Weiteres noch hinzugefügt - ich zitiere -: Weil es jetzt auch andere Informationen gibt, ist es notwendig und richtig, dass wir alles daransetzen, unseren Beitrag zur sachgerechten Aufklärung zu leisten. Ich sage noch einmal: Wenn es zivile Opfer gegeben hat, fordert dies unsere Anteilnahme und unser Mitgefühl. Wir werden uns auch darum kümmern, dass die Situation vor Ort geregelt wird. Das halte ich für einen wichtigen Punkt. Aber um Entscheidungen in dieser Richtung treffen zu können, muss erst das abschließende Untersuchungsergebnis vorliegen. Ende des Zitats. Nach den entsprechenden Voruntersuchungen hat am 8. September 2009, also an diesem Tag, der COMISAF die NATO-Untersuchungen eingeleitet und General Sullivan mit der Untersuchung beauftragt. Ich habe sowohl mit dem Generalinspekteur als auch mit Herrn Staatssekretär Dr. Wichert besprochen, dass wir alles tun, um diese Untersuchungen zu unterstützen, ohne allerdings eigene Untersuchungen durchzuführen. Anfang Oktober, aus meiner Erinnerung am 5. oder 6. Oktober, informierte mich der Generalinspekteur, dass es noch einen Feldjägerbericht gebe. Da allerdings die Untersuchung der NATO entscheidend sei, bitte er um Freigabe, dass wir diesen Bericht der NATO-Untersuchungskommission zuleiten. Für mich war wichtig, dass alle Untersuchungen der NATO zur Kenntnis gegeben werden. Deshalb habe ich auch diese Freigabe erteilt. Konkrete Kenntnis von diesem Bericht habe ich allerdings nicht erhalten. ({3}) Am 7. Oktober ist dieser Bericht dann der NATO-Untersuchungskommission übergeben worden. Heute weiß ich, nach Einsichtnahme in die Akten, dass dieser Bericht am 9. September in Masar-i-Scharif zusammengeführt worden ist und dann über das Einsatzführungskommando am 14. September dem Einsatzführungsstab des Bundesverteidigungsministeriums zugeleitet worden ist. Für mich war allerdings entscheidend, dass der Bericht der NATO-Untersuchungskommission hier entsprechend berücksichtigt wird. Dieser Bericht der NATO-Untersuchungskommission ist dann auch nach Amtswechsel im Bundesverteidigungsministerium eingegangen. Dieser NATO-Untersuchungsbericht ist auch der Staatsanwaltschaft zur Verfügung gestellt worden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, dass aus diesem gesamten Sachverhalt eindeutig hervorgeht, dass ich sowohl die Öffentlichkeit als auch das Parlament korrekt über meinen Kenntnisstand hinsichtlich dieser Vorgänge informiert habe. Ich danke Ihnen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold für die SPD-Fraktion. ({0})

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Jung, Sie haben Ihre Rede mit Herrn Oberst Klein begonnen. Wir müssen zunächst einmal festhalten: Es geht uns überhaupt nicht um Herrn Oberst Klein. Wir haben großes Verständnis für die ernste und schwierige Situation der Soldatinnen und Soldaten, die in Kunduz im Auftrag des Deutschen Bundestages eine schwierige Aufgabe zu erledigen haben. Es geht also nicht darum: Machen Soldaten unter dem Druck in ihrem Alltag, der nicht einfach ist, Fehler? Vielmehr geht es darum: Wie geht Politik mit der Wahrheit und mit möglichen Fehlern um? ({0}) Herr Minister Jung, wir sagen sehr deutlich: Wir hätten uns heute eine andere Rede gewünscht: ({1}) nicht wegdrücken, wenn es schwierig wird, sondern das zeichnet Politik aus - politische Verantwortung übernehmen. ({2}) Ihr Parteifreund, der frühere Verteidigungsminister Stoltenberg, hat im Jahr 1992 gezeigt, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, wenn man sein Haus nicht unter Kontrolle hat, wenn Beamte möglicherweise Fehler gemacht haben. ({3}) All dies weisen Sie weit von sich. Es ist schon interessant, dass Frau Hoff aus der Fraktion Ihres Koalitionspartners heute erklärt hat, falls Sie nicht die Wahrheit gesagt hätten, fordere sie Ihren Rücktritt. ({4}) - Frau Hoff, ich kann es vorlesen. - Für den Fall, dass Sie nicht informiert waren: Sie sagte sinngemäß: Wenn der Minister sein Haus nicht im Griff hat, erfordert auch dies Konsequenzen. ({5}) So ging das Zitat über den Ticker. Frau Kollegin Hoff, ich muss Ihnen sagen: Wo Sie recht haben, haben Sie recht. Herr Minister Jung, das Problem ist doch: Wir Verteidigungspolitiker haben vom ersten Tag an mit Ihnen darüber geredet, dass es nicht korrekt ist, dass sie uns immer nur scheibchenweise, im Sinne einer Salamitaktik, über diesen Freitag, den 4. September, informiert haben. ({6}) Um es klar zu sagen: Auch wir Obleute erhielten - das haben wir schon damals kritisiert - immer erst dann Informationen, wenn sie in der Zeitung gestanden hatten. Erst dann haben wir einen Anruf oder eine Einladung zu einer Obleuterunde erhalten. Das sind die Fakten. Der Umgang mit dem Bericht der Feldjäger reiht sich also in die gesamte Kette der Vernebelung der Vorgänge ein. Wir wollen wissen - deshalb haben wir für morgen eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses beantragt -: Wo sind Informationen angekommen? Wann sind sie angekommen? Wer alles im Haus hat sie auf dem Tisch gehabt? Wie wurden sie zur ISAF weitergeleitet? Viele andere Fragen kommen hinzu. Uns interessiert auch: Was ist eigentlich mit dem Abschlussbericht des damaligen ISAF-Kontingentes, in den zwangsläufig die Erkenntnisse der Feldjäger einfließen? Wo ist dieser Abschlussbericht angekommen? Wie wurde er ausgewertet? Welche Konsequenzen hat der jetzige Minister aus diesem Abschlussbericht gezogen? All dies muss morgen geklärt werden. Eines ist auch klar: Wenn die Regierung morgen nicht die Chance nutzt, alle Fakten präzise auf den Tisch zu legen, dann muss das Parlament zum schärfsten Schwert greifen, das es hat, nämlich einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzen, der die Möglichkeit hat, alle Akteure einzubestellen und mit ihnen zu reden. ({7}) Herr Minister Jung, ich erinnere mich noch sehr gut an die Tage zwischen dem 4. und dem 7. September dieses Jahres. Wir wissen, dass am 7. September, am Montagabend, der Vorabbericht von ISAF im Ministerium eingegangen ist, wohl auch auf dem Schreibtisch des beamteten Staatssekretäres gelandet ist. Sie können zwar sagen: Das war nur ein Vorabbericht. - Da haben Sie recht. Dieser Vorabbericht enthält aber ziemlich dramatische Indizien dafür, dass es eben leider auch zivile Opfer gegeben hat. Am nächsten Morgen sitzen wir Obleute mit Ihnen drüben im Briefing-Raum zusammen, und Sie sagen nach wie vor: Es hat keine zivilen Opfer gegeben. Da wollen wir dann schon wissen: Haben Sie den Bericht gelesen? Wurden Sie informiert? Ich frage auch weiter: Hatten Sie überhaupt Interesse daran, ({8}) von den Soldaten und vom Generalinspekteur die Informationen zu bekommen? Die Soldaten haben eine Bringschuld - die haben sie zweifellos -; aber der MinisRainer Arnold ter hat in so einer sensiblen, heiklen Lage auch eine Holschuld. Wir hatten manchmal den Eindruck, dass es eine politische Strategie gab, auch ausdiskutiert in Ihrem Umfeld, die im Grunde genommen darauf abgezielt hat, die tragischen Ereignisse von dem Minister und seiner Verantwortung möglichst weit fernzuhalten. Dies alles wollen wir morgen geklärt haben. Wir schauen darauf, wie der jetzige Minister mit diesem Thema umgeht. Herr Minister zu Guttenberg, Sie haben sehr schneidig den Generalinspekteur in die Wüste geschickt, ihn gehen, ziehen lassen, und den Staatssekretär zumindest in den Urlaub. Sie pflegen damit auch Ihr Image, tatkräftig und entscheidungsfreudig zu sein. Gelegentlich würden wir uns allerdings wünschen, dass in solch einer Situation auch ein bisschen Demut aus Ihren Aktionen ins Spiel kommt, ({9}) Demut vor der Komplexität und der großen Verantwortung in diesem Amt. ({10}) Es geht nicht nur um schöne Bilder, Herr zu Guttenberg, sondern es geht vor allem um einen verantwortlichen Umgang. Das ist das Erste. Die schönen Bilder - jeder von uns sieht sich ja gerne in der Zeitung - dürfen das Zweite sein, aber nicht das Erste. Herr Minister zu Guttenberg, Sie haben heute zum ersten Mal eingeräumt, dass Sie möglicherweise ein bisschen zurückrudern werden, falls der Feldjägerbericht neue Erkenntnisse bringt. Ich sage Ihnen: Wer den ISAFBericht sorgfältig liest, stellt fest, dass der Feldjägerbericht keine neuen Erkenntnisse bringt. Wer den ISAFBericht sorgfältig liest, darf auch nicht zu Ihrer Einschätzung kommen, Herr zu Guttenberg, und am Ende sagen: Da wurden zwar Fehler gemacht, aber das Falsche erklären wir jetzt als richtig. Es wurden Fehler gemacht, nicht nur Verfahrensfehler. Diese Fehler haben tragische Auswirkungen gehabt. Ich erwarte vom Verteidigungsminister, dass er sich dieser Verantwortung stellt und nicht der deutschen Öffentlichkeit erklären will, dieser Einsatz sei angemessen und verhältnismäßig gewesen. Es war nicht angemessen, ohne Gefahr im Verzug Luftunterstützung anzufordern. Dies besagen die NATO-Regeln eindeutig. Es ist auch nicht angemessen und verantwortbar, auf eine große Menschenansammlung schwere Bomben zu werfen, weil das Risiko, dass Unschuldige zu Tode kommen, latent ist. Leider hat die Nacht dies auf grausame Weise bestätigt. Herr Minister zu Guttenberg, ich glaube, auch Sie sollten die Chance nutzen, morgen im Verteidigungsausschuss Ihre Position nochmals zu überdenken. Auch hier gilt: Wenn dies nicht geschieht, muss das Parlament mit seiner parlamentarischen Waffe „Untersuchungsausschuss“ nachvollziehen, wie Sie zu dieser Entscheidung kommen können, wenn fast alle, die diesen Abschlussbericht geschrieben und gelesen haben, dies anders bewerten. Dies ist insgesamt ein sehr ernster Vorgang. Ich komme zum Schluss. Das eigentlich Tragische ist: Wir reden von Parlamentsarmee und meinen damit nicht nur unser parlamentarisches Recht, Soldaten in den Einsatz zu schicken, und das Parlamentsbeteiligungsgesetz, sondern wir verstehen im Kern unter Parlamentsarmee „Armee in der Demokratie“. Das heißt, Armee und deren Führung müssen transparent und beispielhaft sein beim Umgang mit der Bundeswehr und den Problemen in der Bundeswehr. Das ist unser Anspruch, und das ist der Anspruch der deutschen Öffentlichkeit. Er wurde bisher nicht erfüllt. Sie verspielen das allzu wichtige Vertrauen in die Arbeit der Bundeswehr. Sie verursachen dies als Verantwortlicher für die Kommunikation in den letzten Wochen. Das finden wir schwierig, weil wir in diesen Tagen sehr ernste Einsatzentscheidungen treffen müssen. Das lastet auf all diesen Diskussionen. Dies bedauern wir. Sie sollten das korrigieren. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Arnold, es hätte sicherlich hervorragend in Ihre Argumentation gepasst, wenn diese Pressemeldung, auf die Sie sich bezogen haben, nicht wenige Minuten nach Erscheinen korrigiert worden wäre, weil genau dieser Satz, den Sie in dieser Form interpretiert haben, so nicht gesagt wurde. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! Ich finde, man sollte auch hier im Plenum so viel Fairness besitzen, darauf aufmerksam zu machen. ({0}) Ich stimme Ihren Ausführungen insofern zu, Herr Kollege Arnold, als es sich hier um einen sehr ernsten Sachverhalt handelt. Ich glaube, dass es für einen Sicherheitspolitiker sicherlich angenehmere Minuten gibt, als über das Thema zu diskutieren, mit dem wir uns hier auseinandersetzen müssen. Aber ich warne auch davor - davor sollten wir uns hüten; ich glaube, das habe ich und das hat auch unser Außenminister heute Vormittag deutlich gemacht -, der Öffentlichkeit vor einer lückenlosen Aufklärung der Fakten im Deutschen Bundestag Vorverurteilungen kundzutun. Wir sind nicht das Tribunal, das darüber zu entscheiden hat, was in Kunduz im Einzelnen vorgefallen ist. Das ist eine Aufgabe, die zurzeit wichtig ist, die wir aber wirklich in der gebotenen Ruhe und angemessenen Reihenfolge angehen sollten. Auch meine Fraktion hat ein Interesse an einer lückenlosen Aufklärung, vor allem im Interesse der Bundeswehr, vor allem im Interesse der Soldatinnen und Soldaten, die im Auslandseinsatz sind. Ich habe mir heute - erlauben Sie mir an dieser Stelle bitte diese persönliche Bemerkung - natürlich auch die Frage gestellt: Was denken unsere Soldatinnen und Soldaten in Kunduz über diese Debatte, die wir jetzt führen müssen? Es ist unser Anliegen, gemeinsam mit der Bundesregierung so schnell wie möglich dafür zu sorgen, dass es eine transparente Aufarbeitung dieses Sachverhaltes gibt. Ich freue mich, dass wir morgen früh im Verteidigungsausschuss ein umfassendes Briefing der Bundesregierung bekommen werden. ({1}) Ich hoffe sehr, dass dann keine weiteren Fragen mehr offen sind. Sollten wir zu dem Ergebnis kommen, dass Fragen noch nicht beantwortet sind, Herr Kollege Arnold, und Sie den Vorschlag machen, dass ein Untersuchungsausschuss einzusetzen ist, dann wird sich, wie ich glaube, keine Fraktion hier im Hause diesem Anliegen verschließen. ({2}) Insofern bitte ich an dieser Stelle darum, dass wir gemeinsam eine saubere Aufarbeitung dieses Vorganges durchführen. Wenn es am Ende der Reise Ergebnisse gibt, dann sollten wir darüber in den dafür zuständigen Gremien und natürlich auch im Deutschen Bundestag diskutieren. Herr Minister zu Guttenberg, ich freue mich sehr auf Ihre Aufklärung morgen früh. Herr Minister Dr. Jung, wir als FDP-Fraktion nehmen Ihre Ausführungen in der hier vorgetragenen Form zur Kenntnis. Vielen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe jetzt gehört, an wen man alles denken muss. Ich finde das auch richtig, füge aber hinzu: Vielleicht sollten wir zuerst einmal an die bis zu 142 Toten denken, die es dort am 4. September 2009 gegeben hat. ({0}) Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, mit welcher Salamitaktik wir Schritt für Schritt informiert worden sind und dass das ziemlich unerträglich war. Aber es kommt noch etwas anderes hinzu: Sie selbst haben die Situation der Staatsanwaltschaft ungeheuer erschwert, Herr Jung, weil Sie immer bestritten haben, dass dort ein Krieg stattfindet. Wenn dort kein Krieg stattfindet, dann gilt auch kein Völkerrecht und kein Kriegsrecht. Dann gilt das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland. Sie konnten niemals im Ernst davon ausgehen, dass eine Notwehrsituation vorlag, als die Menschen getötet worden sind. ({1}) - Nein. - Wissen Sie, Herr Jung, manchmal ist es so: Man will aus bestimmten Gründen einen bestimmten Begriff nicht verwenden und richtet nur noch größeren Schaden an, weil man es nicht zugibt. Es ist nichts anderes als Krieg; denn es wird geschossen und auch getötet. ({2}) Aber auch nach dem Völkerrecht war das natürlich nicht legitim, weil Zivilpersonen zu schützen sind. Hier gibt es klare Vorgaben wie „Gefahr im Verzug“ und vieles andere mehr, was hätte bedacht werden müssen. Das ist das Erste. Das Zweite ist: Als Bundesminister sind Sie verpflichtet, in einem Ermittlungsverfahren sämtliche Unterlagen zur Verfügung zu stellen, damit die Staatsanwaltschaft tatsächlich ermitteln kann. Sie haben heute mit keinem Satz erklärt, warum das nicht geschehen ist. Die Antwort darauf sind Sie uns nach wie vor schuldig. ({3}) Ich habe gelesen, was heute in der Bild-Zeitung stand. Wenn ich mir eine kritische Bemerkung gestatten darf: Herr zu Guttenberg, wieso immer dieser Weg? Warum können Sie nicht einfach vor die Presse treten und das erklären? Warum muss erst dafür gesorgt werden, dass eine Information an die Bild-Zeitung geht und die BildZeitung das veröffentlicht, bevor Sie Stellung nehmen? Warum gehen Sie nicht von selbst den Weg, zu sagen: „Das und das habe ich als neuer Minister festgestellt, das wird offengelegt, und das ist jetzt zu korrigieren“? ({4}) Ich habe den Artikel gelesen. Die entscheidenden Fragen haben Sie nicht beantwortet, Herr Jung: Haben Sie die Videos gesehen? Wenn nicht: Warum sind sie nicht an die Staatsanwaltschaft gegeben worden? Sie haben nun von einem Feldjägerbericht mit 42 Anlagen gesprochen. Sie haben gesagt - ich habe Sie doch richtig verstanden? -, Sie hätten ihn freigegeben, ohne ihn gelesen zu haben. ({5}) - Moment! - Ich habe dazu eine Frage: Wie können Sie etwas freigeben, was Sie nicht einmal gelesen haben? ({6}) Nach welchen Kriterien geben Sie denn etwas frei? Das möchte ich gerne wissen. ({7}) Meine zweite Frage: Wenn Sie den Bericht freigeben, warum geben Sie ihn nicht der Staatsanwaltschaft? Auch darauf ist hier keine Antwort erfolgt. Das geht nicht. Ich sage Ihnen: Ich kenne schwierige Situationen, und ich weiß, wie sich das hinzieht. Ich möchte im Augenblick nicht in Ihrer Rolle stecken. ({8}) Ich weiß, wie unangenehm das ist. - Nein, verstehen Sie: Ich sehe durchaus auch den Menschen, Sie nicht, aber ich schon. Ich habe darauf hingewiesen, dass wir in erster Linie die Toten sehen müssen. Herr Jung, Sie kommen sowieso nicht umhin, die Konsequenzen zu ziehen. Ziehen Sie es nicht in die Länge! Das hilft Ihnen nicht. ({9}) Ich weiß auch nicht: Wer war denn noch informiert? Frau Bundeskanzlerin, haben Sie davon gewusst? Ich weiß es nicht. Warum erfolgen keine Stellungnahmen? Das wäre doch wohl das Mindeste. - Hören Sie zu! Das ist doch ein außergewöhnlicher Vorgang: Durch den Befehl eines Soldaten der Bundeswehr sind bis zu 142 Menschen gestorben; aber man erfährt so gut wie nichts und wenn, dann immer nur ein kleines Stückchen. Das geht einfach nicht. Die deutsche und die internationale Öffentlichkeit haben einen Anspruch auf Aufklärung; diesen Anspruch sollten Sie befriedigen. ({10}) Glauben Sie mir, Herr Jung: Sie werden letztlich keine andere Wahl haben. Ziehen Sie am besten gleich die Konsequenzen! Das ist in unserem Interesse, aber auch in Ihrem. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan ist zurückgetreten. Er hat damit Verantwortung für einen Fehler übernommen. Ich finde, wir sollten Herrn Schneiderhan unseren Respekt dafür nicht versagen. ({0}) Dieser Generalinspekteur stand in vieler Hinsicht für die Haltung: Schutz der Soldaten und der Zivilistinnen und Zivilisten. Ich kann für meine Fraktion sagen: Wir haben Einsätzen in vielen Fällen eher trotz Ihnen, Herr Jung, zugestimmt, weil es diesen Generalinspekteur gegeben hat. ({1}) Ich hätte mir gewünscht, dass Sie heute die gleiche mannhafte Courage an den Tag legen und die gleiche Konsequenz ziehen und für diesen Fehler zurücktreten. ({2}) Sie haben - ob wissentlich oder unwissentlich - gegenüber der deutschen Öffentlichkeit und diesem Deutschen Bundestag faktisch die Unwahrheit gesagt; das können wir heute feststellen. ({3}) Wir wissen, dass bereits am Abend des 4. September, vor dem Bombardement, bekannt war, dass die Taliban Zivilisten an den Tatort beordert hatten, und wir wissen, dass bereits wenige Stunden nach diesem Bombardement im Einsatzführungskommando in Potsdam Informationen vorlagen, wonach es mehrere Patienten im Alter von 10 bis 20 Jahren gegeben hat, die verletzt waren, und dass es zwei Leichen im Teenageralter gegeben hat. All dies war im Einsatzführungszentrum in Potsdam am 5. September bekannt. Was erklärte der Bundesverteidigungsminister am 6. September in der Bild am Sonntag? Er erklärte - wörtliches Zitat -, es seien „ausschließlich terroristische Taliban getötet worden“. Herr Jung, Sie haben an dieser Stelle die Unwahrheit gesagt. ({4}) Sie haben an einem weiteren Punkt auch in diesem Parlament die Unwahrheit gesagt. Sie haben erklärt, es habe zwei Quellen gegeben, die aufgeklärt hätten und an dieser Stelle erklärt hätten, hier seien keine Menschen in Gefahr. Die Wahrheit ist: Bereits am 6. September, zwei Tage vor der Bundestagsdebatte, hat die NATO festgestellt, dass es anhand der Bilder des Videos unmöglich sei, die Aussagen des Informanten, von dem wir heute wissen, dass er keinen Kontakt vor Ort hatte, zu bestätigen. Das heißt, dieser Befehl ist entgegen den öffentlich zugänglichen Einsatzregeln erfolgt. Auch in diesem Punkt haben Sie, Herr Jung, diesem Parlament die Unwahrheit gesagt. ({5}) Es wäre daher gut gewesen, wenn Sie heute die Konsequenz gezogen hätten. Stattdessen haben Sie sich erneut verstrickt. Sie haben gesagt, Anfang Oktober - der Hinweis vom Kollegen Gysi ist richtig - hätten Sie einen Bericht freigegeben. Ich sage Ihnen: Diese Feldjägerberichte sind keine Geheimakten; sie sind „VS - Nur für den Dienstgebrauch“. An dem Tag, an dem Sie diesen Feldjägerbericht an die NATO weitergeleitet haben, hätten Sie veranlassen müssen, dass dieser Bericht diesem Parlament, seinem Verteidigungsausschuss und seinem Auswärtigen Ausschuss sofort und unmittelbar ebenfalls zur Verfügung gestellt wird. Sie haben hier nicht nur die Unwahrheit gesagt. Sie haben uns alle hinter die Fichte geführt, und das gehört sich nicht in einer Demokratie. ({6}) Ja, wir wollen das jetzt aufgeklärt sehen. Liebe Frau Kollegin Hoff, ich habe mit großem Interesse gehört, dass Sie sich für eine lückenlose Aufklärung ausgesprochen haben. Ich freue mich schon darauf, wenn morgen Nachmittag die Entscheidung ansteht. Ich weiß nicht, ob Sie angesichts der Praxis von Herrn Jung noch Hoffnung haben, dass morgen eine lückenlose Aufklärung erfolgt. Ich freue mich aber schon darauf, dass Sie sich gemeinsam mit uns mit dafür einsetzen werden, dass diese Fakten mit den Mitteln des Parlamentes, weil auf diese Exekutive kein Verlass ist, aufgeklärt werden, und dass Sie sich mit uns dafür einsetzen werden, dass sich der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss konstituiert. ({7}) Liebe Frau Bundeskanzlerin, lieber Kollege zu Guttenberg, ich finde, Sie hätten an dieser Stelle allen Grund gehabt, sich hier zu erklären. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben uns gegenüber in der Regierungserklärung gesagt, Sie bedauerten das; wenn dort unschuldige Menschen zu Tode gekommen seien, dann entschuldigten Sie sich. Herr zu Guttenberg ist aber so weit gegangen, nicht nur zu sagen, das sei militärisch angemessen und verhältnismäßig gewesen. Sie haben sich sogar zu der Formulierung verstiegen, dieser Angriff sei unabweisbar gewesen. Ich zitiere dies jetzt nur aus öffentlich zugänglichen Quellen der NATO und aus dem im Internet für jedermann anzusehenden Film. Ich frage Sie, warum diese Piloten, wenn es unabweisbar war, fünfmal gefragt haben: Sollen wir keinen Tiefflug machen, um die dort versammelten Menschen vor dem zu warnen, was gleich passiert? ({8}) Wenn man sich dieses Video anschaut, dann bestätigt sich auch eine weitere schlimme Tatsache, nämlich dass entgegen der Frage der Piloten angeordnet worden ist, direkt zwischen die beiden Tanklastzüge zu zielen: dorthin, wo auf dem Video die Menschen zu erkennen sind. Meine Damen und Herren, Frau Bundeskanzlerin, Herr Bundesverteidigungsminister, das ist nicht Schutz der Zivilbevölkerung; das ist Vorsatz, und das können wir in diesem Lande nicht dulden. Das geht nicht. Damit desavouieren Sie auch die Arbeit der Bundeswehr, die sie in Afghanistan macht. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff für die Unionsfraktion.

Dr. Andreas Schockenhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002053, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt Bundesminister Jung für die klare Stellungnahme. ({0}) Er hat das Notwendige zur Entkräftung des Vorwurfs gesagt, er habe wissentlich oder wahrheitswidrig ihm vorliegende Informationen verschwiegen. ({1}) Heute Morgen hat der Bundesminister der Verteidigung unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass absolute Transparenz und Offenheit bei der Information gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit für ihn oberste Priorität haben. Dies begrüßen wir außerordentlich; denn nur das ermöglicht, dass die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr für ihren Einsatz in Afghanistan den Rückhalt bei den Bürgerinnen und Bürgern finden, auf den sie einen Anspruch haben. Wo diese Vorgabe der Transparenz und Offenheit nicht befolgt wird, müssen Konsequenzen gezogen werden. ({2}) Deswegen war es folgerichtig, dass der Bundesminister der Verteidigung heute unmittelbar nach Bekanntwerden und Prüfung der ihm bisher nicht bekannten Berichte die Bitte des Generalinspekteurs, ihn von seinen Dienstpflichten zu entbinden, angenommen und den verantwortlichen Staatssekretär entlassen hat. ({3}) Die Aufklärung der Hintergründe dieses komplexen Vorgangs liegt in unserem unbedingten Interesse. Vor allem hat auch Bundesminister Jung einen Anspruch darauf. ({4}) Sollten die Oppositionsfraktionen nach der morgigen Sitzung des Verteidigungsausschusses und nach der Aussprache über den Bericht von Bundesminister zu Guttenberg einen Untersuchungsausschuss für erforderlich halten, ist die CDU/CSU-Fraktion damit sehr einverstanden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Beredsamkeit der Redner der Koalitionsfraktionen spricht Bände. ({0}) Ich stimme der Kollegin Hoff zu. Das kann man erst einmal nur zur Kenntnis nehmen. Ich stimme zu, dass man nur sehr kurz sagen kann: Wenn etwas aufzuklären ist, dann muss es aufgeklärt werden. Da gibt es offenbar bei den Regierungsfraktionen ein ähnliches Informationsbedürfnis wie bei uns. Es wird um vier Komplexe gehen. Erstens. Warum hat Minister Jung Informationen, die die Bundeswehr besaß, verschwiegen und einen falschen Eindruck erweckt? Die Faktenlage ist durchaus so, dass es in dem Umfeld des Interviews, das die Bild-Zeitung heute zitiert hat, in dem er sagt, dass nur Terroristen getroffen wurden, bereits andere Informationen gab, etwa der NATO. Der NATO-Pressesprecher von ISAF hat Krankenhäuser besucht und sich dabei fotografieren lassen. Am 6. September war das in allen Zeitungen Deutschlands zu lesen. Das sind doch Informationen, die allen zugänglich sind, Herr Minister. ({1}) Die Antwort kann nur lauten: Entweder wusste er es besser, aber es passte ihm nicht ins Konzept - damals waren Wahlkampfzeiten -, ({2}) oder er wusste es nicht besser. Aber dann hatte er sein Ministerium nicht im Griff. Warum soll er jetzt ein anderes Ministerium ruinieren? ({3}) Will er nach der Reform der Jobcenter auch sagen, dass er es nicht besser gewusst hat? Komplex zwei. Wusste Minister zu Guttenberg, als er sich öffentlich äußerte, eigentlich alles? Ich komme auf die Frage, weil sich der Fraktionschef der Union, Kollege Kauder, heute wie folgt geäußert hat - ich zitiere aus Spiegel Online -: Ich gehe mal davon aus, wenn man es dem Herrn zu Guttenberg nicht vorgelegt hat, obwohl der sich bei Dienstantritt zu diesen Vorgängen ja geäußert hat, dass es dem Herrn Jung auch nicht vorlag. Das Ganze also anders herum.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Bartels, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lindner?

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, der damalige Minister des Auswärtigen war der Kollege Steinmeier. Wollen Sie uns bitte darlegen, was der Kollege Steinmeier damals in seiner Funktion als Bundesaußenminister wusste, ({0}) welche Berichte er sich hat vorlegen lassen und wie er als Minister des Auswärtigen seiner Holschuld in Bezug auf Afghanistan nachgekommen ist? ({1})

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, „Holschuld“ ist ein prima Stichwort. Als Minister, der für die Bundeswehr zuständig ist, hat man, wenn ganz Deutschland über einen solchen Vorfall diskutiert, eine Holschuld, ({0}) in seinem eigenen Haus mitzubekommen, was passiert ist. Ich denke, dann wird man auch die Kollegen in der Bundesregierung informieren. Das ist offensichtlich nicht geschehen. Er sagte, er sei selbst nicht informiert gewesen. Uns interessiert, was Minister zu Guttenberg gewusst hat, was der Kollege Jung nicht gewusst hat - das war Wochen später -, und was er sich hat vorlegen lassen, als er sich öffentlich äußerte. Komplex drei. Wenn das alles so nachvollziehbar ist, wie Sie das vorgetragen haben, Herr Minister Jung: Warum mussten dann heute der Generalinspekteur und der Staatssekretär Wichert entlassen oder beurlaubt werden? ({1}) Wir haben heute nicht gehört, welche Fehler diesen beiden Spitzenleuten des Ministeriums vorgeworfen werden. Sind sie Bauernopfer? Komplex vier. Der Generalinspekteur und der Bundesminister zu Guttenberg haben sich durchaus unterschiedlich - Kollege Trittin hat das zitiert - zu dem Vorfall im Kunduz-Fluss geäußert. Ich zitiere Minister zu Guttenberg aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - das entscheidende Wort einer langen Stellungnahme lautet „müssen“ -: Selbst wenn es keine Verfahrensfehler gegeben hätte, hätte es zu dem Luftschlag kommen müssen. Das hat der Generalinspekteur dezidiert anders dargestellt. Er spricht nicht von „müssen“. Er sagt in Solidarität mit den Kameraden in Afghanistan: Die Lage war so, dass es möglicherweise angemessen gewesen sein kann. Nicht „müssen“! Welche Informationen haben Sie denn gehabt, als Sie sagten, dass dieser Luftschlag hätte stattfinden müssen, Herr zu Guttenberg? Der NATO-Untersuchungsbericht gibt dafür wahrscheinlich nicht die Grundlage her. Zu diesem Schluss käme man, wenn man ihn kennen würde. Er ist aber geheim. Insofern reden wir sozusagen unter Einäugigen. ({2}) - Niemand will Geheimnisse verraten. - Es ist aber kein Geheimnis, wenn ich sage, dass der Eindruck, der öffentlich erweckt wird, durch den NATO-Untersuchungsbericht meiner Meinung nach nicht gedeckt ist. Da geht es nicht um „müssen“, sondern um Fehler, die gemacht worden sind und die abzustellen sind, sowie um Vorschläge, wie man sie abstellen kann. Die NATO kritisiert das, was Sie rechtfertigen. ({3}) Herr Minister Jung, es ist richtig - auch Kollege Gysi hat darauf hingewiesen -: Man muss nicht alles wissen. Man kann in einem so riesigen Verantwortungsbereich auch nicht alles wissen. ({4}) Aber in einer Zeit, in der ganz Deutschland im Wahlkampf tagelang über die Frage diskutiert: „Was ist da eigentlich gewesen?“, ist es die verdammte Pflicht und Schuldigkeit des Inhabers der Befehls- und Kommandogewalt, sich selbst aktiv darüber schlau zu machen, was die Bundeswehr und sein Haus darüber wissen. ({5}) Es ist dann das Recht des Parlaments - auch wenn Wahlkampf ist und man nicht mehr regelmäßig zusammenkommt -, zu erfahren, was Sie wissen. Es ist armselig, wenn Sie sagen, Sie haben nichts gewusst, und nach und nach scheibchenweise herauskommt, was in der Bundeswehr an Informationen vorhanden war. Wir werden morgen früh im Verteidigungsausschuss und vermutlich auch danach in einer Sonderveranstaltung einigen Informationsbedarf haben. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Rainer Stinner von der FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ohne jeden Zweifel beschäftigt uns dieses Thema in einer kritischen Situation, nämlich der Diskussion über die Verlängerung von Afghanistan-Mandaten. Ohne jeden Zweifel haben wir es mit einem sehr gravierenden Vorgang zu tun, nämlich der Fragestellung: Wann sind welche wichtigen Informationen bei wem angekommen, und wie sind sie verarbeitet worden? Wir als Parlament haben selbstverständlich die Aufgabe, diese Fragen zu stellen und aufzuklären. Diejenigen, die mich kennen, wissen, dass ich in den letzten vier Jahren im Verteidigungsausschuss sehr wohl das Informationsverhalten des Verteidigungsministeriums des Öfteren - um es höflich auszudrücken - problematisiert habe. ({0}) Deswegen stehe ich nicht dafür, dass wir hier in irgendeiner Weise etwas vertuschen. Gerade angesichts der Diskussion, die wir diese und nächste Woche führen und für die wir gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten Verantwortung tragen, plädiere ich sehr nachdrücklich dafür, dass wir uns nicht vorschnellen oppositionellen Empörungsreflexen - die ich verstehen kann - hingeben. ({1}) Ich bitte Sie allerdings, daran zu denken: Was richten Sie mit vorschnellen Urteilen an? Ich habe nichts gegen endgültige Urteile. Die Fraktion der FDP wird sich dem Urteil und den Fakten, die eines Tages herausgefunden werden, mit Sicherheit stellen. Wir werden einem Untersuchungsausschuss zustimmen, wenn das die Mehrheit im Ausschuss will und wenn Klärung anders nicht erreicht werden kann. Ich plädiere aber nachdrücklich dafür, dass wir erst dann, wenn die Untersuchung abgeschlossen ist, Bewertungen vornehmen und die politischen Konsequenzen ziehen. Sonst tun wir unseren Soldaten und unserem Volk einen schlechten Dienst. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA auf Grundlage des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen und des Artikels 5 des Nordatlantikvertrags sowie der Resolutionen 1368 ({0}) und 1373 ({1}) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen - Drucksache 17/38 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({2}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejenigen, die der Aussprache nicht beiwohnen wollen, den Plenarsaal zu verlassen, damit die anderen den Rednern in Ruhe folgen können. Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesminister Dr. Guido Westerwelle das Wort. ({3})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die Bekämpfung des Terrorismus ist nicht alleine eine militärische Aufgabe, erforderlich ist ein umfassender politischer Ansatz. Das OEF-Mandat, um das es jetzt geht, ist nur noch ein Faktor in unseren Gesamtbemühungen. Seit der ersten Mandatierung von OEF im Jahr 2001, damals unter dem unmittelbaren Eindruck der Terroranschläge des 11. September, wurde die Beteiligung der Bundeswehr an OEF schrittweise reduziert. Bereits im letzten Jahr ist die Schwerpunktverlagerung bei den militärischen Operationen in Afghanistan - weg von OEF, hin zu ISAF auch in unserem Bundestagsmandat, das hier beschlossen worden ist, nachvollzogen worden. Unsere Aktivitäten unter dem OEF-Mandat beschränkten sich seitdem auf die Beteiligung der deutschen Marine an der Seeraumüberwachungsoperation am Horn von Afrika und dem Einsatz im Mittelmeer im Rahmen der NATO-geführten Operation Active Endeavour. Die Bundesregierung wird spätestens bis zum Sommer 2010, also bis zum Sommer des nächsten Jahres, die Notwendigkeit der weiteren deutschen Beteiligung an Operation Enduring Freedom am Horn von Afrika und gegebenenfalls eine Überführung der bisher im Rahmen von OEF am Horn von Afrika eingesetzten Kräfte in eine gemeinschaftliche Mission zur Pirateriebekämpfung überprüfen. Die Beteiligung an Operation Active Endeavour bleibt hiervon unberührt. Das werden wir mit der gebotenen Zeit und Ruhe tun, die einer Bundesregierung, die nicht einmal einen Monat im Amt ist, naturgemäß bisher nicht zur Verfügung stand. Wir werden diese Überprüfung in engem Austausch mit unseren Partnern und Verbündeten vornehmen. Unverkennbar ist - bei allen Risiken durch den internationalen Terrorismus, die fortbestehen -, dass sich der Schwerpunkt der maritimen Gefährdung am Horn von Afrika in den letzten Jahren immer stärker in Richtung Piraterie verlagert hat. Das hat dieses Hohe Haus nun wirklich schon mehrfach beschäftigt. Das ist der Grund, warum wir, wie bereits in der Vergangenheit geschehen, deutsche Kräfte, die bei OEF eingesetzt sind, bei Bedarf der EU-Pirateriebekämpfungsoperation Atalanta unterstellen werden. Wie wir haben auch andere bislang an OEF beteiligte Staaten, auch die USA, ähnliche Schlüsse aus der veränderten Bedrohungslage am Horn von Afrika gezogen. Sie setzen ihre im Seegebiet vorhandenen Kräfte seit Anfang 2009 fast ausschließlich zur Pirateriebekämpfung ein. Die Bundesregierung wird diese Entwicklung in den nächsten Monaten aufmerksam weiterverfolgen und im Lichte neuer Erkenntnisse die weitere deutsche Beteiligung an OEF am Horn von Afrika überprüfen. Bei dieser Überprüfung ist auch unser AfghanistanEngagement zu berücksichtigen, dessen Verlängerung der Deutsche Bundestag heute Vormittag debattiert hat. Selbstverständlich wird die Bundesregierung in diese Evaluation des OEF-Einsatzes auch die Punkte einbringen, die aus der heutigen Debatte und aus weiteren Beratungen erwachsen. Ebenso selbstverständlich ist, dass die Bundesregierung den Deutschen Bundestag umgehend über das Ergebnis der Evaluierung unterrichten wird. Für die Bundesregierung bitte ich um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag und zu den skizzierten weiteren Verfahren. Ich bitte trotz der verständlichen Debatte von eben, dass auch diesem wichtigen außenpolitischen Punkt entsprechende Aufmerksamkeit in diesem Hohen Hause gewidmet wird. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold von der SPD-Fraktion.

Rainer Arnold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003029, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion bleibt im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik in der Kontinuität der Verantwortung; wir haben dies heute diskutiert. Dies gilt für Afghanistan. In einer schwierigen Entscheidung stehen wir zu der Notwendigkeit des Mandates. Wir haben das beim Thema Libanon vor wenigen Minu492 ten nochmals bestätigt, und zwar eher mehr als der Außenminister, weil wir die politische Dimension des Auftrages im Libanon sehen. Auch bei OEF bleiben wir in unserer Kontinuität, wenn wir sagen: Dieser Einsatz sollte nicht verlängert werden. ({0}) Bereits in der Debatte vor einem Jahr haben wir in komplizierten Diskussionen erreicht, dass wenigstens die Komponente von OEF an Land nicht mehr mandatiert wurde. Schon damals hätten wir gern gehabt, dass das OEF-Mandat hinsichtlich der Seekomponente am Horn von Afrika ausläuft. Dies ist nicht gelungen, weil Verteidigungsminister Jung und die CDU in der Koalition diesen Weg nicht mitgegangen sind. Jetzt ist es aber an der Zeit, noch einmal genau zu schauen: Was ist OEF wirklich, und was macht dort noch Sinn? Wir möchten daran erinnern, dass dies eben kein Einsatz ist, der NATO- oder UNO-geführt ist, sondern dass das eine Koalition der Willigen ist, die in verschiedenen Erdteilen Terror bekämpfen soll. Da ist eines natürlich ganz deutlich: Die Legitimation des Kampfes gegen den Terror, die damals, vor neun Jahren, darauf basiert hat, dass man gesagt hat: „Nach Art. 51 der UN-Charta hat jedes Land das Recht, sich allein oder kollektiv zu verteidigen“ - die Anschläge in New York und Washington waren ein Angriff -, schwindet natürlich im Laufe der Jahre. Das Eis der völkerrechtlichen Begründung wurde von Jahr zu Jahr dünner, und im neunten, oder wie Sie meinen, gar im zehnten Jahr kann dieses Eis sicherlich nicht mehr tragen. Es gibt eine zweite, mindestens genauso wichtige Begründung, warum dieses Mandat enden sollte. Wir alle wissen, dass der Kampf gegen Piraterie am Horn von Afrika, auch mit deutscher Unterstützung, engagiert geführt werden muss. Als größtes Handelsland haben wir eine besondere Verantwortung und ein besonderes Interesse, Seesicherheit und stabile Seewege herzustellen. Aber was sehen wir am Horn von Afrika? Mehrere Operationen arbeiten dort mehr oder weniger nebeneinanderher: die Operation Atalanta, geführt von Europa, gelegentlich zusätzlich Schiffe, die die NATO als Einsatzverband in diesem Seeraum hat, außerdem OEF und einzelne Schiffe anderer Staaten zur Pirateriebekämpfung. Dies alles macht doch keinen Sinn. Was ich damit sagen will, ist: Wir wollen nicht, dass Deutschland mit einem Ausstieg aus OEF weniger Verantwortung am Horn von Afrika übernimmt. Wir wollen, dass Deutschland die richtige Verantwortung am Horn von Afrika übernimmt und seine Schiffe und seine Seeluftaufklärer eben auch der Operation Atalanta und europäischen Missionen zur Verfügung stellt. Dies wäre der richtige Weg, und den sollten wir jetzt einschlagen. Es ist schon interessant, Herr Außenminister, dass Sie und Ihre Partei heute angedeutet haben, ganz wohl sei es Ihnen beim OEF-Mandat auch nicht. Auch haben Sie gesagt: Eigentlich müsste es schon überprüft werden. So habe ich Sie verstanden. Dies schreiben Sie aber nicht in den Antrag. Sie legen uns das gleiche Mandat wie in der Vergangenheit vor. Das heißt, Sie wollen so wie in der Vergangenheit weitermachen. Dies ist nicht unser Ansatz, auch aus sehr grundsätzlichen Erwägungen. Ich glaube, der Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Kampf gegen Terror erweist sich zunehmend als Irrweg. ({1}) - Langsam, langsam. Ich bin noch nicht fertig. Die Kollegen von der Linken müssen schon bis zum Ende zuhören. - Über diesen Einsatz findet so langsam auch in den Vereinigten Staaten eine Diskussion statt. Wir wissen, es gibt eine Parallele zum Afghanistan-Einsatz, aus dem wir uns aus guten Gründen zurückziehen werden. Die eindeutig von der UNO mandatierte ISAF-Mission ist wichtig: Sie ist dazu da, den Afghanen zu helfen, ihr Land zu stabilisieren, wirtschaftlich voranzubringen, für medizinischen Fortschritt und Bildung zu sorgen. All dies ist richtig, und auch da ist es auf Dauer nicht klug, wenn parallel dazu eine Mission wie die OEF stattfindet, die im Grunde genommen auch für uns nicht ausreichend transparent ist. Darüber haben wir immer wieder diskutiert. Deshalb waren wir sehr dankbar, dass der Außenminister letztes Jahr erreicht hat, dass unsere Beteiligung an dem Teil der OEF-Mission, die sich auf Afghanistan erstreckt, gestrichen wurde. Deshalb sind wir sehr dafür, dass wir uns auch nicht mehr am Horn von Afrika an dieser Mission beteiligen. Ich habe auch keine große Sorge, dass das zu schwierigen Diskussionen mit den Verbündeten führt. Ich habe den Eindruck, der neue Präsident in den Vereinigten Staaten setzt sich von der Haltung seines Vorgängers ab, weil er verstanden hat und weiß, dass der Krieg gegen einzelne Terroristen nicht über die OEF-Mission oder Koalitionen von Freiwilligen zu gewinnen ist, sondern der Krieg gegen Terroristen - das sehen wir in Afghanistan jeden Tag - viel komplexer ist und das Zusammenwirken aller Kräfte verlangt, eben auch der zivilen und der polizeilichen Kräfte sowie der militärischen Kräfte. All dies spricht dafür, die Beteiligung an OEF jetzt zu beenden und damit der Marine den Spielraum zu geben, der es ihr ermöglicht, weitere gute Beiträge im Rahmen der Operation Atalanta zu leisten. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. KarlTheodor zu Guttenberg.

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zum dritten Mal in diesem Marathon der Mandatsdebatten, die wir heute führen. Ich fühle mich, Herr Arnold, an das vorhin von Ihnen gebrauchte Wort „Demut“ erinnert. Zur Demut gehört übrigens auch, dass man gelegentlich zuhört, wenn man angesprochen wird, Herr Arnold. ({0}) Wenn Sie sich in aller Bescheidenheit eben auch über den UN-Sicherheitsrat hinwegsetzen, ist das mit Demut auch nur bedingt vereinbar. Wenn Sie die Kontinuität der Verantwortung betonen - davon halte ich sehr viel -, gleichzeitig aber ein Stück Verantwortungsvergessenheit mit einspielen lassen, möchte ich Ihnen sagen: Es war nicht nur Verteidigungsminister Jung, der zuletzt über das UNIFIL-Mandat mitentschieden hat, es waren auch Ihr Außenminister und die SPD in der Regierung, die das mitentschieden haben. Das sollte man auch an einem solchen Abend nicht vergessen, Herr Arnold. Darauf darf man schon einmal hinweisen. ({1}) So schnell geht es dann plötzlich in der Opposition. Ende 2001 hat dieses Hohe Haus erstmalig unseren militärischen Einsatz im Kampf gegen den internationalen Terrorismus gebilligt. Mittlerweile ist Afghanistan - ja, aus beachtlichen Gründen - aus unserem OEF-Portfolio gestrichen worden, doch bis heute leisten wir auf dieser Grundlage erfolgreich unseren Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus am Horn von Afrika und im Rahmen der NATO-Operation Active Endeavour im Mittelmeer. Der internationale Terrorismus ist auch heute, acht Jahre nach dem 11. September 2001, weiterhin eine weltweite Gefahr, mit allen Wirkkräften, die damit verbunden sind. Die umfassende Bekämpfung des internationalen Terrorismus bleibt deshalb die zentrale Herausforderung für die internationale Staatengemeinschaft. Das gilt es weiterhin zu betonen. ({2}) Deshalb wird auch heute OEF noch gebraucht. OEF ist erfolgreich und verbindet die Vereinigten Staaten mit ihren transatlantischen Partnern. ({3}) Auch diesen Aspekt sollten wir nicht gänzlich ausblenden. Es braucht gleichermaßen die Anwendung politischer, entwicklungspolitischer, polizeilicher, nachrichtendienstlicher, aber eben auch militärischer Mittel, um den Terrorismus und seine Ursachen zu bekämpfen. Deshalb ist es richtig, dass wir unseren Einsatz fortsetzen. Deutschland stellt sich seiner Verantwortung, wenn es darum geht, gemeinsam in der internationalen Staatengemeinschaft auch für Terrorismusbekämpfung einzustehen. Nur solange wir uns beteiligen, können wir auch mitsprechen und die Operation mitgestalten. ({4}) Das ist gerade mit Blick auf Afghanistan auch nicht gänzlich ohne Bedeutung für die Sicherheit unserer Soldaten dort. Das darf auch einmal betont werden. ({5}) Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat am 8. Oktober 2009 mit der Resolution 1890 ({6}) seine fortdauernde Unterstützung für die internationalen Bemühungen zur Bekämpfung des Terrorismus im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen bekräftigt. Wir wollen das bisherige Mandat für die Operation Enduring Freedom fortschreiben. Das Mandat schließt den NATO-Einsatz mit ein. Wir wollen aber auch hier einen Prozess erkennbar werden lassen, wie wir es heute schon bei UNIFIL angesprochen haben, indem wir die Obergrenze von 800 auf 700 Soldaten absenken; ({7}) denn wir sind auch so in der Lage, das erforderliche Fähigkeitsprofil für den Antiterroreinsatz am Horn von Afrika und im Mittelmeerraum abzubilden. ({8}) - Ich habe schon einmal beredtere Zwischenrufe von Ihnen gehört, Herr Trittin. ({9}) Schreibt sich Ihr Zwischenruf „Wow!“ oder „Wau!“? Die Operation Enduring Freedom sowie der Einsatz der NATO im Mittelmeer im Rahmen der Operation Active Endeavour sind ein guter militärischer Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Ich sage aber auch, Bezug nehmend auf den Kollegen Westerwelle, dass es Sinn macht, im nächsten Jahr eine gemeinschaftliche Mission zu überprüfen. Dann wird man sehen, inwieweit man das, was ich als Prozess beschrieben habe, auch als Prozess gestalten kann. Ich glaube, das ist wichtig und auch ein wichtiges Signal, dass die Koalition hier zusammensteht. Durch den Einsatz von See- und Seeluftstreitkräften der Operation Enduring Freedom wird Terroristen am Horn von Afrika und in angrenzenden Seegebieten der Zugang zu Rückzugs- und Aktionsräumen und die Nutzung potenzieller Verbindungswege zu terroristischen Strukturen auf der arabischen Halbinsel erschwert. Gleichzeitig wird ein Beitrag zum Schutz dieser für den Welthandel strategisch wichtigen Seepassage vor terroristischen Anschlägen geleistet. Auch das ist nicht unter den Tisch zu kehren. Diese Seepassagen sind für uns entscheidend. Sie sind wichtige Handelswege. Nicht nur die Piraterie spielt hier eine Rolle, sondern auch der Terrorismus.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr zu Guttenberg, der Kollege Ströbele würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Kollege Ströbele, ich habe bereits heute Morgen umfassend auf Ihre Frage geantwortet. Soll das eine Fortsetzung dieser Fragerunde sein? ({0}) - Nein. Dann bitte sehr. ({1}) Wenn man so angelächelt wird.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, Sie haben davon gesprochen, dass die Einsätze erfolgreich gewesen seien. Können Sie bestätigen, dass die Einsätze am Horn von Afrika unter anderem dazu geführt haben, dass die Anzahl der Kaperungen von Schiffen durch Piraten allein in diesem Jahr um 50 Prozent zugenommen hat und weiter zunimmt und dass sich das Einsatzgebiet der Bundeswehr inzwischen über den halben Indischen Ozean erstreckt? Halten Sie es nicht für besser, dass man am Horn von Afrika die Ursachen der Piraterie bekämpft und dass man insbesondere gegen die Schiffe vorgeht, die dort alle Fischgründe leerfischen - Schiffe aus Japan, aber auch aus Europa, vor allen Dingen aus Frankreich und Spanien, die Fischfabriken an der Küste von Somalia versorgen -, sodass den Fischern und ihren Familien die Existenzgrundlage genommen wird? ({0})

Karl Theodor Guttenberg (Minister:in)

Politiker ID: 11003543

Jetzt darf ich den Kollegen Trittin kurz mit „Wow!“ zitieren. Sie haben sozusagen die ganze intellektuelle Tiefe dieser Frage abgefischt. ({0}) Bei einem Punkt bin ich - überraschend genug - bei Ihnen, Herr Ströbele, und das habe ich hier auch schon betont: Es geht sehr wohl darum, die Ursachen der Piraterie zu bekämpfen, auch, wie ich vorhin gesagt habe, in entwicklungspolitischer Hinsicht. Aber der dialektische Sprung, den Sie gemacht haben, ist schon bemerkenswert. Sie sagen, dass die Piraterie dramatisch zunimmt, sobald dort unten die Seewege auch militärisch gesichert werden. Das übersteigt zumindest meinen Horizont, lieber Herr Ströbele. ({1}) Ich bin ganz froh, wenn ich am Horizont gelegentlich ein Schiff sehe, das vor Piraterie schützt. Dem gleichen Ziel dienen im Mittelmeer die NATOSee- und -Seeluftstreitkräfte im Rahmen der Operation Active Endeavour. Ich bitte deshalb heute um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte im Rahmen der genannten Operationen und um ein klares Votum, damit ein aktives Eintreten Deutschlands im Kampf gegen den internationalen Terrorismus weiterhin erkennbar bleibt, ein Zeichen der Solidarität mit unseren Partnern gesetzt wird und darüber hinaus deutlich gemacht wird, dass wir bereit sind, im Zuge der Entwicklung dieses Mandates zu überprüfen, ob eine gemeinschaftliche Mission in diesem Sinne zugelassen werden könnte oder sollte. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz von der Fraktion Die Linke. ({0})

Christine Buchholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004022, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung spricht in ihrem Koalitionsvertrag von einer „wertegebundenen“ Außenpolitik. Gehört zu diesen Werten auch die Ehrlichkeit? Das, was wir eben vom Exverteidigungsminister zum Massaker von Kunduz vernommen haben, legt etwas anderes nahe: Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. ({0}) Zu den Unwahrheiten gehört es, den Eindruck zu erwecken, die Auslandseinsätze der Bundeswehr wären eine Art humanitäre Hilfsmission. Es gibt de facto keine Trennung zwischen ISAF und OEF in Afghanistan. Beide werden von demselben General geführt. Beide führen einen Krieg, dessen Hauptleidtragende die afghanische Bevölkerung ist. Laut UNO starben allein 2008 über 1 200 Zivilisten. Dieser Krieg wird mit Lügen geführt, und dieser Krieg wurde mit einer Lüge begonnen. Operation Enduring Freedom soll angeblich dem Kampf gegen den Terror dienen. Die NATO begann den Einsatz im Zuge der bedingungslosen Solidarität mit den USA nach den schrecklichen Anschlägen vom 11. September 2001. Die Friedensbewegung hat diese Begründung schon damals abgelehnt und darauf hingewiesen, dass die Taliban selbst 2001 die Auslieferung Bin Ladens unter bestimmten Bedingungen angeboten hatten. Aber die Bush-Regierung suchte gar nicht Bin Laden. Sie suchte einen Vorwand, um den Nahen und Mittleren Osten mit militärischen Mitteln neu zu ordnen, ({1}) um direkten Zugriff auf die Ölreserven des Irak zu bekommen, um den Iran zu isolieren, um den Transport der Ressourcen des kaspischen Raums zum Indischen Ozean zu ermöglichen und um Truppen an der Südflanke Russlands und an der chinesischen Westgrenze zu stationieren. Diese Vision für die US-Außenpolitik hatten spätere Mitglieder der Bush-Regierung bereits 1999 in dem Strategiepapier „For a New American Century“ formuliert. Wir meinen, bei diesem als globalem Feldzug für die andauernde Freiheit verkauften Krieg gegen den Terror geht es in Wirklichkeit um eines: um geostrategische und ökonomische Interessen. ({2}) Deshalb macht Deutschland dabei mit. Wie in Ihrer Koalitionsvereinbarung steht, ist das Ziel Ihrer Außenpolitik die Wahrung deutscher Interessen. Es geht dabei um den Zugang zu Märkten und Rohstoffen, die Sicherung von Handelswegen und um die Aufrechterhaltung der Weltwirtschaftsordnung, einer Weltwirtschaftsordnung, in der Profite und nicht das Wohl der Menschen das Maß aller Dinge sind. Dafür töten und sterben junge Männer und Frauen aus Deutschland in Afghanistan, am Horn von Afrika und wo in Zukunft auch immer. Diese Weltwirtschaftsordnung ist für den Tod von über 10 Millionen Kindern im Jahr verantwortlich, die an Hunger und leicht heilbaren Krankheiten sterben. Für Milliarden Menschen auf der ganzen Welt ist dies der alltägliche Terror. Nur 40 Milliarden Dollar pro Jahr würden reichen, um all diese Leben zu retten. Allein der Krieg in Afghanistan hat inzwischen ein Vielfaches davon gekostet. Wir freuen uns, dass sich in der SPD die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Operation Enduring Freedom abzulehnen ist. Leider führt die SPD - das hat Kollege Arnold eben deutlich gesagt - in Wirklichkeit die bisherige Außenpolitik fort, wenn sie die Aufgaben von OEF jetzt unter der Flagge von Atalanta und ISAF durchführen will. Mit dieser Augenwischerei muss endlich Schluss sein. ({3}) Die einzig richtige Entscheidung kann nur sein, gegen die Verlängerung des OEF-Mandats und gegen alle weiteren Kriegseinsätze zu stimmen. Das ist die Position der Friedensbewegung, und das ist die Position der Fraktion der Linken. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Buchholz, ich gratuliere Ihnen dazu, dass Sie heute Ihre erste Rede vor dem Deutschen Bundestag gehalten haben. ({0}) Der nächste Redner ist der Kollege Omid Nouripour vom Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an den Einsätzen im Rahmen von Operation Enduring Freedom und Operation Active Endeavour. Wenn man den Text des Mandates liest, dann stellt man wieder einmal sehr schnell fest, dass er dem Koalitionsvertrag komplett widerspricht. Im Koalitionsvertrag steht - vielleicht bin ich der Einzige, der diesen Vertrag ernst nimmt; ich habe ihn zumindest gelesen -, „eine kritische Überprüfung der Vielzahl der Mandate“ stünde an. Nun hat der Außenminister erklärt, man habe keine Zeit dafür gehabt, das werde man irgendwann nachholen. Wenn das so ist, dann frage ich mich, warum wir diesem Mandat für zwölf Monate zustimmen müssen, wenn wir beispielsweise das UNIFIL-Mandat auch nur um sechs Monate verlängern. Auch hier wären in der Tat sechs Monate angebracht, wenn Sie noch Zeit zur Prüfung brauchen. ({0}) Der Kollege Stinner hat der Presse gegenüber erklärt, dass es in seiner Fraktion erhebliche Probleme bei der OEF-Mission gebe. Das ist sehr ermutigend. Doch es mutet ein wenig merkwürdig an, wenn man sieht, dass sich die Bundesregierung die Mehrheit in diesem Haus angesichts dieser Probleme mit einer Protokollnotiz sozusagen erkauft. Das muss man sich schon auf der Zunge zergehen lassen, Herr Verteidigungsminister: Sie starten als Mister Klartext und landen in dem Fall als Protokollnotiz. ({1}) - Aber doch. Klar ist aber - das sieht man auch an dem Brief der beiden Minister an die Fraktionsvorsitzenden -: Die völkerrechtliche Grundlage ist einfach nicht mehr gegeben. ({2}) Wenn Sie nach neun Jahren immer noch behaupten, dass das Selbstverteidigungsrecht der USA die völkerrechtliche Grundlage sei, dann ist das schlichtweg absurd. In dem Brief schreiben Sie, was die völkerrechtliche Grundlage der UNIFIL-Mission und von ISAF ist. Bei OEF fehlt das schlicht, und zwar deswegen, weil diese Grundlage einfach nicht gegeben ist. Deshalb freut es mich auch, dass die SPD OEF nicht mehr zustimmen wird, dass diese Einsicht gewachsen ist. Guten Morgen! Ich hoffe, dass diese Einsicht - nachdem Sie das Ganze lange überprüft haben; ich hoffe, das dauert keine zwölf Monate - demnächst auch bei der Bundesregierung ankommen wird. Wir haben die Bewertung vor uns. Diese Bewertung kann nur ein einziges Ergebnis haben: Es gibt nicht nur keine völkerrechtliche Grundlage für diese Mission mehr, sie macht auch keinen Sinn. Wir haben drei Mandate: die NATO-Mission, OEF und die EU-geführte Atalanta-Mission. Sie können uns nicht ernsthaft erzählen, dass OEF eine Mission gegen den Terrorismus sei, wenn man bedenkt, dass in den neun Jahren am Horn von Afrika kein einziger Kontakt entstanden ist. Wir alle wissen: OEF ist am Horn von Afrika, um die Piraterie zu bekämpfen. ({3}) Das schreiben Sie selbst auch. Deshalb ist es eindeutig: Statt dass wir die Flaggenoffiziere in den Brigaden bemühen, permanent die eine Flagge herunter- und die andere Flagge hochzuziehen, lassen Sie diesen Quatsch doch einfach. Lassen Sie uns ein Mandat verabschieden, und zwar für die Pirateriebekämpfung durch die Atalanta-Mission. Deshalb kann ich nur hoffen, dass die erheblichen Probleme, die es zu Recht in der FDP-Fraktion gibt, dahin führen, dass die Kolleginnen und Kollegen sich diesem unsinnigen Mandat verweigern. Ich glaube, dass das der Wahrheit und der Klarheit der Einsätze der Bundeswehr sehr dienen würde. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt das Wort der Kollege Philipp Mißfelder von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte selbstverständlich auch ich der Kollegin Buchholz zu ihrer Jungfernrede gratulieren, selbst wenn sie gerade vor Freude erst einmal im Büro anruft. Frau Kollegin Buchholz, bei vielem hätte ich Ihnen widersprechen können. Aber an einer Stelle möchte ich Ihnen ganz entschieden widersprechen. Ich glaube nicht, dass es in den Deutschen Bundestag gehört, Verschwörungstheorien zu verbreiten und so zu tun, als sei der Ursprung unserer militärischen Einsätze in dieser Region nicht der 11. September 2001, sondern irgendwelche strategischen Planungen, die Sie gerade skizziert haben. So ein Unsinn! ({0}) Das gehört in irgendwelche folkloristische Verschwörungsbelletristik, die Sie selbst in der schlechtesten Bahnhofsbuchhandlung der Welt nicht finden dürften, aber in den Reden der Linkspartei. Deshalb weise ich das entschieden zurück. Auch wenn es zum Glück in Europa und in den USA seit einiger Zeit zu keinen Terroranschlägen gekommen ist, bleibt die Bekämpfung des internationalen Terrorismus eine entscheidende Aufgabe. Diesem Zweck dient der Einsatz, der, wie schon von den Vorrednern skizziert, nicht nur an diesem Ort stattfindet, an dem Deutschland seinen Beitrag leistet. Der Beitrag ist in der Gesamtheit vielmehr in eine Struktur eingebunden. Für die Bundeswehr ist es wichtig - deswegen nenne ich dieses Argument in dieser Debatte, auch wenn es militärstrategisch erscheint -, in diese Strukturen eingebunden zu sein. Das zu negieren, halte ich für falsch. Wir wissen doch alle, dass die Kooperation verschiedener militärischer Einsatzformen, sei es der Europäischen Union, sei es der NATO, immer schwierig ist. Insofern ist es für die Bundeswehr hinsichtlich der Informationsstränge sehr wichtig, auch dort zusammenzuarbeiten. ({1}) Das ist zwar ein fachliches Argument, aber gelegentlich schadet es nicht, fachliche Argumente in einer solchen Debatte zur Kenntnis zu nehmen. ({2}) Wir stellen zunehmend fest, dass sich der Terrorismus in der Region, in der die Bundeswehr aktiv ist, wie selbstverständlich ausbreitet. Denken Sie an den Jemen oder an die Aktion der saudischen Luftwaffe gegen Aufständische in der Region. Allein daraus können Sie ableiten, dass wir dort vor großen terroristischen Herausforderungen stehen. Ich würde es gerade deshalb als Erfolg bezeichnen, dass wir in den vergangenen Jahren keinen direkten terroristischen Kontakt hatten. Wir sehen, dass dort, wo Präsenz gezeigt wird, Erfolge eintreten und sich der Terrorismus auf dem Rückzug befindet. Das ist ein strategischer Vorteil, den wir nicht unterschätzen dürfen. ({3}) Der Einsatz der See- und Luftstreitkräfte am Horn von Afrika ist und bleibt erforderlich, um Terroristen den Zugang zu Rückzugs- und Aktionsräumen in der Region zu erschweren und damit die Kommunikation innerhalb dieser terroristischen Netzwerke zu verhindern oder zumindest zu erschweren. Denken Sie nur einmal daran, was in der Region los war, welches terroristische Potenzial dort schlummerte: Im Jahr 2000 hat eine Serie von Anschlägen, unter anderem gegen die USS „Cole“, dazu beigetragen, dass die Anschläge vom 11. September 2001 von den Terroristen in dieser Region mit vorbereitet wurden, bei denen al-Qaida zum ersten Mal groß in Erscheinung getreten ist. Sie dürfen das große terroristische Potenzial, das in dieser Region herrscht, nicht unterschätzen. Das muss ernst genommen werden. Die Bundeswehr leistet mit ihren Soldatinnen und Soldaten auch dort - das möchte ich an diesem wichtigen Tag zum Schluss meiner Rede noch einmal sagen einen wichtigen Beitrag, den wir nicht unterschätzen dürfen. Ich glaube, dass wir diesen Beitrag aus Gründen der Bündnissolidarität und zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus fortsetzen sollten. Deshalb werbe ich um Ihre Unterstützung für diesen Einsatz. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/38 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf: a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Kinderrechte stärken - Erklärung zur UNKinderrechtskonvention zurücknehmen - Drucksache 17/57 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Dörner, Josef Philip Winkler, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN UN-Kinderrechtskonvention unverzüglich vollständig umsetzen - Drucksache 17/61 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe c) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE UN-Kinderrechtskonvention umfassend umsetzen - Drucksache 17/59 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Marlene Rupprecht von der SPD-Fraktion.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Silvester gibt es immer einen Film, in dem es heißt: „The same procedure as every year!“ Bei uns ist es in jeder Legislaturperiode die gleiche Prozedur: Dann sitzen hier diejenigen, die sich für Kinderrechte einsetzen und kämpfen. Wir haben gerade über Terrorismus geredet. Manchmal habe ich schon Gelüste, die Hartleibigen etwas unsanfter anzugehen, um endlich das durchzusetzen, was der Grund dafür ist, dass wir uns heute hier versammelt haben. Es geht um die Kinderrechte. Wir haben am Freitag, den 20. November 2009, 20 Jahre UN-Kinderrechte gefeiert. Alles, was Rang und Namen hat, war vertreten. Alle haben es toll gefunden, dass man für Kinder etwas tut. Wenn es aber ans Eingemachte geht, ist das auf einmal anders. Was fordern wir? Wir fordern die Umsetzung der UNKinderrechtskonvention in die Tat. Wir fordern, dass Kinder im Alter von null bis 18 Jahren, egal wo sie auf dieser Welt geboren wurden, in jedem Land so behandelt werden wie inländische Kinder. ({0}) Bevor die Bundesregierung - es war eine schwarzgelbe Regierung; das war leider so - die Konvention, die anschließend vom Bundestag ratifiziert wurde, gezeichnet hat, hat sie Vorbehalte eingetragen. Sie haben gesagt: Wir wollen bestimmte Punkte so regeln, wie sie aus unserer Sicht richtig geregelt werden. Ich möchte Art. 41, auf den Sie sich berufen, vorlesen. Da heißt es: Dieses Übereinkommen lässt zur Verwirklichung der Rechte des Kindes besser geeignete Bestimmungen unberührt … Wir haben in einigen Bereichen Vorbehalte eingetragen, obwohl wir die entsprechenden Bestimmungen der Konvention bereits erfüllen. Eigentlich könnte man diese Vorbehalte herausstreichen, ohne dass es sich bemerkbar macht. Bei einem Punkt ist das allerdings anders. Dabei geht es um Kinder, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Flüchtlingskinder im Alter von 16 bis 18 behandeln wir wie Erwachsene. Wir geben sie in Abschiebungsräume und halten sie monatelang in Clearing-Stellen fest. Wir geben ihnen nicht das Recht, dem wir per Unterzeichnung grundsätzlich zugestimmt haben, nämlich das Recht auf Gleichbehandlung. Hier kommt es zu massiven Diskriminierungen. Dafür werden uns auf internationaler Ebene permanent Vorwürfe gemacht. Bisher wurde eine Aufhebung der Vorbehalte immer mit dem Argument abgelehnt, dass die Bundesländer nicht mitmachen. Sie erklären im Koalitionsvertrag - dafür möchte ich Sie ausdrücklich loben -, dass Sie die Vorbehaltserklärung aufheben wollen. Leider sind die Länderminister aber nicht ausgetauscht worden. Jetzt hoffen wir einmal, dass es Ihnen gelingt, was wir in vielen Wahlperioden zuvor nicht geschafft haben. Wir hoffen, dass die Länderminister und vor allem der Bundesinnenminister in der Lage sind, endlich die Aufhebung der Vorbehalte durchzusetzen. ({1}) Darum sind wir hier. Die SPD, die Linken und die Grünen haben dazu Anträge eingebracht. Ich würde Ihnen anbieten: Nehmen Sie doch die drei Anträge und machen Sie daraus einen. Dann unterstützen wir Sie bei der Aufhebung der Vorbehalte. Ich habe schon dem Staatssekretär Hoofe gesagt: Sie haben mich an Ihrer Seite, wenn es darum geht, die Vorbehalte aufzuheben; ich halte auch den Innenminister fest, der immer z'widerwurzig ist. Machen Sie es, und Marlene Rupprecht ({2}) zwar nicht erst irgendwann. Drei gute Anträge liegen vor. Nehmen Sie die Anträge und machen Sie einen daraus! Ich garantiere Ihnen, dass die Fraktionen, die die Anträge eingebracht haben, Sie unterstützen. Es ist nämlich beschämend, dass es bei uns nach wie vor solche Regelungen gibt, dass wir Kinder abschieben, ihnen keine Schulbildung zukommen lassen, wenn sie 16 oder älter sind, dass wir sie gesundheitlich benachteiligen und ihnen keine Maßnahmen der Jugendhilfe angedeihen lassen, dass wir also den Flüchtlingskindern all das, was den anderen Kindern zusteht, nicht gewähren. Mit einer Aufhebung der Vorbehalte würden wir deutlich machen: Wir erfüllen jetzt endlich die UN-Kinderrechtskonvention. Dies hätte bestimmte Folgen: Wir müssten alle Regelungen überprüfen, die noch Diskriminierungen von Kindern enthalten, zum Beispiel im Flüchtlingsrecht und im Ausländerrecht, aber auch alle Bestimmungen, die aus meiner Sicht europaweit längst geregelt worden wären, wenn die deutschen Länderinnenminister dies nicht permanent blockiert hätten. Ich fordere die Regierung, die die Vorbehalte aufheben muss, dazu auf, schnell eine Vorlage einzubringen, damit die UN-Kinderrechtskonvention nach 20 Jahren endlich auch in Deutschland gilt. Ursprünglich haben viele gedacht, dass die Regelungen deshalb nur im Ausland und nicht bei uns gelten sollten, weil die Situation der Kinderrechte bei uns schon recht gut ist. Wir sollten endlich eingestehen, dass auch bei uns Nachholbedarf besteht, wenn wir hier wie in allen anderen Bereichen in der ersten Liga spielen wollen, dass wir also rechtlich nachbessern müssen. In diesem Sinne wünsche ich viel Erfolg. Ich bin mir nicht sicher, dass es gelingt, die Vorbehalte aufzuheben. Es wäre toll, wenn Sie die Innenminister davon überzeugen könnten. Ich wünsche es Ihnen, ich wünsche es uns allen, und ich wünsche es vor allem für die Kinder- und Menschenrechte. Denn die UN-Kinderrechte sind die Ausformulierung der Menschenrechte für Kinder. Sie haben verdient, dass sie anerkannt werden. In diesem Sinne: Viel Erfolg. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Dorothee Bär von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Rupprecht, ich habe gehört, dass dies ungefähr Ihre 25. Rede zu diesem Thema gewesen ist. Das ist natürlich praktisch für Sie; Sie können immer wieder die Redemanuskripte hervorholen. Aber deswegen sind wir heute nicht hier. Wir sind hier, weil die drei Oppositionsfraktionen drei Anträge eingebracht haben. Wir freuen uns, dass wir diese Anträge zum Anlass nehmen können, heute über Kinder und Kinderrechte zu sprechen. Denn vor fast genau 20 Jahren, am 20. November 1989, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Übereinkommen über die Rechte des Kindes verabschiedet. Alle Kinder auf der ganzen Welt haben damals verbriefte Rechte bekommen: das Recht auf Überleben, auf Entwicklung, auf Schutz und auf Beteiligung. Ich glaube, dass wir auf die vergangenen 20 Jahre mit Stolz zurückblicken können, weil wir für die Kinder weltweit, aber natürlich ganz besonders hier in Deutschland in diesen 20 Jahren sehr viel erreicht haben. Sie wissen - das wurde angesprochen -, dass wir damals in Deutschland mit der Ratifizierung eine aus fünf Punkten bestehende Vorbehaltserklärung hinterlegt haben. Vier der fünf Punkte sind inzwischen gesetzlich geregelt. Der einzig relevante verbliebene Punkt betrifft den ausländerrechtlichen Status minderjähriger Jugendlicher. Es ist richtig, dass es bislang keiner Bundesregierung gelungen ist, den Vorbehalt zurückzunehmen. ({0}) - Keiner, Herr Ströbele, auch nicht der rot-grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005. ({1}) Die Forderungen in den nun vorliegenden Anträgen der Opposition nach Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung beschäftigen uns demnach seit vielen Jahren. Wir haben im Koalitionsvertrag zwischen Union und FDP festgehalten, dass wir uns das für diese Legislaturperiode vornehmen. ({2}) Wir werden dies in enger Abstimmung nicht nur mit den Familienpolitikern - ich denke, zwischen den Familienpolitikern herrscht hier Konsens -, sondern auch mit unseren Innenpolitikern, zum einen den Innenpolitikern der Fraktionen, zum anderen den Innenministern der Bundesländer, tun und tun müssen. Wir brauchen deshalb keinen der drei vorliegenden Anträge, um tätig zu werden. ({3}) Die neue Bundesregierung von Union und FDP hat sich also nicht nur vorgenommen, die Vorbehaltserklärung zurückzunehmen, sondern wir wollen weitere wichtige Schritte hin zu einem noch kinderfreundlicheren Deutschland gehen. Ich freue mich über die Anträge, weil ich jetzt dadurch die Möglichkeit habe, Ihnen zu erklären, wie es in den nächsten vier Jahren funktionieren soll, dass Deutschland noch kinderfreundlicher wird. Einige Herausforderungen, die wir uns vorgenommen haben, sind ein wirksamer Kinderschutz, gleiche Bildungschancen für alle Kinder von Anfang an und die Bekämpfung von Kinderarmut. Wir wollen Chancengleichheit schaffen. Dafür brauchen wir für alle Kinder die besten Rahmenbedingungen, damit die Talente, die wir in unserem Land haben, sehr früh gefördert und die Schwächen rechtzeitig ausgeglichen werden. Wir wissen auch, dass sich die meisten Kinder sehr liebevoll in ihren Familien aufgehoben fühlen können, von ihren Eltern gut versorgt werden und viel Zuwendung erhalten. Daneben gibt es aber auch Eltern, die mit der Erziehung der Kinder überfordert sind und ganz dringend unserer Hilfe bedürfen. Deswegen möchte ich, dass wir alle dafür sorgen, dass diesen Eltern und Kindern rechtzeitig geholfen wird, dass wir alle früh hinschauen und auf diese Familien zugehen. ({4}) Eine besondere Pflicht zum Hinschauen haben die Behörden. Deswegen wird die schwarz-gelbe Bundesregierung ein Kinderschutzgesetz auf den Weg bringen, das einen Schwerpunkt auf präventive Maßnahmen legt. ({5}) Wir werden verlässliche Netzwerke frühzeitiger Hilfen ausbauen. Einen weiteren Schwerpunkt setzen wir auf die Förderung der elterlichen Erziehungskompetenz. Um für alle Kinder gleiche Teilhabemöglichkeiten und gute Bildung zu gewährleisten, werden wir, wie angekündigt, auch die Zahl der Kinderbetreuungsplätze weiter ausbauen ({6}) sowie die Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern besser fördern und mehr in sie investieren. Gemeinsam mit den Ländern werden wir auch Eckpunkte zur frühkindlichen Bildung und insbesondere zur Sprachförderung entwickeln. Wir werden die Kinderarmut verringern, indem wir den Kinderzuschlag weiter ausbauen. ({7}) Auch wir wissen, dass mehrere Kinder noch mehr Geld kosten. ({8}) - Frau Rupprecht, ich verstehe, ehrlich gesagt, Ihre ausgelassene Heiterkeit an dieser Stelle nicht. ({9}) Wenn es wirklich so ist, dass Ihnen die Kinder so wahnsinnig am Herzen liegen, dann würde ich mich eigentlich freuen, wenn Sie mehr durch zustimmendes, wohlwollendes Nicken auf sich aufmerksam machen würden. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Rupprecht würde Ihnen gerne eine Frage stellen, Frau Bär. Erlauben Sie das?

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie ist eine fränkische Landsfrau, auch wenn man es nicht hört. Selbstverständlich darf sie eine Frage stellen.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Bär, ich möchte Sie gern fragen, ob Sie zur Kenntnis nehmen, dass man sich, wenn man schon so lange, wie es einige Kolleginnen und Kollegen quer durch die Fraktionen tun, an diesem Thema arbeitet, riesig freuen kann, dass das, was ein paar wenige Kollegen durchzusetzen versucht haben, jetzt endlich angekommen ist. ({0}) Ich freue mich deshalb, weil ich den Lernprozess bezüglich der Rücknahme der Vorbehalte bisher bei keinem festgestellt habe. Wenn beim Kinderschutz ab jetzt auch die Prävention eine Rolle spielt, dann bin ich wirklich sehr stolz. Denn dafür haben wir gekämpft wie die Irren, und jetzt haben wir es erreicht. ({1}) Ich freue mich, daran mitzuwirken, dass wir damit erfolgreich sind. Würden Sie das bitte zur Kenntnis nehmen? Sie sind jetzt neu in unserem Ausschuss. Deshalb glaube ich, dass es noch ein bisschen Zeit braucht, bis das, was wir bisher erreicht haben, überall angekommen ist. Wenn Sie bereit wären, auch dies zur Kenntnis zu nehmen, wäre ich Ihnen dankbar. ({2}) Meine Frage ist, ob Sie sich bereits damit befasst haben, welche Maßnahmen, auch zur Zeit der Großen Koalition, als wir diesen Weg gemeinsam gegangen sind, bereits eingeleitet oder durchgeführt wurden. Ich breche nämlich nicht mit der Vergangenheit; schließlich haben wir alle unseren Beitrag geleistet. ({3}) Meine Frage lautet also: Haben Sie sich schon angesehen, was wir damals gemacht haben?

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens, Frau Kollegin, nehme ich Ihre Freude natürlich sehr gerne zur Kenntnis. Zweitens. Wenn Sie das Neue feststellen, dann wissen Sie auch, dass neue Besen gut kehren. ({0}) Insofern freue ich mich natürlich auf eine sehr gute Zusammenarbeit mit Ihnen. Wenn Sie mit Ihrer Frage noch bis zu meinem nächsten Absatz gewartet hätten, hätten Sie feststellen können, dass ich auch die letzte Legislaturperiode besonders hervorgehoben hätte, weil in der letzten Legislaturperiode unsere hervorragende Bundesfamilienministerin Frau von der Leyen verantwortlich war. ({1}) Ich fahre in meiner Rede fort. Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir die Staffelung des Kindergeldes für kinderreiche Familien, den Kinderbonus und das Schulbedarfspaket beschlossen. All diese Maßnahmen waren natürlich sehr wichtig. Ein kleiner Punkt, der die Wertschätzung der Gesellschaft gegenüber Familien mit Kindern ausdrückt, ist unser Vorhaben, die bestehenden Gesetze so zu ändern, dass Kinderlärm nicht mehr als Störung, sondern als Zukunftsmusik empfunden wird und dass er keinen Anlass für gerichtliche Auseinandersetzungen mehr sein darf. ({2}) Ich würde mich sehr freuen, wenn alle Kolleginnen und Kollegen, auch die der Oppositionsfraktionen, unsere Regierung mit der gleichen Freude, Begeisterung und Ausgelassenheit wie die Frau Kollegin Rupprecht in den nächsten vier Jahren begleiten würden. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Diana Golze von der Fraktion Die Linke. ({0})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Bedeutung des internationalen Übereinkommens über die Rechte von Kindern kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Keine andere Menschenrechtskonvention ist von so vielen Staaten ratifiziert und unterzeichnet worden. Gegenüber keiner anderen gab und gibt es leider aber auch so viele Vorbehalte wie gegenüber dieser Konvention. Auch Deutschland hat einen solchen Vorbehalt geäußert. In diesem Haus wurde bereits viermal beschlossen, dass die Vorbehaltserklärung endlich zurückgenommen werden soll. Mehrmals wurde dieses Thema auch in der letzten Legislatur von den damaligen Oppositionsfraktionen auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist das zweifelhafte Verdienst der Großen Koalition, dafür gesorgt zu haben, dass diese Anträge in der vergangenen Legislatur nicht einmal die Hürde der Fachausschüsse nehmen konnten. Vor allem wegen der Blockadehaltung der CDU/CSU-Fraktion, Frau Bär, setzt sich dieser zwei Jahrzehnte schwelende Streit über die vollständige Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland fort. ({0}) Natürlich freut es mich und meine Fraktion, dass sich in den Koalitionsverhandlungen zumindest in der Frage der Rücknahme der Vorbehaltserklärung die FDP anscheinend durchsetzen konnte. ({1}) So steht im Koalitionsvertrag: Wir wollen die Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen. Dies wurde von den Medien als Erfolg meiner Kinderkommissionskollegin Miriam Gruß gedeutet, die sich damit in den Koalitionsverhandlungen durchgesetzt habe. Allerdings muss dieser Erfolg mit Vorsicht betrachtet werden; denn Frau Gruß hat hier im Plenum für ihre Fraktion erklärt, dass sie die Auffassung der Bundesregierung teilt, das deutsche Recht stehe schon jetzt in Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen, die sich aus der Kinderrechtskonvention ergäben, und eine Änderung des deutschen Rechts sei deshalb nicht erforderlich. ({2}) Das kann man in den bisherigen Anträgen der FDP nachlesen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, dies ist deutlich zu kurz gesprungen. Es geht nicht nur darum, „ein Signal für ein kinderfreundliches Deutschland“ zu setzen, oder darum, „Irritationen zu vermeiden“, oder darum, den „Dialog mit den Kinderrechtsorganisationen … [zu] entspannen“, wie Frau Gruß und ihre Fraktion es formuliert haben. Wir wollen nicht wie in den vergangenen Jahren reine Symbolpolitik an die Stelle von wirklicher Umsetzung der Kinderrechte setzen. Wir wollen nicht, dass eine Rücknahme der Vorbehaltserklärung wieder an den Ländern scheitert. Wir wollen, dass die dringend erforderlichen Änderungen im deutschen Aufenthalts-, Asylverfahrens- und Sozialrecht endlich vorgenommen werden. ({3}) Das, meine Damen und Herren, läge bereits jetzt in der Macht dieses Parlaments; es müsste nur endlich den Mut dazu finden. Genau aus diesem Grund müssen sich alle Bundesregierungen, die das Parlament vertröstet haben, fragen lassen, wie ernst sie es mit den Kinderrechten wirklich meinen. ({4}) Es hilft den betroffenen jungen Menschen nicht weiter, dass sich die Politik lautstark über den rechtlichen Stellenwert der Vorbehaltserklärung streitet. Fakt ist, dass die Vorbehaltserklärung existiert und Folgen hat. Die Zahl der unbegleiteten Flüchtlinge zwischen 16 und 18 Jahren hat sich gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt: 616 waren es in diesem Jahr. Diese Kinder sind geflüchtet vor Krieg, vor drohender Zwangsrekrutierung, vor Verfolgung, vor Beschneidung, vor Zwangsverheiratung. Diese Kinder kommen nach einer dramatischen Flucht hier in Deutschland an, erhalten aber nicht, was jedes Kind bekommen würde, dem so etwas hier in Deutschland widerfahren wäre. Nein, stattdessen folgen ein Asylverfahren ohne Beistand, die Unterbringung in Sammelunterkünften und fragwürdige Altersfeststellungsverfahren. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Kinder endlich menschenwürdig und ihrer Situation entsprechend behandelt werden. ({5}) Genau das ist der Grund, warum es um mehr geht als um eine symbolische oder formelle Rücknahme der Vorbehaltserklärung. Es freut mich, dass die Kolleginnen und Kollegen der Grünen ihren Antrag aus der vergangenen Wahlperiode um diesen Punkt erweitert haben. Ich freue mich auch über den Antrag der SPD; allerdings hat die SPD das, was wir in unserem Antrag fordern, lediglich in der Feststellung formuliert. ({6}) Aus Ihrer Regierungserfahrung müssten Sie wissen, dass durch eine bloße Feststellung weder das Asylrecht noch das Aufenthaltsrecht geändert wird. Insofern hoffe ich, dass Sie sich den weiter gehenden Forderungen der Grünen und meiner Fraktion, der Linken, anschließen. Die Linke hat in der letzten Wahlperiode gesagt und bleibt dabei: Die Kinderrechte müssen für alle Kinder gelten. Es ist nicht schwer, zu erahnen, was der UN-Ausschuss sagen wird, wenn die Bundesregierung den längst überfälligen Staatenbericht zur Umsetzung der UNKinderrechtskonvention endlich abgegeben hat: Deutschland ist meilenweit davon entfernt, ein kinderfreundliches Land zu sein: wachsende Kinderarmut, Bildungsungerechtigkeit, fehlende Beteiligungsrechte für Kinder und letztlich die massive Verletzung der Rechte von Flüchtlingskindern. Für die Bundesrepublik Deutschland gibt es in Sachen Umsetzung der Kinderrechte also eine schlechte Note: Ungenügend. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sibylle Laurischk von der FDP-Fraktion. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es freut mich, dass das Thema Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention erneut auf der heutigen Tagesordnung steht. Ich denke, inhaltlich gibt es in der Debatte um die Rücknahme der Vorbehaltserklärung nicht mehr viel hinzuzufügen. Wie Sie wissen, haben wir uns als FDP in den letzten Jahren für eine Rücknahme stark gemacht. Durch die UN-Kinderrechtskonvention werden allen Kindern Grundrechte gewährt: das Recht auf Überleben, das Recht auf Schutz vor Missbrauch und Gewalt, das Recht auf Bildung, das Recht auf einen eigenen Namen, auf Information und auf Beteiligung am gesellschaftlichen Leben. Vor über 16 Jahren trat für die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 in Kraft. Eine im Zuge der Ratifizierung abgegebene Erklärung enthält jedoch Vorbehalte, die sich insbesondere auf das elterliche Sorgerecht, die anwaltliche Vertretung und weitere Rechte von Kindern im Strafverfahren sowie im Vorbehalt IV auf die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, auf die Bedingungen ihres Aufenthalts und auf Unterschiede zwischen In- und Ausländern beziehen. Das deutsche Recht muss im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen stehen, die sich für die Bundesrepublik Deutschland aus der UN-Kinderrechtskonvention ergeben. Es besteht daher keine Notwendigkeit, länger an der Erklärung festzuhalten. ({0}) Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung ist aber nicht nur rechtlich notwendig, sie ist auch politisch geboten; denn es gilt, national wie international bestehende Zweifel am Willen Deutschlands, die UN-Kinderrechtskonvention uneingeschränkt durchzusetzen, auszuräumen. ({1}) Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung stellt ein dringend notwendiges und überfälliges Signal für ein kinderfreundliches Deutschland dar. ({2}) Ich möchte an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass es hier um das fundamentale Thema Menschenrechte geht, und zwar insbesondere um die Rechte minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge. ({3}) Es kann und darf nicht sein, dass Flüchtlingskinder ab 16 Jahren im Asylverfahren wie Erwachsene behandelt werden und keinen juristischen Beistand bekommen. ({4}) Es kann und darf nicht sein, dass ihre Asylanträge abgelehnt werden, weil ihr Schicksal angeblich keine politische Verfolgung im Sinne des deutschen Asylrechts darstellt. Es kann und darf nicht sein, dass diese Kinder und Jugendlichen in Abschiebehaft geraten können. Schließlich kann und darf es nicht sein, dass sie beim Schulbesuch, bei der medizinischen Versorgung oder bei den Ausbildungsmöglichkeiten schlechter als deutsche Kinder gestellt sind. ({5}) Dass all diese Szenarien nach jetziger Rechtslage in Deutschland denkbar sind, ist ein inakzeptabler Missstand. Davon abgesehen machen wir uns auf internationalem Parkett lächerlich. Es darf keine Irritationen und kein Zweifel am Willen Deutschlands geben, die UNKinderrechtskonvention uneingeschränkt durchzusetzen. Wir dürfen anderen Staaten keine Gründe liefern, selbst Vorbehalte anzumerken. ({6}) Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung stärkt die Position der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des internationalen Menschenrechtsschutzes und hilft innerhalb und außerhalb Deutschlands, Irritationen zu vermeiden. Durch die Rücknahme der Erklärung wird sich zudem der Dialog mit den Kinderrechtsorganisationen, die die Rücknahme seit langem fordern, merklich entspannen. Kinderrechte sind Menschenrechte. Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung ist ein dringend notwendiges und überfälliges Signal für ein kinderfreundliches Deutschland. Deswegen haben wir es uns in unserer Koalitionsvereinbarung auch so vorgenommen. ({7}) Wir müssen den heute hier vorliegenden Anträgen auch nicht zustimmen, weil wir handeln werden. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Dörner von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Katja Dörner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004030, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nicht schlecht, habe ich bei meinem ersten Blick in den Koalitionsvertrag gedacht. Denn die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention sollen zurückgenommen werden. Wir alle sind uns einig, so habe ich hier gehört: Die Rücknahme ist lange gefordert, sie ist auch schon oft beschlossen worden, und sie ist wirklich mehr als überfällig. ({0}) Jetzt, so wenige Wochen später, bin ich leider schon enttäuscht. Die Koalition hat es noch nicht einmal geschafft, zu dieser heute nun wirklich erwartbaren Debatte einen eigenen Antrag vorzulegen. Von dem einen oder anderen war zu hören, die Zeitspanne sei auch etwas kurz gewesen. Aber ich finde, dieses Argument kann man nicht gelten lassen. Die Koalition hat es sogar geschafft, einen Gesetzentwurf vorzulegen, um das Kindergeld und den Kinderfreibetrag zu erhöhen. ({1}) Eine solche Maßnahme kommt aber gerade den ärmsten Kindern in unserem Land - das haben wir hier schon einige Male gehört - nicht zugute. ({2}) Ich möchte darauf verweisen, dass UNICEF Deutschland in der vergangenen Woche anlässlich des 20. Geburtstags der Kinderrechtskonvention ausdrücklich die wachsende Kluft zwischen den armen und reichen Kindern, zwischen Kindern mit Chancen und solchen ohne auch hier bei uns in Deutschland problematisiert hat. ({3}) Frau Bär, Sie haben eben gesagt, dass Sie die Kinderarmut in Deutschland bekämpfen wollen. Lesen Sie einmal in Ihrem Wachstumsbeschleunigungsgesetz nach, was Sie an der Stelle machen! Gerade den ärmsten Kindern in unserem Land wird das nicht zugutekommen. ({4}) Um es ganz deutlich zu sagen: Die Rücknahme der Vorbehalte ist mitnichten ein formaler Akt. Ich vermisse im Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis zu der Tatsache, dass die Rücknahme echte rechtliche Folgen haben muss. ({5}) Ich bin leider sehr skeptisch, dass hier von CDU/CSU und FDP tatsächlich etwas bewegt werden wird, damit endlich der Zustand beendet wird, Kinder, die traumatisiert und alleine in Deutschland Schutz und Zuflucht suchen, in Sammellager zu verfrachten und 16-Jährige in ihren Asylverfahren wie Erwachsene zu behandeln. Ihnen wird der Zugang zu medizinischer und psychologischer Behandlung verwehrt. In manchen Bundesländern sind sie noch nicht einmal schulpflichtig. Ich finde, das ist ein Skandal in unserem Land. ({6}) Es muss ganz klar sein: Die Vorbehalte zurückzunehmen, darf keine Mogelpackung sein, mit der sich die Bundesregierung schmückt, ohne rechtliche Konsequenzen folgen zu lassen. Welche Rolle spielen die Bundesländer? Ich gehe davon aus, dass das zukünftig kein Problem mehr sein wird. Denn in früheren Jahren haben alle Abfragen ergeben - darauf wurde schon hingewiesen -, dass es die schwarz-gelben Länder waren, die sich geweigert haben. Zu denen werden Sie jetzt einen Superzugang haben. Deshalb gehe ich einfach davon aus, dass das zukünftig nicht mehr vorkommen wird. ({7}) - Genau. Ich bin neu und darf noch optimistisch sein. Grundsätzlich finde ich aber auch, dass die Bundesregierung an dieser Stelle keine falsche Rücksicht auf die Bundesländer nehmen sollte. Den Bundesländern gegenüber rücksichtsvoll zu sein - viele Bundesländer haben sich mittlerweile selber dahin gehend geäußert, dass sie die Vorbehaltserklärung gerne zurückgenommen sehen wollen -, aber rücksichtslos gegenüber den Flüchtlingskindern: Das wäre ein kinderrechtliches Trauerspiel. ({8}) Ich bin von CDU/CSU und FDP auch deshalb enttäuscht, weil ihr Engagement für die Kinderrechte in Deutschland insgesamt wenig ambitioniert ist. Ich finde, es braucht viel mehr als das, was wir wohl in den nächsten vier Jahren erwarten dürfen. Wir brauchen beispielsweise eine umfassende Strategie zur Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland. Der Nationale Aktionsplan muss weiterentwickelt und engagiert fortgeführt werden. Der deutsche Staatenbericht muss endlich vorgelegt werden. Darauf warten wir seit Monaten. Wir müssen auch - davon bin ich überzeugt - unsere Verfassung ändern. UNICEF-Botschafterin Sabine Christiansen hat den Satz geprägt - ich zitiere -: Der Tierschutz ist im Grundgesetz verankert, das ist auch gut so, die Kinderrechte nicht. ({9}) Ich finde, das sollte nicht so bleiben. Kinderrechte gehören in unser Grundgesetz. Das ist weit mehr als nur Symbolik. Auch das ist aus meiner Sicht längst überfällig. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Dörner, ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt die Kollegin Michaela Noll von der CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Marlene, „the same procedure“. Du hast recht in diesem Punkt. Ich freue mich sehr darüber, dass hier viele ehemalige Mitglieder der Kinderkommission sitzen. Wir haben das Thema UN-Kinderrechtskonvention immer wieder besprochen. Ich schätze, Kollegin Ingrid Fischbach hat ihre achtzehnte Rede dazu gehalten. Du, Marlene, bist bei der fünfundzwanzigsten angekommen. Über dieses Thema ist immer wieder im Plenum diskutiert worden. Ich bin froh, dass wir im Koalitionsvertrag darauf eingegangen sind. Es war dabei sicherlich nicht schädlich, dass zwei Mitglieder der Kinderkommission an den Koalitionsverhandlungen teilgenommen haben. Das war der Sache nur dienlich. Deswegen richte ich an dieser Stelle meinen Appell an alle Fraktionen. Ich würde mich freuen, wenn es uns wieder gelingt, eine Kinderkommission einzurichten; denn eine solche Kommission setzt eigene Akzente, hat das Kindeswohl im Auge und kann eine überparteiliche Beschlussfähigkeit aufweisen. Es würde mich für die Sache sehr freuen. ({0}) Ich bin sehr dankbar, liebe Marlene, dass du uns gelobt hast. Ich bin zuversichtlich, dass es uns diesmal gelingen kann; denn wir haben nun die Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat. Ich hoffe, dass die Innenminister zu der Einsicht gelangen, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht. Ich jedenfalls habe diese Hoffnung nicht aufgegeben. Wir werden entsprechende Gespräche führen. Ich bin auch sehr dankbar, dass Kollegin Dorothee Bär den Spannungsbogen aufgezeigt und geschildert hat, was wir über die Konvention hinaus für Kinder machen wollen. Der aktive Kinderschutz, die Bildungschancen und die Kinderarmut wurden schon angesprochen. Es geht auch darum, wie Kinder in Deutschland tatsächlich leben. Sie hat das Stichwort „Kinderlärm“ erwähnt. Ich hätte nicht gedacht - ich glaube, das trifft wohl auf fast jeden Wahlkreis zu -, dass Einrichtungen geschlossen werden, weil Nachbarn plötzlich der Ansicht sind, es werde zu viel Kinderlärm gemacht. Ich habe es bei einem alle zwei Jahre stattfindenden Schüler-SponsorenLauf zugunsten eines südamerikanischen Schulprojekts - Schüler unterstützen Schüler - erlebt: Wir dürfen den Startschuss nicht mehr geben, weil sich die Nachbarn genervt fühlen. Ich bin froh, dass im Koalitionsvertrag auch auf dieses Thema eingegangen wird; denn auch das trägt zu einer Änderung in den Köpfen bei und rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie wir mit Kindern umgehen. Schaffen wir ein kinderfreundliches Land! Liebe Kollegin Golze, ich bin froh, dass wir in der heutigen Debatte einen etwas gemäßigten Ton angeschlagen haben. Ich hatte schon die größten Befürchtungen. Was wir in der Geschäftsordnungsdebatte in der letzten Legislaturperiode gehört haben, war zum Teil alles andere als schön. Aber eines ist falsch: Ich denke, unsere Bilanz der letzten vier Jahre ist wirklich gut. Schauen Sie sich an, was wir in der Familienpolitik auf den Weg gebracht haben! Nicht umsonst hat Familienpolitik im Fokus der Öffentlichkeit gestanden. Wir haben den Ausbau der Betreuungsplätze vorangebracht sowie das Elterngeld und die Elternzeit eingeführt. Es gibt noch viele andere Aspekte. Eltern haben sich in Deutschland plötzlich ernst genommen und wahrgenommen gefühlt. Unter vielen anderen Regierungen war die Familienpolitik leider ein Randthema. Deswegen möchte ich das, was Sie gesagt haben, so nicht stehen lassen. Frau Dörner, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede. In einem Punkt haben Sie recht. Sie haben am Anfang Ihrer Rede gesagt, dass Sie beim Lesen des Koalitionsvertrages gedacht hätten: Nicht schlecht! Genau so ist es. Sie haben dann gefragt, warum wir keine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht haben. Richtig ist: Wir sind erst in der zweiten Sitzungswoche. Die Ausschüsse haben sich gerade erst konstituiert. Ich finde folgende Aussage in Ihrem Antrag sehr wichtig: Die UN-Kinderrechtskonvention ist ein Meilenstein in der Geschichte der Kinderrechte. - In diesem Punkt gibt es große Akzeptanz und einen großen Konsens in diesem Plenum. Dass es nach wie vor zwei Länder gibt, die diese Konvention nicht ratifiziert haben, finde ich bedauerlich. (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Somalia ist dabei! - Dann ist es ja gut. Dann gibt es nur noch ein Land. Wir können versuchen, auf internationaler Ebene Einfluss zu nehmen. ({1}) Bislang ist aber noch nicht deutlich geworden, was wir alles im Zusammenhang mit der UN-Kinderrechtskonvention auf den Weg gebracht haben. Ich nenne ein paar Punkte. Ein Beispiel ist die Kindschaftsrechtsreform. Das war 1998 eines der großen Projekte. Das Herzstück war die Regelung zum gemeinsamen Sorgerecht. ({2}) Für Eltern und vor allem für die Kinder war es wichtig, dass sich hier etwas getan hat. Wir haben zudem das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und das Tagesbetreuungsausbaugesetz auf den Weg gebracht. Ich finde, einiges ist erreicht worden. Die Aussage - das ist auch der Tenor des Antrags der Linken -, dass die Kinder, die sich illegal in Deutschland aufhalten, nicht entsprechend betreut werden, möchte ich so nicht stehen lassen. In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Grünen heißt es - es wäre ganz sinnvoll, wenn die Linken das nachlesen würden; Drucksache 16/6076 -: Nach Auffassung der Bundesregierung entspricht das Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht in vollem Umfang den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge berücksichtigt bei der Bearbeitung von Asylanträgen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge deren spezifische Bedürfnisse auf vielfältige Weise. Gerade die asylverfahrensrechtliche Anhörung bei Minderjährigen wird einfühlsam und weniger formal durchgeführt als bei den Volljährigen. ({3}) Wir haben Sonderbeauftragte, die wirklich versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf die Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Deswegen, meine ich, ist das, was Sie hier vorgetragen haben, in der Sache nicht korrekt. ({4}) Seit 1992 gab es nicht nur schwarz-gelbe Regierungen. An der Aufrechterhaltung der Vorbehalte waren alle beteiligt. Es ist aber keinem gelungen, ihre Rücknahme der Vorbehalte durchzusetzen. ({5}) - Auch die hatten schon Innensenatoren, die sich ablehnend angestellt haben. ({6}) Wichtig ist, zu fragen: Was wollen wir? Ich glaube, wir sollten die gute Chance durch den jetzigen Koalitionsvertrag einfach nutzen. Wir sollten uns dafür einsetzen, die Rücknahme der Vorbehalte wirklich zu erreichen. Das wäre auf internationaler Ebene ein gutes Zeichen. Ich glaube, dass wir die Kraft dazu haben. Wir werden uns daher alle in diesem Rahmen entsprechend bemühen. Das ist versprochen. Danke. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Christoph Strässer von der SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von denjenigen, die nicht zum ersten Mal zu diesem Thema sprechen, bin ich wahrscheinlich derjenige, der am ältesten aussieht. ({0}) Das soll aber nichts daran ändern, dass es auch im gesteigerten Alter noch wichtig und richtig ist, sich für die Rechte von Kindern einzusetzen. Frau Kollegin Noll, Sie haben recht: Natürlich würde es der Bundesrepublik Deutschland gut anstehen, wenn sie mit hoher Legitimation die Umsetzung der Kinderrechtskonvention in den Staaten, wo dies noch nicht geschehen ist, vorantreiben könnte. Wieso sollen aber ausgerechnet wir aus Sicht anderer Länder Glaubwürdigkeit besitzen, wenn wir selbst nicht in der Lage sind, die Kinderrechtskonvention ihrem Sinne und Inhalt nach komplett und vollständig umzusetzen? Das ist doch genau der Punkt, mit dem wir es die ganze Zeit zu tun haben. ({1}) Ich bin weiß Gott nicht jemand, der alles auf andere schieben will. Herr Kollege Haibach, wir haben in den letzten vier Jahren im Menschenrechtsausschuss wirklich eingehend versucht, einen Konsens in der Großen Koalition hinzubekommen. Ich weiß, dass das Hindernis nicht die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist. Ich muss aber doch konstatieren, dass es im letzten Jahr, im Herbst 2008, eine Bundesratsinitiative von SPD-regierten Ländern gegeben hat. Die gibt es immer noch, und im Mai wird wahrscheinlich noch Weiteres dazukommen; das ist ja ganz gut. Ich darf Sie daran erinnern, woran dieser Vorstoß gescheitert ist. Er ist daran gescheitert, dass diese Initiative im Bundesrat noch nicht einmal diskutiert worden ist. Die CDU-regierten Länder haben die Diskussion verweigert. Sie haben gesagt: Wir machen das nicht. Ich kann Ihnen auch sagen, warum das so ist. Man hat damals - das ist doch der eigentliche Skandal - den ausländerrechtlichen Vorbehalt in den Ratifizierungsprozess eingeführt, weil man der Meinung war - Entschuldigung, ich sage das etwas platt und überspitzt -: Wenn Deutschland das macht, dann werden wir von Kindern überschwemmt, auf die diese Kinderrechtskonvention zutrifft. - Das ist absurd. Das ist zynisch. Das ist menschenfeindlich. Das muss man ganz einfach einmal sagen. ({2}) Die Zahlen, die genannt worden sind, sprechen eine ganz deutliche Sprache. Es ist wirklich nicht nachvollziehbar, mit welchen Argumenten ein Bundesland - welches auch immer - sagen kann: Wir wollen diese Umsetzung in dieser Situation nicht durchführen. Ich kann nur sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Aber auch das, was ich im Koalitionsvertrag gelesen habe, überzeugt mich definitiv nicht. Auf die einfache, pauschale Formulierung „Wir wollen etwas erreichen“ müssen Taten folgen. Sie können sich nicht darauf zurückziehen, dass die Legislaturperiode gerade erst angefangen hat. ({3}) Ich habe in den letzten Wochen und Monaten gehört und gelesen, dass sich CDU/CSU und FDP darauf vorbereitet haben, gemeinsam zu regieren. Wenn es möglich gewesen wäre, in einem solch relativ einfachen Fall schnell eine Abstimmung herbeizuführen, dann hätten wir diese Diskussion heute Abend nicht. Ich unterstütze Sie doch, Frau Laurischk. Sie sind doch diejenigen, die das wahrscheinlich betrieben haben. Sie können darauf zählen, dass Sie die Unterstützung der Opposition haben, wenn Sie das umsetzen wollen. Aber die Erfahrungen, die wir haben - das sage ich Ihnen noch einmal ganz deutlich -, sprechen eine ganz andere Sprache. Ich möchte Ihnen deshalb ein Beispiel nennen, um zu zeigen, um was es eigentlich geht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischbach?

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, sicher. Ich habe heute schon viele gute Zwischenfragen gehört, die immer beste Profilierungschancen geboten haben.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann hoffe ich jetzt auf eine gute Antwort, Herr Kollege Strässer. Ich wollte nur fragen, ob Ihnen bewusst ist, dass in den rot-grünen Regierungsjahren selbst Ihre Minister vor der Kinderkommission gesagt haben, sie brauchten es gar nicht zu versuchen, und sie würden es auch nicht versuchen, die Vorbehalte zurückzunehmen, weil da eigentlich nichts richtig zurückzunehmen ist. Die Entwicklungen seien eigentlich so fortgeschritten, dass man sie gar nicht mehr zurücknehmen müsse. Deshalb sei man diesen Weg nicht gegangen. Stimmen Sie mit mir darin überein, dass es auch unter Ihrer Ägide - Sie sagten gerade, es liege nur an der CDU -, also selbst unter Rot-Grün, nicht möglich war, diesen Weg zu gehen?

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, Sie haben mir nicht richtig zugehört. Ich habe zu Beginn gesagt: An der Tatsache, dass wir jetzt darüber streiten, sind alle mitschuldig. Nur, ich kann Ihnen noch einmal sagen - das betraf den Hinweis auf die Bundesratsinitiative des letzten Jahres -: Alle SPD-regierten Bundesländer haben diesen Antrag im Bundesrat eingebracht, und er ist ausschließlich an den Bundesländern gescheitert, die von Ihrer Partei regiert werden. Dann können Sie sich bitte schön hier nicht hinstellen und bei uns Glaubwürdigkeit in Anspruch nehmen, die Sie in den letzten vier Jahren aus meiner Sicht massiv verspielt haben. ({0}) Wie gesagt: Mir geht es gar nicht darum, jetzt die Vergangenheit zu bewältigen, sondern mir geht es darum, dafür zu sorgen, dass es nach vorne geht. Ich will Ihnen dazu ein Beispiel nennen, was sich in diesem Jahr, im Jahr 2009, im Land Niedersachsen abgespielt hat. Wir reden hier immer ganz pauschal über Verfahren, wir reden ganz pauschal über Grundrechte, aber es sind Einzelschicksale. Da wird ein 16-jähriges Romamädchen unbegleitet in das Kosovo abgeschoben. Dieses Mädchen ist aus Furcht vor sexuellen Übergriffen, die es erlitten hat, nach Deutschland gekommen. Wo seine Eltern sind, weiß kein Mensch. Es wird alleine nach Pristina abgeschoben, obwohl wir wissen, dass das die europäische Drehscheibe für Menschenhandel, für Frauenhandel und für Prostitution ist. Das ist die praktische Folge dessen, was wir hier seit vielen Jahren bekämpfen. Alleine deshalb sage ich: Die Frage der Umsetzung der Kinderrechtskonvention hat auch massiv etwas mit Menschenwürde, mit Kinderrechten insgesamt zu tun. ({1}) Ich sage das angesichts aller fortschrittlichen Dinge, die unter Rot-Grün und der Großen Koalition geschehen sind: Solange das nicht geregelt ist, ist für viele Kinder und Jugendliche in diesem Alter der Anspruch, dass Deutschland ein kinderfreundliches Land ist, ein purer Etikettenschwindel. Wir sind gerne bereit, diesen Etikettenschwindel dadurch zu beseitigen, dass wir es jetzt endlich in den nächsten vier Jahren hinbekommen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Dr. Peter Tauber von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Liebe Frau Rupprecht, ich habe Ihnen wegen Ihrer mitreißenden und Ihrer optimistischen Art sehr gerne zugehört. Aber nach dem weiteren Verlauf der Debatte bin ich doch geneigt, mein ebenfalls relativ optimistisch gehaltenes Manuskript beiseite zu legen und auf vier Punkte einzugehen, die aus meiner Sicht in den letzten Minuten der Debatte einen zu großen Schwerpunkt eingenommen haben. Der erste Punkt: Wir haben, anstatt nach vorne zu schauen - gerade Sie, Herr Kollege, haben das jetzt noch einmal getan -, eine Verursacherdebatte geführt und gefragt, wer eigentlich wann schuld gewesen ist und warum wir die Vorbehaltsregelung in der gegenwärtigen Form noch haben. Ich glaube nicht, dass das weiterhilft, und ich glaube auch nicht, dass das jemanden, der betroffen ist, interessiert. Auch das sage ich Ihnen ganz offen. An der Stelle kann ich mir eine Bemerkung nicht verkneifen. Schauen Sie sich an, wer 1992 die Mehrzahl der westlichen Bundesländer regiert hat. ({0}) - Ja, aber ich nehme mir heraus, der Wahrheit die Ehre zu geben und von unserer Seite daran zu erinnern. ({1}) Wie gesagt: Schauen Sie sich an, wer 1992 in neun Ländern die Regierung gestellt hat. In diesen Ländern gab es rot-grüne Landesregierungen. Der Ministerpräsident des Saarlandes hieß Oskar Lafontaine. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir mit solch einer Verursacherdebatte nicht weiterkommen. ({2}) Der zweite Punkt ärgert mich auch. Sie suggerieren, dass wir durch die Rücknahme der Vorbehaltsregelung zu fundamental anderen Rechtsgrundlagen kommen würden. Die Kollegin hat dankenswerterweise aus der Antwort auf die Große Anfrage der Grünen zur Rücknahme der Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention vom Juli 2007 zitiert. Die Antwort auf die Frage 10 ist ganz klar: Das deutsche Asylverfahrensrecht und das Aufenthaltsrecht entsprächen schon heute in vollem Umfang der UN-Kinderrechtskonvention. Wir können da vielleicht noch über rechtliche Details streiten, aber doch nicht darüber, dass wir von dem, was angestrebt wird, längst nicht so weit weg sind, wie Sie es suggerieren. Auch das ärgert mich. Der dritte Punkt - ihn halte ich eigentlich für besonders schlimm -: Durch die Art der Argumente und die Wahl der Worte nehmen Sie bewusst in Kauf, dass der Eindruck entstehen könnte, dass Deutschland massive Defizite im Bereich Kinderrechte hat. Natürlich stimme ich Ihnen zu: Es gibt immer etwas, was wir im Interesse der Kinder, im Interesse der Familien noch besser machen können; das gilt gerade für so zentrale Fragen wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei jungen Paaren. Natürlich haben wir da immer noch viel zu tun. Aber wahr ist auch, dass es auf diesem Globus wahrscheinlich nur wenige Länder gibt, in denen Kinder solche Zukunftsperspektiven haben, in denen Kinder in einer solchen Sicherheit groß werden, wie es in unserem Land der Fall ist. ({3}) Durch solche Diskussionen schaffen Sie eher Verunsicherungen und machen Sie eben nicht deutlich, dass das, was man gemeinhin eine glückliche Kindheit nennt, für den größten Teil der Kinder in diesem Land allein aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen - damit meine ich nicht nur das Sozialsystem, das Gesundheitssystem und das Bildungssystem, sondern vor allem die Tatsache, dass es unheimlich viele Menschen gibt, die sich für Kinder engagieren - möglich ist. Das blenden Sie aus oder nivellieren es, und das halte ich für nicht sehr glücklich. Der vierte Punkt - das finde ich persönlich ein bisschen schade -: Durch Ihre Ausführungen haben Sie eigentlich die Chance vertan, dass wir gemeinsam, also FDP, CDU/CSU und die drei Fraktionen der Opposition, etwas auf den Weg bringen. Damit möchte ich schließen. Ich glaube, die betroffenen Kinder, aber auch die Eltern fragen nicht danach, wer wann wie schuld war. Sie fragen nicht danach, wer was getan hat oder wer wann welchen Schaufensterantrag formuliert hat. Sie fragen ganz konkret: Wann verändert sich was? Wenn wir das in den künftigen Debatten ein bisschen mehr in den Mittelpunkt stellen, dann wäre allen geholfen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Tauber, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/57, 17/61 und 17/59 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes - Drucksache 17/56 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Rüdiger Veit von der SPD-Fraktion das Wort. ({2})

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland gibt es nach Schätzungen zwischen 500 000 und 1,5 Millionen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger ohne Papiere. Im Gegensatz zur Gruppe der Geduldeten, über die wir hier vor ungefähr zweieinhalb Stunden gesprochen haben, sind das Menschen, die offiziell überhaupt nicht existent sind. Aber sie sind da, und deswegen ist die Schätzungsschwankungsbreite so groß. Es gibt seit mindestens zehn Jahren - diesen Zeitraum kann ich überblicken - hier in Berlin den Arbeitskreis IIlegalität, der von den beiden großen christlichen Kirchen maßgeblich gestaltet und organisiert wird. Wenn Sie mir das an der Stelle erlauben, möchte ich mich bei denjenigen, die von den beiden großen Kirchen daran mitgewirkt haben, herzlich für ihre Leistung bedanken. Ich denke da vor allen Dingen an Schwester Bührle und Pater Alt, die im Augenblick an anderer Stelle im Einsatz sind, sich aber große Verdienste erworben haben, indem sie sich um diese illegal bei uns lebenden Menschen gekümmert haben. ({0}) In diesem Arbeitskreis Illegalität - das ist zunächst einmal positiv hervorzuheben - haben eigentlich Mitglieder aller Fraktionen dieses Hauses die ganze Zeit über mitgewirkt und, wie ich finde, konstruktiv mitgewirkt. Wir haben uns immer wieder gefragt: Wie können wir wenigstens die humanitäre Situation der Menschen dann, wenn sie krank werden, Arbeitslohn einklagen wollen oder müssen oder ihre Kinder schulpflichtig werden, ein bisschen verbessern? Niemand hat in dem Zusammenhang jemals die Behauptung aufgestellt, wir müssten sie alle im Hinblick etwa auf einen Aufenthaltsstatus regelrecht legalisieren. Das will ich einmal klar und deutlich sagen. Wir haben jedoch alle die humanitären Notwendigkeiten gesehen. Das hat dazu geführt, dass wir eine ganze Zeit lang parteiübergreifend überlegt haben, wie wir durch entsprechende Veränderungen unserer Rechtslage oder der Verwaltungspraxis eine Verbesserung der sozialen Situation bewirken können. Eine Zeit lang haben wir uns dabei auf die Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsrecht konzentriert, weil wir nicht so richtig wussten, wie wir das Ganze gesetzlich fassen sollten. Später hat das etwas andere Formen angenommen. Wir haben dann zu Zeiten der Großen Koalition die Verabredung getroffen, zu prüfen, welche Möglichkeiten zum Helfen bestehen, und danach zu handeln. Dazu ist es schlussendlich aber leider nicht mehr gekommen. Ich will Ihnen auch sagen, warum: Die Unionskollegen waren mit uns eigentlich durchaus der Auffassung, dass man zumindest einmal die Übermittlungspflichten einer kritischen Würdigung unterziehen sollte; denn - das wurde auch durch den Prüfbericht, den der Bundesminister des Innern veranlasst hat, festgestellt - diese sogenannten Übermittlungspflichten sind bei uns in Deutschland - typisch deutscher Perfektionismus - eigentlich einmalig in Europa dergestalt geregelt, dass jedermann, der von Illegalen und ihrem Aufenthalt hier in Deutschland Kenntnis erhält, darüber den Behörden, insbesondere der Ausländerbehörde, Mitteilung machen muss. ({1}) - Selbstverständlich jeder im öffentlichen Dienst, jede öffentliche Stelle. In der Tat, Kollege Wieland. - Vor diesem Hintergrund war dann immerhin mit der Union eine Verständigung darauf erreichbar, dass der Schulbesuch der Kinder von Illegalen nicht verunmöglicht werden sollte. An dieser Stelle war man bereit, sich ein Stück zu bewegen. Das hat dann aber leider nicht funktioniert, wie wir wissen. Auch ein Gesetzentwurf, den wir in der letzten Legislaturperiode schon fertiggestellt hatten, konnte nicht auf den Weg gebracht werden, weil namentlich die B-Länder gesagt hatten, sie machten da nicht mit. Worum geht es uns mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf? Wir wollen erstens erreichen, dass Kinder Illegaler hier in Deutschland zur Schule gehen können, ohne dass sie oder ihre Eltern Angst davor haben müssen, dass die Lehrer oder die Schulleiter der Ausländerbehörde Mitteilung machen. Wir wollen zweitens erreichen, dass sich illegal in Deutschland aufhaltende Menschen ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen können, ohne dass sie Angst haben müssen, dass der Krankenhausträger, die Abrechnungsstelle oder auch das Sozialamt den Tatbestand des illegalen Aufenthalts der Ausländerbehörde mitteilen. ({2}) Wir wollen drittens erreichen, dass die Illegalen, die hier in Deutschland zum Teil auch entgeltpflichtig beschäftigt werden, in der Zukunft von ihren Arbeitgebern mindestens nicht mehr um ihren Lohn geprellt werden können. Das ist bisher der Fall, weil auch die Arbeitsrichter verpflichtet sind, wenn sie denn Kenntnis davon erhalten, der Ausländerbehörde den Status der Illegalen und ihre Personalien mitzuteilen. Ich glaube, wir alle hier im Hause stimmen überein, dass man diese Gewährung humanitärer Mindeststandards in Deutschland jetzt dringend wiederherstellen muss, um auf die Art und Weise dann auch den Standards der Mehrheit der übrigen europäischen Staaten zu entsprechen. ({3}) Im Übrigen gibt es auch eine europäische Richtlinie aus diesem Jahr, also von 2009, die gerade in der Frage des Einklagens von Arbeitslohn entsprechende Vorgaben macht. Hier haben wir also auch Handlungsbedarf. Außerdem haben wir im Arbeitskreis Illegalität des Öfteren folgende Situation diskutiert: Jemand, der in Deutschland aus rein humanitären Gründen Illegalen Hilfe leistet, läuft Gefahr, sich damit strafbar zu machen. Aufgrund dieser Erkenntnis haben wir den Fall der qualifizierten Beihilfe, übrigens mit einem entsprechenden Umsetzungsgesetz, richtigerweise aus dem Aufenthaltsgesetz herausgestrichen. Wir haben damals aber übersehen, dass auch der Fall der einfachen Beihilfe nach den Vorschriften des StGB Allgemeiner Teil nach wie vor strafbar wäre. ({4}) Deswegen ist es notwendig, an der Stelle nachzubessern und im Gesetz klarzustellen, dass derjenige, der aus rein humanitären Gründen, ohne einen Vorteil davon zu haben, Illegalen in Deutschland hilft, sich nicht strafbar macht. Das ist das, was wir jetzt erreichen wollen. ({5}) - Herr Kollege Dr. Uhl, Ihr Zwischenruf gibt mir die Möglichkeit, diesen Gedanken auszuweiten. Sie fragten, ob es einen solchen Fall gebe. Nein, den gibt es in der Tat nicht. Es gibt einen einzigen Fall, der aber unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt behandelt wird, nämlich unter dem der Veruntreuung öffentlicher Gelder bei der Hilfeleistung für Illegale. Aber es gibt eine ganze Reihe von Menschen in dieser Republik - Ärzte, Sozialarbeiter, Geistliche, Lehrer usw. -, die vielleicht bereit wären, Illegalen zu helfen, die aber Angst davor haben, sich strafbar zu machen. Diese Angst sollten wir ihnen nehmen. Auch oder gerade weil es bisher noch keinen entsprechenden Fall gab, sollten wir in dieser Hinsicht im Gesetz endlich für eine Klarstellung sorgen. Es dürfte wohl niemanden stören, wenn wir das jetzt ausdrücklich festschreiben. Das Gleiche gilt, wie gesagt, für die Übermittlungspflichten. Auch da ist eine Regelung überfällig. Dass wir jetzt, in der Oppositionszeit, mit diesem Antrag kommen, liegt auf der Hand. In der Koalition mit der Union war eine solche Regelung nicht möglich, weil - ich wiederhole es - uns die Innenminister der B-Länder ausgebremst hätten, denn auch hierfür hätten wir die Zustimmung im Bundesrat gebraucht. Wir wollen das jetzt hier auf den Tisch legen, zumal sich auch in Ihrer Koalitionsvereinbarung ein Hinweis findet. Dort steht, Sie wollen die Wahrnehmung des Schulbesuchs von Kindern ermöglichen. Wir begrüßen das ausdrücklich. Wir hätten uns auch in diesem Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, noch ein bisschen mehr gewünscht, als Sie in der Koalitionsvereinbarung haben durchsetzen können. ({6}) So weit waren wir in diesem Punkt in der Großen Koalition auch schon. Aber auch hier gilt der Satz, der vorhin vom Kollegen Strässer geprägt wurde und den ich als Zwischenruf wiederholt habe: Die Hoffnung stirbt zuletzt. - Jetzt sollten wir uns bewegen. Sehen Sie bitte zu, dass Sie die B-Länder auf die richtige Seite bekommen! Dann können wir endlich das tun, was seit mehr als zehn Jahren überfällig ist. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Dr. Kristina Köhler von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Kristina Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Debatte über die Situation von illegalen Ausländern in Deutschland ist schwierig. Man ist allzu leicht geneigt, sich gegenseitig fehlende Humanität oder ein fehlendes rechtsstaatliches Verständnis vorzuwerfen. Ich glaube, dass uns solche Vorwürfe nicht weiterführen. ({0}) Denn tatsächlich sind Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit keine Widersprüche. Humanitäre Standards können nur in einem Rechtsstaat verwirklicht werden. Umgekehrt muss sich jede ordnungsrechtliche Maßnahme im Lichte der Grundrechte bewähren. Lassen Sie mich deshalb für meine Fraktion zwei Dinge klarstellen: Erstens. In einem Rechtsstaat kann illegale Migration nicht akzeptiert werden. ({1}) Wer sich unerlaubt in einem Land aufhält, hat dieses Land zu verlassen. Das ist keine deutsche Eigenheit, sondern dieser Grundsatz gilt auf der ganzen Welt. Sie würden die Integrationsbereitschaft der Bevölkerung überfordern, wenn Sie unbegrenzt illegalen Aufenthalt akzeptieren würden. ({2}) Zweitens ist aber auch richtig, dass illegale Ausländer natürlich Menschen und damit Träger der unantastbaren Menschenwürde sind. ({3}) Illegale Migration ist zwar rechtswidrig; aber sie ist eine Realität, der wir uns stellen müssen und der auch diese Bundesregierung sich stellen muss. Wenn wir uns aber dieser Realität gemeinsam stellen wollen, dann müssen wir uns erst einmal auf eine gemeinsame Realität einigen. Da gibt es gerade in der Debatte über illegale Migration einige unterschiedliche Sichtweisen. Das beginnt schon mit der Frage nach dem Umfang von illegaler Migration; Herr Veit, Sie sprachen es eben an. Die Wahrheit ist: Niemand weiß genau, wie viele es sind. ({4}) Wir wissen aber auch, dass die Sicherheitsbehörden davon ausgehen, dass die kursierenden Zahlen - auch die, die Sie genannt haben - maßlos übertrieben sind. Das Seriöseste, was man sagen kann, ist, dass wir keine genauen Zahlen haben. Ich denke, wir sollten nicht so tun, als ob wir mehr wüssten. Zu dieser Gruppe gehören nun Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen. Das sind Zwangsprostituierte, das sind abgelehnte Asylbewerber, das sind aber auch Akteure im Bereich der organisierten Kriminalität. In ihrem Gesetzentwurf sucht die SPD nun nach Lösungen, wie man in den unterschiedlichen Bereichen verhindern kann, dass die Ausländerbehörde Kenntnis davon erhält, dass sich jemand illegal in Deutschland aufhält. Gehen wir einmal die einzelnen Themenfelder durch. Zunächst: Wie ist die Rechtslage im Bereich der Krankenbehandlung? Die Realität ist: Auch wer sich illegal in Deutschland aufhält, hat das Recht auf medizinische Versorgung; das ist klar. Deshalb kann sich jeder - auch jeder Illegale - natürlich auf eigene Rechnung bei einem Arzt behandeln lassen, und er muss keine Angst haben, dass da irgendetwas übermittelt wird. Jetzt ist es natürlich völlig richtig, dass sich dies nur die wenigsten Illegalen leisten können. Deshalb gilt in Deutschland auch, dass illegale Migranten in Notfällen genauso behandelt werden wie jeder andere auch. Wer mit einem gebrochenen Bein in ein Krankenhaus kommt, muss nicht befürchten, entdeckt zu werden. ({5}) Das schreiben auch Sie in Ihrem Gesetzentwurf. Das Sozialamt zahlt in diesen Fällen; aber es übermittelt keine Daten an die Ausländerbehörde. ({6}) Jetzt gibt es aber nicht nur Notfälle. Unser Rechtsstaat sieht vor, dass Illegale in sogenannten akuten Krankheitsfällen genauso wie diejenigen Ausreisepflichtigen behandelt werden, die sich legal in Deutschland aufhalten, nämlich nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Hier übernimmt der Sozialträger die Behandlung, ist aber verpflichtet, seine Kenntnis vom illegalen Aufenthalt an die Ausländerbehörde weiterzugeben. In der Praxis spielt dies zwar keine große Rolle. Aber dies ist der Grund dafür, warum man als kranker Mensch ohne Papiere sagen kann: Dann sehe ich lieber von einer Behandlung ab. ({7}) Meine Damen und Herren, ich kann durchaus verstehen, dass man an dieser Stelle sagt: „Unterlasst doch in diesen akuten Fällen so wie bei Notfällen eine Übermittlung der Daten“, weil die Betroffenen ansonsten notwendige Behandlungen nicht vornehmen lassen. Das klingt im ersten Moment sehr humanitär. Aber ich sage Ihnen auch: Die Manifestierung eines rechtsfreien Zustands ist keine Lösung des Problems. Wenn wir den Rechtsstaat Dr. Kristina Köhler ({8}) unterhöhlen, dann ist niemandem geholfen. Es ist nicht Aufgabe der Sozialkassen, dauerhaft Illegalität zu stützen. Die Befürworter dieser Streichung - auch Sie haben sie befürwortet - verweisen sehr gerne auf andere europäische Länder. Oft heißt es: Deutschland ist das einzige Land mit einer Übermittlungspflicht. So einfach ist es aber nicht. Dies ist nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich sind die Gesundheitssysteme in den unterschiedlichen europäischen Ländern sehr verschieden. Es gibt ganz unterschiedliche Wege, wie die Ausländerbehörden jeweils zu ihren Informationen kommen, beispielsweise im viel gelobten Spanien. Hier brauchen Illegale eine Gesundheitskarte, und für deren Erhalt müssen sie sich registrieren lassen. Zu diesen Listen haben auch die Ausländerbehörden Zugang. Es stimmt also: In Spanien findet keine Übermittlung statt. Aber die Ausländerbehörden holen sich in Spanien ihre Daten eben selbst. De facto besteht also kein Unterschied zur Situation in Deutschland. Ein zweites Beispiel: Schweden. Als Illegaler können Sie dort zum Arzt gehen und sich dort behandeln lassen, ohne Angst haben zu müssen, aufgedeckt zu werden. Der Nachteil ist nur: In Schweden zahlen Sie diese Behandlung grundsätzlich aus eigener Tasche. Damit besteht dort aber exakt die gleiche Situation wie in Deutschland. Auch hier werden, wenn die Behandlung selbst gezahlt wird, keine Daten übermittelt. Daten werden erst dann übermittelt, wenn die Behandlung vom Staat gezahlt werden soll. Man kann also nicht so tun, als nehme Deutschland einen Ausnahmestatus ein. Es ist nicht so einfach, die verschiedenen Länder innerhalb der Europäischen Union mal soeben miteinander zu vergleichen. Kommen wir zum Thema Arbeitnehmerschutz. Grundsätzlich gilt: Auch bei Illegalen entsteht mit der Arbeitsaufnahme ein faktisches Arbeitsverhältnis, und daraus ergibt sich ein Lohnanspruch. Dieser Lohnanspruch kann auch gerichtlich eingeklagt werden. Allerdings muss hier der Richter, wenn er in einem Prozess, in dem es um den Arbeitslohn eines Illegalen geht, davon erfährt, dieses Wissen an die Ausländerbehörde weitergeben. Dies wollen Sie ändern, und das halten wir für falsch. ({9}) Zum einen wollen Sie gerade Richter, die der Inbegriff von Recht und Gesetz sein sollen, davon abhalten, dass sie gegen einen rechtswidrigen Zustand vorgehen. Das ist schon eine bemerkenswerte Vorstellung. Aber noch viel wichtiger ist der folgende Einwand: Illegale Arbeiter arbeiten grundsätzlich schwarz und billig. Jede illegale Beschäftigung geht zulasten der Arbeitnehmer und der Arbeitsuchenden, egal, ob Einheimische oder Migranten. ({10}) Deshalb können Sie doch nicht ernsthaft von uns verlangen, dass wir Schwarzarbeit unterstützen. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Köhler, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Veit?

Dr. Kristina Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte sehr.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Veit.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Köhler, kennen Sie die europäische Richtlinie mit der Nummer 2009/52/EG vom 18. Juni 2009? Darin heißt es in Art. 6 Abs. 2, dass die Mitgliedstaaten Mechanismen einrichten müssen, mittels derer sich illegal aufhaltende Ausländer Ansprüche gegen ihren Arbeitgeber geltend machen können oder sich an die zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaates wenden können, um ein Verfahren auf Beitreibung einzuleiten, ohne dass sie in diesem Fall Gefahr laufen müssen, entdeckt zu werden. Kennen Sie diese Richtlinie? Würden Sie mir zustimmen, dass wir als Deutsche gehalten sind, diese europäische Richtlinie in deutsches Recht umzusetzen?

Dr. Kristina Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich kenne diese Richtlinie. Ich empfehle Ihnen, auch Art. 1 dieser Richtlinie zu lesen. Darin steht, warum diese Richtlinie erlassen worden ist. Dort steht explizit, dass diese Richtlinie zu dem Zweck erlassen wurde, illegale Beschäftigung so weit wie möglich zurückzudrängen. Das ist der eigentliche Grund dieser Richtlinie, während das, was Sie fordern, genau das Gegenteil bewirkt: Es setzt Anreize zu weiterer illegaler Beschäftigung. Deswegen werden Sie mit Ihrem Gesetzentwurf diesem eigentlichen Ziel der Richtlinie nicht gerecht. ({0}) Kommen wir zum letzten Thema, zum Thema Schule. Auch das ist ein eher theoretisches Problem, weniger ein praktisches. Fragen Sie doch zum Beispiel in Ihrem Bundesland bei Ihrem Innenministerium nach, wie viele Kinder, die sich illegal in Deutschland aufhalten, von Schulleitern gemeldet wurden und dann auch tatsächlich abgeschoben wurden. Ich habe das in Hessen gemacht. Dort wurde in den letzten zehn Jahren kein einziger Fall bekannt. ({1}) Dr. Kristina Köhler ({2}) Nichtsdestotrotz verstehe ich, wenn man sagt: Die Kinder können am allerwenigsten für diese Situation. Ich verstehe auch, wenn man sagt, dass die Kinder in der Zeit, die sie in Deutschland verbringen, auch etwas lernen sollen; denn hier wird die Grundlage für ihr gesamtes weiteres Leben gelegt. Deswegen ist sich die Koalition einig, dass wir in diesem Bereich im Hinblick auf die Übermittlungspflichten etwas tun werden. Darauf können Sie sich verlassen: Das wird kommen. Der Antrag der SPD mag gut gemeint sein. ({3}) Aber er führt zu einer Art klandestinen Parallelwelt, einer Parallelwelt, in der sie zum Arzt gehen können, ohne gemeldet zu sein, in der sie zur Arbeit gehen können, ohne gemeldet zu sein, in der sie zur Schule gehen können, ohne gemeldet zu sein. Dies kann und darf nach unserer Auffassung in einem Rechtsstaat nicht möglich sein, weil es zu einer Aufspaltung des Rechts führen würde, die mit unserer Grundrechtsordnung unvereinbar ist. ({4}) Verstehen Sie mich richtig: Es ist ehrenwert, in dieser Frage nach Lösungen zu suchen. Aber ich glaube, Sie suchen an der falschen Stelle. Denn wenn Sie bei Ausländerbehörden nachfragen, stellen Sie fest, dass es für den großen Teil der Illegalen Legalisierungsmöglichkeiten gäbe. Darum muss es uns doch eigentlich gehen und nicht darum, die Menschen in der Illegalität zu halten. Vielmehr soll es darum gehen, dass die bestehenden Legalisierungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sevim Dağdelen von der Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Köhler, ich kann es nicht lassen. Eines muss ich Ihnen sagen: Das Problem besteht doch nicht darin, dass man versucht, einen Rechtsbruch in einem Rechtsstaat - ({0}) - Nein, darum geht es nicht. Es geht darum, dass man in einem Verfassungsstaat, der sich wie die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsstaat definiert, Menschenrechte für jeden geltend macht. Es geht nicht darum, sozusagen klandestin sich aufhaltenden Menschen irgendwelche Möglichkeiten einzuräumen. Es geht darum, dass wir in Deutschland unseren Pflichten nachkommen. ({1}) Sie sprechen in den Debatten über Illegalität immer von illegalen Menschen. Ich muss für meine Fraktion klarstellen: Es gibt keine Menschen, die illegal sind. Es gibt nur Menschen, die illegalisiert werden, wie von Ihnen. ({2}) In Debatten über Illegalisierte wird immer gesagt, dass es eine Pflicht des Staates gebe, illegale Einwanderung oder den illegalen Aufenthalt zu bekämpfen. So eine Verpflichtung gibt es nicht. Was es allerdings gibt, sind Verpflichtungen, die sich aus dem Grundgesetz ergeben, zum Beispiel die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, die Menschenwürde zu achten, sie zu schützen und sich zu den unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft zu bekennen. Das ergibt sich aus Art. 1 Grundgesetz. Es gibt die Verpflichtung des Staates, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf körperliche Unversehrtheit als absolut geltende Rechte aller Menschen zu schützen. Das ergibt sich aus Art. 2 Grundgesetz. Es gibt auch noch Art. 20 Grundgesetz, in dem erklärt wird, dass die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat ist und eben kein Staat, der sich gegen Flüchtlinge abschottet, die aus anderen Teilen der Welt hierherkommen wollen. Ich war in dieser Woche mit dem Kollegen Tören von der FDP bei „Ärzte der Welt“, die zu einer Tagung zu genau diesem Thema eingeladen haben. Ich hätte mich gefreut, wenn die CDU oder die CSU eine Vertreterin oder einen Vertreter geschickt hätte. Wenn Sie mit den Menschen dort gesprochen hätten, hätten Sie verstanden, dass es um Folgendes geht: Diese Menschen müssen befürchten, festgenommen, inhaftiert und abgeschoben zu werden, wenn sie die Umsetzung eines ihrer unveräußerlichen Menschenrechte in Anspruch nehmen. Zu diesen Menschenrechten gehören zum Beispiel das Recht auf Schulbildung, das Recht auf ein Privatleben, das Recht auf medizinische Versorgung und das Recht auf eine gerechte Entlohnung für ihre Arbeit sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Frau Köhler, die engstirnige, bürokratische Verweigerungshaltung muss aufgegeben werden, nach der Betroffenen nicht geholfen werden könne oder dürfe, weil ihr Aufenthalt auf einem Rechtsbruch basiere ({3}) und der Aufenthalt deswegen nicht durch Legalisierung oder auch nur durch die Gewährung des Zugangs zu Bildung oder medizinischer Versorgung in Deutschland belohnt werden dürfe. Bei der Debatte über illegalisierte Menschen in Deutschland geht es aber eigentlich um die Abschottungspolitik und die restriktive Migrationspolitik in Deutschland und Europa. In den letzten Jahren ist vor allen Dingen der ehemalige Bundesinnenminister Schäuble auf europäischer Ebene mit Verve dafür eingetreten, dass Spanien, Frankreich, Portugal und andere Länder damit aufhören, solchen Menschen einen Zugang zu Menschenrechten zu gewähren. Das halte ich für einen Skandal. ({4}) Der sogenannte illegale Aufenthalt von schätzungsweise einer halben Million bis 1,5 Millionen Menschen in Deutschland ist in erster Linie Folge dieser restriktiven Flüchtlings- und Migrationspolitik, einer Politik, die in den letzten Jahren bedauerlicherweise auch - das muss ich hinzufügen, Herr Veit - von der SPD getragen wurde. Solange ungleichgewichtige soziale, ökonomische und gewaltsame Verhältnisse in der Welt existieren und Nationalstaatsgrenzen sich zwischen Menschen schieben, wird es Migration geben, wenn nicht mit, dann eben ohne behördliche Erlaubnis. In diesem Zusammenhang möchte ich aus Die Nacht von Lissabon von Erich Maria Remarque zitieren: Die Küste Portugals war die letzte Zuflucht geworden für die Flüchtlinge, denen Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz mehr bedeuteten als Heimat und Existenz. Wer von hier das gelobte Land Amerika nicht erreichen konnte, war verloren. Er musste verbluten im Gestrüpp der verweigerten Ein- und Ausreisevisa, der unerreichbaren Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen, der Internierungslager, der Bürokratie, der Einsamkeit, der Fremde und der entsetzlichen allgemeinen Gleichgültigkeit gegen das Schicksal des einzelnen, die stets die Folge von Krieg, Angst und Not ist. Der Mensch war um diese Zeit nichts mehr; ein gültiger Pass alles. Wir müssen uns an unsere Geschichte erinnern. Kein Mensch ist illegal. Deshalb unterstützen wir den Gesetzentwurf, gehen aber in unseren Forderungen weiter, weil wir der Auffassung sind, dass wir eine humanitäre Flüchtlingspolitik brauchen, um die Ursache des Problems zu bekämpfen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Serkan Tören von der FDP-Fraktion. ({0})

Serkan Tören (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004177, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Liberale waren uns mit Vertretern anderer Fraktionen in diesem Hause, von Kirchen, gemeinnützigen Organisationen und Wohlfahrtsverbänden immer einig darüber, dass die gegenwärtige Situation der in Deutschland lebenden Ausländer ohne gültige Papiere unbefriedigend ist. Zentrale Themen sind hierbei immer wieder die medizinische Versorgung und der Schulbesuch. Wir stehen hier in der Verantwortung, diese Punkte ins Auge zu fassen, kritisch zu diskutieren und Lösungen zu finden. Genau das haben wir in den Koalitionsverhandlungen getan. ({0}) Das Ergebnis - das sage ich hier voller Freude und Zuversicht - ist bemerkenswert und stellt endlich einen echten Fortschritt dar. Lassen Sie mich einige Punkte herausgreifen. Ein Punkt ist die Stärkung der Kinderrechte. Die FDP ist seit jeher dafür eingetreten, die Vorbehaltserklärung zur UNKinderrechtskonvention zurückzunehmen. Auch die SPD hatte sich das immer großspurig auf die Fahnen geschrieben; das Ergebnis konnten wir jedes Jahr in den UNICEF-Berichten nachlesen. Wir haben uns mit dem Koalitionspartner CDU/CSU eindeutig und klar dazu bekannt, die Vorbehaltserklärung zurückzunehmen. ({1}) Das bedeutet, allen Kindern in Deutschland die gleichen Rechte zuzugestehen. Das ist auch in Bezug auf den Zugang minderjähriger Flüchtlinge zur Gesundheitsversorgung ein wesentlicher Fortschritt. Ich möchte einen weiteren wesentlichen Fortschritt darstellen, und zwar bei der Übermittlungspflicht für öffentliche Schulen, die vielen von uns Bauchschmerzen bereitet hat. Lassen Sie mich klar sagen: Kinder tragen nicht die Verantwortung für den illegalen Aufenthalt der Eltern. ({2}) Kinder, egal ob mit oder ohne gültigen Aufenthaltsstatus, haben ein Recht auf Bildung. Die FDP steht seit eh und je für dieses Recht ein; es ist unter anderem in der UN-Kinderrechtskonvention verankert. ({3}) In einigen Bundesländern gibt es hierzu bereits erfreuliche Regelungen, beispielsweise in Bayern und Nordrhein-Westfalen. Hier unterliegen statuslose Kinder der Schulpflicht und können auf diese Art und Weise ihr Recht auf Bildung verwirklichen. Nehmen wir Hessen: Dort wird aktuell eine Verordnung vorbereitet, nach der auch solche Kinder zum Schulbesuch berechtigt sind, die nicht schulpflichtig sind, aber ihren tatsächlichen Aufenthaltsort in Hessen haben. ({4}) Zugleich soll in Zukunft auf die Vorlage einer gültigen Meldebescheinigung verzichtet werden. In diesen Bundesländern bewegt sich etwas. Ich muss in diesem Hause sicherlich nicht erwähnen, welche Regierungen diese Länder führen. ({5}) Dennoch: Wir wollen die Verantwortung für diese Problematik nicht abschieben, wie Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es in Ihrer Regierungszeit jahrelang getan haben. Es wird hierzu auf BundesSevim DaðdelenSevim Dağdelen ebene eine Regelung geben; denn FDP und CDU/CSU bekennen sich im Koalitionsvertrag eindeutig dazu, die Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen dahin gehend abzuändern, dass der Schulbesuch von Kindern ermöglicht wird. ({6}) Das ist ein riesiger Fortschritt, der nicht häufig genug betont werden kann. Wir stellen uns der Verantwortung, einen angemessenen Umgang mit illegaler Migration und bereits hier lebenden Menschen ohne gültige Papiere zu entwickeln. ({7}) Wir haben aber immer auch den Standpunkt vertreten: Wenn man in den Bereichen Migration und Integration Politik betreibt, ist es dringend notwendig, sich dabei immer Gedanken über die Grundlagen unseres Zusammenlebens zu machen. Deshalb sage ich Ihnen hier klipp und klar: Die Einhaltung und der Vollzug des Ausländerrechts sind wesentliche Bestandteile unserer demokratischen Rechtsordnung. ({8}) Wir können und dürfen nicht das Spannungsfeld ignorieren, das sich hieraus in Bezug auf den Umgang mit Menschen ergibt, die sich nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten. Dabei wende ich mich aber ganz klar dagegen, diese Debatte im Sinne einer einfachen Dichotomie beispielsweise von rechtsstaatlicher Ordnung versus Menschenrechte zu führen, wie es einige Kolleginnen und Kollegen gerne tun. Diese Kolleginnen und Kollegen verkennen die Komplexität dieses Themas und ignorieren eindeutig die Belange aller Betroffenen. Noch einmal: Wir sollten Menschenrechte nicht gegen unsere rechtsstaatliche Ordnung ausspielen. Wir stehen im Dialog mit den relevanten Akteuren, mit Leuten aus der Praxis und mit Betroffenen. Wir werden gemeinsam mit unserem Koalitionspartner die Herausforderungen bewältigen und Lösungen finden. Aber ich betone noch einmal: Es müssen pragmatische Lösungen sein, die menschenrechtliche Standards berücksichtigen, aber im Rahmen unserer rechtsstaatlichen Ordnung liegen. Alles andere wäre verantwortungslos. ({9}) Die SPD ist, als sie die Chance dazu hatte, nicht über die Vereinbarung eines Prüfauftrags zur Illegalität im Koalitionsvertrag hinausgekommen. Da haben wir Liberale bisher mehr erreicht. Darauf können wir stolz sein. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Tören, auch Ihnen gratuliere ich im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Memet Kilic von Bündnis 90/Die Grünen.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Arme ist ohne Trost, der Fleißige ohne Ruhe, selbst der König ohne Sicherheit. - Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf unserer Erde gibt es genauso viele Einzelschicksale, wie es Menschen gibt. Viele Menschen in unserem Land müssen ohne gültige Papiere leben, weil sie für sich und für ihre Kinder keine anderen Auswege kennen. Aufgrund meines Berufes und meines Engagements habe ich viel über die Schicksale von papierlosen Menschen erfahren. Diese Menschen müssen ständig in Angst leben, dass sie denunziert werden oder bei einer einfachen Kontrolle ihre Identität nicht nachweisen können. Sie besuchen keinen Arzt, selbst wenn sie schwer krank sind. Sie können ihren niedrigen Lohn nicht einfordern, wenn der Arbeitgeber diesen nicht ausbezahlen will. Vielen von ihnen tut am meisten weh, dass sie ihre wissenshungrigen und intelligenten Kinder nicht auf die Schule schicken können. Wenn unsere Kinder krank sind, gehen wir zu Recht sofort zum Arzt und lassen sie behandeln. Können Sie sich vorstellen, was die papierlosen Väter und Mütter in solchen Fällen erleben? Sie fühlen sich hilflos und einsam. Auch wer diesen Menschen in Not helfen will oder sogar muss, wie die Ärzte oder Schuldirektoren, hat es nicht leicht. Sie sind eingeklemmt zwischen rechtlichen Zwängen und ihrem Berufsethos. Liebe Frau Dr. Köhler, wenn wir von sogenannten Illegalen reden, reden wir nicht über die jungen Männer, die mit dem Messer im Mund durch die Wälder laufen, sondern über Familienväter und -mütter, die in den Hinterzimmern von Restaurants arbeiten, um ihre Familie über Wasser zu halten. ({0}) Heute haben Sie eine gute Gelegenheit, den Menschen, die sich in einem humanitären Drama befinden, zu helfen und Barmherzigkeit und Nächstenliebe zu praktizieren, indem Sie Ihre Meinung zu diesem Gesetzentwurf ändern und Zustimmung signalisieren. ({1}) Es ist sicherlich traurig, dass die SPD während ihrer Regierungszeit solch einen Gesetzentwurf nicht über ihr Herz gebracht hat, sondern vielmehr mit den Verschärfungen der Voraussetzungen für Familienzusammenführung und Einbürgerung beschäftigt war. ({2}) Wir hoffen aber, dass der uns vorliegende Gesetzentwurf Erfolg hat. „Weigere dich nicht, dem Dürftigen Gutes zu tun“ bitte, Hand aufs Herz; denn kein Mensch ist illegal. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kilic, ich gratuliere auch Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag im Namen des ganzen Hauses. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/56 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Keine Anrechnung von Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II - Drucksache 17/76 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Matthias Birkwald von der Fraktion Die Linke das Wort. ({2})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Viele Schülerinnen und Schüler jobben in den Schulferien, um sich etwas zu erarbeiten, zum Beispiel einen PC, Reitunterricht oder ein Mofa. Ich kann mich noch gut an meine Ferienjobs als Bahnpostfahrer oder am Fließband in der Hundekuchenproduktion erinnern. Nach einigen Wochen den selbstverdienten Lohn in den Händen zu halten, das war sehr befriedigend. Für Jugendliche aus Hartz-IV-Familien gilt das nicht. Sie können sich so viel anstrengen, wie sie wollen. Weil sie in sogenannten Bedarfsgemeinschaften leben, werden ihre Einkommen bis auf einen kleinen Betrag angerechnet. Das heißt, der Familie des Ferienjobbers oder der Ferienjobberin wird das Sozialgeld gekürzt, weil die Tochter oder der Sohn in den Ferien etwas geleistet hat. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht nur leistungsfeindlich. Es ist auch ungerecht, und vor allem demütigt es die betroffenen Jugendlichen. ({0}) Der Ferienjob wird für die Schülerinnen und Schüler aus armen Familien fast zu einem Nullsummenspiel. Die Anrechnung der Ferienjobs diskriminiert Jugendliche aus Arbeitslosengeld-II-Haushalten, und sie demotiviert die Betroffenen. Durch die Kürzung wird ihnen der Eindruck vermittelt, dass sich ihre Leistung nicht lohnt. Das Gegenteil ist doch richtig: Die Eigeninitiative junger Schülerinnen und Schüler muss honoriert und darf nicht bestraft werden. ({1}) Während andere über ihre Einkünfte aus Ferienjobs beliebig verfügen können, bleibt den Schülerinnen und Schülern aus SGB-II-Haushalten fast nichts übrig. Dabei sind diejenigen, die von ihren Eltern wenig bekommen können, weil sie selbst nichts haben, ganz besonders auf das Geld aus dem Ferienjob angewiesen. Nein, diese zusätzliche Benachteiligung ist entwürdigend, und sie muss dringend korrigiert werden. ({2}) Meine Damen und Herren, die Linksfraktion rechnet dabei mit Ihrer Unterstützung. Schließlich hatten Vertreter fast aller Fraktionen im Fernsehen erklärt, dass dieser Unsinn geändert werden muss. In der Sendung „Hart aber fair“ vom 26. August dieses Jahres, also mitten im Wahlkampf, wurde der Fall der 15-jährigen Laura geschildert. Sie hatte sich in den Ferien einen elektronischen Bass erarbeitet, und ihrer Mutter wurde daraufhin das Sozialgeld gekürzt. Dazu sagte der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag in der ARD - ich zitiere -: Wir müssen uns das noch mal sehr genau anschauen. Ich will, dass ein solcher Fall nicht bestehen bleibt. Volker Kauder versprach - Zitat -: Ich sage Ihnen: Dieser Fall wird geregelt werden. Der wird so nicht mehr vorkommen können. Zitat Ende. Klaus Wowereit, heute stellvertretender SPD-Vorsitzender, versprach - Zitat -: Da muss eine Korrektur her. … Da gibt es eine Gerechtigkeitslücke, die geschlossen werden muss. Zitat Ende. Für die Grünen forderte Fritz Kuhn in der Sendung - Zitat -: Ferienarbeit muss ein zweckbestimmtes Einkommen sein. Sie darf nicht angerechnet werden. So weit, so gut. ({3}) Am 8. September dieses Jahres wurde hier im Plenum über den Antrag der Linken dazu abgestimmt. Was geschah? Die Grünen stimmten mit Ja, die FDP enthielt sich, aber SPD und Union lehnten unseren Antrag ab. ({4}) Versprochen, gebrochen. Meine Damen und Herren, auch wir Linken kennen die Geschichte von Saulus, der zum Paulus wurde, sehr gut. ({5}) Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Söhne und Töchter von Erwerbslosen bei der Ferienarbeit genauso behandelt werden wie die Kinder von Normalverdienenden oder Wohlhabenden. Von der Anrechnungsfreiheit der Ferienjobs ginge die Bundesrepublik Deutschland nicht unter und auch nicht pleite. Stehen Sie zu Ihrem Wort. Danke schön. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Lieber Kollege Birkwald, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratulieren möchte. ({0}) Wäre diese Debatte live im Fernsehen übertragen worden, was, wie Sie wissen, nur noch selten vorkommt, ({1}) hätte sie außer der Aufmerksamkeit im Plenum bei überschaubarer Besetzung der Tribünen sicher eine beachtliche zusätzliche Aufmerksamkeit gefunden, die nun über das pünktlich fertiggestellte Protokoll des Deutschen Bundestages hoffentlich hergestellt wird. Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion, ({2}) für den die gleiche Versuchsanordnung gilt. ({3}) - Bitte schön.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und werte Kollegen! Herr Präsident, gemeinsam mit Ihnen bedauere ich, dass wir für dieses zweifelsohne wichtige Thema nicht mehr Aufmerksamkeit haben. Herr Birkwald, auch von mir Gratulation zu Ihrer ersten Rede! Sie haben mit Ihrer ersten Rede etwas geschafft, was die Linkspartei die letzten vier Jahre nicht geschafft hat: Zustimmung bzw. die ausgestreckte Hand anzubieten und zu sagen: Wir wollen hier etwas ändern. - Das ist mir bei wenigen Anträgen Ihrer Partei in den letzten Jahren leichter gefallen als heute, lieber Herr Wunderlich. Liebe Kollegen von den Linken, mit Ihrem Antrag, über den wir heute diskutieren, sprechen Sie ein Thema an, das in der letzten Zeit häufiger in den Medien präsent war. Sie haben die Sendung aus der Reihe Hart aber fair vom 26. August dieses Jahres angesprochen, in der es um die Anrechnung von Ferienjobs auf Hartz IV ging. Es ist richtig, dass unser Fraktionsvorsitzender in der Weisheit, für die er bekannt ist, geäußert hat: Wir müssen uns das anschauen, und wir müssen hier tätig werden. ({0}) - Bitte? Das ist bei uns nicht anders als bei der FDP. Sie behandeln damit ein Problem, das sicherlich einer Lösung bedarf. Ich gehe davon aus, dass die Rednerin, die nach mir für die SPD sprechen wird, Frau Katja Mast, das ähnlich sehen wird. Ich glaube, da haben wir einen ziemlich breiten Konsens. Allerdings erliegen Sie, liebe Freunde von der Linken, auch hier Ihrem Hang zur Vereinfachung. Sie stellen den konkreten Fall so dar: Jobben Kinder, die in einer Bedarfsgemeinschaft von SGB-II-Beziehern leben, in den Ferien, komme ihr Zubrot, von den 100 Euro pro Monat, die anrechnungsfrei sind, abgesehen, ausschließlich der öffentlichen Hand zugute. Deshalb müsse die Anrechnung von Einkommen aus Ferienjobs von Schülern grundsätzlich ausgeschlossen werden. In Ihrem Antrag zu demselben Thema vom September dieses Jahres haben Sie außerdem gefordert, das Schonvermögen zur Alterssicherung von SGB-II-Beziehern zu erhöhen. In Teilen Ihrer Begründung muss ich Ihnen recht geben: Auch ich bin der Meinung, dass die Eigeninitiative von Schülern nicht blockiert werden darf. ({1}) - Wollen Sie nicht klatschen? Das gilt doch auch für die SPD. - Ein Ferienjob stellt in der Regel den ersten Kontakt mit der Arbeitswelt dar und führt im Idealfall später zum ersten Arbeitsverhältnis. Ferienjobs helfen, die eigenen Fähigkeiten realistisch einzuschätzen und geben Selbstbewusstsein für die Bewerbungsphase. - Sie haben es ausgeführt, Herr Kollege. Was haben Sie produziert: Hundekuchen? Etwas Vernünftiges auf jeden Fall. - Mit einem Ferienjob kann man testen: Wo kann ich mich einbringen? Man kann Disziplin lernen, kann lernen, früh aufzustehen, kann stolz sein auf das, was man selber erwirtschaftet hat. Nicht zuletzt können Ferienjobs Jugendlichen, deren Eltern auf Hartz IV angewiesen sind und die eigenes Erwerbseinkommen aus ihrem familiären Umfeld nicht oder zu wenig kennen, Mut machen. Sie können helfen, Perspektivlosigkeit und Resignation vorzubeugen. Deshalb kann niemand wollen, dass die SGB-II-Gesetzgebung einen gegenläufigen, die Schüler demotivierenden Effekt entwickelt. ({2}) Nach der Lektüre Ihres Antrages, liebe Kollegen von den Linken, muss ich anerkennend feststellen, dass Sie das Wahlprogramm der Union gelesen haben. Ja, es stimmt: Wir müssen uns über die Höhe des Schonvermögens und die Hinzuverdienstgrenzen Gedanken machen. Wenn Sie sich die Ergebnisse der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg genauso gründlich vorgenommen hätten, wüssten Sie: Wir haben uns längst an die Arbeit gemacht und das gründlicher und umfassender, als Sie es vorschlagen. Diese Tatsache hätten Sie in Ihrem Antrag ruhig erwähnen können. Der gesamte Komplex SGB II ist sehr wichtig. Wenn wir Änderungen vornehmen wollen, müssen wir deren Auswirkungen und auch die Wechselwirkungen im Blick haben, damit die Änderungen wirklich im Sinne der Betroffenen sind. ({3}) Im Rahmen einer geordneten Gesetzgebung dürfen wir keinen Flickenteppich schaffen, frei nach dem Motto „Eine Reform zu einem Teilaspekt hier, eine Änderung eines Teilproblems dort“. Deshalb müssen wir Ihren Antrag, liebe Kollegen von den Linken - so viel Sinn das, was Sie vorschlagen, im Einzelnen sicherlich macht ablehnen. ({4}) - Ja, Herr Wunderlich; Sie werden nicht überrascht sein. ({5}) - Das kommt sicherlich nicht überraschend für Sie, Herr Wunderlich; dafür kennen wir uns lange genug. Auf Schloss Meseberg hat die Bundesregierung am 17./18. November dieses Jahres den Beschluss gefasst, Änderungen der Erwerbstätigenfreibeträge insgesamt zu prüfen und unter anderem das Schonvermögen von Hartz-IV-Empfängern zu erhöhen. Ziel ist nach wie vor, die Anreize, eine Arbeit aufzunehmen - bis hin zu einer voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung -, zu erhöhen. Dazu wird eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesarbeitsministeriums bis Ende Juni 2010 einen Vorschlag erarbeiten, in dem das Zusammenspiel mit Kinderzuschlag und Wohngeld sowie eintretender Sozialversicherungs- und Steuerpflicht berücksichtigt wird. Mitbeteiligt werden auch das Bundesministerium für Finanzen, das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und das Bundesgesundheitsministerium sein. Alle Regelungen des SGB II werden dort auf den Prüfstand gestellt werden. Schon im Koalitionsvertrag haben wir unter anderem festgeschrieben, dass wir den Freibetrag beim Schonvermögen im SGB II, der verbindlich der Altersvorsorge dient, auf 750 Euro pro Lebensjahr wesentlich erhöhen und die Hinzuverdienstregelung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende deutlich verbessern werden. Dasselbe gilt auch für den Hinzuverdienst bei sozialversicherungsfreien Minijobs. Sie sehen: Wir bevorzugen Lösungsmechanismen, mit denen sicherlich wichtige Einzelaspekte nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang betrachtet werden. - Jetzt wäre ein Applaus fällig. ({6}) - Ja, das muss man schon einmal sagen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Lehrieder, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass es weder verfassungsrechtlich noch nach unserer Geschäftsordnung einen Anspruch auf Beifall während der Reden gibt. ({0}) Dass auf Ihre Aufforderung dieser Beifall jetzt scheinbar spontan erfolgt, ist eine bemerkenswerte Großzügigkeit der Kolleginnen und Kollegen, die ich ausdrücklich im Protokoll vermerken möchte. ({1})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich weiß, Herr Präsident. Sie dürfen versichert sein, dass ich diese großzügige Geste des Plenums unterwürfig und ehrerbietig zu würdigen weiß. Mir ist es wichtig, kurz genauer zu beleuchten, worum es bei der Anrechnung von Ferienjobs eigentlich geht. Sie können sich vielleicht noch an die Antwort der Bundesregierung vom 26. August 2008 auf Ihre Anfrage zum selben Thema erinnern. Dort heißt es unter anderem: Die Bundesregierung teilt nicht die Auffassung …, wonach bei der Bemessung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts das Einkommen von Schülerinnen und Schülern als Einkommen der gesamten Bedarfsgemeinschaft berücksichtigt wird. Auch trifft es nicht zu, dass ein Schüler oder eine Schülerin - das hatten Sie in Ihrer damaligen Anfrage dargestellt 80 Prozent des Einkommens aus seinem Ferienjob, das 100 Euro übersteigt, „in den Topf der Bedarfsgemeinschaft werfen“ müsse. Im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch … ist geregelt, dass das Einkommen unverheirateter Kinder, die mit ihren Eltern in Bedarfsgemeinschaft leben, nur als eigenes Einkommen und nicht als solches der Bedarfsgemeinschaft zu berücksichtigen ist. ({0}) Darüber hinaus mindert das bei Schülerinnen und Schülern zu berücksichtigende Einkommen lediglich ihren Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, so dass diesen das ({1}) Einkommen auch faktisch in voller Höhe zur Verfügung steht. In der Vergangenheit ist es allerdings auch vorgekommen, dass aufgrund nicht gemeldeter Einnahmen aus Ferientätigkeit die Erstattung überzahlter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts verlangt worden ist. Dieser Hintergrund sollte mitberücksichtigt werden, wenn man die SGB-II- und die Hinzuverdienstregelungen reformieren will. Im Sommer wurde der Eckregelsatz von 351 Euro auf 359 Euro erhöht, und auch der eigene Sicherungsbetrag für Kinder zwischen dem 6. und dem 15. Lebensjahr wurde im Sommer bereits eingeführt. Derzeit läuft das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht darüber, ob die Regelsätze für Kinder und Jugendliche ausreichend sind. All dies wird hier angepasst. Es wurde heute bereits ausgeführt: Hartz IV ist ein lernendes System. Wir haben das System jetzt einige Jahre auf dem Prüfstand gehabt. Wir merken, dass es noch zu bestimmten Korrekturen und Nachjustierungen kommt. Ich hätte noch etwas zu sagen, aber für die Großzügigkeit des Auditoriums bedanke ich mich dadurch, dass ich dem Auditorium 1 Minute und 20 Sekunden Redezeit schenke und Sie etwas eher nach Hause lasse. Herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Lehrieder, falls ich bei Ihrer nächsten Rede zufällig wieder hier auf dem Stuhl sitzen sollte, dann würde ich Ihnen diese Gutschrift auch ohne geschäftsordnungsrechtlichen Anspruch zur Verfügung stellen.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich werde mich darauf verlassen. Danke schön.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Im Protokoll haben wir das jedenfalls so vermerkt. Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Mast für die SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Lehrieder hat, glaube ich, ein bisschen zu einem alten Antrag gesprochen, weil er sehr viel auf das Schonvermögen verwiesen hat. ({0}) Heute diskutieren wir aber nicht über den Antrag aus der letzten Legislaturperiode, sondern über den aktuell vorliegenden Antrag. Darin geht es ausschließlich um die Anrechnung von Ferienjobs. Mit Ferienjobs verdienen junge Menschen in der Tat etwas hinzu. Der Ferienjob dient auch mehr als nur dem Geldverdienen; denn dies ist auch praktizierte Berufsorientierung. Erste Eindrücke vom Berufsleben werden gesammelt, egal, ob am Band, im Restaurant oder im Kaufhaus. Es ist nur schade, dass diese Ferienjobs nicht für jeden jungen Menschen gleich attraktiv sind. Denn die Jugendlichen, deren Eltern Arbeitslosengeld II erhalten, bekommen ihren Lohn angerechnet und müssen einen Teil davon für ihre Lebenshaltung ausgeben. ({1}) Sie sind also in doppelter Hinsicht benachteiligt: Einerseits steht ihnen das Geld nicht zur Verfügung, und andererseits - das scheint mir fast der wichtigere Punkt kommt es bei ihnen zu einem mangelnden Anreiz, sich beruflich zu orientieren. Warum ist das so? Lassen Sie mich ein Beispiel aus meinem Wahlkreis nennen. Julia und Markus gehen beide in Pforzheim zur Schule. Beide haben in den Ferien bei einem Hersteller für Autoteile gearbeitet. ({2}) Sie haben vier Wochen Stecker verpackt. Von Mitte Juli bis Mitte August haben beide jeden Tag gearbeitet. Dafür haben sie 1 200 Euro Lohn bekommen. Julia wird davon ihren Führerschein machen, und Markus will eine E-Gitarre kaufen, damit er in der Schulband mitspielen kann. Aber ein kleines Detail unterscheidet Julia und Markus. Denn Markus lebt in einer sogenannten Bedarfsgemeinschaft. Während Julia ihr Geld in voller Höhe behalten darf, bekommt Markus zwar auch das Geld in voller Höhe auf sein Konto überwiesen, aber seine Eltern bekommen im Juli und August jeweils 287 Euro weniger vom Amt. Das sind rund 600 Euro. Markus muss also von seinen 1 200 Euro fast die Hälfte seinen Eltern geben, damit sie den Lebensunterhalt bestreiten können. Aus der E-Gitarre wird nichts, und damit auch nichts aus der Schülerband. Markus sagt sich, dass er nächstes Jahr lieber ins Schwimmbad geht als zu arbeiten. Was läuft da schief? Grundsätzlich will die SPD-Bundestagsfraktion, dass sich die Arbeit für Markus genauso lohnt wie für Julia. Wir wollen es uns aber nicht so leicht machen wie die Antragsteller und einfach nur die Bundesregierung zum Handeln auffordern. Wir wollen einen eigenen Antrag vorlegen. Denn wir haben nicht nur eine Aufforderung im Sinn, sondern eine klare denkbare Lösung. Wir wollen nämlich, dass das einmalige Einkommen aus dem Ferienjob nicht nur im Monat der Überweisung berücksichtigt, sondern auf zwölf Monate verteilt wird. In unserem Beispiel würde das praktisch heißen, dass Markus auf das Jahr gerechnet die gesamten 1 200 Euro behalten kann und die E-Gitarre und damit auch die Teilnahme an der Schülerband an seiner Schule möglich sind. Ich will aber noch darauf eingehen, was die Linke mit ihrem Antrag will und wo bei diesem Thema der Unterschied zu uns Sozialdemokraten liegt. Unser sozialdemokratisches Kernverständnis von Sozialstaat ist: Wenn du dir selbst nicht mehr helfen kannst, dann hilft dir die Solidargemeinschaft. Die Linke will dieses Grundprinzip abschaffen. Das steht im Übrigen auch in ihrem sogenannten 10-Punkte-Sofortprogramm. Genau dieser Punkt steht unter dem Motto „Abschaffen des Arbeitslosengeldes II“. Im Kern will die Linke, dass jeder trotz eigenem Einkommen die Solidarität der Gemeinschaft in Anspruch nehmen kann. Dazu haben wir ein grundsätzlich anderes Verständnis. Wir wollen fördern und fordern. ({3}) - Das gilt nach wie vor, aber Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn es Sie genauer interessiert. ({4}) Bei den Jugendlichen gibt es eine Gerechtigkeitslücke, die man so schließen kann, dass sie ihr Ferienjobgehalt behalten können, ohne mit der Grundüberzeugung zu brechen: Wer sich selbst helfen kann, soll das auch tun. Das ist unser sozialdemokratischer Weg, und wir fordern von der Bundesregierung, dass auch aus Markus ein Eric Clapton oder vielleicht sogar ein Jimi Hendrix werden kann. Denn sozial gerecht handeln, heißt auch verantwortlich handeln. Da wir davon ausgehen, dass die Bundesregierung und mit ihr die schwarz-gelbe Koalition nicht ausreichend kreativ sein wird, werden wir den versprochenen eigenen Antrag einbringen. ({5}) - Daran können Sie sich gerne beteiligen, Herr Kolb. Schon heute fordere ich Sie auf, auf unsere Kreativität bei der Anrechnung von Ferienjobs zurückzugreifen und unseren Vorschlag schnell umzusetzen. ({6}) - Dann werden wir darüber diskutieren. - Wir sollten das Ferienjobeinkommen von Jugendlichen so auf die Monate verteilen, dass ein Anreiz bleibt, und zwar nicht nur für Ferienjobs, sondern auch für Berufserfahrung und Berufsorientierung in frühen Jahren. Ich weiß mich mit dieser Forderung nicht nur mit meiner Bundestagsfraktion einig. Ich bin vor allen Dingen froh, dass die SPD das nicht nur in Talkshows verkündet, sondern auch auf ihrem Dresdner Parteitag beschlossen hat, die Anrechnung des Verdienstes aus Ferienjobs auf das Arbeitslosengeld II zu verändern. Wir stehen am Anfang der Beratungen. Wir haben noch Zeit. Sie können sicher sein: Wir werden konkreter werden als der vorliegende Antrag. Das Ziel ist klar: Wir wollen erreichen, dass die jungen Menschen mehr von ihrem Verdienst behalten können. Wir setzen uns für eine Lösung ein, die Eigenverantwortung und Berufsorientierung fördert. Unser Sozialstaatsversprechen gilt auch bei der Anrechnung des Verdienstes aus Ferienjobs: Wer sich selbst nicht helfen kann, dem hilft die Solidargemeinschaft. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Pascal Kober ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, wohl kaum verwundern, dass wir von der FDP eine grundsätzliche Sympathie für den Kerngedanken Ihres Antrages empfinden. Immerhin greifen Sie ein Kernelement liberaler Gerechtigkeitsvorstellungen auf, das wir gerne unter dem Motto „Leistung muss sich lohnen“ zum Ausdruck bringen. ({0}) Dass das natürlich für jede und jeden gelten muss, ist uns völlig klar. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten für ALG-II-Empfänger verbessern möchten. ({1}) Sie greifen allerdings mit Ihrem Antrag viel zu kurz. Es kann doch nicht nur um die Jugendlichen gehen, die in den Schulferien arbeiten. Was ist denn beispielsweise mit denen, die wöchentlich Zeitungen austragen oder wöchentlich als Babysitter jobben? Auch in der Begründung Ihres Antrages greifen Sie viel zu kurz. Ihnen geht es dort vor allen Dingen um die materielle Gleichstellung von Jugendlichen aus ALG-II-Bedarfsgemeinschaften mit anderen Jugendlichen. Das ist in der Tat ein berechtigtes Anliegen. Wir von der FDP haben aber noch einen anderen Fokus. Ganz entscheidend sind für uns Liberale die Erfahrungen, die Jugendliche bei der Aufnahme einer solchen Tätigkeit machen können. Es geht dabei um Erfahrungen des Gelingens, die Entwicklung von Selbstbewusstsein und das Erlernen von Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. ({2}) Das alles sind innere Kompetenzen. Wir wissen aufgrund von Studien, dass solche Kompetenzen leider bei Kindern aus Familien in prekären Lebensverhältnissen überdurchschnittlich häufig fehlen oder zu gering ausgeprägt sind. Der Gedanke der Vermittlung von Erfahrung des Gelingens steht für uns Liberale im Vordergrund. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, Missbrauch auszuschließen. Wir müssen Regelungen finden, bei denen die Vorzüge für die Jugendlichen herausgearbeitet sind und bei ihnen ankommen. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, Ihr Antrag greift nicht nur zu kurz, sondern ist nach unserer Auffassung auch etwas voreilig. Wir haben im Koalitionsvertrag festgehalten, dass wir die Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten für ALG-II-Empfänger in Angriff nehmen wollen, dass wir in diesem Bereich also tätig werden wollen. ({4}) In diesem Zusammenhang werden wir Ihren Kerngedanken aufgreifen und ihn in ein schlüssiges Gesamtkonzept einarbeiten, das sicherstellt, dass Missbrauch ausgeschlossen ist und alle - auch in Ihrem Sinne - profitieren können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von der sozialrechtlichen Systematik des SGB II her scheint alles klar zu sein: Auch der Verdienst aus einem Ferienjob stellt ein Einkommen dar, und Einkommen ist vorrangig einzusetzen, bevor Sozialleistungen greifen. Insofern gilt der Nachranggrundsatz bei der Leistung nach SGB II. Das, was sozialrechtlich einleuchtet, muss aber nach dem Alltagsverständnis und dem Verständnis von Gerechtigkeit längst nicht plausibel sein. Ebenso wie die Menschen im Lande nicht verstehen können, warum eine Kindergelderhöhung, die jetzt anstehen soll, bei denjenigen nicht greift, die das Geld am nötigsten haben, nämlich bei den ALG-II-Beziehern, versteht die Öffentlichkeit auch nicht, warum ausgerechnet Ferienjobs von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die auch der Stärkung des Selbstbewusstseins des Einzelnen dienen - das wurde schon vielfach beschworen -, größtenteils angerechnet werden sollen. ({0}) Ich bitte Sie alle, sich einmal an die eigene Jugend zu erinnern. Der Kollege Birkwald hat sein erstes eigenes Geld mit dem Backen von Hundekuchen und ich selber habe es mit anderen Tätigkeiten, nämlich mit dem Eintüten von Kalendern, verdient. Wir alle haben unser erstes Geld wahrscheinlich als Schülerinnen und Schüler hinzuverdient. Versuchen Sie einmal, sich emotional in die Lage zu versetzen, in der Sie sich damals befunden haben, als am ersten Zahltag endlich die knisternden Geldscheine in der Hand lagen und Sie sich voller Stolz sagen konnten: Das ist meins. Das ist nicht das Taschengeld. Das ist mein erstes selbst verdientes Geld. Versuchen Sie einmal, sich vorzustellen, wie Sie sich gefühlt hätten, wenn in diesem Moment die harte Hand des Jobcenters zugegriffen und man Ihnen gesagt hätte: Nein, das stimmt gar nicht. Mehr als die Hälfte davon bekommst du erst gar nicht. - Diese Demotivation bedeutet eine Zerstörung der Eigenmotivation und auch, Herr Schiewerling, der kleinbürgerlichen Tugendhaftigkeit, auf die Sie aufbauen und auf die Sie sich in Ihrer Politik beziehen. ({1}) Insofern müssten Sie ein Interesse daran haben, das zu ändern. Ich sage Ihnen aber auch: Sie kommen nicht damit durch, dass Sie sich mit verbesserten Hinzuverdienstmöglichkeiten oder erhöhtem Schonvermögen an der Stelle sozialpolitisch reinwaschen. Was bleibt, ist die große Aufgabe, die Regelsätze für Kinder und Jugendliche zu erhöhen. Das dürfen wir in dieser Debatte nicht vergessen. ({2}) Ich sage Ihnen heute auch - vielleicht haben Sie es schon im Nachrichtenticker gelesen -: Auf der Arbeitsund Sozialministerkonferenz in Berchtesgaden, die heute getagt hat, wurde mit 15 Stimmen bei einer Enthaltung entschieden, zu fordern, im Rahmen des Kinderregelsatzes Kosten für Bildung vorzusehen, also endlich einen höheren Regelsatz für Kinder zu verlangen. Das bleibt eine Aufgabe, die Ihnen ins Stammbuch geschrieben ist. Darauf werden wir auch immer hinweisen. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/76 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? ({0}) - Ganz überwiegend? Gibt es irgendjemanden, der damit nicht einverstanden ist? - Das ist nicht der Fall. Dann stelle ich das vermutete Einvernehmen zu dieser Überweisung hiermit fest. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf Mittwoch, den 2. Dezember 2009, 13 Uhr, ein. Bis dahin wünsche ich Ihnen, für welche anderen Interessen und Verpflichtungen auch immer, alles erdenklich Gute. Ich schließe hiermit die Sitzung.