Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der
Sicherungsverwahrung und zu begleitenden
Regelungen
- Drucksache 17/3403 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Bundesministerin Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll ein ganz
sensibler Bereich neu justiert und ausgerichtet werden.
Es ist notwendig, dies zu tun, und zwar in dreierlei Hinsicht.
Erstens muss die Sicherungsverwahrung wegen des
tiefen Eingriffs in das Leben eines Verurteilten, der seine
Strafe verbüßt hat, streng rechtsstaatlich ausgestaltet
sein. Sie muss letztes Mittel der Kriminalpolitik, also
Ultima Ratio, bleiben.
Zweitens ist am Recht der Sicherungsverwahrung in
den letzten Jahren immer wieder - ich kann es nicht anders formulieren - herumgebastelt worden. Von 1995 bis
zum Jahr 2008 gab es immer wieder Änderungen bzw.
Verschärfungen. Dies geschah meistens vor dem Hintergrund ganz konkreter Einzelfälle, die zu aufgeregter Diskussion in der Öffentlichkeit geführt haben. Deshalb ist
es gut, richtig und wichtig, dass nun versucht wird, diese
Dauerbaustelle durch einen in sich geschlossenen Neubau zu ersetzen, und zwar unter Berücksichtigung
zweier wichtiger Anliegen. Auf der einen Seite sind
rechtsstaatliche Kriterien strikt zu beachten; denn wer
seine Strafe verbüßt hat, kann nur in Ausnahmefällen
nachträglich eingesperrt werden. Auf der anderen Seite
sind die berechtigten Sicherheitsinteressen der Bevölkerung in jede Überlegung einzubeziehen.
Drittens ist es notwendig, ein größeres, in sich neu
ausgerichtetes und widerspruchsfreies Konzept auf den
Tisch zu legen. Denn aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - es ist im Mai
dieses Jahres rechtskräftig geworden - ist es zur Entlassung einzelner als gefährlich eingestufter Straftäter gekommen. Ich glaube, wir alle erinnern uns an die Berichterstattung, an die Sorgen und Nöte. Daher besteht
die Notwendigkeit, sich jetzt ruhig, sachlich und rechtsstaatlich mit diesen Herausforderungen zu befassen.
Dies geschieht durch den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen in drei Punkten. Die Sicherungsverwahrung wird für die Zukunft neu ausgerichtet. Die primäre
Sicherungsverwahrung wird auf den notwendigen Bereich beschränkt, und zwar im Kern auf Gewalt- und Sexualdelikte sowie gemeingefährliche Straftaten. Gewaltlose Vermögensdelikte nicht mehr zu den Anlasstaten für
die Anordnung von Sicherungsverwahrung zu zählen,
kann ja nur Konsens in diesem Hause sein und ist rechtsstaatlich geboten.
({0})
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Erwachsene wird auf einen engen Bereich begrenzt und sonst im
Grundsatz abgeschafft. An ihr haben sich immer wieder
viele Debatten entzündet, aber sie spielt letztlich in der
Praxis nicht die Rolle, die ihr immer zugemessen wird.
Außerdem gibt es vor dem Hintergrund der VereinbarRedetext
keit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention
berechtigte Zweifel und anhängige Verfahren, sodass eigentlich mit ihr eher mehr Probleme bestehen, als mit ihr
gelöst werden. Deshalb richten wir die primäre und die
vorbehaltene Sicherungsverwahrung neu aus.
Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung wird ausgedehnt - sie kann bei schweren Delikten auch auf Ersttäter angewandt werden -, und es wird die Frist verlängert, innerhalb derer bei einer vorbehaltenen
Sicherungsverwahrung ein Gericht entscheiden kann, ob
die Voraussetzungen bei Haft und nach Haftverbüßung
vorliegen oder nicht.
Wir ergänzen dieses Konzept mit einer weiteren Maßnahme im Bereich der Führungsaufsicht, einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung, die ja Sicherungsverwahrung nicht ersetzt, sondern ein Hilfsmittel, eine
Unterstützung in angemessenen Situationen sein kann.
Ich denke, damit werden wir auch dem berechtigten Anliegen derjenigen, die sich mit diesen Aufgaben zu befassen haben, gerecht. Wir kennen alle die Bilder vom
Einsatz von 20 Polizeibeamten, um einen als gefährlich
eingestuften Täter, der entlassen worden ist, so zu überwachen und zu betreuen, dass es nicht zu Taten kommen
kann.
Ein weiterer und auch wichtiger Baustein ist der Entwurf eines Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch Gestörter als Übergangslösung für sogenannte Altfälle, also für die Personen, die durch das
Straßburger Urteil vom Mai dieses Jahres betroffen sind
und aus Sicherungsverwahrung schon entlassen worden
sind oder bei denen diese Entlassung bevorsteht.
Wir alle kennen das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die engen Vorgaben,
die dort gemacht worden sind. Deshalb wird hier ein
Aliud, etwas anderes, als Möglichkeit zur Therapierung
und Unterbringung gewählt. Das ist nicht Sicherungsverwahrung, sondern es ist ein besonderes Verfahren, ein
Zivilverfahren vor den Zivilkammern mit zwei externen
Gutachtern, die darüber zu entscheiden haben, ob die
eng gefassten Voraussetzungen für eine mögliche Unterbringung zur Therapie in geeigneten Einrichtungen vorliegen. Das ist eine große Herausforderung für die Länder, die für diese geeigneten Einrichtungen zuständig
sind, in denen Therapie erfolgen muss. Es kann eben
nicht Strafvollzug und es kann auch nicht eine Zelle neben dem Strafvollzug sein, ohne dass das inhaltliche Angebot geändert worden ist.
Dieses Verfahren ist eng mit ganz strikten und immer
wieder greifenden Rechtsbehelfsmöglichkeiten auf der
Grundlage des Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgestaltet. In den Debatten haben wir
wirklich sehr intensiv diskutiert, abgewogen und haben
uns letztlich für diesen eng begrenzten Rahmen entschieden, der in meinen Augen nicht mehr Spielraum für weitere Ausweitungen insgesamt lässt.
Ich denke, es ist ein Gesetzentwurf, der wirklich ein
ausgewogenes Gesamtkonzept beinhaltet, der Sicherungsverwahrung strikt nach rechtsstaatlichen Konzepten neu ausrichtet, der aber auch eine Antwort auf aktuelle Probleme gibt.
Recht herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Olaf Scholz von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren über ein sehr ernstes Thema,
über die Sicherungsverwahrung, eine Angelegenheit, die
juristisch nicht einfach ist und die es auch immer notwendig macht, sorgfältig darüber nachzudenken, was der
Staat in dieser Hinsicht tut und wie er seine Gesetze organisiert und ausrichtet. Es herrscht weitgehend große
Einigkeit darüber, dass wir in Deutschland so etwas wie
die Sicherungsverwahrung benötigen. Sie ist in den letzten Jahren im Rahmen mehrerer Gesetzentwürfe beschlossen worden, zwar in ganz unterschiedlichen politischen Konstellationen, aber immer in der Überzeugung,
dass es im Prinzip richtig ist, so etwas wie die Sicherungsverwahrung zu haben.
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte hat uns vor eine ganz neue Herausforderung gestellt, die wir bewältigen müssen. Das Problem, das den Gesetzgeber immer wieder dazu bewegt
hat, Gesetze zur Sicherungsverwahrung auf den Weg zu
bringen, ist damit allerdings nicht vom Tisch. Deshalb
muss dringend eine Lösung gefunden werden.
Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich bedroht
aufgrund der Gefahren, die von denjenigen ausgehen
können, die von Gerichten in eine Sicherungsverwahrung verbracht worden sind. Wir als Gesetzgeber müssen
dem Bundesverfassungsgericht, das sich demnächst mit
diesem Thema befassen wird, unsere Vorstellungen im
Hinblick auf eine künftige Regelung mitteilen; der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat per Zeitungsinterview ausdrücklich darum gebeten.
({0})
Insofern müssen wir das, was wir uns jetzt vornehmen,
auch tun.
Wir müssen ein Gesetz auf den Weg bringen - auch
dies will ich nicht unerwähnt lassen -, das den Vorgaben
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entspricht. Wir müssen einen guten Umgang mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte pflegen. Denn
die größte Demokratie in Europa hat die wichtige Aufgabe, sicherzustellen, dass die Entscheidungen, die er
trifft, respektiert und beachtet werden.
({1})
Zu dem Thema, über das wir zu diskutieren haben,
gehört auch die Frage, wie wir dabei miteinander umgehen. Ich will ausdrücklich sagen, dass mich bedrückt,
wie lange es gedauert hat, bis wir zu diesem Gesetzgebungsverfahren gekommen sind. Das wäre schneller
nötig und auch schneller möglich gewesen.
({2})
Es wäre auch deshalb schneller möglich gewesen,
weil nicht nur die sozialdemokratischen Abgeordneten,
sondern auch alle anderen Oppositionsfraktionen in diesem Parlament wiederholt gesagt haben: Wir sind bereit,
konstruktiv mitzuarbeiten und mitzuhelfen. Wir glauben,
dieses Problem ist nicht nur ein Problem der Regierung,
sondern es betrifft das gesamte Parlament und alle, die
Verantwortung tragen.
Wir waren ein bisschen irritiert, wie lange dieser Prozess gedauert hat und wie wenig der Versuch unternommen wurde, die Opposition und die Länder in den Entscheidungsprozess einzubinden. Das ist ein Problem,
weil mit den gewählten Lösungen auch Konsequenzen,
zum Beispiel für die Länder, verbunden sind. Die Länder
müssen jetzt schnell mitmachen, damit es nicht an Zügigkeit mangelt.
({3})
Es wäre gut gewesen, wenn man rechtzeitig darauf geachtet hätte, sie in diesen Prozess einzubinden. Ich hoffe,
dass dies noch geschieht und man sich aktiv darum bemüht. Im Übrigen will ich Ihnen gerne versichern, dass
wir uns von der fehlenden Einbindung der Länder in diesen Diskussionsprozess nicht abschrecken lassen, sondern uns weiterhin konstruktiv beteiligen.
({4})
Zur Sache. Der Weg, der im vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagen wird, ist ein Weg, den wir für gangbar halten und den wir gerne mitgehen wollen. Es ist
notwendig, eine Neuregelung zur Sicherungsverwahrung zu treffen, und es ist richtig, dass wir die nachträgliche Sicherungsverwahrung mit Blick auf künftige Fälle
abschaffen und durch ein anderes System, das auch uns
geeigneter erscheint, ersetzen. Insofern findet der Weg,
der im vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagen wird,
unsere Unterstützung, zwar nicht in allen Details - darüber muss in den Ausschüssen und Anhörungen beraten
werden; das ist eine notwendige Debatte -, aber im
Grunde.
Ich glaube, dass es vernünftig ist, die Fälle, in denen
eine Sicherungsverwahrung angeordnet wird, auf Straftaten, die gegen die körperliche Unversehrtheit, das Leben und die sexuelle Selbstbestimmung eines Menschen
gerichtet sind, zu beschränken. Es ist noch zu prüfen, ob
diese Maßgabe im vorliegenden Gesetzentwurf durchgängig eingehalten wird. Im Großen und Ganzen ist aber
genau dieser Weg richtig.
Wenn man ihn geht, ist es leichter, eine Sicherungsverwahrung zu beschließen, sich ihre Anordnung vorzubehalten und noch während der Strafhaft den Vollzug der
Sicherungsverwahrung festzusetzen. Es geht also um
drei Entscheidungen, die vor dem Hintergrund der Beschränkung der Fälle, in denen eine Sicherungsverwahrung angeordnet werden darf, gut begründet sein müssen. Allerdings - ich sage es noch einmal - ist dies im
vorliegenden Gesetzentwurf keineswegs in allen Einzelheiten geschehen und gelungen. Deshalb muss man die
geplanten Regelungen noch einmal daraufhin überprüfen, ob sie wirklich passgenau sind.
Wir sind bereit, weiterhin mit Ihnen zu diskutieren
und uns konstruktiv einzubringen, wenn es darum geht,
eine Lösung im Hinblick auf psychisch gestörte Gewalttäter bzw. die sogenannten Altfälle dieser Art zu
finden.
({5})
Das wird nicht einfach; denn es ist nicht gerade leicht,
eine Lösung für diese Fälle zu finden. Es wäre ganz einfach, wenn alle Oppositionsfraktionen sagen würden:
Das Problem haben ja nicht wir, soll die Regierung doch
sehen, wie sie damit zurande kommt. - Das kann es
nicht sein.
Insofern glauben wir, dass man das Ganze sorgfältig
beraten muss und dass wir in den konkreten Diskussionen über den Gesetzentwurf schauen müssen, ob das
funktioniert. Wir raten uns selbst und auch den Regierungsparteien und der Regierung, den Sachverständigen,
die angehört werden, genau zuzuhören. Es kann sein,
dass wir hinsichtlich der Frage, was man tun kann, zu
veränderten Erkenntnissen im Detail kommen. Im Großen und Ganzen ist es aber vernünftig, dass wir jetzt
nicht einfach zuschauen, wie gefährliche Täter in der
Bundesrepublik möglicherweise Straftaten verüben und
Bürgerinnen und Bürger in Gefahr bringen, weil wir
nicht überlegt haben, was man tun kann, und wir deswegen keine Handhabe dagegen haben.
Wir haben genau hingeschaut und sind deshalb der
Meinung, dass es eine berechtigte Hoffnung der Bundesregierung und der antragstellenden Fraktionen ist, dass
das Ganze auch mit der Europäischen Konvention für
Menschenrechte vereinbar ist.
({6})
Das ist aber kein leichter Weg; denn wir haben Regelungen für die psychisch Gestörten - für die psychisch
Kranken gibt es sie schon - zu treffen. Darüber kann
man als Jurist und Juristin sorgfältig streiten. Wir glauben, dass die Regelungen vertretbar sind, wollen in den
konkreten Beratungen aber sehr genau überprüfen und
schauen, ob man das auch in allen Details so machen
kann, wie das jetzt mit dem Gesetzentwurf vorgelegt
worden ist.
Mein Rat zum weiteren Umgang mit diesem Gesetzentwurf und hinsichtlich der Beratungen, die jetzt folgen, lautet deshalb: Wir sollten ruhig bleiben - das ist
notwendig -, wir sollten sehr ernst bleiben - das ist auch
notwendig -, und wir sollten bereit sein, zu akzeptieren,
dass vielleicht nicht alles, was in dem heute erstmals beratenen Gesetzentwurf steht, am Ende auch so stehen
bleibt. Die Regierungsparteien und die Regierung sollten
schon bei den Beratungen des Bundestages und parallel
dazu auch gemeinsam mit den Ländern den Versuch machen, einen Weg zu finden, wie das möglichst zügig
dann auch gemeinschaftlich getragen werden kann.
Ich will deshalb zum Schluss ein Plädoyer für die
16 Länder der Bundesrepublik Deutschland halten und
auf ihre Probleme und Fragen hinweisen. Die Lösung,
die gerade für die psychisch gestörten Gewalttäter gefunden worden ist, führt dazu, dass bei den Ländern
Mehrausgaben entstehen und dass neue Aufgaben zu erfüllen sind. Ich glaube, dass man jetzt nicht sagen kann,
das sei ganz alleine deren Problem. Es wird wichtig sein,
dass man diesen Prozess als eine gemeinsame nationale
Aufgabe begreift, dass sich also bei der Beratung dieser
Dinge ein entsprechendes Verhältnis zwischen der Regierung und der Opposition und vielleicht auch zwischen
dem Bund und den Ländern entwickelt, indem gesagt
wird: Wir sollten dieses Problem jetzt nicht einfach aufeinander abschieben, sondern wir sollten versuchen, es
gemeinsam zu lösen.
Wenn dieser Weg beschritten wird, dann können wir
bei einem so schwierigen und ernsten Thema auch etwas
Gutes für das Land und für die Strafrechtskultur dieses
Landes tun.
Schönen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Günter Krings von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf zur
Sicherungsverwahrung legen wir dem Hause ein wichtiges Vorhaben der christlich-liberalen Regierung auf dem
Gebiet der Rechtspolitik vor.
Unterschiedliche Koalitionen mit unterschiedlichen
Mehrheiten - auch unter Beteiligung der Grünen - haben
in den letzten über zehn Jahren viele Ergänzungen und
Erweiterungen des bewährten und schon relativ alten
Rechtsinstituts der Sicherungsverwahrung vorgelegt.
Das war jeweils - darin stimme ich Ihnen ausdrücklich
zu, Herr Kollege Scholz - gut begründbar. Es ist aber ein
kompliziertes - manche sagen sogar: verworrenes Konglomerat aus strafrechtlichen Regelungen entstanden. Die christlich-liberale Bundesregierung ist gemäß
dem Koalitionsvertrag bereits mit dem Ziel angetreten,
dieses Rechtsinstitut übersichtlich neu zu ordnen und
Schutzlücken zu schließen. Genau diese beiden Zielsetzungen erreichen wir mit dem heute vorgelegten Entwurf.
({0})
Das Recht der Sicherungsverwahrung wird endlich ein
Recht aus einem Guss, und wir bieten den Menschen
mehr Schutz vor hochgefährlichen Tätern.
({1})
Dass wir hier bei aller gebotenen Sorgfalt trotzdem
zügig handeln mussten, hängt in der Tat mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte zusammen. Dieser hat - auch das
muss hier noch einmal erwähnt werden - in der vergangenen Woche in dankenswerter Klarheit das Rechtsinstitut der Sicherungsverwahrung in Deutschland bestätigt
und als mit der Menschenrechtskonvention vereinbar erklärt. Aber er hat im vergangenen Jahr - das hat er im
Mai dieses Jahres noch einmal bestätigt - für eine bestimmte Gruppe hochgefährlicher Täter eine Sicherungsverwahrung und auch ihre Verlängerung abgelehnt,
wenn die gesetzliche Grundlage dafür erst nach der Tat
geschaffen wurde.
Meine Damen und Herren, wenn insbesondere die
grüne Fraktion am gestrigen Abend nicht versucht hätte,
das unserem Parlamentsrecht unbekannte System des Filibusterns in die Tradition des deutschen Parlaments einzuführen, hätten wir gestern Abend eine interessante
Debatte zum 60. Jahrestag der Europäischen Menschenrechtskonvention am 4. November führen können. Sie
musste leider abgesetzt werden. Das hätte gestern Abend
- das tue ich aber gerne hier - Gelegenheit gegeben, auf
die Bedeutung dieser Menschenrechtskonvention und
darauf hinzuweisen, dass auch schmerzhafte Urteile wie
das zu einem strengen Rückwirkungsverbot von uns
selbstverständlich akzeptiert und befolgt werden, zumal
Deutschland nicht nur von Anbeginn bei der Menschenrechtskonvention dabei war, sondern auch für diese Europäische Menschenrechtskonvention immer geworben
hat.
Ich sage es aber ganz deutlich: Zu einem offenen
Grundrechtsdialog in Europa gehört auch, dass wir Judikate des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
kritisch begleiten dürfen und müssen.
({2})
Weiter sage ich in aller Offenheit - und im Einklang
mit weiten Teilen auch der deutschen Strafrechtswissenschaft - sehr deutlich, dass die Urteile des Europäischen
Menschenrechtsgerichtshofs vom Dezember letzten Jahres und vom Mai dieses Jahres kein Ruhmesblatt in der
Geschichte dieses Menschenrechtsgerichtshofs waren.
({3})
Die Gleichsetzung von Sicherungsverwahrung mit
Strafhaft hat aus meiner Sicht ganz zentral damit zu tun,
dass sich das Gericht in Bezug auf die Fakten nicht ausreichend mit der Praxis und dem System des deutschen
Strafrechts befasst hat.
({4})
Es stimmt mich auch befremdlich, dass ein so folgenschwerer Eingriff in ein Herzstück einer nationalen
Strafrechtsordnung nicht einmal von der Großen
Kammer des Gerichts entschieden wurde.
({5})
Meine Damen und Herren, als Folge dieser Entscheidungen ist inzwischen eine größere Zahl hochgefährlicher Straftäter entlassen worden. Es sind Täter, die von
Gerichten und Gutachtern übereinstimmend und klar für
ein großes Sicherheitsrisiko gehalten werden. Sobald sie
in Freiheit sind, müssen sie in der Regel rund um die Uhr
von Polizisten überwacht werden. Ich kann deshalb der
Deutschen Polizeigewerkschaft nur beipflichten, wenn
sie erklärt, dass solche - so das Zitat - „tickende Zeitbomben“ nicht in Freiheit, sondern hinter Gittern gehören.
Als Beispiel will ich nur auf die Situation im Südwesten unserer Republik - in Freiburg - hinweisen. Dort
sind aufgrund von Entscheidungen des Oberlandesgerichts Karlsruhe inzwischen sechs Sicherungsverwahrte
in Freiheit gekommen. Einer von ihnen wurde 1975 zu
15 Jahren Haft wegen Mordes in Tateinheit mit dem sexuellen Missbrauch eines Kindes verurteilt. Schon zuvor
war er wegen zwei Vergewaltigungen, zwei versuchter
Vergewaltigungen und einer Reihe weiterer Delikte verurteilt worden.
Vier weitere Sexualstraftäter sind nach zahlreichen
einschlägigen Taten zu je fünf Jahren Haft verurteilt
worden. Diese fünf müssen rund um die Uhr von mehreren Polizisten überwacht werden. Sie sind jederzeit rückfallgefährdet. Ein sechster Gewalttäter muss jedenfalls
zeitweise überwacht werden. Hierfür werden zurzeit
181 Polizeibeamte im Einsatz benötigt. Sie haben bislang knapp 16 000 Dienststunden rein zu diesem Zweck
geleistet. Weit über eine halbe Million Euro Kosten sind
hier angefallen. Das gehört auch zur Wahrheit, wenn wir
an dieser Stelle über die Kosten und Lasten der Länder
reden.
Aber ich sage ganz klar: Die personellen Ressourcen,
die man einsetzt, und auch die Kosten sind gar nicht das
entscheidende Problem. Das muss ein Rechtsstaat in bestimmten Fällen vielleicht leisten. Wir verlangen von unseren Polizeibeamten - das ist das Problem - aber etwas
Unmögliches. Wir wollen, dass sie uns wirklich lückenlos vor diesen gefährlichen Straftätern schützen, die aufgrund ihrer Anlage jederzeit losschlagen können. Das
können wir von ihnen beim besten Willen und bei höchstem Engagement einfach nicht erwarten. Wir können,
um es auf den Punkt zu bringen, von einem Polizisten in
Freiburg nicht erwarten, dass er allein die Schutzlücken
wieder stopft, die ein Richter in Straßburg aufgerissen
hat.
Für CDU und CSU war bei der Debatte von vornherein klar, dass wir alles versuchen müssen, um diese Täter wieder hinter Schloss und Riegel zu bringen. Der Unterschied zwischen uns und anderen Stimmen in der
Debatte war, dass wir nicht resigniert und nicht immer
nur gesagt haben, was alles nicht geht. Es gibt in der Tat
enge Grenzen. Es gibt Begrenzungen, aber wir müssen
uns auf die verbleibenden Möglichkeiten konzentrieren.
Wir halten Resignation für den falschen Ratgeber bei
diesem für die Sicherheit unserer Gesellschaft so wichtigen Thema. Deshalb haben wir von Anfang an versucht
und es mit dem Gesetzesvorhaben auch geschafft, alle
Möglichkeiten der Europäischen Menschenrechtskonvention auszuschöpfen, um Freilassungen zu verhindern
und bereits Freigelassene wieder in Verwahrung zu nehmen.
Dafür haben wir das Gesetz zur Therapierung und
Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter vorgesehen. Denn wir nehmen die Europäische Menschenrechtskonvention nicht nur da ernst, wo sie uns besondere Grenzen auferlegt, die über das nationale Recht
hinausgehen, sondern auch dort, wo sie vielleicht neue
Möglichkeiten und Handlungsspielräume eröffnet, die
das nationale Recht bisher nicht eröffnet hat, zum Beispiel über die PsychKG-Gesetzgebung.
({6})
Die Ministerin hat darauf hingewiesen: Als Unterbringungsgrund verlangt Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention eben keine psychische Erkrankung, wie es unsere Landesgesetze in der Regel
vorschreiben. Vielmehr reicht nach der Europäischen
Menschenrechtskonvention - wenn man ihren Wortlaut
ernst nimmt, was wir tun - jede spezifische Störung der
Persönlichkeit, also auch ein gestörtes Verhältnis zur Sexualpräferenz, Pädophilie und Ähnliches. Diese weitere
Regelungsmöglichkeit erfasst auch bereits entlassene
Täter und erstreckt sich in unserem Entwurf darauf,
diese zur Begutachtung wieder vorläufig festzuhalten.
Allen eben erwähnten Sexualstraftätern aus Freiburg
wurde eine Therapie angeboten. Alle diese Täter haben
die Therapie abgelehnt. Für mich sind das klassische
Anwendungsfälle für das neue Gesetz.
Unterbringung und Therapie verfolgen auch das Ziel,
den Betroffenen in Aussicht zu stellen, als geheilt und
ungefährlich entlassen zu werden. Wer meint, dieses
neues Instrument sei eine bloße Umetikettierung der Sicherungsverwahrung, der ignoriert nicht nur das Schutzinteresse der Allgemeinheit, sondern tritt auch die Behandlungschancen der betroffenen Schwerverbrecher
mit Füßen.
Meine Damen und Herren, unser Rechtsstaat hat eine
Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern. Freiheit, körperliche Unversehrtheit und Leben müssen aktiv und effektiv verteidigt werden. Genau das ist der Leitgedanke
unseres Gesamtkonzepts, das die Sicherheitsverwahrung insgesamt neu ordnet. Ich will das mit drei Stichpunkten aufzeigen: Wir haben deutliche Verbesserungen
und Erweiterungen bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vorgesehen. Wir verdoppeln die Frist für die
Rückfallverjährung bei gefährlichen Sexualstraftätern
auf zehn Jahre. Und wir schaffen unter anderem die
Möglichkeit einer „elektronischen Fußfessel“. Die
Ministerin hat recht: Das ist kein Ersatz für eine Verwahrung. Aber in den Fällen, in denen es nicht angezeigt
oder möglich erscheint, einen Täter in Verwahrung zu
nehmen, ist es eine Möglichkeit, die schwere Arbeit der
Polizei zu entlasten und die Sicherheit der Bürger zu erhöhen.
Leben und Gesundheit der Menschen müssen wir gerade vor Straftätern schützen. Das ist eine der Kernaufgaben unseres Staates und unsere Pflicht als Mitglieder
des Parlaments, des Deutschen Bundestages. Es ist daher
aus meiner Sicht unverantwortlich, immer nur zu sagen,
was alles nicht geht, statt dieses Schutzbedürfnis entsprechend ernst zu nehmen.
Diese Schutzpflicht speist sich übrigens nicht nur aus
Art. 2 des Grundgesetzes, wenn es um Leben und Gesundheit geht, sondern auch aus Art. 2 der Europäischen
Menschenrechtskonvention. Wer das ausblendet, tut
nichts besonders Gutes für das Image der Europäischen
Menschenrechtskonvention in Deutschland.
Für das Thema Freiheit und Sicherheit wäre schon
viel gewonnen, wenn diejenigen, die durchaus zu Recht
auf die Grundrechte der Täter hinweisen, auch zur
Kenntnis nehmen würden, dass dieselben Grundrechte in
ihrer Schutzpflichtenfunktion auch die Bürger schützen
und den Staat zum Schutzhandeln verpflichten.
({7})
- Das ist ja schön.
Die Menschen in unserem Lande wissen, dass die innere Sicherheit bei der CDU/CSU gut aufgehoben ist.
Wir richten unsere Politik darauf aus, dass aus Bürgern
keine Opfer werden. In diesem Punkt arbeiten wir in der
christlich-liberalen Koalition gut zusammen. Dafür bieten wir die Zusammenarbeit auch all jenen Kräften in
diesem Hause an, denen dieses Ziel ebenso wichtig ist
wie uns.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Halina Wawzyniak
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden hier nicht über irgendetwas, sondern über
den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts
der Sicherungsverwahrung. Das heißt, wir reden über
den schwersten und schwerwiegendsten Eingriff, den
das deutsche Strafrecht zur Verfügung stellt. Ich finde, es
ist dem Thema völlig unangemessen, dass der Gesetzentwurf erst Dienstagabend zwischen 19.30 und 21 Uhr
im Intranet abrufbar war, ein Gesetzentwurf mit 98 Seiten und Begründung. Als Krönung kommt hinzu, dass
der Gesetzentwurf in Teilen anders aussieht als die Eckpunkte und die Presseerklärung der Justizministerin.
Ich finde das nicht akzeptabel.
({0})
Reden wir über die Sicherungsverwahrung, dann reden
wir über ein hochsensibles und emotional aufgeladenes
Thema. Ob Bild, BZ oder ein ehemaliger Bundeskanzler,
das Prinzip „Wegsperren für immer“ hat Hochkonjunktur,
mindestens seit 1998. Dabei wäre es Aufgabe der Politik,
insbesondere der Rechtspolitik, über schwierige Themen
sachlich und seriös zu debattieren. Das schließt populistische und stammtischorientierte Reden und Gesetze aus.
({1})
Die Sicherungsverwahrung wird in der Praxis tatsächlich eher als zusätzliche Strafe wahrgenommen. Sie ist
- das wissen Sie alle - ein rechtlich höchst umstrittenes
Instrument. Die Strafverteidigervereinigung und der RAV
fordern die Abschaffung der Sicherungsverwahrung als
Fremdkörper im Strafrecht. Sie sind nicht allein. Es
handelt sich nicht um eine vom Himmel gefallende Debatte, die der Strafrechtswissenschaft unbekannt ist. 1934
unter den Nazis eingeführt, fristete die Sicherungsverwahrung nach der Strafrechtsreform 1975 eher ein Schattendasein. Seit 1998, ergänzt 2002 und 2004, erlebte sie
eine Renaissance. Alle Parteien außer der FDP und der
Linken haben sich daran beteiligt. Nunmehr beteiligt sich
auch die FDP an dieser Renaissance.
Nach der Koalitionsvereinbarung sollte die Sicherungsverwahrung den Ausnahmecharakter beibehalten und auf schwerste Fälle beschränkt sein. Nach dem
vorliegenden Gesetzentwurf sage ich Ihnen: Die Koalitionsvereinbarung ist das Papier nicht wert, auf dem sie
steht.
({2})
Schon jetzt ist die Sicherungsverwahrung nicht Ultima
Ratio. Entgegen dem medial vermittelten Bild sind eben
nicht nur Gewalt- und Sexualstraftäter betroffen. Auch
Straftäter, die wegen Betrugs- und Diebstahlsdelikten,
Brandstiftung und - in geringem Maße - sogar wegen
Nötigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
verurteilt worden sind, sitzen in Sicherungsverwahrung.
Voraussetzung für die Sicherungsverwahrung ist ein
Hang zu gefährlichen Straftaten. Nach dem BGH handelt
es sich um einen „eingeschliffenen inneren Zustand“, der
immer wieder zu Straffälligkeit führt. Voraussetzung für
die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist die Einschätzung im Rahmen einer Prognoseentscheidung. Die
Hamburger Oberärztin Marianne Röhl bringt es auf die
Formel: „Die Hälfte der Patienten sitzt zu Unrecht ein,
aber welche Hälfte es ist, das weiß ich nicht.“ Genau das
ist der Punkt. Niemand kann eine sichere Prognose über
zukünftige Straffälligkeit treffen. Trotzdem werden Menschen ihrer Freiheit beraubt.
({3})
Kommen wir zum Gesetzentwurf. Trotz all dieser offenen Fragen wollen Sie die Sicherungsverwahrung de
facto ausweiten. Sie sind da ganz offen und erwähnen
das auf Seite 53 des Gesetzentwurfs. Ich finde das sehr
bemerkenswert; denn Sie benennen im Gesetzentwurf
überhaupt keinen Anlass für die Ausweitung. Mit dem
Prinzip der Ultima Ratio hat Ihr Gesetz jedenfalls nichts
zu tun. Das kann man auch nicht mit Rückfallzahlen und
Gefährlichkeit begründen; denn dafür gibt es keine empirische Grundlage, ganz im Gegenteil. Sie alle kennen
die Studie von Michael Alex. Nicht nur diese Studie geht
davon aus, dass sich die Quote der Rückfalltäter auf
10 bis 15 Prozent beläuft.
Was macht Ihren Gesetzentwurf so inakzeptabel? Beginnen wir mit der anfänglichen Sicherungsverwahrung.
Sie ist nach dem Gesetzentwurf nicht letztes Mittel der
Kriminalpolitik. Nach dem Gesetzentwurf sind Anlassstraftaten für die Anordnung der Sicherungsverwahrung
noch immer der Bandendiebstahl und der Wohnungseinbruchsdiebstahl. Richtig absurd wird es, wenn man sich
darauf beruft, dass die Straftaten des 28. Abschnittes des
StGB ebenfalls dazugehören. Das sind unter anderem
Brandstiftungsdelikte und unterlassene Hilfeleistung. Ihr
Anspruch ist, die Sicherungsverwahrung für schwerste
Fälle zu regeln. Wenn aber die erwähnten Delikte als Anlassstraftaten in Betracht kommen, dann offenbart das ein
eigenartiges Verständnis von schwersten Fällen.
({4})
Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ist der eigentliche Ausbau der Sicherungsverwahrung. Der schon
angesprochene Hang muss jetzt nur noch wahrscheinlich
und nicht mehr sicher sein. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit eines Hangs zu schweren Straftaten reicht aus,
um das Damoklesschwert der Sicherungsverwahrung
über dem Strafgefangenen schweben zu lassen.
Die Neue Richtervereinigung - um nur ein Beispiel
zu nennen - fordert die komplette Abschaffung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung und bezweifelt, dass
hier die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderte Verknüpfung zwischen Verurteilung
und Freiheitsentzug noch gegeben ist.
Kommen wir zur nachträglichen Sicherungsverwahrung. Hierbei handelt es sich um eine Mogelpackung. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung gilt
nämlich nur für Neufälle. Das heißt, erst wenn das Gesetz in Kraft getreten ist und danach Straftaten begangen
werden, wird sie angewendet. In Ihrem Gesetzentwurf
schreiben Sie, bis sie sich auswirke, dauere es fünf bis
zehn Jahre. Viel absurder ist aber, dass die Altfälle noch
nach der alten Regelung in Sicherungsverwahrung gebracht werden können.
({5})
Sie regeln also ein Gesetz neu, wenn aber heute einer
eine Straftat begeht, wird er noch nach den alten Regelungen in Sicherungsverwahrung gebracht.
({6})
- Das ist nicht umgekehrt, wir können aber gern im Detail darüber noch einmal reden.
Sie lassen die Katze aus dem Sack, indem Sie erklären, dass die Ausweitung der primären und vorbehaltenen Sicherungsverwahrung die nachträgliche Sicherungsverwahrung ersetzt, und über Umwege setzen Sie
rechtstaatliche Hürden herab. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf:
Schließlich lässt sich durch den Ausbau der primären und vorbehaltenen Sicherungsverwahrung für
„Neufälle“ auch die bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung … nahezu vorprogrammierte Situation vermeiden, dass ein vom Gericht als gefährlich eingestufter Straftäter entlassen werden muss,
weil die hohen, aber rechtstaatlich gebotenen Anordnungsvoraussetzungen … nicht erfüllt sind.
Der Höhepunkt des Gesetzes ist allerdings das Unterbringungsgesetz.
({7})
Damit umgehen Sie das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Soweit mir ersichtlich,
trifft dieses Unterbringungsgesetz - außer in den Reihen
der Koalition - auf einhellige Ablehnung. Die Neue Richtervereinigung wirft Ihnen vor, Sie verlassen damit den
Boden der verfassungs- und menschenrechtlichen Vorgaben. Und tatsächlich wollen Sie mit diesem Unterbringungsgesetz eine Tätergruppe, die nach den Vorgaben der
Europäischen Menschenrechtskonvention in Freiheit zu
belassen ist, durch den weiten Begriff „psychische Störung“ wieder einsperren.
({8})
Schon in Freiheit befindliche Personen wollen Sie wieder in Anstalten bringen. Und Sie erklären nicht einmal
das dogmatische Problem, das Sie haben, wenn jemand
als schuldfähig mit einer Strafe belegt, später aber als
psychisch krank eingestuft wird.
({9})
Das macht alles überhaupt keinen Sinn.
({10})
Das Unterbringungsgesetz ist die neue Form der
nachträglichen Sicherungsverwahrung. Mit diesem Gesetzentwurf lösen Sie kein tatsächliches oder vermeintliches Problem, sondern Sie wälzen es auf Richterinnen
und Richter und die forensischen Sachverständigen ab.
Es wird herumgedoktert. Das Mindeste wäre gewesen,
eine Expertenkommission einzurichten, wie die Linke
sie bereits in der letzten Wahlperiode gefordert hat.
Richtiger Opferschutz sieht anders aus, denn erst mit der
Entlassung der Verurteilten beginnt die Arbeit.
Lassen Sie mich mit dem Greifswalder Appell zur
Reform der Sicherungsverwahrung enden. Darin heißt
es:
Auch wenn es nicht leicht ist, muss unsere Gesellschaft zum Schutz unserer verfassungsrechtlichen
Grundwerte mit der kritischen Situation leben, dass
vereinzelt Menschen in die Freiheit entlassen werden, auch wenn sie im Hinblick auf ihre Rückfallgefahr nicht als vollkommen unbedenklich eingestuft werden können.
({11})
Dieser Gesetzentwurf macht dies nicht, dieser Gesetzentwurf weitet das Instrument aus. Sie machen es sich zu
leicht und gefährden leichtfertig ein weiteres Stückchen
Rechtsstaat.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Krings, noch einmal vonseiten der Grünen an Ihre
Adresse, an die Adresse der Koalition, zum Mitschreiben:
({0})
Jawohl, es gibt einige wenige Menschen, die sind aktuell
so gefährlich für ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger,
insbesondere für Frauen und Kinder, dass wir diese Gefahr nicht anders bannen können, als ihnen ihre Freiheit
zu nehmen. Insofern sagen wir Ja zu diesem letzten Mittel des Strafrechts, der Sicherheitsverwahrung. Aber ich
füge hinzu: Es ist bei einigen wenigen Menschen und
nicht bei Hunderten oder gar Tausenden anzuwenden.
({1})
Ich werde auf die Frage der Fehlerhaftigkeit der Prognosen noch zu sprechen kommen.
Wir sagen an dieser Stelle mit Blick auf die Opfer und
die potenziellen Opfer aber auch - Sie selber haben auf
die Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit hingewiesen -: In einem Rechtsstaat gibt es keine absolute Sicherheit.
({2})
Bezüglich der Täter gilt: Auch sie sind Grundrechtsträger. Sie haben Menschen- und Grundrechte, die wir ihnen in einem Rechtsstaat nicht nehmen dürfen.
({3})
Die Koalitionsfraktionen haben einen fast 100-seitigen Gesetzentwurf vorgelegt. Die Koalitionsfraktionen?
Das ist der erste Schwindel. Kein einziges Wort haben
sie selbst geschrieben.
({4})
Alles ist eine Formulierungshilfe des Bundesjustizministeriums.
({5})
Der Vorsitzende des Rechtsausschusses hat es sich verbeten, in Zukunft Formulierungshilfen zu bekommen.
Sie selber haben lediglich einen Stempel auf die Vorlage
gesetzt.
In der Sache scheint hier in einem Punkt - hoffentlich Einigkeit zu herrschen: Die Sicherungsverwahrung ist
der schwerste Eingriff, der in unserem Rechtsstaat in einem strafrechtlichen Verfahren möglich ist. Wegen der
schwierigen Prognoseentscheidungen ist er in einem hohen Maße fehlerbehaftet. Thomas Feltes, einer der bekanntesten und renommiertesten Forscher auf dem Felde
der Sicherungsverwahrung, schreibt dieses Jahr von einer Fehlerquote von 90 Prozent. Das ist eine erschreckende Zahl. Deswegen braucht es gerade auf dem Feld
der Sicherungsverwahrung gesetzliche Vorkehrungen
gegen das Ausufern dieses Rechtsinstituts. Die gesetzlichen Vorgaben zur Begrenzung dieses Instituts sind eine
radikale Begrenzung der Anlasstaten und objektive Anhaltspunkte für die Bestimmung des Hangs und der Gefährlichkeit, die sich aus mindestens zwei Vorstrafen und
aus einer kurzen Rückfallverjährung ergeben müssen.
Dazu hat die Bundesjustizministerin am 12. August dieses Jahres gesagt: Wir werden die Sicherungsverwahrung so zuschneiden, dass wirklich nur Gewaltverbrecher und nur Sexualtäter erfasst werden. Betrüger und
Diebe dürfen nicht mehr in die Sicherungsverwahrung
kommen.
Selbst in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs
schreiben Sie - das steht auf Seite 24 -:
Durch dieses Erfordernis werden insbesondere solche Delikte dem Anwendungsbereich des § 66
StGB entzogen, die sich gegen das Vermögen …
richten und nicht mit der Anwendung von Gewalt
gegen Personen verbunden sind.
Wenn wir uns Ihren Gesetzentwurf anschauen, stellen
wir fest, dass dies ein weiterer großer Schwindel ist.
Nach § 66 Abs. 1 Nr. 1 b StGB ({6}) werden alle Straftaten mit einer Höchststrafe von zehn Jahren einbezogen. Ich nenne Ihnen dazu einmal eine ganze Liste von
Straftaten - Herr Kollege Scholz, schreiben Sie mit; Sie
wollen ja konstruktiv mitarbeiten -: Fälschungen von
Zahlungskarten, Fälschungen von technischen Aufzeichnungen, Fälschungen von Daten, Diebstahl, Hehlerei
und Steuerhehlerei, Betrug, Computerbetrug, Subventionsbetrug, falsche Verdächtigung, Verleitung zu missbräuchlichen Asylantragstellungen, Bestechlichkeit von
Richtern, landesverräterische Agententätigkeit. Das alles
sind Delikte, bei denen Sie zugesagt haben, dass sie in
die Sicherungsverwahrung nicht eingebunden werden.
Meine Liste ist beileibe nicht vollständig. Ich könnte sie
noch um etliche Paragrafen weiterführen.
({7})
Sie legen dem Bundestag hier also einen richtigen
Schwindel vor.
Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung weiten
Sie auf Ersttäter aus. Das ist ein unverzeihlicher Fehler;
schließlich ist klar, dass wir angesichts der unsicheren
Prognose des Hangs zur Begehung von Straftaten ein objektives Element der Begrenzung brauchen. Sie dehnen
die Rückfallverjährungsfrist auf zehn Jahre aus und
sprengen damit zumindest für einen Teilbereich der Anlasstaten eine enge Klammer, die notwendig ist, um einen objektiven Anhaltspunkt für die Gefährlichkeit einer
Person zu haben.
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung schaffen
Sie zwar ab, aber die Kollegin Wawzyniak hat völlig
recht:
({8})
Dadurch, dass Sie nur Straftaten für das neue Recht akzeptieren wollen, die ab dem Zeitpunkt der Verkündung
dieses Gesetzes begangen werden, schaffen Sie in Zukunft auf Jahre, vielleicht auf Jahrzehnte wiederum zwei
Kategorien von Sicherungsverwahrten bzw. von nach
dem Gesetz Behandelten - eine Ungleichbehandlung,
die Ihnen vor die Füße fallen wird.
Die ganze Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung ist eine Beibehaltung, sogar eine Ausweitung
einer schlechten Entwicklung, gegenüber den Reformversprechen der FDP also ein einziger großer Schwindel.
({9})
Nun zum Therapieunterbringungsgesetz. Es war
einmal so, dass die Sicherungsverwahrung ab 1976 auf
zehn Jahre begrenzt war. 24 Jahre hat die Bundesrepublik Deutschland mit diesem Zustand gelebt, ohne dass
der Rechtsstaat aus den Fugen geraten wäre.
({10})
Es war erst dem Vorwahlkampf des Jahres 1998 geschuldet, dass Ihre Vorgängerin, die damalige schwarzgelbe Koalition, die Zehnjahresfrist aus dem Gesetz gestrichen hat. Es gab damals schon warnende Stimmen.
Ich verweise nur auf Herrn Ullenbruch, der bereits 1998
in der Neuen Zeitschrift für Strafrecht geschrieben hat,
dies werde grundrechtlich und menschenrechtlich keinen
Bestand haben. Genauso ist es gekommen. Jetzt - nach
zwölf Jahren - holt Sie, holt uns alle der Fehler ein, den
die damalige Koalition 1998 gemacht hat.
({11})
Dabei hätte man längst in den Ländern und auch im
Bund etwas tun können. Ich verweise nur darauf, dass
bereits 2005 der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe die Freiheitsentziehungsanstalten in der Bundesrepublik Deutschland
untersucht hat. Er hat 2005 geschrieben, in welchem
Ausmaß er den Vollzug der Sicherungsverwahrung für
einen Skandal hält. Er hat geschrieben, die Organe der
Bundesrepublik Deutschland werden aufgerufen, umgehend an eine Reform des Vollzugs zu gehen. Wäre das
passiert, brauchten wir uns jetzt mit der richtigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht zu beschäftigen.
({12})
In der Sache ist es so, dass Sie den neuen Begriff der
psychischen Störung einführen. In der Sache ist es so,
dass Sie bei dieser Therapieunterbringung die Zuständigkeit der Zivilgerichte statt der Strafgerichte festlegen Verfahren nach dem Gesetz über die Angelegenheiten
der freiwilligen Gerichtsbarkeit statt nach der Strafprozessordnung. Die Voraussetzungen sind den Unterbringungsgesetzen der Länder vollständig nachgebildet. Als
Krönung wollen Sie mit diesem neuen Gesetz auch bereits Entlassenen ohne Zeitbegrenzung wieder die Freiheit nehmen, das heißt, Entlassene wollen Sie nach diesem Gesetz auch noch nach Jahren, theoretisch nach
Jahrzehnten erfassen.
({13})
- Aber selbstverständlich, eine zeitliche Begrenzung
gibt es in diesem Gesetz nicht. Deswegen sage ich Ihnen: Sie und wir im Bund sind für eine solche Regelung
überhaupt nicht zuständig.
Herr Kollege!
Denn es handelt sich um eine reine Präventionsmaßnahme, für die die Länder zuständig sind. Die Zuständigkeit dafür haben sie auch ausgeübt ({0})
Herr Kollege Montag, bitte kommen Sie zum Schluss.
- mit den Gesetzen über die Inhaftierung und Freiheitsentziehung von psychisch Kranken und Gestörten.
Dieses Gesetz wird Ihnen recht bald vor die Füße fallen. Es wird keine hohe Halbwertzeit haben. Wir werden
an diesem Gesetz nicht konstruktiv - wie Kollege Olaf
Scholz - mitarbeiten. Wir werden dieses Gesetz auch in
den Ausschüssen kritisieren.
Herr Kollege Montag, bitte!
Wir werden seine Schwächen aufzeigen und nach
Möglichkeit dafür sorgen, dass es nicht ins Bundesgesetzblatt kommt.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon eine interessante Lage, in der wir uns im Augenblick befinden. Wer die Beiträge zu dieser Debatte
sorgfältig verfolgt hat, konnte feststellen, dass sich die
Kollegin der Linkspartei große Sorgen um die Täter
macht.
({0})
Ich habe aber nicht ein einziges Mal auch nur ein einziges Wort über die Opfer der Straftaten gehört; ich habe
sorgfältig darauf geachtet.
({1})
Wir haben auch gehört, dass sich die Grünen nicht
konstruktiv in die Debatte einbringen. Auch Ihnen ist offensichtlich egal, dass in diesem Land brandgefährliche
Täter herumlaufen.
({2})
Deswegen bin ich dem Kollegen Scholz ganz außerordentlich dankbar, dass er deutlich gemacht hat, dass sich
die SPD-Fraktion konstruktiv einbringen wird. Das sind
wir unseren Bürgern auch schuldig. Vielen Dank, dass
Sie das zugesagt haben.
({3})
Welche Verantwortung wir in diesem Bereich tragen,
habe ich ganz persönlich einmal erlebt, als ich nach der
Tat eines solchen Täters die Todesnachricht an die Eltern
des Kindes überbringen musste. Das war ein Erlebnis,
das mich noch heute bewegt. Deswegen habe ich großes
Verständnis dafür, dass sich viele Eltern um ihre Kinder
sorgen und viele junge Mädchen Angst haben, zu Opfern
zu werden. Wir müssen diese Sorgen ernst nehmen.
Wir müssen auf der anderen Seite sehen - auch das
gehört zu einer Betrachtung -, dass wir auch Verantwortung für unseren Rechtsstaat tragen. In den Debatten der
letzten Jahre, die wir aufgrund von Einzelfällen immer
wieder geführt haben, habe ich eines stets erwähnt: die
steigende Zahl der Sicherungsverwahrten. In den letzten
14 Jahren haben wir eine Verdreifachung der Zahl der
Sicherungsverwahrten zu verzeichnen; darunter befinden sich auch Heiratsschwindler.
({4})
Diese Entwicklung kann nicht hingenommen werden.
Sie ruft Unwohlsein hervor.
({5})
Wir alle sind aufgerufen, einen vernünftigen Weg zu
suchen. Dafür ist die Vorlage der Bundesjustizministerin
- ich danke dafür - eine richtige Wegweisung.
({6})
- Nein, nicht eine Irreführung, Herr Kollege Ströbele.
Dass Sie natürlich zu den Kritikern gehören, ist mir völlig klar.
({7})
- Es ist mir völlig klar, warum der Kollege Ströbele zu
den Kritikern gehört: weil er genau die Erfahrung, von
der ich vorhin berichtet habe, eben nicht gemacht hat
und weil er immer wieder gezeigt hat, dass ihn die Täter
interessieren und nicht die Opfer.
({8})
Ich möchte darauf hinweisen, dass wir wegen dieses
Unwohlseins bereits in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen haben, dass wir das Recht der Sicherungsverwahrung reformieren wollen. Wir haben sorgfältig
beraten. Der Vorwurf, dass es sich nicht um einen Entwurf der Koalitionsfraktionen handelt, ist völlig daneben. Frau Voßhoff weiß, wie oft wir zusammengesessen
und verhandelt haben. Deshalb hat es selbstverständlich
einen ganz wesentlichen Beitrag beider Fraktionen gegeben. Im Übrigen hat uns natürlich das Bundesjustizministerium beratend zur Seite gestanden. Das war aber
auch bei allen anderen Koalitionen immer der Fall.
({9})
Ich persönlich bin der Auffassung, dass wir den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht kritisieren sollten.
({10})
Ich hatte mir vielleicht ein anderes Urteil erhofft. Im
Hinblick auf andere Länder legen wir aber immer großen
Wert darauf, dass sie sich an die Europäische Menschenrechtskonvention halten. Deshalb tun wir gut daran, dies auch zu tun.
({11})
Ich glaube, dass wir dies mit diesem Gesetzentwurf in
gelungener Weise getan haben. Ich habe schon darauf
hingewiesen, dass wir insbesondere im Anwendungsbereich Einschränkungen vornehmen werden. In Anbetracht der Kritik an der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung möchte ich an etwas erinnern: Praktiker sagen,
dass eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung dazu beiträgt, die Therapiewilligkeit derjenigen, denen die Sicherungsverwahrung droht, zu erhöhen. Diese Personen
können dann aktiv dazu beitragen, keine Gefahr für die
Allgemeinheit mehr zu sein. Das ist etwas, was auch wir
uns wünschen.
({12})
Wir wollen, dass Täter nicht wieder Straftaten begehen.
Deshalb ist das, wie ich finde, ein gutes und richtiges Instrument.
({13})
Sie haben darauf hingewiesen - das ist meine letzte
Bemerkung, Herr Präsident; ich gucke auf die Uhr -,
dass das die Länder etwas kosten wird.
({14})
Sie scheinen aber nicht sonderlich an der Thematik interessiert zu sein. Deshalb habe ich Ihre Kritik nicht verstanden, dass wir die Länder stärker hätten einbeziehen
müssen. Sie selbst hätten durch Präsenz deutlich machen
können, dass sie einbezogen werden wollen. Wir sollten
es trotzdem tun. Auch das gehört zu einer vernünftigen
Beratung. Wir bieten ihnen an, dass wir zu guten Beratungen kommen. Das sind wir den Bürgern schuldig. Die
Gründe habe ich in meiner Rede genannt.
Vielen Dank.
({15})
Ich habe jetzt zwei Wünsche für Kurzinterventionen,
wobei ich bitten würde, Herr van Essen, dass Sie dann
auf beide eingehen. - Zunächst die Kollegin Halina
Wawzyniak.
Herr van Essen, ich weise ausdrücklich die Unterstellung zurück, dass von meiner Seite aus nichts zum
Opferschutz gesagt worden ist. Ich nehme zur Kenntnis,
dass seit dem gestrigen Tag, als eine gesamte Fraktion,
nämlich die Fraktion der Grünen, in die Nähe der
NSDAP gerückt worden ist,
({0})
ein unerträgliches Klima in diesem Saal herrscht.
({1})
Niemand in diesem Haus vernachlässigt den Opferschutz. Wenn Sie bis zum Schluss zugehört hätten - ich
kann es gerne wiederholen -, hätten Sie gehört, dass ich
ausdrücklich gesagt habe: Opferschutz sieht anders aus.
Opferschutz beginnt mit der Entlassung. Opferschutz beginnt mit den Möglichkeiten von Therapie im Strafvollzug und ambulant.
Lassen Sie mich abschließend hinzufügen: Ich persönlich finde es einer liberalen Gesinnung nicht angemessen, die Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit in dieser Art und Weise zu diffamieren.
({2})
Die zweite Kurzintervention wird von dem Kollegen
Josef Winkler von Bündnis 90/Die Grünen gewünscht. Bitte, Herr Winkler.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr van
Essen, Sie wissen, dass ich Sie menschlich sehr schätze.
Aber ich muss schon sagen, dass ich es nicht für besonders angemessen halte, auf eine Rede, wie sie der Kollege Montag gehalten hat, so, ich sage einmal, derb zu
antworten, wie Sie das getan haben.
Kollege Montag ist sehr ausführlich auch auf die Opferperspektive eingegangen. Das tut meine Fraktion
von jeher. Nichtsdestotrotz: Den Opfern ist nicht geholfen, wenn wir eine Regelung haben - diese Gefahr sehen
wir -, die nicht gerichtsfest ist und die erneut scheitern
wird. Das ist die Hauptproblematik, die wir in Ihrem Gesetzentwurf sehen. Das sollte aus dem, was der Kollege
Montag gesagt hat, eigentlich deutlich geworden sein.
Unabhängig davon bleibt es dabei, dass potenzielle
Täter und Täter, die bereits Opfer hervorgebracht haben,
die grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte behalten und dass es eine sehr schwerwiegende Einschränkung ihrer Bürgerrechte ist.
Ich bitte Sie auch vor dem Hintergrund dessen, was
der Präsident des Bundestages gestern gesagt hat, dass
wir bitte nicht persönlich herabsetzend sein sollten - das
gilt nicht nur gegenüber einzelnen Personen, sondern
auch gegenüber Fraktionen, die diesem Hause angehören - und die Debatte nicht in dieser Schärfe fortsetzen
sollten. Vielmehr sollten Sie akzeptieren, dass wir sagen:
Dieser Gesetzentwurf bietet nicht genug Ansatzpunkte
für uns, um wirklich konstruktiv mitzuarbeiten, damit
wir ein einstimmiges Ergebnis bekommen. Nichtsdestotrotz werden wir uns in den Ausschussberatungen selbstverständlich mit Vorschlägen einbringen, die zu einem
besseren Ergebnis führen, als wir das nach diesem vorgelegten Entwurf befürchten.
Vielen Dank.
({0})
Einen Moment, Herr van Essen. - Herr Ströbele, wie
soll ich Ihre Wortmeldung interpretieren? - Sie möchten
eine Kurzintervention machen. Dann hat der Herr Kollege van Essen allerdings hinterher ausreichend Zeit, um
auf die drei Kurzinterventionen zu reagieren. - Bitte
schön.
Herr Kollege van Essen, ich stelle fest: Sie entwickeln
sich immer mehr zum Oberpolemiker dieses Hauses.
({0})
Das haben Sie gestern gezeigt, und das haben Sie heute
gezeigt. Ich habe Sie einmal sehr geschätzt, weil Sie immer sehr frei reden. Ich finde es gut, wenn man im gegenseitigen Dialog versucht, etwas zu entwickeln. Nur,
Sie belassen es inzwischen bei Polemik.
Sie haben mich und meine anwaltliche Praxis angesprochen;
({1})
Sie kennen sie offenbar ganz genau.
({2})
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass ich mich beispielsweise ein halbes Jahr lang als Nebenklägervertreter vor
dem Oberlandesgericht Schleswig um einen Teil der Opfer des schlimmen Brandanschlags von Mölln gekümmert habe. Ich vermute, dass ich meine berufliche Tätigkeit mindestens genauso häufig auf der Seite der Opfer
ausgeübt habe, wie Sie das möglicherweise als Oberstaatsanwalt getan haben. Ich habe mich aber nicht deshalb gemeldet.
Ich erwarte von Ihnen - Sie müssten juristische Argumente nachvollziehen können -, dass Sie zu den sehr
konkreten Kritikpunkten, die Kollege Montag geäußert
hat, Stellung nehmen. Die FDP und die Justizministerin
haben sich zuerst aus dem Fenster gelehnt und gesagt:
So machen wir das überhaupt nicht. - Dann haben Sie
klare Richtlinien dazu vorgegeben, was in einem Gesetz
zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung
stehen darf und was nicht. Nun hat Kollege Montag mit
Hinweis auf die einzelnen Paragrafen nachgewiesen,
dass die Richtlinien überhaupt nicht eingehalten worden
sind, sondern das Instrument wiederum eine sehr weite
Anwendung finden soll. Dazu sagten Sie nicht ein einziges Wort. Sie hätten sagen können, er habe sich verlesen
oder es stimme in diesem oder jenem Punkt nicht. So etwas kam aber in Ihrer Rede gar nicht vor, sondern nur
Polemik. So geht es nicht.
({3})
Jetzt hat der Kollege van Essen die Möglichkeit, zu
antworten. Theoretisch haben Sie jetzt neun Minuten
Zeit. Wir würden uns aber freuen, wenn Sie sie nicht
ganz ausschöpfen würden. Bitte schön.
Herr Präsident, ich werde selbstverständlich nur einige kurze Bemerkungen machen.
Frau Kollegin Wawzyniak, wer Ihre Rede gehört hat,
der weiß, worauf Sie den Schwerpunkt gelegt haben; er
lag eindeutig nicht bei den Opfern.
({0})
Deshalb bleibe ich bei meinem Vorwurf.
Herr Kollege Winkler, der Kollege Montag weiß - das
habe ich ihm schon persönlich gesagt -, wie sehr ich ihn
schätze. Ich bin froh, dass wir ihn im Rechtsausschuss
haben. Ich schätze auch seine kritischen Bemerkungen.
Ich habe ihm vorhin genau zugehört. Wir sind hier in der
ersten Lesung. Ich muss ganz offen gestehen: Das eine
oder andere müssen wir nachschauen. Insofern ist es akzeptiert, dass von Ihnen Punkte aufgeführt worden sind,
über die es zu diskutieren lohnt.
Herr Kollege Montag, Folgendes hat mich gestört - ich
wiederhole es -: Ich hätte mir, weil wir hier eine ganz
schwierige Aufgabe zu bewältigen haben, von Ihnen gewünscht, dass es von Ihnen ein ähnliches Angebot wie
von der SPD gegeben hätte. Ich glaube, dass wir das unseren Bürgern schuldig sind.
({1})
Herr Kollege Ströbele, wenn Sie tatsächlich beispielsweise die Opfer von Mölln unterstützt haben, dann bin
ich Ihnen dafür außerordentlich dankbar. Das Ereignis
von Mölln war ganz schlimm für unser Land. Ich will
gar nicht in Abrede stellen, dass Sie dort etwas für Opfer
getan haben. Von mir persönlich herzlichen Dank dafür!
Ich habe immer nur gesehen, wie Sie sich verhalten haben, wenn wir hier im Bundestag über etwas diskutiert
haben und Sie zwischen Opferschutz und Täterinteressen zu entscheiden hatten. Da hätte ich mir eine stärkere
Betonung des Opferschutzes gewünscht. In diesem
Punkt habe ich Sie kritisiert; das werde ich auch weiter
tun.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte versuchen, die Diskussion über dieses schwierige Thema ein wenig zu versachlichen. Sie alle wissen,
dass ich bei jeder anderen Gelegenheit, insbesondere in
diesem Haus, gerne die politische Auseinandersetzung
suche; aber ich glaube, dieses Thema eignet sich dafür
überhaupt nicht. Vielmehr muss man bei diesem Thema
sachlich und konstruktiv miteinander arbeiten.
Ich möchte konkretisieren, was der Begriff „konstruktiv“ für die SPD bedeutet; das habe ich auch schon in
meiner Haushaltsrede getan. Eine konstruktive Begleitung bedeutet keinen Persilschein.
({0})
Selbstverständlich werden wir an diesem sehr umfangreichen Gesetz mitarbeiten; wir werden uns einbringen.
Wir werden aber auch Themen benennen, bei denen wir
den Eindruck haben, dass wir uns noch einmal zusammensetzen und vieleicht das eine oder andere verändern
oder ergänzen müssen. Bitte verstehen Sie unsere Ankündigung als Versprechen, konstruktiv mitzuarbeiten
und das Gesetzgebungsvorhaben kritisch zu begleiten.
Aber Sie sind auch nichts anderes von uns gewöhnt.
Jetzt zum Thema. Wir haben die sehr schwierige Aufgabe, unterschiedliche Interessen zusammenzuführen.
Selbstverständlich gibt es den Opferschutz. Selbstverständlich müssen wir die Ängste und Sorgen der Menschen aufgreifen, die Angst vor denjenigen haben, die
die schwersten Straftaten, die man sich überhaupt vorstellen kann, begangen haben. Die Fälle braucht man gar
nicht auszumalen. Wir alle wissen, wer damit gemeint
ist.
Als Gesetzgeber müssen wir aber selbstverständlich
auch die Belange der Straftäter im Blick haben. Es geht
auch um das Grundrecht auf Freiheit und die Menschenwürde derjenigen, die von einer Sicherungsverwahrung,
die an und für sich als Ultima Ratio geplant war, betroffen sein könnten. Auch das ist uns ins Stammbuch geschrieben worden. Diesem Spannungsverhältnis müssen wir mit einem solchen Gesetz gerecht werden. Es
stellt sich die Frage, ob dieser Entwurf dazu geeignet ist.
Ich freue mich, dass der Entwurf jetzt auf dem Tisch
liegt. Ich hätte mir gewünscht, das Ganze früher auf dem
Tisch zu haben; denn dann hätten wir früher mit der Arbeit anfangen können. Aber es ist, wie es ist. Lassen Sie
uns also beginnen.
Die sogenannten Altfälle sind angesprochen worden.
Dabei geht es nicht um diejenigen, die jetzt freigelassen
wurden, sondern um diejenigen, die eine Straftat begangen haben. Im Gesetzentwurf ist, wie ich finde, relativ
lapidar erklärt worden, dass in diesen Fällen die nachträgliche Sicherungsverwahrung weiterhin gelten soll.
Ich finde, wir müssen noch einmal darüber nachdenken,
ob das tatsächlich angebracht ist; denn es geht auch um
Täter, die Straftaten begangen haben, die nicht in dem
eng gefassten Katalog, den sie aufnehmen wollen, aufgeführt sind. Das kann auch auf andere Täter zutreffen. Daher sollten wir uns dieses Thema noch einmal im Detail
vornehmen.
Es geht aber auch um die Gesamtproblematik. In der
Begründung des Gesetzentwurfs steht, wie kritisch die
Bewertung der sogenannten Nova, also die Bewertung
der neuen, unter Umständen erst während der Haft aufgetretenen Tatsachen zu sehen ist. Die Sicherungsverwahrung würden wir für diese Altfälle quasi noch einmal
möglich machen. Ich glaube, wir dürfen nicht lapidar darüber hinweggehen, sondern müssen uns damit beschäftigen.
({1})
Ich will ein weiteres Thema ansprechen, zu dem ich
im Gesetzentwurf nichts gefunden habe. Es geht um die
Frage, wie wir mit der Sicherungsverwahrung für Jugendliche umgehen wollen. Ich finde, dazu sollten wir
Stellung nehmen.
({2})
- Das ist die Frage, die sich stellt. - Ich halte das für keinen geschlossenen Entwurf. Wenn wir den Komplex der
Sicherungsverwahrung überarbeiten wollen, können wir
nicht darauf verzichten, uns mit der Problematik des
Umgangs mit der Sicherungsverwahrung Jugendlicher zu beschäftigen.
({3})
Es muss eine klare Aussage dazu geben. Entweder lassen wir alles, wie es ist, oder im Zuge der Beratungen
muss es eine entsprechende Veränderung, eine Ergänzung geben.
({4})
- Es ist wunderbar, dass ich hier höre, dass wir uns damit
beschäftigen müssen und werden. Dann können wir das
aufnehmen.
Zum Anwendungsbereich der Sicherungsverwahrung
ist einiges gesagt worden. Auch ich halte es für kritisch,
dass die Sicherungsverwahrung generell anwendbar sein
soll, wenn die Tat im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von
mindestens zehn Jahren bedroht ist. Wir hatten eigentlich eine andere Aussage. Es wurde nämlich angekündigt - das hat mir sehr gut gefallen; das habe ich unterstützt -, die Sicherungsverwahrung auf Straftaten gegen
die körperliche Unversehrtheit, das Leben und die sexuelle Selbstbestimmung zu beschränken. Nun ist gesagt
worden, dass auch andere Taten darunterfallen sollen.
Aufgrund des schwerwiegenden Eingriffs, den eine Sicherungsverwahrung darstellt, halte ich das nicht für angemessen. Wenn wir uns schon mit dem Thema beschäftigen, dann sollten wir den Entwurf grundsätzlich
überarbeiten.
({5})
Im Zusammenhang mit den Tätern - über die machen
wir alle uns Gedanken -, die im Nachgang dieses Urteils
entlassen wurden, haben Sie einen Vorschlag unterbreitet, den ich persönlich für sehr problematisch halte. Ich
will nicht so weit gehen wie der Kollege Montag, der
sagt, dass das nicht halten wird. Vor Gericht und auf hoher See kann man sich nie sicher sein, wie die Sache
ausgeht. Ich glaube aber, wir begeben uns auf dünnes
Eis, wenn wir jetzt den Begriff der psychischen Störung aufnehmen. In dem Gesetzentwurf wird er nicht
definiert. Zumindest sehe ich keine eindeutige Definition. Momentan kommt ein Gewalttäter, der psychisch
krank ist, gar nicht ins Gefängnis, sondern gleich in die
Psychiatrie. Bei psychisch kranken und damit unzurechnungsfähigen Tätern greift § 63 StGB, der die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vorsieht, weil der Täter zum Zeitpunkt der Tat
schuldunfähig war. Der § 20 StGB, in dem die Schuldunfähigkeit definiert ist, enthält die Merkmale „krankhafte seelische Störung“, „Schwachsinn“ und „schwere
andere seelische Abartigkeit“. Angesichts der Möglich7450
keit, dass bei der Verurteilung eines Straftäters diese
Merkmale noch nicht vorgelegen haben und sie sich erst
während der Haft zeigen, sollten wir uns allerdings Gedanken über die Ausgestaltung des Strafvollzugs machen. Auch diese Frage müssen wir uns im Rahmen der
Debatte stellen.
Ich habe es schon ausgeführt: Bei vielen Punkten in
diesem Entwurf, über die noch zu sprechen ist - Stichwort: psychische Störung, - befinden wir uns auf sehr
dünnem Eis. Ich würde gerne dabei mithelfen, dies zu
ändern. Dazu ist es aber erforderlich - das sage ich hier
ganz ohne Aufgeregtheit -, dass Sie uns mit einbinden.
Versuchen Sie nicht, dieses Gesetzesvorhaben in einem
Hauruckverfahren durchzuziehen. Nehmen Sie unsere
Kritikpunkte auf, die keineswegs an den Haaren herbeigezogen sind und die auch nicht der politischen Profilierung dienen. Versuchen Sie nicht, zwei Tage nach einer
Anhörung das Gesetzgebungsverfahren abzuschließen.
Dafür eignet sich dieses Gesetz nicht.
({6})
Wenn Sie diese Voraussetzung erfüllen, dann garantieren Olaf Scholz und ich im Namen der AG Recht,
dass wir an diesem Entwurf kritisch-konstruktiv mitarbeiten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Ansgar Heveling von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
gehört zu den essenziellen Grundlagen des freiheitlichen
Rechtsstaats, dass der Entzug der persönlichen Freiheit
nur in sehr engen Grenzen und ausschließlich unter
Wahrung der Verhältnismäßigkeit vorgenommen werden
darf. Den entscheidenden Anknüpfungspunkt in unserem Sanktionssystem des Strafrechts bildet dabei normalerweise die Schuld. Sie ist die Grundlage der Strafzumessung. Somit ist dem Grunde nach auch nur ein
solcher auf Dauer angelegter Freiheitsentzug möglich,
der in einem angemessenen Verhältnis zur Schuld steht.
Damit aber stößt der freiheitliche Rechtsstaat in einigen Fällen an eine Grenze respektive gerät in Kollision
mit einem anderen ihn tragenden Prinzip: Der Staat hat
nämlich ebenso die Freiheit und die körperliche Unversehrtheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen.
Dazu bedarf es nicht nur der notwendigen gesetzlichen
Regelungen. Die Rechtsordnung muss vom Staat durchgesetzt werden und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in den Schutz der Rechtsordnung sichergestellt
werden.
Wenn es also um Straftäter geht, die ihre schuldangemessene Strafe verbüßt haben, bei denen aber erkennbar
die Gefahr besteht, dass sie nach der Freilassung wieder
schwere Straftaten begehen werden, muss der Staat zum
Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger gleichwohl handeln. Eine Orientierung an der Schuld des Täters scheidet an dieser Stelle selbstverständlich aus.
Unser Strafrechtssystem ist daher durch eine Zweispurigkeit gekennzeichnet. Neben den schuldbezogenen
Sanktionen gibt es die Maßregeln der Besserung und Sicherung, zu denen eben auch die Sicherungsverwahrung
gehört. Mit ihrer Hilfe soll der Schutz der Bevölkerung
dadurch gewährleistet werden, dass Straftäter nach Verbüßung ihrer schuldangemessenen Strafe im Falle fortbestehender Gefährlichkeit durch freiheitsentziehende
Maßnahmen an der Begehung neuer schwerer Straftaten
gehindert werden.
So klar und zwangsläufig dieser Handlungsauftrag
auch ist, so schwierig ist es im Detail, ihm adäquat nachzukommen; denn natürlich sind die Anforderungen an
die Freiheitsentziehung auf der Grundlage einer prognostischen Beurteilung der Gefährlichkeit ausgesprochen
hoch. Selbstverständlich bedarf es eines engmaschigen
rechtsstaatlichen Kontroll- und Überprüfungssystems,
um Fehlentwicklungen vorzubeugen. Nur so lässt sich
die Sicherungsverwahrung auch rechtssicher ausgestalten. Mit einem einfachen und saloppen „Deswegen kann
es nur eine Lösung geben: Wegschließen - und zwar für
immer!“, wie wir es seinerzeit von Kanzler Schröder gehört haben, ist es, was die Kontrollsysteme angeht, sicherlich nicht getan. Das ist zu plakativ gewesen. Im
Einzelnen bedarf es da sehr differenzierter Regelungen.
({0})
Die Sicherungsverwahrung hat in den 90er-Jahren zugegebenermaßen deutlich an Bedeutung gewonnen. Seit
dieser Zeit hat es eine ganze Reihe von Änderungen und
Ergänzungen gegeben. Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ist 2002 eingeführt worden, die nachträgliche
Sicherungsverwahrung 2004. Durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten von 1998, das 6. Gesetz
zur Reform des Strafrechts sowie das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung sind an
allen Vorschriften zur Sicherungsverwahrung Änderungen vorgenommen worden. All das hat zugegebenermaßen zu systematischen Unzulänglichkeiten, komplizierten Formulierungen und auch lückenhaften Regelungen
geführt.
Mit dem Koalitionsvertrag hatte sich die christlichliberale Koalition daher bereits darauf verständigt, eine
Harmonisierung der gesetzlichen Anordnungsvoraussetzungen europarechtskonform vorzunehmen und Schutzlücken im geltenden Recht zu schließen. Zu diesem von
der Koalition selbstgesteckten Handlungsziel ist zwischenzeitlich ein durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgelöster
Handlungsdruck getreten. Er hat im Dezember des vergangenen Jahres und im Mai dieses Jahres in einem
Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland entschieden, dass eine Sicherungsverwahrung weder nachträglich angeordnet noch verlängert werden darf, wenn
die gesetzliche Grundlage hierzu erst nach der Tat geschaffen worden ist. Das trifft im Hinblick auf die oben
beschriebenen Änderungen am Recht der Sicherungsverwahrung, die über die Jahre eingeführt worden sind, auf
manche Täter allerdings zu. Auch daraus, dass mittlerweile einige Täter freigelassen werden mussten und nunmehr - Herr Kollege Dr. Krings hat es beispielhaft ausgeführt - rund um die Uhr polizeilich überwacht werden
müssen und dass weitere Entlassungen drohen, hat sich
ein unmittelbarer Handlungsdruck ergeben.
Durch die vorliegenden Gesetzentwürfe der CDU/
CSU und FDP kommt die christlich-liberale Koalition
den Handlungsaufträgen zeitnah nach. Neben einer Konsolidierung der primären Sicherungsverwahrung wird
die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ausgebaut, und
bestehende Schutzlücken werden geschlossen. Schließlich wird mit der Möglichkeit zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung ein neues Instrument im Zusammenhang mit der Führungsaufsicht etabliert.
Durch den Gesetzentwurf der christlich-liberalen
Koalition werden im Einzelnen die folgenden Schutzlücken beseitigt:
Erstens. Die Rückfallverjährung bei Straftaten gegen
die sexuelle Selbstbestimmung wird von fünf auf zehn
Jahre verlängert.
({1})
Damit reagieren wir auf Erkenntnisse kriminologischer
Untersuchungen, die nahelegen, dass insbesondere Sexualstraftäter nicht ganz selten erst nach fünf bis zehn
Jahren in Freiheit rückfällig werden. Statt der bisherigen
generellen Verjährungsregel von fünf Jahren wird daher
die Rückfallverjährung speziell für Sexualstraftäter auf
zehn Jahre verlängert.
Zweitens. Bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung entfällt das Erfordernis der sicheren Feststellung eines Hanges des Täters zu erheblichen Straftaten. An der
Feststellung dieser Voraussetzung ist der Vorbehalt der
Sicherungsverwahrung in der Vergangenheit oftmals gescheitert. Diese Anforderung wird daher künftig aufgegeben.
Drittens. Künftig kann die vorbehaltene Sicherungsverwahrung auch für Ersttäter angeordnet werden.
Hierzu steht im bislang geltenden Recht ausschließlich
die nachträgliche Sicherungsverwahrung zur Verfügung. Da für deren Anordnung jedoch die Feststellung
neuer Tatsachen, sogenannter Nova, erforderlich ist, ist
es in der Vergangenheit wiederholt dazu gekommen,
dass weiterhin hochgefährliche Täter nach dem Verbüßen ihrer Strafe in die Freiheit entlassen werden mussten, weil die Gefährlichkeit bereits zum Zeitpunkt der
Anlassverurteilung und noch am Vollzugsende gegeben
war. Somit lagen keine neuen Tatsachen vor. Für die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung sind
solche Nova nicht erforderlich.
Herr Kollege Heveling, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?
Ich würde gerne in meiner Rede fortfahren. Wir können in den Ausschussberatungen konstruktiv über die
anstehenden Fragen diskutieren.
({0})
Da für die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung Nova nicht erforderlich sind, wird den Gerichten ein einfacher zu handhabendes Instrument zur
Verfügung gestellt, das helfen kann, den Wegfall der
nachträglich verhängten Sicherungsverwahrung auszugleichen.
Mit der Möglichkeit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung im Rahmen der Führungsaufsicht wird
schließlich ein neues Instrument zur Überwachung solcher Gewalt- und Sexualstraftäter eingeführt, bei denen
aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine freiheitsentziehende Maßnahme aus Rechtsgründen ausscheidet.
Keine Frage: Eine solche elektronische Aufenthaltsüberwachung ist aus unserer Sicht kein gleichwertiger
Ersatz für eine sichere Verwahrung, und wir dürfen keinesfalls den Eindruck erwecken, mit diesem Instrument
eine Möglichkeit zur Gewährleistung hundertprozentiger
Sicherheit anzubieten. Da die Rechtslage es bei einigen
Personen indessen nicht zulässt, eine Unterbringung
durchzuführen, ist es immerhin ein Hilfsmittel, um die
dann notwendige Überwachungsarbeit der Polizei zu erleichtern.
Unsere Rechtsordnung dient dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Es ist Aufgabe des Staates, Straftaten
zu verfolgen und zu ahnden. Genauso ist es Aufgabe des
freiheitlichen Rechtsstaates, die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu sichern. Der Staat muss aktiv das Leben und die Unversehrtheit der Bevölkerung schützen.
Der vorliegende Gesetzentwurf dient dazu, dem Staat
die nötigen Instrumente rechtssicher an die Hand zu geben, um diesem Schutzauftrag effektiv und angemessen
nachkommen zu können, natürlich unter Beachtung der
rechtsstaatlichen Anforderungen, die an freiheitsentziehende Maßnahmen zu stellen sind. Auch wenn wir - bedingt durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - unter zusätzlichen
Handlungsdruck gesetzt wurden, ist der Boden für eine
ordnungsgemäße und sachgerechte Beratung des Gesetzentwurfes gegeben. Eine Sachverständigenanhörung ist
bereits terminiert.
({1})
Sicherlich wird über viele Fragen zu diskutieren sein.
Wir sollten zügig, aber in Ruhe, mit der gebotenen Sorgfalt und vor allem konstruktiv beraten.
Ich lade noch einmal diejenigen dazu ein, die bisher
geäußert haben, dass sie dagegen sind bzw. nicht bereit
sind, sich konstruktiv einzubringen. Für einige gibt es
offenbar nur zwei Möglichkeiten: Entweder man bringt
sich gar nicht ein, oder man bringt sich destruktiv ein.
Wir würden uns wünschen, dass wir zu einer konstruktiven Beratung kommen und am Ende dafür sorgen, dass
der Staat seinem Schutzauftrag gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern angemessen und effektiv nachkommen
kann.
Vielen Dank.
({2})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort dem Kollegen Stephan Mayer von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der heute in erster Lesung zu beratende
Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der
Sicherungsverwahrung ist aus meiner Sicht ein gelungener Kompromiss zwischen den Persönlichkeitsrechten
von Strafgefangenen auf der einen Seite - Strafgefangene, auch Sexualstraftäter, verfügen über Grundrechte
und das Anrecht auf eine zweite Chance - und den berechtigten Sicherheitsbedürfnissen der Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland und der Anforderung an uns, sie
vor schwersten und schändlichsten Straftaten zu schützen, auf der anderen Seite. Bei dem einen oder anderen
Gesetz mag man durchaus einkalkulieren, dass man auf
Lücke geht. Bei diesem Gesetz dürfen wir beileibe nicht
auf Lücke gehen. Hier geht es darum, dass wir schändlichste und verwerflichste Straftaten in Deutschland vermeiden müssen.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember letzten Jahres - es ist
schon erwähnt worden - hat uns, gelinde gesagt, vor
große Herausforderungen gestellt. Ich glaube, dass wir
mit diesem Gesetzentwurf unter Beweis gestellt haben,
dass wir diese Herausforderung ernst genommen haben.
Wir nehmen unseren Auftrag ernst, alles dafür zu tun,
dass keine Gefahr mehr von den Personen ausgeht, die in
der Vergangenheit leider unter Beweis gestellt haben,
dass sie nicht in der Lage sind, sich selbst davor zu bewahren, Mitmenschen, vor allem Kinder, Jugendliche
und besonders Mädchen, zu überfallen, zu vergewaltigen
und in einigen Fällen sogar zu ermorden.
Ich möchte der Behauptung, die Sicherungsverwahrung in Deutschland sei exorbitant ausgeufert, entgegentreten. Im Jahr 2009 gab es etwas mehr als 61 000 Strafgefangene in Deutschland. Davon befanden sich 491 Personen in Sicherungsverwahrung. Also gerade einmal
0,8 Prozent derjenigen, die sich in Justizvollzugsanstalten in Deutschland befunden haben, waren Sicherungsverwahrte. Ich denke, man kann beileibe nicht sagen,
dass die Sicherungsverwahrung in den letzten Jahren exorbitant ausgeufert ist.
({0})
Die Hälfte derjenigen, die sich in Sicherungsverwahrung befinden, sind Sexualstraftäter, etwas mehr als ein
Drittel sind Gewaltstraftäter; das war auch in der Vergangenheit schon so. Diesem Personenkreis müssen wir
uns zuvorderst zuwenden.
Herr Kollege Mayer, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Montag?
Selbstverständlich. Immer sehr gerne.
Bitte schön, Herr Montag.
Ich danke, Herr Präsident. - Ich danke auch Ihnen,
Herr Mayer, dass Sie sich meine Frage anhören wollen
und sie hoffentlich beantworten werden. Herr Kollege,
Sie haben soeben darauf hingewiesen, dass der Prozentsatz derjenigen, die sich in Sicherungsverwahrung befinden, im Verhältnis zu denen, die sich in Strafhaft befinden, minimal ist. Das gestehe ich Ihnen zu.
Aber würden Sie mir zustimmen, dass in den letzten
zehn Jahren in Deutschland die Zahl der Sicherungsverwahrten um 140 Prozent zugenommen hat, und zwar von
unter 200 auf 490 Personen? Inzwischen sind es über
500 Personen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die
Kriminalität in den einschlägigen Bereichen dieser ganz
schlimmen Gewaltkriminalität nicht steigt, sondern
sinkt, dass die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik
Deutschland nicht zunimmt, sondern abnimmt und dass
die Aufklärungsquoten steigen. Wenn man diese Zahlen
zur Kenntnis nimmt, müssen wir also eigentlich feststellen: Wir haben einen exorbitant hohen Zuwachs bei der
Zahl der Sicherungsverwahrten.
Lieber Herr Kollege Montag, ich nehme zur Kenntnis, dass die absolute Zahl derjenigen, die in Sicherungsverwahrung sind, mit Sicherheit in den letzten Jahren gestiegen ist. Das bestreite ich gar nicht. Aber relativ
gesehen ist - deswegen war es mir wichtig, die absoluten
Zahlen zu nennen - dieser Anteil im Verhältnis zu denjenigen, die insgesamt in Deutschland in Strafhaft sind,
minimal.
Lieber Herr Kollege Montag, wir können uns schön
über Prozentzahlen und über den Anstieg von 200 auf
500 Personen unterhalten. Die Bevölkerung - davon bin
ich fest überzeugt - interessiert dies herzlich wenig. Wir
haben die Aufgabe, alles dafür zu tun, dass von denjenigen Sexualstraftätern, die gefährdet sind, wieder rückfällig zu werden, in Zukunft keine Gefahr mehr ausgeht.
Eine Mutter oder einen Vater, die oder der betroffen ist
- lieber Herr Kollege Montag, ich habe einen derartigen
Fall bei mir im Wahlkreis -, interessiert es herzlich
wenig, wenn Sie sagen, im Mittel sei die Kriminalität in
Stephan Mayer ({0})
Deutschland zurückgegangen, auch bei den einschlägigen Delikten, und es könne doch nicht sein, dass es
200 oder 300 Sicherungsverwahrte mehr in Deutschland
gebe.
({1})
Das ist lapidar. Diesen Vorwurf muss ich Ihnen machen.
Lieber Herr Kollege Montag, gehen Sie bitte nicht so lapidar mit den berechtigten Sicherheitsbedürfnissen der
Bevölkerung in Deutschland um.
Ich möchte einen Fall aus meinem Wahlkreis hier erwähnen. Ein 16-jähriges Mädchen ist von einem einschlägig vorbestraften Täter angegriffen worden.
({2})
- Das gehört schon noch zu Ihrer Frage, lieber Herr Kollege Montag. Ich bitte darum, diesen konkreten Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen. - Ein 16-jähriges Mädchen
ist mit 27 Messerstichen traktiert und mit Benzin übergossen worden. Der Täter hat versucht, das Mädchen zu
vergewaltigen. Es ist wirklich glücklichen, meines Erachtens höheren Umständen zu verdanken, dass das
Mädchen überlebt hat und mittlerweile wieder auf dem
Weg der Besserung ist.
Ich möchte Sie bitten, mit den Eltern des Mädchens
ein Gespräch zu führen und den Eltern zu erzählen, die
Sicherungsverwahrung habe in Deutschland exorbitant
zugenommen, was bei einem parallel dazu verlaufenden
Rückgang der Kriminalität in Deutschland doch nicht
hinnehmbar sei. So einfach, lieber Herr Kollege Montag,
dürfen wir es uns beileibe nicht machen.
({3})
Der heute in erster Lesung zu beratende Gesetzentwurf ist eine gute Grundlage. Mit Sicherheit - auch das
sage ich ganz offen, Frau Kollegin Lambrecht - werden
wir jeglicher konstruktiven Kritik offen gegenüberstehen. Das ist selbstverständlich. Das ist ein Hauptcharakteristikum der christlich-liberalen Koalition. Ich sage
aber auch ganz offen: Wir werden nicht nur kritisch hinterfragen müssen, was an dem vorliegenden Gesetzentwurf vielleicht noch zu liberalisieren ist, sondern wir
müssen den einen oder anderen Aspekt auch dahin gehend kritisch hinterfragen, ob wir nicht hinter den Erfordernissen zurückgeblieben sind. Auch das sage ich ganz
ehrlich.
({4})
Ich denke zum Beispiel an den Bereich der Rückfallverjährung. Die Rückfallverjährung ist zwar jetzt im
Gesetzentwurf von 5 Jahren auf 10 Jahre erhöht worden,
aber Sie wissen aus der Praxis - das ist vom Kollegen
Heveling schon erwähnt worden -, dass die zu kurze
Rückfallverjährung von bislang 5 Jahren häufig ein
Grund dafür war, dass die Sicherungsverwahrung nicht
angeordnet werden konnte. Ich sage ganz offen: Man
muss sich mit Sicherheit Gedanken machen, ob man die
Rückfallverjährung nicht von 10 Jahren auf 15 oder vielleicht sogar auf 20 Jahre erhöht.
Ein weiterer Punkt, der sehr positiv anzumerken ist,
ist, dass jetzt der Zeitraum zwischen der Anlassverurteilung und der letzten Möglichkeit zur Anordnung der Sicherungsverwahrung deutlich verlängert werden soll.
Damit entsteht für die Staatsanwaltschaften und für die
Vollstreckungsgerichte wesentlich mehr Flexibilität. Das
heißt, die Sicherungsverwahrung kann bis zur vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe angeordnet werden. Bislang war es so, dass dies nur bis sechs Monate
vor Vollzug der Zweidrittelstrafe möglich war. Dies war
ein Hemmnis für die Vollstreckungsgerichte. Insoweit ist
das, glaube ich, eine sehr gute Neuerung.
({5})
Ein weiterer sehr wesentlicher Aspekt des vorliegenden Gesetzentwurfes - auch dieser hat mit dem Fall in
Töging in meinem Wahlkreis zu tun - ist, dass die Sicherungsverwahrung in Zukunft auch angeordnet werden
kann, wenn im Anschluss an den Aufenthalt in einem
psychiatrischen Krankenhaus noch eine Restfreiheitsstrafe zu vollstrecken ist. Der konkrete Fall, den ich erwähnt habe, war so gelagert, dass der Täter nicht in Sicherungsverwahrung genommen werden konnte, weil er
genau unter den gerade beschriebenen Sachverhalt fiel.
Da dieser bislang nämlich noch nicht geregelt war,
konnte der BGH deshalb leider nicht anders handeln, als
die Sicherungsverwahrung, die von der Staatsanwaltschaft beantragt war, abzulehnen. Diese Regelung des
vorliegenden Gesetzentwurfes ist also, wie man sieht,
eine für die Praxis sehr relevante Neuerung.
Erfreulich ist ebenfalls, dass die vorbehaltene Sicherungsverwahrung auf den Kreis der Ersttäter erweitert
wird. Außerdem wird auf die Regelung, dass ein Hang
des Betroffenen zur Begehung weiterer Straftaten vorliegen muss, verzichtet. Der Umstand, dass ein Hang zur
Begehung einer weiteren Straftat nicht mit Sicherheit
nachgewiesen werden konnte, war in der Vergangenheit
häufig der Grund, warum keine Sicherungsverwahrung
angeordnet werden konnte.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte
nicht verhehlen, dass der Verzicht auf das Instrument
der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Neufälle meines Erachtens bedauerlich ist, nehme aber zur
Kenntnis - das sage ich ganz offen -, dass dieses Instrument in der Vergangenheit nur in sehr wenigen Fällen
Anwendung gefunden hat; die Fallzahl in ganz Deutschland war einstellig. Vor diesem Hintergrund kann man
auf das Instrument der nachträglichen Sicherungsverwahrung vielleicht verzichten. Ich persönlich hätte zwar
gerne gesehen, dass es Bestandteil des Instrumentenkastens bleibt, damit im Fall der Not, wenn sich erst während des Strafvollzugs herausstellt, dass von einer Person größte Gefahr ausgeht, doch noch die nachträgliche
Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann. Aber
des Kompromisses wegen haben wir uns bereit erklärt,
auf das Instrument der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Neufälle zu verzichten.
Stephan Mayer ({6})
Ich bin sehr froh, dass es mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch
gestörter Gewalttäter gelungen ist, den Umgang mit den
sogenannten Altfällen europarechtskonform und verfassungskonform zu regeln.
({7})
Um es ganz klar zu sagen: Ziel der Unterbringung muss
immer sein, die Personen so zu therapieren, dass sie irgendwann entlassen und in das Rechtsleben eingegliedert werden können. Man muss deswegen stets den Ansatz verfolgen, die Unterbringung so kurz wie möglich
zu halten.
Ich bin auch froh - das ist ein ganz wesentlicher
Punkt, gerade mit Blick auf die innere Sicherheit -, dass
in die Regelungen des vorliegenden Gesetzentwurfes
auch die Personen einbezogen werden können, die schon
entlassen worden sind. Kollege Dr. Krings hat darauf
hingewiesen: Einige sind schon wieder auf freiem Fuß.
Dadurch werden teilweise Hunderte von Polizeibeamten
gebunden. Es sind nämlich ungefähr 20 Polizeibeamte
erforderlich, um einen Entlassenen rund um die Uhr zu
bewachen; dadurch entstehen Kosten, die in die Hunderttausende gehen. Mit dem Gesetz zur Therapierung
und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter wird
auch dieser Personenkreis erfasst. Ich glaube, dies ist
insbesondere im Hinblick auf die Sicherheitsbedürfnisse
ein ganz wichtiger Aspekt.
Ich möchte nicht verhehlen, dass es aus meiner Sicht
durchaus überlegenswert ist, den Personenkreis, der unter dem Gesetz zur Therapierung und Unterbringung
psychisch gestörter Gewalttäter zu subsumieren ist, zu
erweitern. Aktuell umfasst er Personen, die psychisch
krank sind.
({8})
Ich möchte anregen, intensiv darüber nachzudenken, ob
es nicht notwendig ist, auch Personen einzubeziehen,
von denen konkret und mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Begehung einer potenziell schweren Straftat ausgeht. Dieses Recht müssen wir uns auf jeden Fall nehmen.
Lieber Herr Kollege Scholz, ich hoffe, dass Sie nicht
nur bereit sind, über eine Vereinfachung oder Liberalisierung dieses Gesetzentwurfes konstruktiv und kritisch
mit uns zu diskutieren, sondern auch dann, wenn es darum geht, die eine oder andere vielleicht noch vorhandene Lücke zu schließen.
Unter dem Strich kann man sagen: Der vorliegende
Gesetzentwurf stellt einen ausgewogenen Kompromiss
dar, der eine gute Diskussionsgrundlage für den weiteren
Fortgang der Verhandlungen in diesem Hohen Hause
sein wird. In diesem Sinne glaube ich, dass wir auf den
Gesetzentwurf, der heute vorgelegt wurde, stolz sein
können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Nun möchte uns der Kollege Montag noch mit einer
abschließenden Kurzintervention erfreuen. Ich gebe ihm
dazu das Wort.
Ich danke Ihnen, Herr Präsident. - Herr Kollege
Mayer, Sie haben in der Beantwortung meiner Frage
auch zu Dingen Stellung genommen, nach denen ich
nicht gefragt habe; das ist aber in Ordnung.
Ich will Ihnen sagen, dass ich den Ernst akzeptiere,
mit dem Sie über den schrecklichen Fall in Ihrem Wahlkreis, den ich kenne, berichtet haben. Ich verzichte hier
an dieser Stelle darauf, ebenfalls über in meinem Wahlkreis vorgekommene schreckliche Vorfälle zu berichten,
({0})
bitte Sie nur herzlich, Folgendes zur Kenntnis zu nehmen und in der weiteren Debatte zu beherzigen: Zwischen uns gibt es keine Differenz, wenn es darum geht,
opferempathisch, den Opfern zugewandt, Rechtspolitik
zu betreiben.
Sie waren derjenige, der in seiner Rede die Zahlen angesprochen hat.
({1})
Sie waren derjenige, der in seiner Rede erklärt hat, die
Zahl der Sicherungsverwahrten sei verschwindend
gering. Deswegen habe ich mir erlaubt, Sie darauf hinzuweisen, dass 500 Sicherungsverwahrte gegenüber
60 000 Strafgefangenen natürlich wenige sind. 500 Sicherungsverwahrte sind gegenüber der Bevölkerungszahl von 80 Millionen sogar verschwindend wenige,
aber wir müssen uns die Tendenz im Rechtsinstitut der
Sicherungsverwahrung anschauen. Dabei stellen wir
eine eklatante Ausweitung fest, ohne dass es entsprechende Begleitindikatoren dafür gibt, wie eine zunehmende Kriminalität oder irgendetwas anderes, durch die
das begründet würde. Bei gleichbleibenden äußeren Bedingungen und leicht sinkender Schwerstkriminalität
steigt die Zahl der Sicherungsverwahrten exorbitant an.
Das muss uns als Rechtspolitiker berühren und befassen.
Bei aller Berechtigung der Sicht auf die Opfer und auf
den Schrecken der Verbrechen, die begangen werden:
Wir können Rechtspolitik hier im Hohen Hause nicht
ausschließlich aus diesem Blickwinkel heraus betreiben.
({2})
Herr Kollege Mayer, zur Erwiderung, bitte.
Lieber Herr Kollege Montag, wir kennen uns seit geraumer Zeit und Sie wissen, dass ich Ihnen in keiner
Weise Ernsthaftigkeit und Seriosität abspreche, wenn es
um eine Debatte über derart schwierige Themen und vor
allem auch über derart gravierende und schwerwiegende
Schicksale geht. Ich habe die Zahlen nur deshalb geStephan Mayer ({0})
nannt, um einmal zu verdeutlichen, dass wir nicht, wie
häufig leider behauptet wird, Hunderte - manche behaupten sogar: Tausende ({1})
Sicherungsverwahrte hier in Deutschland haben.
Wir müssen aber auch die Praxis mitberücksichtigen.
Sie haben natürlich recht: Wir können uns bei unserer
Gesetzgebung und unseren Diskussionen nicht nur von
den praktischen Fällen und den Befindlichkeiten in der
Bevölkerung leiten lassen. Ich bitte aber schon, auch zu
sehen, dass all das, was wir hier diskutieren und am
Ende auch verabschieden, zunächst einmal zwar abstrakt
ist, in der Lebenswirklichkeit draußen dann aber sehr
schnell konkret wird. Deswegen bitte ich darum - ich
weiß, dass Sie hier auch die notwendige Sensibilität an
den Tag legen -, dass wir auch diese praktischen Fälle
- ich habe mir erlaubt, nur einen ganz unaufgeregt und,
wie ich denke, sachlich darzustellen - in unsere Verhandlungen mit einbeziehen. Das war mein Ansinnen.
Ich weiß - hierüber haben wir uns in der Haushaltsdebatte ja auch schon einmal ausgetauscht -, dass es richtig
ist, die Anzahl der Deliktarten zu reduzieren, für die eine
Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann. Ich
habe dies auch kurz erwähnt. Mir geht es in erster Linie
wirklich um die Sexualstraftäter und um die Gewalttäter.
Ich möchte niemanden - das ist heute auch schon erwähnt worden - wegen Heiratsschwindels, Betrugs oder
Diebstahls in Sicherungsverwahrung sehen. Hier haben
Sie uns mit Sicherheit auf Ihrer Seite.
({2})
Insoweit haben wir wirklich eine gute Gesprächsgrundlage für die weiteren Debatten, und ich denke, in
diesem konstruktiven Zusammensein werden wir dies
weiter voranbringen.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3403 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? - Das scheint nicht der Fall zu sein.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Edgar Franke, Bärbel Bas, Petra Ernstberger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Patientenschutz statt Lobbyismus - Keine
Vorkasse in der gesetzlichen Krankenversicherung
- Drucksache 17/3427 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von der SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Thema
Kostenerstattung. Das haben wir in der Öffentlichkeit ja
„Vorkasse“ genannt. Ich werde gleich in meinem Vortrag
begründen, weshalb das angemessen ist, auch wenn das
dem Minister nicht gefällt, weil er es lieber etwas anders
benannt hätte.
Es handelt sich um einen weiteren Vorschlag, den
Minister Rösler bzw. die Union und die FDP hier vortragen, wie man den gesetzlich Versicherten das Geld aus
der Tasche ziehen kann. Das ist das Thema, über das wir
heute sprechen.
({0})
Es geht darum: Der Patient hat demnächst vermeintlich die Wahlmöglichkeit, die Leistung beim Arzt im
Prinzip privat in Auftrag zu geben. Er unterschreibt dafür einen Behandlungsvertrag und bekommt dann später
einen Teil dieser Leistungen von der gesetzlichen Krankenkasse erstattet. Einen Teil muss er selbst bezahlen, er
muss auch eine Verwaltungsgebühr bezahlen, und er
muss solche Leistungen bezahlen, die er sonst niemals in
Anspruch genommen hätte. Ich fasse einmal zusammen,
wie das System funktioniert. Sie gehen zum Arzt, der
Arzt macht mit Ihnen einen Vertrag. Dann wird die Leistung erbracht. Die Leistung wird von Ihnen teurer bezahlt, als wenn Sie in der gesetzlichen Kasse wären. Sie
zahlen nämlich einen Verwaltungsaufschlag und müssen
einen Teil der Kosten selbst tragen. Den anderen Teil der
Kosten müssen Sie sich selbst bei der Kasse besorgen.
Der Vorschlag beinhaltet sozusagen netto eine Mehrbelastung für den Versicherten, und es ist sehr bürokratisch.
In der Anhörung haben wir gehört, dass zum Beispiel
die AOK schätzt, dass man im Durchschnitt auf
50 Prozent der Kosten sitzen bleibt. Das bedeutet, dass
Sie zum Beispiel bei einer Herzkatheteruntersuchung auf
600 oder 700 Euro sitzen bleiben. Wenn Sie die Einspritzung eines Medikaments in die Augen vornehmen lassen, um die Gefäße dort nicht wachsen zu lassen - viele
Patienten kennen das, Lucentis usw. -, dann müssen Sie
selbst 300 Euro bezahlen. Sie kriegen nur Teilbeträge
erstattet. Darauf läuft es hier hinaus.
({1})
Jetzt ist die Frage, weshalb ein solches Vorgehen
überhaupt vorgeschlagen wird. Wer verlangt nach einem
solchen Vorschlag? Wer will einen solchen Vorschlag?
Es ist ganz einfach: Minister Rösler und die FDP versu7456
chen damit auf Kosten des Bürgers, ihr ramponiertes
Image bei den Ärzten wieder aufzupolieren.
({2})
Das ist es, worum es hier geht: Abkassieren, um sich bei
den Ärzten - insbesondere bei den Fachärzten, die ja für
Sie eingetreten sind, Frau Flach, und von denen man
jetzt bei jeder Veranstaltung hört, dass sie niemals mehr
die FDP so unterstützen würden - wieder anzudienen.
Somit geben Sie hier - ich sage es mal so - etwas zurück.
Aber was bedeutet das? Worauf wird das hinauslaufen? Na ja, wir sind am Vorabend der Einführung der
Dreiklassenmedizin. Demnächst wird Patient erster
Klasse der sein, der privat versichert ist. Dann kommt
der Patient zweiter Klasse, der in der Lage ist, in Vorkasse zu treten.
({3})
Und dann kommt die Holzklasse. Das ist derjenige, der
nicht in Vorkasse treten kann oder will. Das ist das, worauf es hinausläuft: Dreiklassenmedizin - privat, gesetzlich mit Vorkasse und Holzklasse.
Sie werden dann einen Termin bekommen können,
wenn Sie ankündigen, dass Sie privat versichert sind. Sie
können einen Termin in Anspruch nehmen, wenn Sie ankündigen, dass Sie bereit sind, in Vorkasse zu treten. Ansonsten sind Sie Bittsteller beim Arzt. Ein solches System wird von uns, auch von der Bevölkerung,
kategorisch abgelehnt. Sie machen hier Politik gegen die
Bevölkerung für eine kleine Gruppe von skrupellosen
Ärzten,
({4})
die nur bereit sind, Termine zu vergeben, wenn per Vorkasse bezahlt werden kann. Das ist es, worum es Ihnen
geht, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({5})
Der Minister argumentiert dagegen und sagt - das
habe ich auch schon vom Kollegen Spahn gehört -: Das
ist eine freiwillige Angelegenheit, das muss man ja nicht
machen, dazu ist man ja nicht gezwungen.
({6})
Aber verdummen Sie uns doch hier bitte nicht. Was bedeutet das denn? Wenn beispielsweise - das ist auch für
Sie wichtig, Herr Lanfermann - die drei Augenärzte einer Kleinstadt vereinbaren, dass sie nur gegen Vorkasse
behandeln, wenn Sie sich entsprechend verhalten, dann
wird es in dieser Kleinstadt augenärztliche Leistungen
nur gegen Vorkasse geben.
({7})
Das bedeutet, dass Sie dann wie gesetzlich Versicherte
behandelt werden, aber privat bezahlen. Darauf läuft dieses System hinaus.
({8})
Was wollen Sie denn dagegen unternehmen, wenn ein
Arzt einem Patienten vorschlägt, ihm bevorzugt einen
Termin zu geben, wenn er bereit ist, Vorkasse zu leisten?
Dagegen können Sie nichts unternehmen, wenn es sich
beispielsweise um den einzigen Orthopäden in der Stadt
handelt.
({9})
- In den Facharztforen ist doch schon zu lesen: Bei mir
ab jetzt nur Termin gegen Vorkasse. - Verdummen Sie
uns doch nicht. Stehen Sie zu dem, was Sie machen: Sie
wollen den Ärzten ein Geschenk machen und beim Bürger abkassieren. Etwas anderes zu behaupten, wäre eine
Verdummungspolitik, die eines solchen Plenums nicht
würdig ist.
({10})
Ich komme zum Schluss.
({11})
In der Summe ist nichts gegen eine Kostenerstattung einzuwenden, bei der der Arzt die Rechnung direkt an die
Kasse schickt, somit also die Kasse direkt die Leistung
des Arztes bezahlt. Aber dass der Versicherte ausgenommen wird, zum Beispiel ein Patient mit niedriger Rente
in Vorleistung treten und sein letztes Geld zur Verfügung
stellen muss, um die medikamentöse oder schmerzlindernde Behandlung zu bekommen, ist in meinen Augen
unchristlich. Das sage ich in Richtung der Union. Das ist
eine unchristliche, widerliche Abzocke beim Patienten.
Das werden Sie nicht ungestraft umsetzen können.
Erinnern Sie sich an meine Worte! Es wird dazu führen, dass Vorkasse eine große Rolle spielen wird, weil
ansonsten die Menschen keine Termine mehr bekommen
werden. Dann werden wir Ross und Reiter nennen
({12})
und darauf hinweisen, dass das die Geschenke von FDP
und Union an eine kleine Gruppe von Ärzten waren. Darum geht es hier. Sie sind aber nicht einmal Manns genug, zu dem Vorschlag zu stehen.
({13})
Das Wort hat der Kollege Erwin Josef Rüddel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Herr Lauterbach, Sie wissen genau, dass die
Welt eine andere ist. Sie und Ihre Fraktion versuchen,
die gesetzlich Versicherten in Angst und Schrecken zu
versetzen.
({0})
Das wird Ihnen aber nicht gelingen.
({1})
Auch der durchschaubare Versuch, jeden Halbsatz des
Ministers dazu zu nutzen, unter den Versicherten Verunsicherung zu verbreiten, wird Ihnen nicht gelingen.
({2})
Ihr vorliegender Antrag ist ein weiterer Beweis dafür,
dass Sie auf dem falschen Weg sind. Die Wahrheit ist:
Wir haben das solidarische Gesundheitssystem mit einem Reformpaket vor dem Kollaps bewahrt.
({3})
Wir sorgen dafür, dass unser Gesundheitssystem funktionsfähig bleibt, und wir stellen sicher, dass das 2011
drohende Defizit in Höhe von 11 Milliarden Euro ausgeglichen wird. Die christlich-liberale Koalition hat getan,
was nötig war.
({4})
Wir stabilisieren die Einnahmen, begrenzen die Ausgaben, stellen die Finanzierung auf eine solide Grundlage,
schaffen die Voraussetzungen für mehr Wettbewerb und
sorgen für einen gerechten Sozialausgleich.
({5})
Der Erfolg unserer Bemühungen zeigt sich daran,
dass die gesetzlichen Krankenkassen im kommenden
Jahr keine Zusatzbeiträge erheben müssen. Das ist eindeutig ein Verdienst unseres Reformpakets.
({6})
Damit sind auch all jene widerlegt, die in den vergangenen Wochen und Monaten die Gesundheitsreform der
Koalition teilweise maßlos kritisiert und damit die Bürgerinnen und Bürger unnötig in Angst versetzt haben.
({7})
Von der SPD habe ich bisher keinen einzigen konstruktiven Vorschlag gehört, weder zur Deckung des im
kommenden Jahr ansonsten drohenden Milliardendefizits noch zur langfristigen Stabilisierung der finanziellen
Grundlagen unseres Gesundheitssystems.
({8})
Sie kritisieren nur und wollen den Menschen einreden,
die Gesundheitspolitik könne eine Art Wünsch-dir-wasProgramm sein, bei dem den einen ständig neue Wohltaten versprochen werden und die anderen stets zahlen.
Ein besonders krasses Beispiel für die Kapriolen, die
Sie dabei schlagen, ist die Deckelung des Arbeitgeberbeitrages bei 7,3 Prozent.
Herr Kollege Rüddel, darf ich Sie kurz unterbrechen?
Frau Kollegin Vogler würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gern.
Bitte schön.
Danke, Herr Präsident! - Herr Kollege, vielen Dank,
dass Sie eine Zwischenfrage zulassen. Mir wird nicht
klar, worüber Sie eigentlich reden.
({0})
Wenn wir, voraussichtlich in der nächsten Sitzungswoche, über den Entwurf eines GKV-Finanzierungsgesetzes diskutieren werden, können Sie Ihre Lobrede auf das
Gesetzespaket halten. Aber mir wird überhaupt nicht
klar, wie Vorkasse - über genau diesen Punkt diskutieren
wir heute - zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung beitragen soll; denn weder hat die gesetzliche Krankenversicherung dadurch einen einzigen Euro
Mehreinnahmen oder um einen einzigen Euro geringere
Ausgaben, noch haben die Versicherten irgendetwas davon. Die Leistungen, die die Ärzte erbringen, müssen
nämlich im Prinzip die gleichen sein, nur dass die Versicherten dann mehr dafür zahlen müssen, und das auch
noch aus der privaten Tasche.
({1})
Meine Fragen lauten: Wie soll eine Rentnerin mit einer Monatsrente in Höhe von 600 oder 800 Euro in Vorkasse treten?
({2})
Was soll die Lidl-Verkäuferin dazu bewegen, einen Vertrag mit ihrer gesetzlichen Krankenversicherung über
Vorkasse abzuschließen, wenn sie doch meistens schon
am 20. eines Monats kein Geld mehr hat?
Liebe Frau Kollegin, wir sichern derzeit die Basis dafür, dass unser Gesundheitssystem stabil bleibt. Wir
müssen alte Denkmuster überwinden. Wir schaffen jetzt
die Basis für strukturelle Veränderungen, um unser System in Zukunft noch transparenter und besser zu machen. Die Kostenerstattung ist nur eine Möglichkeit und
keine Pflicht.
({0})
Ich werde Ihnen in meinen weiteren Ausführungen belegen, dass das dem einzelnen Patienten mehr Entscheidungsfreiheit gibt und ihn nicht drangsaliert.
({1})
Ich komme zur Deckelung des Arbeitgeberbeitrags
bei 7,3 Prozent zurück: Diese Maßnahme wurde erstmals von der rot-grünen Regierung eingeführt und ist absolut sinnvoll. Sie leugnen aber mittlerweile die Urheberschaft.
Meine Damen und Herren, mir ist besonders wichtig,
dass unser Gesundheitssystem sozial bleibt und transparenter wird. Mit unserem Reformpaket gibt es keine
Leistungseinschränkungen für Patienten. Alle Bürgerinnen und Bürger erhalten weiterhin die beste medizinische Behandlung und haben am medizinischen Fortschritt teil, und - auch das ist wichtig - alle Akteure im
Gesundheitswesen müssen ihren Beitrag leisten.
Wenn Sie uns entgegenhalten, dass von allen Seiten
Kritik an unserem Reformpaket geübt wird, dann kann
ich Ihnen nur antworten: Wenn Lobbyisten jeder Couleur, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften, Krankenhäuser, Apotheken, Krankenkassen und Pharmaindustrie, Ärzte- und Versichertenvertreter einträchtig ihre
Unzufriedenheit kundtun, dann spricht das eigentlich nur
für die Ausgewogenheit dieser Reform und für die gerechte Verteilung der Lasten.
({2})
Jeder weiß, dass die Menschen immer älter werden
und dass der medizinische Fortschritt zusätzliche Kosten
mit sich bringt.
({3})
Eine alternde Gesellschaft, die zugleich medizinischen
Fortschritt und eine flächendeckende Versorgung will,
muss wissen, dass die Gesundheitskosten auf Dauer
nicht billiger werden können.
({4})
Deshalb müssen wir, wenn wir weiter in die Zukunft
schauen, künftig noch mehr tun. Wir verbinden mit unserer Reform nicht den Anspruch, ein Jahrhundertwerk
vorgelegt zu haben. Wir haben vielmehr das umgesetzt,
was sachlich geboten, was finanziell unabweisbar notwendig und deshalb politisch richtig und vernünftig war.
Um unser Gesundheitswesen langfristig auf eine solide
finanzielle Grundlage zu stellen, werden wir noch in dieser Legislaturperiode weitere Schritte unternehmen und
den Umbau von teilweise völlig verkrusteten Strukturen
in Angriff nehmen. Es sind also neue Ideen gefragt. Alte
Denkmuster müssen überwunden werden, um unser Gesundheitssystem zukunftsfest zu machen.
({5})
Und dann kommen Sie mit diesem Antrag! Schon die
Wortwahl beweist, dass es Ihnen nicht um eine konstruktive, auch nicht um eine sachliche Debatte geht, sondern
um Panikmache und Denkverbote.
({6})
Zuerst zu der Panikmache: Tatsache ist, dass auch
künftig kein einziger Kassenpatient gezwungen sein
wird, seine Behandlungskosten selbst zu zahlen und sich
anschließend um deren Erstattung bei der jeweiligen
Krankenkasse zu kümmern.
({7})
Wer das den gesetzlich krankenversicherten Menschen
zu suggerieren versucht, verbreitet schlicht und einfach
die Unwahrheit.
({8})
Dann zu den Denkverboten: Der Bundesgesundheitsminister hat von Überlegungen gesprochen, Kassenpatienten künftig eine Wahlmöglichkeit einzuräumen, die Behandlungskosten selbst zu begleichen und
den Betrag von der Kasse erstattet zu bekommen. Er hat
davon gesprochen, dass mehr Transparenz ins System
kommen muss, dass die Versicherten schwarz auf weiß
sehen sollen, welche Leistungen ihr Arzt abgerechnet
hat. Er hat von Kostenbewusstsein gesprochen und davon, dass es versehentliche und absichtliche Falschberechnungen zu vermeiden gilt. Weiter hat der Minister
von Wahltarifen gesprochen, die sowohl für die Patienten als auch für die Kassen attraktiv sein können, indem
sie das System insgesamt flexibler machen und den
Wettbewerb unter den Kassen zum Nutzen der Versicherten fördern. Und schließlich hat der Minister angeregt, in kleinen Schritten Elemente aus der privaten Versicherung im System der gesetzlichen Kassen
auszuprobieren
({9})
und umgekehrt. Ich weiß wirklich nicht, was Sie gegen
diese Überlegungen haben.
Ich bin zum Beispiel dafür, möglichst bald mit der generellen Einführung von Arztquittungen zu beginnen.
({10})
Dabei geht es nicht um eine Rechnung mit Kostenerstattung, sondern um einen Beleg, der den Versicherten über
seine Behandlungskosten informiert. Das wäre eine gute
Sache.
({11})
Denn nur informierte Patienten sind mündige Patienten,
und nur mündige Patienten können den Anbietern von
Gesundheitsleistungen auf gleicher Augenhöhe begegnen.
({12})
Das deckt sich übrigens mit entsprechenden Forderungen der Verbraucherzentralen. Was haben Sie also gegen
diese Vorschläge?
Meine Damen und Herren, wir brauchen mehr Transparenz bei Leistungen und Preisen,
({13})
mehr Eigenverantwortung, mehr Wettbewerb, mehr innovative Angebote, mehr grenzüberschreitende Elemente zwischen gesetzlicher und privater Versicherung,
mehr Synergieeffekte und nicht zuletzt auch mehr Effizienz in allen Bereichen und auf allen Ebenen des Gesundheitswesens, wenn wir die flächendeckende Versorgung langfristig sicherstellen wollen, ohne dass uns die
Kosten aus dem Ruder laufen.
({14})
Mit Denkverboten, wie Sie sie uns verordnen wollen,
kommen wir nicht weiter. Deshalb sage ich Ihnen, dass
die Polemik gegen die Zusatzbeiträge in Ihrem uns vorliegenden Antrag nicht redlich ist. Sie haben doch mit
uns in der Großen Koalition die Einführung von Zusatzbeiträgen beschlossen, und ausgerechnet jetzt, wo wir
die Zusatzbeiträge sozial abfedern, wo durch die Steuerfinanzierung des Sozialausgleichs auch Einkünfte aus
Unternehmensgewinnen, Kapitalerträgen und von Privatversicherten hinzugezogen werden,
({15})
da stellen Sie sich öffentlich hin und beschwören den
drohenden Untergang unseres solidarischen Gesundheitssystems.
({16})
Wir stellen die Finanzierung auf eine breitere Basis.
Das ist gerechter als das alte System. Durch die Steuerfinanzierung wird jeder nach seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit, auch mit seinen zusätzlichen Einkünften
und auch bei Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze, seinen Beitrag leisten.
({17})
Wo sind die Alternativen? Ich sehe sie nicht, und ich
sehe sie erst recht nicht in Ihrem Antrag.
({18})
Was soll geschehen, wenn wir demnächst deutlich mehr
Rentner, zugleich aber deutlich weniger Beitragszahler
haben?
({19})
Sollen die Arbeitskosten weiter in die Höhe getrieben
werden und die Kassenbeiträge der Facharbeiter weiter
ins Uferlose steigen?
({20})
Das sind doch die Fragen, um die es geht.
Wir werden jedenfalls auch ohne Sie die Aufgabe in
Angriff nehmen, unser Gesundheitssystem dauerhaft zu
sichern. Wir wollen dafür sorgen, dass wir jedem die
beste medizinische Behandlung garantieren können, die
im individuellen Krankheitsfall benötigt wird, dass es
keine Leistungseinschränkungen für die Versicherten
gibt, dass insbesondere die gesundheitliche Vorsorge
auch im ländlichen Raum gewährleistet ist und dass alle
Bürgerinnen und Bürger weiterhin in vollem Umfang am
medizinischen Fortschritt teilhaben können. Dabei lassen wir uns von den Grundsätzen der Solidarität und
der Eigenverantwortung leiten. Ohne ein Mindestmaß
an Eigenverantwortung geht es nicht; sonst ist Solidarität
auf Dauer nicht finanzierbar. Wer das leugnet, ist nicht
ehrlich zu den Versicherten.
({21})
Das Wort hat nun Kollege Harald Weinberg für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Rüddel, die gesetzlich Versicherten in Angst und Schrecken zu versetzen, das schafft diese Koalition schon alleine.
({0})
Bei Ihren Ausführungen ist mir deutlich geworden:
Diese Kostenerstattung muss wirklich ein ganz wunderbares Instrument sein. Was dadurch alles geschafft wird,
das ist bemerkenswert.
Nun zum Thema. Am Dienstag hatten die Innungskrankenkassen zu einer Veranstaltung rund um die Qualität in
der Gesundheitsversorgung geladen. Die Einführungsrednerin war die Staatssekretärin im Gesundheitsministerium. Ihre zentrale Aussage - ich teile sie ausdrücklich war: Gesicherte, nachgewiesene Qualität soll die Regel
sein und nicht extra vergütet werden.
Wie sieht die Politik der Bundesregierung in der Realität aus? Sie will Ärztinnen und Ärzten ein höheres
Einkommen sichern, gleichzeitig die bestehende Qualitätssicherung der Kassen und kassenärztlichen Vereinigungen durch Vorkasse und Kostenerstattung abschaffen
oder stark einschränken. Die Bundesregierung will, dass
stattdessen der einzelne Patient mit seiner Ärztin über
Menge, Qualität und Preis verhandelt und nicht mehr die
Krankenkassen. Ich sage Ihnen: Das können die Patienten nicht.
Erstens. Patienten sind deshalb Patienten, weil sie
krank sind.
({1})
Sie sind angewiesen auf den Arzt. Die Bundesregierung
schafft aber Anreize für geschäftstüchtige Ärzte, diese
Notsituation auszunutzen.
Zweitens. Patienten sind dem Arzt in aller Regel fachlich unterlegen. Wenn die Ärztin sagt: „Das ist die Diagnose; dafür brauchen wir die Therapien A, B und C“,
kann der Patient weder die Richtigkeit der Diagnose
noch die Notwendigkeit der einzelnen Therapien abschätzen. Der Patient ist in erster Linie angewiesen auf
den Rat der Ärztin. Er wird nicht sagen: Na ja, die Therapien B und C nehme ich; aber auf Therapie A verzichte ich einmal.
Drittens. Der Patient kann kaum beurteilen, ob die
Therapie in einer angemessenen, schlechten oder guten
Qualität erbracht wird. Er kann ein gutes oder schlechtes
Gefühl bei der Behandlung haben, mehr nicht. Mit Qualitätssicherung hat das nichts, aber auch gar nichts zu
tun.
({2})
Viertens. Der Patient kann nicht beurteilen, ob der
Preis, den er für die Diagnose und die Therapie zahlt, angemessen, zu hoch oder ein Sonderangebot ist. Der Patient kann sich, wenn er krank ist, in aller Regel nicht
umhören, welcher Arzt das beste Preis-Leistungs-Verhältnis bietet.
({3})
Selbst wenn dies möglich wäre: Die Linke will, dass die
Patientinnen und Patienten weiterhin die freie Arztwahl
haben, ohne vorher das günstigste Angebot einholen zu
müssen. Die Linke will, dass Ärzte Ärzte bleiben und die
Arztpraxis nicht zu einem Basar wird.
({4})
An diesem Punkt kommt der Einwand - wir haben es
schon gehört -, es werde niemand gezwungen; Vorkasse
und Kostenerstattung seien freiwillig.
({5})
Ich sage Ihnen voraus: Wenn die Ärzte erst einmal merken, wie viel mehr Geld sie damit verdienen bzw. erhalten können, werden sie den Patienten diese Kostenerstattung mehr oder weniger deutlich nahelegen. Dann wird
es bei der Terminvergabe heißen: Geht es gegen Kostenerstattung oder gegen Kasse? - Kostenerstattung führt
zum schnellen Termin, Kasse kann warten.
({6})
Bemerkenswert ist doch auch: Ein Arzt verhält sich in
einem wettbewerblichen System, welches Sie von der
Regierung ja wollen, völlig folgerichtig. Wer mehr zahlt,
bekommt auch mehr und früher Leistung. Genau das
wollen Sie; Sie wollen das System verwettbewerblichen.
({7})
Die Linke bleibt bei der Ansicht: Die Gesundheit eines jeden Menschen ist gleich viel wert, egal ob reich
oder arm. Deswegen müssen sich Terminvergabe, Diagnose und Therapie nach medizinischen Kriterien richten und nicht nach dem Geldbeutel.
({8})
Der Einzige, der von den Kostenerstattungstarifen direkt etwas hat, ist der Arzt. Er rechnet ab nach der Gebührenordnung für Ärzte. Erstattet wird aber nur die
Kassenleistung. Die Patienten bleiben also auf den Zusatzkosten sitzen; das ist bereits angesprochen worden.
Die Ärzte freuen sich, wenn denn die von ihnen ausgestellten Rechnungen - das Risiko tragen allerdings die
Ärzte - auch bezahlt werden.
Für solche Fälle hat die Koalition gleich eine Lösung
parat: private Zusatzversicherungen. Kollege Spahn
hat auch eine solche Zusatzversicherung, und er gab zu
- ich zitiere wörtlich -, sie sei „schweineteuer“. Ich weiß
nicht, was Kollege Spahn bezahlt, aber der Preis einer
solchen Versicherung richtet sich unter anderem nach
dem Alter. Kollege Spahn dürfte mit seinen 30 Jahren
doch noch relativ günstig davonkommen. Ich habe einmal nachgeschaut: Ein 30-jähriger Mann zahlt für eine
Zusatzversicherung nur für den ambulanten Bereich
76 Euro im Monat.
({9})
Wäre Kollege Spahn eine Frau, könnte also schwanger
werden, wären es schon 105 Euro.
({10})
Für eine 59-Jährige würde das Ganze schon 170 Euro
kosten - 170 Euro im Monat!
({11})
Dafür, so werben die Versicherungen, würde man auch
erster Klasse, wie ein Privatversicherter, behandelt. Aber
ich frage Sie: Wer hat denn so viel Geld? Rechnen Sie
doch einmal aus, was das für eine komplette Familie
kostet. Welche Familie kann sich das leisten? Für über
60-Jährige hat der Anbieter, bei dem ich mich erkundigt
habe, gar keine Tarife im Angebot. Wer profitiert also
neben dem Arzt noch von der Kostenerstattung? - Genau, das Lieblingskind dieser Regierung, die private
Krankenversicherung.
({12})
Nun kann man über Vorkasse und Kostenerstattung
verschiedener Auffassung sein. Ich denke, meine Auffassung ist klar geworden. Nur verstehe ich eines nicht:
Wenn man - wie die Bundesregierung - denkt, dass das
Prinzip der Kostenerstattung dem gängigen Sachleistungsprinzip überlegen ist, dann sollte man es doch verpflichtend für alle einführen.
({13})
Wenn man aber wie die Linke und 99,8 Prozent der Versicherten aus guten Gründen der gegenteiligen Auffassung ist, sollte man die Finger davon lassen und diese
Regelung ganz streichen.
({14})
Was macht aber die Koalition? Sie verkürzt die Bindungsfrist, senkt den Anteil, den die Kassen für die zusätzliche Bürokratie berechnen dürfen, und streicht die
schriftliche Bestätigung für die Aufklärung durch den
Arzt. Die Regierung sagt, die Kostenerstattung sei nach
wie vor freiwillig. Sie senkt aber die Hürden für die Vorkasse und erhöht damit den Druck auf die Versicherten.
Klar ist: Die Regierung will das Sachleistungsprinzip schwächen, will aber für die Folgen offensichtlich
nicht verantwortlich gemacht werden. Immer dann,
wenn man gegen die Kostenerstattung argumentiert,
heißt es: Wir zwingen doch keinen dazu. - Das ist fast
so, wie ein bisschen schwanger zu sein - auf freiwilliger
Basis, versteht sich.
({15})
Jetzt kommt in aller Regel das Totschlagargument
- wir haben es gerade auch wieder gehört -: Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Versicherten. Jeder und jede soll frei entscheiden können, ob ihm oder
ihr die Gesundheit ein paar Dutzend Euro mehr im Monat wert ist oder nicht. Ja, so ist das in Ihrer Welt. Jeder
hat schließlich in diesem Land das Recht, völlig frei entscheiden zu können, ob er sich eine Uhr aus Gold kaufen
will oder ob die aus Platin vielleicht noch schöner ist.
({16})
Bei einer Uhr mag es ja vielleicht noch angehen, dass
sich viele dann doch für Stahl, Plastik oder gar keine Uhr
entscheiden müssen.
({17})
Aber im Gesundheitssystem haben solche Überlegungen
und solche sozialen Unterschiede nichts, aber auch gar
nichts zu suchen.
({18})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Kostenerstattung hat keinen einzigen Vorteil für die Versicherten und
das Gesundheitssystem als Ganzes. Es wird erstens teurer und ineffizienter, zweitens findet keine effektive
Qualitätssicherung statt, und drittens bekommen wir mit
Vorkasse und Kostenerstattung eine Dreiklassenmedizin - es ist bereits darauf hingewiesen worden -, in der
nur diejenigen angemessen behandelt werden, die genug
Geld auf dem Konto haben.
Dem heute zu debattierenden Antrag der SPD ist deshalb zuzustimmen. Meine Fraktion wird ihn selbstverständlich unterstützen. Ich freue mich auch deswegen
außerordentlich über diese richtige Initiative der SPD,
weil die SPD selbst gemeinsam mit Grünen und Union
die Vorkasse und Kostenerstattung für Pflichtversicherte
2004 gegen den Widerstand der damaligen PDS-Abgeordneten eingeführt hatte.
({19})
Die Kostenerstattung ist aus unserer Sicht ein weiterer Schritt, um die noch überwiegend solidarische Krankenversicherung in Richtung Privatversicherung und
Kommerzialisierung zu verschieben. Eine weitere Verwettbewerblichung des Gesundheitssystems, eine weitere Privatisierung ist schon immer auf unseren entschiedenen Widerstand gestoßen. Gesundheitsversorgung
muss ein Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge
bleiben. Dafür wird die Linke immer streiten.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat nun Kollege Heinz Lanfermann für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der SPD-Antrag, über den wir heute sprechen, ist
erstaunlich dünn und schmalbrüstig. Herr Kollege
Lauterbach, Sie haben die entsprechende Einführungsrede dazu gehalten. Ich kann Ihnen nur sagen: Es handelt
sich in gewissem Sinne um einen Phantomantrag, da das
von Ihnen gewählte und hier nicht sehr erfolgreich verteidigte Wort „Vorkasse“ ein Phantomwort ist.
({0})
Wenn Sie sich tatsächlich mit dem Thema auseinandergesetzt hätten, hätten Sie sich die Gesetzentwürfe angesehen, die wir zurzeit im Ausschuss beraten und über
die in zwei Wochen hier debattiert wird. Außerdem hätten Sie erwähnen müssen, dass es sich um eine rein freiwillige Angelegenheit handelt. An Herrn Weinberg gerichtet: Wir gehen nicht hin und verbieten ein Angebot,
weil irgendwo irgendjemand von Ihnen verdächtigt wird,
damit Missbrauch zu treiben. Wir eröffnen den Menschen vielmehr die Chance, etwas freiwillig zu machen.
Dies geschieht natürlich nach Beratung und in Kenntnis
aller Umstände.
({1})
Herr Lauterbach, Sie haben vergessen, zu erwähnen,
dass auch Sie an der Einführung dieses Instruments beteiligt waren. Sie haben auch vergessen, dass in den Anträgen, über die wir sprechen werden, verbesserte Bedingungen für die Versicherten vorgesehen sind. Zum
Beispiel soll der Verwaltungsanteil, den die Patienten
bezahlen müssen, nicht mehr zwangsweise 10 Prozent
betragen, sondern nur noch bis zu 5 Prozent. Das ist erstens weniger und eröffnet zweitens den Kassen die Möglichkeit, damit Wettbewerb zu betreiben. Den Wettbewerb aber haben Sie quasi abgeschafft, und wir werden
ihn für die Kassen stückweise wieder einführen.
({2})
Es ist in diesen Tagen eine seltsame Zweiteilung der
Gesundheitspolitik zu beobachten. Nach einem Jahr fahren wir, die Koalition, nun die Erfolge der von uns geleisteten Arbeit ein;
({3})
Herr Kollege Rüddel hat sie alle aufgezählt: Das Defizit
von 11 Milliarden Euro wurde bewältigt. Das Gesundheitssystem wurde gesichert. Es wurde dafür gesorgt,
dass die gute Versorgung auch in Zukunft bezahlbar ist.
Wir haben im Bereich der Arzneimittel einen Strukturwechsel vollzogen.
({4})
Wir haben etwas geschafft, was Sie jahrzehntelang nicht
geschafft und vielleicht sogar - so mein Eindruck - gar
nicht gewollt haben: Die Pharmaindustrie konnte bisher
bestimmte Preise völlig frei festsetzen. Sie haben das geduldet. Und Sie haben in der Vergangenheit im Übrigen
auch gedealt. Wir haben das jetzt geändert, indem wir das
neue System auf den Weg gebracht haben, nach dem die
Hersteller die Preise mit den Krankenkassen aushandeln
müssen. Diese Verhandlungen werden am Ende - spätestens mithilfe einer Schiedsstelle - zu fairen Preisen führen.
({5})
Wir führen die Beitragsautonomie der Krankenkassen
wieder ein, und wir machen die Beiträge zukunftsfähig.
({6})
Wir wollen uns darum kümmern, dass es durch die Abkoppelung von den Lohnkosten zu konjunkturunabhängigen Mehreinnahmen kommt. Damit sichern wir Arbeitsplätze. Wir machen auch den Weg frei für mehr
Eigenverantwortung, für Wahlfreiheit - eben auch für
GKV-Versicherte - und für neue Tarife. Entsprechende
Entwürfe werden wir in Zukunft noch vorlegen.
Sie aber legen einen Antrag vor, der wirklich erstaunlich ist. In 19 Zeilen, die mit „Feststellungen“ überschrieben sind, findet sich keinerlei Tatsachendarstellung. Es findet sich aber ein Wortgeklingel, in dem sich
zum Beispiel folgende Worte finden: „wird“, „werden“,
„plant“ - alles auf die Regierung bezogen -, „Ihr Ziel
ist“, „vor allem … lockt die Chance“, „am Ende stehen“,
„am Ende sind“, „die geplanten Änderungen“ und „sie
führen“. Es handelt sich dabei um reine Spekulationen
und um lauter Unterstellungen. Sie konstruieren dadurch
auch ein völlig falsches Bild von den Ärzten. Wenn ich
Sie so höre, dann wundere ich mich, dass in Deutschland
noch jemand den Mut hat, zu einem Arzt zu gehen.
({7})
Herr Lauterbach, Sie haben hier nur Dinge erwähnt,
die fern der Realität sind. Sie haben den Menschen
Angst gemacht.
({8})
Sie haben nicht erwähnt, dass es sich um ein freiwilliges
Angebot handelt, das wir den Menschen bieten wollen.
Sie leiden sozusagen an einem Vorkassephantomschmerz;
({9})
das gilt im Übrigen auch für Herrn Weinberg und Frau
Vogler. Sie bilden sich etwas ein und behaupten etwas,
das völlig aus der Luft gegriffen ist. Anschließend sagen
Sie, dass das die Pläne der Koalition seien. Das ist eine
böswillige Unterstellung, Herr Lauterbach. Ich kann nur
sagen: Damit werden Sie nicht allzu weit kommen.
({10})
Sie kommen deswegen nicht allzu weit, weil Sie sich
nicht konstruktiv mit den Themen beschäftigen, die für
einen Strukturwandel im Gesundheitswesen wirklich
wichtig sind. Wir wollen doch nicht vergessen, dass das
Gesundheitssystem das Bürokratischste und DirigisHeinz Lanfermann
tischste ist, was wir uns in Deutschland leisten. Daran
gilt es, zu arbeiten.
({11})
Wir müssen die Dinge einfacher gestalten. Das gilt
auch für die Honorare. Das gilt auch für die Frage, wie
wir zum Beispiel die Versorgung im ländlichen Raum sicherstellen. Dies alles sind Themen, an denen man arbeiten muss.
Was haben Sie uns in dem einen Jahr geboten?
({12})
Es gab mehrfach Versprechungen zu einer Sache, von
der niemand weiß, was Sie damit eigentlich meinen.
Dazu gibt es das schöne Wort von der Bürgerversicherung, die im Grunde nie fertig wird. Ich glaube, es wäre
besser gewesen, Sie hätten in der Kommission mitgearbeitet, die der SPD-Bundesvorstand hierzu eingerichtet
hat, anstatt hier einen solch dünnen Antrag vorzulegen,
der von der Sache her überhaupt nichts bringt.
({13})
Trotzdem werden wir ihn gerne im Ausschuss beraten,
um Ihnen einmal Zeile für Zeile zu zeigen, wo die Realität liegt.
Zur Bürgerversicherung, Herr Lauterbach, kann ich
nur sagen: Werden Sie endlich wach! Stellen Sie sich der
Realität! Laufen Sie nicht einem Traum hinterher, der
von der Öffentlichkeit schon jetzt zu Recht als Schildbürgerversicherung verspottet wird.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun die Kollegin Maria Klein-Schmeink
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kollegen hier im Plenum! Besonders mit Blick
auf die Argumente meiner Vorredner muss ich Herrn
Weinberg für seinen Beitrag großen Respekt zollen;
denn ich finde, er hat die Problemlage rund um die Vorkasse und die Kostenerstattung sehr differenziert dargelegt.
({0})
Das will ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen. Großer
Respekt!
({1})
Er hat zwei wichtige Punkte herausgehoben, nämlich
zum einen, dass es sich bei der Abkehr vom Sachleistungsprinzip um eine Qualitätsfrage handelt. Es stellt
sich folgende Frage: Wie stellen wir sicher, dass sich alle
Patienten, alle Versicherten darauf verlassen können,
dass sie wirklich eine qualitätsgesicherte, gute Versorgung bekommen, dass sie sich vertrauensvoll an den
Arzt wenden und sicher sein können, dass sie die gemessen am hippokratischen Eid richtige Heilungs- und Therapieempfehlung bekommen und dabei finanzielle
Gründe keine Rolle spielen? Ich finde, das ist ein ganz
wichtiges Prinzip, das wir in unserer gesetzlichen Krankenversicherung zum Schutz der Patienten eingerichtet
haben, worauf wir zu Recht stolz sind. 70 Prozent der
Bevölkerung sagen zu Recht: Ich will auf jeden Fall das
Sachleistungsprinzip, weil es sicherstellt, dass ich auch
und gerade in einer Phase existenzieller Not, in einer
sehr empfindlichen und verletzlichen Phase in meinem
Leben vertrauensvoll begleitet werde.
({2})
Aber das wollen Sie mit der Ausweitung der Kostenerstattung infrage stellen.
Die FDP - Herr Lanfermann, dazu haben Sie heute
keinen einzigen Ton gesagt - will die vollständige Abkehr vom Sachleistungsprinzip.
({3})
Das ist Ihre Programmlage beim Umbau des gesetzlichen Gesundheitssystems.
({4})
Das haben Sie aber in keinster Weise angeführt.
({5})
- Ja, von der Freiwilligkeit. Aber Sie sagen doch von der
FDP, dass Sie die gesetzliche Krankenversicherung insgesamt in Richtung Vorkasse, in Richtung Kostenerstattungsprinzip umbauen wollen. Das ist Ihre Programmlage.
({6})
Herr Rösler hat keine Gelegenheit ausgelassen, zu betonen, dass das, was er jetzt vorlegen wird, nur ein erster
Baustein auf diesem Weg ist. Da müssen wir uns nichts
vormachen.
({7})
Insofern geht es keinesfalls um eine Phantomdebatte,
sondern es geht darum, dass Sie den vollständigen Umbau der gesetzlichen Krankenversicherung hin zu einer
PKV vorbereiten.
({8})
Zum Zweiten. Sie haben in dieser ganzen Debatte
kein einziges Argument liefern können, warum es für
den Patienten eigentlich gut ist, das Modell der Kostenerstattung zu wählen. Kein einziges Argument habe ich
von Ihrer Seite gehört.
({9})
Auch wenn die Grünen damals dem Gesundheitskonsens
beipflichten mussten, weil sie nicht anders konnten,
({10})
und damit unter anderem die Kostenerstattungsregelung
in der Krankenversicherung als Möglichkeit eingeführt
wurde, heißt das noch lange nicht, dass sie ein richtiges
Instrument ist.
({11})
Wir wissen auch - das hat der Bericht ganz deutlich gezeigt -: 0,2 Prozent aller Versicherten wählen diesen Tarif, wohl wissend, dass es keine wirklich günstige Option
für sie ist.
({12})
Herr Spahn, das Problem ist, dass Sie jetzt die Kostenerstattung ausweiten wollen; das wissen Sie. Nicht umsonst ist die Ausweitung der Kostenerstattung in Ihren
Reihen hoch umstritten; denn Sie wissen, dass Sie mit
der Ausweitung dieses Prinzips eine Dreiklassenversorgung schaffen, bei der nicht mehr sichergestellt ist, dass
jeder Versicherte den gleichen Anspruch auf rechtzeitige
und bestmögliche Behandlung durchsetzen kann. Vielmehr führen Sie verschiedene Klassen ein. Zugleich
schaffen Sie ein Anreizsystem für die Versicherungen,
entsprechende Zusatztarife zu schaffen.
Das spiegelt sich auch in den Anträgen wider, die Sie
uns letztens auf den Tisch gelegt haben. Ich muss sagen:
Sie wollten diese Regelung klammheimlich einführen,
indem Sie nämlich nicht gerade deutlich ausgeführt haben, dass die Regelung für den Patienten bedeutet, dass
er mehr zahlt.
({13})
Der Patient zahlt für die Behandlung im Schnitt ein Drittel mehr als normalerweise die GKV, und auf diesen
Kosten bleibt er sitzen. Das muss er wissen.
({14})
Das wollen wir auf keinen Fall. Im Gegenteil: Bei unserer Bürgerversicherung ist das Sachleistungsprinzip eines der zentralen Prinzipien. Dabei muss es bleiben.
({15})
Jetzt komme ich zu einem anderen Aspekt: Patientenschutz. Wir haben einen Patientenbeauftragten; eigentlich müsste er heute hier sitzen. Er müsste sich eigentlich um die Frage kümmern, wie die vertragliche
Gestaltung beim ausgeweiteten Instrument der Kostenerstattung aussehen wird.
({16})
Ihnen fällt zunächst nichts anderes ein, als die Pflicht zur
schriftlichen Beratung und Information über die Bedingungen des Vertrags, der eingegangen wird, abzuschaffen. Sie haben tatsächlich die Stirn, diese Pflicht abzuschaffen, mit dem Argument, sie bringe zusätzliche
Bürokratie und mache das Instrument der Kostenerstattung unattraktiv. Das ist doch nicht zu glauben. Das ist
ein echter Kniefall vor der Ärzteschaft, die sich darüber
beschwert hat, dass sie bei einer Umsetzung zusätzliche
bürokratische Aufgaben erfüllen müsste. Es gibt in keinem anderen Bereich der Wirtschaft Vertragsbeziehungen, bei denen man einen Vertrag unterschreiben muss,
obwohl man die Kautelen nicht genau kennt. Ich halte
das, was Sie uns da letztens auf den Tisch gelegt haben,
wirklich für eine Zumutung. Ich halte das unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes für eine Frechheit.
({17})
Ich möchte einen weiteren Punkt betonen: Sie greifen
in massiver Weise in das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ein.
({18})
Das ist für mich die zweite große Sünde, die Sie da begehen. Sie machen den Patienten zum Kunden und verführen den Arzt dazu, auf eine Abrechnung über höher vergütete private Tarife hinzuwirken. Der Arzt könnte
versuchen, den Patienten im Gespräch davon zu überzeugen, eine therapeutische Zusatzleistung in Anspruch
zu nehmen, wohl wissend, dass dann eine private Abrechnung möglich ist.
({19})
Das hat langfristig massive Auswirkungen.
Zusätzlich wird Ihre Regelung dazu führen, dass die
Arztpraxen zu Inkassounternehmen werden.
({20})
- Sie haben die Praxisgebühr nicht abgeschafft. Das ist
eine weitere Baustelle, die Sie angehen könnten. - Sie
werden die Arztpraxen damit konfrontieren, dass Rechnungen nicht bezahlt werden, dass den Patienten nicht
klar war, welche Verbindlichkeiten sie eigentlich eingegangen sind. Da geht es in der Regel um hohe Rechnungen, die Menschen mit kleinem Einkommen sehr schnell
überfordern. Das wird tatsächlich dazu führen, dass die
Zahl der Inkassovorgänge ansteigt.
({21})
Man kann das insgesamt nicht gerade als Bürokratieabbau bezeichnen; es ist genau das Gegenteil: Es kommt
zu einer höheren bürokratischen Belastung der Praxen
und der Versicherungen, die die Rechnungen abgleichen
müssen. Insgesamt stellen Sie das solidarische System,
das wir bisher haben, massiv infrage. Sie haben nicht einen einzigen guten Grund dafür genannt. Ich kann nur
mit Herrn Straubinger sagen: Die Kostenerstattung
bringt auf der einen Seite keine zusätzliche Transparenz
und keine Kosteneinsparung; aber sie bringt die Patienten in eine Situation, die sie überfordern wird.
({22})
Das Wort hat nun Kollegin Maria Michalk für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der Antrag der SPD greift einen Punkt
aus einem riesengroßen Gesetzespaket heraus.
({0})
Deshalb sage ich Ihnen: Er ist mager. Darauf gehe ich
gleich noch einmal ein. Vieles ist zwar schon gesagt
worden, aber offensichtlich ist bei Ihnen Wiederholung
die Mutter des Erfolgs. Also nehme ich den Antrag noch
einmal auseinander.
({1})
Bevor ich das aber tue, stelle ich im Anschluss an die
Reden der Oppositionskollegen die Frage: Welches Bild
zeichnen Sie von der Ärzteschaft in diesem Land? Wollen Sie junge Ärzte dazu bewegen, sich auf dem Land
niederzulassen, indem Sie den ganzen Berufsstand als
korrupt und unmoralisch darstellen? Das ist unverantwortlich.
({2})
Der Antrag der SPD ist in vielerlei Hinsicht irreführend.
({3})
Sie wollen den Leuten einreden, dass allen Versicherten
der gesetzlichen Krankenversicherung der Umstand
droht, in Zukunft Geld auf den Arzttisch legen zu müssen, bevor sie behandelt werden. Das ist absolut falsch.
Das ist nicht richtig. Alle, die sich an dem Antrag beteiligt haben und hier dazu geredet haben, wissen, dass das
falsch ist. Der Antrag ist in einem Stil formuliert, der der
Sache überhaupt nicht angemessen ist. Sie erwecken den
Eindruck, dass die Einführung der Kostenerstattung etwas Unanständiges ist.
({4})
Ich zitiere die erste Forderung aus Ihrem Antrag:
1. keine Ausweitung der Kostenerstattung in der
gesetzlichen Krankenversicherung vorzunehmen.
Diese Forderung ist widersprüchlich; denn die Kostenerstattung gab es bereits unter einer SPD-Gesundheitsministerin. Das haben Sie alle mitgetragen.
({5})
Zur Erinnerung: Vor Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes zum 1. April 2007 konnten gesetzlich Versicherte die Kostenerstattung wählen, und
zwar entweder für alle Leistungen oder beschränkt auf
die ambulante ärztliche Versorgung. Ganze 122 000 gesetzlich Versicherte, 0,17 Prozent der gesetzlich Versicherten, haben sie gewählt. Daran sehen Sie, über welches Segment wir hier reden.
({6})
Seit dem 1. April 2007 haben die Versicherten zwischen verschiedenen Leistungsbereichen die Wahlmöglichkeit. Diese haben Sie mit eingeführt. Unter Frau
Schmidt wurde die Kostenerstattung um die persönliche
Entscheidungsmöglichkeit erweitert. Diese bleibt weiterhin bestehen. Man kann sie auf die ambulante ärztliche
bzw. zahnärztliche Versorgung beschränken oder zusätzlich für veranlasste Leistungen bzw. Krankenhausbehandlungen wählen. Deshalb frage ich: Wieso ist die
Ausweitung der individuellen Entscheidungsmöglichkeit
der Versicherten 2007 richtig gewesen,
({7})
während heute die Anpassung an die aktuelle Situation
unter gleichen Prämissen - die Wahlfreiheit der Versicherten bleibt erhalten - nicht richtig sein soll?
({8})
Ihr Antrag ist in sich absolut widersprüchlich.
({9})
2007 wurde im Zusammenhang mit § 13 SGB V dem
GKV-Spitzenverband der Auftrag erteilt, nach zwei Jahren über die Erfahrungen zu berichten. Das ist, wie Sie
wissen, geschehen. Deshalb wissen wir heute, dass seitdem nur 10 000 Menschen mehr diese Kostenerstattung
gewählt haben. Was ist schlimm daran? In 1, 2, 5 oder
10 Jahren - je nachdem, welchen Zeitraum Sie wählen werden wir sehen, wie viele Menschen diese Möglichkeit in Anspruch genommen haben. Wir lassen den Menschen diese Möglichkeit. Wovor haben Sie von der SPD
eigentlich Angst?
({10})
Niemand muss die Kostenerstattung wählen. Wir stellen Kosteneinsparüberlegungen an, um Spielraum für
eine weiterhin gute medizinische Versorgung aller Menschen zu haben, und zwar unabhängig von Alter, Einkommen, Vorerkrankungen oder Wohnlage. Der medizinische Fortschritt soll auch in Zukunft jedem
zugutekommen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Volkmer?
Gerne.
Frau Michalk, kommen in Ihre Bürgersprechstunde
Menschen, die Ihnen davon berichten, dass sie bei einem
Facharzt zeitnah keinen Termin bekommen, nur weil sie
Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung sind?
({0})
Berichten Ihnen Menschen, dass sie kurzfristig einen
Termin bekommen, wenn sie sich am Telefon als Privatversicherte vorstellen?
Wenn die Kostenerstattung möglich ist, werden viele
Ärzte diese Möglichkeit ausnutzen, indem sie den Patienten sagen: Ja, ich nehme Sie ohne lange Wartezeit an
die Reihe, aber nur dann, wenn Sie die Kostenerstattung
wählen und Vorkasse leisten. - Glauben Sie nicht auch,
dass es sich so verhalten wird?
Liebe Frau Kollegin Volkmer, darauf möchte ich Ihnen Folgendes antworten: Erstens. Ja, in meine Sprechstunde kommen Menschen, die mir von solchen Vorkommnissen berichten. Zweitens. Ich bin ein wenig
entsetzt, welches Verhalten Sie den Ärzten zutrauen.
Drittens. Es gibt auch Privatversicherte, die sich in meiner Sprechstunde darüber beklagen, dass sie bei einem
Facharzt - beispielsweise einem HNO-Arzt - ein Vierteljahr auf einen Termin warten müssen. Viertens. Gesetzlich Versicherten, die mit solchen Problemen in
meine Sprechstunde kommen, helfen wir natürlich.
Denn so darf kein Arzt handeln. In akuten Fällen muss
die Behandlung jederzeit sichergestellt sein.
({0})
Ich will noch einmal auf den uns vorliegenden Bericht zurückkommen. Er zeigt klar, dass die Menschen
mit dem Instrument der Kostenerstattung im Rahmen der
gesetzlichen Möglichkeiten sehr verantwortungsvoll, ja
vorsichtig umgehen. Andererseits lehrt uns der Bericht,
dass es durchaus persönliche Situationen geben kann, in
denen das Kostenerstattungsprinzip die optimale Möglichkeit ist. Dann sind die Versicherten bereit, diese Option zu wählen. Warum wollen Sie die Menschen von
dieser Wahlmöglichkeit ausschließen? So verstehe ich
Ihren Antrag. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will
keine Bevormundung und auch keine Einschränkung.
Wir wollen Entscheidungsmöglichkeiten für die Versicherten.
({1})
Man entscheidet sich ja nicht erst dann, wenn man
akut erkrankt ist. Mit der Wahlmöglichkeit beschäftigen
sich Versicherte schon dann, wenn sie sich mit diesem
Thema - sei es im Rahmen von Gesprächen mit der
Krankenversicherung - auseinandersetzen. Vielleicht beschäftigen sich aufgrund der heutigen Debatte - das ist
der einzig positive Punkt dabei - mehr Menschen mit
diesem Thema als vorher. Wir wollen, wie gesagt, dass
sich die Versicherten mit dieser Möglichkeit auseinandersetzen. Wir wollen verhindern, dass sie erst dann aktiv werden, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist.
Ich will diesen Punkt zusammenfassen: Es bleibt
beim Prinzip der Freiwilligkeit. Die Versicherten können
selbst wählen und können das Für und Wider gründlich
abwägen. Das heißt, sie können sich für oder gegen die
Kostenerstattung entscheiden. An dieser Gesetzeslage
soll sich nichts ändern.
({2})
Ich will noch einen weiteren Punkt erwähnen. Bislang
waren Versicherte an ihre Entscheidung, die Kostenerstattung zu wählen, ein Jahr gebunden. Die Mindestbindungsfrist wird auf ein Kalendervierteljahr verkürzt.
Behaupten Sie jetzt nicht, das sei im Interesse der Versicherten keine Qualitätsverbesserung. Dass es für die
Kassen bei ihrer Kalkulation gewisse Schwierigkeiten
gibt, ist in der Anhörung zwar deutlich zum Ausdruck
gekommen. Das hat aber nichts mit Lobbyismus zu tun,
den Sie uns in Ihrem Antrag vorwerfen. Ganz im Gegenteil: Wir treffen Regelungen zugunsten der Versicherten.
({3})
Die Mindestbindungsfrist für Wahltarife wird grundsätzlich von drei Jahren auf ein Jahr reduziert. Auch mit
dieser Regelung werden wir uns in der nächsten Sitzungswoche noch auseinandersetzen und darüber reden,
wie wir sie optimieren können. Die Verkürzung der Mindestbindungsfrist auf ein Jahr ist aus meiner Sicht ebenfalls ein Qualitätsmerkmal.
Zusätzlich wird die Kontrolle des Verbots der Quersubventionierung durch die Aufsichtsbehörden der
Länder mit der Verpflichtung der Krankenkassen zu einem regelmäßigen Wirtschaftsprüfertestat der Risikobeurteilung wesentlich vereinfacht. Meinen Sie nicht auch,
dass das ein zusätzliches Kontrollinstrument ist?
Ich denke schon, dass der Ansatz dieser Kostenerstattungsmöglichkeit, die ja frei gewählt werden kann, ein
gutes Qualitätskriterium im Sinne der Versicherten ist.
Deshalb finden wir Ihren Antrag absolut unnötig und
polemisch. Wir werden ihn im Ausschuss natürlich ablehnen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Diskussion hat für mich vor allen Dingen eines deutlich gemacht: Die Koalition ist in der Gesundheitspolitik
ohne Kurs und Kompass,
({0})
und wenn der politische Kompass einmal ausschlägt,
Herr Spahn, wie bei den Änderungsanträgen zum AMNOG
und zum GKV-FinG sowie bei der Erweiterung der Kostenerstattung, dann in die vollkommen falsche Richtung,
nämlich in Richtung einer Politik, in der eben nicht die
Interessen der Normalverdiener und der Mitglieder der
GKV, sondern die Interessen Ihrer Klientel im Fokus stehen,
({1})
und zwar nicht nur der üblichen Verdächtigen - Apotheker oder Pharmaindustrie -, sondern gerade bei der Vorkasse auch bestimmter Ärztegruppen und vor allen Dingen der privaten Krankenversicherung.
Der geschätzte Kollege Rüddel hat gesagt, die SPD
würde Angst und Schrecken verbreiten. Aber ich glaube,
dass es eher Ihre Politik ist, die Angst und Schrecken
verbreitet.
({2})
Was war ursprünglich geplant? Geplant hatte die Koalition eine tiefgreifende Strukturreform; das habe ich
noch im Ohr. Was ist herausgekommen? Eine simple Erhöhung von Beiträgen und der Wegfall der Deckelung
der Zusatzbeiträge. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik gewesen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie
angekündigt haben. Mehr Netto vom Brutto sieht anders
aus.
Herr Lanfermann, Sie haben von den großen Erfolgen
dieser Gesundheitspolitik nach einem Jahr gesprochen.
Angesichts der Umfrageergebnisse gerade in Bezug auf
die FDP frage ich mich allerdings: Wenn das Erfolge
sind, wie sehen dann Ihre Niederlagen aus, Herr
Lanfermann?
({3})
Jetzt wird die Sau Kostenerstattung durch das gesundheitspolitische Dorf getrieben. Was bewirkt denn eine
Kostenerstattung, die wir Vorkasse nennen? Sie bewirkt
doch nur, dass der Arzt direkt ins Portemonnaie der Patienten greifen kann. Das ist doch das, was die Vorkasse
ausmacht.
({4})
Man hört ja manchmal die Argumente, Vorkasse
führe erstens zu weniger Arztbesuchen und zu höherem
Kostenbewusstsein. Der Kollege Straubinger ist leider
nicht mehr da. Ich darf ihn aber - mit Ihrer Erlaubnis,
Herr Präsident - zitieren. Herr Straubinger von der CSU
hat gesagt:
Für das Gesundheitssystem bringt das keine Ersparnis, und die Patienten zahlen im Extremfall immer
nur drauf.
Ich kann sagen: Herr Straubinger hat recht.
({5})
Wie läuft das in der Praxis? Nach der GOÄ kann der
Arzt bis zum 3,5-Fachen liquidieren.
({6})
Das sind - das ist ja einfach auszurechnen - bei
300 Euro bis zu 1 050 Euro. Und wer bleibt auf dem Differenzbetrag zwischen der Rechnung und dem Erstattungsbetrag hängen? Der Versicherte. Wie kann er das
Risiko mildern? Indem er eine Zusatzversicherung abschließt. Deshalb kann man sagen: Teurer wird es auf jeden Fall. Die Einzigen, die davon profitieren, sind der
Arzt und die PKV.
({7})
Zweitens habe ich heute gehört, durch die Vorkasse
würde die Transparenz erweitert. Der Kollege Rüddel
hat erwähnt, dass man vielleicht Patientenquittungen
verpflichtend einführen könne. Derzeit ist es zumindest
so, dass eine solche Quittung vom Patienten beantragt
werden kann.
({8})
Insofern ist die Transparenz bereits gegeben.
Ein weiteres Problem bei der Vorkasse ist: Die Krankenkassen haben keinen Einfluss mehr auf Qualität und
Kostenentwicklung. Das ist der Unterschied zwischen
dem Sachleistungsprinzip und der Vorkasse.
Drittens. Herr Lanfermann, Sie haben gesagt, wir
würden eine Phantomdiskussion führen, weil die Vorkasse freiwillig sei.
({9})
Natürlich ist die Vorkasse bzw. die erweiterte Kostenerstattung freiwillig.
({10})
Das Beispiel wurde heute genannt; Frau Volkmer hat da
ja nachgefragt. Wenn ein Arzt sagt, dass man nur einen
Termin bekommt, wenn man Privatpatient ist oder in
Vorkasse geht, also die Kostenerstattung wählt, wird indirekt Druck auf den Patienten ausgeübt.
({11})
Wenn die erweiterte Kostenerstattung im Gesetz geregelt
wird, werden ganz viele Menschen dieses Modell wählen und eine Zusatzversicherung abschließen. Insofern
bekommen wir dann die von vielen beschriebene Dreiklassenmedizin.
({12})
- Herr Lanfermann, schauen Sie einmal in Internetforen.
Dort diskutieren Fachärzte darüber, wie man Patienten
Vorkassenmodelle schmackhaft machen kann. Sie müssen nur nachschauen. Deswegen ist das keine Phantomdebatte.
({13})
Wenn künftig nicht nur Privatpatienten, sondern auch
gesetzlich Versicherte, die sich die Kostenerstattung leisten können, bevorzugt behandelt werden, ist das keine
solidarische Gesundheitsversorgung. Deswegen fordern
wir als SPD Sie von der Koalition auf: Halten Sie am
Sachleistungsprinzip fest. Es darf keine Ausweitung der
Kostenerstattung in der gesetzlichen Krankenversicherung geben. Wir müssen eine Gesundheitspolitik für alle
Menschen in der Krankenversicherung in unserem Land
machen. In der Gesundheitspolitik muss es um den Patienten gehen und nicht darum, dass bestimmte Ärztegruppen und die PKV mehr Geld verdienen.
Ich danke Ihnen.
({14})
Das Wort hat nun Kollege Erwin Lotter für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! „Patientenschutz statt Lobbyismus - Keine Vorkasse in der gesetzlichen Krankenversicherung“ - wen wollen Sie mit dieser billigen Polemik an der Nase herumführen? Ihr Vorstoß zeugt von
Unkenntnis ebenso wie von der Tatsache, dass Sie die
Intelligenz der Versicherten in geradezu peinlicher
Weise unterschätzen.
({0})
Ich möchte Ihnen das erläutern: Vorkasse ist, wenn
ich etwas bezahle und die Gegenleistung später vielleicht bekomme. Die einzige Institution, die momentan
Vorkasse betreibt, ist die gesetzliche Krankenkasse. Die
Kassen sammeln die Beiträge von den Versicherten und
den Arbeitgebern ein, und keiner, der einzahlt, weiß, ob
er im Falle einer Erkrankung die Leistung, die er
braucht, bekommt. Um es ganz deutlich zu machen: Die
Kostenerstattung ist keine Vorkasse. Die ärztliche Leistung wird erbracht. Sie wird in Rechnung gestellt, und es
gibt ein Zahlungsziel. Die meisten Patienten zahlen
dann, wenn die Krankenversicherung die Leistung erstattet hat.
({1})
Unser Ziel ist, dass die Patienten frei entscheiden können, ob sie das bisherige Prinzip der Sachleistung beibehalten oder die Kostenerstattung wählen wollen. Entscheidend ist die Transparenz; diese gibt es jetzt nicht,
Frau Klein-Schmeink.
Sehen wir uns die weiteren Vorteile an. Patienten können differenzieren. Ihre Regelleistungen werden von ihrer Kasse erstattet, Zusatzleistungen müssen sie selber
ausgleichen. Beim System der Kostenerstattung wissen
sie, wie viel sie für welche Therapie aufbringen müssen.
({2})
Ferner können auch gesetzlich Versicherte solche Ärzte
aufsuchen, die nur nach dem privatärztlichen Vergütungssystem liquidieren. Für Patienten, die nur knapp über der
Versicherungsgrenze liegen und eine Familie haben,
könnte die gesetzliche Krankenversicherung attraktiver
werden.
({3})
Die Mitversicherung der Familie ist ein enormer Vorteil
der GKV. Der Patient kann jederzeit prüfen, welche
Leistungen in Rechnung gestellt wurden, und die RechDr. Erwin Lotter
nung mit der tatsächlichen Behandlung vergleichen. Im
Bereich der ärztlichen Kosten herrscht dann Transparenz. Patienten werden in die Verantwortung für die Inanspruchnahme von Leistungen eingebunden.
({4})
Dadurch wird der Patient ernst genommen und nicht
mehr für dumm verkauft.
({5})
Vollkommen widersprüchlich ist, dass die SPD darlegt, die gesetzlichen Krankenkassen würden Qualitätsstandards festlegen, die für die Kostenerstattung nicht
gelten. Versicherte mit Kostenerstattung haben den gleichen Status wie Privatpatienten. Sind Sie denn der Meinung, für Privatpatienten gäbe es keine Qualitätsstandards?
({6})
Denken Sie, die PKV-Patienten würden schlechter behandelt? Meinen Sie das mit Dreiklassenmedizin? Das
ist doch abwegig.
({7})
Die Patientenquittung ist kein Ersatz für eine formelle
Rechnung.
({8})
Durch die Kombination von einem Pauschalsystem und
einem komplexen Punktesystem, die je nach Finanzlage
zu unterschiedlichen Quartalserträgen führt, spiegelt
diese Quittung im Zeitpunkt ihrer Ausstellung nicht den
tatsächlichen Umsatz wider.
({9})
Bezeichnend ist auch die Behauptung in Ihrem Antrag,
die Patienten könnten ihre Therapien überhaupt nicht beurteilen. Also sind Patienten nach Ihrer Ansicht unmündig und der Weisheit der Ärzte ohnmächtig ausgeliefert.
({10})
Das, meine Damen und Herren, ist doch obrigkeitsstaatliches Denken.
Geradezu ergreifend ist es, wie sich die SPD in ihrem
Antrag um die wirtschaftliche Situation der PKV und der
Ärzte sorgt. Die PKV wolle weg vom System der Kostenerstattung, heißt es.
({11})
Die Belastungen der PKV ergeben sich doch aus ganz
anderen Aspekten: aus zu hohen Zugangshürden und
dem Basistarif, den eine Regierung unter SPD-Beteiligung eingeführt hat.
({12})
Es rührt mich nahezu auch zu Tränen, wenn Sie sich
um das Inkassorisiko der Ärzte sorgen. Wenn das ein
Problem wäre, würde ja wohl jeder Mediziner Privatpatienten am liebsten gleich wieder wegschicken. Die wahren Umsatzausfälle entstehen doch dadurch, dass das
GKV-System durch politische Entscheidungen alle paar
Jahre durcheinandergewirbelt wird mit einer steten Abfolge von Zumutungen und Deckelungen.
({13})
Es geht Ärzten auch nicht darum, Patienten irgendetwas aufzuschwatzen.
({14})
Es geht ihnen darum, sie gut zu informieren. Patienten
merken sehr wohl, wenn sie abgezockt werden sollen.
Vertrauen entsteht, wenn man sich gegenseitig auf Informationen verlassen kann.
({15})
Die Ärzte, meine Damen und Herren, wollen keine Vorkasse, sie wollen schlicht und einfach eine Vergütung ihrer Rechnungen.
({16})
Wenn Ihnen, liebe Abgeordnete der SPD, dieser einfache
Anspruch nicht passt, dann können wir die freien Arztpraxen gleich schließen und die Versicherten anonymen,
staatsgeführten Versorgungsstrukturen anvertrauen.
({17})
Das ist dann das Ende der freien Ärzteschaft, und als Liberale werden wir das gerade auch im Interesse der Patientinnen und Patienten nicht zulassen.
({18})
Das Wort hat nun Dietrich Monstadt für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute
über einen Antrag der SPD, mit dem sie sich pauschal
gegen jede Kostenerstattungsregelung in der gesetzlichen Krankenversicherung wendet.
({0})
Anders ist der Antrag nicht zu verstehen.
Dies ist insofern überraschend, meine Damen und
Herren, als die SPD in der Vergangenheit in diesem
Haus wiederholt für gesetzliche Kostenerstattungsregelungen gestimmt hat,
({1})
und zwar sowohl bei der Gesundheitsreform 2003 mit
dem GKV-Modernisierungsgesetz als auch bei der
Gesundheitsreform 2007 mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz.
({2})
Aber, meine Damen und Herren, wir haben in diesem
Haus zumindest im Bereich der Gesundheitspolitik
schon häufiger feststellen müssen, dass sich die SPD an
ihr eigenes Tun nicht mehr erinnert.
({3})
Im Einzelnen: Im Jahr 2003 wurde die Kostenerstattungsoption in § 13 Abs. 2 SGB V von dem überschaubaren Kreis der freiwillig Versicherten uneingeschränkt
auf alle Versicherten ausgedehnt. Das kann man quantitativ als drastische Ausweitung ansehen.
Mit der Gesundheitsreform 2007 haben die Krankenkassen die Möglichkeit erhalten, ihren Versicherten
Wahltarife anzubieten, darunter Kostenerstattungstarife.
({4})
Sowohl 2003 als auch 2007, Herr Lanfermann, hieß die
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, und sowohl 2003
als auch 2007 hat die SPD für diese Ausweitungen von
Kostenerstattungsregelungen gestimmt.
({5})
Wenn die SPD heute jede Kostenerstattung verteufelt,
obwohl ihre Verantwortung für den früheren Ausbau solcher Regelungen unübersehbar ist, dann folgt sie stringent dem bekannten - ich will es einmal so nennen Vergesslichkeitsphänomen. Die paritätische Finanzierung wurde 2004 unter Rot-Grün verlassen, als der Sonderbeitrag von 0,9 Prozent eingeführt wurde, den die
Versicherten allein tragen.
({6})
Auch die Möglichkeit von Zusatzbeiträgen ist unter
einer SPD-Gesundheitsministerin
({7})
mit großer Zustimmung der SPD-Fraktion eingeführt
worden. Jetzt also hat die SPD - welche Überraschung! ihre frühere Haltung zur Kostenerstattung vergessen.
({8})
Meine Damen und Herren von der Opposition, welches Bild haben Sie von der Ärzteschaft?
({9})
So wie man Sie verstehen muss, erwartet den Kostenerstattungspatienten in der Praxis des Arztes seines Vertrauens ein wahres Haifischbecken. Der Patient wird finanziell abkassiert - nach Herrn Dr. Lauterbach wird
ihm das Geld aus der Tasche gezogen -, er wird unnötigen Behandlungen unterworfen und möglicherweise
nicht einmal lege artis behandelt, das aber immerhin sofort und ohne Wartezeit. Meine Damen und Herren von
der SPD, in Ihrem Antrag beschreiben Sie eine Halbwelt
in Weiß. Meine Erfahrungen mit Ärzten sind andere.
({10})
Ich habe Vertrauen zu meinen Ärzten und lasse mir dieses durch die SPD-Positionen nicht nehmen. - So viel
zum Antrag der SPD.
Lassen Sie uns nun zu den Fakten zurückkehren. Zum
Thema Kostenerstattung liegen zwei Änderungsanträge
zum GKV-Finanzierungsgesetz vor.
Erstens. Wir wollen eine Verbesserung zugunsten der
optierenden Versicherten, indem die Verwaltungskostenabschläge auf 5 Prozent begrenzt werden, indem die Abschläge wegen fehlender Wirtschaftlichkeitsprüfungen
wegfallen und indem wir die Mindestbindefrist auf ein
Vierteljahr verkürzen. Damit wird die Position des Versicherten gestärkt.
({11})
Zweitens. Wir wollen den Krankenkassen ermöglichen, mehr ergänzende Versicherungen zu vermitteln.
Auf der Tagesordnung der jüngsten Sitzung des Gesundheitsausschusses stand der Bericht des GKV-Spitzenverbandes zur Kostenerstattung. Diesem konnten wir
entnehmen, dass nur wenige Menschen von der Kostenerstattungsoption Gebrauch machen. Anders als die SPD
befürchtet, bleiben 99,81 Prozent der Versicherten bei
Sachleistungen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Klein-Schmeink?
Nein.
({0})
Damit ist dieser Bereich durchaus überschaubar. So
viel, Herr Dr. Lauterbrach, zu der von Ihnen erwähnten
Dreiklassenmedizin. Der Antrag der SPD bietet keinen
Zusatznutzen für eine ernsthafte gesundheitspolitische
Auseinandersetzung.
({1})
Meine Damen und Herren, wir sind angetreten, um
unser Gesundheitssystem angesichts demografischer
Entwicklung, medizinisch-technischen Fortschritts und
wachsender Kosten zukunftsfest zu machen und für alle
Versicherten den Zugang zu hochwertigen Leistungen zu
erhalten. Im Gesundheitsausschuss beraten wir zu diesem Zweck derzeit unsere Gesetzentwürfe zum ArzneiDietrich Monstadt
mittelmarkt und zu den GKV-Finanzen. Wir sind auf einem guten Weg.
Gerade in jüngster Zeit hatte ich im Gesundheitsausschuss manchmal den Eindruck, dass die SPD gelegentlich so etwas wie Anerkennung für unsere Anstrengungen erkennen lässt. Herr Kollege Dr. Lauterbach, auf
diesem Weg sollten Sie voranschreiten.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Kollegin Hilde Mattheis für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
legen heute einen Antrag vor, in dem wir einen wichtigen Punkt, der in den kommenden Beratungen sonst
wahrscheinlich untergehen würde, hervorheben.
({0})
Dieser Aspekt ist ein Beispiel dafür, wie Sie das Gesundheitssystem umgestalten wollen. Alle Maßnahmen, die
Sie ergreifen, dienen dem Ziel, die Solidarität aufzuheben und die Individualisierung des Krankheitsrisikos
herbeizuführen.
({1})
So wollen Sie die Interessen einzelner Lobbygruppen
bedienen. Darum geht es Ihnen.
({2})
Die Kostenerstattung wird von nur wenigen Menschen, nämlich von nur etwa 0,2 Prozent der Patienten,
angenommen; das ist richtig. Wir sollten aber auch einmal über die Frage nachdenken, warum nur so selten
Patientenquittungen angefordert werden.
({3})
Patientenquittungen würden Transparenz schaffen. Aber
nur 8 Prozent der Menschen, die zum Arzt gehen, fordern eine Patientenquittung an. Nur 20 Prozent der Menschen wissen überhaupt, dass dies ihr gutes Recht ist.
Wenn es Ihnen tatsächlich um mehr Transparenz ginge,
müssten Sie an genau diesem Punkt ansetzen und eine
Pflicht zur Ausstellung einer Patientenquittung einführen.
({4})
Aber darum geht es Ihnen nicht. Ihnen geht es um die
Hinzuverdienstmöglichkeiten der Ärzte. Meine Fraktion
und ich sagen: Wir möchten nicht, dass in Zukunft vor
immer mehr Arztpraxen Schilder angebracht sind, auf
denen steht: Facharzt, gesetzlich Versicherte nur gegen
Vorkasse. - Das ist mit uns nicht zu machen.
({5})
Wenn Sie sagen, es gehe Ihnen um Konsumentensouveränität, dann muss ich erwidern: Gerade im Gesundheitsbereich kann es keinen Vertrag auf Augenhöhe
geben. Denken Sie sich einfach einmal in das Wartezimmer eines Arztes hinein. Da sitzt der schon ältere Herr,
der Angst hat, dass seine körperlichen Schwächen offenbart werden. Da sitzt eine Frau mittleren Alters mit Vorinformationen von ihren Freundinnen und aus Zeitschriften zu bestimmten Symptomen, die Angst hat, dass sich
eine mit diesen Symptomen verbundene Krankheit bestätigt.
({6})
Da sitzt die junge Mutter, die mit ihrem Kind auf eine
Behandlung wartet und befürchtet, der Arzt könne ihr
womöglich vorhalten, etwas falsch gemacht zu haben.
Glauben Sie denn, dass diese Menschen in das Sprechzimmer hineingehen und ein Gespräch auf Augenhöhe
führen können? Auf gar keinen Fall!
({7})
Es geht uns darum, die Patientenrechte zu stärken
- richtig -, es geht uns darum, das Sachleistungsprinzip
zu stärken - richtig -, und es geht uns darum, dass die
Patientinnen und Patienten und die Ärztinnen und Ärzte
für das Eigentliche Zeit haben, was im Gesundheitswesen so wichtig und richtig ist, nämlich für das Gespräch
miteinander und für die Therapie.
({8})
- Sie sagen: „Mir kommen die Tränen.“ Ich muss Ihnen
sagen: Uns kommen die Tränen, wenn wir sehen, wie
Sie mit diesem hohen Gut in unserer Gesellschaft umgehen.
({9})
Das ist nämlich ein hohes Gut, das die Leute behalten
und bewahren wollen, und das gefährden Sie.
({10})
Deswegen betrachten wir in diesem Antrag einen all
der Bausteine, mit denen genau diese Daseinsvorsorge in
unserem Land ausgehöhlt werden kann, und deswegen
ist es uns so wichtig, dass wir uns heute hier mit diesem
Antrag auseinandersetzen.
({11})
Sie meinen allen Ernstes, dass es Ihnen auch um Einsparungen in unserem System geht und dass diese Einsparungen womöglich an die Patientinnen und Patienten
weitergegeben werden. Das ist an Zynismus nicht zu
überbieten. Sie müssen doch berücksichtigen, dass es
Menschen geben wird, die sich für ein Vierteljahr zur
Vorkasse verpflichtet haben und dann feststellen müssen,
dass sie zum Beispiel für die Behandlung des Grünen
Stars über 300 Euro aus eigener Tasche zahlen müssen,
weil die gesetzliche Krankenversicherung nur 72 Euro
dafür erstattet. Diese Menschen werden sich womöglich
keinen weiteren Arztbesuch in diesem Vierteljahr mehr
erlauben können. Darum wird es nämlich gehen.
({12})
Sie werden dann nicht mehr zum Arzt gehen, weil sie sagen: Ich habe schon 300 Euro bezahlen müssen; ich
kann mir nichts Weiteres leisten.
Ich glaube, Sie sollten auch einmal mit der PKV reden. Ich weiß nicht, ob Sie das in dem Fall - ich sage
nur: in dem Fall - intensiv getan haben.
({13})
Sie überlegt nämlich schon längst, wie sie vom Prinzip
der Kostenerstattung abweichen kann, weil die Kosten
für die PKV steil ansteigen. Das ist der Punkt.
({14})
Ich rate Ihnen auch, einfach einmal mit verschiedenen
Verbänden von Fachärzten zu diskutieren und nachzufragen, ob sie alle das so sehen oder ob es ihnen nicht eher
darum geht, sichere Einnahmen zu erzielen. Oder geht es
Ihnen nur darum, die Funktionäre der Ärzte zu bedienen?
Wir als SPD sagen: Mit uns ist das nicht zu machen.
({15})
Wir wollen eine Stärkung des Sachleistungsprinzips und
Transparenz im System. Deshalb muss es darum gehen,
für mehr Aufklärung zu sorgen, zum Beispiel dadurch,
dass die Menschen Patientenquittungen verlangen.
({16})
Wir wollen keine Aushöhlung unseres Systems, das sich
bewährt hat, weil alle Menschen gleichermaßen Zugang
haben und alle gesetzlich Versicherten - es geht dabei
um 90 Prozent aller Versicherten - die Sicherheit haben,
auch behandelt zu werden und
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
- nicht in einer Dreiklassenmedizin zu landen.
Herzlichen Dank.
({0})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Lothar Riebsamen von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn dieser Antrag, den wir jetzt schon seit
einer Stunde debattieren, überhaupt einen Sinn macht,
dann vielleicht, um als Anschauungsmaterial zu dienen,
wie man Schreckgespenster bzw. Popanze aufbaut.
({0})
Der Antrag ist absurd. Er zeigt, dass Sie nicht verstanden
haben, um was es geht, oder - das ist eigentlich noch
schlimmer - dass Sie gar nicht wissen wollen, um was es
geht.
Es geht schlicht und ergreifend um nicht weniger als
das Wahlrecht der Patienten,
({1})
ob sie eine Kostenerstattung wollen oder nicht. In verschiedenen Redebeiträgen heute Morgen wurde schon
ausgeführt, dass Sie mit dabei waren, als wir dieses
Wahlrecht 2003 eingeführt haben; aber die Patienten haben diese Möglichkeit in der Vergangenheit zu wenig genutzt.
({2})
Wir gestalten dieses Wahlrecht jetzt attraktiv. Wahlrecht
ist Patientenrecht.
({3})
Wenn Sie dies nicht anerkennen, dann enthalten Sie dem
Patienten ein Recht vor. Um es auf den Punkt zu bringen: Sie torpedieren ein Patientenrecht.
Ihr Antrag setzt voraus, dass wir Vorkasse wollen. Es
wurde aber schon mehrfach ausgeführt, dass es überhaupt nicht um Vorkasse geht. Das ist der Popanz. Wir
haben noch nicht einmal in der privaten Krankenversicherung eine Vorkasse. Zunächst kommt die Leistung,
dann die Bezahlung. Die Möglichkeit der Bezahlung hat
man, wenn das Geld von der Krankenkasse eingegangen
ist. Es gibt also keine Vorkasse.
Dann weisen Sie auf den Informationsvorsprung hin
- da haben Sie durchaus recht -, den die Ärzte bzw.
Leistungserbringer gegenüber den Patienten haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lauterbach?
Bitte schön.
Vielen Dank. - Noch einmal ganz konkret: Ich vermisse nach wie vor eine Antwort auf die Frage, wie Sie
verhindern wollen, dass beispielsweise ein älterer
Mensch, der Rückenschmerzen hat und zum Orthopäden
möchte - um noch einmal das Beispiel aufzugreifen, das
ich selbst gebracht habe - und wenig Geld hat, auf die
Frage, ob es einen Termin gibt, von dem Orthopäden mit
der Antwort konfrontiert wird: „Sind Sie in der Lage,
sind Sie willig, Vorkasse zu zahlen?“. Wie wollen Sie
sicherstellen, dass so etwas in der Praxis nicht vorkommt? Was sagen Sie einem solchen Menschen, wenn
der Orthopäde schlicht sagt: „Ich behandle bevorzugt gegen Vorkasse“? Das ist ja nach Rechtslage, wenn ich das
richtig verstehe, erlaubt.
({0})
Ich sage diesem Patienten: Gehen Sie zu Ihrer Krankenkasse und beschweren Sie sich;
({0})
denn genau das ist nicht erlaubt. - Das war in der Vergangenheit nicht erlaubt und wird es auch in Zukunft
nicht sein.
({1})
Auch das ist ein Popanz, den Sie permanent aufbauen.
Das entspricht schlicht und ergreifend nicht den Tatsachen.
({2})
Wenn Sie jetzt über den Ärztemangel diskutieren wollen,
müssen Sie einen anderen Antrag schreiben; darum geht
es heute nicht.
Schauen Sie sich dieses Wahlrecht an. Es beinhaltet,
dass die Patienten zukünftig die Möglichkeit haben, nicht
nur über alles hinweg ein Wahlrecht auszuüben, sondern
auch, auszuwählen: Will ich dieses Wahlrecht nur beim
Zahnarzt, oder will ich es auch beim Hausarzt? - All
diese Möglichkeiten gibt es sozusagen á la carte und flexibel. Als weitere Verbesserung ist vorgesehen, die Bindungsfrist von einem Jahr auf drei Monate zu verkürzen.
Damit kann der Patient erst einmal ausprobieren, ob das
Modell gut für ihn ist.
Des Weiteren werden künftig nicht mehr zwangsweise 10 Prozent Verwaltungskosten abgezogen. Den
Krankenkassen wird stattdessen die Möglichkeit geboten, nur 5 Prozent abzuziehen. Auch dies ist eine Kannbestimmung.
Wir alle nehmen an vielen Diskussionen bzw. Podiumsdiskussionen teil oder halten Vorträge. Wir sagen
den Menschen - so weit sind wir uns meistens einig -,
dass das Gesundheitswesen in Deutschland aufgrund der
demografischen Entwicklung und des medizinischen
Fortschritts teurer werden wird. Wenn wir die Maßnahmen schildern, wie wir dem begegnen wollen, gehen die
Meinungen schon etwas auseinander. Die Besucher dieser Veranstaltungen stellen sich dann die Frage, was sie
persönlich tun können, um dem zu begegnen. Darauf
möchten wir mit dem Wahlrecht eine Antwort geben.
({3})
Sie trauen den Patienten nichts zu. Herr
Dr. Lauterbach hat von Verdummung gesprochen. Sie
verdummen doch die Patienten, indem Sie ihnen nichts
zutrauen. Sie haben in dieser Frage, und nicht nur darin,
schlicht und ergreifend ein anderes Menschenbild als
wir.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Schaaf?
({0})
Herr Kollege, es ist, wie üblich, eine unverschämte
Behauptung, zu sagen, ich hätte die Debatte nicht verfolgt. Ich habe nämlich die ganze Zeit vor dem Fernsehgerät zugehört. Ich habe mich dann beeilt, hierherzukommen, um eine Frage zu stellen, die weder von der
FDP noch von der Union beantwortet worden ist.
Die untauglichen Versuche, uns allein das Thema
Vorkasse aus der Vergangenheit zuzuschieben, blendet
aus, dass Sie über den Bundesrat immer beteiligt waren.
Aber lassen wir das beiseite.
Das einzige Argument, das die Regierungskoalition
zugunsten des Vorkassenprinzips vorgebracht hat, war
die Transparenz.
({0})
Dafür hätte man die Debatte über die obligatorische Patientenquittung weiterführen können; aber das ist auf der
rechten Seite des Hauses auf massive Verweigerung gestoßen. Versuchen Sie bitte, mir zu erklären, welchen
Vorteil der Patient von dem Vorkassenprinzip hat, wenn
man von der Transparenz absieht, die kein taugliches Argument ist. Sie haben das Hohelied auf die Ärzteschaft
gesungen, die keine Unterschiede in der Behandlung
macht: Ob man Vorkasse wählt oder nicht, die Ärzte behandeln alle gleich. - Welchen Vorteil hat der Patient
von diesem Prinzip?
({1})
Ich habe das bereits ausgeführt. Wahrscheinlich haben Sie nicht richtig zugehört. Die Kostenerstattung
wird dazu führen, dass Patient und Arzt mehr miteinander über die Therapie reden müssen, als es in der Vergangenheit der Fall war.
({0})
Wenn in der Vergangenheit die Tabletten nicht angeschlagen haben, dann hat die Patientin oder der Patient
sie einfach weggeschmissen. In Zukunft wird sie oder er
den Arzt aufsuchen
({1})
und ihm sagen, dass die Therapie nicht funktioniert und
eine andere Möglichkeit gefunden werden muss.
({2})
Wir werden nicht nur mehr Transparenz schaffen, sondern auch dazu beitragen, dass sich Patient und Arzt auf
gleicher Augenhöhe begegnen. Das ist der entscheidende Punkt des Wahlrechts.
({3})
Ich war bei unserem Verhalten in Diskussionen und
der Frage stehengeblieben, ob wir den Patienten etwas
zutrauen. Wenn der Patient Sie in einer solchen Diskussion fragt, was er tun könne, dann sagen Sie, dass er
nichts tun kann und es lieber Vater Staat überlassen soll,
der schon immer alles geregelt hat. Das nehmen uns die
Bürgerinnen und Bürger nicht mehr ab. Sie wollen wissen, worum es geht und wie viel sie für was bezahlen
müssen.
({4})
Sie wollen mehr Transparenz.
Im Übrigen sind - das räume ich gerne ein - Sachleistungen nicht unbedingt ein Gegensatz zu dem Vorhaben,
das wir in Angriff nehmen. Was die Sachleistungen angeht, ist bei den Krankenkassen durchaus Fachkompetenz vorhanden. Die Krankenkassen achten auf Wirtschaftlichkeit; das wird gar nicht in Zweifel gezogen.
Auch medizinische Evidenz ist bei den Kassen vorhanden. Aber sie geben bisher keine Antworten, was die
Transparenz und den mündigen Bürger angeht. Deswegen wollen wir das System weiterentwickeln. Das Totschlagargument gegen die Vorauskasse trifft nicht zu. Es
hilft nicht weiter.
Wir wollen den Weg der Wahlmöglichkeit weitergehen. Wir wollen ein besseres Verständnis der Patienten
für das gesamte System mit dieser Maßnahme erwirken.
Ihren Antrag braucht niemand, weder die Krankenkassen noch die Ärzte und erst recht nicht die Patienten. Die
Wege, die Sie aufzeigen, sind nichts anderes als
Schreckgespenster. Wir werden den Weg der Transparenz konsequent weitergehen. Wir werden auch in Zukunft Lobbyisten für die Patientinnen und Patienten sein.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3427 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 29 sowie Zusatzpunkt 8 auf:
29 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen
und zur Änderung des Zweiten und Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 17/3404 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz
Kuhn, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Menschenwürdiges Dasein und Teilhabe für
alle gewährleisten
- Drucksache 17/3435 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Karl Schiewerling von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Koalitionsfraktionen
von Union und FDP bringen heute den Entwurf eines
Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in die Beratungen des Deutschen Bundestages ein.
Hinter diesem Titel, der etwas sperrig klingt, verbergen
sich sehr viele komplizierte Fragen. Als im Dezember
2004 SPD und Grüne, die damals die Mehrheit im BunKarl Schiewerling
destag hatten, sowie Union und FDP, die damals die
Mehrheit im Bundesrat hatten, im Vermittlungsausschuss das SGB II auf den Weg gebracht haben,
({0})
hat wohl niemand geahnt, wie komplex dieses Sozialgesetzbuch werden wird und dass man sich im Laufe der
Jahre permanent mit Veränderungen und Neuerungen
auseinanderzusetzen haben wird. Im Sozialgesetzbuch
werden die Arbeitsmarktpolitik, die Sozialpolitik, die
Familiensituation und die Bildungssituation - erst recht
nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
9. Februar dieses Jahres - zusammengeführt. An der
Ausführung sind Bund, Länder und Kommunen beteiligt. Das macht nicht nur die Komplexität des Gesetzes
aus, sondern bereitet auch beim Vollzug Schwierigkeiten.
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Urteile gefällt und dem Gesetzgeber gesagt, dass Korrekturbedarf
besteht. Das erste Urteil betraf die Organisation. Diese
haben wir, Union, FDP, SPD und Grüne, im Sommer
dieses Jahres gemeinsam in Ordnung gebracht. Das
zweite Urteil vom 9. Februar besagt, dass die Bedarfssätze sowohl für die Erwachsenen als auch für die Kinder transparent und nachvollziehbar ermittelt werden
müssen. Es wurde keine Kritik an der Methode und der
Höhe der Bedarfssätze geäußert. Es wurde die Forderung erhoben, die Bedarfe genau zu ermitteln, und zwar
für Erwachsene und Kinder getrennt. Des Weiteren hat
das Bundesverfassungsgericht als maßgeblich mitgeteilt:
Ihr müsst sehen, dass die Kinder, die im Leistungsbezug
des SGB II sind, eine Perspektive bekommen. Ihr müsst
außerdem jedem individuelle Hilfe zukommen lassen. Das sind die Rahmenbedingungen, unter denen der vorliegende Gesetzentwurf erarbeitet wurde und mit denen
wir uns zu befassen haben. Damit treten wir in die
zweite Phase der Runderneuerung des Zweiten Buches
Sozialgesetzbuch ein. Die dritte Phase wird im Frühjahr
kommenden Jahres anstehen, wenn wir uns um die arbeitsmarktpolitischen Instrumente kümmern.
Es geht darum, Hilfen aus einer Hand zu geben; das
ist die Intention. Das haben wir organisatorisch sichergestellt. Es geht aber auch darum, alles zu tun, dass Menschen wieder in Beschäftigung kommen. Das Zweite
Buch Sozialgesetzbuch beinhaltet zunächst nichts anderes als eine Grundsicherung, hat aber zum Ziel, Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen. Diese Rahmenbedingungen müssen wir wahren.
({1})
Der vorliegende Gesetzentwurf greift das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts auf; aber wir gehen über das,
was uns darin aufgetragen wurde, noch hinaus. Wir haben Regelsätze vorgelegt, die transparent, nachvollziehbar und realitätsgerecht ermittelt wurden.
({2})
Wir haben erstmals auch eigene Regelsätze für die Kinder ermittelt, und wir haben etwas getan, für das ich der
Bundesarbeitsministerin - das möchte ich heute schon
zu Beginn der Beratungen sehr deutlich sagen - außerordentlich dankbar bin. Sie hat das Urteil des Verfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010 nicht als Belastung angesehen, sondern beschreitet mit vollem Herzen neue
Wege, um Kindern, die sich in diesem Leistungsbezug
befinden, eine Perspektive für Bildung und Teilhabe an
unserer Gesellschaft zu ermöglichen.
({3})
Damit wird ein Zeichen gesetzt, das im Zusammenhang
mit dem Sozialgesetzbuch II zwingend notwendig ist:
Wir investieren mit diesem Paket - in Höhe von immerhin 700 Millionen Euro - in die Zukunft dieser Kinder
und damit auch in die Zukunft unserer Gesellschaft.
Die Grundprinzipien des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch bleiben unverändert. Es geht um Fordern und
Fördern; es geht um den Grundsatz: keine Leistung ohne
Gegenleistung. Wir wissen auch, dass mit der Verabschiedung dieses Gesetzes eine besondere Herausforderung für die Jobcenter entsteht; denn sie werden mit
neuen Aufgaben konfrontiert, die nicht unbedingt zum
Erfahrungsschatz eines Berufsvermittlers gehören. Ich
bin aber sicher, dass die Jobcenter - so gut, wie sie in
den letzten Jahren ihre Aufgaben wahrgenommen haben sich auch dieser neuen Aufgabe erfolgreich stellen werden. Ich bin auch sicher, dass die Kommunen froh sein
werden, dass sie hierdurch im Laufe der nächsten Jahre
neue Handlungsmöglichkeiten erhalten.
Meine Damen und Herren, im Mittelpunkt bleibt: Jeder muss zunächst einmal tun, was er kann. Wir haben
6,5 Millionen Menschen, die sich im Leistungsbezug der
Grundsicherung für Arbeitsuchende befinden. Das ist
aber beileibe kein monolithischer Block. Die Menschen
befinden sich in höchst unterschiedlichen Lebenssituationen und bringen höchst unterschiedliche Lebensperspektiven mit. Deswegen müssen wir ihnen auch individuell und möglichst passgenau helfen. Dem dient dieses
Gesetz; dem dient das Handeln der Koalitionsfraktionen
und der Bundesregierung. Aber es bleibt der Grundsatz:
Jeder muss zunächst einmal tun, was er kann. Jeder muss
sich anstrengen. Dann hat er auch ein Recht auf Hilfe
und Unterstützung. - Von diesem Grundsatz dürfen wir
auch vor dem Hintergrund unseres Menschenbildes nie
abweichen.
({4})
Zu Beginn der parlamentarischen Beratungen möchte
ich ausdrücklich SPD und Grüne, die mit uns gemeinsam das Sozialgesetzbuch II mit den Strukturen, die jetzt
verändert werden müssen, auf den Weg gebracht haben,
herzlich dazu einladen, in den nächsten Wochen auf diesem Weg konstruktiv mitzuarbeiten, damit wir uns gemeinsam den Aufgaben für die Zukunft dieser Menschen
stellen können.
Was mich hoffnungsfroh stimmt, ist die Wirtschaftsentwicklung und damit die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt. Menschen brauchen Arbeit auf dem ersten
Arbeitsmarkt; ich denke, das ist das eigentliche Ziel. Wir
müssen ihnen helfen. Keiner kann nichts, keiner kann alles, jeder hat Begabungen und Fähigkeiten - wir brauchen jeden für unsere Gesellschaft.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Der
Gesetzentwurf, der uns hier vorliegt, ist mehr Schein als
Sein. Um was geht es tatsächlich? Sie haben Regelsätze
ermittelt, die eher den Anschein haben, dass es Regelsätze nach Kassenlage sind, als dass sie in einem transparenten, nachvollziehbaren und vor allen Dingen realitätsgerechten Verfahren ermittelt worden sind. Sie haben
ein Bildungspäckchen statt eines Bildungspaketes geschnürt, und Sie streichen derzeit im Rahmen der Haushaltsberatungen die Mittel der aktiven Arbeitsmarktpolitik rigoros zusammen. - Wenn Herr Schiewerling sich
jetzt hierhin stellt und sagt, wir müssten etwas tun, damit
die Menschen in Arbeit kommen und gar nicht erst auf
Transferleistungen angewiesen sind, frage ich mich, wie
das überhaupt zusammenpasst. - Außerdem erhöhen Sie
die Zahl derer, die hilfebedürftig werden, indem Sie die
Zuverdienstgrenzen anheben und sich gleichzeitig der
Einführung von flächendeckenden Mindestlöhnen verweigern. Das ist Ihre Politik.
({0})
Ich finde, man darf sich nicht hierhin stellen und mit
einer Scheingenauigkeit - sie versuchen auch noch, ihre
Angaben mit Tabellen zu belegen, in denen zugegebenermaßen ein paar valide Zahlen stehen; was die Kinderregelsätze angeht, wimmeln diese Tabellen nur so von
Strichen und Klammern - verkünden: Das ist alles transparent und nachvollziehbar. Ich wiederhole: Sie liefern
hier eine Scheingenauigkeit ab und nichts, was transparent und nachvollziehbar ist. Ich will Ihnen das an ein
paar Beispielen deutlich machen.
Zur Ermittlung der Regelsätze reduzieren Sie bei den
Einpersonenhaushalten die Referenzgruppe willkürlich
auf 15 Prozent; bisher umfasste sie 20 Prozent. In der
Referenzgruppe belassen Sie Menschen, die aufstockende Leistungen beziehen, auch wenn sie nur ganz gering sind. Das hat zum Ergebnis, dass diejenigen, die arbeiten und nicht genug Geld haben, um mit ihrem
Arbeitseinkommen über die Runden zu kommen, am
Ende möglicherweise weniger als das Existenzminimum
übrig haben, weil natürlich auch Aufwendungen für ihre
Erwerbstätigkeit anfallen. Bei den Familienhaushalten
mit einem Kind nehmen Sie ohne Begründung 20 Prozent als Referenzgruppe. Was ist daran transparent und
nachvollziehbar?
Frau von der Leyen - Sie haben noch ein bisschen Zeit,
bis Sie ans Rednerpult treten -, schauen Sie sich einmal
die Seiten 145 und 146 Ihres Gesetzentwurfs an - da zeigt
sich wieder, dass man irgendwo in Ihrem Ministerium die
Grundrechenarten nicht beherrscht -: Dort wird anstelle
eines Minuszeichens ein Pluszeichen verwendet. Sie weisen 20 Prozent aus, obwohl es nur um 15 Prozent geht.
Das ist keine saubere Arbeit. Schon der Referentenentwurf war das nicht. Das macht das Ganze nicht nachvollziehbarer.
({1})
Darüber hinaus rechnen Sie in kleinlichster Weise
Ausgabepositionen heraus, um den Hartz-IV-Regelsatz
um 5 Euro - das war ja die Grenze, die man Ihnen offenkundig gesetzt hat - erhöhen zu können. Ich möchte
noch einmal das Beispiel der 67 Cent für die chemische
Reinigung heranziehen. Dabei geht es nicht nur um die
Regelsätze für Erwerbsfähige, sondern auch um die Regelsätze für diejenigen, die eine Grundsicherung beziehen. Es geht also auch um den Regelsatz der Rentnerin,
die eine Minirente hat und ergänzend Grundsicherung
erhält. Nennen Sie mir bitte einmal eine Rentnerin, die
einen Wintermantel hat, der nicht in die chemische Reinigung muss. Wenn sie dafür nur 67 Cent monatlich bekommt, muss sie anderthalb Jahre ansparen. Was Sie
vorhaben, ist kleinlich und zeigt, wohin die Reise geht:
Ihnen ging es darum, die Höhe der Regelsätze an der
Kassenlage auszurichten, und nicht um eine realitätsgerechte Bemessung.
({2})
Ein weiterer Punkt sind die Kinderregelsätze. Wenn
man sich einmal anschaut, wie viel bei der Berechnung
dieser Regelsätze auf validen Daten beruht, dann kann
einem nur schwindelig werden. Ich kann Sie nur auffordern - wir werden das auch im parlamentarischen Verfahren verlangen -, hier einen Plausibilitätscheck durchzuführen. Was die Berechnung der Regelsätze für die
Null- bis Sechsjährigen angeht, beruhen gerade einmal
zwei Drittel dieser Regelsätze auf validen Daten, also
auf der Untersuchung von mehr als 100 Haushalten. Was
die Berechnung der Regelsätze für die 14- bis 18-Jährigen angeht, beruhen noch nicht einmal mehr 50 Prozent
auf validen Daten. Man schaue sich das Ganze an einzelnen Positionen an. Beispielsweise werden für Kinder
von 14 bis 18 Jahren für Schuhe im Jahr weniger als
70 Euro zur Verfügung gestellt. Wer Kinder in diesem
Alter hat, weiß, was für Schuhe ausgegeben wird. Auch
hier stimmt die Berechnung hinten und vorne nicht.
Das Bildungspaket ist ein Bildungspäckchen. Wir erwarten da mehr. Wir erwarten beispielsweise, dass nicht
nur die Kinder, deren Eltern im SGB-II-Bezug sind oder
für die ein Kinderzuschlag gezahlt wird, davon profitieren. Wir wollen, dass auch die Niedrigverdiener davon
profitieren. Wir wollen, dass etwa Mittel für die Teilhabe
in Vereinen usw. nicht auf Kinder bis zum 18. Lebensjahr beschränkt sind. Was macht das denn für einen
Sinn? Soll ein Mädchen, das Leistungsträgerin in ihrem
Fußballverein ist, oder ein Junge, der gut Klavier spielt,
das Ganze sein lassen, nur weil das Alter von 18 Jahren
erreicht worden ist?
Auch beim Thema Mindestlohn haben wir Gesprächsbedarf. Es kann eben nicht sein - das hat auch
das Verfassungsgericht deutlich gesagt -, dass der Maßstab das niedrigste Einkommen ist und dass darunter das
Existenzminimum liegen muss. Der Maßstab ist das
Existenzminimum. Das Existenzminimum plus X ergibt
den Lohn, den jemand verdienen muss, damit er oder sie
am Ende des Monats davon leben kann, ohne auf Sozialleistungen angewiesen zu sein.
({3})
Ich will zu dem Gesprächsangebot nur so viel sagen:
Frau Merkel ist das Thema offensichtlich nicht wichtig
genug, als dass sie sich mit an den Tisch setzt. Gespräche machen nur Sinn, wenn wir auch Signale bekommen, dass Sie sich in unsere Richtung bewegen. Eine
Schauveranstaltung, bei der wir alle nett an einem Tisch
sitzen und schöne Fernsehbilder produzieren, aber in der
Sache nichts weiter bewegt wird, macht keinen Sinn.
Dann ist ein reguläres Verfahren eher angesagt, und zwar
ein reguläreres Verfahren als das, das wir gestern bei den
Gesetzen zur Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke
erlebt haben.
Schönen Dank.
({4})
Das Wort hat Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Ferner, ich möchte Sie doch einmal daran erinnern - Sie haben mit vielen Worten Kritik am vorliegenden Gesetzentwurf geübt -, dass das Bundesverfassungsgericht Ihre Gesetzgebung kritisiert hat
({0})
und aufgrund Ihrer Gesetzgebung diese Regierungskoalition aufgefordert hat, einen transparenten und nachvollziehbaren Gesetzentwurf vorzulegen.
({1})
- Frau Ferner, ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern,
was der Kollege Markus Kurth von Bündnis 90/Die Grünen in der vergangenen Ausschusssitzung gesagt hat. Er
hat gesagt, dass er zugeben müsse, dass sich diese Regierungskoalition bei der Bemessung der Regelsätze mehr
Mühe gegeben habe als die damalige rot-grüne Bundesregierung bei der Einführung der Hartz-IV-Regelsätze.
({2})
Dieser Aussage des Kollegen Markus Kurth stimme ich
ausdrücklich zu.
Ich möchte auch noch einmal daran erinnern, dass das
Bundesverfassungsgericht nicht die Höhe der Regelsätze
kritisiert hat,
({3})
sondern deren Herleitung, und eine transparente Herleitung gefordert hat. Wir haben einen transparenten Entwurf vorgelegt;
({4})
er ist so transparent, wie es ein Entwurf zu Ihren Zeiten
niemals gewesen ist. Wir scheuen uns auch nicht, die
politischen Wertentscheidungen zu treffen, zu denen uns
das Bundesverfassungsgericht explizit aufgefordert hat,
denen Sie sich verweigert haben. Wir sagen eindeutig,
dass Tabak und Alkohol nicht zum Grundregelbedarf,
nicht zum Existenzminimum gehören,
({5})
und scheuen uns auch nicht, dies den Menschen deutlich
zu sagen. Genauso wenig gehören nach unserer Ansicht
motorbetriebene Gartengeräte dazu.
({6})
Im vorliegenden Gesetzentwurf wird aber eine weitere
Priorität dieser Regierungskoalition deutlich. Uns geht
es darum, die Menschen zu ertüchtigen und zu befähigen, sich mit unserer Hilfe aus der Arbeitslosigkeit zu
befreien oder gar nicht erst in die Arbeitslosigkeit zu geraten.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen,
dass es in diesem Sozialstaat so etwas wie sich vererbende Sozialhilfebiografien gibt, ist eine Entwicklung,
die uns alle nicht ruhen lassen darf und die diese Regierungskoalition nicht hat ruhen lassen. Wir haben einen
ersten Schritt in die richtige Richtung getan.
({8})
Wir haben den Kindern, deren Eltern Langzeitarbeitsuchende sind, ein Bildungspaket zur Verfügung gestellt.
Wir investieren in die Bildung dieser Kinder, damit sich
Langzeitarbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit generell
nicht vererbt und damit auch diesen Kindern der Einstieg
ins Berufsleben gelingt.
({9})
Wir vergessen auch nicht die Kinder, deren Eltern von
kleineren Einkommen leben. Wer den Kinderzuschlag
erhält, profitiert ebenfalls von den Leistungen des Bildungspakets. Hier wird sehr deutlich, was wir möchten:
Wir wollen Chancen für alle Kinder in dieser Gesellschaft.
({10})
In Zukunft werden Kinder dort, wo es ein gemeinsames Schulmittagessen gibt, daran teilnehmen können.
({11})
Sie werden am kulturellen und sportlichen Leben teilhaben können, und sie werden die Möglichkeit haben, bei
eintägigen Klassenfahrten mitzufahren. Wir werden erstmals sicherstellen, dass die Leistungen direkt bei den
Schwächsten in unserer Gesellschaft, bei den Kindern,
ankommen. Wir werden diesen Sozialstaat treffsicher
gestalten.
({12})
Das ist im Interesse beider Seiten: derjenigen, die den
Sozialstaat finanzieren und die Leistungen erwirtschaften,
({13})
aber auch derjenigen, die auf die Leistungen dieses Sozialstaats angewiesen sind.
Ziel der Sozialpolitik der christlich-liberalen Koalition ist es, mehr Menschen in Beschäftigung zu halten
und zu bringen. Ziel unserer Sozialpolitik ist es, die
Menschen zur Teilhabe an der Gesellschaft zu befähigen. Ziel ist es, den Menschen Brücken aus der Abhängigkeit von den sozialen Unterstützungssystemen zu
bauen.
({14})
Nicht nur die aktuellen Arbeitsmarktzahlen zeigen hier
die erfolgreiche Arbeit unserer Politik.
Liebe Frau Ferner, Sie haben die Erhöhung der Zuverdienstgrenzen kritisiert. Folgendes wurde nicht von
der christlich-liberalen Koalition, sondern von der Bundesagentur für Arbeit, die uns den Zusammenhang deutlich gemacht hat, festgestellt: Wem es gelingt, 800 Euro
zu verdienen, dem gelingt binnen zwei Jahren zu
90 Prozent der Sprung in die voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
({15})
Diesen Zusammenhang müssen wir sehen. Deshalb
haben wir uns vorgenommen, die Zuverdienstgrenzen
jetzt in einem ersten Schritt und 2012 in einem zweiten
Schritt zu erhöhen.
({16})
Das ist ein Zeichen sozialer Arbeitsmarktpolitik, wie wir
sie verstehen. Wir müssen für die Menschen Brücken in
die Beschäftigung bauen.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat nun Kollegin Katja Kipping für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal vermittelt Schwarz-Gelb den Eindruck, dass man
das Land mit sozialen Wohltaten überschüttet, nur weil
im Haushalt das Bildungspaket und die läppische 5-EuroErhöhung der Hartz-IV-Regelsätze eingeplant werden.
Man muss klar festhalten: Das ist ein falscher Eindruck,
und das ist eine verkehrte Darstellung. Denn tatsächlich
kürzen Sie im Zusammenhang mit Ihrem Bildungspaket
vor allen Dingen bei den Ärmsten. Ich möchte das einmal ins Verhältnis setzen: Das Fünffache der Summe,
die für das Bildungspaket und die läppische Erhöhung
eingeplant ist, wird im Bereich Hartz IV gekürzt. Das
heißt im Klartext: Sie kürzen bei den Ärmsten.
Ich möchte das einmal bildhaft ausdrücken: Wenn
man eine Klimaanlage auf minus 5 Grad Celsius einstellt
und danach großzügig um ein Grad nach oben reguliert,
dann ändert diese großzügige Regulierung um ein Grad
nach oben nichts daran, dass immer noch minus 4 Grad
Celsius und somit Frosttemperaturen herrschen. Unter
dem Strich bleibt zu sagen: Schwarz-Gelb fördert die soziale Kälte in diesem Land.
({0})
Hinzu kommt: Im Windschatten der Neuberechnungen bringen Sie jede Menge Verschlechterungen ein. Um
nur eine von vielen zu benennen: Bisher musste vor der
Verhängung von Sanktionen eine Rechtsbehelfsbelehrung erfolgen. Das ist nun nicht mehr nötig. Jetzt kann
man einfach darauf verweisen, dass es irgendwo in einem der langen Flure des Jobcenters einen Aushang
dazu gibt. Willkürlichen Kürzungen sind hier also Tür
und Tor geöffnet. Die Linke sagt dazu ganz klar: Solche
Willkür ist mit unserem Verständnis von einem Rechtsstaat nicht zu vereinbaren.
({1})
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts war eindeutig. Das Grundrecht auf gesellschaftliche Teilhabe
für Bedürftige ist zu garantieren. Im Zuge dessen müssen die Hartz-IV-Regelsätze neu und nachvollziehbar
berechnet werden.
({2})
Wie aber geht Schwarz-Gelb mit einem solchen Urteil
um? Sie rechnen so lange herum, bis eine läppische Erhöhung von 5 Euro herauskommt. Wir sagen: Ein Regelsatz, der ohne Tricks berechnet worden ist, und ein Regelsatz, der sowohl gesunde Ernährung als auch den
Kauf eines Monatstickets ermöglicht, fällt deutlich höher aus.
({3})
- Wir hatten schon vorher nachgerechnet.
Die Linke berät sich gegenwärtig mit Fachleuten, Sozialverbänden und Betroffenen. Wir werden in den
nächsten Wochen eine Übersicht veröffentlichen, in der
dargestellt wird, wie hoch der Regelsatz ohne Ihre Tricks
ausfallen würde. Um nur einen Rechentrick zu erläutern:
Das Bundesverfassungsgericht hat uns den Auftrag gegeben, die verdeckt Armen herauszurechnen. Zur Erläuterung: Die verdeckt Armen sind diejenigen, die eigentlich Anspruch auf Sozialleistungen hätten, diese aus
Scham oder Unwissenheit aber nicht in Anspruch nehmen. Diese Herausrechnung ist nicht erfolgt. SchwarzGelb hat die verdeckt Armen nicht herausgerechnet.
Wir von der Linken und die gesamte Opposition haben im Ausschuss gemeinsam gefordert, dass eine entsprechende Berechnung in Auftrag gegeben wird. Es
ging dabei nur um eine Berechnung. Es ging noch nicht
einmal um die Festlegung auf eine Zahl. Doch wie geht
Schwarz-Gelb damit um? Sie blockieren es. In Mafiamanier verhindern Sie Transparenz. Ich sage Ihnen: Das
wird Ihnen noch leidtun. Die Art und Weise, wie Sie alternative Berechnungen verhindert haben, wird Ihnen
spätestens dann leidtun, wenn es zu einer Klage in Karlsruhe kommt.
({4})
Die Krönung war im Übrigen Ihre Begründung. Da
hieß es von Schwarz-Gelb ganz wunderbar: Wir vertrauen der Regierung vollkommen. - Es ist entlarvend,
wenn CDU/CSU und FDP meinen, parlamentarisches
Agieren beschränkt sich darauf, die Vorlagen der Bundesregierung abzunicken. Dann kann man hier in Zukunft auch einfach Abnickdackel hinsetzen. Damit würden wir einiges an Diäten einsparen.
({5})
Die nächste Sauerei ist, dass Sie gesagt haben: Es gibt
doch kaum verdeckt Arme in der Referenzgruppe. Wenn Sie sich da so sicher sind, hätten Sie es doch ausrechnen lassen können. Sie hätten uns doch beweisen
können, dass ich mich irre. Mir liegen nämlich andere
Untersuchungen vor. Mir liegen Untersuchungen vor,
wonach es in diesem Land fast 6 Millionen verdeckt
Arme gibt. Aber schon allein was das anbelangt, scheuen
Sie eine seriöse Berechnung.
({6})
Ein weiterer Rechentrick ist, dass Sie bei den Abschlägen immer so tun, als ob es nur um Zigaretten und
Alkohol ginge. Es sind schon andere Berechnungen genannt worden.
Ich möchte zusammenfassen. Tatsache ist, dass
30 Prozent aller Ausgaben der ärmsten Haushalte als
nicht regelsatzrelevant gelten. Das ist Behördendeutsch
und meint, sie werden auf den Regelsatz nicht anerkannt; sie werden sozusagen abgezogen. Unter der Überschrift „Schnittblumen“ befindet sich auch die Position
„Ausgaben für den Weihnachtsbaum“. Im Klartext:
Diese Partei, die ein C im Namen trägt, meint: Wer auf
Hartz IV angewiesen ist, der hat nicht das Recht darauf,
sich einen Weihnachtsbaum zu leisten. Da sage ich:
Fröhliche Weihnachtszeit!
({7})
Ein weiterer Mythos, den Sie hier so schön pflegen,
lautet, der Regelsatz sei von den kleinen Einkommen abgeleitet. Danach wird über die Friseurin und die Verkäuferin geredet, und es wird der Eindruck erweckt, hier
gehe es um die Einkommen der Verkäuferinnen, von denen das abgeleitet ist. Tatsache ist - das haben wir von
der Regierung schwarz auf weiß bekommen -: In der
Referenzgruppe - „Referenzgruppe“ meint die Haushalte, deren Ausgaben bei der Berechnung des Regelsatzes herangezogen worden sind - sind gerade einmal
20 Prozent Erwerbstätige. Der Rest sind Rentner mit
niedrigen Einkommen, Studierende und Arbeitslose.
Also gerade einmal jeder Fünfte in dieser Referenzgruppe ist überhaupt ein Beschäftigter. Das beweist
doch, dass es hier Zirkelschlüsse nach unten gibt. Sie
missbrauchen die geringen Renten, die geringen Einkommen von Studierenden und die Armut von Arbeitslosen, um den Regelsatz so niedrig wie möglich zu halten. Das ist eine Sauerei!
({8})
- Lassen Sie sich, wenn Sie sich schon über das Wort
„Sauerei“ beschweren, Folgendes sagen: Es gibt Leute,
die mit dieser Sauerei leben müssen. Das finde ich viel
schlimmer, als sich dieses Wort anhören zu müssen.
({9})
Schwarz-Gelb hat im Bundestag eine Mehrheit. Die
Regierung kann sich darauf verlassen - das haben wir im
Ausschuss erlebt -, dass die Koalitionsfraktionen fleißig
abnicken. Spätestens im Bundesrat wird es komplizierter. Dort haben Sie nämlich keine Mehrheit, und der
Zeitplan ist relativ eng.
Nun stellt sich die Frage, wie man damit umgeht.
Man kann es auf einen Crash ankommen lassen und in
Kauf nehmen, dass danach heilloses Chaos herrscht. Ich
glaube, verantwortungsvolles Handeln über alle politischen Differenzen hinweg sieht so nicht aus. Deswegen
schlägt die Linke in diesem Zusammenhang vor: Hören
wir auf mit irgendwelchen Deals und Verabredungen,
die in Hinterzimmern stattfinden, leiten Sie hier - das
wäre mein Vorschlag an Sie, Frau von der Leyen - eine
öffentliche, eine transparente Schlichtung ein! Stuttgart 21 macht es vor. Es ist möglich, dass man Betroffene, dass man alle beteiligten Parteien an einen Tisch
holt, um sich zu verständigen, wie ein gesellschaftlich
akzeptiertes soziokulturelles Existenzminimum aussehen
soll. Eine solche Beratung müsste natürlich im Internet
und im Fernsehen übertragen werden. Daran müssten
nicht nur die Parteien, sondern auch Sozialverbände und
Betroffeneninitiativen beteiligt werden.
Wir meinen, das unwürdige Schauspiel, das bei der
Einführung von Hartz IV stattgefunden hat - in geheimen Verhandlungen sind in letzter Minute gravierende
Veränderungen vorgenommen worden; Sie haben hinterher in Karlsruhe mehrmals Ohrfeigen bekommen -, darf
sich nicht wiederholen, wenn es um die soziale
Grundabsicherung und den sozialen Frieden geht. Da
muss Schluss sein mit Hinterzimmermauscheleien!
Besten Dank.
({10})
Liebe Kollegin, nur eine kleine persönliche Bemerkung: Die ständige Wiederholung eines bestimmten
Wortes muss nicht immer dessen Bedeutungsgehalt verdichten.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Fritz Kuhn für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jetzt haben Sie für einige hier noch ein Rätsel
aufgegeben. Aber das kann man später noch vertiefen.
Ich möchte vorneweg sagen, dass wir nicht der Überzeugung sind, dass der Gesetzentwurf so, wie er jetzt
vorliegt, ein menschenwürdiges Existenzminimum angemessen sicherstellt. Sie haben zwar Ihre Kriterien offengelegt - das hat Karlsruhe verlangt -, aber darin ist
viel Willkür enthalten. Es ist schon fast wundersam, wie
Sie zu den 5 Euro mehr kommen. Wir teilen die Annahmen, die Sie treffen, nicht.
Es ist nicht durch eine neue Erkenntnis zustande gekommen, die Sie vernünftig dargelegt hätten, dass Sie
der Berechnung des Regelsatzes für einen Alleinstehenden nun die unteren 15 Prozent der Referenzgruppe zugrunde legen, nicht mehr die unteren 20 Prozent. Vielmehr zielen Sie damit auf ein bestimmtes Ergebnis. Ich
glaube, so kann man das Urteil aus Karlsruhe nicht umsetzen.
({0})
Da wäre mehr Inhalt verlangt gewesen.
Das gilt übrigens auch für Ihren Umgang mit dem Bedarf an Alkohol und Tabak, der eine sozialpaternalistische Tendenz aufweist. Sie kürzen die Mittel dafür um
19 Euro im Monat; so viel war bisher dafür vorgesehen.
Sie müssen schon hinschauen, was sonst in der Gesellschaft los ist. Ich darf Herrn Kauder, Ihren Fraktionsvorsitzenden, zitieren, der als „Botschafter des Bieres“ auf
dem Berliner Oktoberfest sagte:
Wenn ich ein Achtel Wein im Jahr trinke, dann ist
das viel. Aber zwei, drei Weizenbier am Tag - die
müssen einfach sein
({1})
Was ich mit diesem Zitat sagen will: Sie können doch
nicht einerseits den Menschen, die von Arbeitslosengeld II leben, sagen, dass sie am Wochenende kein Bier
trinken gehen dürfen, und andererseits das Biertrinken
zum männlichen Staatsritual erklären. Das ist doch völlig absurd; das können Sie nicht begründen.
({2})
Unser Vorwurf lautet: Sie haben die Kriterien an das angepasst, was die Kasse von Herrn Schäuble erfordert;
das entspricht aber nicht den Vorgaben aus Karlsruhe.
Zweitens. Mit dem Urteil von Karlsruhe hat sich etwas geändert. Ich will es anhand des Beispiels des Lohnabstandsgebots darlegen. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts reicht es nicht mehr aus, den Regelsatz so
festzulegen, dass er nicht zu hoch ist, um das Lohnabstandsgebot zu erfüllen. Karlsruhe hat ein Grundrecht
auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ausgesprochen, abgeleitet aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot. Das heißt, Sie
müssen auch bei Menschen, die dauerhaft arbeitslos
sind, diese Vorgabe erfüllen und ihre Existenz sichern.
({3})
Dafür haben Sie nicht gesorgt; denn Sie kneifen an einer
anderen Stelle der Politik, nämlich beim gesetzlichen
Mindestlohn. Das Lohnabstandsgebot zu verwirklichen,
heißt, endlich einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen.
({4})
So einfach ist die Laube. Davor drücken Sie sich, und
dies, obwohl 1,2 Millionen Menschen in Deutschland
weniger als 5 Euro in der Stunde verdienen.
Die Mindestlohndebatte gehört also zur Debatte über
die Regelsätze dazu, nicht nur weil Rot und Grün gerne
darüber reden, weil wir davon überzeugt sind, dass wir
einen Mindestlohn brauchen, sondern weil Sie sonst das
Lohnabstandsgebot nicht vernünftig erfüllen können.
Drittens. Bei allen Jubelzahlen haben wir immer noch
900 000 Langzeitarbeitslose. Das wurde bei der schönen
Präsentation von vorgestern vergessen. Eine Regierung
müsste da ansetzen und konkret etwas dagegen tun. Das
tun Sie aber nicht. Sie kürzen bis 2014 6 Milliarden Euro
beim Eingliederungstitel des SGB II. Es geht doch nicht,
dass Sie diese Operation gleichzeitig vornehmen. Deswegen wird da kein Schuh daraus.
({5})
Uns ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Sie bei den
Kindern zu kurz springen. Sie führen die eine oder andere neue Leistung nach dem Sachleistungsprinzip ein.
Wir finden, dass das oft nicht ausreicht. Ich will das am
Beispiel der Musikstunde deutlich machen. In Deutschland erhält man für 20 bis 40 Euro im Monat Instrumentenunterricht in der Gruppe. Sie wollen das jetzt mit
10 Euro unterstützen. Das funktioniert nicht. Man kann
es an vielen Beispielen belegen: Schulessen, Nachhilfeunterricht usw. Sie springen zu kurz, weil Sie nicht in
der Lage sind - Sie wollen es auch nicht -, Instrumente
zu schaffen, um eine flächendeckende Infrastruktur für
Kinder sicherzustellen, damit ihnen ein integratives Lernen auf allen Ebenen und eine gesunde Ernährung in der
Schule ermöglicht wird, egal aus welcher sozialen
Schicht sie kommen.
({6})
Dazu sind Sie nicht in der Lage. Sie denken nur im Kästchenschema: Was gehört in den Bereich des Ministeriums von Frau von der Leyen? Sie sehen aber nicht das
Ganze.
Das ist für uns ein entscheidender Punkt: Welche
Chance hat das Urteil aus Karlsruhe für eine Politik, die
anpackt, eröffnet? Das ist eine gigantische Chance. Man
hätte sagen können: Jetzt beheben wir die Bildungsdefizite und Integrationsdefizite in Deutschland; jetzt schaffen wir - die Grünen verlangen das in ihrem Antrag eine flächendeckende Infrastruktur im Bereich der Bildung, sodass alle immer wieder die Chance haben, zu
lernen und sich zu qualifizieren, um aus der sozialen Abwärtsspirale herauszukommen, die heute leider immer
noch mit dem Bezug von Arbeitslosengeld II verbunden
ist.
Sie haben diese Chance nicht einmal ansatzweise ergriffen. Deswegen haben wir in unserem Antrag klargemacht, dass wir regionale Bildungspartnerschaften überall in Deutschland wollen. Wir wollen, dass eine
Infrastruktur geschaffen wird, in der Integration, von der
wir immer reden, auch möglich ist. Konkret bedeutet das
zum Beispiel die flächendeckende Einführung von
Ganztagsschulen und ein Mittagessen für alle Schüler
dieser Schulen. Ihr Problem ist, dass Sie das alles gar
nicht hinkriegen können, weil nur ein Drittel dieser
Schulen in der Lage ist, ein Schulessen anzubieten. Deswegen ist das, was Sie machen, Flickwerk.
Jetzt komme ich zu einem letzten Punkt, der uns
wichtig ist. Wir wollen nicht nach dem Motto „KleinKlein“ verhandeln. Wir sind vielmehr der Meinung, dass
wir in der Bundesrepublik Deutschland jetzt bei den
Themen Mindestlohn, Bildungsinfrastruktur und Höhe
der Regelsätze zu einer Verständigung kommen müssen.
Deswegen haben Ministerpräsident Beck, der Vorsitzende der SPD-Fraktion und unsere beiden Fraktionsvorsitzenden einen Brief an Kanzlerin Merkel geschrieben. Er ist - ich will es einmal vorsichtig formulieren ausweichend beantwortet worden. Der Tenor war: Redet
erst mal mit der Arbeitsministerin.
({7})
Nichts gegen Sie, Frau von der Leyen, aber wir wollen
über die Frage reden, ob es die Chance gibt, zum Beispiel durch Aufhebung des Kooperationsverbotes, zu einer Bildungsrepublik Deutschland, die auch eine Integrationsrepublik sein soll, zu kommen - ja oder nein?
({8})
Wir wollen darüber reden, ob es einen Zusammenhang
zwischen dem Mindestlohn und der Höhe des Regelsatzes gibt. Wir wollen auch über die Frage reden, mit welchen Angeboten man Langzeitarbeitslosen wirklich aus
der Arbeitslosigkeit heraushelfen kann. Durch eine Kürzung in Höhe von 6 Milliarden Euro bei der Bundesagentur schafft man das mit Sicherheit nicht.
Dies sind große, zentrale Fragen, die die Bereiche Soziales und Bildung und damit die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland betreffen. Deswegen haben wir erwartet, dass die Kanzlerin die Fraktions- und
Parteivorsitzenden einlädt, damit man den Rahmen für
vernünftige Verhandlungen abstecken kann, um danach
mit den Fachpolitkern ins Detail zu gehen. Zuvor muss
aber der Rahmen dessen abgesteckt werden, was in
Deutschland möglich ist.
Mensch, Sie hätten die Chance gehabt, aus der Entscheidung von Karlsruhe einen ganz großen Wurf für
Deutschland zu machen. Im Verhältnis zu dieser Chance
ist das, was herausgekommen ist, nur Klein-Klein.
Ich danke Ihnen.
({9})
Das Wort hat nun Bundesministerin Ursula von der
Leyen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat
ist das eine große Chance. Mit diesem Gesetzentwurf
schlagen wir ein völlig neues Kapitel der Sozialgesetzgebung in Deutschland auf. Wir diskutieren nicht mehr
darüber, wie wir mit der Gießkanne Geld verteilen können, sondern wir reden zum ersten Mal konkret darüber:
Was braucht ein bedürftiges Kind? Wie kann man seine
Lebenschancen verbessern? Und vor allem: Wie können
wir vor Ort dafür sorgen, dass die Hilfe beim Kind auch
ankommt? Das ist das Neue an diesem Gesetzentwurf.
({0})
Das Spannende ist, dass wir jetzt die Chance haben
- das ist der Geist dieses Gesetzes -, darüber zu reden:
Was brauchen bedürftige Kinder? Wie kann man ihr individuelles Recht auf Teilhabe und Bildung umsetzen?
Wie kann man ihr Recht auf Lebenschancen, durch Aufstieg, durch Bildung, umsetzen?
({1})
War das der Fall, als Sie Verantwortung getragen haben?
Wir sorgen im Rahmen der Hartz-IV-Gesetze, die aus Ihrer Feder stammen, dafür - das geschieht in der Sozialgesetzgebung zum ersten Mal -, dass diese Kinder mittags in der Schule mitessen können, wenn dort ein
Mittagessen angeboten wird.
({2})
Wir wollen, dass sie im Verein mitmachen können, dass
sie Lernförderung bekommen und an den Schulausflügen teilnehmen können. Wir wollen mit diesem Gesetz
das Mitmachen möglich machen. Das ist der Paradigmenwechsel.
({3})
Ich finde, die Agenda 2010 war richtig. Das ist gar
keine Frage. Aber es ist auffallend, dass in den HartzGesetzen damals mit überhaupt keinem Wort gesagt
wurde, wie bedürftige Kinder eine reelle Chance bekommen können, das zu erhalten, was den gleichaltrigen
Kindern in der Region zur Verfügung steht.
({4})
Dieses Versäumnis können wir jetzt heilen. Der Bund
nimmt 700 Millionen Euro dafür in die Hand. Dabei geht
es um Aufgaben, die originär gar nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen. Die Verwaltungskosten dafür
werden 136 Millionen Euro ausmachen. Ich habe das
Geschrei gehört: Was für eine Mühe! Was für ein Aufwand! Diese Umsetzungskosten, die anfallen! - Das ist
nun einmal die andere Seite der Medaille. Wenn wir nur
Geld auszahlen müssten, dann brauchten wir nur Überweisungen zu tätigen und sozusagen den Hebel umzulegen. Dann können wir aber nur hoffen, dass irgendetwas
vor Ort passiert.
({5})
Wir sagen denjenigen, die von großem Aufwand, einem Bürokratiemonster und dergleichen mehr sprechen:
Wenn wir etwas für diese Kinder verändern wollen, dann
müssen wir in Beziehungen und in Zuwendung investieren, dann müssen wir in die Menschen investieren, die
ganz konkret vor Ort etwas verändern: in die Trainer, in
diejenigen, die sich bei der Hausaufgabenhilfe engagieren, und in die Jugendleiter. Das ist bestens investiertes
Geld. Damit helfen wir schon am Anfang und müssen
kein Reparatursystem finanzieren, mit dem wir später
versuchen müssen, das nachzuholen, was wir am Anfang
versäumt haben. Aus diesen Gründen wird diese Investition an der richtigen Stelle getätigt.
({6})
Herr Kuhn, weil Sie die große Frage aufgeworfen haben - dieser Gedanke ist gar nicht falsch -, warum es
nicht Ganztagsschulen mit einem warmen Mittagessen
für alle Kinder flächendeckend geben soll, will ich Sie
fragen: Wie wollen Sie das bis zum 1. Januar 2011
schaffen? Das ist die ganz konkrete Frage, die sich aus
den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ergibt.
({7})
- Wir sind dabei, das nachzuholen, was Sie versäumt haben. Der erste Schritt ist getan. Gehen Sie doch mit!
({8})
Entscheidend ist: Das Bundesverfassungsgericht hat
nicht gefordert, von Bundesseite zu klären, wie Länderaufgaben übernommen werden können. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr gesagt: In der Landschaft,
wie sie sich heute für die Kinder darstellt - ich bin mit
Ihnen der Meinung, dass wir in diesem Punkt besser
werden müssen -, müssen wir, was bisher nicht der Fall
gewesen ist, dafür sorgen, dass die bedürftigen Kinder
wenigstens da mitmachen können, wo die anderen Kinder schon aktiv sind. Das ist etwas, wofür ich mich einsetze.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Gerne, Herr Heil.
Frau Ministerin von der Leyen, weil Sie vorhin den
Eindruck erweckt haben, Rot-Grün hätte für Kinder
nichts getan, will ich Sie daran erinnern: Wir waren es,
die das Ganztagsschulprogramm mit einem Volumen
von 4 Milliarden Euro gegen Ihren Widerstand durchgesetzt haben.
({0})
Hubertus Heil ({1})
Damit haben wir dafür gesorgt, dass es zum Ausbau
kam. Wir müssen allerdings gemeinsam feststellen, dass
wir noch nicht weit genug sind. Sie sagen: Das ist zum
1. Januar nicht umsetzbar.
Meine konkrete Frage ist: Was wollen Sie tun, um das
Ganztagsschulangebot in Deutschland mit Unterstützung
des Bundes so auszubauen, dass nicht nur 20 Prozent der
bedürftigen Kinder am warmen Mittagessen teilnehmen
können? Sind Sie bereit, mitzuhelfen, dass wir im Rahmen dieser Gespräche Voraussetzungen schaffen, um die
Ganztagsschulen ausbauen und zum Beispiel bei der
Schulsozialarbeit vorankommen zu können?
Ich habe viele warme Worte von Ihnen gehört, Frau
von der Leyen. Was Sie sagen, hört sich gut an. Sie sind
schon immer eine Meisterin der PR gewesen; das wissen
wir alle. Aber ich sage Ihnen mit den Worten der Bibel:
An den Taten sollt ihr sie erkennen. Ich frage Sie daher:
Was tun Sie für die Ganztagsschulen außer warmen Worten, Frau Ministerin?
({2})
Lieber Herr Heil, ich habe mich damals als Sozialministerin in Niedersachsen - das kann ich offen sagen gefreut, als das Ganztagsschulprogramm kam. Dieses
Programm war der richtige Schritt; es hat, ganz unbenommen, viel in diesem Land bewegt. Vor Ihnen steht
eine Ministerin, die mit derselben Leidenschaft in der
letzten Legislaturperiode gemeinsam mit Ihnen in diesem Haus dafür gesorgt hat, dass wir den Ausbau der
Kinderbetreuung, mit 12 Milliarden Euro unterlegt, voranbringen konnten und dass wir jetzt ein Gesetz haben,
das den Rechtsanspruch für die Kinderbetreuung von unter Dreijährigen regelt.
({0})
Das heißt, wir sind auf dem richtigen Weg.
Aber dabei handelt es sich nicht um die Hartz-Gesetze. Ich muss den Finger in die Wunde legen und sagen:
({1})
Mit Blick auf die bedürftigen Kinder, also auf die Kinder
von Langzeitarbeitslosen und Kinder von Sozialhilfeempfängern, frage ich Sie: Wo war Ihr Gesetzentwurf, in
dem Sach- und Dienstleistungen für bedürftige Kinder
enthalten waren? Darüber wurde niemals ein Wort verloren.
({2})
Das, was Sie nicht vorgelegt haben, kann der Bundesrat
ja wohl nicht beschließen. Jetzt sind wir zum ersten Mal
an der Stelle, dass wir Sach- und Dienstleistungen für
die bedürftigen Kinder, also konkrete Hilfe vor Ort, anbieten können.
({3})
Da bin ich mit dabei.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal von der Kollegin Ferner?
Bitte, Frau Ferner.
Frau von der Leyen, würden Sie mir zustimmen, dass
die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Bundestag, im Bundesrat, im Vermittlungsausschuss und dann hinterher von beiden Kammern einvernehmlich beschlossen worden ist und dass weder
die B-Seite noch die A-Seite damals im Blick gehabt
hat, dass es zusätzliche Leistungen für die Kinder geben
muss?
Würden Sie mir ferner zustimmen, dass es höchste
Zeit gewesen wäre, sich direkt nach dem Urteil mit den
Ländern und den Kommunen an einen Tisch zu setzen,
und zwar nicht, um über die Höhe der Regelsätze, sondern über die Frage zu reden, wie die Teilhabe der Kinder sichergestellt werden kann und wie die organisatorischen Voraussetzungen geschaffen werden können? Wie
soll das alles innerhalb der vier oder fünf verbleibenden
Sitzungswochen bis zum 1. Januar in einem Galoppverfahren noch in ein Gesetz gegossen werden - inklusive
der organisatorischen Vorarbeiten vor Ort -, damit der
Teilhabeanspruch der Kinder bis zum 1. Januar realisiert
werden kann? Können Sie mir das einmal erklären?
Schön, dass Sie die Frage stellen, Frau Ferner. Das
Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass wir bis Ende
dieses Jahres Zeit haben, um das Urteil umzusetzen.
Aber es hat ebenso konzediert, dass das Gesetzgebungsverfahren erst in die Wege geleitet werden kann, wenn
die Zahlen vorliegen. Originalton des Gerichtes war:
Diese Zahlen liegen erst im Herbst vor.
Wir haben den Gesetzentwurf im Herbst vorgelegt.
Aber weil wir wissen, dass wir, wenn wir einen Paradigmenwechsel wollen, wenn wir für die bedürftigen Kinder vor Ort konkret etwas verändern wollen, sehr viel
früher ansetzen müssen, haben wir bereits im Februar
begonnen, gemeinsam mit Experten, Pädagogen, Schulleitern, Jobcentermitarbeitern konkret zu definieren, was
bedürftige Kinder brauchen.
({0})
Wir haben uns seit dem Sommer mit den Ländern, den
kommunalen Spitzenverbänden, den Wohlfahrtsverbänden, denjenigen, die vor Ort die Arbeit machen, zusammengesetzt. Jetzt befinden wir uns im Gesetzgebungsverfahren. Wir haben die Möglichkeit, einen Rahmen
dafür zu schaffen, dass tatsächlich zum ersten Mal für
die bedürftigen Kinder in Deutschland nicht nur Bargeld
ausgezahlt wird, sondern konkrete Hilfe bei den Kindern
vor Ort ankommt. Ich bitte Sie schlicht und einfach: Machen Sie mit, blockieren Sie nicht, sondern seien Sie auf
diesem Weg an unserer Seite, und schreiten Sie mit uns
gemeinsam voran!
({1})
Mir ist bei dem Bildungspaket wichtig, dass wir eine
Subjektförderung einführen können. Zum ersten Mal
besteht die Möglichkeit, dass über die Förderung des
einzelnen Kindes das Geld genau in den Verein, in die
Musikschule, in die Lernförderung, in die Hausaufgabenhilfe geht, wo man sich um die Kinder kümmert.
Wenn die Kinder kommen, fließt das Bundesgeld über
diese Kinder dort hinein. Wenn die Kinder wegbleiben,
bleibt auch das Bundesgeld weg. Zum ersten Mal erhalten die Institutionen nicht blindlings Mittel, egal ob sie
sich um die Kinder kümmern oder nicht. Vielmehr geht
das Geld über die Subjektförderung in genau die Angebote vor Ort, bei denen Qualität und Nachhaltigkeit garantiert sind. Genau so sollten Bundesmittel effizient
eingesetzt werden.
({2})
In der Agenda 2010 ging es um Fördern und Fordern,
das auch Sie angesprochen haben. Fördern und Fordern
ist immer noch richtig. Aber es reicht eben nicht. Der
Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Mittel
({3})
ist der richtige Ansatz. Wir kehren mit der zur Verfügung
gestellten Summe auf den Pfad zurück, Herr Heil, der
2006 eingeschlagen wurde.
({4})
Wir haben heute bereits 300 000 Bedarfsgemeinschaften
weniger im SGB II, in der Langzeitarbeitslosigkeit als
2006.
({5})
Das heißt, wir haben mehr Geld zur Verfügung für weniger Menschen, die Hilfe brauchen. Die behutsame Zurückführung der Mittel ist also richtig.
({6})
Die Chancen für die Langzeitarbeitslosen waren noch
nie so gut wie heute. Der Arbeitsmarkt brummt, er ist robust, die Zahl der Arbeitslosen liegt unter der 3-Millionen-Grenze. Was mir ganz wichtig ist: Wir haben bei jeder Krise in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren,
angefangen bei den Ölkrisen, einen konstanten Anstieg
der Sockelarbeitslosigkeit, der verfestigten Arbeitslosigkeit, zu verzeichnen gehabt. Zum allerersten Mal ist jetzt
die Sockelarbeitslosigkeit, die verfestigte Arbeitslosigkeit, gesunken. Es sind heute 100 000 Langzeitarbeitslose weniger als vor der Krise. Das zeigt, was möglich
ist. Die Menschen müssen in Arbeit vermittelt werden;
wir sollten nicht darüber diskutieren, wie wir sie in der
Passivität halten, sondern darüber, wie wir ihnen im
Zuge des Aufschwungs auf dem Arbeitsmarkt Chancen
geben.
({7})
Wir brauchen jeden. Wir gehen auf eine sehr riskante
Fachkräftelücke zu. Wir wissen, dass die Arbeitsgesellschaft älter und zahlenmäßig geringer wird. Aber das
muss kein unüberwindbares Problem sein, sondern es
kann eine Chance sein für diejenigen, die bisher am
Rand standen: für die Frauen, für Ältere, vor allem für
benachteiligte Kinder und Jugendliche.
({8})
Deshalb muss nach dem Fördern und Fordern der
Agenda 2010 - das ja richtig ist - das neue Thema für
das Jahr 2020 vor allem das Bildungspaket für bedürftige Kinder sein;
({9})
das muss das große Motto dieses Landes werden, meine
Damen und Herren.
({10})
Ich sage noch einmal: Der Weg war richtig. Der Weg
zu dem robusten Arbeitsmarkt, den wir heute haben,
setzt sich zusammen aus den Arbeitsmarktreformen, die
damals von Bundesrat und Bundestag gemeinsam verabschiedet worden sind,
({11})
und einem klugen Krisenmanagement der Regierung
Merkel in den letzten fünf Jahren.
({12})
Wir sind aus der Krise stärker herausgegangen, als wir
hineingegangen sind. Wir sollten heute anerkennen, dass
das hervorragend gewesen ist.
({13})
In dem Geiste, dass man die großen Schritte nie alleine schafft - keiner hat den Stein der Weisen -, sondern dass wir die Vernünftigen in der Mitte zusammenführen müssen, bitte ich Sie, dass wir uns frühzeitig
zusammensetzen, damit wir in den Verhandlungen etwas
Vernünftiges zustande bringen. Wir sollten nicht im Vermittlungsausschuss im Dezember bei Themen, die miteinander nichts zu tun haben, Abmachungen treffen, sondern vernünftig und konkret an den großen Themen, an
denen uns allen hier im Hohen Hause liegt, arbeiten.
Die Tür ist offen. Ich bin verhandlungsbereit. Kommen Sie mit auf den Weg zu Aufstieg durch Bildung und
zum Bildungspaket für die Kinder. Das muss das Motto
der nächsten zehn Jahre sein.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat nun Anette Kramme für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau von der Leyen, Sie tricksen und manipulieren, Sie täuschen und wecken Illusionen.
({0})
Sie gelten als Lichtschein dieser Ministerriege, tatsächlich sind Sie die Scheinheilige in dieser Ministerriege.
({1})
Das fängt damit an, dass Sie fix an die Presse gehen und
sich mit Arbeitsmarkterfolgen rühmen, mit denen Sie
nichts zu tun haben.
({2})
Vielmehr gehen die Arbeitsmarkterfolge auf Gerhard
Schröder,
({3})
auf die hervorragende Kriseninterventionspolitik von
Peer Steinbrück und auf die Regelungen zum Kurzarbeitergeld von Olaf Scholz zurück.
({4})
Kommen wir zu den Regelsätzen. Das gerade genannte Thema, bei dem Sie sich rühmen, ist nur begrenzt
relevant; da geht es nur um Zahlen. Aber bei den Regelsätzen geht es um Inhalte. Was machen Sie dort? Wie gesagt: Sie tricksen und manipulieren. Sie verändern die
Bezugsgruppe für das Ausgabeverhalten von den unteren 20 auf die unteren 15 Prozent der Einkommensskala.
Das ist eine Verschlechterung gegenüber der bisherigen
Situation. Sie nehmen Aufstocker in die Bezugsgruppe,
also Menschen, die unter Umständen nur einen einzigen
Euro mehr verdienen als die Empfänger von Regelsatzleistungen. Sie schließen die verdeckt Armen nicht aus
der Bezugsgruppe aus, obwohl das eine explizite Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes ist.
Vor allen Dingen wecken Sie den Anschein, dass Sie
für Kinder und Erwachsene etwas tun. Um was geht es
da? Die Verbesserung für Erwachsene besteht darin, dass
sich diese pro Monat einen zusätzlichen Kasten Wasser
kaufen können.
({5})
Ansonsten findet nichts statt. Was wird dank der Neuberechnung der Regelsätze für Kinder getan? Für alle gibt
es nur dieses Teilhabepaket. Wenn ich mir Ihren Vortrag
von vorhin in Erinnerung rufe, frage ich mich nicht nur,
ob Sie Illusionen erweckt haben, sondern auch, ob Sie
tatsächlich in Illusionen leben. Dieses Teilhabepaket ist
objektiv betrachtet untauglich. Zunächst einmal löst es
Verwaltungskosten von sage und schreibe 137 Millionen
Euro aus. Man kann sagen, dass diese Verwaltungskosten zu akzeptieren sind, weil es letztlich Kindern zugutekommt.
({6})
Wenn ich mir aber vor Augen halte, dass Kinder von
diesem Teilhabepaket nichts haben, wird es schlimm.
Aus diesem Teilhabepaket wird nur die Mitgliedschaft in
Vereinen finanziert, aber nicht die entsprechende Sportausrüstung. Sie schaffen die Möglichkeit der Mitgliedschaft in einem Musikverein, aber zahlen nicht für ein
Musikinstrument. Sie ermöglichen nicht die Erstattung
von Mobilitätskosten. Das heißt, der Geldbetrag, den Sie
in diesen Haushalt für das Paket einstellen, ist eine Luftnummer. Denn dieses Teilhabepaket kann von Kindern
nicht in Anspruch genommen werden.
({7})
Sie sagen, dass wir etwas für Langzeitarbeitslose tun
müssen. Die Kanzlerin sagt sogar: Bildungsausgaben
müssen gesteigert werden. Aber wie sieht die bittere
Realität aus? Die Arbeitsmarktpolitik wird erbarmungslos zusammengestrichen. Im nächsten Jahr werden allein
im Bereich des SGB II 1,5 Milliarden Euro fehlen. Sie
haben recht: Wir brauchen eine Übergangslösung. An
dieser Übergangslösung muss man mitarbeiten; das ist
selbstverständlich.
({8})
Aber es geht um viel mehr. Wir brauchen soziale Infrastruktur, die nicht nur Kindern aus dem SGB-II-Bezug
hilft, sondern allen Kindern aus bildungsfernen Haushalten.
({9})
Das heißt beispielsweise, dass Sie den Kommunen,
statt sie weiter auszuräubern, endlich Geld dafür zur Verfügung stellen können, damit sie das Kinderkrippenprogramm umsetzen müssen. Das führt dazu, dass man zuvörderst ein Augenmerk auf Ganztagsschulen lenken
muss, die die Kinder individuell fördern. Dabei können
im Übrigen Vereine mit einbezogen werden. Dazu gehört für mich auch, dass man nicht nur 20 Prozent der
SGB-II-Kinder ein Mittagessen stellt, sondern weitaus
mehr Kindern. Das heißt, dass wir beispielsweise ein
Mensenprogramm in der Bundesrepublik Deutschland
brauchen.
Wenn wir uns das anschauen, kann man nur sagen:
Sie versagen auf der ganzen Linie.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Sebastian Blumenthal für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Kramme, zu Ihrem Beitrag muss ich sagen: Ich bin
mir im Moment nicht sicher, ob eher die völlig schrille,
überdrehte Tonlage oder die billige Polemik abstoßender
war.
({0})
Das war mit Sicherheit kein verantwortungsvoller Beitrag zur Debatte, die wir heute in diesem Haus führen.
Deshalb möchte ich auf den Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen zu sprechen kommen - Herr Kuhn, Sie haben ihn ja angenehm sachlich eingebracht -, und dazu
möchte ich ein paar Anmerkungen machen.
Zum einen stellen Sie in dem Antrag die Menschenwürde in den Mittelpunkt. Das ist eine Klarstellung, die
ich gern unterstreichen und hervorheben möchte. Ich
gehe davon aus, dass das auch die Meinung der hier im
Plenum versammelten Allgemeinheit ist. Vor allem freut
mich, dass diese Feststellung im Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen im Hinblick auf das Sozialgesetzbuch II aufgeführt wird. Unter Rot-Grün ist das ja
2004 auf den Weg gebracht worden, und damals waren
dazu keinerlei oder nur wenige Hinweise zu finden.
Ich darf jetzt einmal aus dem Beitrag zitieren, den wir
von der christlich-liberalen Koalition aufgeführt haben.
In § 1 Abs. 1 heißt es - ich zitiere -:
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es allen Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben
zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.
({1})
- Es freut uns, dass das auch bei Ihnen Zustimmung findet.
Meine Damen und Herren, wir möchten damit endlich, nach über sechs Jahren, im SGB II eine Klarstellung formuliert sehen, die überfällig gewesen ist.
In dem Antrag der Grünen, in dem Sie auch eine Neuregelung der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Detail aufführen, gibt es einen quantitativen Unterschied.
Denn Sie führen einen Regelsatz in Höhe von 420 Euro
an. Der von Ihnen vorgelegte Antrag lässt aber weitgehend offen, wie sich diese 420 Euro konkret begründen.
({2})
Ich gehe davon aus, dass dabei die Zahlen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands die Grundlage für Sie sind.
Hierzu möchte ich einmal ein paar Punkte aufgreifen;
denn die Differenz zwischen den vom DPWV errechneten 420 Euro und der Regelsatzhöhe von 364 Euro, die
wir hier aufgenommen haben, lässt sich an zwei Positionen ganz konkret identifizieren. Der erste Posten sind
die alkoholischen Getränke und die Tabakwaren. Der
DPWV hat hier knapp 20 Euro berücksichtigt. Der
zweite Posten sind die Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen, die mit etwas über 25 Euro veranschlagt werden. Hier hat das Verfassungsgericht übrigens klargestellt, dass der Gesetzgeber einen freien
Gestaltungsraum hat, den wir auch genutzt und entsprechend begründet haben.
({3})
Eine weitere Komponente ist der Posten Nachrichtenübermittlungskosten. Das ist ein Punkt, den wir dort
ergänzt haben. Wir ermöglichen eben auch die aktive
Teilhabe an der Kommunikations- und Informationsgesellschaft. Wir haben dort den Regelsatz für Erwachsene
mit 32 Euro pro Monat eingestellt.
Aktuell erhalten Sie in allen Regionen in Deutschland
Telefon- und DSL-Flatratetarife für 20 Euro, sodass wir
der Meinung sind, dass wir bei einer Bemessung von
32 Euro für Telefon, Internet und Porto von einer angemessenen Regelsatzdefinition sprechen können.
Dann kommen wir zu einer Lücke, die ich in den Zahlen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, auf die Sie
sich ja beziehen, erkannt habe. Sie wählen hier als Referenzwert für die Berechnung der Regelsätze für Nachrichtenübermittlung bei den Kindern unter sechs Jahren
20 Euro pro Monat. Wir sprechen über die Altersgruppe
der Kleinstkinder, also über noch nicht schulpflichtige
Kinder. Diese haben mit Sicherheit ganz eigene Kommunikations- und Ausdrucksformen. Erfahrungsgemäß
gehört der regelmäßige Umgang mit Telefonie und DSLBetrieb aber nicht zwingend dazu.
({4})
Sie müssten uns schon einmal erklären, wie Sie zu dieser
Position kommen, wie sich das im Detail zusammensetzt. Offensichtlich gibt es bei Ihnen noch Klärungsbedarf, auch was das Zahlenmaterial betrifft; auf diese Klärung freue ich mich.
({5})
Herr Kollege.
Ich werde die weitere Debatte und die Beratungen im
Ausschuss sehr aufmerksam begleiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich wollte Ihnen gerade die Chance zur Verlängerung
Ihrer Redezeit geben. Die Kollegin Kipping würde Ihnen
nämlich gerne eine Frage stellen.
Ich verzichte auf die Frage und ermögliche uns so den
weiteren Fortgang der Debatte.
Vielen Dank.
({0})
Dann erteile ich das Wort Kollegen Matthias Zimmer
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir
scheint, dass die Diskussionen über das SGB II eine Neverending Story, eine immerwährende Geschichte, sind.
In diesem Jahr haben wir die Organisationsreform
durchgeführt. Mein herzlicher Dank gilt der SPD für die
Kooperation, die an dieser Stelle möglich war. Jetzt diskutieren wir über die Höhe der Bedarfssätze; diese Debatte ist einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
geschuldet. Wir haben die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erfüllt. Wir haben die Höhe der Bedarfssätze neu berechnet. Sie ist transparent und nachvollziehbar und wurde nicht ins Blaue hinein geschätzt.
({0})
Ich habe mich an der einen oder anderen Stelle gefragt, ob es für die SPD nicht viel problematischer gewesen wäre, wenn die Bedarfsschätzung erheblich höher
ausgefallen wäre. Denn dann hätte sich die Frage gestellt: Wie habt ihr eigentlich 2006 die Bedarfssätze ermittelt?
({1})
Es kam aber heraus: Das Ministerium hat damals sehr
sorgfältig gearbeitet und ist sehr nah an den tatsächlichen Bedarf herangekommen. Es ist festzustellen: Die
Bedarfssätze sind sauber, nachvollziehbar und angemessen berechnet.
({2})
In Zuge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts
hatten wir natürlich die Möglichkeit, bestimmte Wertungen vorzunehmen; das haben wir auch getan. Einige Bestandteile haben wir aus der Berechnung der Bedarfssätze herausgenommen, zum Beispiel Schmuck,
Lieferservice für Speisen und Getränke,
({3})
Geldstrafen und gebührenpflichtige Verwarnungen sowie Alkohol und Tabak.
({4})
Bei all dem ist nicht unbedingt und nicht notwendigerweise von einem Grundbedarf auszugehen.
Herr Kuhn, die Art und Weise, wie Tabak und Alkohol von den Grünen bisweilen verteidigt worden sind,
zeigt mir: Da ist offensichtlich keine Partei am Werke,
die sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt,
({5})
sondern Sie benehmen sich an dieser Stelle wie Interessenvertreter des Bundesverbandes deutscher Freizeithedonisten.
({6})
Wir haben bei der Berechnung der Regelsätze andere
Elemente berücksichtigt - der Kollege hat sie eben erwähnt -, zum Beispiel Kommunikationskosten, Gebühren für Kurse und außerschulischen Unterricht. Auch
hier ist sicherlich nicht unbedingt von einem Grundbedarf auszugehen. Aber diese Kosten entstehen, wenn
sich Menschen bemühen, aus Hartz IV herauszukommen. Dass diese Kosten bei der Berechnung der Regelsätze berücksichtigt werden, ist wichtig und richtig. Wir
wollen die Menschen, die von Hartz IV leben, ermutigen, diese Situation zu überwinden. Bildung ist - hier
gebe ich der Ministerin recht - die Agenda 2020. Mit
diesem Gesetzentwurf legen wir sie vor.
Ich möchte diese Aussage zuspitzen. Bei Ihnen gab es
einen Lieferservice für Speisen und Getränke und steuersubventionierte Rausch- und Genussgifte, bei uns gibt es
Bildung, Bildung, Bildung.
({7})
Ich lade Sie ein, sich selbst einmal die Frage zu stellen,
welch unterschiedliche Menschenbilder darin zum Ausdruck kommen und welches Menschenbild Ihrer Vorgehensweise an dieser Stelle zugrunde liegt.
({8})
Meine Damen und Herren, wir trauen den Menschen
etwas zu. In diesem Zusammenhang ist es, wie ich
glaube, sinnvoll, auf den Antrag der Grünen einzugehen,
über den wir in den parlamentarischen Beratungen in
den Ausschüssen noch diskutieren werden. In diesem
Antrag findet sich viel neuer Wein in alten Schläuchen;
das ist auch völlig in Ordnung. Aber über einen Aspekt
lohnt das Nachdenken in der Tat, Herr Kuhn: über die
Aufhebung des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich. Diesen Gedanken finde ich sehr sympathisch.
Wir alle sind uns einig: Es ist besser, zu arbeiten, als
ALG II zu beziehen. Häufig ist nicht der Mangel an Geld
das Problem, sondern der Mangel an Anerkennung und
der Mangel an Möglichkeiten der sozialen Interaktion,
häufig auch das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Dies ist das eigentliche Problem der Arbeitslosigkeit.
({9})
Deswegen freut es mich, dass wir in dieser Woche die
neuen Arbeitsmarktzahlen bekommen haben.
({10})
Die Arbeitslosenzahl ist auf dem niedrigsten Stand seit
1992. Die Experten sagen mittlerweile, Vollbeschäftigung sei möglich. Die Welt titelte am 28. Oktober 2010:
„Deutschland auf dem Weg in die Vollbeschäftigung“.
Die Bild-Zeitung schrieb am gleichen Tag: „Kommen
jetzt zehn goldene Jahre?“ Dabei beruft sie sich auf
Hans-Werner Sinn. Das Forschungsinstitut zur Zukunft
der Arbeit geht davon aus, dass die nächste Millionenmarke schon in 2012 geknackt wird.
Frau Kollegin Ferner, natürlich hat das auch - hiermit
hat der ehemalige Bundeskanzler Schröder ja recht - etwas mit den Hartz-Gesetzen, mit der Agenda 2010, zu
tun. Umso erstaunlicher ist es, dass große Teile der SPD
nun drauf und dran sind, sich davon zu verabschieden.
Ich fände es schön, wenn Sie diesen Weg, Menschen in
Arbeit zu bringen, Menschen Hoffnung zu geben und sie
ihnen nicht zu nehmen, gemeinsam mit uns weitergehen
würden.
Danke schön.
Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit verlängern?
Die Kollegin Kipping möchte Ihnen durch eine Zwischenfrage die Chance dazu geben.
Nein.
({0})
Jetzt hat Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für die SPDFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP! Ich fange einmal mit dem Positiven an: Gut, dass Sie den Gesetzentwurf endlich eingebracht haben. - Das war es dann aber auch schon.
({0})
Er kommt viel zu spät, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, Herr Kollege Zimmer, werden nicht eingehalten, und mit einer Regelsatzerhöhung von gerade
einmal 5 Euro verhöhnen Sie die betroffenen Menschen.
Ein so wichtiger Gesetzentwurf soll jetzt bis Januar
2011 im Schweinsgalopp durch den Bundestag und den
Bundesrat gepeitscht werden. Eine vernünftige Beteiligung des Parlaments, der Verbände und vor allem auch
der Länder ist überhaupt nicht mehr zu erreichen. Monatelang wurde wertvolle Zeit mit Schein-Riesendiskussionen um Chipkarten verplempert.
({1})
Frau Ministerin, warum haben Sie diese Zeit nicht für
Verhandlungen mit den Ländern und vor allem mit der
SPD genutzt? Sie brauchen die SPD im Bundesrat; denn
sonst wird der Gesetzentwurf dort nicht verabschiedet.
Das ist ein Lichtblick; denn so besteht noch Hoffnung,
mit unserer Hilfe einen „kranken“ Gesetzentwurf zu kurieren, obwohl es dazu schon fast einer Wunderheilung
bedarf.
({2})
Wir sehen im Urteil des Bundesverfassungsgerichts
große Chancen für mehr Bildungsgerechtigkeit in
Deutschland. Deshalb sind wir zu Verhandlungen bereit.
Eines ist aber ganz klar: Wir werden nur einem verfassungskonformen Gesetzentwurf unsere Zustimmung geben. Ich verstehe nicht, warum Sie auf unsere Bedenken
bezüglich der Rechtmäßigkeit der Regelsätze überhaupt
nicht eingegangen sind.
„Transparenz“ ist für Sie bei diesem Gesetzentwurf
ein Fremdwort. Die Regierung verweigert dem Bundestag die Angabe der Daten, auf denen die Einkommensund Verbrauchsstichprobe basiert. Im Ausschuss haben
wir diese Daten eingefordert. Sie haben das abgelehnt
und missachten damit das Parlament.
({3})
Genau wie gestern bei der Diskussion über die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke demonstrieren Sie damit eine Arroganz der Macht, die Ihnen nicht gut zu Gesichte steht;
({4})
denn vor allem Sie, meine Damen und Herren von CDU/
CSU und FDP, müssen für die Verfassungsmäßigkeit des
Gesetzentwurfs geradestehen.
({5})
Wir bezweifeln, dass die Referenzgruppen für die Regelsätze richtig gewählt wurden. Wir glauben nicht, dass
die Berechnung der Kinderregelsätze verfassungskonform ist. Wir sind davon überzeugt, dass 12,50 Euro je
Kind für die Teilhabe an Bildung nicht ausreichen werden.
({6})
12,50 Euro pro Monat und Kind für Lernförderung,
Sport und Musikunterricht: Das ist ein schlechter Witz.
({7})
Erst dachte ich an einen Zahlendreher. Es wäre nicht der
erste im Gesetzentwurf. Möglicherweise ist das aber
auch ganz ernst gemeint. Wenn ich mir anschaue, was
Sie alles tun, um die Löhne in Deutschland immer weiter
in den Keller zu drücken, dann muss sich der Musiklehrer vielleicht tatsächlich bald mit einem ganz kleinen
Geld zufrieden geben, und die geplanten 12,50 Euro reichen aus.
Mit Ihrem Vorhaben, die Zuverdienstgrenze für langzeitarbeitslose Menschen auszuweiten, machen Sie das
Tor für Dumpinglöhne und für ein Anwachsen des
Niedriglohnsektors weit auf, subventioniert mit Steuergeldern. Ihre hartnäckige Verweigerung bei der Einführung von Mindestlöhnen trägt ebenfalls zum Lohnverfall
in Deutschland bei. Hören Sie endlich auf damit, schaffen Sie einen gesetzlichen Mindestlohn!
({8})
Für mehr Bildungsgerechtigkeit brauchen wir eine
groß angelegte Ausbauoffensive für Kitas und Ganztagsschulen. Wir haben unter Rot-Grün mit dem 4-Milliarden-Euro-Programm für die Ganztagsschulen gezeigt,
wie es geht. Tun Sie es uns nach.
Wichtig ist auch, dass mit dem Gesetz keine kostspieligen Doppelstrukturen geschaffen werden. In vielen
Kommunen - wie auch bei mir in Lübeck - gibt es bereits gute Netzwerke zur Förderung von Kindern. Diese
müssen gestärkt werden. Es kann nicht sein, dass die
Jobcenter zu Hilfs-Jugendämtern für Hartz-IV-Kinder
umfunktioniert werden. Wir erkennen an, dass der Kabinettsentwurf an dieser Stelle auf eine bessere Schiene
gesetzt wurde. Jetzt muss aus der Schiene das richtige
Gleis werden.
Zu den Regelsätzen. Wir stoßen bei den Erwachsenen-, aber vor allem bei den Kinderregelsätzen auf
Systembrüche, die einer Prüfung vor dem Verfassungsgericht nicht standhalten werden. Willkürliche Streichungen und unterschiedliche Auswertungen von Verbrauchspositionen verfälschen die Sätze.
({9})
Für Kinderregelsätze ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe nicht geeignet. Das schreiben Sie
selbst in Ihrem Gesetzentwurf.
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.
Warum nehmen Sie unseren Vorschlag vom März
nicht auf und richten eine Expertenkommission zur Ermittlung des Existenzminimums für Kinder ein?
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.
Bitte?
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Entschuldigung, ich dachte, es gäbe noch eine Zwischenfrage.
({0})
Es ist aber leider nichts gekommen.
Nein, ich wollte keine Zwischenfrage stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, wir haben viele gute Vorschläge gemacht. Es werden in der nächsten Sitzungswoche weitere folgen. Hören Sie auf uns, dann kann aus dem Gesetz noch etwas
Gutes werden.
({0})
Der Kollege Uwe Schummer hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Das größte Armutsrisiko ist mangelnde Bildung. Das gilt
für den Einzelnen, dem Teilhabechancen verloren gehen,
und das gilt für die Gesellschaft, die von motivierten und
qualifizierten Menschen lebt. Ich denke, das ist - bei aller Kritik, die ich heute gehört habe - auch die Botschaft
des Bildungspaketes. Das, was heute mit den Regelsätzen und auch mit dem Bildungspaket verabschiedet wird
und weiter diskutiert werden wird, ist bei weitem besser
als das, was derzeit noch der Fall ist. Es ist eine Verbesserung, und das können Sie auch einmal zur Kenntnis
nehmen.
({0})
Wir wollen eben keine Hartz-IV-Republik, die auf
eine permanente Fürsorge ausgerichtet ist. Wir wollen
den Ausstieg aus Hartz IV, wir wollen den Aufstieg
durch Bildung. Wenn wir heute im Berufsbildungsbericht lesen, dass 1,45 Millionen Schulabgänger bis
29 Jahre ohne jede berufliche Qualifizierung sind, dann
kann man nicht so tun, lieber Kollege Rossmann, als
seien das allein Unions-Kinder. Da hatten wir alle miteinander in der Vergangenheit und haben heute unsere
Hausaufgaben zu bewältigen. Wir alle miteinander!
({1})
Es ist die Frage, inwieweit schon heute Wachstumshemmnisse stattfinden. Es gibt sie, weil nämlich qualifizierte Arbeitnehmer fehlen. Auch das ist eine Frage an
uns. Das Bildungspaket ist darauf eine weitere Antwort,
die wir miteinander geben.
({2})
Ich habe nicht vergessen, wie, als ich hier im Deutschen Bundestag neuer Abgeordneter war, auch mit den
Hartz-IV-Gesetzen 2004 die Berufsorientierung bzw.
Berufsberatung von Rot-Grün in Grund und Boden geschossen wurde.
({3})
Wir haben dies alles in der Großen Koalition und jetzt in
der christlich-liberalen Koalition korrigiert.
Dieses Jahr nehmen Hundertausende von Schülern an
der frühzeitigen Berufsorientierung teil, damit sie sich
nicht erst zwei oder drei Monate vor der Entlassung,
sondern schon zwei oder drei Jahre vorher mit dem
Übergang von der schulischen Ausbildung in die berufliche Qualifizierung beschäftigen. Das Konzept der Bildungsketten, das im Zusammenhang mit dieser Debatte
zu sehen ist, soll dies systematisch weiter verbessern.
Dass wir die Berufsorientierung für die beste Motivation halten, um in der Schule weiter aktiv zu werden, hat
dazu geführt, dass die Zahl der Schulabbrecher von
100 000 vor einigen Jahren auf jetzt 60 000 gesunken ist.
Das bedeutet mehr Teilhabechancen für die jungen Menschen, die in die weitere Qualifizierung gehen.
({4})
Wir haben kein Geldproblem, sondern ein Kümmerproblem.
({5})
Wer kümmert sich um die Menschen, die permanent eine
personale Unterstützung benötigen? Die Debatte über
den Regelsatz hilft nicht weiter. Es geht weniger um die
Frage, ob wir ihn um 5, 15 oder 50 Euro erhöhen, als darum, wie wir regionale Bündnisse für die jungen Menschen bzw. ein Miteinander der Kräfte vor Ort organisieren können.
Gut hilft, wer früh hilft. Das heißt, mit dem Bildungspaket können wir in die Kitas und Schulen gehen und die
Sportvereine, die kulturtragenden Vereine sowie die
kirchlichen und sozialen Gruppen stärken. Wir unterstützen diese ehrenamtliche, berufliche und nebenberufliche
Struktur, um Kräfte zu fördern, die sich um die jungen
Menschen kümmern.
Herr Schummer, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Rossmann zulassen?
Ja, aber sie muss kurz sein.
Haben Sie eine kurze Frage? - Bitte schön.
Herr Kollege Schummer, weil Sie sich gerne kümmern, fordere ich Sie auf: Kümmern Sie sich bitte auch
darum, dass der Rechtsanspruch auf Förderung eines
nachgeholten Hauptschulabschlusses, dem ersten Schulabschluss, in dem aktuellen Gesetzgebungsverfahren
nicht unter die Räder kommt! Denn das, was jetzt Recht
ist, soll künftig Ermessen werden. Ich bitte Sie ausdrücklich um Unterstützung Ihrer Seite. Kümmern Sie sich darum, dass dieses Recht bleibt!
({0})
Ich teile Ihre Auffassung.
({0})
Wir werden in der Arbeitsgruppe Bildung und Forschung ambitioniert darüber diskutieren.
Ich denke, auch die heutige Beratung ist nicht das
Ende der Debatte.
({1})
- Kollege Heil, so lebendig wie heute habe ich Sie in einer Talkshow selten erlebt. - Sie ist nicht das Ende der
Debatte, sondern der Beginn einer gemeinsamen Auseinandersetzung, die zu einem Gesamtpaket führen wird.
Bitte machen Sie nicht alles nur schlecht nach dem
Motto „Früher war alles gut und wir haben alles gemacht, aber heute ist alles schlecht“. Ein bisschen Differenzierung würde dem Klima gerade nach dem gestrigen
Tag insgesamt guttun.
({2})
Ich halte die Bildungskarte, die mit dem Bildungspaket entwickelt werden wird, für ein innovatives System. Damit reagieren wir nicht nur auf ein Gerichtsurteil,
sondern sie ist auch Bestandteil der Bildungsrepublik,
die wir entwickeln wollen. Sie kann Bundesmittel, kommunale und private Gelder miteinander vernetzen. Sie ist
ein offenes System, in das weitere Gruppen eingebunden
werden. Perspektivisch bietet sie auch die Chance, das
Bildungssparen für alle von Geburt an, das wir in der
christlich-liberalen Koalitionsvereinbarung manifestiert
haben, zu fördern, und hat durch Startkapital, Fördermittel, private Spareinlagen und Zinsen eine große Hebelwirkung.
Die Bildungskarte ist in der Zielvorstellung diskriminierungsfrei, da niemand sehen kann, ob es Fördermittel,
Sozialgelder oder private Gelder sind, die für Bildungszwecke überwiesen werden. Sie ist auch ein lernendes
System, das sich weiterentwickelt.
Ich denke, wir sollten uns in der heutigen Debatte zusichern, dass wir neben allen parteipolitischen Schaukämpfen, die gelegentlich stattfinden, im Blick behalten,
dass es um das Wichtigste in unserem Lande geht, nämlich um die Menschen, damit wir für sie alle ein vernünftiges und gutes Ergebnis erzielen. Was Frau von der
Leyen entwickelt hat, ist eine exzellente Grundlage. Es
ist ein guter Tag für die Menschen, die durch Bildung
den Aufstieg erreichen wollen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3404 und 17/3435 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Anton
Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Das Risiko von Altersarmut durch veränderte rentenrechtliche Bewertungen von
Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit und der
Niedriglohn-Beschäftigung bekämpfen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W.
Birkwald, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Risiken der Altersarmut verringern - Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose erhöhen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W.
Birkwald, Klaus Ernst, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbesserung der Rentenanwartschaften
von Langzeiterwerbslosen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W.
Birkwald, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
DIE LINKE
Schutz bei Erwerbsminderung umfassend
verbessern - Risiken der Altersarmut verringern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Katrin Göring-Eckardt,
Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mindestbeiträge zur Rentenversicherung
verbessern, statt sie zu streichen
- Drucksachen 17/1747, 17/1735, 17/256, 17/1116,
17/2436, 17/3477 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Als erstem Redner gebe ich dem Kollegen Peter Weiß
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer ein Leben lang fleißig gearbeitet hat, soll sich
darauf verlassen können, dass ihm im Alter nicht Altersarmut droht, sondern dass er von seinem Alterseinkommen einigermaßen gut leben kann. Es ist uns in Deutschland mit dem Ausbau der Alterssicherung Gott sei Dank
gelungen, dass heutzutage gerade 2,5 Prozent der Rentnerinnen und Rentner auf zusätzliche Hilfe des Staates
angewiesen sind, weil ihr Alterseinkommen nicht ausreicht.
({0})
Wir wollen, dass auch in Zukunft Altersarmut für die allermeisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn
sie in das Rentenalter kommen, ein Fremdwort bleibt.
Damit das gewährleistet bleibt, hat es sich diese christlich-liberale Koalition vorgenommen, unser Alterssicherungssystem mit einem zusätzlichen Schutz gegen Altersarmut zu versehen. Das ist eines der wichtigen
sozialpolitischen Vorhaben dieser Koalition. Die Bundesregierung wird im Frühjahr nächsten Jahres dazu eine
Regierungskommission einsetzen, die konkrete Vorschläge erarbeiten soll. Ich weiß, dass gleich der Zuruf
kommen wird: Warum liegt das alles noch nicht vor? Dazu muss ich Folgendes sagen: Was in elf Jahren unter
der Ägide sozialdemokratischer Arbeits- und Sozialminister nicht erledigt wurde,
({1})
kann eine neue Regierung nicht in einem Jahr aufarbeiten; das kann man nicht verlangen. Aber ich sage Ihnen
zu: Wir wollen das in dieser Legislaturperiode erledigen.
({2})
Ich kündige des Weiteren an, dass wir in dieser Regierungskommission selbstverständlich all die Vorschläge
Peter Weiß ({3})
der Oppositionsfraktionen, die nun als Antrag vorliegen,
in die Prüfung einbeziehen werden.
({4})
Nur, ich hätte heute viel lieber erklärt, dass wir die Vorschläge der Opposition übernehmen werden.
({5})
Allerdings hat die Anhörung des Bundestagsausschusses
für Arbeit und Soziales mit einer Reihe von Fachexperten ergeben, dass diese Vorschläge mit einer Reihe von
Mängeln behaftet sind. Ich will kurz zitieren, was die
Experten gesagt haben. Der Sachverständige der Deutschen Rentenversicherung erklärte:
Deswegen muss man allen Regelungen, die in der
gesetzlichen Rentenversicherung darauf gerichtet
sind, über die Aufstockung von Anwartschaften Altersarmut zu vermeiden, generell ein Problem mit
der Zielgenauigkeit attestieren.
Genau so ist es. Die Vorschläge der Opposition funktionieren nach dem Gießkannenprinzip und sind nicht zielgenau. In einem modernen Sozialstaat kann man aber
nicht mit der Gießkanne irgendwelche Segnungen ausschütten, die dann hoffentlich helfen. Ein moderner Sozialstaat funktioniert so, dass man demjenigen Hilfe präzise gewährt, der sie braucht. Man darf Mittel nicht
verschwenden.
({6})
Herr Professor Eekhoff hat generell festgestellt: „Es sind
dies keine Anträge, die Altersarmut verhindern.“ Entschuldigung, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, aber angesichts solch grundlegender Kritik
der Fachleute an Ihren Anträgen können wir Ihren Mogelpackungen nicht zustimmen.
({7})
Nun liegt ein besonderes Augenmerk auf der sozialen
Sicherung derjenigen Menschen, die Arbeitslosengeld II
beziehen. Es wird kritisiert - auch gestern in der Debatte
über das Haushaltsbegleitgesetz -, dass die Zahlungen
des Staates in die Rentenversicherung zugunsten der Arbeitslosengeld-II-Bezieher abgeschafft werden sollen;
das ist richtig. Aber die 2,09 Euro, die aus solchen Zahlungen als Rentenanspruch erwachsen, haben jemanden,
der lange Arbeitslosengeld II bezieht, schon bislang
nicht davor bewahrt, im Alter Grundsicherung zu beantragen.
({8})
Das wird auch in Zukunft so sein. Aber wir haben gestern eine wichtige Neuregelung für die Bezieher von
Arbeitslosengeld II beschlossen. Danach werden die
Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II selbst dann,
wenn staatlicherseits keine Zahlungen mehr für Arbeitslosengeld-II-Bezieher in die Rentenversicherung erfolgen, in der gesetzlichen Rentenversicherung angerechnet.
Hierdurch werden Lücken in der Versicherungsbiografie vermieden und insbesondere bestehende Anwartschaften auf Erwerbsminderungsrente oder Leistung zur
Teilhabe aufrechterhalten. Wer also schon einmal als Arbeitnehmer in die Rentenversicherung einbezahlt hat,
dann aber leider arbeitslos wird, der behält aus dieser
Zahlung die vollen Ansprüche an die Rentenversicherung. Insbesondere auch dann, wenn er krank wird, nicht
mehr arbeiten gehen kann, eine Erwerbsminderungsrente beantragen will, kann er diese Erwerbsminderungsrente auch weiterhin beantragen. Ja, es ist sogar so:
Diese Neuregelung, die wir gestern beschlossen haben,
führt dazu, dass sein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente höher ist, als er bei der Beibehaltung des alten
Rechts wäre. Also: Für Arbeitslosengeld-II-Bezieher,
die krank werden, die Erwerbsminderungsrente beantragen wollen, haben wir gestern die Leistungen verbessert
und nicht verschlechtert.
({9})
Das zeigt den wesentlichen Unterschied, der zwischen den verschiedenen politischen Parteien in der Sozialpolitik besteht. Wir, die neue Koalition aus CDU,
CSU und FDP, verteilen nicht irgendwelche wohlklingenden Placebos, die dann keine nachhaltige Wirkung
erzielen, wir helfen gezielt dem, der sich selbst nicht helfen kann, zum Beispiel weil er krank oder behindert ist.
Er kann sich auch in Zukunft auf die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung verlassen. Ich glaube, das
ist die wichtigste Zusage, die ein Sozialstaat geben kann.
Vielen Dank.
({10})
Anton Schaaf hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Peter Weiß, in der Tat ist es so, dass die Anträge, die hier
vorliegen, die zukünftige Altersarmut nicht verhindern
werden. Denn Altersarmut, Armut, hat Ursachen. Die
liegen in der Regel im Erwerbsleben, in der Erwerbstätigkeit, in unterbrochenen Erwerbsbiografien.
({0})
Hier geht es tatsächlich darum, mit schon vorhandener
Altersarmut umzugehen, jetzt konkret Altersarmut abzumildern und zu lindern.
In der Tat, wenn wir darüber reden, was die Regierung denn macht, was die Regierungskoalition macht,
um drohende Altersarmut zu verhindern, müssen wir
feststellen: Da besteht das Versagen dieser Regierung,
genau an dieser Stelle. Da geht es nämlich darum, dass
Menschen durch ihre Erwerbsbiografien, aus der Arbeit
und den Löhnen, die sie dafür erhalten, anständige Beiträge zahlen können, um über diese Beiträge auch vernünftige Ansprüche erwerben zu können. An der Stelle
versagen Sie komplett. Sie sind eine Ursache für drohende Altersarmut. Das ist der entscheidende Punkt. Darüber müssen wir uns im Klaren sein.
({1})
Ich sage Ihnen einmal etwas: Das DIW hat für die
Jahrgänge 1952 bis 1971 im Osten der Republik berechnet, dass bei den Männern 31,4 Prozent und bei den
Frauen 46,6 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Rente unterhalb von 600 Euro erhalten werden. Da ist Altersarmut sehr konkret. Die Frage ist: Was
tun Sie gegen diese drohende Altersarmut?
Jetzt konstatiere ich, dass man sich natürlich darauf
konzentrieren muss, einige Sachen zu machen. Die Frau
Ministerin hat gesagt, in diesem Jahr würde sie außer
SGB II nichts machen, da sie dafür keine Kapazitäten
habe. - Na ja, das Ministerium scheint mir kleiner geworden zu sein, es gibt da verschiedene Abteilungen.
Aber unabhängig davon ist es völlig in Ordnung, dass
man sich in der Koalition zusammensetzt und überlegt,
wie man beispielsweise das Thema Altersarmut angehen
kann. Aber ganz konkret geht es hier um den Vorschlag,
den die SPD-Fraktion dazu gemacht hat, nämlich ein bewährtes Mittel, um jetzt Menschen vor Altersarmut zu
schützen, die Rente nach Mindestentgeltpunkten, einfach für einige Jahre fortschreiben, bis man andere Lösungen gefunden hat, um drohende Altersarmut generell
zu verhindern. Aber auch an dieser Stelle wollen Sie
- wie gerade eben sehr deutlich gesagt - nicht mitmachen.
Bei der Frage Arbeitslosengeld II und Rentenversicherungsbeiträge, Kollege Weiß, haben Sie ja recht. Bei
dem Betrag, der da gezahlt wird, kommt ein Anspruch
von 2,09 Euro monatlich heraus. Das wird Altersarmut
nicht verhindern. Aber was auch noch daran hängt, sind
die Leistungen, die sich aus der Beitragszahlung ergeben. Jetzt hat Gott sei Dank die Koalition begriffen
- auch auf Intervention der Oppositionsparteien -, dass
es so ist, dass die Ansprüche auf Erwerbsminderungsrente da mit dranhängen, Ansprüche auf Reha und Ähnliches, und hat da korrigiert. Am Mittwoch haben Sie übrigens gesagt, Sie hätten das schon getan, gestern haben
Sie es dann getan. Unabhängig davon haben Sie es ja
Gott sei Dank verstanden.
Dann sagen Sie hier, die Ansprüche bei Erwerbsminderungsrente wären jetzt für die Betroffenen höher. Bei
Beitragslosigkeit können die Ansprüche aber nicht mehr
wachsen. In der Tat werden die Ansprüche zunächst einmal etwas höher; aber man kann nicht weiter Ansprüche
ansparen. Deswegen sind Beitragszahlungen so wichtig.
Es ist daher falsch, die 1,8 Milliarden Euro Zuschuss an
die Rentenversicherung zu streichen.
Vor dem Hintergrund Ihres immer wieder vorgetragenen Mottos „Mehr Netto vom Brutto“ - damit haben Sie
Wahlkampf betrieben - ist es nicht nachvollziehbar und
nicht in Ordnung, dass die Langzeitarbeitslosen keinen
Zuschuss zur Rentenversicherung mehr bekommen.
Zwar sparen Sie, die Regierung, an dieser Stelle - das ist
schon richtig -; dafür zahlen müssen aber die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber, da
die Rentenversicherungsbeiträge in Zukunft nicht von
19,9 Prozent auf 19,3 Prozent abgesenkt werden können.
Für die Arbeitnehmer kommt dabei am Ende definitiv
weniger Netto vom Brutto heraus.
({2})
Das ist der entscheidende Punkt.
Sagen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern sehr
deutlich, dass deren Rentenversicherungsbeiträge nicht
abgesenkt werden können, weil die Regierung zulasten
von Arbeitslosen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ihr Sparprogramm durchdrückt.
({3})
Herr Weiß, Sie haben gesagt: Wer ein Leben lang gearbeitet hat, muss am Ende auch einen vernünftigen Anspruch auf Rente haben, also auf eine Rente, von der er
leben kann. Das ist schon richtig; da gebe ich Ihnen ausdrücklich recht. Es gibt aber schon jetzt Hunderttausende von Menschen, die jeden Tag arbeiten gehen und
am Ende des Monats von dem Geld, das sie verdient haben, nicht leben können und die zusätzliche Leistungen
in Anspruch nehmen müssen. Die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die zu solchen Bedingungen arbeiten
müssen, können sich überhaupt keinen vernünftigen
Rentenanspruch erarbeiten; es funktioniert nicht. Was
machen Sie? Sie weiten willkürlich die Zahl derer aus,
die unter solchen Bedingungen arbeiten und sich zusätzlich bei staatlichen Leistungsträgern Geld abholen müssen, indem Sie die Zuverdienstgrenzen anheben. Diese
Menschen werden in der Regel keine vernünftigen Ansprüche auf Rente erwerben können. Da hilft auch keine
private Zusatzvorsorge - wir haben sie gefördert und
auch gewollt -, weil sie nicht in der Lage sind, dafür anzusparen. Das ist doch das Problem.
Man muss Altersarmut präventiv verhindern. Das
heißt im Klartext: Menschen, die arbeiten, müssen anständige Löhne bekommen. An dieser Stelle verweigern
Sie sich komplett.
({4})
Der Verfall der Löhne und die Zunahme von prekärer
Beschäftigung werden die Ursachen für steigende Altersarmut sein.
Ich spreche die Sozialdemokratie nun nicht von allem
frei; aber die Frage, was nach dem SGB II zumutbar ist,
hat Rot-Grün damals gesetzlich geregelt - manche wollen sich geschichtlich aus der Verantwortung stehlen; das
gilt insbesondere für Sie, meine Damen und Herren von
der Union -: Zumutbar ist jede Arbeit, die ortsüblich
oder tariflich entlohnt wird. Sie haben über den Bundes7494
rat daraus gemacht, dass jede Arbeit zumutbar ist, die
nicht sittenwidrig ist. Übrigens steht auch in Ihrem Koalitionsvertrag: Arbeit ist zumutbar, wenn sie nicht sittenwidrig ist. Sittenwidrig ist ein Lohn nach der rechtlichen Definition, wenn er ein Drittel geringer ist als der
ortsübliche oder der tarifliche Lohn.
Was heißt das beispielsweise für die Friseure in Sachsen? Sie haben einen Stundenlohn von 3,70 Euro. Sie,
Koalition und Regierung, sind damit einverstanden, dass
sie um die 2 Euro bekommen. Ich sage Ihnen: schon
3,70 Euro, 4 Euro, 5 Euro sind sittenwidrig. Wir müssen
diesen Zustand beenden.
({5})
Solange Sie sich nicht auf den Weg machen, dafür zu
sorgen, dass die Ursache von Altersarmut - sie liegt in
der Regel im Erwerbsleben - dadurch beseitigt wird,
dass Menschen anständige Löhne für die Arbeit, die sie
leisten, bekommen, werden Sie bei der Bekämpfung von
Altersarmut auch nicht erfolgreich sein können, zumal
Sie die Instrumente, die die Opposition vorgeschlagen
hat, ablehnen. Diese Instrumente werden zwar unterschiedlich bewertet, aber es gibt eine Gemeinsamkeit:
Mit ihrem Einsatz bemüht man sich ernsthaft darum, denen zu helfen, die jetzt nicht genug Altersansprüche haben. An dieser Stelle bleiben Sie bisher jede Antwort
schuldig.
Die Kommission soll Sie dabei ein Stück weiterbringen. Diese Hoffnung habe ich allerdings nicht. Ihnen
geht es bei dem, was Sie da beschließen, nämlich darum,
dass jeder Mensch hier Arbeit hat, wobei die Bedingungen, zu denen die Menschen arbeiten, ruhig schlecht sein
können, was dazu führen kann, dass man für das Alter
nicht genügend Ansprüche erwirbt. So wird man Altersarmut definitiv nicht verhindern können. Ich befürchte,
wenn Sie die Ursache des Problems nicht beseitigen,
nutzt Ihre Kommission nichts.
({6})
Dr. Heinrich Kolb hat jetzt das Wort für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte gern auf die Argumente des Kollegen Schaaf
eingehen. Herr Kollege Schaaf, Ihr erster Punkt war,
dass Sie gesagt haben, es müssen anständige Löhne gezahlt werden. Ich möchte zunächst einmal darauf hinweisen, dass die Idee, einen Niedriglohnsektor in
Deutschland einzuführen, nicht unsere Idee gewesen ist,
sondern es war die Idee des Bundeskanzlers Schröder,
der damals gesagt hat: Um 5 Millionen Arbeitslosen in
Deutschland neue Beschäftigungschancen zu eröffnen,
müssen wir da, wo nur geringe Qualifikationen gegeben
sind, dafür sorgen, dass auch geringere Löhne möglich
sind. - Das war Ihre Tat. Heute muss man feststellen: Sie
waren erfolgreich. Es sind viele Menschen mit geringer
Qualifikation - allerdings auch zu geringeren Löhnen in Beschäftigung gekommen.
({0})
Der zweite Punkt ist, dass Sie sagen: Wenn wir einen
Mindestlohn einführen, haben wir alle Probleme gelöst.
Da will ich einfach einmal aus der Anhörung zitieren,
die im September stattgefunden hat, und zwar aus der
schriftlichen Stellungnahme des IAB, des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg - kein
Zentralorgan der FDP -, Drucksache 17({1})263. Da
heißt es:
Ein gesetzlicher Mindestlohn verbessert zwar die
Einkommensposition der betroffenen Personen. Die
Beiträge zur Rentenversicherung und somit auch
die Höhe der zukünftigen Rentenzahlungen würden
allerdings nur dann mit Sicherheit steigen, wenn
man vernachlässigt, dass von einem gesetzlichen
Mindestlohn auch ({2}) Beschäftigungswirkungen ausgehen können und nicht alle Personen,
die den Mindestlohn erhalten, weiter beschäftigt
bleiben.
Auf der Folgeseite steht:
Bei einer Höhe eines allgemeinen gesetzlichen
Mindestlohns von 10 Euro muss allerdings mit sehr
hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die negativen Auswirkungen überwiegen
und bestehende Beschäftigungsverhältnisse abgebaut bzw. neue verhindert werden.
({3})
Sosehr ich es bedauerlich finde, wenn eine Friseuse in
Sachsen - übrigens auf der Basis eines Tarifvertrages,
der die Unterschriften von Arbeitgebern und Gewerkschaften gleichermaßen trägt, sonst wäre es nämlich kein
Vertrag - für 3,70 Euro arbeiten muss, die Vorstellung,
dass dieses Beschäftigungsverhältnis auch dann weiterbestehen würde, wenn Sie zusammen mit der vereinigten
Linken einen Mindestlohn von 10 Euro einführen, ist
wirklich abenteuerlich. Das muss man hier sagen. Deswegen ist das kein tragfähiger Ansatz zur Beseitigung
des Problems.
({4})
Drittens. Die gesetzliche Rentenversicherung, Herr
Kollege Schaaf, ist wichtig. Aber allein über die gesetzliche Rentenversicherung die Probleme in den Griff bekommen zu wollen, ist ebenfalls nicht möglich.
({5})
- Ich sage das, weil Sie als zweites Instrument genannt
haben: Wir haben doch die Rente nach MindesteinkomDr. Heinrich L. Kolb
men, lasst uns das doch weitermachen. - Es gab gute
Gründe, warum wir uns dafür entschieden haben, diese
Rente nach Mindesteinkommen zu beenden - nicht nur,
weil sie sehr teuer ist und erhebliche Beitragsgelder verschlingt - das könnte man noch akzeptieren -, aber sie
ist auch ein erheblicher Verstoß gegen das Äquivalenzprinzip. Es ist doch die tragende Säule unserer gesetzlichen Rentenversicherung, dass Rente in dem Maße gezahlt wird, wie man zuvor auch Beiträge geleistet hat.
Jemand, der aufwertet - so wie Sie es vorschlagen -,
nimmt zwangsläufig in Kauf, dass es Überholvorgänge
gibt. Es ist eben nicht akzeptabel, dass jemand, der einen
geringeren Anspruch hat, nach Ihrem Eingriff plötzlich
einen höheren Rentenanspruch hat als jemand, der vorher regulär höhere Beiträge gezahlt hat. Das ist für uns
nicht akzeptabel. Deswegen sind wir nicht bereit, die Regelung zur Rente nach Mindesteinkommen zu verlängern.
({6})
Der vierte Punkt ist: Ich glaube, wir müssen in der
Diskussion auf den Boden kommen und das Problem
einmal realistisch beschreiben. Das heißt, dass man nicht
jedem, der einen niedrigen Rentenanspruch hat, tatsächlich über Eingriffe in die gesetzliche Rentenversicherung
beispielsweise eine höhere Gesamtvorsorge versprechen
kann. Es ist nämlich so - das sind die Zahlen, Herr Kollege Birkwald, die im Alterssicherungsbericht 2005 vorgelegt wurden; mit Sicherheit gelten die Verhältnisse bis
heute -, dass Personen, die aus der gesetzlichen Rentenversicherung im Schnitt einen Anspruch von unter
250 Euro haben, eine Gesamtaltersvorsorge von
1 386 Euro für Männer und 1 012 Euro für Frauen haben. Da muss man fragen, wo die Pflicht des Staates endet, Altersarmut zu beseitigen, bzw. was Altersarmut
überhaupt ist. Es können keine anderen Maßstäbe gelten
- davon bin ich überzeugt -, als sie auch für Erwerbstätige gelten. Wenn wir da sagen, dass Personen, die
880 oder 900 Euro verdienen, armutsgefährdet sind, wird
man den Menschen auch kaum versprechen können, dass
sie nach staatlicher Fürsorge oder nach staatlichem
Eingriff ein Gesamtalterseinkommen von 1 000 oder
1 200 Euro sicher haben werden. Es ist ganz einfach so:
900 Euro sind eine realistische Summe.
Wir haben einen sehr guten Vorschlag gemacht, den
ich zum Schluss meiner Redezeit noch vorstellen will:
Es gibt bereits heute eine Grundsicherung im Alter, die
im Schnitt 680 Euro beträgt; regional kann das etwas abweichen. Wir müssen die Menschen - das ist der präventive Ansatz, den wir verfolgen - dazu anhalten, etwas für
ihre eigene Altersvorsorge - privat oder betrieblich - zu
tun und sich einen Rentenanspruch aufzubauen.
({7})
Wir müssen ihnen garantieren, dass sie einen Freibetrag
von 100 Euro für private und betriebliche Vorsorge und
von vielleicht 100 Euro für gesetzliche Rentenbeiträge
behalten dürfen, auch wenn sie unter dem Niveau der
Grundsicherung liegen. Somit kämen sie auf eine
Summe von insgesamt 900 Euro und wären nicht mehr
armutsgefährdet. Das ist ein möglicher und finanzierbarer Weg.
Zu vielen Vorschlägen, die hier auf den Tisch gelegt
worden sind, muss man einfach sagen: Sie sind nicht
realistisch. Sie sind falsch, weil die Frage der Bedürftigkeit und der individuellen Vermögenspositionen vollkommen ausgeblendet wird. So kann man es nicht
machen. Man muss das Ganze schon ein bisschen zielgenauer justieren. Das wollen und werden wir in unserer
Kommission, die im nächsten Jahr ihre Arbeit aufnimmt,
tun. Ich glaube, dass wir am Ende dieser Legislaturperiode guten Gewissens sagen können: Wir sind das
Problem angegangen und präsentieren Lösungen, die
dazu führen, dass in den Jahren 2020 bzw. 2030 die Altersarmut in Deutschland nicht ein so großes Problem
ist, wie sie es heute zu werden scheint.
Danke.
({8})
Das Wort hat der Kollege Matthias Birkwald für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Linke will ein Gebäude sozialer
Sicherheit errichten, das im Alter den einmal erreichten
Lebensstandard sichert und vor Armut schützt. Herr
Kolb, ich bin der Meinung, niemand soll im Alter von
weniger als 900 Euro leben müssen.
({0})
In den vergangenen zehn Jahren haben die verschiedenen Bundesregierungen - egal ob SPD- oder CDU/
CSU-geführt - nicht nur an der Fassade des bisherigen
Gebäudes sozialer Sicherheit gekratzt.
Erstens. Sie haben wichtige Bausteine zerstört, indem
sie die Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose radikal
gekürzt haben. Mit Ihrem sogenannten Sparpaket wollen
Sie, meine Damen und Herren von Union und FDP, die
Rentenbeiträge jetzt vollständig streichen. Das ist falsch.
Wir müssen sie erhöhen.
({1})
Zweitens. Sie haben bisher tragende Elemente ausgetauscht, indem Sie die Riester-Rente erfunden, das Rentenniveau abgesenkt und Abschläge, also Kürzungen,
auf die Erwerbsminderungsrente eingeführt haben.
Heute reden wir über die Erwerbsminderungsrente. Da
gilt: Weg mit den ungerechten Abschlägen.
({2})
Drittens. Sie haben sogar das Fundament ins Wanken
gebracht, indem Sie den Niedriglohnsektor ausgedehnt
und Billigjobs gefordert und gefördert haben. Wir sagen:
Ein sicheres Fundament im Alter gibt es nur mit flächendeckenden gesetzlichen Mindestlöhnen. Die von den
Grünen geforderten 7,50 Euro sind nicht genug. Auch
die von der SPD geforderten 8,50 Euro reichen nicht
aus, um einen Beitrag gegen Altersarmut zu leisten. Dafür braucht man einen Mindestlohn von 10 Euro.
({3})
Die Schäden müssen und können wir beheben, und
das möglichst schnell und möglichst gründlich.
Schwarz-Gelb hat aber eine recht eigenartige Sicht auf
die Dinge. Am 21. Oktober 2010, also vorige Woche, hat
das Statistische Bundesamt verkündet, dass die Zahl derer, die auf Grundsicherung im Alter und auf Erwerbsminderung angewiesen sind, erstmals geringer geworden
sei, und zwar um 3 800. Das sind 0,5 Prozent weniger
als noch 2008. Ich sage: Sie streifen sich eine rosarote
Brille über und erklären das, was Sie damit sehen, zur
Wirklichkeit. Dabei handelt es sich aber nicht um die
Wirklichkeit der Betroffenen. Ihre Basta-Haltung zur
Rente erst ab 67 ist ein weiteres besonders erschreckendes Beispiel. Um es ganz klar zu sagen: Sie leisten sich
einen verzerrten Blick auf die Wirklichkeit. Den Arbeitslosen, Armen und Alten präsentieren Sie die Rechnung
dafür. Das ist nicht in Ordnung. Das muss anders werden.
({4})
Setzen Sie doch Ihre rosarote Brille einfach einmal
ab, und wagen Sie einen Blick auf die wirklichen Verhältnisse in diesem Land. Dabei werden Sie nämlich eines feststellen: Altersarmut ist leider bereits heute ein
Problem. Das ist die Wirklichkeit.
({5})
Ein ehrlicher Blick auf die Statistik zeigt das: Seit 2003,
also seit es die sogenannte Grundsicherung im Alter
gibt, ist die Zahl der Betroffenen, also der Menschen, die
von durchschnittlich 683 Euro im Monat leben müssen,
um - jetzt hören Sie bitte gut zu! - 70 Prozent gestiegen.
Diese traurige Entwicklung treiben Sie mit der Rente
erst ab 67 und Ihrem aberwitzigen Paket an Sozialkürzungen gewaltig voran. Deshalb lehnt die Linke beides
entschieden ab.
({6})
Bei den Rentenbeiträgen für Langzeiterwerbslose offenbaren Sie eine frappierende Tierquälerlogik nach dem
Muster: Wir reißen der Fliege erst ein Bein aus und dann
noch eines, um schlussendlich ihr Leiden und Leben mit
dem Hinweis zu beenden, dass das Tier ohnehin kaum
noch zappelt. Denn der Beitrag zur Rentenversicherung
ist unter Beteiligung oder Zustimmung von CDU/CSU
und FDP systematisch gesenkt worden. Nun hat Bundeskanzlerin Merkel verkündet, dass der verbliebene Rest
so gering sei, dass auch er jetzt noch gestrichen werden
könne. Herr Weiß hat das hier vorhin für die CDU/CSU
wiederholt. Die Linke fordert deshalb, dass aus den
mickrigen 2,09 Euro Rentenanspruch nach einem Jahr
Hartz IV nicht 0 Euro werden, wie Union und FDP dies
durchdrücken wollen, sondern 13,60 Euro; denn das
wäre ein kleiner, aber wichtiger Baustein gegen die Altersarmut.
({7})
Ja, wir Linken wollen deutlich mehr soziale Gerechtigkeit. Zugegeben, das ist ein weites Feld. Aber wenn
Sie einen Menschen für etwas bestrafen, woran er nicht
schuld ist und was er nicht ändern kann, dann werden
Sie niemanden auf diesem weiten Feld finden, der sagt:
Das ist gerecht, das kann ich rechtfertigen. - Bei der Erwerbsminderungsrente aber passiert genau das: Niemand
entscheidet sich dafür, krank zu werden. Niemand kann
ernsthaft den Betroffenen die Schuld an ihrer Erwerbsminderung in die Schuhe schieben.
Herr Kollege!
Trotzdem werden die Menschen mit drastischen Rentenkürzungen von bis zu 11 Prozent bestraft, wenn sie
vor dem 63. Lebensjahr auf eine Erwerbsminderungsrente angewiesen sind.
Kommen Sie bitte zum Ende!
Das ist völlig ungerecht. Deshalb müssen wir das ändern.
Herzlichen Dank.
({0})
Wolfgang Strengmann-Kuhn hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch heute ist ein schwarzer Tag. Heute geht es um die
Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher. Insofern knüpft
dieser Tagesordnungspunkt direkt an den vorherigen an.
Schade, dass die Ministerin nicht mehr hier ist; denn
ich hätte sie gerne gefragt, wie es sich eigentlich anfühlt,
wenn man am Schreibtisch sitzt und überlegt: Blumen
und Zimmerpflanzen für die Armen - kann gestrichen
werden. Haustiere für die Armen - kann gestrichen werden. Besuch einer Eisdiele für die Kinder - kann gestrichen werden. Das Stückchen Kuchen im Café - kann gestrichen werden. Geld für die Riester-Rente für die
Armen - kann gestrichen werden. Rentenversicherungsbeiträge für die Armen - kann gestrichen werden. Das ist
das Prinzip der Bundesregierung. Ich frage mich: Welches Menschenbild steht eigentlich dahinter?
Bei der Streichung der Rentenbeiträge geht es nicht
nur um die Arbeitslosengeld-II-Beziehenden. Die Streichung von 1,8 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt
- der Kollege Anton Schaaf hat das eben schon gesagt Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
bedeutet nicht, dass Ausgaben sinken. Vielmehr bleiben
die Ausgaben in der Rentenversicherung gleich, aber jemand anders muss sie bezahlen. Letztlich ist die Kürzung im Bundeshaushalt nichts anderes als ein dreister
Griff in die Rentenkasse.
({0})
Hier geht es um 1,8 Milliarden Euro, nicht einmalig,
sondern jedes Jahr in die Zukunft hinein. Es ist schlicht
eine Lüge, zu behaupten, dass dadurch gespart wird. Bezahlen müssen das die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, was nicht nur verteilungspolitisch problematisch,
sondern auch wirtschaftlicher Unsinn ist, denn der Faktor Arbeit wird wieder verteuert. Die Mittelschicht und
die Geringverdiener werden belastet, und das alles nur,
um Ihre Geschenke für Hoteliers und andere zu finanzieren.
({1})
Für die Bundesregierung gilt der Grundsatz: Mehr
Netto vom Brutto für die Besserverdienenden und weniger Netto vom Brutto für die mittleren und unteren Einkommen. Umgekehrt müsste es sein.
({2})
- Das ist doch völlig richtig: Sie senken die Steuern für
die Reichen und erhöhen die Beiträge für die Geringverdienenden.
({3})
In der Arbeitslosenversicherung wird das kommen, im
Gesundheitswesen kommt es, und auch in der Rentenversicherung wird es kommen. Der Kollege Schaaf hat
Ihnen das eben vorgerechnet. Die Bundesregierung hat
uns in einer Antwort direkt bestätigt, dass die Beiträge
nicht sinken werden. Ich prognostiziere, dass die Beiträge zur Rentenversicherung steigen werden.
({4})
- Ich bitte Sie, nicht weiter dazwischenzuquatschen,
sondern mir eine Zwischenfrage zu stellen; dann kann
ich Ihnen das genauer darlegen.
({5})
Es ist klar, dass die FDP immer Probleme hat, wenn es
um Zahlen geht.
({6})
Herr Weiß hat gerade stolz erwähnt, dass die Sozialpolitiker der Union - unter anderem auf Initiative der
Opposition hin - erreicht haben, dass sich die Renten für
einen Teil der Hartz-IV-Bezieher sogar erhöhen können;
das finde ich gut. Gleichzeitig erhalten andere geringere
Renten, und ein nicht zu unterschätzender Teil erhält
überhaupt keinen Zugang mehr zu Erwerbsminderungsrenten und Rehaleistungen.
Das Ganze folgt dem Matthäus-Prinzip - es stammt
nicht von Lothar Matthäus, sondern aus dem Gleichnis
von den anvertrauten Zentnern im Matthäus-Evangelium -:
Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im
Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch
noch weggenommen, was er hat.
Dieses Prinzip zieht sich durch die gesamte Politik der
Bundesregierung.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie
haben dieses Bibelzitat falsch verstanden; denn das, was
Sie machen, ist genau das Gegenteil von christlicher
Politik.
Unsere Alternative dazu lautet:
Erstens. Es müssen Rentenbeiträge für die Arbeitslosen gezahlt werden, damit tatsächlich alle Arbeitslosen
Zugang zur Erwerbsminderungsrente und zu Rehaleistungen erhalten.
Zweitens. Der Beitrag, der für die Arbeitslosen gezahlt wird, muss angemessen sein. Wir schlagen vor, die
Mindesthöhe an den Mindestbeitrag der Erwerbstätigen
anzupassen.
Drittens. Altersarmut muss zielgenau bekämpft werden. Es ist richtig: Die Vorschläge der SPD und der Linken sind von den Experten kritisiert worden. Wir schlagen eine Garantierente vor, die tatsächlich sicherstellt,
dass alle langjährig Versicherten eine Rente über dem
durchschnittlichen Grundsicherungsniveau erhalten.
({8})
Die Politik der Bundesregierung geht zulasten der
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, zulasten der
ärmsten Hartz-IV-Bezieher und Hartz-IV-Bezieherinnen
sowie zulasten der Kommunen, die die zusätzlich anfallenden Grundsicherungsleistungen zahlen müssen. Wir
stellen uns auch in diesem Fall quer. Wir stellen uns vor
die Hartz-IV-Bezieher und Hartz-IV-Bezieherinnen, vor
die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und vor die
Kommunen.
Herr Kollege.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Frank Heinrich hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zum zweiten Mal bekomme ich von Ihnen,
von der grünen Fraktion, eine Vorlage aus der Theologie,
in diesem Fall aus dem Matthäus-Evangelium. Wir müssen an anderer Stelle über die Aussage diskutieren; denn
das war keine sozialpolitische Aussage, sondern eine
theologische. Ich gehe gerne an anderer Stelle darauf
ein. Aber selbst freie, liberale Theologen legen das nicht
so aus.
({0})
Ich möchte auf die fünf Anträge eingehen, über die
wir heute hier diskutieren. Alle Anträge drehen sich
- das ist die Schnittmenge der Titel der Anträge - um
das Risiko der Altersarmut. Ehrlich gesagt: Da besteht
sehr wohl eine gewisse Einigkeit mit uns.
Altersarmut - das ist mein erstes Stichwort - ist ein
Problem, dessen Lösung wir in Angriff nehmen müssen.
Wir müssen dafür aber wissen, welchen Umfang das
Problem hat, das auf uns zukommt. Es ist richtig, dass
wir das Thema in Angriff nehmen. Es handelt sich um
ein Problem, das im Moment noch sehr klein ist - das
haben Sie selber wahrgenommen -, aber ganz klar auf
uns zukommt.
({1})
Wir müssen Altersarmut verhindern; da bin ich, da ist
meine Partei vollkommen bei Ihnen. Wenn die Altersarmut in hohem Maße auf uns zukommt, sollten wir Vorkehrungen treffen.
({2})
Wir teilen sehr wohl die Sorgen, die Sie und die Bürger haben. Das schlägt sich auch darin nieder, dass wir
die im Koalitionsvertrag angekündigte Kommission einsetzen. Es geht darum, herauszufinden, ob und, wenn ja,
in welchem Umfang man auf Altersarmut reagieren
muss. Herr Weiß hat es schon gesagt: Wir sind sehr gespannt auf die Arbeit der Kommission und auf die Umsetzung der Ergebnisse
Ein zweites Stichwort ist immer wieder gefallen:
Grundsicherung. Ich bin der Überzeugung, dass wir zwei
Dinge voneinander trennen sollten. Die Bereiche Rente
und Grundsicherung sollten wir nicht miteinander vermähren, wie wir in Sachsen sagen. Rentenansprüche
sollten aus Arbeit und nicht aus Nichtarbeit entstehen;
denn für Letzteres ist die Grundsicherung da. Diese zwei
Bereiche sollten auseinandergehalten werden.
Sie haben die Systematik zum Thema gemacht. Ich
möchte kurz darauf eingehen. Es ist systemgerecht,
wenn wir die vorhin angesprochene Rentenerhöhung um
2,09 Euro, die erwirtschaftet wird, wenn man ein Jahr
lang Arbeitslosengeld II bezieht, nicht beibehalten. Es
ist nicht Aufgabe dieses Fürsorgesystems, ohne Einzelfallbetrachtung aus Steuermitteln Beiträge in ein Versicherungssystem einzubringen und damit versicherungsrechtliche Ansprüche aufzubauen. Typisch für ein
Fürsorgesystem ist die Unterstützung bei akuter Hilfsbedürftigkeit. Es ist nicht Aufgabe dieses Fürsorgesystems,
bei bereits eingetretener Hilfsbedürftigkeit eine weitere
künftige Hilfsbedürftigkeit - im vorliegenden Fall die im
Alter - generell zu verhindern. Tritt im Alter Hilfsbedürftigkeit ein, so besteht ein Anspruch auf Grundsicherung im Alter. Das Gleiche gilt für die Erwerbsminderungsrente. Das ist die Systemgerechtigkeit.
Deshalb haben wir diesen Teil gestrichen. Es soll ein
zusätzlicher Anreiz entstehen. Die Leute sollen Mut bekommen und sich der Herausforderung, wieder in Arbeit
zu kommen, stellen. In Arbeit kommen, das hat etwas
mit Würde und Stolz zu tun. Wir sind angetreten, um
Menschen in Beschäftigung zu bringen, auch wenn Sie
das in Abrede stellen.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ilja Seifert zulassen?
Nein, ich möchte jetzt gerne zum Ende kommen.
Letztlich stehen wir für den Ausstieg aus einer Hartz-IVKultur, die sich auch hier niederschlägt, und für den Einstieg in eine Kultur der Beteiligung, der Teilhabe, der
Selbstbestimmung, der Bestätigung und der Herausforderung, vielleicht auch der „Herausförderung“.
Damit komme ich zu dem Menschenbild, dass Sie,
Herr Strengmann-Kuhn, angesprochen haben. Wir
möchten den Menschen ihren Stolz und ihre Würde zurückgeben. Fordern und Fördern, immer in dem Wissen:
Wer nicht kann, findet Hilfe und Unterstützung beim
Staat.
({0})
Das dritte Stichwort ist Realität; damit komme ich
zum Schluss. Wir müssen abwarten. Wir können nicht
von Spekulationen ausgehen. Ich habe einen Bericht gelesen, in dem es um das Problem der Zielgenauigkeit
geht. Dieses Problem gehen wir jetzt an. Ein Rentenfachmann sagte mir gestern: Ja, es wird Geld gespart,
und der Verwaltungsaufwand wird verringert - das ist
die eine Seite -, viele Erwerbsbiografien verlaufen aber
nicht so, wie wir glauben.
Immer gleich vom Negativen auszugehen, hat etwas
von Kapitulation.
({1})
Ich komme aus der Jugendhilfe. Ein Kollege von mir berichtete Folgendes: Das Jugendamt fragte: Warum müssen Sie das so ausstatten? Sie verwöhnen die Leute doch.
Die landen hinterher doch sowieso bei Hartz IV. - Er
winkte ab und sagte: Eben nicht. Wir wollen ein Bild
malen und den Jugendlichen zeigen, wie es auch sein
kann. Wir wollen ihnen eine Alternative bieten, die für
sie Anreiz ist, aus dem System herauszuwachsen.
Genau das wollen wir. Wir wollen Anreize schaffen
und nicht aufgeben.
Ich danke Ihnen.
({2})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Ilja Seifert.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Lieber Herr Kollege, da Sie mir keine Zwischenfrage zugestanden haben, möchte ich zwei Bemerkungen machen:
Erstens. Alle Koalitionsrednerinnen und -redner sprachen mit großer Euphorie von der Kommission, die Sie
einsetzen wollen.
({0})
Was passiert denn, wenn bei der Arbeit der Kommission
Ergebnisse herauskommen, die Ihnen nicht passen? In
der vergangenen Wahlperiode wurde eine Kommission
zur Klärung des Pflegebegriffs eingesetzt. Sie hat hervorragende Ergebnisse erarbeitet. Bedauerlicherweise
redet von der Regierung jetzt niemand mehr davon. Die
Ergebnisse der von Ihnen selbst eingesetzten Kommission werden ignoriert und in den Skat gedrückt. Das
kann doch nicht sein.
Zweitens. Sie behaupten Folgendes: Wenn Sie die
Beiträge für Arbeitslose streichen, sei das ein Anreiz,
schneller in Arbeit zu kommen, weil man nicht auf die
Grundsicherung angewiesen sein möchte.
Haben Sie aufgrund der Erlebnisse, die die Menschen
Ihnen berichten, nicht den Eindruck, dass es genau umgekehrt ist? Diejenigen, die wissen, dass sie keine
Chance haben, über das Niveau der Grundsicherung zu
kommen, haben keinen Anreiz mehr, sich um eine Arbeit zu kümmern.
({1})
Eine Arbeit im Niedriglohnbereich würde auf keinen
Fall ausreichen, um über den Grundsicherungsbetrag zu
kommen. Das heißt also, dass Sie die Vorsorge regelrecht torpedieren.
Vielen Dank.
({2})
Herr Heinrich, zur Antwort.
Da Sie Ihren Beitrag als Kommentar verstehen,
möchte ich nur kurz antworten.
Zum ersten Punkt. Sie dürfen uns an den Ergebnissen
der von uns beauftragten Kommission messen. Aus diesen Ergebnissen leiten wir unsere Aufgabenbeschreibung ab. Wir werden dann darüber diskutieren, ob Sie
unsere Antwort auf die Ergebnisse der Kommission akzeptieren können. Bis dahin müssen wir mit der Feinjustierung warten.
Zum zweiten Punkt. Sie haben nach meinem Erleben
gefragt. Mein Erleben ist tatsächlich ein anderes. Ich
habe erlebt, dass Menschen motiviert sind, wenn man ihnen Chancen eröffnet und wenn man sie fordert. Aus
meinen Gesprächen in meinem Wahlkreis weiß ich, dass
die Menschen am Ende gerne sagen würden: Das habe
ich mir selbst erarbeitet.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Drucksache 17/3477. Unter Buchstabe a empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/1747 mit dem Titel „Das Risiko
von Altersarmut durch veränderte rentenrechtliche Bewertungen von Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit und
der Niedriglohn-Beschäftigung bekämpfen“. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen.
Dagegen gestimmt hat die SPD-Fraktion. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die
Linke.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1735 mit dem
Titel „Risiken der Altersarmut verringern - Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose erhöhen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Dafür gestimmt haben die Koalitionsfraktionen
und die SPD-Fraktion. Dagegen gestimmt hat die Fraktion Die Linke. Enthalten hat sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss in seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/256 mit dem Titel
„Verbesserung der Rentenanwartschaften von Langzeiterwerbslosen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen und die SPD-Fraktion.
Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1116 mit dem Titel „Schutz bei Erwerbsminderung umfassend verbessern - Risiken der Altersarmut
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
verringern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Unter Buchstabe e empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2436 mit dem Titel „Mindestbeiträge zur Rentenversicherung verbessern, statt sie zu
streichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Dagegen hat die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Alle anderen Fraktionen waren dafür.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 31 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher
Kinder
- Drucksache 17/3305 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kolle-
ginnen und Kollegen Granold, Steffen, Thomae,
Petermann, Hönlinger und der Parlamentarische Staats-
sekretär Stadler.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3305 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 32 sowie Zusatzpunkt 9 auf:
32 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Britta Haßelmann, Ute Koczy, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Aufbauoffensive für Freiwilligendienste jetzt
auf den Weg bringen - Quantität, Qualität
und Attraktivität steigern
- Drucksache 17/3436 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
1) Anlage 4
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sönke
Rix, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Chancen nutzen - Jugendfreiwilligendienste
stärken
- Drucksache 17/3429 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.
Der erste Redner ist der Kollege Kai Gehring für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir als Grüne haben diese Debatte auf die Tagesordnung
gesetzt, um der Regierung auf die Sprünge zu helfen und
Ihnen Impulse zu geben.
({0})
Sie müssen jetzt endlich Farbe bekennen und eine Offensive für Freiwilligendienste starten.
Wir als Grüne wollen Quantität, Qualität und Attraktivität von Freiwilligendiensten ausbauen. Das ist mehr
als überfällig. Wir kämpfen für diesen Ausbau seit vielen
Jahren, weil die verschiedenen Inlands- und Auslandsfreiwilligendienste - vom „Freiwilligen Ökologischen
Jahr“ und „Freiwilligen Sozialen Jahr“ über „weltwärts“,
„kulturweit“, den „Europäischen Freiwilligendienst“ bis
zum „Freiwilligendienst aller Generationen“ - zivilgesellschaftliches Engagement stärken und demokratisches
Lernen bei Jugendlichen massiv fördern.
Der Ausbau der Freiwilligendienste ist überfällig,
kommt aber, allen Ankündigungen der letzten Monate
und Jahre zum Trotz, seit Jahren leider nicht voran. Deshalb ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, hier mehr zu tun.
({1})
Das Problem dabei ist übrigens nicht, dass engagementbereite Jugendliche fehlen würden; das wird Jugendlichen immer unterstellt. Im Gegenteil: Auf einen
Freiwilligendienstplatz kommen seit Jahren zwei bis drei
Bewerber. Das Problem ist der massive Mangel an Angeboten. Dieser Mangel muss endlich behoben werden;
die Anzahl der Freiwilligendienste muss mittelfristig
verdoppelt werden. Das steht jetzt an.
({2})
Der Ausstieg aus der Wehrpflicht und dem Zivildienst
bringt auch neue Chancen mit sich.
({3})
Es ist ein überfälliger und richtiger Schritt. Im Nachhinein kann man dazu vielleicht sogar sagen, dass
Schwarz-Gelb möglicherweise einmal etwas hinbekommen hat - wenn Sie es tatsächlich schaffen, aus der
Wehrpflicht auszusteigen.
({4})
Das wäre ein guter Schritt, der auch Chancen für einen
Ausbau der Freiwilligendienste bieten würde. Diese
Chancen werden aber gerade wieder verspielt. Diese Gefahr und dieses Risiko sehen wir. Sie, die Regierung und
die Koalition, müssen jetzt gemeinsam mit den Ländern
handeln, statt wie in den letzten Monaten immer nur
Sonntagsreden zu dem Thema Freiwilligendienste zu
halten. Handeln ist jetzt angesagt.
Beim Ausstieg aus den Pflichtdiensten brauchen wir
eben kein Stückwerk, sondern politischen Mut zu einem
wirklich großen Wurf. Raus aus dem Zivildienst muss
heißen: rein in einen verlässlichen Ausbau der Freiwilligendienste. Das fehlt bisher.
({5})
Frau Schröder, die heute leider nicht hier sein kann,
hat ein Konzept bzw. eher vage Eckpunkte vorgelegt,
wie sie einen freiwilligen Zivildienst einrichten will.
„Freiwilliger Zivildienst“ klingt schon absurd
({6})
und ist auch Flickschusterei, weil sie damit sinnlose und
ineffiziente Doppelstrukturen schafft, die kein Mensch
braucht. Kein Mensch braucht einen Bundesstaatsdienst,
({7})
der unserer bewährten Marke, der Marke Jugendfreiwilligendienste, Konkurrenz macht und zivilgesellschaftliche Freiwilligendienstorganisationen demotiviert. Es
wäre auch absurd, wenn in derselben Einrichtung mit
denselben Tätigkeiten künftig freiwillige Sozialdienstleistende und freiwillige Zivildienstleistende nebeneinander eingesetzt würden, zu völlig unterschiedlichen
Bedingungen und Konditionen, zu verschiedenen Kosten mit unterschiedlichem Taschengeld. Das alles ist
Flickschusterei und macht keinen Sinn.
({8})
Sie nehmen hier unter einem selbstgesetzten Zeitdruck falsche Weichenstellungen vor, um letztlich vor
allem Aufgaben des Bundesamtes für den Zivildienst zu
erhalten und eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für
dieses Bundesamt durchzusetzen. Sie entziehen im Übrigen dem Zivildienstetat allein in dieser Woche 180 Millionen Euro. Diese Mittel würden aber dringend für den
Ausbau der Freiwilligendienste gebraucht.
Der Zivildienstetat darf kein Steinbruch sein. Die
Mittel müssen für den Ausbau verwandt werden. Sie haben für diesen freiwilligen Zivildienst weder bei den
Verbänden noch in der Gesellschaft noch bei den Freiwilligen Unterstützung oder eine Mehrheit. Sie können
diese falsche Weichenstellung jetzt noch korrigieren.
Bringen Sie stattdessen einen Ausbau der Freiwilligendienste auf den Weg.
Sie hätten im Übrigen unsere Unterstützung, wenn
Sie jetzt ein Freiwilligendienstestatusgesetz aus einem
Guss auf den Weg bringen würden. In diesem müssten
die Dienste als arbeitsmarktneutrale gemeinnützige Bildungsdienste geregelt und ein sozialrechtlicher Status
definiert und präzisiert werden. Es müsste auch geklärt
werden, wie unterrepräsentierte Zielgruppen, auch neue
Zielgruppen, künftig für Freiwilligendienste gewonnen
werden können, wie Qualitätsverbesserungen eingeleitet werden und die frei werdenden Mittel aus dem Zivildienst erhalten bleiben.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Es geht einfach nicht, dass
Sie beim Thema Freiwilligendienste den Kopf weiterhin
in den Sand stecken. Sie müssen die Interessen der Jugendlichen und der Freiwilligen jetzt endlich in den Mittelpunkt Ihrer Politik stellen.
Herr Kollege.
Sie müssen den Freiwilligendiensten eine verlässliche
Ausbauperspektive bieten. Darum muss es jetzt gehen.
Danke.
({0})
Markus Grübel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tu etwas für dein Land, tu etwas für dich - das ist die
Einstellung von Freiwilligen. Sie wollen etwas für die
Gemeinschaft und etwas für sich tun. Beides ist wichtig.
Die Grundhaltung von Freiwilligen ist: Das ist mein
Land, das ist meine Stadt, das ist mein Verein, das sind
meine Werte und Ideale, und dafür engagiere ich mich
über den Pflichtbeitrag Steuer hinaus.
Ich glaube, trotz der Attacken von Kai Gehring sind
wir uns, die Koalitionsfraktionen und die beiden Antragsteller, über die Fraktionsgrenzen hinweg einig: Wir
wollen jetzt die Voraussetzungen schaffen, dass Freiwilligendienste einen guten rechtlichen Rahmen und ausreichend Unterstützung bekommen.
({0})
Wir sind uns auch einig: Bürgerschaftliches Engagement
- dazu gehören Freiwilligendienste - ist eine Stütze unserer Gesellschaft.
Zurzeit haben wir die einmalige Chance, die Rahmenbedingungen für Freiwilligendienste zu verbessern.
Diese Chance werden wir nutzen. Schon im Haushalt
2011, der derzeit beraten wird, sind deutliche Verbesserungen erkennbar. Wir steigern die entsprechenden Mittel von 20 Millionen auf 50 Millionen Euro. Das ist
mehr als eine Verdoppelung.
Die Aussetzung der Wehrpflicht - sie wird heute auf
dem CSU-Parteitag in München beraten und am 15. und
16. November 2010 auf dem Bundesparteitag der CDU und damit die Aussetzung des Zivildienstes schaffen
Spielräume. Es entstehen aber auch Lücken. Letztes Jahr
gab es 90 000 Zivildienstleistende. Sie hinterlassen eine
empfindliche Lücke in der Behindertenbetreuung, im
Pflegebereich und in vielen anderen sozialen Bereichen.
Allein im sozialen Bereich wird man mit jährlich
1,8 Milliarden Euro Zusatzkosten rechnen müssen.
Es geht aber um mehr als um Geld. Durch den Zivildienst wie durch die Freiwilligendienste kommen junge
Menschen in soziale Bereiche. Sie erlernen soziale
Kompetenz. Viele entscheiden sich erst durch ihren Freiwilligendienst oder Zivildienst dazu, einen sozialen Beruf zu erlernen, den sie sonst vielleicht ausgeschlossen
hätten. Durch eine Aussetzung der Wehrpflicht werden
Bundesmittel frei, die zum Teil für Freiwilligendienste
genutzt werden können. Das ist eine einmalige Chance.
Allerdings, Herr Gehring, muss nach der Verfassung
die Finanzierungskompetenz der Verwaltungskompetenz
folgen. Wir brauchen also die Verwaltungskompetenz
des Bundes, um 100 Prozent der frei werdenden Bundesmittel einsetzen zu können. Daher lautet der Arbeitstitel:
freiwilliger Zivildienst. Dieser Arbeitstitel ist übrigens
ein Lob des Zivildienstes; er, der Zivildienst, der Zivi, ist
eine gute Marke geworden. Künftig werden wir ihn
wahrscheinlich als Bundesfreiwilligendienst - er liegt in
der Verantwortung des Bundes und wird mit Mitteln des
Bundes finanziert - bezeichnen. Gleichzeitig gibt es
deutliche Verbesserungen beim Jugendfreiwilligendienst.
Neu bei diesem Bundesfreiwilligendienst oder freiwilligen Zivildienst ist, dass er offen für Frauen und
- auch das ist wichtig - offen für alle Generationen ist,
also auch für Ältere. Wir haben im fünften Altenbericht
zu den Potenzialen des Alters und im sechsten Altenbericht zu den Altersbildern die Vorarbeit geleistet. Unsere
Gesellschaft ist vielfältig, darum sind die Freiwilligendienste es auch. Unser Ziel ist es, den geplanten Bundesfreiwilligendienst eng mit den bestehenden Jugendfreiwilligendiensten, dem Freiwilligen Sozialen Jahr und
dem Freiwilligen Ökologischen Jahr, zu verzahnen und
keine Konkurrenz zu schaffen.
Dieser neue Dienst steht für erweiterte Einsatzbereiche offen. Auch Sport, Kultur, Bildung gehören dazu.
Ziel ist die Gewinnung von rund 35 000 Freiwilligen pro
Jahr. Die Regeldauer beträgt ein Jahr, 6 bis 18 Monate
sind flexibel möglich. Der Träger bzw. die Einsatzstelle
wird pro Freiwilligen mit rund 500 Euro pro Monat ausgestattet und handelt dann das tatsächliche Taschengeld
mit dem Freiwilligen aus.
Wie bisher wird dieser Dienst in Einrichtungen der
Wohlfahrtsverbände, der Kommunen und anderer Träger
durchgeführt. Die Freiwilligen werden vor Ort und in
Seminaren pädagogisch begleitet. Ich könnte mir vorstellen, dass die politische Bildung - ein fünftägiges
Seminar - für alle gemeinsam erfolgt: Jugendfreiwilligendienst, Bundesfreiwilligendienst und freiwillig
Wehrdienstleistende.
Junge Menschen sind in der Schule, sind im Verein,
sind in der Kneipe, in der Ausbildung und im Studium
zusammen. Warum sollen diese jungen Menschen - egal
ob sie den freiwilligen Wehrdienst, den Jugendfreiwilligendienst oder den Bundesfreiwilligendienst leisten nicht zusammen Seminare zur politischen Bildung besuchen?
Die Kopplung der bestehenden Formate und des
neuen Formats findet vorrangig über die bestehenden
bundeszentralen Träger von FSJ und FÖJ statt. Zudem
soll es weitreichende Vergünstigungen - zum Beispiel
Anrechnung auf Pflichtpraktika und Wartezeiten für Studienplätze - geben. Der Freiwilligendienst, insbesondere
der Jugendfreiwilligendienst, ist kein verlorenes Jahr. Es
ist ein Lernjahr, es ist für junge Menschen ein gewonnenes Jahr.
Daneben wollen wir die Jugendfreiwilligendienste
besser ausstatten, und unser Ziel ist es auch, den erhöhten Betreuungsbedarf, den die Träger und Einrichtungen
haben, zu vergüten.
Wir könnten darüber hinaus auch Jugendfreiwilligendienste mit zusätzlichem Nutzen - zum Beispiel Schulabschluss - anbieten, wie es die Diakonie in Württemberg mit FSJ plus, die Caritas Hildesheim mit FSJ future
oder der Internationale Bund in Nürnberg mit FSJ dual
heute schon erfolgreich tun.
Als neuer Freiwilligendienst soll auch ein freiwilliger
Wehrdienst von mindestens 15 Monaten geschaffen werden. Die Freiwilligenlandschaft wird also bunter. Vom
Pflegekittel bis zum Flecktarn wird alles möglich. Soziales, Ökologie, Kultur, Sport und Sicherheit bieten ein
vielfältiges Bild, so vielfältig wie unsere Gesellschaft ist.
Tu was für dein Land, tu was für dich! - Wir schaffen
hierfür einen deutlich besseren Rahmen. Das ist unsere
gemeinsame Aufgabe in den nächsten Wochen.
Herzlichen Dank.
({1})
Sönke Rix hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Natürlich sind wir auch mutig, sonst hätten wir keine
Anträge gestellt, an denen wir uns heute abarbeiten können. Ich hätte mir angesichts der Debatte, die wir mittlerweile seit Jahren zu dem Thema Jugendfreiwilligendienste führen, und angesichts der Tatsache, dass wir seit
Jahren einen Platzausbau, eine Verstärkung, grundsätzlich eine Attraktivitätssteigerung wollen, gewünscht,
dass dieser Anlass von der Regierung dazu genutzt worden wäre, einen großen Aufschlag zu machen. Natürlich
stimmt es, dass im Haushalt über die Jahre immer wieder
etwas mehr Geld dafür zur Verfügung gestellt worden
ist. Das ist gar keine Frage. Es war immer schon mühselig, dafür zu kämpfen. Durch den Wegfall des Zivildienstes waren nun Gelder übrig, und es sind auch Gelder umgeschichtet worden. Aber die Frage ist, wofür
diese Gelder im FSJ und im FÖJ verwendet werden und
ob sie vielleicht an anderen Stellen wieder weggenommen werden.
Deshalb immer schön vorsichtig an der Bahnsteigkante und nicht nur einfach Gelder von der einen Seite
auf die andere verschieben! Machen Sie vielmehr deutlich, wofür diese Gelder verwendet werden sollen und
wie tatsächlich eine Attraktivitätssteigerung beim FSJ
und beim FÖJ erreicht werden kann.
({0})
Herr Kollege Grübel, natürlich sind wir uns fraktionsübergreifend einig, zumindest immer dann, wenn wir
Reden halten, dass junge Männer und Frauen im FSJ und
FÖJ in allen Bereichen - ob das im Kulturbereich ist, im
sozialen Bereich oder beim Sport - eine tolle Leistung
bringen. Immer dann, wenn wir Einrichtungen besuchen,
wenn wir FSJler zu Gesprächen hier im Bundestag haben, immer wenn wir über das Thema reden, sagen wir:
Die machen eine tolle Arbeit. - Die tun etwas Gutes. Ich
finde das auch in Ordnung.
Tu was Gutes - das haben Sie schön in Ihrer Rede
aufgegriffen. Das ist ein wichtiger Punkt, den Sie ansprechen; denn das FSJ und das FÖJ sind besondere Formen des bürgerschaftlichen Engagements und basieren
ausschließlich auf Freiwilligkeit. Sie müssen daher, wie
ich finde, sehr stark von der Zivilgesellschaft selbst organisiert werden. Bürgerschaftliches Engagement muss
nämlich aus der Zivilgesellschaft kommen und sollte so
wenig wie möglich staatlich organisiert werden. Wenn
Sie das anders sehen, haben wir wohl eine andere Vorstellung von bürgerschaftlichem Engagement als Sie.
({1})
Herr Grübel, Sie haben die in den Einrichtungen entstehende Lücke angesprochen. Dieses Thema ist interessant. Vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken und
anderen Bundesverbänden bekommen wir immer wieder
gute Papiere, in denen es um die Frage geht: Wie gehen
wir eigentlich mit dem Wegfall des Zivildienstes um? Im
Mittelpunkt stehen immer wieder folgende Antworten:
Das bürgerschaftliche Engagement und die Freiwilligkeit müssen gestärkt und die Jugendfreiwilligendienste
ausgebaut werden. Die Verantwortlichen in den Einrichtungen vor Ort sagen jedoch - darauf haben auch Sie gerade hingewiesen -: Uns fehlen die Leute. Das ist aber
nicht das Thema. Wenn es um bürgerschaftliches Engagement geht, kann man nicht das Argument anführen:
Uns fehlt vor Ort die Arbeitskraft, und deshalb kann die
Arbeit vor Ort nicht erledigt werden.
({2})
Wir müssen uns vielmehr fragen: Was ist für die jungen
Leute, die sich freiwillig bürgerschaftlich engagieren
wollen, am besten?
Im Moment gibt es hierzu unterschiedliche Vorstellungen, und es existieren zwei Modelle. Ein entsprechender Gesetzentwurf liegt allerdings noch nicht vor,
weil die jeweiligen Parteitage erst die Richtung vorgeben müssen. Das war auch bei uns nicht anders, und es
ist richtig, dass die Parteitage das letzte Wort haben. Jedenfalls stehen wir vor folgendem Problem: Auf der einen Seite gibt es die Jugendfreiwilligendienste, die wir
alle loben. Auf der anderen Seite soll ein freiwilliger Zivildienst bzw. ein Bundesfreiwilligendienst, oder wie
auch immer Sie ihn nennen wollen, eingeführt werden.
An dieser Stelle setzen wir mit unserer Kritik an: Warum soll es zwei konkurrierende Dienste geben? Wir hätten uns gewünscht, dass es keine Konkurrenz und keine
Doppelstrukturen gibt; auch Sie, Herr Tauber und Frau
Bär, haben sich einmal in dieser Richtung öffentlich geäußert. Da habe ich gedacht: Endlich, sie haben gelernt.
Warum soll es also diese Doppelstrukturen geben? Ihr
Argument lautete immer: Eigentlich sind wir für die Jugendfreiwilligendienste gar nicht zuständig. Aber jetzt
sagen Sie: Einen Bundesfreiwilligendienst gibt es nur
dann, wenn gleichzeitig die Jugendfreiwilligendienste,
also FSJ und FÖJ, ausgebaut werden. Das passt nicht zusammen. Entweder sind wir nicht zuständig, und dann
dürfen wir hier auch nicht fördern, oder wir sind dafür
zuständig, und dann können wir auch gleich die Jugendfreiwilligendienste fördern.
({3})
Das Land Rheinland-Pfalz hat in dieser Frage einen
guten Ansatz verfolgt und im Bundesrat beantragt, die
Jugendfreiwilligendienste, wenn es Streitpunkte zwischen Bundes- und Landesebene gibt, nur noch bundesweit organisieren zu lassen. Ich wundere mich, warum
nicht auch dieser Gedanke Bestandteil unserer Diskussion ist;
({4})
das bedaure ich sehr. Die Vorschläge, die derzeit auf dem
Tisch liegen, werden von den Ländern durchaus kritisch
betrachtet.
Nun noch etwas zum Verfahren. Interessant ist die
Frage: Wird zur Wehrrechtsänderung und zum Bundesfreiwilligendienst ein Gesetzentwurf vorgelegt, oder
werden es zwei sein? Wird eventuell sogar der Verteidigungsausschuss federführend sein, wenn es um die Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes geht? Dies
hielte ich für einen Skandal. In ihrer Engagementstrategie hat die Bundesregierung nämlich geschrieben: Bund,
Länder und Kommunen sind aufgefordert, ihre Engagementpolitik gut miteinander abzustimmen. In diesem
Fall tun Sie das aber nicht. Dass Sie das an dieser Stelle
nicht hinbekommen, bedauern wir sehr. Das ist mehr als
unredlich, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Wir sind also gar nicht weit auseinander. Nach dem
Wegfall des Zivildienstes müssen wir in die Freiwilligendienste investieren, aber bitte nur in die bestehenden
Jugendfreiwilligendienste. Einen zusätzlichen Freiwilligendienst brauchen wir nicht. Dadurch würden nur Doppelstrukturen geschaffen und eine unnötige Unübersichtlichkeit entstehen. Stellen Sie sich vor, junge Leute
bewerben sich in einer Einrichtung, in der es einen Bundesfreiwilligendienstplatz und einen FSJ-Platz gibt. Natürlich würden sie sich in diesem Fall für den Bundesfreiwilligendienstplatz entscheiden, weil sie dann ein
paar Euro mehr bekommen. Wohin wird das führen,
wenn nun von zwei Personen, zum Beispiel einer jungen
Frau und einem jungen Mann, die freiwillig in einer Einrichtung tätig sind, der eine mehr Aufwandsentschädigung oder Taschengeld bekommt als der andere? Welchen Dienst wird es am Ende wohl noch geben?
Seien Sie ehrlich, legen Sie ein einheitliches Konzept
vor, und bauen Sie die Jugendfreiwilligendienste aus;
denn sie haben es verdient.
Danke schön.
({6})
Florian Bernschneider hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Gestatten Sie mir, bevor ich zu den Anträgen
von SPD und Grünen komme, auch noch etwas Grundsätzliches zu den Freiwilligendiensten und zum bürgerschaftlichen Engagement von jungen Menschen insgesamt zu sagen.
Ich möchte auch deswegen zunächst auf diese grundsätzlichen Dinge eingehen, weil ich schon glaube - das
haben Sie, Herr Rix, gerade ja auch gesagt -, dass wir
uns in vielen Punkten wirklich einig sind; denn natürlich
haben Sie recht, dass es keine befriedigende Situation
ist, dass auf einen Freiwilligendienstplatz zurzeit bis zu
drei Bewerber kommen. Der Fairness halber sollte man
an dieser Stelle aber auch einmal sagen, dass das durchaus keine Entwicklung ist, die mit der Regierungsübernahme von Schwarz-Gelb vom Himmel gefallen ist, sondern weit in Ihre Regierungszeit zurückreicht.
({0})
Bevor man diese Zahlen für politische Schuldzuweisungen heranzieht, möchte ich die Chance nutzen, im Interesse der jungen Menschen auch einmal zu sagen, was
diese Zahlen im Kern bedeuten. Schlagen Sie einmal die
Zeitungen auf und schauen Sie sich das Bild an, das dort
von der Jugend von heute gemalt wird: unpolitisch, am
Gemeinwohl desinteressiert und karriereorientiert. Demgegenüber zeigen die Zahlen der jungen Menschen, die
sich für die Freiwilligendienste bewerben, und die knapp
4 Millionen junge Menschen, die jedes Jahr ehrenamtlich tätig werden, ein ganz anderes Bild. Von daher sollte
man eine solche Debatte auch einmal dazu nutzen, zu sagen, dass wir stolz auf das Engagement sind, das die jungen Menschen schon heute in diesem Land zeigen.
({1})
Als Liberalem ist es mir an dieser Stelle auch ein Anliegen, zu betonen, dass dieses Engagement freiwillig
und ohne jeden Zwang erfolgt, und zwar keinesfalls aus
einem abstrakten Pflichtgefühl heraus, sondern weil die
jungen Menschen die Freiwilligendienste bzw. ihr freiwilliges Engagement in doppelter Hinsicht als bereichernd empfinden: für sich selbst, aber eben auch für die
Gemeinschaft. Genau das haben die jungen Menschen
erkannt.
Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass trotz der Bedeutung eines schnellen Einstiegs in Ausbildung und Beruf 40 000 junge Menschen im Jahr 2010 einen Freiwilligendienst aufgenommen haben. Das kann man nur
loben. Vor allem muss man an dieser Stelle auch einmal
die Arbeitgeber und die Ausbildungsbetriebe dafür loben, dass sie verstanden haben, dass es bei der Auswahl
von Auszubildenden eben nicht nur um das Schulzeugnis, sondern auch darum geht, was die Jugendlichen neben der Schule und nach der Schule, zum Beispiel in einem Freiwilligendienst, geleistet haben.
({2})
Meine Damen und Herren von der SPD und vom
Bündnis 90/Die Grünen, Sie bemängeln in Ihren Anträgen, dass der Ausbau nicht schnell genug vorankommt.
Sie machen es sich leicht und verweisen auf die eigenen
Sonntagsreden aus den vergangenen Legislaturperioden
und werfen uns vor, dass wir das alles nach einem Jahr
noch nicht geschafft haben.
({3})
Die SPD rühmt sich in ihrem Antrag zum Beispiel damit, § 14 c Zivildienstgesetz eingeführt zu haben. Ich
glaube Rot-Grün, dass alles, was damals passiert ist, gut
gemeint war.
({4})
Man muss nachträglich aber auch einmal feststellen,
dass dieser § 14 c Zivildienstgesetz nicht in Gänze gut
war, sondern dass er zu erheblichen Schieflagen und erheblichen Fehlstrukturen geführt hat, um die wir uns
dann erst einmal kümmern mussten. Sie haben gerade
mit Abs. 4 des § 14 c Zivildienstgesetz dafür gesorgt,
dass junge Frauen erheblich benachteiligt wurden, weil
die jungen zivildienstpflichtigen Männer aufgrund der
höheren Förderquote immer den Vorzug erhalten haben.
Neben dieser Schieflage bei der Chancengerechtigkeit
zwischen den Geschlechtern haben Sie dann auch noch
für eine Schieflage bei den Finanzierungsstrukturen gesorgt.
Was Sie in Ihrem Antrag als Errungenschaft feiern,
war eine erste Baustelle, um die sich diese Koalition gekümmert hat, indem sie diesen Abs. 4 korrigiert und die
Schieflagen, die ich aufgezeigt habe, beseitigt hat.
30 Millionen Euro fließen jetzt nicht mehr über Umwege, sondern direkt zu den Jugendfreiwilligendiensten.
Das ist der größte Aufwuchs dieser Position, den es jemals gegeben hat. Hiermit sind wir einen ersten wichtigen Schritt gegangen.
({5})
Hinsichtlich der Finanzierung Ihrer weiteren Forderungen bedienen Sie sich einer Sache, zu deren Umsetzung Sie selbst nie in der Lage waren. Sie sagen einfach:
Wenn die Wehrpflicht ausgesetzt wird, dann ist das Geld
dafür da. - Ich glaube schon, dass es Sie von SPD und
Grünen wurmt, dass nun eine schwarz-gelbe Regierung
darüber diskutiert, wie man die Wehrpflicht aussetzen
und große Reformen beim Zivildienst und in Bezug auf
das bürgerschaftliche Engagement durchführen kann.
Sie müssen es uns dann aber bitte auch überlassen, den
Zeitplan dafür zu gestalten, damit das vernünftig durchdacht ist und es nicht zu Fehlschüssen kommt, wie bei
den Ausbauszenarien in Ihren Anträgen, die wahrscheinlich gar nicht so möglich sind, wie Sie das schildern.
({6})
Es ist doch völlig klar - darin widersprechen wir uns
ja auch nicht -: Wenn wir auf die Wehrpflicht und den
Zivildienst verzichten, dann müssen wir die Chancen
nutzen, die Freiwilligendienste zu stärken. Das wissen
Sie auch. Meine Fraktion steht völlig dahinter. Wenn die
Wehrpflicht und der Zivildienst fallen, dann nehmen wir
die Freiwilligendienste in den Fokus und werden diese
auch stärken.
({7})
An diesen Konzepten arbeitet die christlich-liberale
Koalition. Wenn man es mit dem Freiwilligenengagement ernst meint, dann muss man aber eben auch mehr
machen, als nur gutgemeinte Forderungen aneinanderzureihen. Das sei auch noch der SPD gesagt.
Da heißt es zum Beispiel in Ihrem Antrag, dass eine
BAföG-Vergünstigung für ehemalige Freiwillige eingeführt werden soll. Man muss nun wirklich nicht weit zurückgehen: Vor nicht langer Zeit wurde im Bundesrat darum gerungen, die BAföG-Novelle durchzubringen. Aber
es waren doch gerade die Vertreter der von Ihnen regierten Länder, die Schwierigkeiten gemacht haben, weil sie
die entsprechenden Lasten nicht tragen wollten.
({8})
Das zeigt doch, dass Ihre Forderungen nicht durchdacht
sind.
({9})
- Nein, ich lasse keine Zwischenfragen zu; ich komme
auch zum Schluss.
({10})
Genau das wollen wir eben nicht. Wir wollen ein
schlüssiges Gesamtkonzept.
Lassen Sie mich das als Liberaler sagen: Ich bin stolz
darauf, dass gerade diese Regierung nicht über die Notwendigkeit eines Zwangsdienstes, sondern über die Ausgestaltung von Freiwilligkeit diskutiert.
({11})
Ich kann Ihnen versichern, dass wir in diesen Diskussionen zu Ergebnissen kommen werden, die besser sind als
die, die Sie uns heute vorgelegt haben. Deswegen können Sie sich auf die ausgearbeiteten Konzepte freuen
und denen dann auch hoffentlich zustimmen.
Vielen Dank.
({12})
Heidrun Dittrich spricht jetzt für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Wenn am 1. Januar 2011 der Zivildienst
wegfällt, wird dies von der Linken begrüßt werden; denn
wir sind für die Abschaffung aller Zwangsdienste.
({0})
Bereits seit März dieses Jahres jedoch sucht unsere
Familienministerin Kristina Schröder händeringend nach
einem anderen Dienst. Warum ist das so? Der Zivildienst
sollte doch arbeitsmarktneutral gehalten sein und keine
ausgebildeten Arbeitskräfte verdrängen.
({1})
Wie wir alle aus der Praxis wissen, hat das noch nie gestimmt. Bereits die ehemalige Bundesgesundheitsminis7506
terin Ulla Schmidt hat bis zum Jahr 2020 einen Bedarf
von 300 000 zusätzlichen Pflegekräften benannt. Der
Präsident des Deutschen Pflegerates, Herr Andreas
Westerfellhaus, sagt:
Aber wir haben im vergangenen Jahr 10 000 Ausbildungsplätze abgebaut! So sieht die Realität aus.
Dieser Mangel an Arbeitskräften bzw. ausgebildeten
Kräften soll jetzt mit Ungelernten behoben werden?
Welche Tätigkeiten üben denn die Freiwilligen in einem
Sozialen Jahr zum Beispiel im Altersheim aus? Spazierengehen, Vorlesen und Essen anreichen. Machen wir uns
doch nichts vor: Bei der Personalknappheit im Gruppendienst wird das auch notwendig. Eine gelernte Altenpflegerin weiß, dass eine Seniorin aufrecht sitzen muss, um
gut zu schlucken. Sie muss manchmal unterstützt werden, damit der Schluckreflex funktioniert. Das können
nur ausgebildete Fachkräfte. Die alte Dame sollte auch
ihre Brille aufsetzen, damit sie sieht, was sie isst, und
das Interesse behält. Gerade Demenzkranke erkennen oft
nicht, dass die Mahlzeit eine Mahlzeit ist.
Warum erzähle ich Ihnen das alles?
({2})
Weil Ungelernte nicht erkennen können, was eine Fachkraft sieht. Mit dem Einsatz der Freiwilligen in der
Pflege entwerten Sie die Berufsausbildung der Altenpflegerin, und die Pflegebedürftigen erhalten keine qualifizierte Grundversorgung.
({3})
Die Pflegekasse bezahlt in der Pflegestufe I bereits
über 1 400 Euro für einen Heimplatz. Damit haben die
betreuten Seniorinnen und Senioren auch Anspruch auf
fachlich qualifiziertes Personal. Es wäre ja jede Berufsausbildung im sozialen Bereich überflüssig, wenn durch
Ungelernte diese Teile übernommen werden könnten.
Die Familienministerin benutzt die jungen Freiwilligen, um einen staatlich subventionierten Niedriglohnbereich zu erhalten und auszubauen. Warum sollen denn
diese jungen Menschen auf einmal massenhaft das Interesse entwickeln, zu dienen? Was hat denn diese Bundesregierung für die jungen Menschen getan? Am 19. Oktober 2010 schreibt das Handelsblatt, ganz bestimmt kein
linkes Blättchen, dass durch den Wegfall des Zivildienstes und die Aussetzung des Wehrdienstes 2011 50 000
zusätzliche Studenten aufgenommen werden müssten.
Dafür hat die Bundesregierung nicht vorgesorgt. Sie
nimmt es hin, dass Studienberechtigte ebenso wenig einen akademischen Ausbildungsplatz erhalten, wie Jugendliche eine berufliche Ausbildung finden können.
Stattdessen bieten Sie als Warteschleife das Freiwillige
Soziale Jahr an.
({4})
Der Ausbildungsplatzmangel und die Jugendarbeitslosigkeit werden mit dem Ausbau des Freiwilligen Sozialen Jahres nicht beseitigt. Schaffen Sie also endlich
Ausbildungs- und Arbeitsplätze, und schaffen Sie dann
die Rente mit 67 ab!
({5})
Warum gibt es eigentlich keine Offensive zur Schaffung von Ausbildungsplätzen für junge Menschen vor
allem im sozialen Bereich, wo wir doch wissen, dass
dort qualifiziertes Personal benötigt wird? Weil diese
Bundesregierung und ihre Vorgängerinnen leider auch
den Sozialstaat abbauen, weil Unternehmen Steuergeschenke gemacht werden, statt die Millionäre zu besteuern.
({6})
- Es ist schön, dass Sie das schon wissen. Das freut
mich. Dann hat es ja geholfen, dass wir Ihnen das erklären.
({7})
Die Linke ist dafür, jedem jungen Menschen, der es
möchte, ein Freiwilliges Soziales Jahr als Lerndienst
zwischen Berufsausbildung und Arbeitsleben zu ermöglichen. Dies darf aber nicht als letzte Möglichkeit und
Warteschleife oder gar als gesamtgesellschaftliche Lösung eines Pflegenotstandes dienen.
({8})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
- Ja. - Wir wollen einen individuellen Anspruch erhalten. Die freiwerdenden Mittel können gerne genutzt
werden, um die Freiwilligendienste für Jugendliche zu
erhalten, nicht aber für einen freiwilligen Zivildienst
bzw. für Dienstposten von Pflegebeamten, deren Dienstverhältnis keine Mitbestimmungsrechte wie bei Arbeitnehmern zulässt.
Frau Kollegin.
Noch zwei Sätze?
Nein.
- Gut. - Es sollen nicht nur die großen Träger, sondern auch die kleinen gefördert werden.
Danke.
({0})
Das Wort hat der Kollege Peter Tauber für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist
es richtig: Freiwilligkeit ist ein hohes Gut. Aber ich
finde, wir müssen in der Diskussion ein bisschen aufpassen, dass nicht der Eindruck entsteht, dass das, was
Wehrdienst- und Zivildienstleistende in den letzten Jahrzehnten für dieses Land geleistet haben, weniger wert
ist. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass es ein
wesentlicher Effekt des Wehr- und Zivildienstes war,
dass junge Männer diesen Dienst zwar aus einem Zwang
oder einer als unangenehm empfundenen Pflicht heraus
antraten, ihn aber in dem Bewusstsein beendet haben,
dass er ihnen nicht geschadet hat, sondern dass sie auch
persönlich davon profitiert haben und etwas Gutes für
die Gesellschaft getan haben.
Jetzt kommen wir zu der spannenden Frage - damit
müssen wir uns gemeinsam befassen -, wie wir gerade
die Zielgruppe erreichen, die es nicht von sich aus für lobenswert und erstrebenswert hält, ein Jahr Freiwilligendienst zu leisten. Wie können wir mehr junge Menschen
für einen Freiwilligendienst begeistern?
Ich bin sehr froh, dass die christlich-liberale Koalition
einen Punkt aus dem Koalitionsvertrag aufgreift und fest
in den Blick nimmt, nämlich den Ausbau der Freiwilligendienste. Denn wir sind davon überzeugt, dass das ein
wesentliches Element ist, um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken; denn so kann jungen Menschen vermittelt werden, dass es um mehr geht, als Steuern zu zahlen und wählen zu gehen, und dieses Land ihre
aktive Betätigung braucht, damit sich unsere Gesellschaft in vielerlei Punkten in eine positive Richtung weiterentwickeln kann.
({0})
Ich habe bereits vor zwei Monaten gesagt - Herr Rix
hat darauf angespielt -, dass ein Ende des klassischen
Zivildienstes durchaus Chancen zur Etablierung eines
neuen Freiwilligendienstes bietet, der - das sehen wir in
der Debatte vielleicht unterschiedlich - das Beste aus
dem Zivildienst und dem Freiwilligen Sozialen Jahr zusammenführt.
({1})
Ich hatte am Anfang der Debatte ein bisschen die
Sorge, dass beide Seiten in das klassische Denken der
Besitzstandswahrung verfallen, wie wir es immer erleben, wenn sich etwas fundamental ändert. Der eigene
Besitzstand muss unbedingt verteidigt werden. Man ist
nicht bereit, etablierte Strukturen einmal kritisch zu
durchleuchten und zu hinterfragen. Im Gegensatz dazu
steht, wie ich denke, der Vorschlag der Ministerin, mit
dem sie damals eine Diskussionsgrundlage dafür schaffen wollte, dass das eigentliche Ziel wieder in den Mittelpunkt rückt, nämlich der Ausbau der Freiwilligendienste.
Eine wichtige Frage ist nun, wie neue Strukturen aussehen können. Ebenso wichtig ist aber auch die Frage
der Zuständigkeit. Bei genauerem Hinsehen hilft es,
glaube ich, allerdings nicht, zu fordern, dass die Zuständigkeit entweder bei den Ländern oder beim Bund liegt.
Vielleicht sollten wir an dieser Stelle aus der Vielfalt
eine Stärke machen, wie es innerhalb der Freiwilligendienste bereits der Fall ist. Man muss ja der Wahrheit
einmal die Ehre geben und festhalten, dass das Freiwillige Soziale Jahr bundesweit eine sehr bescheidene Angelegenheit wäre, wenn man das Engagement von Baden-Württemberg, Bayern und Hessen unberücksichtigt
ließe.
({2})
Der Weisheit letzter Schluss ist aber auch nicht zwingend die alleinige Kompetenz des Bundes.
Wir müssen über Folgendes ernsthaft reden: Wenn es
zwei Säulen gibt - zum einen die Länder, die Verantwortung übernehmen und Gelder zur Verfügung stellen können; zum anderen den Bund, der das Gleiche tut -, dann
darf das nicht dazu führen, dass sich für die Freiwilligen
in der Struktur des Dienstes erkennbare Unterschiede ergeben. Mit dem Namen „freiwilliger Zivildienst“ versucht man, an das positive Image des Zivildienstes anzuknüpfen. Aber diese Namenswahl ist vielleicht nicht
ganz glücklich. Deshalb werden wir mit der Benennung
des bundesweiten Freiwilligendienstes den nächsten
Schritt gehen und deutlich machen, dass wir vor einem
fundamentalen Systemwechsel stehen.
Wir haben jetzt so viele Möglichkeiten wie nie zuvor,
die Freiwilligendienste auszubauen. Einen solchen Impuls für die Freiwilligendienste gab es noch nie in den
letzten Jahren. Wir sind hier auf einem sehr guten Weg.
Es ist aber wichtig, dass das auf Augenhöhe mit den
Freiwilligen geschieht, weil es keinen Unterschied machen darf, in welcher der beiden Säulen eines gemeinsamen Systems sie ihren Dienst verrichten.
({3})
Ich persönlich habe den Eindruck, dass die Bundesregierung in den Gesprächen schon sehr viel weiter ist, als
das Ihre beiden Anträge nahelegen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf das Ehrenamt und die Kultur der
Freiwilligendienste, in der junge Menschen aufgerufen
sind, selber ihre Umgebung attraktiv zu gestalten.
Ich möchte noch auf vier Punkte eingehen, die mir
wichtig sind.
({4})
Der erste Punkt ist die Vielfalt der Angebote. Natürlich bleibt der soziale Bereich besonders wichtig. Aber
wir müssen Freiwillige auch in der Kultur, im Sport und
im Bildungsbereich sehr viel stärker einsetzen. Auch der
freiwillige Wehrdienst muss in diesem Zusammenhang
genannt werden.
Beim zweiten Punkt, der neben der Angebotsvielfalt
ebenfalls wichtig ist, geht es um die Frage, wie die Kompetenzen, die die jungen Menschen während ihres frei7508
willigen Dienstes erwerben, zertifiziert werden können
und wie bescheinigt werden kann, dass sie etwas gelernt
haben, damit sie auch persönlich den Eindruck haben,
von diesem Dienst profitiert zu haben.
({5})
Das hat auch etwas mit dem dritten Punkt, der unheimlich wichtig ist, zu tun: mit der Anerkennungskultur.
Viertens müssen wir uns Gedanken darüber machen,
wie wir junge Menschen für einen Freiwilligendienst begeistern können. Wir wollen nämlich nicht in einem
Land leben, in dem das Prinzip gilt: Wenn jeder an sich
selber denkt, ist an alle gedacht.
({6})
Wir sind vielmehr der Auffassung, dass eine Gesellschaft nur sozial und menschlich ist, wenn nicht der
Staat Verantwortung für den Einzelnen übernimmt, sondern wenn Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. In diesem Sinne sind die Freiwilligendienste
eine ganz wichtige Säule.
({7})
Sie haben recht: Es gibt noch viel zu tun. Aber mein
Eindruck nach den Gesprächen in den letzten Tagen ist,
dass wir nur weiterkommen, wenn wir ein Stück weit gemeinsam daran arbeiten. Ich lade Sie deshalb zur Zusammenarbeit ein.
({8})
Aber nicht mehr heute.
({0})
Die Redezeit ist abgelaufen.
Es bleibt auch von unserer Seite noch viel zu tun, damit in Zukunft genügend junge Männer und Frauen begeistert sind, wenn es heißt: Freiwillige vor!
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3436 und 17/3429 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 10. November 2010, um 13 Uhr,
ein.
Genießen Sie den sonnigen Nachmittag, das Wochenende und die sitzungsfreie Woche sowie die gewonnenen
Einsichten.
Die Sitzung ist geschlossen.