Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/29/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen - Drucksache 17/3403 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. ({1})

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Minister:in)

Politiker ID: 11001336

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll ein ganz sensibler Bereich neu justiert und ausgerichtet werden. Es ist notwendig, dies zu tun, und zwar in dreierlei Hinsicht. Erstens muss die Sicherungsverwahrung wegen des tiefen Eingriffs in das Leben eines Verurteilten, der seine Strafe verbüßt hat, streng rechtsstaatlich ausgestaltet sein. Sie muss letztes Mittel der Kriminalpolitik, also Ultima Ratio, bleiben. Zweitens ist am Recht der Sicherungsverwahrung in den letzten Jahren immer wieder - ich kann es nicht anders formulieren - herumgebastelt worden. Von 1995 bis zum Jahr 2008 gab es immer wieder Änderungen bzw. Verschärfungen. Dies geschah meistens vor dem Hintergrund ganz konkreter Einzelfälle, die zu aufgeregter Diskussion in der Öffentlichkeit geführt haben. Deshalb ist es gut, richtig und wichtig, dass nun versucht wird, diese Dauerbaustelle durch einen in sich geschlossenen Neubau zu ersetzen, und zwar unter Berücksichtigung zweier wichtiger Anliegen. Auf der einen Seite sind rechtsstaatliche Kriterien strikt zu beachten; denn wer seine Strafe verbüßt hat, kann nur in Ausnahmefällen nachträglich eingesperrt werden. Auf der anderen Seite sind die berechtigten Sicherheitsinteressen der Bevölkerung in jede Überlegung einzubeziehen. Drittens ist es notwendig, ein größeres, in sich neu ausgerichtetes und widerspruchsfreies Konzept auf den Tisch zu legen. Denn aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - es ist im Mai dieses Jahres rechtskräftig geworden - ist es zur Entlassung einzelner als gefährlich eingestufter Straftäter gekommen. Ich glaube, wir alle erinnern uns an die Berichterstattung, an die Sorgen und Nöte. Daher besteht die Notwendigkeit, sich jetzt ruhig, sachlich und rechtsstaatlich mit diesen Herausforderungen zu befassen. Dies geschieht durch den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen in drei Punkten. Die Sicherungsverwahrung wird für die Zukunft neu ausgerichtet. Die primäre Sicherungsverwahrung wird auf den notwendigen Bereich beschränkt, und zwar im Kern auf Gewalt- und Sexualdelikte sowie gemeingefährliche Straftaten. Gewaltlose Vermögensdelikte nicht mehr zu den Anlasstaten für die Anordnung von Sicherungsverwahrung zu zählen, kann ja nur Konsens in diesem Hause sein und ist rechtsstaatlich geboten. ({0}) Die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Erwachsene wird auf einen engen Bereich begrenzt und sonst im Grundsatz abgeschafft. An ihr haben sich immer wieder viele Debatten entzündet, aber sie spielt letztlich in der Praxis nicht die Rolle, die ihr immer zugemessen wird. Außerdem gibt es vor dem Hintergrund der VereinbarRedetext keit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention berechtigte Zweifel und anhängige Verfahren, sodass eigentlich mit ihr eher mehr Probleme bestehen, als mit ihr gelöst werden. Deshalb richten wir die primäre und die vorbehaltene Sicherungsverwahrung neu aus. Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung wird ausgedehnt - sie kann bei schweren Delikten auch auf Ersttäter angewandt werden -, und es wird die Frist verlängert, innerhalb derer bei einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung ein Gericht entscheiden kann, ob die Voraussetzungen bei Haft und nach Haftverbüßung vorliegen oder nicht. Wir ergänzen dieses Konzept mit einer weiteren Maßnahme im Bereich der Führungsaufsicht, einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung, die ja Sicherungsverwahrung nicht ersetzt, sondern ein Hilfsmittel, eine Unterstützung in angemessenen Situationen sein kann. Ich denke, damit werden wir auch dem berechtigten Anliegen derjenigen, die sich mit diesen Aufgaben zu befassen haben, gerecht. Wir kennen alle die Bilder vom Einsatz von 20 Polizeibeamten, um einen als gefährlich eingestuften Täter, der entlassen worden ist, so zu überwachen und zu betreuen, dass es nicht zu Taten kommen kann. Ein weiterer und auch wichtiger Baustein ist der Entwurf eines Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch Gestörter als Übergangslösung für sogenannte Altfälle, also für die Personen, die durch das Straßburger Urteil vom Mai dieses Jahres betroffen sind und aus Sicherungsverwahrung schon entlassen worden sind oder bei denen diese Entlassung bevorsteht. Wir alle kennen das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die engen Vorgaben, die dort gemacht worden sind. Deshalb wird hier ein Aliud, etwas anderes, als Möglichkeit zur Therapierung und Unterbringung gewählt. Das ist nicht Sicherungsverwahrung, sondern es ist ein besonderes Verfahren, ein Zivilverfahren vor den Zivilkammern mit zwei externen Gutachtern, die darüber zu entscheiden haben, ob die eng gefassten Voraussetzungen für eine mögliche Unterbringung zur Therapie in geeigneten Einrichtungen vorliegen. Das ist eine große Herausforderung für die Länder, die für diese geeigneten Einrichtungen zuständig sind, in denen Therapie erfolgen muss. Es kann eben nicht Strafvollzug und es kann auch nicht eine Zelle neben dem Strafvollzug sein, ohne dass das inhaltliche Angebot geändert worden ist. Dieses Verfahren ist eng mit ganz strikten und immer wieder greifenden Rechtsbehelfsmöglichkeiten auf der Grundlage des Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgestaltet. In den Debatten haben wir wirklich sehr intensiv diskutiert, abgewogen und haben uns letztlich für diesen eng begrenzten Rahmen entschieden, der in meinen Augen nicht mehr Spielraum für weitere Ausweitungen insgesamt lässt. Ich denke, es ist ein Gesetzentwurf, der wirklich ein ausgewogenes Gesamtkonzept beinhaltet, der Sicherungsverwahrung strikt nach rechtsstaatlichen Konzepten neu ausrichtet, der aber auch eine Antwort auf aktuelle Probleme gibt. Recht herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Olaf Scholz von der SPD-Fraktion. ({0})

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über ein sehr ernstes Thema, über die Sicherungsverwahrung, eine Angelegenheit, die juristisch nicht einfach ist und die es auch immer notwendig macht, sorgfältig darüber nachzudenken, was der Staat in dieser Hinsicht tut und wie er seine Gesetze organisiert und ausrichtet. Es herrscht weitgehend große Einigkeit darüber, dass wir in Deutschland so etwas wie die Sicherungsverwahrung benötigen. Sie ist in den letzten Jahren im Rahmen mehrerer Gesetzentwürfe beschlossen worden, zwar in ganz unterschiedlichen politischen Konstellationen, aber immer in der Überzeugung, dass es im Prinzip richtig ist, so etwas wie die Sicherungsverwahrung zu haben. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat uns vor eine ganz neue Herausforderung gestellt, die wir bewältigen müssen. Das Problem, das den Gesetzgeber immer wieder dazu bewegt hat, Gesetze zur Sicherungsverwahrung auf den Weg zu bringen, ist damit allerdings nicht vom Tisch. Deshalb muss dringend eine Lösung gefunden werden. Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich bedroht aufgrund der Gefahren, die von denjenigen ausgehen können, die von Gerichten in eine Sicherungsverwahrung verbracht worden sind. Wir als Gesetzgeber müssen dem Bundesverfassungsgericht, das sich demnächst mit diesem Thema befassen wird, unsere Vorstellungen im Hinblick auf eine künftige Regelung mitteilen; der Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat per Zeitungsinterview ausdrücklich darum gebeten. ({0}) Insofern müssen wir das, was wir uns jetzt vornehmen, auch tun. Wir müssen ein Gesetz auf den Weg bringen - auch dies will ich nicht unerwähnt lassen -, das den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entspricht. Wir müssen einen guten Umgang mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte pflegen. Denn die größte Demokratie in Europa hat die wichtige Aufgabe, sicherzustellen, dass die Entscheidungen, die er trifft, respektiert und beachtet werden. ({1}) Zu dem Thema, über das wir zu diskutieren haben, gehört auch die Frage, wie wir dabei miteinander umgehen. Ich will ausdrücklich sagen, dass mich bedrückt, wie lange es gedauert hat, bis wir zu diesem Gesetzgebungsverfahren gekommen sind. Das wäre schneller nötig und auch schneller möglich gewesen. ({2}) Es wäre auch deshalb schneller möglich gewesen, weil nicht nur die sozialdemokratischen Abgeordneten, sondern auch alle anderen Oppositionsfraktionen in diesem Parlament wiederholt gesagt haben: Wir sind bereit, konstruktiv mitzuarbeiten und mitzuhelfen. Wir glauben, dieses Problem ist nicht nur ein Problem der Regierung, sondern es betrifft das gesamte Parlament und alle, die Verantwortung tragen. Wir waren ein bisschen irritiert, wie lange dieser Prozess gedauert hat und wie wenig der Versuch unternommen wurde, die Opposition und die Länder in den Entscheidungsprozess einzubinden. Das ist ein Problem, weil mit den gewählten Lösungen auch Konsequenzen, zum Beispiel für die Länder, verbunden sind. Die Länder müssen jetzt schnell mitmachen, damit es nicht an Zügigkeit mangelt. ({3}) Es wäre gut gewesen, wenn man rechtzeitig darauf geachtet hätte, sie in diesen Prozess einzubinden. Ich hoffe, dass dies noch geschieht und man sich aktiv darum bemüht. Im Übrigen will ich Ihnen gerne versichern, dass wir uns von der fehlenden Einbindung der Länder in diesen Diskussionsprozess nicht abschrecken lassen, sondern uns weiterhin konstruktiv beteiligen. ({4}) Zur Sache. Der Weg, der im vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagen wird, ist ein Weg, den wir für gangbar halten und den wir gerne mitgehen wollen. Es ist notwendig, eine Neuregelung zur Sicherungsverwahrung zu treffen, und es ist richtig, dass wir die nachträgliche Sicherungsverwahrung mit Blick auf künftige Fälle abschaffen und durch ein anderes System, das auch uns geeigneter erscheint, ersetzen. Insofern findet der Weg, der im vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagen wird, unsere Unterstützung, zwar nicht in allen Details - darüber muss in den Ausschüssen und Anhörungen beraten werden; das ist eine notwendige Debatte -, aber im Grunde. Ich glaube, dass es vernünftig ist, die Fälle, in denen eine Sicherungsverwahrung angeordnet wird, auf Straftaten, die gegen die körperliche Unversehrtheit, das Leben und die sexuelle Selbstbestimmung eines Menschen gerichtet sind, zu beschränken. Es ist noch zu prüfen, ob diese Maßgabe im vorliegenden Gesetzentwurf durchgängig eingehalten wird. Im Großen und Ganzen ist aber genau dieser Weg richtig. Wenn man ihn geht, ist es leichter, eine Sicherungsverwahrung zu beschließen, sich ihre Anordnung vorzubehalten und noch während der Strafhaft den Vollzug der Sicherungsverwahrung festzusetzen. Es geht also um drei Entscheidungen, die vor dem Hintergrund der Beschränkung der Fälle, in denen eine Sicherungsverwahrung angeordnet werden darf, gut begründet sein müssen. Allerdings - ich sage es noch einmal - ist dies im vorliegenden Gesetzentwurf keineswegs in allen Einzelheiten geschehen und gelungen. Deshalb muss man die geplanten Regelungen noch einmal daraufhin überprüfen, ob sie wirklich passgenau sind. Wir sind bereit, weiterhin mit Ihnen zu diskutieren und uns konstruktiv einzubringen, wenn es darum geht, eine Lösung im Hinblick auf psychisch gestörte Gewalttäter bzw. die sogenannten Altfälle dieser Art zu finden. ({5}) Das wird nicht einfach; denn es ist nicht gerade leicht, eine Lösung für diese Fälle zu finden. Es wäre ganz einfach, wenn alle Oppositionsfraktionen sagen würden: Das Problem haben ja nicht wir, soll die Regierung doch sehen, wie sie damit zurande kommt. - Das kann es nicht sein. Insofern glauben wir, dass man das Ganze sorgfältig beraten muss und dass wir in den konkreten Diskussionen über den Gesetzentwurf schauen müssen, ob das funktioniert. Wir raten uns selbst und auch den Regierungsparteien und der Regierung, den Sachverständigen, die angehört werden, genau zuzuhören. Es kann sein, dass wir hinsichtlich der Frage, was man tun kann, zu veränderten Erkenntnissen im Detail kommen. Im Großen und Ganzen ist es aber vernünftig, dass wir jetzt nicht einfach zuschauen, wie gefährliche Täter in der Bundesrepublik möglicherweise Straftaten verüben und Bürgerinnen und Bürger in Gefahr bringen, weil wir nicht überlegt haben, was man tun kann, und wir deswegen keine Handhabe dagegen haben. Wir haben genau hingeschaut und sind deshalb der Meinung, dass es eine berechtigte Hoffnung der Bundesregierung und der antragstellenden Fraktionen ist, dass das Ganze auch mit der Europäischen Konvention für Menschenrechte vereinbar ist. ({6}) Das ist aber kein leichter Weg; denn wir haben Regelungen für die psychisch Gestörten - für die psychisch Kranken gibt es sie schon - zu treffen. Darüber kann man als Jurist und Juristin sorgfältig streiten. Wir glauben, dass die Regelungen vertretbar sind, wollen in den konkreten Beratungen aber sehr genau überprüfen und schauen, ob man das auch in allen Details so machen kann, wie das jetzt mit dem Gesetzentwurf vorgelegt worden ist. Mein Rat zum weiteren Umgang mit diesem Gesetzentwurf und hinsichtlich der Beratungen, die jetzt folgen, lautet deshalb: Wir sollten ruhig bleiben - das ist notwendig -, wir sollten sehr ernst bleiben - das ist auch notwendig -, und wir sollten bereit sein, zu akzeptieren, dass vielleicht nicht alles, was in dem heute erstmals beratenen Gesetzentwurf steht, am Ende auch so stehen bleibt. Die Regierungsparteien und die Regierung sollten schon bei den Beratungen des Bundestages und parallel dazu auch gemeinsam mit den Ländern den Versuch machen, einen Weg zu finden, wie das möglichst zügig dann auch gemeinschaftlich getragen werden kann. Ich will deshalb zum Schluss ein Plädoyer für die 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland halten und auf ihre Probleme und Fragen hinweisen. Die Lösung, die gerade für die psychisch gestörten Gewalttäter gefunden worden ist, führt dazu, dass bei den Ländern Mehrausgaben entstehen und dass neue Aufgaben zu erfüllen sind. Ich glaube, dass man jetzt nicht sagen kann, das sei ganz alleine deren Problem. Es wird wichtig sein, dass man diesen Prozess als eine gemeinsame nationale Aufgabe begreift, dass sich also bei der Beratung dieser Dinge ein entsprechendes Verhältnis zwischen der Regierung und der Opposition und vielleicht auch zwischen dem Bund und den Ländern entwickelt, indem gesagt wird: Wir sollten dieses Problem jetzt nicht einfach aufeinander abschieben, sondern wir sollten versuchen, es gemeinsam zu lösen. Wenn dieser Weg beschritten wird, dann können wir bei einem so schwierigen und ernsten Thema auch etwas Gutes für das Land und für die Strafrechtskultur dieses Landes tun. Schönen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Günter Krings von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf zur Sicherungsverwahrung legen wir dem Hause ein wichtiges Vorhaben der christlich-liberalen Regierung auf dem Gebiet der Rechtspolitik vor. Unterschiedliche Koalitionen mit unterschiedlichen Mehrheiten - auch unter Beteiligung der Grünen - haben in den letzten über zehn Jahren viele Ergänzungen und Erweiterungen des bewährten und schon relativ alten Rechtsinstituts der Sicherungsverwahrung vorgelegt. Das war jeweils - darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, Herr Kollege Scholz - gut begründbar. Es ist aber ein kompliziertes - manche sagen sogar: verworrenes Konglomerat aus strafrechtlichen Regelungen entstanden. Die christlich-liberale Bundesregierung ist gemäß dem Koalitionsvertrag bereits mit dem Ziel angetreten, dieses Rechtsinstitut übersichtlich neu zu ordnen und Schutzlücken zu schließen. Genau diese beiden Zielsetzungen erreichen wir mit dem heute vorgelegten Entwurf. ({0}) Das Recht der Sicherungsverwahrung wird endlich ein Recht aus einem Guss, und wir bieten den Menschen mehr Schutz vor hochgefährlichen Tätern. ({1}) Dass wir hier bei aller gebotenen Sorgfalt trotzdem zügig handeln mussten, hängt in der Tat mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zusammen. Dieser hat - auch das muss hier noch einmal erwähnt werden - in der vergangenen Woche in dankenswerter Klarheit das Rechtsinstitut der Sicherungsverwahrung in Deutschland bestätigt und als mit der Menschenrechtskonvention vereinbar erklärt. Aber er hat im vergangenen Jahr - das hat er im Mai dieses Jahres noch einmal bestätigt - für eine bestimmte Gruppe hochgefährlicher Täter eine Sicherungsverwahrung und auch ihre Verlängerung abgelehnt, wenn die gesetzliche Grundlage dafür erst nach der Tat geschaffen wurde. Meine Damen und Herren, wenn insbesondere die grüne Fraktion am gestrigen Abend nicht versucht hätte, das unserem Parlamentsrecht unbekannte System des Filibusterns in die Tradition des deutschen Parlaments einzuführen, hätten wir gestern Abend eine interessante Debatte zum 60. Jahrestag der Europäischen Menschenrechtskonvention am 4. November führen können. Sie musste leider abgesetzt werden. Das hätte gestern Abend - das tue ich aber gerne hier - Gelegenheit gegeben, auf die Bedeutung dieser Menschenrechtskonvention und darauf hinzuweisen, dass auch schmerzhafte Urteile wie das zu einem strengen Rückwirkungsverbot von uns selbstverständlich akzeptiert und befolgt werden, zumal Deutschland nicht nur von Anbeginn bei der Menschenrechtskonvention dabei war, sondern auch für diese Europäische Menschenrechtskonvention immer geworben hat. Ich sage es aber ganz deutlich: Zu einem offenen Grundrechtsdialog in Europa gehört auch, dass wir Judikate des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kritisch begleiten dürfen und müssen. ({2}) Weiter sage ich in aller Offenheit - und im Einklang mit weiten Teilen auch der deutschen Strafrechtswissenschaft - sehr deutlich, dass die Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs vom Dezember letzten Jahres und vom Mai dieses Jahres kein Ruhmesblatt in der Geschichte dieses Menschenrechtsgerichtshofs waren. ({3}) Die Gleichsetzung von Sicherungsverwahrung mit Strafhaft hat aus meiner Sicht ganz zentral damit zu tun, dass sich das Gericht in Bezug auf die Fakten nicht ausreichend mit der Praxis und dem System des deutschen Strafrechts befasst hat. ({4}) Es stimmt mich auch befremdlich, dass ein so folgenschwerer Eingriff in ein Herzstück einer nationalen Strafrechtsordnung nicht einmal von der Großen Kammer des Gerichts entschieden wurde. ({5}) Meine Damen und Herren, als Folge dieser Entscheidungen ist inzwischen eine größere Zahl hochgefährlicher Straftäter entlassen worden. Es sind Täter, die von Gerichten und Gutachtern übereinstimmend und klar für ein großes Sicherheitsrisiko gehalten werden. Sobald sie in Freiheit sind, müssen sie in der Regel rund um die Uhr von Polizisten überwacht werden. Ich kann deshalb der Deutschen Polizeigewerkschaft nur beipflichten, wenn sie erklärt, dass solche - so das Zitat - „tickende Zeitbomben“ nicht in Freiheit, sondern hinter Gittern gehören. Als Beispiel will ich nur auf die Situation im Südwesten unserer Republik - in Freiburg - hinweisen. Dort sind aufgrund von Entscheidungen des Oberlandesgerichts Karlsruhe inzwischen sechs Sicherungsverwahrte in Freiheit gekommen. Einer von ihnen wurde 1975 zu 15 Jahren Haft wegen Mordes in Tateinheit mit dem sexuellen Missbrauch eines Kindes verurteilt. Schon zuvor war er wegen zwei Vergewaltigungen, zwei versuchter Vergewaltigungen und einer Reihe weiterer Delikte verurteilt worden. Vier weitere Sexualstraftäter sind nach zahlreichen einschlägigen Taten zu je fünf Jahren Haft verurteilt worden. Diese fünf müssen rund um die Uhr von mehreren Polizisten überwacht werden. Sie sind jederzeit rückfallgefährdet. Ein sechster Gewalttäter muss jedenfalls zeitweise überwacht werden. Hierfür werden zurzeit 181 Polizeibeamte im Einsatz benötigt. Sie haben bislang knapp 16 000 Dienststunden rein zu diesem Zweck geleistet. Weit über eine halbe Million Euro Kosten sind hier angefallen. Das gehört auch zur Wahrheit, wenn wir an dieser Stelle über die Kosten und Lasten der Länder reden. Aber ich sage ganz klar: Die personellen Ressourcen, die man einsetzt, und auch die Kosten sind gar nicht das entscheidende Problem. Das muss ein Rechtsstaat in bestimmten Fällen vielleicht leisten. Wir verlangen von unseren Polizeibeamten - das ist das Problem - aber etwas Unmögliches. Wir wollen, dass sie uns wirklich lückenlos vor diesen gefährlichen Straftätern schützen, die aufgrund ihrer Anlage jederzeit losschlagen können. Das können wir von ihnen beim besten Willen und bei höchstem Engagement einfach nicht erwarten. Wir können, um es auf den Punkt zu bringen, von einem Polizisten in Freiburg nicht erwarten, dass er allein die Schutzlücken wieder stopft, die ein Richter in Straßburg aufgerissen hat. Für CDU und CSU war bei der Debatte von vornherein klar, dass wir alles versuchen müssen, um diese Täter wieder hinter Schloss und Riegel zu bringen. Der Unterschied zwischen uns und anderen Stimmen in der Debatte war, dass wir nicht resigniert und nicht immer nur gesagt haben, was alles nicht geht. Es gibt in der Tat enge Grenzen. Es gibt Begrenzungen, aber wir müssen uns auf die verbleibenden Möglichkeiten konzentrieren. Wir halten Resignation für den falschen Ratgeber bei diesem für die Sicherheit unserer Gesellschaft so wichtigen Thema. Deshalb haben wir von Anfang an versucht und es mit dem Gesetzesvorhaben auch geschafft, alle Möglichkeiten der Europäischen Menschenrechtskonvention auszuschöpfen, um Freilassungen zu verhindern und bereits Freigelassene wieder in Verwahrung zu nehmen. Dafür haben wir das Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter vorgesehen. Denn wir nehmen die Europäische Menschenrechtskonvention nicht nur da ernst, wo sie uns besondere Grenzen auferlegt, die über das nationale Recht hinausgehen, sondern auch dort, wo sie vielleicht neue Möglichkeiten und Handlungsspielräume eröffnet, die das nationale Recht bisher nicht eröffnet hat, zum Beispiel über die PsychKG-Gesetzgebung. ({6}) Die Ministerin hat darauf hingewiesen: Als Unterbringungsgrund verlangt Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention eben keine psychische Erkrankung, wie es unsere Landesgesetze in der Regel vorschreiben. Vielmehr reicht nach der Europäischen Menschenrechtskonvention - wenn man ihren Wortlaut ernst nimmt, was wir tun - jede spezifische Störung der Persönlichkeit, also auch ein gestörtes Verhältnis zur Sexualpräferenz, Pädophilie und Ähnliches. Diese weitere Regelungsmöglichkeit erfasst auch bereits entlassene Täter und erstreckt sich in unserem Entwurf darauf, diese zur Begutachtung wieder vorläufig festzuhalten. Allen eben erwähnten Sexualstraftätern aus Freiburg wurde eine Therapie angeboten. Alle diese Täter haben die Therapie abgelehnt. Für mich sind das klassische Anwendungsfälle für das neue Gesetz. Unterbringung und Therapie verfolgen auch das Ziel, den Betroffenen in Aussicht zu stellen, als geheilt und ungefährlich entlassen zu werden. Wer meint, dieses neues Instrument sei eine bloße Umetikettierung der Sicherungsverwahrung, der ignoriert nicht nur das Schutzinteresse der Allgemeinheit, sondern tritt auch die Behandlungschancen der betroffenen Schwerverbrecher mit Füßen. Meine Damen und Herren, unser Rechtsstaat hat eine Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern. Freiheit, körperliche Unversehrtheit und Leben müssen aktiv und effektiv verteidigt werden. Genau das ist der Leitgedanke unseres Gesamtkonzepts, das die Sicherheitsverwahrung insgesamt neu ordnet. Ich will das mit drei Stichpunkten aufzeigen: Wir haben deutliche Verbesserungen und Erweiterungen bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vorgesehen. Wir verdoppeln die Frist für die Rückfallverjährung bei gefährlichen Sexualstraftätern auf zehn Jahre. Und wir schaffen unter anderem die Möglichkeit einer „elektronischen Fußfessel“. Die Ministerin hat recht: Das ist kein Ersatz für eine Verwahrung. Aber in den Fällen, in denen es nicht angezeigt oder möglich erscheint, einen Täter in Verwahrung zu nehmen, ist es eine Möglichkeit, die schwere Arbeit der Polizei zu entlasten und die Sicherheit der Bürger zu erhöhen. Leben und Gesundheit der Menschen müssen wir gerade vor Straftätern schützen. Das ist eine der Kernaufgaben unseres Staates und unsere Pflicht als Mitglieder des Parlaments, des Deutschen Bundestages. Es ist daher aus meiner Sicht unverantwortlich, immer nur zu sagen, was alles nicht geht, statt dieses Schutzbedürfnis entsprechend ernst zu nehmen. Diese Schutzpflicht speist sich übrigens nicht nur aus Art. 2 des Grundgesetzes, wenn es um Leben und Gesundheit geht, sondern auch aus Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wer das ausblendet, tut nichts besonders Gutes für das Image der Europäischen Menschenrechtskonvention in Deutschland. Für das Thema Freiheit und Sicherheit wäre schon viel gewonnen, wenn diejenigen, die durchaus zu Recht auf die Grundrechte der Täter hinweisen, auch zur Kenntnis nehmen würden, dass dieselben Grundrechte in ihrer Schutzpflichtenfunktion auch die Bürger schützen und den Staat zum Schutzhandeln verpflichten. ({7}) - Das ist ja schön. Die Menschen in unserem Lande wissen, dass die innere Sicherheit bei der CDU/CSU gut aufgehoben ist. Wir richten unsere Politik darauf aus, dass aus Bürgern keine Opfer werden. In diesem Punkt arbeiten wir in der christlich-liberalen Koalition gut zusammen. Dafür bieten wir die Zusammenarbeit auch all jenen Kräften in diesem Hause an, denen dieses Ziel ebenso wichtig ist wie uns. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Halina Wawzyniak von der Fraktion Die Linke. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir reden hier nicht über irgendetwas, sondern über den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung. Das heißt, wir reden über den schwersten und schwerwiegendsten Eingriff, den das deutsche Strafrecht zur Verfügung stellt. Ich finde, es ist dem Thema völlig unangemessen, dass der Gesetzentwurf erst Dienstagabend zwischen 19.30 und 21 Uhr im Intranet abrufbar war, ein Gesetzentwurf mit 98 Seiten und Begründung. Als Krönung kommt hinzu, dass der Gesetzentwurf in Teilen anders aussieht als die Eckpunkte und die Presseerklärung der Justizministerin. Ich finde das nicht akzeptabel. ({0}) Reden wir über die Sicherungsverwahrung, dann reden wir über ein hochsensibles und emotional aufgeladenes Thema. Ob Bild, BZ oder ein ehemaliger Bundeskanzler, das Prinzip „Wegsperren für immer“ hat Hochkonjunktur, mindestens seit 1998. Dabei wäre es Aufgabe der Politik, insbesondere der Rechtspolitik, über schwierige Themen sachlich und seriös zu debattieren. Das schließt populistische und stammtischorientierte Reden und Gesetze aus. ({1}) Die Sicherungsverwahrung wird in der Praxis tatsächlich eher als zusätzliche Strafe wahrgenommen. Sie ist - das wissen Sie alle - ein rechtlich höchst umstrittenes Instrument. Die Strafverteidigervereinigung und der RAV fordern die Abschaffung der Sicherungsverwahrung als Fremdkörper im Strafrecht. Sie sind nicht allein. Es handelt sich nicht um eine vom Himmel gefallende Debatte, die der Strafrechtswissenschaft unbekannt ist. 1934 unter den Nazis eingeführt, fristete die Sicherungsverwahrung nach der Strafrechtsreform 1975 eher ein Schattendasein. Seit 1998, ergänzt 2002 und 2004, erlebte sie eine Renaissance. Alle Parteien außer der FDP und der Linken haben sich daran beteiligt. Nunmehr beteiligt sich auch die FDP an dieser Renaissance. Nach der Koalitionsvereinbarung sollte die Sicherungsverwahrung den Ausnahmecharakter beibehalten und auf schwerste Fälle beschränkt sein. Nach dem vorliegenden Gesetzentwurf sage ich Ihnen: Die Koalitionsvereinbarung ist das Papier nicht wert, auf dem sie steht. ({2}) Schon jetzt ist die Sicherungsverwahrung nicht Ultima Ratio. Entgegen dem medial vermittelten Bild sind eben nicht nur Gewalt- und Sexualstraftäter betroffen. Auch Straftäter, die wegen Betrugs- und Diebstahlsdelikten, Brandstiftung und - in geringem Maße - sogar wegen Nötigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt worden sind, sitzen in Sicherungsverwahrung. Voraussetzung für die Sicherungsverwahrung ist ein Hang zu gefährlichen Straftaten. Nach dem BGH handelt es sich um einen „eingeschliffenen inneren Zustand“, der immer wieder zu Straffälligkeit führt. Voraussetzung für die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist die Einschätzung im Rahmen einer Prognoseentscheidung. Die Hamburger Oberärztin Marianne Röhl bringt es auf die Formel: „Die Hälfte der Patienten sitzt zu Unrecht ein, aber welche Hälfte es ist, das weiß ich nicht.“ Genau das ist der Punkt. Niemand kann eine sichere Prognose über zukünftige Straffälligkeit treffen. Trotzdem werden Menschen ihrer Freiheit beraubt. ({3}) Kommen wir zum Gesetzentwurf. Trotz all dieser offenen Fragen wollen Sie die Sicherungsverwahrung de facto ausweiten. Sie sind da ganz offen und erwähnen das auf Seite 53 des Gesetzentwurfs. Ich finde das sehr bemerkenswert; denn Sie benennen im Gesetzentwurf überhaupt keinen Anlass für die Ausweitung. Mit dem Prinzip der Ultima Ratio hat Ihr Gesetz jedenfalls nichts zu tun. Das kann man auch nicht mit Rückfallzahlen und Gefährlichkeit begründen; denn dafür gibt es keine empirische Grundlage, ganz im Gegenteil. Sie alle kennen die Studie von Michael Alex. Nicht nur diese Studie geht davon aus, dass sich die Quote der Rückfalltäter auf 10 bis 15 Prozent beläuft. Was macht Ihren Gesetzentwurf so inakzeptabel? Beginnen wir mit der anfänglichen Sicherungsverwahrung. Sie ist nach dem Gesetzentwurf nicht letztes Mittel der Kriminalpolitik. Nach dem Gesetzentwurf sind Anlassstraftaten für die Anordnung der Sicherungsverwahrung noch immer der Bandendiebstahl und der Wohnungseinbruchsdiebstahl. Richtig absurd wird es, wenn man sich darauf beruft, dass die Straftaten des 28. Abschnittes des StGB ebenfalls dazugehören. Das sind unter anderem Brandstiftungsdelikte und unterlassene Hilfeleistung. Ihr Anspruch ist, die Sicherungsverwahrung für schwerste Fälle zu regeln. Wenn aber die erwähnten Delikte als Anlassstraftaten in Betracht kommen, dann offenbart das ein eigenartiges Verständnis von schwersten Fällen. ({4}) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ist der eigentliche Ausbau der Sicherungsverwahrung. Der schon angesprochene Hang muss jetzt nur noch wahrscheinlich und nicht mehr sicher sein. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit eines Hangs zu schweren Straftaten reicht aus, um das Damoklesschwert der Sicherungsverwahrung über dem Strafgefangenen schweben zu lassen. Die Neue Richtervereinigung - um nur ein Beispiel zu nennen - fordert die komplette Abschaffung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung und bezweifelt, dass hier die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderte Verknüpfung zwischen Verurteilung und Freiheitsentzug noch gegeben ist. Kommen wir zur nachträglichen Sicherungsverwahrung. Hierbei handelt es sich um eine Mogelpackung. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung gilt nämlich nur für Neufälle. Das heißt, erst wenn das Gesetz in Kraft getreten ist und danach Straftaten begangen werden, wird sie angewendet. In Ihrem Gesetzentwurf schreiben Sie, bis sie sich auswirke, dauere es fünf bis zehn Jahre. Viel absurder ist aber, dass die Altfälle noch nach der alten Regelung in Sicherungsverwahrung gebracht werden können. ({5}) Sie regeln also ein Gesetz neu, wenn aber heute einer eine Straftat begeht, wird er noch nach den alten Regelungen in Sicherungsverwahrung gebracht. ({6}) - Das ist nicht umgekehrt, wir können aber gern im Detail darüber noch einmal reden. Sie lassen die Katze aus dem Sack, indem Sie erklären, dass die Ausweitung der primären und vorbehaltenen Sicherungsverwahrung die nachträgliche Sicherungsverwahrung ersetzt, und über Umwege setzen Sie rechtstaatliche Hürden herab. Ich zitiere aus dem Gesetzentwurf: Schließlich lässt sich durch den Ausbau der primären und vorbehaltenen Sicherungsverwahrung für „Neufälle“ auch die bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung … nahezu vorprogrammierte Situation vermeiden, dass ein vom Gericht als gefährlich eingestufter Straftäter entlassen werden muss, weil die hohen, aber rechtstaatlich gebotenen Anordnungsvoraussetzungen … nicht erfüllt sind. Der Höhepunkt des Gesetzes ist allerdings das Unterbringungsgesetz. ({7}) Damit umgehen Sie das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Soweit mir ersichtlich, trifft dieses Unterbringungsgesetz - außer in den Reihen der Koalition - auf einhellige Ablehnung. Die Neue Richtervereinigung wirft Ihnen vor, Sie verlassen damit den Boden der verfassungs- und menschenrechtlichen Vorgaben. Und tatsächlich wollen Sie mit diesem Unterbringungsgesetz eine Tätergruppe, die nach den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention in Freiheit zu belassen ist, durch den weiten Begriff „psychische Störung“ wieder einsperren. ({8}) Schon in Freiheit befindliche Personen wollen Sie wieder in Anstalten bringen. Und Sie erklären nicht einmal das dogmatische Problem, das Sie haben, wenn jemand als schuldfähig mit einer Strafe belegt, später aber als psychisch krank eingestuft wird. ({9}) Das macht alles überhaupt keinen Sinn. ({10}) Das Unterbringungsgesetz ist die neue Form der nachträglichen Sicherungsverwahrung. Mit diesem Gesetzentwurf lösen Sie kein tatsächliches oder vermeintliches Problem, sondern Sie wälzen es auf Richterinnen und Richter und die forensischen Sachverständigen ab. Es wird herumgedoktert. Das Mindeste wäre gewesen, eine Expertenkommission einzurichten, wie die Linke sie bereits in der letzten Wahlperiode gefordert hat. Richtiger Opferschutz sieht anders aus, denn erst mit der Entlassung der Verurteilten beginnt die Arbeit. Lassen Sie mich mit dem Greifswalder Appell zur Reform der Sicherungsverwahrung enden. Darin heißt es: Auch wenn es nicht leicht ist, muss unsere Gesellschaft zum Schutz unserer verfassungsrechtlichen Grundwerte mit der kritischen Situation leben, dass vereinzelt Menschen in die Freiheit entlassen werden, auch wenn sie im Hinblick auf ihre Rückfallgefahr nicht als vollkommen unbedenklich eingestuft werden können. ({11}) Dieser Gesetzentwurf macht dies nicht, dieser Gesetzentwurf weitet das Instrument aus. Sie machen es sich zu leicht und gefährden leichtfertig ein weiteres Stückchen Rechtsstaat. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag von Bündnis 90/Die Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Krings, noch einmal vonseiten der Grünen an Ihre Adresse, an die Adresse der Koalition, zum Mitschreiben: ({0}) Jawohl, es gibt einige wenige Menschen, die sind aktuell so gefährlich für ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger, insbesondere für Frauen und Kinder, dass wir diese Gefahr nicht anders bannen können, als ihnen ihre Freiheit zu nehmen. Insofern sagen wir Ja zu diesem letzten Mittel des Strafrechts, der Sicherheitsverwahrung. Aber ich füge hinzu: Es ist bei einigen wenigen Menschen und nicht bei Hunderten oder gar Tausenden anzuwenden. ({1}) Ich werde auf die Frage der Fehlerhaftigkeit der Prognosen noch zu sprechen kommen. Wir sagen an dieser Stelle mit Blick auf die Opfer und die potenziellen Opfer aber auch - Sie selber haben auf die Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit hingewiesen -: In einem Rechtsstaat gibt es keine absolute Sicherheit. ({2}) Bezüglich der Täter gilt: Auch sie sind Grundrechtsträger. Sie haben Menschen- und Grundrechte, die wir ihnen in einem Rechtsstaat nicht nehmen dürfen. ({3}) Die Koalitionsfraktionen haben einen fast 100-seitigen Gesetzentwurf vorgelegt. Die Koalitionsfraktionen? Das ist der erste Schwindel. Kein einziges Wort haben sie selbst geschrieben. ({4}) Alles ist eine Formulierungshilfe des Bundesjustizministeriums. ({5}) Der Vorsitzende des Rechtsausschusses hat es sich verbeten, in Zukunft Formulierungshilfen zu bekommen. Sie selber haben lediglich einen Stempel auf die Vorlage gesetzt. In der Sache scheint hier in einem Punkt - hoffentlich Einigkeit zu herrschen: Die Sicherungsverwahrung ist der schwerste Eingriff, der in unserem Rechtsstaat in einem strafrechtlichen Verfahren möglich ist. Wegen der schwierigen Prognoseentscheidungen ist er in einem hohen Maße fehlerbehaftet. Thomas Feltes, einer der bekanntesten und renommiertesten Forscher auf dem Felde der Sicherungsverwahrung, schreibt dieses Jahr von einer Fehlerquote von 90 Prozent. Das ist eine erschreckende Zahl. Deswegen braucht es gerade auf dem Feld der Sicherungsverwahrung gesetzliche Vorkehrungen gegen das Ausufern dieses Rechtsinstituts. Die gesetzlichen Vorgaben zur Begrenzung dieses Instituts sind eine radikale Begrenzung der Anlasstaten und objektive Anhaltspunkte für die Bestimmung des Hangs und der Gefährlichkeit, die sich aus mindestens zwei Vorstrafen und aus einer kurzen Rückfallverjährung ergeben müssen. Dazu hat die Bundesjustizministerin am 12. August dieses Jahres gesagt: Wir werden die Sicherungsverwahrung so zuschneiden, dass wirklich nur Gewaltverbrecher und nur Sexualtäter erfasst werden. Betrüger und Diebe dürfen nicht mehr in die Sicherungsverwahrung kommen. Selbst in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs schreiben Sie - das steht auf Seite 24 -: Durch dieses Erfordernis werden insbesondere solche Delikte dem Anwendungsbereich des § 66 StGB entzogen, die sich gegen das Vermögen … richten und nicht mit der Anwendung von Gewalt gegen Personen verbunden sind. Wenn wir uns Ihren Gesetzentwurf anschauen, stellen wir fest, dass dies ein weiterer großer Schwindel ist. Nach § 66 Abs. 1 Nr. 1 b StGB ({6}) werden alle Straftaten mit einer Höchststrafe von zehn Jahren einbezogen. Ich nenne Ihnen dazu einmal eine ganze Liste von Straftaten - Herr Kollege Scholz, schreiben Sie mit; Sie wollen ja konstruktiv mitarbeiten -: Fälschungen von Zahlungskarten, Fälschungen von technischen Aufzeichnungen, Fälschungen von Daten, Diebstahl, Hehlerei und Steuerhehlerei, Betrug, Computerbetrug, Subventionsbetrug, falsche Verdächtigung, Verleitung zu missbräuchlichen Asylantragstellungen, Bestechlichkeit von Richtern, landesverräterische Agententätigkeit. Das alles sind Delikte, bei denen Sie zugesagt haben, dass sie in die Sicherungsverwahrung nicht eingebunden werden. Meine Liste ist beileibe nicht vollständig. Ich könnte sie noch um etliche Paragrafen weiterführen. ({7}) Sie legen dem Bundestag hier also einen richtigen Schwindel vor. Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung weiten Sie auf Ersttäter aus. Das ist ein unverzeihlicher Fehler; schließlich ist klar, dass wir angesichts der unsicheren Prognose des Hangs zur Begehung von Straftaten ein objektives Element der Begrenzung brauchen. Sie dehnen die Rückfallverjährungsfrist auf zehn Jahre aus und sprengen damit zumindest für einen Teilbereich der Anlasstaten eine enge Klammer, die notwendig ist, um einen objektiven Anhaltspunkt für die Gefährlichkeit einer Person zu haben. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung schaffen Sie zwar ab, aber die Kollegin Wawzyniak hat völlig recht: ({8}) Dadurch, dass Sie nur Straftaten für das neue Recht akzeptieren wollen, die ab dem Zeitpunkt der Verkündung dieses Gesetzes begangen werden, schaffen Sie in Zukunft auf Jahre, vielleicht auf Jahrzehnte wiederum zwei Kategorien von Sicherungsverwahrten bzw. von nach dem Gesetz Behandelten - eine Ungleichbehandlung, die Ihnen vor die Füße fallen wird. Die ganze Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung ist eine Beibehaltung, sogar eine Ausweitung einer schlechten Entwicklung, gegenüber den Reformversprechen der FDP also ein einziger großer Schwindel. ({9}) Nun zum Therapieunterbringungsgesetz. Es war einmal so, dass die Sicherungsverwahrung ab 1976 auf zehn Jahre begrenzt war. 24 Jahre hat die Bundesrepublik Deutschland mit diesem Zustand gelebt, ohne dass der Rechtsstaat aus den Fugen geraten wäre. ({10}) Es war erst dem Vorwahlkampf des Jahres 1998 geschuldet, dass Ihre Vorgängerin, die damalige schwarzgelbe Koalition, die Zehnjahresfrist aus dem Gesetz gestrichen hat. Es gab damals schon warnende Stimmen. Ich verweise nur auf Herrn Ullenbruch, der bereits 1998 in der Neuen Zeitschrift für Strafrecht geschrieben hat, dies werde grundrechtlich und menschenrechtlich keinen Bestand haben. Genauso ist es gekommen. Jetzt - nach zwölf Jahren - holt Sie, holt uns alle der Fehler ein, den die damalige Koalition 1998 gemacht hat. ({11}) Dabei hätte man längst in den Ländern und auch im Bund etwas tun können. Ich verweise nur darauf, dass bereits 2005 der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe die Freiheitsentziehungsanstalten in der Bundesrepublik Deutschland untersucht hat. Er hat 2005 geschrieben, in welchem Ausmaß er den Vollzug der Sicherungsverwahrung für einen Skandal hält. Er hat geschrieben, die Organe der Bundesrepublik Deutschland werden aufgerufen, umgehend an eine Reform des Vollzugs zu gehen. Wäre das passiert, brauchten wir uns jetzt mit der richtigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht zu beschäftigen. ({12}) In der Sache ist es so, dass Sie den neuen Begriff der psychischen Störung einführen. In der Sache ist es so, dass Sie bei dieser Therapieunterbringung die Zuständigkeit der Zivilgerichte statt der Strafgerichte festlegen Verfahren nach dem Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit statt nach der Strafprozessordnung. Die Voraussetzungen sind den Unterbringungsgesetzen der Länder vollständig nachgebildet. Als Krönung wollen Sie mit diesem neuen Gesetz auch bereits Entlassenen ohne Zeitbegrenzung wieder die Freiheit nehmen, das heißt, Entlassene wollen Sie nach diesem Gesetz auch noch nach Jahren, theoretisch nach Jahrzehnten erfassen. ({13}) - Aber selbstverständlich, eine zeitliche Begrenzung gibt es in diesem Gesetz nicht. Deswegen sage ich Ihnen: Sie und wir im Bund sind für eine solche Regelung überhaupt nicht zuständig.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege!

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Denn es handelt sich um eine reine Präventionsmaßnahme, für die die Länder zuständig sind. Die Zuständigkeit dafür haben sie auch ausgeübt ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Montag, bitte kommen Sie zum Schluss.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- mit den Gesetzen über die Inhaftierung und Freiheitsentziehung von psychisch Kranken und Gestörten. Dieses Gesetz wird Ihnen recht bald vor die Füße fallen. Es wird keine hohe Halbwertzeit haben. Wir werden an diesem Gesetz nicht konstruktiv - wie Kollege Olaf Scholz - mitarbeiten. Wir werden dieses Gesetz auch in den Ausschüssen kritisieren.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Montag, bitte!

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir werden seine Schwächen aufzeigen und nach Möglichkeit dafür sorgen, dass es nicht ins Bundesgesetzblatt kommt. Danke schön. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen für die FDP-Fraktion. ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon eine interessante Lage, in der wir uns im Augenblick befinden. Wer die Beiträge zu dieser Debatte sorgfältig verfolgt hat, konnte feststellen, dass sich die Kollegin der Linkspartei große Sorgen um die Täter macht. ({0}) Ich habe aber nicht ein einziges Mal auch nur ein einziges Wort über die Opfer der Straftaten gehört; ich habe sorgfältig darauf geachtet. ({1}) Wir haben auch gehört, dass sich die Grünen nicht konstruktiv in die Debatte einbringen. Auch Ihnen ist offensichtlich egal, dass in diesem Land brandgefährliche Täter herumlaufen. ({2}) Deswegen bin ich dem Kollegen Scholz ganz außerordentlich dankbar, dass er deutlich gemacht hat, dass sich die SPD-Fraktion konstruktiv einbringen wird. Das sind wir unseren Bürgern auch schuldig. Vielen Dank, dass Sie das zugesagt haben. ({3}) Welche Verantwortung wir in diesem Bereich tragen, habe ich ganz persönlich einmal erlebt, als ich nach der Tat eines solchen Täters die Todesnachricht an die Eltern des Kindes überbringen musste. Das war ein Erlebnis, das mich noch heute bewegt. Deswegen habe ich großes Verständnis dafür, dass sich viele Eltern um ihre Kinder sorgen und viele junge Mädchen Angst haben, zu Opfern zu werden. Wir müssen diese Sorgen ernst nehmen. Wir müssen auf der anderen Seite sehen - auch das gehört zu einer Betrachtung -, dass wir auch Verantwortung für unseren Rechtsstaat tragen. In den Debatten der letzten Jahre, die wir aufgrund von Einzelfällen immer wieder geführt haben, habe ich eines stets erwähnt: die steigende Zahl der Sicherungsverwahrten. In den letzten 14 Jahren haben wir eine Verdreifachung der Zahl der Sicherungsverwahrten zu verzeichnen; darunter befinden sich auch Heiratsschwindler. ({4}) Diese Entwicklung kann nicht hingenommen werden. Sie ruft Unwohlsein hervor. ({5}) Wir alle sind aufgerufen, einen vernünftigen Weg zu suchen. Dafür ist die Vorlage der Bundesjustizministerin - ich danke dafür - eine richtige Wegweisung. ({6}) - Nein, nicht eine Irreführung, Herr Kollege Ströbele. Dass Sie natürlich zu den Kritikern gehören, ist mir völlig klar. ({7}) - Es ist mir völlig klar, warum der Kollege Ströbele zu den Kritikern gehört: weil er genau die Erfahrung, von der ich vorhin berichtet habe, eben nicht gemacht hat und weil er immer wieder gezeigt hat, dass ihn die Täter interessieren und nicht die Opfer. ({8}) Ich möchte darauf hinweisen, dass wir wegen dieses Unwohlseins bereits in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen haben, dass wir das Recht der Sicherungsverwahrung reformieren wollen. Wir haben sorgfältig beraten. Der Vorwurf, dass es sich nicht um einen Entwurf der Koalitionsfraktionen handelt, ist völlig daneben. Frau Voßhoff weiß, wie oft wir zusammengesessen und verhandelt haben. Deshalb hat es selbstverständlich einen ganz wesentlichen Beitrag beider Fraktionen gegeben. Im Übrigen hat uns natürlich das Bundesjustizministerium beratend zur Seite gestanden. Das war aber auch bei allen anderen Koalitionen immer der Fall. ({9}) Ich persönlich bin der Auffassung, dass wir den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht kritisieren sollten. ({10}) Ich hatte mir vielleicht ein anderes Urteil erhofft. Im Hinblick auf andere Länder legen wir aber immer großen Wert darauf, dass sie sich an die Europäische Menschenrechtskonvention halten. Deshalb tun wir gut daran, dies auch zu tun. ({11}) Ich glaube, dass wir dies mit diesem Gesetzentwurf in gelungener Weise getan haben. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass wir insbesondere im Anwendungsbereich Einschränkungen vornehmen werden. In Anbetracht der Kritik an der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung möchte ich an etwas erinnern: Praktiker sagen, dass eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung dazu beiträgt, die Therapiewilligkeit derjenigen, denen die Sicherungsverwahrung droht, zu erhöhen. Diese Personen können dann aktiv dazu beitragen, keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr zu sein. Das ist etwas, was auch wir uns wünschen. ({12}) Wir wollen, dass Täter nicht wieder Straftaten begehen. Deshalb ist das, wie ich finde, ein gutes und richtiges Instrument. ({13}) Sie haben darauf hingewiesen - das ist meine letzte Bemerkung, Herr Präsident; ich gucke auf die Uhr -, dass das die Länder etwas kosten wird. ({14}) Sie scheinen aber nicht sonderlich an der Thematik interessiert zu sein. Deshalb habe ich Ihre Kritik nicht verstanden, dass wir die Länder stärker hätten einbeziehen müssen. Sie selbst hätten durch Präsenz deutlich machen können, dass sie einbezogen werden wollen. Wir sollten es trotzdem tun. Auch das gehört zu einer vernünftigen Beratung. Wir bieten ihnen an, dass wir zu guten Beratungen kommen. Das sind wir den Bürgern schuldig. Die Gründe habe ich in meiner Rede genannt. Vielen Dank. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich habe jetzt zwei Wünsche für Kurzinterventionen, wobei ich bitten würde, Herr van Essen, dass Sie dann auf beide eingehen. - Zunächst die Kollegin Halina Wawzyniak.

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr van Essen, ich weise ausdrücklich die Unterstellung zurück, dass von meiner Seite aus nichts zum Opferschutz gesagt worden ist. Ich nehme zur Kenntnis, dass seit dem gestrigen Tag, als eine gesamte Fraktion, nämlich die Fraktion der Grünen, in die Nähe der NSDAP gerückt worden ist, ({0}) ein unerträgliches Klima in diesem Saal herrscht. ({1}) Niemand in diesem Haus vernachlässigt den Opferschutz. Wenn Sie bis zum Schluss zugehört hätten - ich kann es gerne wiederholen -, hätten Sie gehört, dass ich ausdrücklich gesagt habe: Opferschutz sieht anders aus. Opferschutz beginnt mit der Entlassung. Opferschutz beginnt mit den Möglichkeiten von Therapie im Strafvollzug und ambulant. Lassen Sie mich abschließend hinzufügen: Ich persönlich finde es einer liberalen Gesinnung nicht angemessen, die Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit in dieser Art und Weise zu diffamieren. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die zweite Kurzintervention wird von dem Kollegen Josef Winkler von Bündnis 90/Die Grünen gewünscht. Bitte, Herr Winkler.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr van Essen, Sie wissen, dass ich Sie menschlich sehr schätze. Aber ich muss schon sagen, dass ich es nicht für besonders angemessen halte, auf eine Rede, wie sie der Kollege Montag gehalten hat, so, ich sage einmal, derb zu antworten, wie Sie das getan haben. Kollege Montag ist sehr ausführlich auch auf die Opferperspektive eingegangen. Das tut meine Fraktion von jeher. Nichtsdestotrotz: Den Opfern ist nicht geholfen, wenn wir eine Regelung haben - diese Gefahr sehen wir -, die nicht gerichtsfest ist und die erneut scheitern wird. Das ist die Hauptproblematik, die wir in Ihrem Gesetzentwurf sehen. Das sollte aus dem, was der Kollege Montag gesagt hat, eigentlich deutlich geworden sein. Unabhängig davon bleibt es dabei, dass potenzielle Täter und Täter, die bereits Opfer hervorgebracht haben, die grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte behalten und dass es eine sehr schwerwiegende Einschränkung ihrer Bürgerrechte ist. Ich bitte Sie auch vor dem Hintergrund dessen, was der Präsident des Bundestages gestern gesagt hat, dass wir bitte nicht persönlich herabsetzend sein sollten - das gilt nicht nur gegenüber einzelnen Personen, sondern auch gegenüber Fraktionen, die diesem Hause angehören - und die Debatte nicht in dieser Schärfe fortsetzen sollten. Vielmehr sollten Sie akzeptieren, dass wir sagen: Dieser Gesetzentwurf bietet nicht genug Ansatzpunkte für uns, um wirklich konstruktiv mitzuarbeiten, damit wir ein einstimmiges Ergebnis bekommen. Nichtsdestotrotz werden wir uns in den Ausschussberatungen selbstverständlich mit Vorschlägen einbringen, die zu einem besseren Ergebnis führen, als wir das nach diesem vorgelegten Entwurf befürchten. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Einen Moment, Herr van Essen. - Herr Ströbele, wie soll ich Ihre Wortmeldung interpretieren? - Sie möchten eine Kurzintervention machen. Dann hat der Herr Kollege van Essen allerdings hinterher ausreichend Zeit, um auf die drei Kurzinterventionen zu reagieren. - Bitte schön.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege van Essen, ich stelle fest: Sie entwickeln sich immer mehr zum Oberpolemiker dieses Hauses. ({0}) Das haben Sie gestern gezeigt, und das haben Sie heute gezeigt. Ich habe Sie einmal sehr geschätzt, weil Sie immer sehr frei reden. Ich finde es gut, wenn man im gegenseitigen Dialog versucht, etwas zu entwickeln. Nur, Sie belassen es inzwischen bei Polemik. Sie haben mich und meine anwaltliche Praxis angesprochen; ({1}) Sie kennen sie offenbar ganz genau. ({2}) Ich darf Sie darauf hinweisen, dass ich mich beispielsweise ein halbes Jahr lang als Nebenklägervertreter vor dem Oberlandesgericht Schleswig um einen Teil der Opfer des schlimmen Brandanschlags von Mölln gekümmert habe. Ich vermute, dass ich meine berufliche Tätigkeit mindestens genauso häufig auf der Seite der Opfer ausgeübt habe, wie Sie das möglicherweise als Oberstaatsanwalt getan haben. Ich habe mich aber nicht deshalb gemeldet. Ich erwarte von Ihnen - Sie müssten juristische Argumente nachvollziehen können -, dass Sie zu den sehr konkreten Kritikpunkten, die Kollege Montag geäußert hat, Stellung nehmen. Die FDP und die Justizministerin haben sich zuerst aus dem Fenster gelehnt und gesagt: So machen wir das überhaupt nicht. - Dann haben Sie klare Richtlinien dazu vorgegeben, was in einem Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung stehen darf und was nicht. Nun hat Kollege Montag mit Hinweis auf die einzelnen Paragrafen nachgewiesen, dass die Richtlinien überhaupt nicht eingehalten worden sind, sondern das Instrument wiederum eine sehr weite Anwendung finden soll. Dazu sagten Sie nicht ein einziges Wort. Sie hätten sagen können, er habe sich verlesen oder es stimme in diesem oder jenem Punkt nicht. So etwas kam aber in Ihrer Rede gar nicht vor, sondern nur Polemik. So geht es nicht. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat der Kollege van Essen die Möglichkeit, zu antworten. Theoretisch haben Sie jetzt neun Minuten Zeit. Wir würden uns aber freuen, wenn Sie sie nicht ganz ausschöpfen würden. Bitte schön.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident, ich werde selbstverständlich nur einige kurze Bemerkungen machen. Frau Kollegin Wawzyniak, wer Ihre Rede gehört hat, der weiß, worauf Sie den Schwerpunkt gelegt haben; er lag eindeutig nicht bei den Opfern. ({0}) Deshalb bleibe ich bei meinem Vorwurf. Herr Kollege Winkler, der Kollege Montag weiß - das habe ich ihm schon persönlich gesagt -, wie sehr ich ihn schätze. Ich bin froh, dass wir ihn im Rechtsausschuss haben. Ich schätze auch seine kritischen Bemerkungen. Ich habe ihm vorhin genau zugehört. Wir sind hier in der ersten Lesung. Ich muss ganz offen gestehen: Das eine oder andere müssen wir nachschauen. Insofern ist es akzeptiert, dass von Ihnen Punkte aufgeführt worden sind, über die es zu diskutieren lohnt. Herr Kollege Montag, Folgendes hat mich gestört - ich wiederhole es -: Ich hätte mir, weil wir hier eine ganz schwierige Aufgabe zu bewältigen haben, von Ihnen gewünscht, dass es von Ihnen ein ähnliches Angebot wie von der SPD gegeben hätte. Ich glaube, dass wir das unseren Bürgern schuldig sind. ({1}) Herr Kollege Ströbele, wenn Sie tatsächlich beispielsweise die Opfer von Mölln unterstützt haben, dann bin ich Ihnen dafür außerordentlich dankbar. Das Ereignis von Mölln war ganz schlimm für unser Land. Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass Sie dort etwas für Opfer getan haben. Von mir persönlich herzlichen Dank dafür! Ich habe immer nur gesehen, wie Sie sich verhalten haben, wenn wir hier im Bundestag über etwas diskutiert haben und Sie zwischen Opferschutz und Täterinteressen zu entscheiden hatten. Da hätte ich mir eine stärkere Betonung des Opferschutzes gewünscht. In diesem Punkt habe ich Sie kritisiert; das werde ich auch weiter tun. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion. ({0})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte versuchen, die Diskussion über dieses schwierige Thema ein wenig zu versachlichen. Sie alle wissen, dass ich bei jeder anderen Gelegenheit, insbesondere in diesem Haus, gerne die politische Auseinandersetzung suche; aber ich glaube, dieses Thema eignet sich dafür überhaupt nicht. Vielmehr muss man bei diesem Thema sachlich und konstruktiv miteinander arbeiten. Ich möchte konkretisieren, was der Begriff „konstruktiv“ für die SPD bedeutet; das habe ich auch schon in meiner Haushaltsrede getan. Eine konstruktive Begleitung bedeutet keinen Persilschein. ({0}) Selbstverständlich werden wir an diesem sehr umfangreichen Gesetz mitarbeiten; wir werden uns einbringen. Wir werden aber auch Themen benennen, bei denen wir den Eindruck haben, dass wir uns noch einmal zusammensetzen und vieleicht das eine oder andere verändern oder ergänzen müssen. Bitte verstehen Sie unsere Ankündigung als Versprechen, konstruktiv mitzuarbeiten und das Gesetzgebungsvorhaben kritisch zu begleiten. Aber Sie sind auch nichts anderes von uns gewöhnt. Jetzt zum Thema. Wir haben die sehr schwierige Aufgabe, unterschiedliche Interessen zusammenzuführen. Selbstverständlich gibt es den Opferschutz. Selbstverständlich müssen wir die Ängste und Sorgen der Menschen aufgreifen, die Angst vor denjenigen haben, die die schwersten Straftaten, die man sich überhaupt vorstellen kann, begangen haben. Die Fälle braucht man gar nicht auszumalen. Wir alle wissen, wer damit gemeint ist. Als Gesetzgeber müssen wir aber selbstverständlich auch die Belange der Straftäter im Blick haben. Es geht auch um das Grundrecht auf Freiheit und die Menschenwürde derjenigen, die von einer Sicherungsverwahrung, die an und für sich als Ultima Ratio geplant war, betroffen sein könnten. Auch das ist uns ins Stammbuch geschrieben worden. Diesem Spannungsverhältnis müssen wir mit einem solchen Gesetz gerecht werden. Es stellt sich die Frage, ob dieser Entwurf dazu geeignet ist. Ich freue mich, dass der Entwurf jetzt auf dem Tisch liegt. Ich hätte mir gewünscht, das Ganze früher auf dem Tisch zu haben; denn dann hätten wir früher mit der Arbeit anfangen können. Aber es ist, wie es ist. Lassen Sie uns also beginnen. Die sogenannten Altfälle sind angesprochen worden. Dabei geht es nicht um diejenigen, die jetzt freigelassen wurden, sondern um diejenigen, die eine Straftat begangen haben. Im Gesetzentwurf ist, wie ich finde, relativ lapidar erklärt worden, dass in diesen Fällen die nachträgliche Sicherungsverwahrung weiterhin gelten soll. Ich finde, wir müssen noch einmal darüber nachdenken, ob das tatsächlich angebracht ist; denn es geht auch um Täter, die Straftaten begangen haben, die nicht in dem eng gefassten Katalog, den sie aufnehmen wollen, aufgeführt sind. Das kann auch auf andere Täter zutreffen. Daher sollten wir uns dieses Thema noch einmal im Detail vornehmen. Es geht aber auch um die Gesamtproblematik. In der Begründung des Gesetzentwurfs steht, wie kritisch die Bewertung der sogenannten Nova, also die Bewertung der neuen, unter Umständen erst während der Haft aufgetretenen Tatsachen zu sehen ist. Die Sicherungsverwahrung würden wir für diese Altfälle quasi noch einmal möglich machen. Ich glaube, wir dürfen nicht lapidar darüber hinweggehen, sondern müssen uns damit beschäftigen. ({1}) Ich will ein weiteres Thema ansprechen, zu dem ich im Gesetzentwurf nichts gefunden habe. Es geht um die Frage, wie wir mit der Sicherungsverwahrung für Jugendliche umgehen wollen. Ich finde, dazu sollten wir Stellung nehmen. ({2}) - Das ist die Frage, die sich stellt. - Ich halte das für keinen geschlossenen Entwurf. Wenn wir den Komplex der Sicherungsverwahrung überarbeiten wollen, können wir nicht darauf verzichten, uns mit der Problematik des Umgangs mit der Sicherungsverwahrung Jugendlicher zu beschäftigen. ({3}) Es muss eine klare Aussage dazu geben. Entweder lassen wir alles, wie es ist, oder im Zuge der Beratungen muss es eine entsprechende Veränderung, eine Ergänzung geben. ({4}) - Es ist wunderbar, dass ich hier höre, dass wir uns damit beschäftigen müssen und werden. Dann können wir das aufnehmen. Zum Anwendungsbereich der Sicherungsverwahrung ist einiges gesagt worden. Auch ich halte es für kritisch, dass die Sicherungsverwahrung generell anwendbar sein soll, wenn die Tat im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist. Wir hatten eigentlich eine andere Aussage. Es wurde nämlich angekündigt - das hat mir sehr gut gefallen; das habe ich unterstützt -, die Sicherungsverwahrung auf Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit, das Leben und die sexuelle Selbstbestimmung zu beschränken. Nun ist gesagt worden, dass auch andere Taten darunterfallen sollen. Aufgrund des schwerwiegenden Eingriffs, den eine Sicherungsverwahrung darstellt, halte ich das nicht für angemessen. Wenn wir uns schon mit dem Thema beschäftigen, dann sollten wir den Entwurf grundsätzlich überarbeiten. ({5}) Im Zusammenhang mit den Tätern - über die machen wir alle uns Gedanken -, die im Nachgang dieses Urteils entlassen wurden, haben Sie einen Vorschlag unterbreitet, den ich persönlich für sehr problematisch halte. Ich will nicht so weit gehen wie der Kollege Montag, der sagt, dass das nicht halten wird. Vor Gericht und auf hoher See kann man sich nie sicher sein, wie die Sache ausgeht. Ich glaube aber, wir begeben uns auf dünnes Eis, wenn wir jetzt den Begriff der psychischen Störung aufnehmen. In dem Gesetzentwurf wird er nicht definiert. Zumindest sehe ich keine eindeutige Definition. Momentan kommt ein Gewalttäter, der psychisch krank ist, gar nicht ins Gefängnis, sondern gleich in die Psychiatrie. Bei psychisch kranken und damit unzurechnungsfähigen Tätern greift § 63 StGB, der die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vorsieht, weil der Täter zum Zeitpunkt der Tat schuldunfähig war. Der § 20 StGB, in dem die Schuldunfähigkeit definiert ist, enthält die Merkmale „krankhafte seelische Störung“, „Schwachsinn“ und „schwere andere seelische Abartigkeit“. Angesichts der Möglich7450 keit, dass bei der Verurteilung eines Straftäters diese Merkmale noch nicht vorgelegen haben und sie sich erst während der Haft zeigen, sollten wir uns allerdings Gedanken über die Ausgestaltung des Strafvollzugs machen. Auch diese Frage müssen wir uns im Rahmen der Debatte stellen. Ich habe es schon ausgeführt: Bei vielen Punkten in diesem Entwurf, über die noch zu sprechen ist - Stichwort: psychische Störung, - befinden wir uns auf sehr dünnem Eis. Ich würde gerne dabei mithelfen, dies zu ändern. Dazu ist es aber erforderlich - das sage ich hier ganz ohne Aufgeregtheit -, dass Sie uns mit einbinden. Versuchen Sie nicht, dieses Gesetzesvorhaben in einem Hauruckverfahren durchzuziehen. Nehmen Sie unsere Kritikpunkte auf, die keineswegs an den Haaren herbeigezogen sind und die auch nicht der politischen Profilierung dienen. Versuchen Sie nicht, zwei Tage nach einer Anhörung das Gesetzgebungsverfahren abzuschließen. Dafür eignet sich dieses Gesetz nicht. ({6}) Wenn Sie diese Voraussetzung erfüllen, dann garantieren Olaf Scholz und ich im Namen der AG Recht, dass wir an diesem Entwurf kritisch-konstruktiv mitarbeiten. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ansgar Heveling von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gehört zu den essenziellen Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats, dass der Entzug der persönlichen Freiheit nur in sehr engen Grenzen und ausschließlich unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit vorgenommen werden darf. Den entscheidenden Anknüpfungspunkt in unserem Sanktionssystem des Strafrechts bildet dabei normalerweise die Schuld. Sie ist die Grundlage der Strafzumessung. Somit ist dem Grunde nach auch nur ein solcher auf Dauer angelegter Freiheitsentzug möglich, der in einem angemessenen Verhältnis zur Schuld steht. Damit aber stößt der freiheitliche Rechtsstaat in einigen Fällen an eine Grenze respektive gerät in Kollision mit einem anderen ihn tragenden Prinzip: Der Staat hat nämlich ebenso die Freiheit und die körperliche Unversehrtheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Dazu bedarf es nicht nur der notwendigen gesetzlichen Regelungen. Die Rechtsordnung muss vom Staat durchgesetzt werden und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in den Schutz der Rechtsordnung sichergestellt werden. Wenn es also um Straftäter geht, die ihre schuldangemessene Strafe verbüßt haben, bei denen aber erkennbar die Gefahr besteht, dass sie nach der Freilassung wieder schwere Straftaten begehen werden, muss der Staat zum Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger gleichwohl handeln. Eine Orientierung an der Schuld des Täters scheidet an dieser Stelle selbstverständlich aus. Unser Strafrechtssystem ist daher durch eine Zweispurigkeit gekennzeichnet. Neben den schuldbezogenen Sanktionen gibt es die Maßregeln der Besserung und Sicherung, zu denen eben auch die Sicherungsverwahrung gehört. Mit ihrer Hilfe soll der Schutz der Bevölkerung dadurch gewährleistet werden, dass Straftäter nach Verbüßung ihrer schuldangemessenen Strafe im Falle fortbestehender Gefährlichkeit durch freiheitsentziehende Maßnahmen an der Begehung neuer schwerer Straftaten gehindert werden. So klar und zwangsläufig dieser Handlungsauftrag auch ist, so schwierig ist es im Detail, ihm adäquat nachzukommen; denn natürlich sind die Anforderungen an die Freiheitsentziehung auf der Grundlage einer prognostischen Beurteilung der Gefährlichkeit ausgesprochen hoch. Selbstverständlich bedarf es eines engmaschigen rechtsstaatlichen Kontroll- und Überprüfungssystems, um Fehlentwicklungen vorzubeugen. Nur so lässt sich die Sicherungsverwahrung auch rechtssicher ausgestalten. Mit einem einfachen und saloppen „Deswegen kann es nur eine Lösung geben: Wegschließen - und zwar für immer!“, wie wir es seinerzeit von Kanzler Schröder gehört haben, ist es, was die Kontrollsysteme angeht, sicherlich nicht getan. Das ist zu plakativ gewesen. Im Einzelnen bedarf es da sehr differenzierter Regelungen. ({0}) Die Sicherungsverwahrung hat in den 90er-Jahren zugegebenermaßen deutlich an Bedeutung gewonnen. Seit dieser Zeit hat es eine ganze Reihe von Änderungen und Ergänzungen gegeben. Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ist 2002 eingeführt worden, die nachträgliche Sicherungsverwahrung 2004. Durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten von 1998, das 6. Gesetz zur Reform des Strafrechts sowie das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung sind an allen Vorschriften zur Sicherungsverwahrung Änderungen vorgenommen worden. All das hat zugegebenermaßen zu systematischen Unzulänglichkeiten, komplizierten Formulierungen und auch lückenhaften Regelungen geführt. Mit dem Koalitionsvertrag hatte sich die christlichliberale Koalition daher bereits darauf verständigt, eine Harmonisierung der gesetzlichen Anordnungsvoraussetzungen europarechtskonform vorzunehmen und Schutzlücken im geltenden Recht zu schließen. Zu diesem von der Koalition selbstgesteckten Handlungsziel ist zwischenzeitlich ein durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgelöster Handlungsdruck getreten. Er hat im Dezember des vergangenen Jahres und im Mai dieses Jahres in einem Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland entschieden, dass eine Sicherungsverwahrung weder nachträglich angeordnet noch verlängert werden darf, wenn die gesetzliche Grundlage hierzu erst nach der Tat geschaffen worden ist. Das trifft im Hinblick auf die oben beschriebenen Änderungen am Recht der Sicherungsverwahrung, die über die Jahre eingeführt worden sind, auf manche Täter allerdings zu. Auch daraus, dass mittlerweile einige Täter freigelassen werden mussten und nunmehr - Herr Kollege Dr. Krings hat es beispielhaft ausgeführt - rund um die Uhr polizeilich überwacht werden müssen und dass weitere Entlassungen drohen, hat sich ein unmittelbarer Handlungsdruck ergeben. Durch die vorliegenden Gesetzentwürfe der CDU/ CSU und FDP kommt die christlich-liberale Koalition den Handlungsaufträgen zeitnah nach. Neben einer Konsolidierung der primären Sicherungsverwahrung wird die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ausgebaut, und bestehende Schutzlücken werden geschlossen. Schließlich wird mit der Möglichkeit zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung ein neues Instrument im Zusammenhang mit der Führungsaufsicht etabliert. Durch den Gesetzentwurf der christlich-liberalen Koalition werden im Einzelnen die folgenden Schutzlücken beseitigt: Erstens. Die Rückfallverjährung bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung wird von fünf auf zehn Jahre verlängert. ({1}) Damit reagieren wir auf Erkenntnisse kriminologischer Untersuchungen, die nahelegen, dass insbesondere Sexualstraftäter nicht ganz selten erst nach fünf bis zehn Jahren in Freiheit rückfällig werden. Statt der bisherigen generellen Verjährungsregel von fünf Jahren wird daher die Rückfallverjährung speziell für Sexualstraftäter auf zehn Jahre verlängert. Zweitens. Bei der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung entfällt das Erfordernis der sicheren Feststellung eines Hanges des Täters zu erheblichen Straftaten. An der Feststellung dieser Voraussetzung ist der Vorbehalt der Sicherungsverwahrung in der Vergangenheit oftmals gescheitert. Diese Anforderung wird daher künftig aufgegeben. Drittens. Künftig kann die vorbehaltene Sicherungsverwahrung auch für Ersttäter angeordnet werden. Hierzu steht im bislang geltenden Recht ausschließlich die nachträgliche Sicherungsverwahrung zur Verfügung. Da für deren Anordnung jedoch die Feststellung neuer Tatsachen, sogenannter Nova, erforderlich ist, ist es in der Vergangenheit wiederholt dazu gekommen, dass weiterhin hochgefährliche Täter nach dem Verbüßen ihrer Strafe in die Freiheit entlassen werden mussten, weil die Gefährlichkeit bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung und noch am Vollzugsende gegeben war. Somit lagen keine neuen Tatsachen vor. Für die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung sind solche Nova nicht erforderlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Heveling, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich würde gerne in meiner Rede fortfahren. Wir können in den Ausschussberatungen konstruktiv über die anstehenden Fragen diskutieren. ({0}) Da für die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung Nova nicht erforderlich sind, wird den Gerichten ein einfacher zu handhabendes Instrument zur Verfügung gestellt, das helfen kann, den Wegfall der nachträglich verhängten Sicherungsverwahrung auszugleichen. Mit der Möglichkeit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung im Rahmen der Führungsaufsicht wird schließlich ein neues Instrument zur Überwachung solcher Gewalt- und Sexualstraftäter eingeführt, bei denen aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte eine freiheitsentziehende Maßnahme aus Rechtsgründen ausscheidet. Keine Frage: Eine solche elektronische Aufenthaltsüberwachung ist aus unserer Sicht kein gleichwertiger Ersatz für eine sichere Verwahrung, und wir dürfen keinesfalls den Eindruck erwecken, mit diesem Instrument eine Möglichkeit zur Gewährleistung hundertprozentiger Sicherheit anzubieten. Da die Rechtslage es bei einigen Personen indessen nicht zulässt, eine Unterbringung durchzuführen, ist es immerhin ein Hilfsmittel, um die dann notwendige Überwachungsarbeit der Polizei zu erleichtern. Unsere Rechtsordnung dient dem Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Es ist Aufgabe des Staates, Straftaten zu verfolgen und zu ahnden. Genauso ist es Aufgabe des freiheitlichen Rechtsstaates, die Freiheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu sichern. Der Staat muss aktiv das Leben und die Unversehrtheit der Bevölkerung schützen. Der vorliegende Gesetzentwurf dient dazu, dem Staat die nötigen Instrumente rechtssicher an die Hand zu geben, um diesem Schutzauftrag effektiv und angemessen nachkommen zu können, natürlich unter Beachtung der rechtsstaatlichen Anforderungen, die an freiheitsentziehende Maßnahmen zu stellen sind. Auch wenn wir - bedingt durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - unter zusätzlichen Handlungsdruck gesetzt wurden, ist der Boden für eine ordnungsgemäße und sachgerechte Beratung des Gesetzentwurfes gegeben. Eine Sachverständigenanhörung ist bereits terminiert. ({1}) Sicherlich wird über viele Fragen zu diskutieren sein. Wir sollten zügig, aber in Ruhe, mit der gebotenen Sorgfalt und vor allem konstruktiv beraten. Ich lade noch einmal diejenigen dazu ein, die bisher geäußert haben, dass sie dagegen sind bzw. nicht bereit sind, sich konstruktiv einzubringen. Für einige gibt es offenbar nur zwei Möglichkeiten: Entweder man bringt sich gar nicht ein, oder man bringt sich destruktiv ein. Wir würden uns wünschen, dass wir zu einer konstruktiven Beratung kommen und am Ende dafür sorgen, dass der Staat seinem Schutzauftrag gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern angemessen und effektiv nachkommen kann. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort dem Kollegen Stephan Mayer von der CDU/CSU-Fraktion.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der heute in erster Lesung zu beratende Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung ist aus meiner Sicht ein gelungener Kompromiss zwischen den Persönlichkeitsrechten von Strafgefangenen auf der einen Seite - Strafgefangene, auch Sexualstraftäter, verfügen über Grundrechte und das Anrecht auf eine zweite Chance - und den berechtigten Sicherheitsbedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und der Anforderung an uns, sie vor schwersten und schändlichsten Straftaten zu schützen, auf der anderen Seite. Bei dem einen oder anderen Gesetz mag man durchaus einkalkulieren, dass man auf Lücke geht. Bei diesem Gesetz dürfen wir beileibe nicht auf Lücke gehen. Hier geht es darum, dass wir schändlichste und verwerflichste Straftaten in Deutschland vermeiden müssen. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember letzten Jahres - es ist schon erwähnt worden - hat uns, gelinde gesagt, vor große Herausforderungen gestellt. Ich glaube, dass wir mit diesem Gesetzentwurf unter Beweis gestellt haben, dass wir diese Herausforderung ernst genommen haben. Wir nehmen unseren Auftrag ernst, alles dafür zu tun, dass keine Gefahr mehr von den Personen ausgeht, die in der Vergangenheit leider unter Beweis gestellt haben, dass sie nicht in der Lage sind, sich selbst davor zu bewahren, Mitmenschen, vor allem Kinder, Jugendliche und besonders Mädchen, zu überfallen, zu vergewaltigen und in einigen Fällen sogar zu ermorden. Ich möchte der Behauptung, die Sicherungsverwahrung in Deutschland sei exorbitant ausgeufert, entgegentreten. Im Jahr 2009 gab es etwas mehr als 61 000 Strafgefangene in Deutschland. Davon befanden sich 491 Personen in Sicherungsverwahrung. Also gerade einmal 0,8 Prozent derjenigen, die sich in Justizvollzugsanstalten in Deutschland befunden haben, waren Sicherungsverwahrte. Ich denke, man kann beileibe nicht sagen, dass die Sicherungsverwahrung in den letzten Jahren exorbitant ausgeufert ist. ({0}) Die Hälfte derjenigen, die sich in Sicherungsverwahrung befinden, sind Sexualstraftäter, etwas mehr als ein Drittel sind Gewaltstraftäter; das war auch in der Vergangenheit schon so. Diesem Personenkreis müssen wir uns zuvorderst zuwenden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Mayer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich. Immer sehr gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Montag.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke, Herr Präsident. - Ich danke auch Ihnen, Herr Mayer, dass Sie sich meine Frage anhören wollen und sie hoffentlich beantworten werden. Herr Kollege, Sie haben soeben darauf hingewiesen, dass der Prozentsatz derjenigen, die sich in Sicherungsverwahrung befinden, im Verhältnis zu denen, die sich in Strafhaft befinden, minimal ist. Das gestehe ich Ihnen zu. Aber würden Sie mir zustimmen, dass in den letzten zehn Jahren in Deutschland die Zahl der Sicherungsverwahrten um 140 Prozent zugenommen hat, und zwar von unter 200 auf 490 Personen? Inzwischen sind es über 500 Personen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Kriminalität in den einschlägigen Bereichen dieser ganz schlimmen Gewaltkriminalität nicht steigt, sondern sinkt, dass die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland nicht zunimmt, sondern abnimmt und dass die Aufklärungsquoten steigen. Wenn man diese Zahlen zur Kenntnis nimmt, müssen wir also eigentlich feststellen: Wir haben einen exorbitant hohen Zuwachs bei der Zahl der Sicherungsverwahrten.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Montag, ich nehme zur Kenntnis, dass die absolute Zahl derjenigen, die in Sicherungsverwahrung sind, mit Sicherheit in den letzten Jahren gestiegen ist. Das bestreite ich gar nicht. Aber relativ gesehen ist - deswegen war es mir wichtig, die absoluten Zahlen zu nennen - dieser Anteil im Verhältnis zu denjenigen, die insgesamt in Deutschland in Strafhaft sind, minimal. Lieber Herr Kollege Montag, wir können uns schön über Prozentzahlen und über den Anstieg von 200 auf 500 Personen unterhalten. Die Bevölkerung - davon bin ich fest überzeugt - interessiert dies herzlich wenig. Wir haben die Aufgabe, alles dafür zu tun, dass von denjenigen Sexualstraftätern, die gefährdet sind, wieder rückfällig zu werden, in Zukunft keine Gefahr mehr ausgeht. Eine Mutter oder einen Vater, die oder der betroffen ist - lieber Herr Kollege Montag, ich habe einen derartigen Fall bei mir im Wahlkreis -, interessiert es herzlich wenig, wenn Sie sagen, im Mittel sei die Kriminalität in Stephan Mayer ({0}) Deutschland zurückgegangen, auch bei den einschlägigen Delikten, und es könne doch nicht sein, dass es 200 oder 300 Sicherungsverwahrte mehr in Deutschland gebe. ({1}) Das ist lapidar. Diesen Vorwurf muss ich Ihnen machen. Lieber Herr Kollege Montag, gehen Sie bitte nicht so lapidar mit den berechtigten Sicherheitsbedürfnissen der Bevölkerung in Deutschland um. Ich möchte einen Fall aus meinem Wahlkreis hier erwähnen. Ein 16-jähriges Mädchen ist von einem einschlägig vorbestraften Täter angegriffen worden. ({2}) - Das gehört schon noch zu Ihrer Frage, lieber Herr Kollege Montag. Ich bitte darum, diesen konkreten Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen. - Ein 16-jähriges Mädchen ist mit 27 Messerstichen traktiert und mit Benzin übergossen worden. Der Täter hat versucht, das Mädchen zu vergewaltigen. Es ist wirklich glücklichen, meines Erachtens höheren Umständen zu verdanken, dass das Mädchen überlebt hat und mittlerweile wieder auf dem Weg der Besserung ist. Ich möchte Sie bitten, mit den Eltern des Mädchens ein Gespräch zu führen und den Eltern zu erzählen, die Sicherungsverwahrung habe in Deutschland exorbitant zugenommen, was bei einem parallel dazu verlaufenden Rückgang der Kriminalität in Deutschland doch nicht hinnehmbar sei. So einfach, lieber Herr Kollege Montag, dürfen wir es uns beileibe nicht machen. ({3}) Der heute in erster Lesung zu beratende Gesetzentwurf ist eine gute Grundlage. Mit Sicherheit - auch das sage ich ganz offen, Frau Kollegin Lambrecht - werden wir jeglicher konstruktiven Kritik offen gegenüberstehen. Das ist selbstverständlich. Das ist ein Hauptcharakteristikum der christlich-liberalen Koalition. Ich sage aber auch ganz offen: Wir werden nicht nur kritisch hinterfragen müssen, was an dem vorliegenden Gesetzentwurf vielleicht noch zu liberalisieren ist, sondern wir müssen den einen oder anderen Aspekt auch dahin gehend kritisch hinterfragen, ob wir nicht hinter den Erfordernissen zurückgeblieben sind. Auch das sage ich ganz ehrlich. ({4}) Ich denke zum Beispiel an den Bereich der Rückfallverjährung. Die Rückfallverjährung ist zwar jetzt im Gesetzentwurf von 5 Jahren auf 10 Jahre erhöht worden, aber Sie wissen aus der Praxis - das ist vom Kollegen Heveling schon erwähnt worden -, dass die zu kurze Rückfallverjährung von bislang 5 Jahren häufig ein Grund dafür war, dass die Sicherungsverwahrung nicht angeordnet werden konnte. Ich sage ganz offen: Man muss sich mit Sicherheit Gedanken machen, ob man die Rückfallverjährung nicht von 10 Jahren auf 15 oder vielleicht sogar auf 20 Jahre erhöht. Ein weiterer Punkt, der sehr positiv anzumerken ist, ist, dass jetzt der Zeitraum zwischen der Anlassverurteilung und der letzten Möglichkeit zur Anordnung der Sicherungsverwahrung deutlich verlängert werden soll. Damit entsteht für die Staatsanwaltschaften und für die Vollstreckungsgerichte wesentlich mehr Flexibilität. Das heißt, die Sicherungsverwahrung kann bis zur vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe angeordnet werden. Bislang war es so, dass dies nur bis sechs Monate vor Vollzug der Zweidrittelstrafe möglich war. Dies war ein Hemmnis für die Vollstreckungsgerichte. Insoweit ist das, glaube ich, eine sehr gute Neuerung. ({5}) Ein weiterer sehr wesentlicher Aspekt des vorliegenden Gesetzentwurfes - auch dieser hat mit dem Fall in Töging in meinem Wahlkreis zu tun - ist, dass die Sicherungsverwahrung in Zukunft auch angeordnet werden kann, wenn im Anschluss an den Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus noch eine Restfreiheitsstrafe zu vollstrecken ist. Der konkrete Fall, den ich erwähnt habe, war so gelagert, dass der Täter nicht in Sicherungsverwahrung genommen werden konnte, weil er genau unter den gerade beschriebenen Sachverhalt fiel. Da dieser bislang nämlich noch nicht geregelt war, konnte der BGH deshalb leider nicht anders handeln, als die Sicherungsverwahrung, die von der Staatsanwaltschaft beantragt war, abzulehnen. Diese Regelung des vorliegenden Gesetzentwurfes ist also, wie man sieht, eine für die Praxis sehr relevante Neuerung. Erfreulich ist ebenfalls, dass die vorbehaltene Sicherungsverwahrung auf den Kreis der Ersttäter erweitert wird. Außerdem wird auf die Regelung, dass ein Hang des Betroffenen zur Begehung weiterer Straftaten vorliegen muss, verzichtet. Der Umstand, dass ein Hang zur Begehung einer weiteren Straftat nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden konnte, war in der Vergangenheit häufig der Grund, warum keine Sicherungsverwahrung angeordnet werden konnte. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte nicht verhehlen, dass der Verzicht auf das Instrument der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Neufälle meines Erachtens bedauerlich ist, nehme aber zur Kenntnis - das sage ich ganz offen -, dass dieses Instrument in der Vergangenheit nur in sehr wenigen Fällen Anwendung gefunden hat; die Fallzahl in ganz Deutschland war einstellig. Vor diesem Hintergrund kann man auf das Instrument der nachträglichen Sicherungsverwahrung vielleicht verzichten. Ich persönlich hätte zwar gerne gesehen, dass es Bestandteil des Instrumentenkastens bleibt, damit im Fall der Not, wenn sich erst während des Strafvollzugs herausstellt, dass von einer Person größte Gefahr ausgeht, doch noch die nachträgliche Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann. Aber des Kompromisses wegen haben wir uns bereit erklärt, auf das Instrument der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Neufälle zu verzichten. Stephan Mayer ({6}) Ich bin sehr froh, dass es mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter gelungen ist, den Umgang mit den sogenannten Altfällen europarechtskonform und verfassungskonform zu regeln. ({7}) Um es ganz klar zu sagen: Ziel der Unterbringung muss immer sein, die Personen so zu therapieren, dass sie irgendwann entlassen und in das Rechtsleben eingegliedert werden können. Man muss deswegen stets den Ansatz verfolgen, die Unterbringung so kurz wie möglich zu halten. Ich bin auch froh - das ist ein ganz wesentlicher Punkt, gerade mit Blick auf die innere Sicherheit -, dass in die Regelungen des vorliegenden Gesetzentwurfes auch die Personen einbezogen werden können, die schon entlassen worden sind. Kollege Dr. Krings hat darauf hingewiesen: Einige sind schon wieder auf freiem Fuß. Dadurch werden teilweise Hunderte von Polizeibeamten gebunden. Es sind nämlich ungefähr 20 Polizeibeamte erforderlich, um einen Entlassenen rund um die Uhr zu bewachen; dadurch entstehen Kosten, die in die Hunderttausende gehen. Mit dem Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter wird auch dieser Personenkreis erfasst. Ich glaube, dies ist insbesondere im Hinblick auf die Sicherheitsbedürfnisse ein ganz wichtiger Aspekt. Ich möchte nicht verhehlen, dass es aus meiner Sicht durchaus überlegenswert ist, den Personenkreis, der unter dem Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter zu subsumieren ist, zu erweitern. Aktuell umfasst er Personen, die psychisch krank sind. ({8}) Ich möchte anregen, intensiv darüber nachzudenken, ob es nicht notwendig ist, auch Personen einzubeziehen, von denen konkret und mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Begehung einer potenziell schweren Straftat ausgeht. Dieses Recht müssen wir uns auf jeden Fall nehmen. Lieber Herr Kollege Scholz, ich hoffe, dass Sie nicht nur bereit sind, über eine Vereinfachung oder Liberalisierung dieses Gesetzentwurfes konstruktiv und kritisch mit uns zu diskutieren, sondern auch dann, wenn es darum geht, die eine oder andere vielleicht noch vorhandene Lücke zu schließen. Unter dem Strich kann man sagen: Der vorliegende Gesetzentwurf stellt einen ausgewogenen Kompromiss dar, der eine gute Diskussionsgrundlage für den weiteren Fortgang der Verhandlungen in diesem Hohen Hause sein wird. In diesem Sinne glaube ich, dass wir auf den Gesetzentwurf, der heute vorgelegt wurde, stolz sein können. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nun möchte uns der Kollege Montag noch mit einer abschließenden Kurzintervention erfreuen. Ich gebe ihm dazu das Wort.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke Ihnen, Herr Präsident. - Herr Kollege Mayer, Sie haben in der Beantwortung meiner Frage auch zu Dingen Stellung genommen, nach denen ich nicht gefragt habe; das ist aber in Ordnung. Ich will Ihnen sagen, dass ich den Ernst akzeptiere, mit dem Sie über den schrecklichen Fall in Ihrem Wahlkreis, den ich kenne, berichtet haben. Ich verzichte hier an dieser Stelle darauf, ebenfalls über in meinem Wahlkreis vorgekommene schreckliche Vorfälle zu berichten, ({0}) bitte Sie nur herzlich, Folgendes zur Kenntnis zu nehmen und in der weiteren Debatte zu beherzigen: Zwischen uns gibt es keine Differenz, wenn es darum geht, opferempathisch, den Opfern zugewandt, Rechtspolitik zu betreiben. Sie waren derjenige, der in seiner Rede die Zahlen angesprochen hat. ({1}) Sie waren derjenige, der in seiner Rede erklärt hat, die Zahl der Sicherungsverwahrten sei verschwindend gering. Deswegen habe ich mir erlaubt, Sie darauf hinzuweisen, dass 500 Sicherungsverwahrte gegenüber 60 000 Strafgefangenen natürlich wenige sind. 500 Sicherungsverwahrte sind gegenüber der Bevölkerungszahl von 80 Millionen sogar verschwindend wenige, aber wir müssen uns die Tendenz im Rechtsinstitut der Sicherungsverwahrung anschauen. Dabei stellen wir eine eklatante Ausweitung fest, ohne dass es entsprechende Begleitindikatoren dafür gibt, wie eine zunehmende Kriminalität oder irgendetwas anderes, durch die das begründet würde. Bei gleichbleibenden äußeren Bedingungen und leicht sinkender Schwerstkriminalität steigt die Zahl der Sicherungsverwahrten exorbitant an. Das muss uns als Rechtspolitiker berühren und befassen. Bei aller Berechtigung der Sicht auf die Opfer und auf den Schrecken der Verbrechen, die begangen werden: Wir können Rechtspolitik hier im Hohen Hause nicht ausschließlich aus diesem Blickwinkel heraus betreiben. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Mayer, zur Erwiderung, bitte.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Montag, wir kennen uns seit geraumer Zeit und Sie wissen, dass ich Ihnen in keiner Weise Ernsthaftigkeit und Seriosität abspreche, wenn es um eine Debatte über derart schwierige Themen und vor allem auch über derart gravierende und schwerwiegende Schicksale geht. Ich habe die Zahlen nur deshalb geStephan Mayer ({0}) nannt, um einmal zu verdeutlichen, dass wir nicht, wie häufig leider behauptet wird, Hunderte - manche behaupten sogar: Tausende ({1}) Sicherungsverwahrte hier in Deutschland haben. Wir müssen aber auch die Praxis mitberücksichtigen. Sie haben natürlich recht: Wir können uns bei unserer Gesetzgebung und unseren Diskussionen nicht nur von den praktischen Fällen und den Befindlichkeiten in der Bevölkerung leiten lassen. Ich bitte aber schon, auch zu sehen, dass all das, was wir hier diskutieren und am Ende auch verabschieden, zunächst einmal zwar abstrakt ist, in der Lebenswirklichkeit draußen dann aber sehr schnell konkret wird. Deswegen bitte ich darum - ich weiß, dass Sie hier auch die notwendige Sensibilität an den Tag legen -, dass wir auch diese praktischen Fälle - ich habe mir erlaubt, nur einen ganz unaufgeregt und, wie ich denke, sachlich darzustellen - in unsere Verhandlungen mit einbeziehen. Das war mein Ansinnen. Ich weiß - hierüber haben wir uns in der Haushaltsdebatte ja auch schon einmal ausgetauscht -, dass es richtig ist, die Anzahl der Deliktarten zu reduzieren, für die eine Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann. Ich habe dies auch kurz erwähnt. Mir geht es in erster Linie wirklich um die Sexualstraftäter und um die Gewalttäter. Ich möchte niemanden - das ist heute auch schon erwähnt worden - wegen Heiratsschwindels, Betrugs oder Diebstahls in Sicherungsverwahrung sehen. Hier haben Sie uns mit Sicherheit auf Ihrer Seite. ({2}) Insoweit haben wir wirklich eine gute Gesprächsgrundlage für die weiteren Debatten, und ich denke, in diesem konstruktiven Zusammensein werden wir dies weiter voranbringen. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3403 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? - Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Edgar Franke, Bärbel Bas, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Patientenschutz statt Lobbyismus - Keine Vorkasse in der gesetzlichen Krankenversicherung - Drucksache 17/3427 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von der SPDFraktion das Wort. ({0})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Thema Kostenerstattung. Das haben wir in der Öffentlichkeit ja „Vorkasse“ genannt. Ich werde gleich in meinem Vortrag begründen, weshalb das angemessen ist, auch wenn das dem Minister nicht gefällt, weil er es lieber etwas anders benannt hätte. Es handelt sich um einen weiteren Vorschlag, den Minister Rösler bzw. die Union und die FDP hier vortragen, wie man den gesetzlich Versicherten das Geld aus der Tasche ziehen kann. Das ist das Thema, über das wir heute sprechen. ({0}) Es geht darum: Der Patient hat demnächst vermeintlich die Wahlmöglichkeit, die Leistung beim Arzt im Prinzip privat in Auftrag zu geben. Er unterschreibt dafür einen Behandlungsvertrag und bekommt dann später einen Teil dieser Leistungen von der gesetzlichen Krankenkasse erstattet. Einen Teil muss er selbst bezahlen, er muss auch eine Verwaltungsgebühr bezahlen, und er muss solche Leistungen bezahlen, die er sonst niemals in Anspruch genommen hätte. Ich fasse einmal zusammen, wie das System funktioniert. Sie gehen zum Arzt, der Arzt macht mit Ihnen einen Vertrag. Dann wird die Leistung erbracht. Die Leistung wird von Ihnen teurer bezahlt, als wenn Sie in der gesetzlichen Kasse wären. Sie zahlen nämlich einen Verwaltungsaufschlag und müssen einen Teil der Kosten selbst tragen. Den anderen Teil der Kosten müssen Sie sich selbst bei der Kasse besorgen. Der Vorschlag beinhaltet sozusagen netto eine Mehrbelastung für den Versicherten, und es ist sehr bürokratisch. In der Anhörung haben wir gehört, dass zum Beispiel die AOK schätzt, dass man im Durchschnitt auf 50 Prozent der Kosten sitzen bleibt. Das bedeutet, dass Sie zum Beispiel bei einer Herzkatheteruntersuchung auf 600 oder 700 Euro sitzen bleiben. Wenn Sie die Einspritzung eines Medikaments in die Augen vornehmen lassen, um die Gefäße dort nicht wachsen zu lassen - viele Patienten kennen das, Lucentis usw. -, dann müssen Sie selbst 300 Euro bezahlen. Sie kriegen nur Teilbeträge erstattet. Darauf läuft es hier hinaus. ({1}) Jetzt ist die Frage, weshalb ein solches Vorgehen überhaupt vorgeschlagen wird. Wer verlangt nach einem solchen Vorschlag? Wer will einen solchen Vorschlag? Es ist ganz einfach: Minister Rösler und die FDP versu7456 chen damit auf Kosten des Bürgers, ihr ramponiertes Image bei den Ärzten wieder aufzupolieren. ({2}) Das ist es, worum es hier geht: Abkassieren, um sich bei den Ärzten - insbesondere bei den Fachärzten, die ja für Sie eingetreten sind, Frau Flach, und von denen man jetzt bei jeder Veranstaltung hört, dass sie niemals mehr die FDP so unterstützen würden - wieder anzudienen. Somit geben Sie hier - ich sage es mal so - etwas zurück. Aber was bedeutet das? Worauf wird das hinauslaufen? Na ja, wir sind am Vorabend der Einführung der Dreiklassenmedizin. Demnächst wird Patient erster Klasse der sein, der privat versichert ist. Dann kommt der Patient zweiter Klasse, der in der Lage ist, in Vorkasse zu treten. ({3}) Und dann kommt die Holzklasse. Das ist derjenige, der nicht in Vorkasse treten kann oder will. Das ist das, worauf es hinausläuft: Dreiklassenmedizin - privat, gesetzlich mit Vorkasse und Holzklasse. Sie werden dann einen Termin bekommen können, wenn Sie ankündigen, dass Sie privat versichert sind. Sie können einen Termin in Anspruch nehmen, wenn Sie ankündigen, dass Sie bereit sind, in Vorkasse zu treten. Ansonsten sind Sie Bittsteller beim Arzt. Ein solches System wird von uns, auch von der Bevölkerung, kategorisch abgelehnt. Sie machen hier Politik gegen die Bevölkerung für eine kleine Gruppe von skrupellosen Ärzten, ({4}) die nur bereit sind, Termine zu vergeben, wenn per Vorkasse bezahlt werden kann. Das ist es, worum es Ihnen geht, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({5}) Der Minister argumentiert dagegen und sagt - das habe ich auch schon vom Kollegen Spahn gehört -: Das ist eine freiwillige Angelegenheit, das muss man ja nicht machen, dazu ist man ja nicht gezwungen. ({6}) Aber verdummen Sie uns doch hier bitte nicht. Was bedeutet das denn? Wenn beispielsweise - das ist auch für Sie wichtig, Herr Lanfermann - die drei Augenärzte einer Kleinstadt vereinbaren, dass sie nur gegen Vorkasse behandeln, wenn Sie sich entsprechend verhalten, dann wird es in dieser Kleinstadt augenärztliche Leistungen nur gegen Vorkasse geben. ({7}) Das bedeutet, dass Sie dann wie gesetzlich Versicherte behandelt werden, aber privat bezahlen. Darauf läuft dieses System hinaus. ({8}) Was wollen Sie denn dagegen unternehmen, wenn ein Arzt einem Patienten vorschlägt, ihm bevorzugt einen Termin zu geben, wenn er bereit ist, Vorkasse zu leisten? Dagegen können Sie nichts unternehmen, wenn es sich beispielsweise um den einzigen Orthopäden in der Stadt handelt. ({9}) - In den Facharztforen ist doch schon zu lesen: Bei mir ab jetzt nur Termin gegen Vorkasse. - Verdummen Sie uns doch nicht. Stehen Sie zu dem, was Sie machen: Sie wollen den Ärzten ein Geschenk machen und beim Bürger abkassieren. Etwas anderes zu behaupten, wäre eine Verdummungspolitik, die eines solchen Plenums nicht würdig ist. ({10}) Ich komme zum Schluss. ({11}) In der Summe ist nichts gegen eine Kostenerstattung einzuwenden, bei der der Arzt die Rechnung direkt an die Kasse schickt, somit also die Kasse direkt die Leistung des Arztes bezahlt. Aber dass der Versicherte ausgenommen wird, zum Beispiel ein Patient mit niedriger Rente in Vorleistung treten und sein letztes Geld zur Verfügung stellen muss, um die medikamentöse oder schmerzlindernde Behandlung zu bekommen, ist in meinen Augen unchristlich. Das sage ich in Richtung der Union. Das ist eine unchristliche, widerliche Abzocke beim Patienten. Das werden Sie nicht ungestraft umsetzen können. Erinnern Sie sich an meine Worte! Es wird dazu führen, dass Vorkasse eine große Rolle spielen wird, weil ansonsten die Menschen keine Termine mehr bekommen werden. Dann werden wir Ross und Reiter nennen ({12}) und darauf hinweisen, dass das die Geschenke von FDP und Union an eine kleine Gruppe von Ärzten waren. Darum geht es hier. Sie sind aber nicht einmal Manns genug, zu dem Vorschlag zu stehen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Erwin Josef Rüddel von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Lauterbach, Sie wissen genau, dass die Welt eine andere ist. Sie und Ihre Fraktion versuchen, die gesetzlich Versicherten in Angst und Schrecken zu versetzen. ({0}) Das wird Ihnen aber nicht gelingen. ({1}) Auch der durchschaubare Versuch, jeden Halbsatz des Ministers dazu zu nutzen, unter den Versicherten Verunsicherung zu verbreiten, wird Ihnen nicht gelingen. ({2}) Ihr vorliegender Antrag ist ein weiterer Beweis dafür, dass Sie auf dem falschen Weg sind. Die Wahrheit ist: Wir haben das solidarische Gesundheitssystem mit einem Reformpaket vor dem Kollaps bewahrt. ({3}) Wir sorgen dafür, dass unser Gesundheitssystem funktionsfähig bleibt, und wir stellen sicher, dass das 2011 drohende Defizit in Höhe von 11 Milliarden Euro ausgeglichen wird. Die christlich-liberale Koalition hat getan, was nötig war. ({4}) Wir stabilisieren die Einnahmen, begrenzen die Ausgaben, stellen die Finanzierung auf eine solide Grundlage, schaffen die Voraussetzungen für mehr Wettbewerb und sorgen für einen gerechten Sozialausgleich. ({5}) Der Erfolg unserer Bemühungen zeigt sich daran, dass die gesetzlichen Krankenkassen im kommenden Jahr keine Zusatzbeiträge erheben müssen. Das ist eindeutig ein Verdienst unseres Reformpakets. ({6}) Damit sind auch all jene widerlegt, die in den vergangenen Wochen und Monaten die Gesundheitsreform der Koalition teilweise maßlos kritisiert und damit die Bürgerinnen und Bürger unnötig in Angst versetzt haben. ({7}) Von der SPD habe ich bisher keinen einzigen konstruktiven Vorschlag gehört, weder zur Deckung des im kommenden Jahr ansonsten drohenden Milliardendefizits noch zur langfristigen Stabilisierung der finanziellen Grundlagen unseres Gesundheitssystems. ({8}) Sie kritisieren nur und wollen den Menschen einreden, die Gesundheitspolitik könne eine Art Wünsch-dir-wasProgramm sein, bei dem den einen ständig neue Wohltaten versprochen werden und die anderen stets zahlen. Ein besonders krasses Beispiel für die Kapriolen, die Sie dabei schlagen, ist die Deckelung des Arbeitgeberbeitrages bei 7,3 Prozent.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Rüddel, darf ich Sie kurz unterbrechen? Frau Kollegin Vogler würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Kathrin Vogler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004181, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident! - Herr Kollege, vielen Dank, dass Sie eine Zwischenfrage zulassen. Mir wird nicht klar, worüber Sie eigentlich reden. ({0}) Wenn wir, voraussichtlich in der nächsten Sitzungswoche, über den Entwurf eines GKV-Finanzierungsgesetzes diskutieren werden, können Sie Ihre Lobrede auf das Gesetzespaket halten. Aber mir wird überhaupt nicht klar, wie Vorkasse - über genau diesen Punkt diskutieren wir heute - zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung beitragen soll; denn weder hat die gesetzliche Krankenversicherung dadurch einen einzigen Euro Mehreinnahmen oder um einen einzigen Euro geringere Ausgaben, noch haben die Versicherten irgendetwas davon. Die Leistungen, die die Ärzte erbringen, müssen nämlich im Prinzip die gleichen sein, nur dass die Versicherten dann mehr dafür zahlen müssen, und das auch noch aus der privaten Tasche. ({1}) Meine Fragen lauten: Wie soll eine Rentnerin mit einer Monatsrente in Höhe von 600 oder 800 Euro in Vorkasse treten? ({2}) Was soll die Lidl-Verkäuferin dazu bewegen, einen Vertrag mit ihrer gesetzlichen Krankenversicherung über Vorkasse abzuschließen, wenn sie doch meistens schon am 20. eines Monats kein Geld mehr hat?

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin, wir sichern derzeit die Basis dafür, dass unser Gesundheitssystem stabil bleibt. Wir müssen alte Denkmuster überwinden. Wir schaffen jetzt die Basis für strukturelle Veränderungen, um unser System in Zukunft noch transparenter und besser zu machen. Die Kostenerstattung ist nur eine Möglichkeit und keine Pflicht. ({0}) Ich werde Ihnen in meinen weiteren Ausführungen belegen, dass das dem einzelnen Patienten mehr Entscheidungsfreiheit gibt und ihn nicht drangsaliert. ({1}) Ich komme zur Deckelung des Arbeitgeberbeitrags bei 7,3 Prozent zurück: Diese Maßnahme wurde erstmals von der rot-grünen Regierung eingeführt und ist absolut sinnvoll. Sie leugnen aber mittlerweile die Urheberschaft. Meine Damen und Herren, mir ist besonders wichtig, dass unser Gesundheitssystem sozial bleibt und transparenter wird. Mit unserem Reformpaket gibt es keine Leistungseinschränkungen für Patienten. Alle Bürgerinnen und Bürger erhalten weiterhin die beste medizinische Behandlung und haben am medizinischen Fortschritt teil, und - auch das ist wichtig - alle Akteure im Gesundheitswesen müssen ihren Beitrag leisten. Wenn Sie uns entgegenhalten, dass von allen Seiten Kritik an unserem Reformpaket geübt wird, dann kann ich Ihnen nur antworten: Wenn Lobbyisten jeder Couleur, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften, Krankenhäuser, Apotheken, Krankenkassen und Pharmaindustrie, Ärzte- und Versichertenvertreter einträchtig ihre Unzufriedenheit kundtun, dann spricht das eigentlich nur für die Ausgewogenheit dieser Reform und für die gerechte Verteilung der Lasten. ({2}) Jeder weiß, dass die Menschen immer älter werden und dass der medizinische Fortschritt zusätzliche Kosten mit sich bringt. ({3}) Eine alternde Gesellschaft, die zugleich medizinischen Fortschritt und eine flächendeckende Versorgung will, muss wissen, dass die Gesundheitskosten auf Dauer nicht billiger werden können. ({4}) Deshalb müssen wir, wenn wir weiter in die Zukunft schauen, künftig noch mehr tun. Wir verbinden mit unserer Reform nicht den Anspruch, ein Jahrhundertwerk vorgelegt zu haben. Wir haben vielmehr das umgesetzt, was sachlich geboten, was finanziell unabweisbar notwendig und deshalb politisch richtig und vernünftig war. Um unser Gesundheitswesen langfristig auf eine solide finanzielle Grundlage zu stellen, werden wir noch in dieser Legislaturperiode weitere Schritte unternehmen und den Umbau von teilweise völlig verkrusteten Strukturen in Angriff nehmen. Es sind also neue Ideen gefragt. Alte Denkmuster müssen überwunden werden, um unser Gesundheitssystem zukunftsfest zu machen. ({5}) Und dann kommen Sie mit diesem Antrag! Schon die Wortwahl beweist, dass es Ihnen nicht um eine konstruktive, auch nicht um eine sachliche Debatte geht, sondern um Panikmache und Denkverbote. ({6}) Zuerst zu der Panikmache: Tatsache ist, dass auch künftig kein einziger Kassenpatient gezwungen sein wird, seine Behandlungskosten selbst zu zahlen und sich anschließend um deren Erstattung bei der jeweiligen Krankenkasse zu kümmern. ({7}) Wer das den gesetzlich krankenversicherten Menschen zu suggerieren versucht, verbreitet schlicht und einfach die Unwahrheit. ({8}) Dann zu den Denkverboten: Der Bundesgesundheitsminister hat von Überlegungen gesprochen, Kassenpatienten künftig eine Wahlmöglichkeit einzuräumen, die Behandlungskosten selbst zu begleichen und den Betrag von der Kasse erstattet zu bekommen. Er hat davon gesprochen, dass mehr Transparenz ins System kommen muss, dass die Versicherten schwarz auf weiß sehen sollen, welche Leistungen ihr Arzt abgerechnet hat. Er hat von Kostenbewusstsein gesprochen und davon, dass es versehentliche und absichtliche Falschberechnungen zu vermeiden gilt. Weiter hat der Minister von Wahltarifen gesprochen, die sowohl für die Patienten als auch für die Kassen attraktiv sein können, indem sie das System insgesamt flexibler machen und den Wettbewerb unter den Kassen zum Nutzen der Versicherten fördern. Und schließlich hat der Minister angeregt, in kleinen Schritten Elemente aus der privaten Versicherung im System der gesetzlichen Kassen auszuprobieren ({9}) und umgekehrt. Ich weiß wirklich nicht, was Sie gegen diese Überlegungen haben. Ich bin zum Beispiel dafür, möglichst bald mit der generellen Einführung von Arztquittungen zu beginnen. ({10}) Dabei geht es nicht um eine Rechnung mit Kostenerstattung, sondern um einen Beleg, der den Versicherten über seine Behandlungskosten informiert. Das wäre eine gute Sache. ({11}) Denn nur informierte Patienten sind mündige Patienten, und nur mündige Patienten können den Anbietern von Gesundheitsleistungen auf gleicher Augenhöhe begegnen. ({12}) Das deckt sich übrigens mit entsprechenden Forderungen der Verbraucherzentralen. Was haben Sie also gegen diese Vorschläge? Meine Damen und Herren, wir brauchen mehr Transparenz bei Leistungen und Preisen, ({13}) mehr Eigenverantwortung, mehr Wettbewerb, mehr innovative Angebote, mehr grenzüberschreitende Elemente zwischen gesetzlicher und privater Versicherung, mehr Synergieeffekte und nicht zuletzt auch mehr Effizienz in allen Bereichen und auf allen Ebenen des Gesundheitswesens, wenn wir die flächendeckende Versorgung langfristig sicherstellen wollen, ohne dass uns die Kosten aus dem Ruder laufen. ({14}) Mit Denkverboten, wie Sie sie uns verordnen wollen, kommen wir nicht weiter. Deshalb sage ich Ihnen, dass die Polemik gegen die Zusatzbeiträge in Ihrem uns vorliegenden Antrag nicht redlich ist. Sie haben doch mit uns in der Großen Koalition die Einführung von Zusatzbeiträgen beschlossen, und ausgerechnet jetzt, wo wir die Zusatzbeiträge sozial abfedern, wo durch die Steuerfinanzierung des Sozialausgleichs auch Einkünfte aus Unternehmensgewinnen, Kapitalerträgen und von Privatversicherten hinzugezogen werden, ({15}) da stellen Sie sich öffentlich hin und beschwören den drohenden Untergang unseres solidarischen Gesundheitssystems. ({16}) Wir stellen die Finanzierung auf eine breitere Basis. Das ist gerechter als das alte System. Durch die Steuerfinanzierung wird jeder nach seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit, auch mit seinen zusätzlichen Einkünften und auch bei Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze, seinen Beitrag leisten. ({17}) Wo sind die Alternativen? Ich sehe sie nicht, und ich sehe sie erst recht nicht in Ihrem Antrag. ({18}) Was soll geschehen, wenn wir demnächst deutlich mehr Rentner, zugleich aber deutlich weniger Beitragszahler haben? ({19}) Sollen die Arbeitskosten weiter in die Höhe getrieben werden und die Kassenbeiträge der Facharbeiter weiter ins Uferlose steigen? ({20}) Das sind doch die Fragen, um die es geht. Wir werden jedenfalls auch ohne Sie die Aufgabe in Angriff nehmen, unser Gesundheitssystem dauerhaft zu sichern. Wir wollen dafür sorgen, dass wir jedem die beste medizinische Behandlung garantieren können, die im individuellen Krankheitsfall benötigt wird, dass es keine Leistungseinschränkungen für die Versicherten gibt, dass insbesondere die gesundheitliche Vorsorge auch im ländlichen Raum gewährleistet ist und dass alle Bürgerinnen und Bürger weiterhin in vollem Umfang am medizinischen Fortschritt teilhaben können. Dabei lassen wir uns von den Grundsätzen der Solidarität und der Eigenverantwortung leiten. Ohne ein Mindestmaß an Eigenverantwortung geht es nicht; sonst ist Solidarität auf Dauer nicht finanzierbar. Wer das leugnet, ist nicht ehrlich zu den Versicherten. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Rüddel, die gesetzlich Versicherten in Angst und Schrecken zu versetzen, das schafft diese Koalition schon alleine. ({0}) Bei Ihren Ausführungen ist mir deutlich geworden: Diese Kostenerstattung muss wirklich ein ganz wunderbares Instrument sein. Was dadurch alles geschafft wird, das ist bemerkenswert. Nun zum Thema. Am Dienstag hatten die Innungskrankenkassen zu einer Veranstaltung rund um die Qualität in der Gesundheitsversorgung geladen. Die Einführungsrednerin war die Staatssekretärin im Gesundheitsministerium. Ihre zentrale Aussage - ich teile sie ausdrücklich war: Gesicherte, nachgewiesene Qualität soll die Regel sein und nicht extra vergütet werden. Wie sieht die Politik der Bundesregierung in der Realität aus? Sie will Ärztinnen und Ärzten ein höheres Einkommen sichern, gleichzeitig die bestehende Qualitätssicherung der Kassen und kassenärztlichen Vereinigungen durch Vorkasse und Kostenerstattung abschaffen oder stark einschränken. Die Bundesregierung will, dass stattdessen der einzelne Patient mit seiner Ärztin über Menge, Qualität und Preis verhandelt und nicht mehr die Krankenkassen. Ich sage Ihnen: Das können die Patienten nicht. Erstens. Patienten sind deshalb Patienten, weil sie krank sind. ({1}) Sie sind angewiesen auf den Arzt. Die Bundesregierung schafft aber Anreize für geschäftstüchtige Ärzte, diese Notsituation auszunutzen. Zweitens. Patienten sind dem Arzt in aller Regel fachlich unterlegen. Wenn die Ärztin sagt: „Das ist die Diagnose; dafür brauchen wir die Therapien A, B und C“, kann der Patient weder die Richtigkeit der Diagnose noch die Notwendigkeit der einzelnen Therapien abschätzen. Der Patient ist in erster Linie angewiesen auf den Rat der Ärztin. Er wird nicht sagen: Na ja, die Therapien B und C nehme ich; aber auf Therapie A verzichte ich einmal. Drittens. Der Patient kann kaum beurteilen, ob die Therapie in einer angemessenen, schlechten oder guten Qualität erbracht wird. Er kann ein gutes oder schlechtes Gefühl bei der Behandlung haben, mehr nicht. Mit Qualitätssicherung hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun. ({2}) Viertens. Der Patient kann nicht beurteilen, ob der Preis, den er für die Diagnose und die Therapie zahlt, angemessen, zu hoch oder ein Sonderangebot ist. Der Patient kann sich, wenn er krank ist, in aller Regel nicht umhören, welcher Arzt das beste Preis-Leistungs-Verhältnis bietet. ({3}) Selbst wenn dies möglich wäre: Die Linke will, dass die Patientinnen und Patienten weiterhin die freie Arztwahl haben, ohne vorher das günstigste Angebot einholen zu müssen. Die Linke will, dass Ärzte Ärzte bleiben und die Arztpraxis nicht zu einem Basar wird. ({4}) An diesem Punkt kommt der Einwand - wir haben es schon gehört -, es werde niemand gezwungen; Vorkasse und Kostenerstattung seien freiwillig. ({5}) Ich sage Ihnen voraus: Wenn die Ärzte erst einmal merken, wie viel mehr Geld sie damit verdienen bzw. erhalten können, werden sie den Patienten diese Kostenerstattung mehr oder weniger deutlich nahelegen. Dann wird es bei der Terminvergabe heißen: Geht es gegen Kostenerstattung oder gegen Kasse? - Kostenerstattung führt zum schnellen Termin, Kasse kann warten. ({6}) Bemerkenswert ist doch auch: Ein Arzt verhält sich in einem wettbewerblichen System, welches Sie von der Regierung ja wollen, völlig folgerichtig. Wer mehr zahlt, bekommt auch mehr und früher Leistung. Genau das wollen Sie; Sie wollen das System verwettbewerblichen. ({7}) Die Linke bleibt bei der Ansicht: Die Gesundheit eines jeden Menschen ist gleich viel wert, egal ob reich oder arm. Deswegen müssen sich Terminvergabe, Diagnose und Therapie nach medizinischen Kriterien richten und nicht nach dem Geldbeutel. ({8}) Der Einzige, der von den Kostenerstattungstarifen direkt etwas hat, ist der Arzt. Er rechnet ab nach der Gebührenordnung für Ärzte. Erstattet wird aber nur die Kassenleistung. Die Patienten bleiben also auf den Zusatzkosten sitzen; das ist bereits angesprochen worden. Die Ärzte freuen sich, wenn denn die von ihnen ausgestellten Rechnungen - das Risiko tragen allerdings die Ärzte - auch bezahlt werden. Für solche Fälle hat die Koalition gleich eine Lösung parat: private Zusatzversicherungen. Kollege Spahn hat auch eine solche Zusatzversicherung, und er gab zu - ich zitiere wörtlich -, sie sei „schweineteuer“. Ich weiß nicht, was Kollege Spahn bezahlt, aber der Preis einer solchen Versicherung richtet sich unter anderem nach dem Alter. Kollege Spahn dürfte mit seinen 30 Jahren doch noch relativ günstig davonkommen. Ich habe einmal nachgeschaut: Ein 30-jähriger Mann zahlt für eine Zusatzversicherung nur für den ambulanten Bereich 76 Euro im Monat. ({9}) Wäre Kollege Spahn eine Frau, könnte also schwanger werden, wären es schon 105 Euro. ({10}) Für eine 59-Jährige würde das Ganze schon 170 Euro kosten - 170 Euro im Monat! ({11}) Dafür, so werben die Versicherungen, würde man auch erster Klasse, wie ein Privatversicherter, behandelt. Aber ich frage Sie: Wer hat denn so viel Geld? Rechnen Sie doch einmal aus, was das für eine komplette Familie kostet. Welche Familie kann sich das leisten? Für über 60-Jährige hat der Anbieter, bei dem ich mich erkundigt habe, gar keine Tarife im Angebot. Wer profitiert also neben dem Arzt noch von der Kostenerstattung? - Genau, das Lieblingskind dieser Regierung, die private Krankenversicherung. ({12}) Nun kann man über Vorkasse und Kostenerstattung verschiedener Auffassung sein. Ich denke, meine Auffassung ist klar geworden. Nur verstehe ich eines nicht: Wenn man - wie die Bundesregierung - denkt, dass das Prinzip der Kostenerstattung dem gängigen Sachleistungsprinzip überlegen ist, dann sollte man es doch verpflichtend für alle einführen. ({13}) Wenn man aber wie die Linke und 99,8 Prozent der Versicherten aus guten Gründen der gegenteiligen Auffassung ist, sollte man die Finger davon lassen und diese Regelung ganz streichen. ({14}) Was macht aber die Koalition? Sie verkürzt die Bindungsfrist, senkt den Anteil, den die Kassen für die zusätzliche Bürokratie berechnen dürfen, und streicht die schriftliche Bestätigung für die Aufklärung durch den Arzt. Die Regierung sagt, die Kostenerstattung sei nach wie vor freiwillig. Sie senkt aber die Hürden für die Vorkasse und erhöht damit den Druck auf die Versicherten. Klar ist: Die Regierung will das Sachleistungsprinzip schwächen, will aber für die Folgen offensichtlich nicht verantwortlich gemacht werden. Immer dann, wenn man gegen die Kostenerstattung argumentiert, heißt es: Wir zwingen doch keinen dazu. - Das ist fast so, wie ein bisschen schwanger zu sein - auf freiwilliger Basis, versteht sich. ({15}) Jetzt kommt in aller Regel das Totschlagargument - wir haben es gerade auch wieder gehört -: Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Versicherten. Jeder und jede soll frei entscheiden können, ob ihm oder ihr die Gesundheit ein paar Dutzend Euro mehr im Monat wert ist oder nicht. Ja, so ist das in Ihrer Welt. Jeder hat schließlich in diesem Land das Recht, völlig frei entscheiden zu können, ob er sich eine Uhr aus Gold kaufen will oder ob die aus Platin vielleicht noch schöner ist. ({16}) Bei einer Uhr mag es ja vielleicht noch angehen, dass sich viele dann doch für Stahl, Plastik oder gar keine Uhr entscheiden müssen. ({17}) Aber im Gesundheitssystem haben solche Überlegungen und solche sozialen Unterschiede nichts, aber auch gar nichts zu suchen. ({18}) Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Kostenerstattung hat keinen einzigen Vorteil für die Versicherten und das Gesundheitssystem als Ganzes. Es wird erstens teurer und ineffizienter, zweitens findet keine effektive Qualitätssicherung statt, und drittens bekommen wir mit Vorkasse und Kostenerstattung eine Dreiklassenmedizin - es ist bereits darauf hingewiesen worden -, in der nur diejenigen angemessen behandelt werden, die genug Geld auf dem Konto haben. Dem heute zu debattierenden Antrag der SPD ist deshalb zuzustimmen. Meine Fraktion wird ihn selbstverständlich unterstützen. Ich freue mich auch deswegen außerordentlich über diese richtige Initiative der SPD, weil die SPD selbst gemeinsam mit Grünen und Union die Vorkasse und Kostenerstattung für Pflichtversicherte 2004 gegen den Widerstand der damaligen PDS-Abgeordneten eingeführt hatte. ({19}) Die Kostenerstattung ist aus unserer Sicht ein weiterer Schritt, um die noch überwiegend solidarische Krankenversicherung in Richtung Privatversicherung und Kommerzialisierung zu verschieben. Eine weitere Verwettbewerblichung des Gesundheitssystems, eine weitere Privatisierung ist schon immer auf unseren entschiedenen Widerstand gestoßen. Gesundheitsversorgung muss ein Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge bleiben. Dafür wird die Linke immer streiten. Vielen Dank. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Heinz Lanfermann für die FDP-Fraktion. ({0})

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der SPD-Antrag, über den wir heute sprechen, ist erstaunlich dünn und schmalbrüstig. Herr Kollege Lauterbach, Sie haben die entsprechende Einführungsrede dazu gehalten. Ich kann Ihnen nur sagen: Es handelt sich in gewissem Sinne um einen Phantomantrag, da das von Ihnen gewählte und hier nicht sehr erfolgreich verteidigte Wort „Vorkasse“ ein Phantomwort ist. ({0}) Wenn Sie sich tatsächlich mit dem Thema auseinandergesetzt hätten, hätten Sie sich die Gesetzentwürfe angesehen, die wir zurzeit im Ausschuss beraten und über die in zwei Wochen hier debattiert wird. Außerdem hätten Sie erwähnen müssen, dass es sich um eine rein freiwillige Angelegenheit handelt. An Herrn Weinberg gerichtet: Wir gehen nicht hin und verbieten ein Angebot, weil irgendwo irgendjemand von Ihnen verdächtigt wird, damit Missbrauch zu treiben. Wir eröffnen den Menschen vielmehr die Chance, etwas freiwillig zu machen. Dies geschieht natürlich nach Beratung und in Kenntnis aller Umstände. ({1}) Herr Lauterbach, Sie haben vergessen, zu erwähnen, dass auch Sie an der Einführung dieses Instruments beteiligt waren. Sie haben auch vergessen, dass in den Anträgen, über die wir sprechen werden, verbesserte Bedingungen für die Versicherten vorgesehen sind. Zum Beispiel soll der Verwaltungsanteil, den die Patienten bezahlen müssen, nicht mehr zwangsweise 10 Prozent betragen, sondern nur noch bis zu 5 Prozent. Das ist erstens weniger und eröffnet zweitens den Kassen die Möglichkeit, damit Wettbewerb zu betreiben. Den Wettbewerb aber haben Sie quasi abgeschafft, und wir werden ihn für die Kassen stückweise wieder einführen. ({2}) Es ist in diesen Tagen eine seltsame Zweiteilung der Gesundheitspolitik zu beobachten. Nach einem Jahr fahren wir, die Koalition, nun die Erfolge der von uns geleisteten Arbeit ein; ({3}) Herr Kollege Rüddel hat sie alle aufgezählt: Das Defizit von 11 Milliarden Euro wurde bewältigt. Das Gesundheitssystem wurde gesichert. Es wurde dafür gesorgt, dass die gute Versorgung auch in Zukunft bezahlbar ist. Wir haben im Bereich der Arzneimittel einen Strukturwechsel vollzogen. ({4}) Wir haben etwas geschafft, was Sie jahrzehntelang nicht geschafft und vielleicht sogar - so mein Eindruck - gar nicht gewollt haben: Die Pharmaindustrie konnte bisher bestimmte Preise völlig frei festsetzen. Sie haben das geduldet. Und Sie haben in der Vergangenheit im Übrigen auch gedealt. Wir haben das jetzt geändert, indem wir das neue System auf den Weg gebracht haben, nach dem die Hersteller die Preise mit den Krankenkassen aushandeln müssen. Diese Verhandlungen werden am Ende - spätestens mithilfe einer Schiedsstelle - zu fairen Preisen führen. ({5}) Wir führen die Beitragsautonomie der Krankenkassen wieder ein, und wir machen die Beiträge zukunftsfähig. ({6}) Wir wollen uns darum kümmern, dass es durch die Abkoppelung von den Lohnkosten zu konjunkturunabhängigen Mehreinnahmen kommt. Damit sichern wir Arbeitsplätze. Wir machen auch den Weg frei für mehr Eigenverantwortung, für Wahlfreiheit - eben auch für GKV-Versicherte - und für neue Tarife. Entsprechende Entwürfe werden wir in Zukunft noch vorlegen. Sie aber legen einen Antrag vor, der wirklich erstaunlich ist. In 19 Zeilen, die mit „Feststellungen“ überschrieben sind, findet sich keinerlei Tatsachendarstellung. Es findet sich aber ein Wortgeklingel, in dem sich zum Beispiel folgende Worte finden: „wird“, „werden“, „plant“ - alles auf die Regierung bezogen -, „Ihr Ziel ist“, „vor allem … lockt die Chance“, „am Ende stehen“, „am Ende sind“, „die geplanten Änderungen“ und „sie führen“. Es handelt sich dabei um reine Spekulationen und um lauter Unterstellungen. Sie konstruieren dadurch auch ein völlig falsches Bild von den Ärzten. Wenn ich Sie so höre, dann wundere ich mich, dass in Deutschland noch jemand den Mut hat, zu einem Arzt zu gehen. ({7}) Herr Lauterbach, Sie haben hier nur Dinge erwähnt, die fern der Realität sind. Sie haben den Menschen Angst gemacht. ({8}) Sie haben nicht erwähnt, dass es sich um ein freiwilliges Angebot handelt, das wir den Menschen bieten wollen. Sie leiden sozusagen an einem Vorkassephantomschmerz; ({9}) das gilt im Übrigen auch für Herrn Weinberg und Frau Vogler. Sie bilden sich etwas ein und behaupten etwas, das völlig aus der Luft gegriffen ist. Anschließend sagen Sie, dass das die Pläne der Koalition seien. Das ist eine böswillige Unterstellung, Herr Lauterbach. Ich kann nur sagen: Damit werden Sie nicht allzu weit kommen. ({10}) Sie kommen deswegen nicht allzu weit, weil Sie sich nicht konstruktiv mit den Themen beschäftigen, die für einen Strukturwandel im Gesundheitswesen wirklich wichtig sind. Wir wollen doch nicht vergessen, dass das Gesundheitssystem das Bürokratischste und DirigisHeinz Lanfermann tischste ist, was wir uns in Deutschland leisten. Daran gilt es, zu arbeiten. ({11}) Wir müssen die Dinge einfacher gestalten. Das gilt auch für die Honorare. Das gilt auch für die Frage, wie wir zum Beispiel die Versorgung im ländlichen Raum sicherstellen. Dies alles sind Themen, an denen man arbeiten muss. Was haben Sie uns in dem einen Jahr geboten? ({12}) Es gab mehrfach Versprechungen zu einer Sache, von der niemand weiß, was Sie damit eigentlich meinen. Dazu gibt es das schöne Wort von der Bürgerversicherung, die im Grunde nie fertig wird. Ich glaube, es wäre besser gewesen, Sie hätten in der Kommission mitgearbeitet, die der SPD-Bundesvorstand hierzu eingerichtet hat, anstatt hier einen solch dünnen Antrag vorzulegen, der von der Sache her überhaupt nichts bringt. ({13}) Trotzdem werden wir ihn gerne im Ausschuss beraten, um Ihnen einmal Zeile für Zeile zu zeigen, wo die Realität liegt. Zur Bürgerversicherung, Herr Lauterbach, kann ich nur sagen: Werden Sie endlich wach! Stellen Sie sich der Realität! Laufen Sie nicht einem Traum hinterher, der von der Öffentlichkeit schon jetzt zu Recht als Schildbürgerversicherung verspottet wird. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Kollegin Maria Klein-Schmeink von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Maria Klein-Schmeink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004072, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kollegen hier im Plenum! Besonders mit Blick auf die Argumente meiner Vorredner muss ich Herrn Weinberg für seinen Beitrag großen Respekt zollen; denn ich finde, er hat die Problemlage rund um die Vorkasse und die Kostenerstattung sehr differenziert dargelegt. ({0}) Das will ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen. Großer Respekt! ({1}) Er hat zwei wichtige Punkte herausgehoben, nämlich zum einen, dass es sich bei der Abkehr vom Sachleistungsprinzip um eine Qualitätsfrage handelt. Es stellt sich folgende Frage: Wie stellen wir sicher, dass sich alle Patienten, alle Versicherten darauf verlassen können, dass sie wirklich eine qualitätsgesicherte, gute Versorgung bekommen, dass sie sich vertrauensvoll an den Arzt wenden und sicher sein können, dass sie die gemessen am hippokratischen Eid richtige Heilungs- und Therapieempfehlung bekommen und dabei finanzielle Gründe keine Rolle spielen? Ich finde, das ist ein ganz wichtiges Prinzip, das wir in unserer gesetzlichen Krankenversicherung zum Schutz der Patienten eingerichtet haben, worauf wir zu Recht stolz sind. 70 Prozent der Bevölkerung sagen zu Recht: Ich will auf jeden Fall das Sachleistungsprinzip, weil es sicherstellt, dass ich auch und gerade in einer Phase existenzieller Not, in einer sehr empfindlichen und verletzlichen Phase in meinem Leben vertrauensvoll begleitet werde. ({2}) Aber das wollen Sie mit der Ausweitung der Kostenerstattung infrage stellen. Die FDP - Herr Lanfermann, dazu haben Sie heute keinen einzigen Ton gesagt - will die vollständige Abkehr vom Sachleistungsprinzip. ({3}) Das ist Ihre Programmlage beim Umbau des gesetzlichen Gesundheitssystems. ({4}) Das haben Sie aber in keinster Weise angeführt. ({5}) - Ja, von der Freiwilligkeit. Aber Sie sagen doch von der FDP, dass Sie die gesetzliche Krankenversicherung insgesamt in Richtung Vorkasse, in Richtung Kostenerstattungsprinzip umbauen wollen. Das ist Ihre Programmlage. ({6}) Herr Rösler hat keine Gelegenheit ausgelassen, zu betonen, dass das, was er jetzt vorlegen wird, nur ein erster Baustein auf diesem Weg ist. Da müssen wir uns nichts vormachen. ({7}) Insofern geht es keinesfalls um eine Phantomdebatte, sondern es geht darum, dass Sie den vollständigen Umbau der gesetzlichen Krankenversicherung hin zu einer PKV vorbereiten. ({8}) Zum Zweiten. Sie haben in dieser ganzen Debatte kein einziges Argument liefern können, warum es für den Patienten eigentlich gut ist, das Modell der Kostenerstattung zu wählen. Kein einziges Argument habe ich von Ihrer Seite gehört. ({9}) Auch wenn die Grünen damals dem Gesundheitskonsens beipflichten mussten, weil sie nicht anders konnten, ({10}) und damit unter anderem die Kostenerstattungsregelung in der Krankenversicherung als Möglichkeit eingeführt wurde, heißt das noch lange nicht, dass sie ein richtiges Instrument ist. ({11}) Wir wissen auch - das hat der Bericht ganz deutlich gezeigt -: 0,2 Prozent aller Versicherten wählen diesen Tarif, wohl wissend, dass es keine wirklich günstige Option für sie ist. ({12}) Herr Spahn, das Problem ist, dass Sie jetzt die Kostenerstattung ausweiten wollen; das wissen Sie. Nicht umsonst ist die Ausweitung der Kostenerstattung in Ihren Reihen hoch umstritten; denn Sie wissen, dass Sie mit der Ausweitung dieses Prinzips eine Dreiklassenversorgung schaffen, bei der nicht mehr sichergestellt ist, dass jeder Versicherte den gleichen Anspruch auf rechtzeitige und bestmögliche Behandlung durchsetzen kann. Vielmehr führen Sie verschiedene Klassen ein. Zugleich schaffen Sie ein Anreizsystem für die Versicherungen, entsprechende Zusatztarife zu schaffen. Das spiegelt sich auch in den Anträgen wider, die Sie uns letztens auf den Tisch gelegt haben. Ich muss sagen: Sie wollten diese Regelung klammheimlich einführen, indem Sie nämlich nicht gerade deutlich ausgeführt haben, dass die Regelung für den Patienten bedeutet, dass er mehr zahlt. ({13}) Der Patient zahlt für die Behandlung im Schnitt ein Drittel mehr als normalerweise die GKV, und auf diesen Kosten bleibt er sitzen. Das muss er wissen. ({14}) Das wollen wir auf keinen Fall. Im Gegenteil: Bei unserer Bürgerversicherung ist das Sachleistungsprinzip eines der zentralen Prinzipien. Dabei muss es bleiben. ({15}) Jetzt komme ich zu einem anderen Aspekt: Patientenschutz. Wir haben einen Patientenbeauftragten; eigentlich müsste er heute hier sitzen. Er müsste sich eigentlich um die Frage kümmern, wie die vertragliche Gestaltung beim ausgeweiteten Instrument der Kostenerstattung aussehen wird. ({16}) Ihnen fällt zunächst nichts anderes ein, als die Pflicht zur schriftlichen Beratung und Information über die Bedingungen des Vertrags, der eingegangen wird, abzuschaffen. Sie haben tatsächlich die Stirn, diese Pflicht abzuschaffen, mit dem Argument, sie bringe zusätzliche Bürokratie und mache das Instrument der Kostenerstattung unattraktiv. Das ist doch nicht zu glauben. Das ist ein echter Kniefall vor der Ärzteschaft, die sich darüber beschwert hat, dass sie bei einer Umsetzung zusätzliche bürokratische Aufgaben erfüllen müsste. Es gibt in keinem anderen Bereich der Wirtschaft Vertragsbeziehungen, bei denen man einen Vertrag unterschreiben muss, obwohl man die Kautelen nicht genau kennt. Ich halte das, was Sie uns da letztens auf den Tisch gelegt haben, wirklich für eine Zumutung. Ich halte das unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes für eine Frechheit. ({17}) Ich möchte einen weiteren Punkt betonen: Sie greifen in massiver Weise in das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient ein. ({18}) Das ist für mich die zweite große Sünde, die Sie da begehen. Sie machen den Patienten zum Kunden und verführen den Arzt dazu, auf eine Abrechnung über höher vergütete private Tarife hinzuwirken. Der Arzt könnte versuchen, den Patienten im Gespräch davon zu überzeugen, eine therapeutische Zusatzleistung in Anspruch zu nehmen, wohl wissend, dass dann eine private Abrechnung möglich ist. ({19}) Das hat langfristig massive Auswirkungen. Zusätzlich wird Ihre Regelung dazu führen, dass die Arztpraxen zu Inkassounternehmen werden. ({20}) - Sie haben die Praxisgebühr nicht abgeschafft. Das ist eine weitere Baustelle, die Sie angehen könnten. - Sie werden die Arztpraxen damit konfrontieren, dass Rechnungen nicht bezahlt werden, dass den Patienten nicht klar war, welche Verbindlichkeiten sie eigentlich eingegangen sind. Da geht es in der Regel um hohe Rechnungen, die Menschen mit kleinem Einkommen sehr schnell überfordern. Das wird tatsächlich dazu führen, dass die Zahl der Inkassovorgänge ansteigt. ({21}) Man kann das insgesamt nicht gerade als Bürokratieabbau bezeichnen; es ist genau das Gegenteil: Es kommt zu einer höheren bürokratischen Belastung der Praxen und der Versicherungen, die die Rechnungen abgleichen müssen. Insgesamt stellen Sie das solidarische System, das wir bisher haben, massiv infrage. Sie haben nicht einen einzigen guten Grund dafür genannt. Ich kann nur mit Herrn Straubinger sagen: Die Kostenerstattung bringt auf der einen Seite keine zusätzliche Transparenz und keine Kosteneinsparung; aber sie bringt die Patienten in eine Situation, die sie überfordern wird. ({22})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der SPD greift einen Punkt aus einem riesengroßen Gesetzespaket heraus. ({0}) Deshalb sage ich Ihnen: Er ist mager. Darauf gehe ich gleich noch einmal ein. Vieles ist zwar schon gesagt worden, aber offensichtlich ist bei Ihnen Wiederholung die Mutter des Erfolgs. Also nehme ich den Antrag noch einmal auseinander. ({1}) Bevor ich das aber tue, stelle ich im Anschluss an die Reden der Oppositionskollegen die Frage: Welches Bild zeichnen Sie von der Ärzteschaft in diesem Land? Wollen Sie junge Ärzte dazu bewegen, sich auf dem Land niederzulassen, indem Sie den ganzen Berufsstand als korrupt und unmoralisch darstellen? Das ist unverantwortlich. ({2}) Der Antrag der SPD ist in vielerlei Hinsicht irreführend. ({3}) Sie wollen den Leuten einreden, dass allen Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung der Umstand droht, in Zukunft Geld auf den Arzttisch legen zu müssen, bevor sie behandelt werden. Das ist absolut falsch. Das ist nicht richtig. Alle, die sich an dem Antrag beteiligt haben und hier dazu geredet haben, wissen, dass das falsch ist. Der Antrag ist in einem Stil formuliert, der der Sache überhaupt nicht angemessen ist. Sie erwecken den Eindruck, dass die Einführung der Kostenerstattung etwas Unanständiges ist. ({4}) Ich zitiere die erste Forderung aus Ihrem Antrag: 1. keine Ausweitung der Kostenerstattung in der gesetzlichen Krankenversicherung vorzunehmen. Diese Forderung ist widersprüchlich; denn die Kostenerstattung gab es bereits unter einer SPD-Gesundheitsministerin. Das haben Sie alle mitgetragen. ({5}) Zur Erinnerung: Vor Inkrafttreten des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes zum 1. April 2007 konnten gesetzlich Versicherte die Kostenerstattung wählen, und zwar entweder für alle Leistungen oder beschränkt auf die ambulante ärztliche Versorgung. Ganze 122 000 gesetzlich Versicherte, 0,17 Prozent der gesetzlich Versicherten, haben sie gewählt. Daran sehen Sie, über welches Segment wir hier reden. ({6}) Seit dem 1. April 2007 haben die Versicherten zwischen verschiedenen Leistungsbereichen die Wahlmöglichkeit. Diese haben Sie mit eingeführt. Unter Frau Schmidt wurde die Kostenerstattung um die persönliche Entscheidungsmöglichkeit erweitert. Diese bleibt weiterhin bestehen. Man kann sie auf die ambulante ärztliche bzw. zahnärztliche Versorgung beschränken oder zusätzlich für veranlasste Leistungen bzw. Krankenhausbehandlungen wählen. Deshalb frage ich: Wieso ist die Ausweitung der individuellen Entscheidungsmöglichkeit der Versicherten 2007 richtig gewesen, ({7}) während heute die Anpassung an die aktuelle Situation unter gleichen Prämissen - die Wahlfreiheit der Versicherten bleibt erhalten - nicht richtig sein soll? ({8}) Ihr Antrag ist in sich absolut widersprüchlich. ({9}) 2007 wurde im Zusammenhang mit § 13 SGB V dem GKV-Spitzenverband der Auftrag erteilt, nach zwei Jahren über die Erfahrungen zu berichten. Das ist, wie Sie wissen, geschehen. Deshalb wissen wir heute, dass seitdem nur 10 000 Menschen mehr diese Kostenerstattung gewählt haben. Was ist schlimm daran? In 1, 2, 5 oder 10 Jahren - je nachdem, welchen Zeitraum Sie wählen werden wir sehen, wie viele Menschen diese Möglichkeit in Anspruch genommen haben. Wir lassen den Menschen diese Möglichkeit. Wovor haben Sie von der SPD eigentlich Angst? ({10}) Niemand muss die Kostenerstattung wählen. Wir stellen Kosteneinsparüberlegungen an, um Spielraum für eine weiterhin gute medizinische Versorgung aller Menschen zu haben, und zwar unabhängig von Alter, Einkommen, Vorerkrankungen oder Wohnlage. Der medizinische Fortschritt soll auch in Zukunft jedem zugutekommen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Volkmer?

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Marlies Volkmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Michalk, kommen in Ihre Bürgersprechstunde Menschen, die Ihnen davon berichten, dass sie bei einem Facharzt zeitnah keinen Termin bekommen, nur weil sie Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung sind? ({0}) Berichten Ihnen Menschen, dass sie kurzfristig einen Termin bekommen, wenn sie sich am Telefon als Privatversicherte vorstellen? Wenn die Kostenerstattung möglich ist, werden viele Ärzte diese Möglichkeit ausnutzen, indem sie den Patienten sagen: Ja, ich nehme Sie ohne lange Wartezeit an die Reihe, aber nur dann, wenn Sie die Kostenerstattung wählen und Vorkasse leisten. - Glauben Sie nicht auch, dass es sich so verhalten wird?

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Volkmer, darauf möchte ich Ihnen Folgendes antworten: Erstens. Ja, in meine Sprechstunde kommen Menschen, die mir von solchen Vorkommnissen berichten. Zweitens. Ich bin ein wenig entsetzt, welches Verhalten Sie den Ärzten zutrauen. Drittens. Es gibt auch Privatversicherte, die sich in meiner Sprechstunde darüber beklagen, dass sie bei einem Facharzt - beispielsweise einem HNO-Arzt - ein Vierteljahr auf einen Termin warten müssen. Viertens. Gesetzlich Versicherten, die mit solchen Problemen in meine Sprechstunde kommen, helfen wir natürlich. Denn so darf kein Arzt handeln. In akuten Fällen muss die Behandlung jederzeit sichergestellt sein. ({0}) Ich will noch einmal auf den uns vorliegenden Bericht zurückkommen. Er zeigt klar, dass die Menschen mit dem Instrument der Kostenerstattung im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten sehr verantwortungsvoll, ja vorsichtig umgehen. Andererseits lehrt uns der Bericht, dass es durchaus persönliche Situationen geben kann, in denen das Kostenerstattungsprinzip die optimale Möglichkeit ist. Dann sind die Versicherten bereit, diese Option zu wählen. Warum wollen Sie die Menschen von dieser Wahlmöglichkeit ausschließen? So verstehe ich Ihren Antrag. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will keine Bevormundung und auch keine Einschränkung. Wir wollen Entscheidungsmöglichkeiten für die Versicherten. ({1}) Man entscheidet sich ja nicht erst dann, wenn man akut erkrankt ist. Mit der Wahlmöglichkeit beschäftigen sich Versicherte schon dann, wenn sie sich mit diesem Thema - sei es im Rahmen von Gesprächen mit der Krankenversicherung - auseinandersetzen. Vielleicht beschäftigen sich aufgrund der heutigen Debatte - das ist der einzig positive Punkt dabei - mehr Menschen mit diesem Thema als vorher. Wir wollen, wie gesagt, dass sich die Versicherten mit dieser Möglichkeit auseinandersetzen. Wir wollen verhindern, dass sie erst dann aktiv werden, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Ich will diesen Punkt zusammenfassen: Es bleibt beim Prinzip der Freiwilligkeit. Die Versicherten können selbst wählen und können das Für und Wider gründlich abwägen. Das heißt, sie können sich für oder gegen die Kostenerstattung entscheiden. An dieser Gesetzeslage soll sich nichts ändern. ({2}) Ich will noch einen weiteren Punkt erwähnen. Bislang waren Versicherte an ihre Entscheidung, die Kostenerstattung zu wählen, ein Jahr gebunden. Die Mindestbindungsfrist wird auf ein Kalendervierteljahr verkürzt. Behaupten Sie jetzt nicht, das sei im Interesse der Versicherten keine Qualitätsverbesserung. Dass es für die Kassen bei ihrer Kalkulation gewisse Schwierigkeiten gibt, ist in der Anhörung zwar deutlich zum Ausdruck gekommen. Das hat aber nichts mit Lobbyismus zu tun, den Sie uns in Ihrem Antrag vorwerfen. Ganz im Gegenteil: Wir treffen Regelungen zugunsten der Versicherten. ({3}) Die Mindestbindungsfrist für Wahltarife wird grundsätzlich von drei Jahren auf ein Jahr reduziert. Auch mit dieser Regelung werden wir uns in der nächsten Sitzungswoche noch auseinandersetzen und darüber reden, wie wir sie optimieren können. Die Verkürzung der Mindestbindungsfrist auf ein Jahr ist aus meiner Sicht ebenfalls ein Qualitätsmerkmal. Zusätzlich wird die Kontrolle des Verbots der Quersubventionierung durch die Aufsichtsbehörden der Länder mit der Verpflichtung der Krankenkassen zu einem regelmäßigen Wirtschaftsprüfertestat der Risikobeurteilung wesentlich vereinfacht. Meinen Sie nicht auch, dass das ein zusätzliches Kontrollinstrument ist? Ich denke schon, dass der Ansatz dieser Kostenerstattungsmöglichkeit, die ja frei gewählt werden kann, ein gutes Qualitätskriterium im Sinne der Versicherten ist. Deshalb finden wir Ihren Antrag absolut unnötig und polemisch. Wir werden ihn im Ausschuss natürlich ablehnen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Diskussion hat für mich vor allen Dingen eines deutlich gemacht: Die Koalition ist in der Gesundheitspolitik ohne Kurs und Kompass, ({0}) und wenn der politische Kompass einmal ausschlägt, Herr Spahn, wie bei den Änderungsanträgen zum AMNOG und zum GKV-FinG sowie bei der Erweiterung der Kostenerstattung, dann in die vollkommen falsche Richtung, nämlich in Richtung einer Politik, in der eben nicht die Interessen der Normalverdiener und der Mitglieder der GKV, sondern die Interessen Ihrer Klientel im Fokus stehen, ({1}) und zwar nicht nur der üblichen Verdächtigen - Apotheker oder Pharmaindustrie -, sondern gerade bei der Vorkasse auch bestimmter Ärztegruppen und vor allen Dingen der privaten Krankenversicherung. Der geschätzte Kollege Rüddel hat gesagt, die SPD würde Angst und Schrecken verbreiten. Aber ich glaube, dass es eher Ihre Politik ist, die Angst und Schrecken verbreitet. ({2}) Was war ursprünglich geplant? Geplant hatte die Koalition eine tiefgreifende Strukturreform; das habe ich noch im Ohr. Was ist herausgekommen? Eine simple Erhöhung von Beiträgen und der Wegfall der Deckelung der Zusatzbeiträge. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik gewesen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie angekündigt haben. Mehr Netto vom Brutto sieht anders aus. Herr Lanfermann, Sie haben von den großen Erfolgen dieser Gesundheitspolitik nach einem Jahr gesprochen. Angesichts der Umfrageergebnisse gerade in Bezug auf die FDP frage ich mich allerdings: Wenn das Erfolge sind, wie sehen dann Ihre Niederlagen aus, Herr Lanfermann? ({3}) Jetzt wird die Sau Kostenerstattung durch das gesundheitspolitische Dorf getrieben. Was bewirkt denn eine Kostenerstattung, die wir Vorkasse nennen? Sie bewirkt doch nur, dass der Arzt direkt ins Portemonnaie der Patienten greifen kann. Das ist doch das, was die Vorkasse ausmacht. ({4}) Man hört ja manchmal die Argumente, Vorkasse führe erstens zu weniger Arztbesuchen und zu höherem Kostenbewusstsein. Der Kollege Straubinger ist leider nicht mehr da. Ich darf ihn aber - mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident - zitieren. Herr Straubinger von der CSU hat gesagt: Für das Gesundheitssystem bringt das keine Ersparnis, und die Patienten zahlen im Extremfall immer nur drauf. Ich kann sagen: Herr Straubinger hat recht. ({5}) Wie läuft das in der Praxis? Nach der GOÄ kann der Arzt bis zum 3,5-Fachen liquidieren. ({6}) Das sind - das ist ja einfach auszurechnen - bei 300 Euro bis zu 1 050 Euro. Und wer bleibt auf dem Differenzbetrag zwischen der Rechnung und dem Erstattungsbetrag hängen? Der Versicherte. Wie kann er das Risiko mildern? Indem er eine Zusatzversicherung abschließt. Deshalb kann man sagen: Teurer wird es auf jeden Fall. Die Einzigen, die davon profitieren, sind der Arzt und die PKV. ({7}) Zweitens habe ich heute gehört, durch die Vorkasse würde die Transparenz erweitert. Der Kollege Rüddel hat erwähnt, dass man vielleicht Patientenquittungen verpflichtend einführen könne. Derzeit ist es zumindest so, dass eine solche Quittung vom Patienten beantragt werden kann. ({8}) Insofern ist die Transparenz bereits gegeben. Ein weiteres Problem bei der Vorkasse ist: Die Krankenkassen haben keinen Einfluss mehr auf Qualität und Kostenentwicklung. Das ist der Unterschied zwischen dem Sachleistungsprinzip und der Vorkasse. Drittens. Herr Lanfermann, Sie haben gesagt, wir würden eine Phantomdiskussion führen, weil die Vorkasse freiwillig sei. ({9}) Natürlich ist die Vorkasse bzw. die erweiterte Kostenerstattung freiwillig. ({10}) Das Beispiel wurde heute genannt; Frau Volkmer hat da ja nachgefragt. Wenn ein Arzt sagt, dass man nur einen Termin bekommt, wenn man Privatpatient ist oder in Vorkasse geht, also die Kostenerstattung wählt, wird indirekt Druck auf den Patienten ausgeübt. ({11}) Wenn die erweiterte Kostenerstattung im Gesetz geregelt wird, werden ganz viele Menschen dieses Modell wählen und eine Zusatzversicherung abschließen. Insofern bekommen wir dann die von vielen beschriebene Dreiklassenmedizin. ({12}) - Herr Lanfermann, schauen Sie einmal in Internetforen. Dort diskutieren Fachärzte darüber, wie man Patienten Vorkassenmodelle schmackhaft machen kann. Sie müssen nur nachschauen. Deswegen ist das keine Phantomdebatte. ({13}) Wenn künftig nicht nur Privatpatienten, sondern auch gesetzlich Versicherte, die sich die Kostenerstattung leisten können, bevorzugt behandelt werden, ist das keine solidarische Gesundheitsversorgung. Deswegen fordern wir als SPD Sie von der Koalition auf: Halten Sie am Sachleistungsprinzip fest. Es darf keine Ausweitung der Kostenerstattung in der gesetzlichen Krankenversicherung geben. Wir müssen eine Gesundheitspolitik für alle Menschen in der Krankenversicherung in unserem Land machen. In der Gesundheitspolitik muss es um den Patienten gehen und nicht darum, dass bestimmte Ärztegruppen und die PKV mehr Geld verdienen. Ich danke Ihnen. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Erwin Lotter für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Erwin Lotter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003895, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! „Patientenschutz statt Lobbyismus - Keine Vorkasse in der gesetzlichen Krankenversicherung“ - wen wollen Sie mit dieser billigen Polemik an der Nase herumführen? Ihr Vorstoß zeugt von Unkenntnis ebenso wie von der Tatsache, dass Sie die Intelligenz der Versicherten in geradezu peinlicher Weise unterschätzen. ({0}) Ich möchte Ihnen das erläutern: Vorkasse ist, wenn ich etwas bezahle und die Gegenleistung später vielleicht bekomme. Die einzige Institution, die momentan Vorkasse betreibt, ist die gesetzliche Krankenkasse. Die Kassen sammeln die Beiträge von den Versicherten und den Arbeitgebern ein, und keiner, der einzahlt, weiß, ob er im Falle einer Erkrankung die Leistung, die er braucht, bekommt. Um es ganz deutlich zu machen: Die Kostenerstattung ist keine Vorkasse. Die ärztliche Leistung wird erbracht. Sie wird in Rechnung gestellt, und es gibt ein Zahlungsziel. Die meisten Patienten zahlen dann, wenn die Krankenversicherung die Leistung erstattet hat. ({1}) Unser Ziel ist, dass die Patienten frei entscheiden können, ob sie das bisherige Prinzip der Sachleistung beibehalten oder die Kostenerstattung wählen wollen. Entscheidend ist die Transparenz; diese gibt es jetzt nicht, Frau Klein-Schmeink. Sehen wir uns die weiteren Vorteile an. Patienten können differenzieren. Ihre Regelleistungen werden von ihrer Kasse erstattet, Zusatzleistungen müssen sie selber ausgleichen. Beim System der Kostenerstattung wissen sie, wie viel sie für welche Therapie aufbringen müssen. ({2}) Ferner können auch gesetzlich Versicherte solche Ärzte aufsuchen, die nur nach dem privatärztlichen Vergütungssystem liquidieren. Für Patienten, die nur knapp über der Versicherungsgrenze liegen und eine Familie haben, könnte die gesetzliche Krankenversicherung attraktiver werden. ({3}) Die Mitversicherung der Familie ist ein enormer Vorteil der GKV. Der Patient kann jederzeit prüfen, welche Leistungen in Rechnung gestellt wurden, und die RechDr. Erwin Lotter nung mit der tatsächlichen Behandlung vergleichen. Im Bereich der ärztlichen Kosten herrscht dann Transparenz. Patienten werden in die Verantwortung für die Inanspruchnahme von Leistungen eingebunden. ({4}) Dadurch wird der Patient ernst genommen und nicht mehr für dumm verkauft. ({5}) Vollkommen widersprüchlich ist, dass die SPD darlegt, die gesetzlichen Krankenkassen würden Qualitätsstandards festlegen, die für die Kostenerstattung nicht gelten. Versicherte mit Kostenerstattung haben den gleichen Status wie Privatpatienten. Sind Sie denn der Meinung, für Privatpatienten gäbe es keine Qualitätsstandards? ({6}) Denken Sie, die PKV-Patienten würden schlechter behandelt? Meinen Sie das mit Dreiklassenmedizin? Das ist doch abwegig. ({7}) Die Patientenquittung ist kein Ersatz für eine formelle Rechnung. ({8}) Durch die Kombination von einem Pauschalsystem und einem komplexen Punktesystem, die je nach Finanzlage zu unterschiedlichen Quartalserträgen führt, spiegelt diese Quittung im Zeitpunkt ihrer Ausstellung nicht den tatsächlichen Umsatz wider. ({9}) Bezeichnend ist auch die Behauptung in Ihrem Antrag, die Patienten könnten ihre Therapien überhaupt nicht beurteilen. Also sind Patienten nach Ihrer Ansicht unmündig und der Weisheit der Ärzte ohnmächtig ausgeliefert. ({10}) Das, meine Damen und Herren, ist doch obrigkeitsstaatliches Denken. Geradezu ergreifend ist es, wie sich die SPD in ihrem Antrag um die wirtschaftliche Situation der PKV und der Ärzte sorgt. Die PKV wolle weg vom System der Kostenerstattung, heißt es. ({11}) Die Belastungen der PKV ergeben sich doch aus ganz anderen Aspekten: aus zu hohen Zugangshürden und dem Basistarif, den eine Regierung unter SPD-Beteiligung eingeführt hat. ({12}) Es rührt mich nahezu auch zu Tränen, wenn Sie sich um das Inkassorisiko der Ärzte sorgen. Wenn das ein Problem wäre, würde ja wohl jeder Mediziner Privatpatienten am liebsten gleich wieder wegschicken. Die wahren Umsatzausfälle entstehen doch dadurch, dass das GKV-System durch politische Entscheidungen alle paar Jahre durcheinandergewirbelt wird mit einer steten Abfolge von Zumutungen und Deckelungen. ({13}) Es geht Ärzten auch nicht darum, Patienten irgendetwas aufzuschwatzen. ({14}) Es geht ihnen darum, sie gut zu informieren. Patienten merken sehr wohl, wenn sie abgezockt werden sollen. Vertrauen entsteht, wenn man sich gegenseitig auf Informationen verlassen kann. ({15}) Die Ärzte, meine Damen und Herren, wollen keine Vorkasse, sie wollen schlicht und einfach eine Vergütung ihrer Rechnungen. ({16}) Wenn Ihnen, liebe Abgeordnete der SPD, dieser einfache Anspruch nicht passt, dann können wir die freien Arztpraxen gleich schließen und die Versicherten anonymen, staatsgeführten Versorgungsstrukturen anvertrauen. ({17}) Das ist dann das Ende der freien Ärzteschaft, und als Liberale werden wir das gerade auch im Interesse der Patientinnen und Patienten nicht zulassen. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Dietrich Monstadt für die CDU/ CSU-Fraktion.

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über einen Antrag der SPD, mit dem sie sich pauschal gegen jede Kostenerstattungsregelung in der gesetzlichen Krankenversicherung wendet. ({0}) Anders ist der Antrag nicht zu verstehen. Dies ist insofern überraschend, meine Damen und Herren, als die SPD in der Vergangenheit in diesem Haus wiederholt für gesetzliche Kostenerstattungsregelungen gestimmt hat, ({1}) und zwar sowohl bei der Gesundheitsreform 2003 mit dem GKV-Modernisierungsgesetz als auch bei der Gesundheitsreform 2007 mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz. ({2}) Aber, meine Damen und Herren, wir haben in diesem Haus zumindest im Bereich der Gesundheitspolitik schon häufiger feststellen müssen, dass sich die SPD an ihr eigenes Tun nicht mehr erinnert. ({3}) Im Einzelnen: Im Jahr 2003 wurde die Kostenerstattungsoption in § 13 Abs. 2 SGB V von dem überschaubaren Kreis der freiwillig Versicherten uneingeschränkt auf alle Versicherten ausgedehnt. Das kann man quantitativ als drastische Ausweitung ansehen. Mit der Gesundheitsreform 2007 haben die Krankenkassen die Möglichkeit erhalten, ihren Versicherten Wahltarife anzubieten, darunter Kostenerstattungstarife. ({4}) Sowohl 2003 als auch 2007, Herr Lanfermann, hieß die Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, und sowohl 2003 als auch 2007 hat die SPD für diese Ausweitungen von Kostenerstattungsregelungen gestimmt. ({5}) Wenn die SPD heute jede Kostenerstattung verteufelt, obwohl ihre Verantwortung für den früheren Ausbau solcher Regelungen unübersehbar ist, dann folgt sie stringent dem bekannten - ich will es einmal so nennen Vergesslichkeitsphänomen. Die paritätische Finanzierung wurde 2004 unter Rot-Grün verlassen, als der Sonderbeitrag von 0,9 Prozent eingeführt wurde, den die Versicherten allein tragen. ({6}) Auch die Möglichkeit von Zusatzbeiträgen ist unter einer SPD-Gesundheitsministerin ({7}) mit großer Zustimmung der SPD-Fraktion eingeführt worden. Jetzt also hat die SPD - welche Überraschung! ihre frühere Haltung zur Kostenerstattung vergessen. ({8}) Meine Damen und Herren von der Opposition, welches Bild haben Sie von der Ärzteschaft? ({9}) So wie man Sie verstehen muss, erwartet den Kostenerstattungspatienten in der Praxis des Arztes seines Vertrauens ein wahres Haifischbecken. Der Patient wird finanziell abkassiert - nach Herrn Dr. Lauterbach wird ihm das Geld aus der Tasche gezogen -, er wird unnötigen Behandlungen unterworfen und möglicherweise nicht einmal lege artis behandelt, das aber immerhin sofort und ohne Wartezeit. Meine Damen und Herren von der SPD, in Ihrem Antrag beschreiben Sie eine Halbwelt in Weiß. Meine Erfahrungen mit Ärzten sind andere. ({10}) Ich habe Vertrauen zu meinen Ärzten und lasse mir dieses durch die SPD-Positionen nicht nehmen. - So viel zum Antrag der SPD. Lassen Sie uns nun zu den Fakten zurückkehren. Zum Thema Kostenerstattung liegen zwei Änderungsanträge zum GKV-Finanzierungsgesetz vor. Erstens. Wir wollen eine Verbesserung zugunsten der optierenden Versicherten, indem die Verwaltungskostenabschläge auf 5 Prozent begrenzt werden, indem die Abschläge wegen fehlender Wirtschaftlichkeitsprüfungen wegfallen und indem wir die Mindestbindefrist auf ein Vierteljahr verkürzen. Damit wird die Position des Versicherten gestärkt. ({11}) Zweitens. Wir wollen den Krankenkassen ermöglichen, mehr ergänzende Versicherungen zu vermitteln. Auf der Tagesordnung der jüngsten Sitzung des Gesundheitsausschusses stand der Bericht des GKV-Spitzenverbandes zur Kostenerstattung. Diesem konnten wir entnehmen, dass nur wenige Menschen von der Kostenerstattungsoption Gebrauch machen. Anders als die SPD befürchtet, bleiben 99,81 Prozent der Versicherten bei Sachleistungen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Klein-Schmeink?

Dietrich Monstadt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004113, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0}) Damit ist dieser Bereich durchaus überschaubar. So viel, Herr Dr. Lauterbrach, zu der von Ihnen erwähnten Dreiklassenmedizin. Der Antrag der SPD bietet keinen Zusatznutzen für eine ernsthafte gesundheitspolitische Auseinandersetzung. ({1}) Meine Damen und Herren, wir sind angetreten, um unser Gesundheitssystem angesichts demografischer Entwicklung, medizinisch-technischen Fortschritts und wachsender Kosten zukunftsfest zu machen und für alle Versicherten den Zugang zu hochwertigen Leistungen zu erhalten. Im Gesundheitsausschuss beraten wir zu diesem Zweck derzeit unsere Gesetzentwürfe zum ArzneiDietrich Monstadt mittelmarkt und zu den GKV-Finanzen. Wir sind auf einem guten Weg. Gerade in jüngster Zeit hatte ich im Gesundheitsausschuss manchmal den Eindruck, dass die SPD gelegentlich so etwas wie Anerkennung für unsere Anstrengungen erkennen lässt. Herr Kollege Dr. Lauterbach, auf diesem Weg sollten Sie voranschreiten. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Hilde Mattheis für die SPD-Fraktion. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir legen heute einen Antrag vor, in dem wir einen wichtigen Punkt, der in den kommenden Beratungen sonst wahrscheinlich untergehen würde, hervorheben. ({0}) Dieser Aspekt ist ein Beispiel dafür, wie Sie das Gesundheitssystem umgestalten wollen. Alle Maßnahmen, die Sie ergreifen, dienen dem Ziel, die Solidarität aufzuheben und die Individualisierung des Krankheitsrisikos herbeizuführen. ({1}) So wollen Sie die Interessen einzelner Lobbygruppen bedienen. Darum geht es Ihnen. ({2}) Die Kostenerstattung wird von nur wenigen Menschen, nämlich von nur etwa 0,2 Prozent der Patienten, angenommen; das ist richtig. Wir sollten aber auch einmal über die Frage nachdenken, warum nur so selten Patientenquittungen angefordert werden. ({3}) Patientenquittungen würden Transparenz schaffen. Aber nur 8 Prozent der Menschen, die zum Arzt gehen, fordern eine Patientenquittung an. Nur 20 Prozent der Menschen wissen überhaupt, dass dies ihr gutes Recht ist. Wenn es Ihnen tatsächlich um mehr Transparenz ginge, müssten Sie an genau diesem Punkt ansetzen und eine Pflicht zur Ausstellung einer Patientenquittung einführen. ({4}) Aber darum geht es Ihnen nicht. Ihnen geht es um die Hinzuverdienstmöglichkeiten der Ärzte. Meine Fraktion und ich sagen: Wir möchten nicht, dass in Zukunft vor immer mehr Arztpraxen Schilder angebracht sind, auf denen steht: Facharzt, gesetzlich Versicherte nur gegen Vorkasse. - Das ist mit uns nicht zu machen. ({5}) Wenn Sie sagen, es gehe Ihnen um Konsumentensouveränität, dann muss ich erwidern: Gerade im Gesundheitsbereich kann es keinen Vertrag auf Augenhöhe geben. Denken Sie sich einfach einmal in das Wartezimmer eines Arztes hinein. Da sitzt der schon ältere Herr, der Angst hat, dass seine körperlichen Schwächen offenbart werden. Da sitzt eine Frau mittleren Alters mit Vorinformationen von ihren Freundinnen und aus Zeitschriften zu bestimmten Symptomen, die Angst hat, dass sich eine mit diesen Symptomen verbundene Krankheit bestätigt. ({6}) Da sitzt die junge Mutter, die mit ihrem Kind auf eine Behandlung wartet und befürchtet, der Arzt könne ihr womöglich vorhalten, etwas falsch gemacht zu haben. Glauben Sie denn, dass diese Menschen in das Sprechzimmer hineingehen und ein Gespräch auf Augenhöhe führen können? Auf gar keinen Fall! ({7}) Es geht uns darum, die Patientenrechte zu stärken - richtig -, es geht uns darum, das Sachleistungsprinzip zu stärken - richtig -, und es geht uns darum, dass die Patientinnen und Patienten und die Ärztinnen und Ärzte für das Eigentliche Zeit haben, was im Gesundheitswesen so wichtig und richtig ist, nämlich für das Gespräch miteinander und für die Therapie. ({8}) - Sie sagen: „Mir kommen die Tränen.“ Ich muss Ihnen sagen: Uns kommen die Tränen, wenn wir sehen, wie Sie mit diesem hohen Gut in unserer Gesellschaft umgehen. ({9}) Das ist nämlich ein hohes Gut, das die Leute behalten und bewahren wollen, und das gefährden Sie. ({10}) Deswegen betrachten wir in diesem Antrag einen all der Bausteine, mit denen genau diese Daseinsvorsorge in unserem Land ausgehöhlt werden kann, und deswegen ist es uns so wichtig, dass wir uns heute hier mit diesem Antrag auseinandersetzen. ({11}) Sie meinen allen Ernstes, dass es Ihnen auch um Einsparungen in unserem System geht und dass diese Einsparungen womöglich an die Patientinnen und Patienten weitergegeben werden. Das ist an Zynismus nicht zu überbieten. Sie müssen doch berücksichtigen, dass es Menschen geben wird, die sich für ein Vierteljahr zur Vorkasse verpflichtet haben und dann feststellen müssen, dass sie zum Beispiel für die Behandlung des Grünen Stars über 300 Euro aus eigener Tasche zahlen müssen, weil die gesetzliche Krankenversicherung nur 72 Euro dafür erstattet. Diese Menschen werden sich womöglich keinen weiteren Arztbesuch in diesem Vierteljahr mehr erlauben können. Darum wird es nämlich gehen. ({12}) Sie werden dann nicht mehr zum Arzt gehen, weil sie sagen: Ich habe schon 300 Euro bezahlen müssen; ich kann mir nichts Weiteres leisten. Ich glaube, Sie sollten auch einmal mit der PKV reden. Ich weiß nicht, ob Sie das in dem Fall - ich sage nur: in dem Fall - intensiv getan haben. ({13}) Sie überlegt nämlich schon längst, wie sie vom Prinzip der Kostenerstattung abweichen kann, weil die Kosten für die PKV steil ansteigen. Das ist der Punkt. ({14}) Ich rate Ihnen auch, einfach einmal mit verschiedenen Verbänden von Fachärzten zu diskutieren und nachzufragen, ob sie alle das so sehen oder ob es ihnen nicht eher darum geht, sichere Einnahmen zu erzielen. Oder geht es Ihnen nur darum, die Funktionäre der Ärzte zu bedienen? Wir als SPD sagen: Mit uns ist das nicht zu machen. ({15}) Wir wollen eine Stärkung des Sachleistungsprinzips und Transparenz im System. Deshalb muss es darum gehen, für mehr Aufklärung zu sorgen, zum Beispiel dadurch, dass die Menschen Patientenquittungen verlangen. ({16}) Wir wollen keine Aushöhlung unseres Systems, das sich bewährt hat, weil alle Menschen gleichermaßen Zugang haben und alle gesetzlich Versicherten - es geht dabei um 90 Prozent aller Versicherten - die Sicherheit haben, auch behandelt zu werden und

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- nicht in einer Dreiklassenmedizin zu landen. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kollegen Lothar Riebsamen von der CDU/CSU das Wort. ({0})

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn dieser Antrag, den wir jetzt schon seit einer Stunde debattieren, überhaupt einen Sinn macht, dann vielleicht, um als Anschauungsmaterial zu dienen, wie man Schreckgespenster bzw. Popanze aufbaut. ({0}) Der Antrag ist absurd. Er zeigt, dass Sie nicht verstanden haben, um was es geht, oder - das ist eigentlich noch schlimmer - dass Sie gar nicht wissen wollen, um was es geht. Es geht schlicht und ergreifend um nicht weniger als das Wahlrecht der Patienten, ({1}) ob sie eine Kostenerstattung wollen oder nicht. In verschiedenen Redebeiträgen heute Morgen wurde schon ausgeführt, dass Sie mit dabei waren, als wir dieses Wahlrecht 2003 eingeführt haben; aber die Patienten haben diese Möglichkeit in der Vergangenheit zu wenig genutzt. ({2}) Wir gestalten dieses Wahlrecht jetzt attraktiv. Wahlrecht ist Patientenrecht. ({3}) Wenn Sie dies nicht anerkennen, dann enthalten Sie dem Patienten ein Recht vor. Um es auf den Punkt zu bringen: Sie torpedieren ein Patientenrecht. Ihr Antrag setzt voraus, dass wir Vorkasse wollen. Es wurde aber schon mehrfach ausgeführt, dass es überhaupt nicht um Vorkasse geht. Das ist der Popanz. Wir haben noch nicht einmal in der privaten Krankenversicherung eine Vorkasse. Zunächst kommt die Leistung, dann die Bezahlung. Die Möglichkeit der Bezahlung hat man, wenn das Geld von der Krankenkasse eingegangen ist. Es gibt also keine Vorkasse. Dann weisen Sie auf den Informationsvorsprung hin - da haben Sie durchaus recht -, den die Ärzte bzw. Leistungserbringer gegenüber den Patienten haben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lauterbach?

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank. - Noch einmal ganz konkret: Ich vermisse nach wie vor eine Antwort auf die Frage, wie Sie verhindern wollen, dass beispielsweise ein älterer Mensch, der Rückenschmerzen hat und zum Orthopäden möchte - um noch einmal das Beispiel aufzugreifen, das ich selbst gebracht habe - und wenig Geld hat, auf die Frage, ob es einen Termin gibt, von dem Orthopäden mit der Antwort konfrontiert wird: „Sind Sie in der Lage, sind Sie willig, Vorkasse zu zahlen?“. Wie wollen Sie sicherstellen, dass so etwas in der Praxis nicht vorkommt? Was sagen Sie einem solchen Menschen, wenn der Orthopäde schlicht sagt: „Ich behandle bevorzugt gegen Vorkasse“? Das ist ja nach Rechtslage, wenn ich das richtig verstehe, erlaubt. ({0})

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sage diesem Patienten: Gehen Sie zu Ihrer Krankenkasse und beschweren Sie sich; ({0}) denn genau das ist nicht erlaubt. - Das war in der Vergangenheit nicht erlaubt und wird es auch in Zukunft nicht sein. ({1}) Auch das ist ein Popanz, den Sie permanent aufbauen. Das entspricht schlicht und ergreifend nicht den Tatsachen. ({2}) Wenn Sie jetzt über den Ärztemangel diskutieren wollen, müssen Sie einen anderen Antrag schreiben; darum geht es heute nicht. Schauen Sie sich dieses Wahlrecht an. Es beinhaltet, dass die Patienten zukünftig die Möglichkeit haben, nicht nur über alles hinweg ein Wahlrecht auszuüben, sondern auch, auszuwählen: Will ich dieses Wahlrecht nur beim Zahnarzt, oder will ich es auch beim Hausarzt? - All diese Möglichkeiten gibt es sozusagen á la carte und flexibel. Als weitere Verbesserung ist vorgesehen, die Bindungsfrist von einem Jahr auf drei Monate zu verkürzen. Damit kann der Patient erst einmal ausprobieren, ob das Modell gut für ihn ist. Des Weiteren werden künftig nicht mehr zwangsweise 10 Prozent Verwaltungskosten abgezogen. Den Krankenkassen wird stattdessen die Möglichkeit geboten, nur 5 Prozent abzuziehen. Auch dies ist eine Kannbestimmung. Wir alle nehmen an vielen Diskussionen bzw. Podiumsdiskussionen teil oder halten Vorträge. Wir sagen den Menschen - so weit sind wir uns meistens einig -, dass das Gesundheitswesen in Deutschland aufgrund der demografischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts teurer werden wird. Wenn wir die Maßnahmen schildern, wie wir dem begegnen wollen, gehen die Meinungen schon etwas auseinander. Die Besucher dieser Veranstaltungen stellen sich dann die Frage, was sie persönlich tun können, um dem zu begegnen. Darauf möchten wir mit dem Wahlrecht eine Antwort geben. ({3}) Sie trauen den Patienten nichts zu. Herr Dr. Lauterbach hat von Verdummung gesprochen. Sie verdummen doch die Patienten, indem Sie ihnen nichts zutrauen. Sie haben in dieser Frage, und nicht nur darin, schlicht und ergreifend ein anderes Menschenbild als wir. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal des Kollegen Schaaf? ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, es ist, wie üblich, eine unverschämte Behauptung, zu sagen, ich hätte die Debatte nicht verfolgt. Ich habe nämlich die ganze Zeit vor dem Fernsehgerät zugehört. Ich habe mich dann beeilt, hierherzukommen, um eine Frage zu stellen, die weder von der FDP noch von der Union beantwortet worden ist. Die untauglichen Versuche, uns allein das Thema Vorkasse aus der Vergangenheit zuzuschieben, blendet aus, dass Sie über den Bundesrat immer beteiligt waren. Aber lassen wir das beiseite. Das einzige Argument, das die Regierungskoalition zugunsten des Vorkassenprinzips vorgebracht hat, war die Transparenz. ({0}) Dafür hätte man die Debatte über die obligatorische Patientenquittung weiterführen können; aber das ist auf der rechten Seite des Hauses auf massive Verweigerung gestoßen. Versuchen Sie bitte, mir zu erklären, welchen Vorteil der Patient von dem Vorkassenprinzip hat, wenn man von der Transparenz absieht, die kein taugliches Argument ist. Sie haben das Hohelied auf die Ärzteschaft gesungen, die keine Unterschiede in der Behandlung macht: Ob man Vorkasse wählt oder nicht, die Ärzte behandeln alle gleich. - Welchen Vorteil hat der Patient von diesem Prinzip? ({1})

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe das bereits ausgeführt. Wahrscheinlich haben Sie nicht richtig zugehört. Die Kostenerstattung wird dazu führen, dass Patient und Arzt mehr miteinander über die Therapie reden müssen, als es in der Vergangenheit der Fall war. ({0}) Wenn in der Vergangenheit die Tabletten nicht angeschlagen haben, dann hat die Patientin oder der Patient sie einfach weggeschmissen. In Zukunft wird sie oder er den Arzt aufsuchen ({1}) und ihm sagen, dass die Therapie nicht funktioniert und eine andere Möglichkeit gefunden werden muss. ({2}) Wir werden nicht nur mehr Transparenz schaffen, sondern auch dazu beitragen, dass sich Patient und Arzt auf gleicher Augenhöhe begegnen. Das ist der entscheidende Punkt des Wahlrechts. ({3}) Ich war bei unserem Verhalten in Diskussionen und der Frage stehengeblieben, ob wir den Patienten etwas zutrauen. Wenn der Patient Sie in einer solchen Diskussion fragt, was er tun könne, dann sagen Sie, dass er nichts tun kann und es lieber Vater Staat überlassen soll, der schon immer alles geregelt hat. Das nehmen uns die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr ab. Sie wollen wissen, worum es geht und wie viel sie für was bezahlen müssen. ({4}) Sie wollen mehr Transparenz. Im Übrigen sind - das räume ich gerne ein - Sachleistungen nicht unbedingt ein Gegensatz zu dem Vorhaben, das wir in Angriff nehmen. Was die Sachleistungen angeht, ist bei den Krankenkassen durchaus Fachkompetenz vorhanden. Die Krankenkassen achten auf Wirtschaftlichkeit; das wird gar nicht in Zweifel gezogen. Auch medizinische Evidenz ist bei den Kassen vorhanden. Aber sie geben bisher keine Antworten, was die Transparenz und den mündigen Bürger angeht. Deswegen wollen wir das System weiterentwickeln. Das Totschlagargument gegen die Vorauskasse trifft nicht zu. Es hilft nicht weiter. Wir wollen den Weg der Wahlmöglichkeit weitergehen. Wir wollen ein besseres Verständnis der Patienten für das gesamte System mit dieser Maßnahme erwirken. Ihren Antrag braucht niemand, weder die Krankenkassen noch die Ärzte und erst recht nicht die Patienten. Die Wege, die Sie aufzeigen, sind nichts anderes als Schreckgespenster. Wir werden den Weg der Transparenz konsequent weitergehen. Wir werden auch in Zukunft Lobbyisten für die Patientinnen und Patienten sein. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/3427 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 29 sowie Zusatzpunkt 8 auf: 29 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - Drucksache 17/3404 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz Kuhn, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Menschenwürdiges Dasein und Teilhabe für alle gewährleisten - Drucksache 17/3435 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Karl Schiewerling von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({2})

Karl Schiewerling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003839, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Koalitionsfraktionen von Union und FDP bringen heute den Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch in die Beratungen des Deutschen Bundestages ein. Hinter diesem Titel, der etwas sperrig klingt, verbergen sich sehr viele komplizierte Fragen. Als im Dezember 2004 SPD und Grüne, die damals die Mehrheit im BunKarl Schiewerling destag hatten, sowie Union und FDP, die damals die Mehrheit im Bundesrat hatten, im Vermittlungsausschuss das SGB II auf den Weg gebracht haben, ({0}) hat wohl niemand geahnt, wie komplex dieses Sozialgesetzbuch werden wird und dass man sich im Laufe der Jahre permanent mit Veränderungen und Neuerungen auseinanderzusetzen haben wird. Im Sozialgesetzbuch werden die Arbeitsmarktpolitik, die Sozialpolitik, die Familiensituation und die Bildungssituation - erst recht nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar dieses Jahres - zusammengeführt. An der Ausführung sind Bund, Länder und Kommunen beteiligt. Das macht nicht nur die Komplexität des Gesetzes aus, sondern bereitet auch beim Vollzug Schwierigkeiten. Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Urteile gefällt und dem Gesetzgeber gesagt, dass Korrekturbedarf besteht. Das erste Urteil betraf die Organisation. Diese haben wir, Union, FDP, SPD und Grüne, im Sommer dieses Jahres gemeinsam in Ordnung gebracht. Das zweite Urteil vom 9. Februar besagt, dass die Bedarfssätze sowohl für die Erwachsenen als auch für die Kinder transparent und nachvollziehbar ermittelt werden müssen. Es wurde keine Kritik an der Methode und der Höhe der Bedarfssätze geäußert. Es wurde die Forderung erhoben, die Bedarfe genau zu ermitteln, und zwar für Erwachsene und Kinder getrennt. Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht als maßgeblich mitgeteilt: Ihr müsst sehen, dass die Kinder, die im Leistungsbezug des SGB II sind, eine Perspektive bekommen. Ihr müsst außerdem jedem individuelle Hilfe zukommen lassen. Das sind die Rahmenbedingungen, unter denen der vorliegende Gesetzentwurf erarbeitet wurde und mit denen wir uns zu befassen haben. Damit treten wir in die zweite Phase der Runderneuerung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch ein. Die dritte Phase wird im Frühjahr kommenden Jahres anstehen, wenn wir uns um die arbeitsmarktpolitischen Instrumente kümmern. Es geht darum, Hilfen aus einer Hand zu geben; das ist die Intention. Das haben wir organisatorisch sichergestellt. Es geht aber auch darum, alles zu tun, dass Menschen wieder in Beschäftigung kommen. Das Zweite Buch Sozialgesetzbuch beinhaltet zunächst nichts anderes als eine Grundsicherung, hat aber zum Ziel, Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen. Diese Rahmenbedingungen müssen wir wahren. ({1}) Der vorliegende Gesetzentwurf greift das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf; aber wir gehen über das, was uns darin aufgetragen wurde, noch hinaus. Wir haben Regelsätze vorgelegt, die transparent, nachvollziehbar und realitätsgerecht ermittelt wurden. ({2}) Wir haben erstmals auch eigene Regelsätze für die Kinder ermittelt, und wir haben etwas getan, für das ich der Bundesarbeitsministerin - das möchte ich heute schon zu Beginn der Beratungen sehr deutlich sagen - außerordentlich dankbar bin. Sie hat das Urteil des Verfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010 nicht als Belastung angesehen, sondern beschreitet mit vollem Herzen neue Wege, um Kindern, die sich in diesem Leistungsbezug befinden, eine Perspektive für Bildung und Teilhabe an unserer Gesellschaft zu ermöglichen. ({3}) Damit wird ein Zeichen gesetzt, das im Zusammenhang mit dem Sozialgesetzbuch II zwingend notwendig ist: Wir investieren mit diesem Paket - in Höhe von immerhin 700 Millionen Euro - in die Zukunft dieser Kinder und damit auch in die Zukunft unserer Gesellschaft. Die Grundprinzipien des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch bleiben unverändert. Es geht um Fordern und Fördern; es geht um den Grundsatz: keine Leistung ohne Gegenleistung. Wir wissen auch, dass mit der Verabschiedung dieses Gesetzes eine besondere Herausforderung für die Jobcenter entsteht; denn sie werden mit neuen Aufgaben konfrontiert, die nicht unbedingt zum Erfahrungsschatz eines Berufsvermittlers gehören. Ich bin aber sicher, dass die Jobcenter - so gut, wie sie in den letzten Jahren ihre Aufgaben wahrgenommen haben sich auch dieser neuen Aufgabe erfolgreich stellen werden. Ich bin auch sicher, dass die Kommunen froh sein werden, dass sie hierdurch im Laufe der nächsten Jahre neue Handlungsmöglichkeiten erhalten. Meine Damen und Herren, im Mittelpunkt bleibt: Jeder muss zunächst einmal tun, was er kann. Wir haben 6,5 Millionen Menschen, die sich im Leistungsbezug der Grundsicherung für Arbeitsuchende befinden. Das ist aber beileibe kein monolithischer Block. Die Menschen befinden sich in höchst unterschiedlichen Lebenssituationen und bringen höchst unterschiedliche Lebensperspektiven mit. Deswegen müssen wir ihnen auch individuell und möglichst passgenau helfen. Dem dient dieses Gesetz; dem dient das Handeln der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung. Aber es bleibt der Grundsatz: Jeder muss zunächst einmal tun, was er kann. Jeder muss sich anstrengen. Dann hat er auch ein Recht auf Hilfe und Unterstützung. - Von diesem Grundsatz dürfen wir auch vor dem Hintergrund unseres Menschenbildes nie abweichen. ({4}) Zu Beginn der parlamentarischen Beratungen möchte ich ausdrücklich SPD und Grüne, die mit uns gemeinsam das Sozialgesetzbuch II mit den Strukturen, die jetzt verändert werden müssen, auf den Weg gebracht haben, herzlich dazu einladen, in den nächsten Wochen auf diesem Weg konstruktiv mitzuarbeiten, damit wir uns gemeinsam den Aufgaben für die Zukunft dieser Menschen stellen können. Was mich hoffnungsfroh stimmt, ist die Wirtschaftsentwicklung und damit die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt. Menschen brauchen Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt; ich denke, das ist das eigentliche Ziel. Wir müssen ihnen helfen. Keiner kann nichts, keiner kann alles, jeder hat Begabungen und Fähigkeiten - wir brauchen jeden für unsere Gesellschaft. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Der Gesetzentwurf, der uns hier vorliegt, ist mehr Schein als Sein. Um was geht es tatsächlich? Sie haben Regelsätze ermittelt, die eher den Anschein haben, dass es Regelsätze nach Kassenlage sind, als dass sie in einem transparenten, nachvollziehbaren und vor allen Dingen realitätsgerechten Verfahren ermittelt worden sind. Sie haben ein Bildungspäckchen statt eines Bildungspaketes geschnürt, und Sie streichen derzeit im Rahmen der Haushaltsberatungen die Mittel der aktiven Arbeitsmarktpolitik rigoros zusammen. - Wenn Herr Schiewerling sich jetzt hierhin stellt und sagt, wir müssten etwas tun, damit die Menschen in Arbeit kommen und gar nicht erst auf Transferleistungen angewiesen sind, frage ich mich, wie das überhaupt zusammenpasst. - Außerdem erhöhen Sie die Zahl derer, die hilfebedürftig werden, indem Sie die Zuverdienstgrenzen anheben und sich gleichzeitig der Einführung von flächendeckenden Mindestlöhnen verweigern. Das ist Ihre Politik. ({0}) Ich finde, man darf sich nicht hierhin stellen und mit einer Scheingenauigkeit - sie versuchen auch noch, ihre Angaben mit Tabellen zu belegen, in denen zugegebenermaßen ein paar valide Zahlen stehen; was die Kinderregelsätze angeht, wimmeln diese Tabellen nur so von Strichen und Klammern - verkünden: Das ist alles transparent und nachvollziehbar. Ich wiederhole: Sie liefern hier eine Scheingenauigkeit ab und nichts, was transparent und nachvollziehbar ist. Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen deutlich machen. Zur Ermittlung der Regelsätze reduzieren Sie bei den Einpersonenhaushalten die Referenzgruppe willkürlich auf 15 Prozent; bisher umfasste sie 20 Prozent. In der Referenzgruppe belassen Sie Menschen, die aufstockende Leistungen beziehen, auch wenn sie nur ganz gering sind. Das hat zum Ergebnis, dass diejenigen, die arbeiten und nicht genug Geld haben, um mit ihrem Arbeitseinkommen über die Runden zu kommen, am Ende möglicherweise weniger als das Existenzminimum übrig haben, weil natürlich auch Aufwendungen für ihre Erwerbstätigkeit anfallen. Bei den Familienhaushalten mit einem Kind nehmen Sie ohne Begründung 20 Prozent als Referenzgruppe. Was ist daran transparent und nachvollziehbar? Frau von der Leyen - Sie haben noch ein bisschen Zeit, bis Sie ans Rednerpult treten -, schauen Sie sich einmal die Seiten 145 und 146 Ihres Gesetzentwurfs an - da zeigt sich wieder, dass man irgendwo in Ihrem Ministerium die Grundrechenarten nicht beherrscht -: Dort wird anstelle eines Minuszeichens ein Pluszeichen verwendet. Sie weisen 20 Prozent aus, obwohl es nur um 15 Prozent geht. Das ist keine saubere Arbeit. Schon der Referentenentwurf war das nicht. Das macht das Ganze nicht nachvollziehbarer. ({1}) Darüber hinaus rechnen Sie in kleinlichster Weise Ausgabepositionen heraus, um den Hartz-IV-Regelsatz um 5 Euro - das war ja die Grenze, die man Ihnen offenkundig gesetzt hat - erhöhen zu können. Ich möchte noch einmal das Beispiel der 67 Cent für die chemische Reinigung heranziehen. Dabei geht es nicht nur um die Regelsätze für Erwerbsfähige, sondern auch um die Regelsätze für diejenigen, die eine Grundsicherung beziehen. Es geht also auch um den Regelsatz der Rentnerin, die eine Minirente hat und ergänzend Grundsicherung erhält. Nennen Sie mir bitte einmal eine Rentnerin, die einen Wintermantel hat, der nicht in die chemische Reinigung muss. Wenn sie dafür nur 67 Cent monatlich bekommt, muss sie anderthalb Jahre ansparen. Was Sie vorhaben, ist kleinlich und zeigt, wohin die Reise geht: Ihnen ging es darum, die Höhe der Regelsätze an der Kassenlage auszurichten, und nicht um eine realitätsgerechte Bemessung. ({2}) Ein weiterer Punkt sind die Kinderregelsätze. Wenn man sich einmal anschaut, wie viel bei der Berechnung dieser Regelsätze auf validen Daten beruht, dann kann einem nur schwindelig werden. Ich kann Sie nur auffordern - wir werden das auch im parlamentarischen Verfahren verlangen -, hier einen Plausibilitätscheck durchzuführen. Was die Berechnung der Regelsätze für die Null- bis Sechsjährigen angeht, beruhen gerade einmal zwei Drittel dieser Regelsätze auf validen Daten, also auf der Untersuchung von mehr als 100 Haushalten. Was die Berechnung der Regelsätze für die 14- bis 18-Jährigen angeht, beruhen noch nicht einmal mehr 50 Prozent auf validen Daten. Man schaue sich das Ganze an einzelnen Positionen an. Beispielsweise werden für Kinder von 14 bis 18 Jahren für Schuhe im Jahr weniger als 70 Euro zur Verfügung gestellt. Wer Kinder in diesem Alter hat, weiß, was für Schuhe ausgegeben wird. Auch hier stimmt die Berechnung hinten und vorne nicht. Das Bildungspaket ist ein Bildungspäckchen. Wir erwarten da mehr. Wir erwarten beispielsweise, dass nicht nur die Kinder, deren Eltern im SGB-II-Bezug sind oder für die ein Kinderzuschlag gezahlt wird, davon profitieren. Wir wollen, dass auch die Niedrigverdiener davon profitieren. Wir wollen, dass etwa Mittel für die Teilhabe in Vereinen usw. nicht auf Kinder bis zum 18. Lebensjahr beschränkt sind. Was macht das denn für einen Sinn? Soll ein Mädchen, das Leistungsträgerin in ihrem Fußballverein ist, oder ein Junge, der gut Klavier spielt, das Ganze sein lassen, nur weil das Alter von 18 Jahren erreicht worden ist? Auch beim Thema Mindestlohn haben wir Gesprächsbedarf. Es kann eben nicht sein - das hat auch das Verfassungsgericht deutlich gesagt -, dass der Maßstab das niedrigste Einkommen ist und dass darunter das Existenzminimum liegen muss. Der Maßstab ist das Existenzminimum. Das Existenzminimum plus X ergibt den Lohn, den jemand verdienen muss, damit er oder sie am Ende des Monats davon leben kann, ohne auf Sozialleistungen angewiesen zu sein. ({3}) Ich will zu dem Gesprächsangebot nur so viel sagen: Frau Merkel ist das Thema offensichtlich nicht wichtig genug, als dass sie sich mit an den Tisch setzt. Gespräche machen nur Sinn, wenn wir auch Signale bekommen, dass Sie sich in unsere Richtung bewegen. Eine Schauveranstaltung, bei der wir alle nett an einem Tisch sitzen und schöne Fernsehbilder produzieren, aber in der Sache nichts weiter bewegt wird, macht keinen Sinn. Dann ist ein reguläres Verfahren eher angesagt, und zwar ein reguläreres Verfahren als das, das wir gestern bei den Gesetzen zur Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke erlebt haben. Schönen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat Pascal Kober für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ferner, ich möchte Sie doch einmal daran erinnern - Sie haben mit vielen Worten Kritik am vorliegenden Gesetzentwurf geübt -, dass das Bundesverfassungsgericht Ihre Gesetzgebung kritisiert hat ({0}) und aufgrund Ihrer Gesetzgebung diese Regierungskoalition aufgefordert hat, einen transparenten und nachvollziehbaren Gesetzentwurf vorzulegen. ({1}) - Frau Ferner, ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern, was der Kollege Markus Kurth von Bündnis 90/Die Grünen in der vergangenen Ausschusssitzung gesagt hat. Er hat gesagt, dass er zugeben müsse, dass sich diese Regierungskoalition bei der Bemessung der Regelsätze mehr Mühe gegeben habe als die damalige rot-grüne Bundesregierung bei der Einführung der Hartz-IV-Regelsätze. ({2}) Dieser Aussage des Kollegen Markus Kurth stimme ich ausdrücklich zu. Ich möchte auch noch einmal daran erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht nicht die Höhe der Regelsätze kritisiert hat, ({3}) sondern deren Herleitung, und eine transparente Herleitung gefordert hat. Wir haben einen transparenten Entwurf vorgelegt; ({4}) er ist so transparent, wie es ein Entwurf zu Ihren Zeiten niemals gewesen ist. Wir scheuen uns auch nicht, die politischen Wertentscheidungen zu treffen, zu denen uns das Bundesverfassungsgericht explizit aufgefordert hat, denen Sie sich verweigert haben. Wir sagen eindeutig, dass Tabak und Alkohol nicht zum Grundregelbedarf, nicht zum Existenzminimum gehören, ({5}) und scheuen uns auch nicht, dies den Menschen deutlich zu sagen. Genauso wenig gehören nach unserer Ansicht motorbetriebene Gartengeräte dazu. ({6}) Im vorliegenden Gesetzentwurf wird aber eine weitere Priorität dieser Regierungskoalition deutlich. Uns geht es darum, die Menschen zu ertüchtigen und zu befähigen, sich mit unserer Hilfe aus der Arbeitslosigkeit zu befreien oder gar nicht erst in die Arbeitslosigkeit zu geraten. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen, dass es in diesem Sozialstaat so etwas wie sich vererbende Sozialhilfebiografien gibt, ist eine Entwicklung, die uns alle nicht ruhen lassen darf und die diese Regierungskoalition nicht hat ruhen lassen. Wir haben einen ersten Schritt in die richtige Richtung getan. ({8}) Wir haben den Kindern, deren Eltern Langzeitarbeitsuchende sind, ein Bildungspaket zur Verfügung gestellt. Wir investieren in die Bildung dieser Kinder, damit sich Langzeitarbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit generell nicht vererbt und damit auch diesen Kindern der Einstieg ins Berufsleben gelingt. ({9}) Wir vergessen auch nicht die Kinder, deren Eltern von kleineren Einkommen leben. Wer den Kinderzuschlag erhält, profitiert ebenfalls von den Leistungen des Bildungspakets. Hier wird sehr deutlich, was wir möchten: Wir wollen Chancen für alle Kinder in dieser Gesellschaft. ({10}) In Zukunft werden Kinder dort, wo es ein gemeinsames Schulmittagessen gibt, daran teilnehmen können. ({11}) Sie werden am kulturellen und sportlichen Leben teilhaben können, und sie werden die Möglichkeit haben, bei eintägigen Klassenfahrten mitzufahren. Wir werden erstmals sicherstellen, dass die Leistungen direkt bei den Schwächsten in unserer Gesellschaft, bei den Kindern, ankommen. Wir werden diesen Sozialstaat treffsicher gestalten. ({12}) Das ist im Interesse beider Seiten: derjenigen, die den Sozialstaat finanzieren und die Leistungen erwirtschaften, ({13}) aber auch derjenigen, die auf die Leistungen dieses Sozialstaats angewiesen sind. Ziel der Sozialpolitik der christlich-liberalen Koalition ist es, mehr Menschen in Beschäftigung zu halten und zu bringen. Ziel unserer Sozialpolitik ist es, die Menschen zur Teilhabe an der Gesellschaft zu befähigen. Ziel ist es, den Menschen Brücken aus der Abhängigkeit von den sozialen Unterstützungssystemen zu bauen. ({14}) Nicht nur die aktuellen Arbeitsmarktzahlen zeigen hier die erfolgreiche Arbeit unserer Politik. Liebe Frau Ferner, Sie haben die Erhöhung der Zuverdienstgrenzen kritisiert. Folgendes wurde nicht von der christlich-liberalen Koalition, sondern von der Bundesagentur für Arbeit, die uns den Zusammenhang deutlich gemacht hat, festgestellt: Wem es gelingt, 800 Euro zu verdienen, dem gelingt binnen zwei Jahren zu 90 Prozent der Sprung in die voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. ({15}) Diesen Zusammenhang müssen wir sehen. Deshalb haben wir uns vorgenommen, die Zuverdienstgrenzen jetzt in einem ersten Schritt und 2012 in einem zweiten Schritt zu erhöhen. ({16}) Das ist ein Zeichen sozialer Arbeitsmarktpolitik, wie wir sie verstehen. Wir müssen für die Menschen Brücken in die Beschäftigung bauen. Vielen Dank. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Katja Kipping für die Fraktion Die Linke. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal vermittelt Schwarz-Gelb den Eindruck, dass man das Land mit sozialen Wohltaten überschüttet, nur weil im Haushalt das Bildungspaket und die läppische 5-EuroErhöhung der Hartz-IV-Regelsätze eingeplant werden. Man muss klar festhalten: Das ist ein falscher Eindruck, und das ist eine verkehrte Darstellung. Denn tatsächlich kürzen Sie im Zusammenhang mit Ihrem Bildungspaket vor allen Dingen bei den Ärmsten. Ich möchte das einmal ins Verhältnis setzen: Das Fünffache der Summe, die für das Bildungspaket und die läppische Erhöhung eingeplant ist, wird im Bereich Hartz IV gekürzt. Das heißt im Klartext: Sie kürzen bei den Ärmsten. Ich möchte das einmal bildhaft ausdrücken: Wenn man eine Klimaanlage auf minus 5 Grad Celsius einstellt und danach großzügig um ein Grad nach oben reguliert, dann ändert diese großzügige Regulierung um ein Grad nach oben nichts daran, dass immer noch minus 4 Grad Celsius und somit Frosttemperaturen herrschen. Unter dem Strich bleibt zu sagen: Schwarz-Gelb fördert die soziale Kälte in diesem Land. ({0}) Hinzu kommt: Im Windschatten der Neuberechnungen bringen Sie jede Menge Verschlechterungen ein. Um nur eine von vielen zu benennen: Bisher musste vor der Verhängung von Sanktionen eine Rechtsbehelfsbelehrung erfolgen. Das ist nun nicht mehr nötig. Jetzt kann man einfach darauf verweisen, dass es irgendwo in einem der langen Flure des Jobcenters einen Aushang dazu gibt. Willkürlichen Kürzungen sind hier also Tür und Tor geöffnet. Die Linke sagt dazu ganz klar: Solche Willkür ist mit unserem Verständnis von einem Rechtsstaat nicht zu vereinbaren. ({1}) Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts war eindeutig. Das Grundrecht auf gesellschaftliche Teilhabe für Bedürftige ist zu garantieren. Im Zuge dessen müssen die Hartz-IV-Regelsätze neu und nachvollziehbar berechnet werden. ({2}) Wie aber geht Schwarz-Gelb mit einem solchen Urteil um? Sie rechnen so lange herum, bis eine läppische Erhöhung von 5 Euro herauskommt. Wir sagen: Ein Regelsatz, der ohne Tricks berechnet worden ist, und ein Regelsatz, der sowohl gesunde Ernährung als auch den Kauf eines Monatstickets ermöglicht, fällt deutlich höher aus. ({3}) - Wir hatten schon vorher nachgerechnet. Die Linke berät sich gegenwärtig mit Fachleuten, Sozialverbänden und Betroffenen. Wir werden in den nächsten Wochen eine Übersicht veröffentlichen, in der dargestellt wird, wie hoch der Regelsatz ohne Ihre Tricks ausfallen würde. Um nur einen Rechentrick zu erläutern: Das Bundesverfassungsgericht hat uns den Auftrag gegeben, die verdeckt Armen herauszurechnen. Zur Erläuterung: Die verdeckt Armen sind diejenigen, die eigentlich Anspruch auf Sozialleistungen hätten, diese aus Scham oder Unwissenheit aber nicht in Anspruch nehmen. Diese Herausrechnung ist nicht erfolgt. SchwarzGelb hat die verdeckt Armen nicht herausgerechnet. Wir von der Linken und die gesamte Opposition haben im Ausschuss gemeinsam gefordert, dass eine entsprechende Berechnung in Auftrag gegeben wird. Es ging dabei nur um eine Berechnung. Es ging noch nicht einmal um die Festlegung auf eine Zahl. Doch wie geht Schwarz-Gelb damit um? Sie blockieren es. In Mafiamanier verhindern Sie Transparenz. Ich sage Ihnen: Das wird Ihnen noch leidtun. Die Art und Weise, wie Sie alternative Berechnungen verhindert haben, wird Ihnen spätestens dann leidtun, wenn es zu einer Klage in Karlsruhe kommt. ({4}) Die Krönung war im Übrigen Ihre Begründung. Da hieß es von Schwarz-Gelb ganz wunderbar: Wir vertrauen der Regierung vollkommen. - Es ist entlarvend, wenn CDU/CSU und FDP meinen, parlamentarisches Agieren beschränkt sich darauf, die Vorlagen der Bundesregierung abzunicken. Dann kann man hier in Zukunft auch einfach Abnickdackel hinsetzen. Damit würden wir einiges an Diäten einsparen. ({5}) Die nächste Sauerei ist, dass Sie gesagt haben: Es gibt doch kaum verdeckt Arme in der Referenzgruppe. Wenn Sie sich da so sicher sind, hätten Sie es doch ausrechnen lassen können. Sie hätten uns doch beweisen können, dass ich mich irre. Mir liegen nämlich andere Untersuchungen vor. Mir liegen Untersuchungen vor, wonach es in diesem Land fast 6 Millionen verdeckt Arme gibt. Aber schon allein was das anbelangt, scheuen Sie eine seriöse Berechnung. ({6}) Ein weiterer Rechentrick ist, dass Sie bei den Abschlägen immer so tun, als ob es nur um Zigaretten und Alkohol ginge. Es sind schon andere Berechnungen genannt worden. Ich möchte zusammenfassen. Tatsache ist, dass 30 Prozent aller Ausgaben der ärmsten Haushalte als nicht regelsatzrelevant gelten. Das ist Behördendeutsch und meint, sie werden auf den Regelsatz nicht anerkannt; sie werden sozusagen abgezogen. Unter der Überschrift „Schnittblumen“ befindet sich auch die Position „Ausgaben für den Weihnachtsbaum“. Im Klartext: Diese Partei, die ein C im Namen trägt, meint: Wer auf Hartz IV angewiesen ist, der hat nicht das Recht darauf, sich einen Weihnachtsbaum zu leisten. Da sage ich: Fröhliche Weihnachtszeit! ({7}) Ein weiterer Mythos, den Sie hier so schön pflegen, lautet, der Regelsatz sei von den kleinen Einkommen abgeleitet. Danach wird über die Friseurin und die Verkäuferin geredet, und es wird der Eindruck erweckt, hier gehe es um die Einkommen der Verkäuferinnen, von denen das abgeleitet ist. Tatsache ist - das haben wir von der Regierung schwarz auf weiß bekommen -: In der Referenzgruppe - „Referenzgruppe“ meint die Haushalte, deren Ausgaben bei der Berechnung des Regelsatzes herangezogen worden sind - sind gerade einmal 20 Prozent Erwerbstätige. Der Rest sind Rentner mit niedrigen Einkommen, Studierende und Arbeitslose. Also gerade einmal jeder Fünfte in dieser Referenzgruppe ist überhaupt ein Beschäftigter. Das beweist doch, dass es hier Zirkelschlüsse nach unten gibt. Sie missbrauchen die geringen Renten, die geringen Einkommen von Studierenden und die Armut von Arbeitslosen, um den Regelsatz so niedrig wie möglich zu halten. Das ist eine Sauerei! ({8}) - Lassen Sie sich, wenn Sie sich schon über das Wort „Sauerei“ beschweren, Folgendes sagen: Es gibt Leute, die mit dieser Sauerei leben müssen. Das finde ich viel schlimmer, als sich dieses Wort anhören zu müssen. ({9}) Schwarz-Gelb hat im Bundestag eine Mehrheit. Die Regierung kann sich darauf verlassen - das haben wir im Ausschuss erlebt -, dass die Koalitionsfraktionen fleißig abnicken. Spätestens im Bundesrat wird es komplizierter. Dort haben Sie nämlich keine Mehrheit, und der Zeitplan ist relativ eng. Nun stellt sich die Frage, wie man damit umgeht. Man kann es auf einen Crash ankommen lassen und in Kauf nehmen, dass danach heilloses Chaos herrscht. Ich glaube, verantwortungsvolles Handeln über alle politischen Differenzen hinweg sieht so nicht aus. Deswegen schlägt die Linke in diesem Zusammenhang vor: Hören wir auf mit irgendwelchen Deals und Verabredungen, die in Hinterzimmern stattfinden, leiten Sie hier - das wäre mein Vorschlag an Sie, Frau von der Leyen - eine öffentliche, eine transparente Schlichtung ein! Stuttgart 21 macht es vor. Es ist möglich, dass man Betroffene, dass man alle beteiligten Parteien an einen Tisch holt, um sich zu verständigen, wie ein gesellschaftlich akzeptiertes soziokulturelles Existenzminimum aussehen soll. Eine solche Beratung müsste natürlich im Internet und im Fernsehen übertragen werden. Daran müssten nicht nur die Parteien, sondern auch Sozialverbände und Betroffeneninitiativen beteiligt werden. Wir meinen, das unwürdige Schauspiel, das bei der Einführung von Hartz IV stattgefunden hat - in geheimen Verhandlungen sind in letzter Minute gravierende Veränderungen vorgenommen worden; Sie haben hinterher in Karlsruhe mehrmals Ohrfeigen bekommen -, darf sich nicht wiederholen, wenn es um die soziale Grundabsicherung und den sozialen Frieden geht. Da muss Schluss sein mit Hinterzimmermauscheleien! Besten Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kollegin, nur eine kleine persönliche Bemerkung: Die ständige Wiederholung eines bestimmten Wortes muss nicht immer dessen Bedeutungsgehalt verdichten. ({0}) Das Wort hat nun Kollege Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt haben Sie für einige hier noch ein Rätsel aufgegeben. Aber das kann man später noch vertiefen. Ich möchte vorneweg sagen, dass wir nicht der Überzeugung sind, dass der Gesetzentwurf so, wie er jetzt vorliegt, ein menschenwürdiges Existenzminimum angemessen sicherstellt. Sie haben zwar Ihre Kriterien offengelegt - das hat Karlsruhe verlangt -, aber darin ist viel Willkür enthalten. Es ist schon fast wundersam, wie Sie zu den 5 Euro mehr kommen. Wir teilen die Annahmen, die Sie treffen, nicht. Es ist nicht durch eine neue Erkenntnis zustande gekommen, die Sie vernünftig dargelegt hätten, dass Sie der Berechnung des Regelsatzes für einen Alleinstehenden nun die unteren 15 Prozent der Referenzgruppe zugrunde legen, nicht mehr die unteren 20 Prozent. Vielmehr zielen Sie damit auf ein bestimmtes Ergebnis. Ich glaube, so kann man das Urteil aus Karlsruhe nicht umsetzen. ({0}) Da wäre mehr Inhalt verlangt gewesen. Das gilt übrigens auch für Ihren Umgang mit dem Bedarf an Alkohol und Tabak, der eine sozialpaternalistische Tendenz aufweist. Sie kürzen die Mittel dafür um 19 Euro im Monat; so viel war bisher dafür vorgesehen. Sie müssen schon hinschauen, was sonst in der Gesellschaft los ist. Ich darf Herrn Kauder, Ihren Fraktionsvorsitzenden, zitieren, der als „Botschafter des Bieres“ auf dem Berliner Oktoberfest sagte: Wenn ich ein Achtel Wein im Jahr trinke, dann ist das viel. Aber zwei, drei Weizenbier am Tag - die müssen einfach sein ({1}) Was ich mit diesem Zitat sagen will: Sie können doch nicht einerseits den Menschen, die von Arbeitslosengeld II leben, sagen, dass sie am Wochenende kein Bier trinken gehen dürfen, und andererseits das Biertrinken zum männlichen Staatsritual erklären. Das ist doch völlig absurd; das können Sie nicht begründen. ({2}) Unser Vorwurf lautet: Sie haben die Kriterien an das angepasst, was die Kasse von Herrn Schäuble erfordert; das entspricht aber nicht den Vorgaben aus Karlsruhe. Zweitens. Mit dem Urteil von Karlsruhe hat sich etwas geändert. Ich will es anhand des Beispiels des Lohnabstandsgebots darlegen. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts reicht es nicht mehr aus, den Regelsatz so festzulegen, dass er nicht zu hoch ist, um das Lohnabstandsgebot zu erfüllen. Karlsruhe hat ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ausgesprochen, abgeleitet aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsgebot. Das heißt, Sie müssen auch bei Menschen, die dauerhaft arbeitslos sind, diese Vorgabe erfüllen und ihre Existenz sichern. ({3}) Dafür haben Sie nicht gesorgt; denn Sie kneifen an einer anderen Stelle der Politik, nämlich beim gesetzlichen Mindestlohn. Das Lohnabstandsgebot zu verwirklichen, heißt, endlich einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. ({4}) So einfach ist die Laube. Davor drücken Sie sich, und dies, obwohl 1,2 Millionen Menschen in Deutschland weniger als 5 Euro in der Stunde verdienen. Die Mindestlohndebatte gehört also zur Debatte über die Regelsätze dazu, nicht nur weil Rot und Grün gerne darüber reden, weil wir davon überzeugt sind, dass wir einen Mindestlohn brauchen, sondern weil Sie sonst das Lohnabstandsgebot nicht vernünftig erfüllen können. Drittens. Bei allen Jubelzahlen haben wir immer noch 900 000 Langzeitarbeitslose. Das wurde bei der schönen Präsentation von vorgestern vergessen. Eine Regierung müsste da ansetzen und konkret etwas dagegen tun. Das tun Sie aber nicht. Sie kürzen bis 2014 6 Milliarden Euro beim Eingliederungstitel des SGB II. Es geht doch nicht, dass Sie diese Operation gleichzeitig vornehmen. Deswegen wird da kein Schuh daraus. ({5}) Uns ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Sie bei den Kindern zu kurz springen. Sie führen die eine oder andere neue Leistung nach dem Sachleistungsprinzip ein. Wir finden, dass das oft nicht ausreicht. Ich will das am Beispiel der Musikstunde deutlich machen. In Deutschland erhält man für 20 bis 40 Euro im Monat Instrumentenunterricht in der Gruppe. Sie wollen das jetzt mit 10 Euro unterstützen. Das funktioniert nicht. Man kann es an vielen Beispielen belegen: Schulessen, Nachhilfeunterricht usw. Sie springen zu kurz, weil Sie nicht in der Lage sind - Sie wollen es auch nicht -, Instrumente zu schaffen, um eine flächendeckende Infrastruktur für Kinder sicherzustellen, damit ihnen ein integratives Lernen auf allen Ebenen und eine gesunde Ernährung in der Schule ermöglicht wird, egal aus welcher sozialen Schicht sie kommen. ({6}) Dazu sind Sie nicht in der Lage. Sie denken nur im Kästchenschema: Was gehört in den Bereich des Ministeriums von Frau von der Leyen? Sie sehen aber nicht das Ganze. Das ist für uns ein entscheidender Punkt: Welche Chance hat das Urteil aus Karlsruhe für eine Politik, die anpackt, eröffnet? Das ist eine gigantische Chance. Man hätte sagen können: Jetzt beheben wir die Bildungsdefizite und Integrationsdefizite in Deutschland; jetzt schaffen wir - die Grünen verlangen das in ihrem Antrag eine flächendeckende Infrastruktur im Bereich der Bildung, sodass alle immer wieder die Chance haben, zu lernen und sich zu qualifizieren, um aus der sozialen Abwärtsspirale herauszukommen, die heute leider immer noch mit dem Bezug von Arbeitslosengeld II verbunden ist. Sie haben diese Chance nicht einmal ansatzweise ergriffen. Deswegen haben wir in unserem Antrag klargemacht, dass wir regionale Bildungspartnerschaften überall in Deutschland wollen. Wir wollen, dass eine Infrastruktur geschaffen wird, in der Integration, von der wir immer reden, auch möglich ist. Konkret bedeutet das zum Beispiel die flächendeckende Einführung von Ganztagsschulen und ein Mittagessen für alle Schüler dieser Schulen. Ihr Problem ist, dass Sie das alles gar nicht hinkriegen können, weil nur ein Drittel dieser Schulen in der Lage ist, ein Schulessen anzubieten. Deswegen ist das, was Sie machen, Flickwerk. Jetzt komme ich zu einem letzten Punkt, der uns wichtig ist. Wir wollen nicht nach dem Motto „KleinKlein“ verhandeln. Wir sind vielmehr der Meinung, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland jetzt bei den Themen Mindestlohn, Bildungsinfrastruktur und Höhe der Regelsätze zu einer Verständigung kommen müssen. Deswegen haben Ministerpräsident Beck, der Vorsitzende der SPD-Fraktion und unsere beiden Fraktionsvorsitzenden einen Brief an Kanzlerin Merkel geschrieben. Er ist - ich will es einmal vorsichtig formulieren ausweichend beantwortet worden. Der Tenor war: Redet erst mal mit der Arbeitsministerin. ({7}) Nichts gegen Sie, Frau von der Leyen, aber wir wollen über die Frage reden, ob es die Chance gibt, zum Beispiel durch Aufhebung des Kooperationsverbotes, zu einer Bildungsrepublik Deutschland, die auch eine Integrationsrepublik sein soll, zu kommen - ja oder nein? ({8}) Wir wollen darüber reden, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Mindestlohn und der Höhe des Regelsatzes gibt. Wir wollen auch über die Frage reden, mit welchen Angeboten man Langzeitarbeitslosen wirklich aus der Arbeitslosigkeit heraushelfen kann. Durch eine Kürzung in Höhe von 6 Milliarden Euro bei der Bundesagentur schafft man das mit Sicherheit nicht. Dies sind große, zentrale Fragen, die die Bereiche Soziales und Bildung und damit die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland betreffen. Deswegen haben wir erwartet, dass die Kanzlerin die Fraktions- und Parteivorsitzenden einlädt, damit man den Rahmen für vernünftige Verhandlungen abstecken kann, um danach mit den Fachpolitkern ins Detail zu gehen. Zuvor muss aber der Rahmen dessen abgesteckt werden, was in Deutschland möglich ist. Mensch, Sie hätten die Chance gehabt, aus der Entscheidung von Karlsruhe einen ganz großen Wurf für Deutschland zu machen. Im Verhältnis zu dieser Chance ist das, was herausgekommen ist, nur Klein-Klein. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bundesministerin Ursula von der Leyen. ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat ist das eine große Chance. Mit diesem Gesetzentwurf schlagen wir ein völlig neues Kapitel der Sozialgesetzgebung in Deutschland auf. Wir diskutieren nicht mehr darüber, wie wir mit der Gießkanne Geld verteilen können, sondern wir reden zum ersten Mal konkret darüber: Was braucht ein bedürftiges Kind? Wie kann man seine Lebenschancen verbessern? Und vor allem: Wie können wir vor Ort dafür sorgen, dass die Hilfe beim Kind auch ankommt? Das ist das Neue an diesem Gesetzentwurf. ({0}) Das Spannende ist, dass wir jetzt die Chance haben - das ist der Geist dieses Gesetzes -, darüber zu reden: Was brauchen bedürftige Kinder? Wie kann man ihr individuelles Recht auf Teilhabe und Bildung umsetzen? Wie kann man ihr Recht auf Lebenschancen, durch Aufstieg, durch Bildung, umsetzen? ({1}) War das der Fall, als Sie Verantwortung getragen haben? Wir sorgen im Rahmen der Hartz-IV-Gesetze, die aus Ihrer Feder stammen, dafür - das geschieht in der Sozialgesetzgebung zum ersten Mal -, dass diese Kinder mittags in der Schule mitessen können, wenn dort ein Mittagessen angeboten wird. ({2}) Wir wollen, dass sie im Verein mitmachen können, dass sie Lernförderung bekommen und an den Schulausflügen teilnehmen können. Wir wollen mit diesem Gesetz das Mitmachen möglich machen. Das ist der Paradigmenwechsel. ({3}) Ich finde, die Agenda 2010 war richtig. Das ist gar keine Frage. Aber es ist auffallend, dass in den HartzGesetzen damals mit überhaupt keinem Wort gesagt wurde, wie bedürftige Kinder eine reelle Chance bekommen können, das zu erhalten, was den gleichaltrigen Kindern in der Region zur Verfügung steht. ({4}) Dieses Versäumnis können wir jetzt heilen. Der Bund nimmt 700 Millionen Euro dafür in die Hand. Dabei geht es um Aufgaben, die originär gar nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen. Die Verwaltungskosten dafür werden 136 Millionen Euro ausmachen. Ich habe das Geschrei gehört: Was für eine Mühe! Was für ein Aufwand! Diese Umsetzungskosten, die anfallen! - Das ist nun einmal die andere Seite der Medaille. Wenn wir nur Geld auszahlen müssten, dann brauchten wir nur Überweisungen zu tätigen und sozusagen den Hebel umzulegen. Dann können wir aber nur hoffen, dass irgendetwas vor Ort passiert. ({5}) Wir sagen denjenigen, die von großem Aufwand, einem Bürokratiemonster und dergleichen mehr sprechen: Wenn wir etwas für diese Kinder verändern wollen, dann müssen wir in Beziehungen und in Zuwendung investieren, dann müssen wir in die Menschen investieren, die ganz konkret vor Ort etwas verändern: in die Trainer, in diejenigen, die sich bei der Hausaufgabenhilfe engagieren, und in die Jugendleiter. Das ist bestens investiertes Geld. Damit helfen wir schon am Anfang und müssen kein Reparatursystem finanzieren, mit dem wir später versuchen müssen, das nachzuholen, was wir am Anfang versäumt haben. Aus diesen Gründen wird diese Investition an der richtigen Stelle getätigt. ({6}) Herr Kuhn, weil Sie die große Frage aufgeworfen haben - dieser Gedanke ist gar nicht falsch -, warum es nicht Ganztagsschulen mit einem warmen Mittagessen für alle Kinder flächendeckend geben soll, will ich Sie fragen: Wie wollen Sie das bis zum 1. Januar 2011 schaffen? Das ist die ganz konkrete Frage, die sich aus den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ergibt. ({7}) - Wir sind dabei, das nachzuholen, was Sie versäumt haben. Der erste Schritt ist getan. Gehen Sie doch mit! ({8}) Entscheidend ist: Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gefordert, von Bundesseite zu klären, wie Länderaufgaben übernommen werden können. Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr gesagt: In der Landschaft, wie sie sich heute für die Kinder darstellt - ich bin mit Ihnen der Meinung, dass wir in diesem Punkt besser werden müssen -, müssen wir, was bisher nicht der Fall gewesen ist, dafür sorgen, dass die bedürftigen Kinder wenigstens da mitmachen können, wo die anderen Kinder schon aktiv sind. Das ist etwas, wofür ich mich einsetze.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Gerne, Herr Heil.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ministerin von der Leyen, weil Sie vorhin den Eindruck erweckt haben, Rot-Grün hätte für Kinder nichts getan, will ich Sie daran erinnern: Wir waren es, die das Ganztagsschulprogramm mit einem Volumen von 4 Milliarden Euro gegen Ihren Widerstand durchgesetzt haben. ({0}) Hubertus Heil ({1}) Damit haben wir dafür gesorgt, dass es zum Ausbau kam. Wir müssen allerdings gemeinsam feststellen, dass wir noch nicht weit genug sind. Sie sagen: Das ist zum 1. Januar nicht umsetzbar. Meine konkrete Frage ist: Was wollen Sie tun, um das Ganztagsschulangebot in Deutschland mit Unterstützung des Bundes so auszubauen, dass nicht nur 20 Prozent der bedürftigen Kinder am warmen Mittagessen teilnehmen können? Sind Sie bereit, mitzuhelfen, dass wir im Rahmen dieser Gespräche Voraussetzungen schaffen, um die Ganztagsschulen ausbauen und zum Beispiel bei der Schulsozialarbeit vorankommen zu können? Ich habe viele warme Worte von Ihnen gehört, Frau von der Leyen. Was Sie sagen, hört sich gut an. Sie sind schon immer eine Meisterin der PR gewesen; das wissen wir alle. Aber ich sage Ihnen mit den Worten der Bibel: An den Taten sollt ihr sie erkennen. Ich frage Sie daher: Was tun Sie für die Ganztagsschulen außer warmen Worten, Frau Ministerin? ({2})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Lieber Herr Heil, ich habe mich damals als Sozialministerin in Niedersachsen - das kann ich offen sagen gefreut, als das Ganztagsschulprogramm kam. Dieses Programm war der richtige Schritt; es hat, ganz unbenommen, viel in diesem Land bewegt. Vor Ihnen steht eine Ministerin, die mit derselben Leidenschaft in der letzten Legislaturperiode gemeinsam mit Ihnen in diesem Haus dafür gesorgt hat, dass wir den Ausbau der Kinderbetreuung, mit 12 Milliarden Euro unterlegt, voranbringen konnten und dass wir jetzt ein Gesetz haben, das den Rechtsanspruch für die Kinderbetreuung von unter Dreijährigen regelt. ({0}) Das heißt, wir sind auf dem richtigen Weg. Aber dabei handelt es sich nicht um die Hartz-Gesetze. Ich muss den Finger in die Wunde legen und sagen: ({1}) Mit Blick auf die bedürftigen Kinder, also auf die Kinder von Langzeitarbeitslosen und Kinder von Sozialhilfeempfängern, frage ich Sie: Wo war Ihr Gesetzentwurf, in dem Sach- und Dienstleistungen für bedürftige Kinder enthalten waren? Darüber wurde niemals ein Wort verloren. ({2}) Das, was Sie nicht vorgelegt haben, kann der Bundesrat ja wohl nicht beschließen. Jetzt sind wir zum ersten Mal an der Stelle, dass wir Sach- und Dienstleistungen für die bedürftigen Kinder, also konkrete Hilfe vor Ort, anbieten können. ({3}) Da bin ich mit dabei.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Ministerin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal von der Kollegin Ferner?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Bitte, Frau Ferner.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau von der Leyen, würden Sie mir zustimmen, dass die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im Bundestag, im Bundesrat, im Vermittlungsausschuss und dann hinterher von beiden Kammern einvernehmlich beschlossen worden ist und dass weder die B-Seite noch die A-Seite damals im Blick gehabt hat, dass es zusätzliche Leistungen für die Kinder geben muss? Würden Sie mir ferner zustimmen, dass es höchste Zeit gewesen wäre, sich direkt nach dem Urteil mit den Ländern und den Kommunen an einen Tisch zu setzen, und zwar nicht, um über die Höhe der Regelsätze, sondern über die Frage zu reden, wie die Teilhabe der Kinder sichergestellt werden kann und wie die organisatorischen Voraussetzungen geschaffen werden können? Wie soll das alles innerhalb der vier oder fünf verbleibenden Sitzungswochen bis zum 1. Januar in einem Galoppverfahren noch in ein Gesetz gegossen werden - inklusive der organisatorischen Vorarbeiten vor Ort -, damit der Teilhabeanspruch der Kinder bis zum 1. Januar realisiert werden kann? Können Sie mir das einmal erklären?

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Schön, dass Sie die Frage stellen, Frau Ferner. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass wir bis Ende dieses Jahres Zeit haben, um das Urteil umzusetzen. Aber es hat ebenso konzediert, dass das Gesetzgebungsverfahren erst in die Wege geleitet werden kann, wenn die Zahlen vorliegen. Originalton des Gerichtes war: Diese Zahlen liegen erst im Herbst vor. Wir haben den Gesetzentwurf im Herbst vorgelegt. Aber weil wir wissen, dass wir, wenn wir einen Paradigmenwechsel wollen, wenn wir für die bedürftigen Kinder vor Ort konkret etwas verändern wollen, sehr viel früher ansetzen müssen, haben wir bereits im Februar begonnen, gemeinsam mit Experten, Pädagogen, Schulleitern, Jobcentermitarbeitern konkret zu definieren, was bedürftige Kinder brauchen. ({0}) Wir haben uns seit dem Sommer mit den Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden, den Wohlfahrtsverbänden, denjenigen, die vor Ort die Arbeit machen, zusammengesetzt. Jetzt befinden wir uns im Gesetzgebungsverfahren. Wir haben die Möglichkeit, einen Rahmen dafür zu schaffen, dass tatsächlich zum ersten Mal für die bedürftigen Kinder in Deutschland nicht nur Bargeld ausgezahlt wird, sondern konkrete Hilfe bei den Kindern vor Ort ankommt. Ich bitte Sie schlicht und einfach: Machen Sie mit, blockieren Sie nicht, sondern seien Sie auf diesem Weg an unserer Seite, und schreiten Sie mit uns gemeinsam voran! ({1}) Mir ist bei dem Bildungspaket wichtig, dass wir eine Subjektförderung einführen können. Zum ersten Mal besteht die Möglichkeit, dass über die Förderung des einzelnen Kindes das Geld genau in den Verein, in die Musikschule, in die Lernförderung, in die Hausaufgabenhilfe geht, wo man sich um die Kinder kümmert. Wenn die Kinder kommen, fließt das Bundesgeld über diese Kinder dort hinein. Wenn die Kinder wegbleiben, bleibt auch das Bundesgeld weg. Zum ersten Mal erhalten die Institutionen nicht blindlings Mittel, egal ob sie sich um die Kinder kümmern oder nicht. Vielmehr geht das Geld über die Subjektförderung in genau die Angebote vor Ort, bei denen Qualität und Nachhaltigkeit garantiert sind. Genau so sollten Bundesmittel effizient eingesetzt werden. ({2}) In der Agenda 2010 ging es um Fördern und Fordern, das auch Sie angesprochen haben. Fördern und Fordern ist immer noch richtig. Aber es reicht eben nicht. Der Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Mittel ({3}) ist der richtige Ansatz. Wir kehren mit der zur Verfügung gestellten Summe auf den Pfad zurück, Herr Heil, der 2006 eingeschlagen wurde. ({4}) Wir haben heute bereits 300 000 Bedarfsgemeinschaften weniger im SGB II, in der Langzeitarbeitslosigkeit als 2006. ({5}) Das heißt, wir haben mehr Geld zur Verfügung für weniger Menschen, die Hilfe brauchen. Die behutsame Zurückführung der Mittel ist also richtig. ({6}) Die Chancen für die Langzeitarbeitslosen waren noch nie so gut wie heute. Der Arbeitsmarkt brummt, er ist robust, die Zahl der Arbeitslosen liegt unter der 3-Millionen-Grenze. Was mir ganz wichtig ist: Wir haben bei jeder Krise in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren, angefangen bei den Ölkrisen, einen konstanten Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit, der verfestigten Arbeitslosigkeit, zu verzeichnen gehabt. Zum allerersten Mal ist jetzt die Sockelarbeitslosigkeit, die verfestigte Arbeitslosigkeit, gesunken. Es sind heute 100 000 Langzeitarbeitslose weniger als vor der Krise. Das zeigt, was möglich ist. Die Menschen müssen in Arbeit vermittelt werden; wir sollten nicht darüber diskutieren, wie wir sie in der Passivität halten, sondern darüber, wie wir ihnen im Zuge des Aufschwungs auf dem Arbeitsmarkt Chancen geben. ({7}) Wir brauchen jeden. Wir gehen auf eine sehr riskante Fachkräftelücke zu. Wir wissen, dass die Arbeitsgesellschaft älter und zahlenmäßig geringer wird. Aber das muss kein unüberwindbares Problem sein, sondern es kann eine Chance sein für diejenigen, die bisher am Rand standen: für die Frauen, für Ältere, vor allem für benachteiligte Kinder und Jugendliche. ({8}) Deshalb muss nach dem Fördern und Fordern der Agenda 2010 - das ja richtig ist - das neue Thema für das Jahr 2020 vor allem das Bildungspaket für bedürftige Kinder sein; ({9}) das muss das große Motto dieses Landes werden, meine Damen und Herren. ({10}) Ich sage noch einmal: Der Weg war richtig. Der Weg zu dem robusten Arbeitsmarkt, den wir heute haben, setzt sich zusammen aus den Arbeitsmarktreformen, die damals von Bundesrat und Bundestag gemeinsam verabschiedet worden sind, ({11}) und einem klugen Krisenmanagement der Regierung Merkel in den letzten fünf Jahren. ({12}) Wir sind aus der Krise stärker herausgegangen, als wir hineingegangen sind. Wir sollten heute anerkennen, dass das hervorragend gewesen ist. ({13}) In dem Geiste, dass man die großen Schritte nie alleine schafft - keiner hat den Stein der Weisen -, sondern dass wir die Vernünftigen in der Mitte zusammenführen müssen, bitte ich Sie, dass wir uns frühzeitig zusammensetzen, damit wir in den Verhandlungen etwas Vernünftiges zustande bringen. Wir sollten nicht im Vermittlungsausschuss im Dezember bei Themen, die miteinander nichts zu tun haben, Abmachungen treffen, sondern vernünftig und konkret an den großen Themen, an denen uns allen hier im Hohen Hause liegt, arbeiten. Die Tür ist offen. Ich bin verhandlungsbereit. Kommen Sie mit auf den Weg zu Aufstieg durch Bildung und zum Bildungspaket für die Kinder. Das muss das Motto der nächsten zehn Jahre sein. Danke schön. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Anette Kramme für die SPD-Fraktion. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau von der Leyen, Sie tricksen und manipulieren, Sie täuschen und wecken Illusionen. ({0}) Sie gelten als Lichtschein dieser Ministerriege, tatsächlich sind Sie die Scheinheilige in dieser Ministerriege. ({1}) Das fängt damit an, dass Sie fix an die Presse gehen und sich mit Arbeitsmarkterfolgen rühmen, mit denen Sie nichts zu tun haben. ({2}) Vielmehr gehen die Arbeitsmarkterfolge auf Gerhard Schröder, ({3}) auf die hervorragende Kriseninterventionspolitik von Peer Steinbrück und auf die Regelungen zum Kurzarbeitergeld von Olaf Scholz zurück. ({4}) Kommen wir zu den Regelsätzen. Das gerade genannte Thema, bei dem Sie sich rühmen, ist nur begrenzt relevant; da geht es nur um Zahlen. Aber bei den Regelsätzen geht es um Inhalte. Was machen Sie dort? Wie gesagt: Sie tricksen und manipulieren. Sie verändern die Bezugsgruppe für das Ausgabeverhalten von den unteren 20 auf die unteren 15 Prozent der Einkommensskala. Das ist eine Verschlechterung gegenüber der bisherigen Situation. Sie nehmen Aufstocker in die Bezugsgruppe, also Menschen, die unter Umständen nur einen einzigen Euro mehr verdienen als die Empfänger von Regelsatzleistungen. Sie schließen die verdeckt Armen nicht aus der Bezugsgruppe aus, obwohl das eine explizite Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes ist. Vor allen Dingen wecken Sie den Anschein, dass Sie für Kinder und Erwachsene etwas tun. Um was geht es da? Die Verbesserung für Erwachsene besteht darin, dass sich diese pro Monat einen zusätzlichen Kasten Wasser kaufen können. ({5}) Ansonsten findet nichts statt. Was wird dank der Neuberechnung der Regelsätze für Kinder getan? Für alle gibt es nur dieses Teilhabepaket. Wenn ich mir Ihren Vortrag von vorhin in Erinnerung rufe, frage ich mich nicht nur, ob Sie Illusionen erweckt haben, sondern auch, ob Sie tatsächlich in Illusionen leben. Dieses Teilhabepaket ist objektiv betrachtet untauglich. Zunächst einmal löst es Verwaltungskosten von sage und schreibe 137 Millionen Euro aus. Man kann sagen, dass diese Verwaltungskosten zu akzeptieren sind, weil es letztlich Kindern zugutekommt. ({6}) Wenn ich mir aber vor Augen halte, dass Kinder von diesem Teilhabepaket nichts haben, wird es schlimm. Aus diesem Teilhabepaket wird nur die Mitgliedschaft in Vereinen finanziert, aber nicht die entsprechende Sportausrüstung. Sie schaffen die Möglichkeit der Mitgliedschaft in einem Musikverein, aber zahlen nicht für ein Musikinstrument. Sie ermöglichen nicht die Erstattung von Mobilitätskosten. Das heißt, der Geldbetrag, den Sie in diesen Haushalt für das Paket einstellen, ist eine Luftnummer. Denn dieses Teilhabepaket kann von Kindern nicht in Anspruch genommen werden. ({7}) Sie sagen, dass wir etwas für Langzeitarbeitslose tun müssen. Die Kanzlerin sagt sogar: Bildungsausgaben müssen gesteigert werden. Aber wie sieht die bittere Realität aus? Die Arbeitsmarktpolitik wird erbarmungslos zusammengestrichen. Im nächsten Jahr werden allein im Bereich des SGB II 1,5 Milliarden Euro fehlen. Sie haben recht: Wir brauchen eine Übergangslösung. An dieser Übergangslösung muss man mitarbeiten; das ist selbstverständlich. ({8}) Aber es geht um viel mehr. Wir brauchen soziale Infrastruktur, die nicht nur Kindern aus dem SGB-II-Bezug hilft, sondern allen Kindern aus bildungsfernen Haushalten. ({9}) Das heißt beispielsweise, dass Sie den Kommunen, statt sie weiter auszuräubern, endlich Geld dafür zur Verfügung stellen können, damit sie das Kinderkrippenprogramm umsetzen müssen. Das führt dazu, dass man zuvörderst ein Augenmerk auf Ganztagsschulen lenken muss, die die Kinder individuell fördern. Dabei können im Übrigen Vereine mit einbezogen werden. Dazu gehört für mich auch, dass man nicht nur 20 Prozent der SGB-II-Kinder ein Mittagessen stellt, sondern weitaus mehr Kindern. Das heißt, dass wir beispielsweise ein Mensenprogramm in der Bundesrepublik Deutschland brauchen. Wenn wir uns das anschauen, kann man nur sagen: Sie versagen auf der ganzen Linie. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Sebastian Blumenthal für die FDPFraktion. ({0})

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Kramme, zu Ihrem Beitrag muss ich sagen: Ich bin mir im Moment nicht sicher, ob eher die völlig schrille, überdrehte Tonlage oder die billige Polemik abstoßender war. ({0}) Das war mit Sicherheit kein verantwortungsvoller Beitrag zur Debatte, die wir heute in diesem Haus führen. Deshalb möchte ich auf den Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen zu sprechen kommen - Herr Kuhn, Sie haben ihn ja angenehm sachlich eingebracht -, und dazu möchte ich ein paar Anmerkungen machen. Zum einen stellen Sie in dem Antrag die Menschenwürde in den Mittelpunkt. Das ist eine Klarstellung, die ich gern unterstreichen und hervorheben möchte. Ich gehe davon aus, dass das auch die Meinung der hier im Plenum versammelten Allgemeinheit ist. Vor allem freut mich, dass diese Feststellung im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Hinblick auf das Sozialgesetzbuch II aufgeführt wird. Unter Rot-Grün ist das ja 2004 auf den Weg gebracht worden, und damals waren dazu keinerlei oder nur wenige Hinweise zu finden. Ich darf jetzt einmal aus dem Beitrag zitieren, den wir von der christlich-liberalen Koalition aufgeführt haben. In § 1 Abs. 1 heißt es - ich zitiere -: Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es allen Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. ({1}) - Es freut uns, dass das auch bei Ihnen Zustimmung findet. Meine Damen und Herren, wir möchten damit endlich, nach über sechs Jahren, im SGB II eine Klarstellung formuliert sehen, die überfällig gewesen ist. In dem Antrag der Grünen, in dem Sie auch eine Neuregelung der Grundsicherung für Arbeitsuchende im Detail aufführen, gibt es einen quantitativen Unterschied. Denn Sie führen einen Regelsatz in Höhe von 420 Euro an. Der von Ihnen vorgelegte Antrag lässt aber weitgehend offen, wie sich diese 420 Euro konkret begründen. ({2}) Ich gehe davon aus, dass dabei die Zahlen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands die Grundlage für Sie sind. Hierzu möchte ich einmal ein paar Punkte aufgreifen; denn die Differenz zwischen den vom DPWV errechneten 420 Euro und der Regelsatzhöhe von 364 Euro, die wir hier aufgenommen haben, lässt sich an zwei Positionen ganz konkret identifizieren. Der erste Posten sind die alkoholischen Getränke und die Tabakwaren. Der DPWV hat hier knapp 20 Euro berücksichtigt. Der zweite Posten sind die Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen, die mit etwas über 25 Euro veranschlagt werden. Hier hat das Verfassungsgericht übrigens klargestellt, dass der Gesetzgeber einen freien Gestaltungsraum hat, den wir auch genutzt und entsprechend begründet haben. ({3}) Eine weitere Komponente ist der Posten Nachrichtenübermittlungskosten. Das ist ein Punkt, den wir dort ergänzt haben. Wir ermöglichen eben auch die aktive Teilhabe an der Kommunikations- und Informationsgesellschaft. Wir haben dort den Regelsatz für Erwachsene mit 32 Euro pro Monat eingestellt. Aktuell erhalten Sie in allen Regionen in Deutschland Telefon- und DSL-Flatratetarife für 20 Euro, sodass wir der Meinung sind, dass wir bei einer Bemessung von 32 Euro für Telefon, Internet und Porto von einer angemessenen Regelsatzdefinition sprechen können. Dann kommen wir zu einer Lücke, die ich in den Zahlen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, auf die Sie sich ja beziehen, erkannt habe. Sie wählen hier als Referenzwert für die Berechnung der Regelsätze für Nachrichtenübermittlung bei den Kindern unter sechs Jahren 20 Euro pro Monat. Wir sprechen über die Altersgruppe der Kleinstkinder, also über noch nicht schulpflichtige Kinder. Diese haben mit Sicherheit ganz eigene Kommunikations- und Ausdrucksformen. Erfahrungsgemäß gehört der regelmäßige Umgang mit Telefonie und DSLBetrieb aber nicht zwingend dazu. ({4}) Sie müssten uns schon einmal erklären, wie Sie zu dieser Position kommen, wie sich das im Detail zusammensetzt. Offensichtlich gibt es bei Ihnen noch Klärungsbedarf, auch was das Zahlenmaterial betrifft; auf diese Klärung freue ich mich. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege.

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich werde die weitere Debatte und die Beratungen im Ausschuss sehr aufmerksam begleiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich wollte Ihnen gerade die Chance zur Verlängerung Ihrer Redezeit geben. Die Kollegin Kipping würde Ihnen nämlich gerne eine Frage stellen.

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich verzichte auf die Frage und ermögliche uns so den weiteren Fortgang der Debatte. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Dann erteile ich das Wort Kollegen Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir scheint, dass die Diskussionen über das SGB II eine Neverending Story, eine immerwährende Geschichte, sind. In diesem Jahr haben wir die Organisationsreform durchgeführt. Mein herzlicher Dank gilt der SPD für die Kooperation, die an dieser Stelle möglich war. Jetzt diskutieren wir über die Höhe der Bedarfssätze; diese Debatte ist einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts geschuldet. Wir haben die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts erfüllt. Wir haben die Höhe der Bedarfssätze neu berechnet. Sie ist transparent und nachvollziehbar und wurde nicht ins Blaue hinein geschätzt. ({0}) Ich habe mich an der einen oder anderen Stelle gefragt, ob es für die SPD nicht viel problematischer gewesen wäre, wenn die Bedarfsschätzung erheblich höher ausgefallen wäre. Denn dann hätte sich die Frage gestellt: Wie habt ihr eigentlich 2006 die Bedarfssätze ermittelt? ({1}) Es kam aber heraus: Das Ministerium hat damals sehr sorgfältig gearbeitet und ist sehr nah an den tatsächlichen Bedarf herangekommen. Es ist festzustellen: Die Bedarfssätze sind sauber, nachvollziehbar und angemessen berechnet. ({2}) In Zuge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts hatten wir natürlich die Möglichkeit, bestimmte Wertungen vorzunehmen; das haben wir auch getan. Einige Bestandteile haben wir aus der Berechnung der Bedarfssätze herausgenommen, zum Beispiel Schmuck, Lieferservice für Speisen und Getränke, ({3}) Geldstrafen und gebührenpflichtige Verwarnungen sowie Alkohol und Tabak. ({4}) Bei all dem ist nicht unbedingt und nicht notwendigerweise von einem Grundbedarf auszugehen. Herr Kuhn, die Art und Weise, wie Tabak und Alkohol von den Grünen bisweilen verteidigt worden sind, zeigt mir: Da ist offensichtlich keine Partei am Werke, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt, ({5}) sondern Sie benehmen sich an dieser Stelle wie Interessenvertreter des Bundesverbandes deutscher Freizeithedonisten. ({6}) Wir haben bei der Berechnung der Regelsätze andere Elemente berücksichtigt - der Kollege hat sie eben erwähnt -, zum Beispiel Kommunikationskosten, Gebühren für Kurse und außerschulischen Unterricht. Auch hier ist sicherlich nicht unbedingt von einem Grundbedarf auszugehen. Aber diese Kosten entstehen, wenn sich Menschen bemühen, aus Hartz IV herauszukommen. Dass diese Kosten bei der Berechnung der Regelsätze berücksichtigt werden, ist wichtig und richtig. Wir wollen die Menschen, die von Hartz IV leben, ermutigen, diese Situation zu überwinden. Bildung ist - hier gebe ich der Ministerin recht - die Agenda 2020. Mit diesem Gesetzentwurf legen wir sie vor. Ich möchte diese Aussage zuspitzen. Bei Ihnen gab es einen Lieferservice für Speisen und Getränke und steuersubventionierte Rausch- und Genussgifte, bei uns gibt es Bildung, Bildung, Bildung. ({7}) Ich lade Sie ein, sich selbst einmal die Frage zu stellen, welch unterschiedliche Menschenbilder darin zum Ausdruck kommen und welches Menschenbild Ihrer Vorgehensweise an dieser Stelle zugrunde liegt. ({8}) Meine Damen und Herren, wir trauen den Menschen etwas zu. In diesem Zusammenhang ist es, wie ich glaube, sinnvoll, auf den Antrag der Grünen einzugehen, über den wir in den parlamentarischen Beratungen in den Ausschüssen noch diskutieren werden. In diesem Antrag findet sich viel neuer Wein in alten Schläuchen; das ist auch völlig in Ordnung. Aber über einen Aspekt lohnt das Nachdenken in der Tat, Herr Kuhn: über die Aufhebung des Kooperationsverbotes im Bildungsbereich. Diesen Gedanken finde ich sehr sympathisch. Wir alle sind uns einig: Es ist besser, zu arbeiten, als ALG II zu beziehen. Häufig ist nicht der Mangel an Geld das Problem, sondern der Mangel an Anerkennung und der Mangel an Möglichkeiten der sozialen Interaktion, häufig auch das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Dies ist das eigentliche Problem der Arbeitslosigkeit. ({9}) Deswegen freut es mich, dass wir in dieser Woche die neuen Arbeitsmarktzahlen bekommen haben. ({10}) Die Arbeitslosenzahl ist auf dem niedrigsten Stand seit 1992. Die Experten sagen mittlerweile, Vollbeschäftigung sei möglich. Die Welt titelte am 28. Oktober 2010: „Deutschland auf dem Weg in die Vollbeschäftigung“. Die Bild-Zeitung schrieb am gleichen Tag: „Kommen jetzt zehn goldene Jahre?“ Dabei beruft sie sich auf Hans-Werner Sinn. Das Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit geht davon aus, dass die nächste Millionenmarke schon in 2012 geknackt wird. Frau Kollegin Ferner, natürlich hat das auch - hiermit hat der ehemalige Bundeskanzler Schröder ja recht - etwas mit den Hartz-Gesetzen, mit der Agenda 2010, zu tun. Umso erstaunlicher ist es, dass große Teile der SPD nun drauf und dran sind, sich davon zu verabschieden. Ich fände es schön, wenn Sie diesen Weg, Menschen in Arbeit zu bringen, Menschen Hoffnung zu geben und sie ihnen nicht zu nehmen, gemeinsam mit uns weitergehen würden. Danke schön.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit verlängern? Die Kollegin Kipping möchte Ihnen durch eine Zwischenfrage die Chance dazu geben.

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Jetzt hat Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für die SPDFraktion das Wort. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP! Ich fange einmal mit dem Positiven an: Gut, dass Sie den Gesetzentwurf endlich eingebracht haben. - Das war es dann aber auch schon. ({0}) Er kommt viel zu spät, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, Herr Kollege Zimmer, werden nicht eingehalten, und mit einer Regelsatzerhöhung von gerade einmal 5 Euro verhöhnen Sie die betroffenen Menschen. Ein so wichtiger Gesetzentwurf soll jetzt bis Januar 2011 im Schweinsgalopp durch den Bundestag und den Bundesrat gepeitscht werden. Eine vernünftige Beteiligung des Parlaments, der Verbände und vor allem auch der Länder ist überhaupt nicht mehr zu erreichen. Monatelang wurde wertvolle Zeit mit Schein-Riesendiskussionen um Chipkarten verplempert. ({1}) Frau Ministerin, warum haben Sie diese Zeit nicht für Verhandlungen mit den Ländern und vor allem mit der SPD genutzt? Sie brauchen die SPD im Bundesrat; denn sonst wird der Gesetzentwurf dort nicht verabschiedet. Das ist ein Lichtblick; denn so besteht noch Hoffnung, mit unserer Hilfe einen „kranken“ Gesetzentwurf zu kurieren, obwohl es dazu schon fast einer Wunderheilung bedarf. ({2}) Wir sehen im Urteil des Bundesverfassungsgerichts große Chancen für mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Deshalb sind wir zu Verhandlungen bereit. Eines ist aber ganz klar: Wir werden nur einem verfassungskonformen Gesetzentwurf unsere Zustimmung geben. Ich verstehe nicht, warum Sie auf unsere Bedenken bezüglich der Rechtmäßigkeit der Regelsätze überhaupt nicht eingegangen sind. „Transparenz“ ist für Sie bei diesem Gesetzentwurf ein Fremdwort. Die Regierung verweigert dem Bundestag die Angabe der Daten, auf denen die Einkommensund Verbrauchsstichprobe basiert. Im Ausschuss haben wir diese Daten eingefordert. Sie haben das abgelehnt und missachten damit das Parlament. ({3}) Genau wie gestern bei der Diskussion über die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke demonstrieren Sie damit eine Arroganz der Macht, die Ihnen nicht gut zu Gesichte steht; ({4}) denn vor allem Sie, meine Damen und Herren von CDU/ CSU und FDP, müssen für die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzentwurfs geradestehen. ({5}) Wir bezweifeln, dass die Referenzgruppen für die Regelsätze richtig gewählt wurden. Wir glauben nicht, dass die Berechnung der Kinderregelsätze verfassungskonform ist. Wir sind davon überzeugt, dass 12,50 Euro je Kind für die Teilhabe an Bildung nicht ausreichen werden. ({6}) 12,50 Euro pro Monat und Kind für Lernförderung, Sport und Musikunterricht: Das ist ein schlechter Witz. ({7}) Erst dachte ich an einen Zahlendreher. Es wäre nicht der erste im Gesetzentwurf. Möglicherweise ist das aber auch ganz ernst gemeint. Wenn ich mir anschaue, was Sie alles tun, um die Löhne in Deutschland immer weiter in den Keller zu drücken, dann muss sich der Musiklehrer vielleicht tatsächlich bald mit einem ganz kleinen Geld zufrieden geben, und die geplanten 12,50 Euro reichen aus. Mit Ihrem Vorhaben, die Zuverdienstgrenze für langzeitarbeitslose Menschen auszuweiten, machen Sie das Tor für Dumpinglöhne und für ein Anwachsen des Niedriglohnsektors weit auf, subventioniert mit Steuergeldern. Ihre hartnäckige Verweigerung bei der Einführung von Mindestlöhnen trägt ebenfalls zum Lohnverfall in Deutschland bei. Hören Sie endlich auf damit, schaffen Sie einen gesetzlichen Mindestlohn! ({8}) Für mehr Bildungsgerechtigkeit brauchen wir eine groß angelegte Ausbauoffensive für Kitas und Ganztagsschulen. Wir haben unter Rot-Grün mit dem 4-Milliarden-Euro-Programm für die Ganztagsschulen gezeigt, wie es geht. Tun Sie es uns nach. Wichtig ist auch, dass mit dem Gesetz keine kostspieligen Doppelstrukturen geschaffen werden. In vielen Kommunen - wie auch bei mir in Lübeck - gibt es bereits gute Netzwerke zur Förderung von Kindern. Diese müssen gestärkt werden. Es kann nicht sein, dass die Jobcenter zu Hilfs-Jugendämtern für Hartz-IV-Kinder umfunktioniert werden. Wir erkennen an, dass der Kabinettsentwurf an dieser Stelle auf eine bessere Schiene gesetzt wurde. Jetzt muss aus der Schiene das richtige Gleis werden. Zu den Regelsätzen. Wir stoßen bei den Erwachsenen-, aber vor allem bei den Kinderregelsätzen auf Systembrüche, die einer Prüfung vor dem Verfassungsgericht nicht standhalten werden. Willkürliche Streichungen und unterschiedliche Auswertungen von Verbrauchspositionen verfälschen die Sätze. ({9}) Für Kinderregelsätze ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe nicht geeignet. Das schreiben Sie selbst in Ihrem Gesetzentwurf.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Warum nehmen Sie unseren Vorschlag vom März nicht auf und richten eine Expertenkommission zur Ermittlung des Existenzminimums für Kinder ein?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Entschuldigung, ich dachte, es gäbe noch eine Zwischenfrage. ({0}) Es ist aber leider nichts gekommen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nein, ich wollte keine Zwischenfrage stellen.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, wir haben viele gute Vorschläge gemacht. Es werden in der nächsten Sitzungswoche weitere folgen. Hören Sie auf uns, dann kann aus dem Gesetz noch etwas Gutes werden. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Uwe Schummer hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren! Das größte Armutsrisiko ist mangelnde Bildung. Das gilt für den Einzelnen, dem Teilhabechancen verloren gehen, und das gilt für die Gesellschaft, die von motivierten und qualifizierten Menschen lebt. Ich denke, das ist - bei aller Kritik, die ich heute gehört habe - auch die Botschaft des Bildungspaketes. Das, was heute mit den Regelsätzen und auch mit dem Bildungspaket verabschiedet wird und weiter diskutiert werden wird, ist bei weitem besser als das, was derzeit noch der Fall ist. Es ist eine Verbesserung, und das können Sie auch einmal zur Kenntnis nehmen. ({0}) Wir wollen eben keine Hartz-IV-Republik, die auf eine permanente Fürsorge ausgerichtet ist. Wir wollen den Ausstieg aus Hartz IV, wir wollen den Aufstieg durch Bildung. Wenn wir heute im Berufsbildungsbericht lesen, dass 1,45 Millionen Schulabgänger bis 29 Jahre ohne jede berufliche Qualifizierung sind, dann kann man nicht so tun, lieber Kollege Rossmann, als seien das allein Unions-Kinder. Da hatten wir alle miteinander in der Vergangenheit und haben heute unsere Hausaufgaben zu bewältigen. Wir alle miteinander! ({1}) Es ist die Frage, inwieweit schon heute Wachstumshemmnisse stattfinden. Es gibt sie, weil nämlich qualifizierte Arbeitnehmer fehlen. Auch das ist eine Frage an uns. Das Bildungspaket ist darauf eine weitere Antwort, die wir miteinander geben. ({2}) Ich habe nicht vergessen, wie, als ich hier im Deutschen Bundestag neuer Abgeordneter war, auch mit den Hartz-IV-Gesetzen 2004 die Berufsorientierung bzw. Berufsberatung von Rot-Grün in Grund und Boden geschossen wurde. ({3}) Wir haben dies alles in der Großen Koalition und jetzt in der christlich-liberalen Koalition korrigiert. Dieses Jahr nehmen Hundertausende von Schülern an der frühzeitigen Berufsorientierung teil, damit sie sich nicht erst zwei oder drei Monate vor der Entlassung, sondern schon zwei oder drei Jahre vorher mit dem Übergang von der schulischen Ausbildung in die berufliche Qualifizierung beschäftigen. Das Konzept der Bildungsketten, das im Zusammenhang mit dieser Debatte zu sehen ist, soll dies systematisch weiter verbessern. Dass wir die Berufsorientierung für die beste Motivation halten, um in der Schule weiter aktiv zu werden, hat dazu geführt, dass die Zahl der Schulabbrecher von 100 000 vor einigen Jahren auf jetzt 60 000 gesunken ist. Das bedeutet mehr Teilhabechancen für die jungen Menschen, die in die weitere Qualifizierung gehen. ({4}) Wir haben kein Geldproblem, sondern ein Kümmerproblem. ({5}) Wer kümmert sich um die Menschen, die permanent eine personale Unterstützung benötigen? Die Debatte über den Regelsatz hilft nicht weiter. Es geht weniger um die Frage, ob wir ihn um 5, 15 oder 50 Euro erhöhen, als darum, wie wir regionale Bündnisse für die jungen Menschen bzw. ein Miteinander der Kräfte vor Ort organisieren können. Gut hilft, wer früh hilft. Das heißt, mit dem Bildungspaket können wir in die Kitas und Schulen gehen und die Sportvereine, die kulturtragenden Vereine sowie die kirchlichen und sozialen Gruppen stärken. Wir unterstützen diese ehrenamtliche, berufliche und nebenberufliche Struktur, um Kräfte zu fördern, die sich um die jungen Menschen kümmern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Schummer, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmann zulassen?

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, aber sie muss kurz sein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Haben Sie eine kurze Frage? - Bitte schön.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schummer, weil Sie sich gerne kümmern, fordere ich Sie auf: Kümmern Sie sich bitte auch darum, dass der Rechtsanspruch auf Förderung eines nachgeholten Hauptschulabschlusses, dem ersten Schulabschluss, in dem aktuellen Gesetzgebungsverfahren nicht unter die Räder kommt! Denn das, was jetzt Recht ist, soll künftig Ermessen werden. Ich bitte Sie ausdrücklich um Unterstützung Ihrer Seite. Kümmern Sie sich darum, dass dieses Recht bleibt! ({0})

Uwe Schummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003631, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich teile Ihre Auffassung. ({0}) Wir werden in der Arbeitsgruppe Bildung und Forschung ambitioniert darüber diskutieren. Ich denke, auch die heutige Beratung ist nicht das Ende der Debatte. ({1}) - Kollege Heil, so lebendig wie heute habe ich Sie in einer Talkshow selten erlebt. - Sie ist nicht das Ende der Debatte, sondern der Beginn einer gemeinsamen Auseinandersetzung, die zu einem Gesamtpaket führen wird. Bitte machen Sie nicht alles nur schlecht nach dem Motto „Früher war alles gut und wir haben alles gemacht, aber heute ist alles schlecht“. Ein bisschen Differenzierung würde dem Klima gerade nach dem gestrigen Tag insgesamt guttun. ({2}) Ich halte die Bildungskarte, die mit dem Bildungspaket entwickelt werden wird, für ein innovatives System. Damit reagieren wir nicht nur auf ein Gerichtsurteil, sondern sie ist auch Bestandteil der Bildungsrepublik, die wir entwickeln wollen. Sie kann Bundesmittel, kommunale und private Gelder miteinander vernetzen. Sie ist ein offenes System, in das weitere Gruppen eingebunden werden. Perspektivisch bietet sie auch die Chance, das Bildungssparen für alle von Geburt an, das wir in der christlich-liberalen Koalitionsvereinbarung manifestiert haben, zu fördern, und hat durch Startkapital, Fördermittel, private Spareinlagen und Zinsen eine große Hebelwirkung. Die Bildungskarte ist in der Zielvorstellung diskriminierungsfrei, da niemand sehen kann, ob es Fördermittel, Sozialgelder oder private Gelder sind, die für Bildungszwecke überwiesen werden. Sie ist auch ein lernendes System, das sich weiterentwickelt. Ich denke, wir sollten uns in der heutigen Debatte zusichern, dass wir neben allen parteipolitischen Schaukämpfen, die gelegentlich stattfinden, im Blick behalten, dass es um das Wichtigste in unserem Lande geht, nämlich um die Menschen, damit wir für sie alle ein vernünftiges und gutes Ergebnis erzielen. Was Frau von der Leyen entwickelt hat, ist eine exzellente Grundlage. Es ist ein guter Tag für die Menschen, die durch Bildung den Aufstieg erreichen wollen. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/3404 und 17/3435 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Anton Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Das Risiko von Altersarmut durch veränderte rentenrechtliche Bewertungen von Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit und der Niedriglohn-Beschäftigung bekämpfen - zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Risiken der Altersarmut verringern - Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose erhöhen - zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verbesserung der Rentenanwartschaften von Langzeiterwerbslosen - zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der DIE LINKE Schutz bei Erwerbsminderung umfassend verbessern - Risiken der Altersarmut verringern - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mindestbeiträge zur Rentenversicherung verbessern, statt sie zu streichen - Drucksachen 17/1747, 17/1735, 17/256, 17/1116, 17/2436, 17/3477 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Als erstem Redner gebe ich dem Kollegen Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer ein Leben lang fleißig gearbeitet hat, soll sich darauf verlassen können, dass ihm im Alter nicht Altersarmut droht, sondern dass er von seinem Alterseinkommen einigermaßen gut leben kann. Es ist uns in Deutschland mit dem Ausbau der Alterssicherung Gott sei Dank gelungen, dass heutzutage gerade 2,5 Prozent der Rentnerinnen und Rentner auf zusätzliche Hilfe des Staates angewiesen sind, weil ihr Alterseinkommen nicht ausreicht. ({0}) Wir wollen, dass auch in Zukunft Altersarmut für die allermeisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn sie in das Rentenalter kommen, ein Fremdwort bleibt. Damit das gewährleistet bleibt, hat es sich diese christlich-liberale Koalition vorgenommen, unser Alterssicherungssystem mit einem zusätzlichen Schutz gegen Altersarmut zu versehen. Das ist eines der wichtigen sozialpolitischen Vorhaben dieser Koalition. Die Bundesregierung wird im Frühjahr nächsten Jahres dazu eine Regierungskommission einsetzen, die konkrete Vorschläge erarbeiten soll. Ich weiß, dass gleich der Zuruf kommen wird: Warum liegt das alles noch nicht vor? Dazu muss ich Folgendes sagen: Was in elf Jahren unter der Ägide sozialdemokratischer Arbeits- und Sozialminister nicht erledigt wurde, ({1}) kann eine neue Regierung nicht in einem Jahr aufarbeiten; das kann man nicht verlangen. Aber ich sage Ihnen zu: Wir wollen das in dieser Legislaturperiode erledigen. ({2}) Ich kündige des Weiteren an, dass wir in dieser Regierungskommission selbstverständlich all die Vorschläge Peter Weiß ({3}) der Oppositionsfraktionen, die nun als Antrag vorliegen, in die Prüfung einbeziehen werden. ({4}) Nur, ich hätte heute viel lieber erklärt, dass wir die Vorschläge der Opposition übernehmen werden. ({5}) Allerdings hat die Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales mit einer Reihe von Fachexperten ergeben, dass diese Vorschläge mit einer Reihe von Mängeln behaftet sind. Ich will kurz zitieren, was die Experten gesagt haben. Der Sachverständige der Deutschen Rentenversicherung erklärte: Deswegen muss man allen Regelungen, die in der gesetzlichen Rentenversicherung darauf gerichtet sind, über die Aufstockung von Anwartschaften Altersarmut zu vermeiden, generell ein Problem mit der Zielgenauigkeit attestieren. Genau so ist es. Die Vorschläge der Opposition funktionieren nach dem Gießkannenprinzip und sind nicht zielgenau. In einem modernen Sozialstaat kann man aber nicht mit der Gießkanne irgendwelche Segnungen ausschütten, die dann hoffentlich helfen. Ein moderner Sozialstaat funktioniert so, dass man demjenigen Hilfe präzise gewährt, der sie braucht. Man darf Mittel nicht verschwenden. ({6}) Herr Professor Eekhoff hat generell festgestellt: „Es sind dies keine Anträge, die Altersarmut verhindern.“ Entschuldigung, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, aber angesichts solch grundlegender Kritik der Fachleute an Ihren Anträgen können wir Ihren Mogelpackungen nicht zustimmen. ({7}) Nun liegt ein besonderes Augenmerk auf der sozialen Sicherung derjenigen Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen. Es wird kritisiert - auch gestern in der Debatte über das Haushaltsbegleitgesetz -, dass die Zahlungen des Staates in die Rentenversicherung zugunsten der Arbeitslosengeld-II-Bezieher abgeschafft werden sollen; das ist richtig. Aber die 2,09 Euro, die aus solchen Zahlungen als Rentenanspruch erwachsen, haben jemanden, der lange Arbeitslosengeld II bezieht, schon bislang nicht davor bewahrt, im Alter Grundsicherung zu beantragen. ({8}) Das wird auch in Zukunft so sein. Aber wir haben gestern eine wichtige Neuregelung für die Bezieher von Arbeitslosengeld II beschlossen. Danach werden die Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II selbst dann, wenn staatlicherseits keine Zahlungen mehr für Arbeitslosengeld-II-Bezieher in die Rentenversicherung erfolgen, in der gesetzlichen Rentenversicherung angerechnet. Hierdurch werden Lücken in der Versicherungsbiografie vermieden und insbesondere bestehende Anwartschaften auf Erwerbsminderungsrente oder Leistung zur Teilhabe aufrechterhalten. Wer also schon einmal als Arbeitnehmer in die Rentenversicherung einbezahlt hat, dann aber leider arbeitslos wird, der behält aus dieser Zahlung die vollen Ansprüche an die Rentenversicherung. Insbesondere auch dann, wenn er krank wird, nicht mehr arbeiten gehen kann, eine Erwerbsminderungsrente beantragen will, kann er diese Erwerbsminderungsrente auch weiterhin beantragen. Ja, es ist sogar so: Diese Neuregelung, die wir gestern beschlossen haben, führt dazu, dass sein Anspruch auf Erwerbsminderungsrente höher ist, als er bei der Beibehaltung des alten Rechts wäre. Also: Für Arbeitslosengeld-II-Bezieher, die krank werden, die Erwerbsminderungsrente beantragen wollen, haben wir gestern die Leistungen verbessert und nicht verschlechtert. ({9}) Das zeigt den wesentlichen Unterschied, der zwischen den verschiedenen politischen Parteien in der Sozialpolitik besteht. Wir, die neue Koalition aus CDU, CSU und FDP, verteilen nicht irgendwelche wohlklingenden Placebos, die dann keine nachhaltige Wirkung erzielen, wir helfen gezielt dem, der sich selbst nicht helfen kann, zum Beispiel weil er krank oder behindert ist. Er kann sich auch in Zukunft auf die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung verlassen. Ich glaube, das ist die wichtigste Zusage, die ein Sozialstaat geben kann. Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Anton Schaaf hat das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Peter Weiß, in der Tat ist es so, dass die Anträge, die hier vorliegen, die zukünftige Altersarmut nicht verhindern werden. Denn Altersarmut, Armut, hat Ursachen. Die liegen in der Regel im Erwerbsleben, in der Erwerbstätigkeit, in unterbrochenen Erwerbsbiografien. ({0}) Hier geht es tatsächlich darum, mit schon vorhandener Altersarmut umzugehen, jetzt konkret Altersarmut abzumildern und zu lindern. In der Tat, wenn wir darüber reden, was die Regierung denn macht, was die Regierungskoalition macht, um drohende Altersarmut zu verhindern, müssen wir feststellen: Da besteht das Versagen dieser Regierung, genau an dieser Stelle. Da geht es nämlich darum, dass Menschen durch ihre Erwerbsbiografien, aus der Arbeit und den Löhnen, die sie dafür erhalten, anständige Beiträge zahlen können, um über diese Beiträge auch vernünftige Ansprüche erwerben zu können. An der Stelle versagen Sie komplett. Sie sind eine Ursache für drohende Altersarmut. Das ist der entscheidende Punkt. Darüber müssen wir uns im Klaren sein. ({1}) Ich sage Ihnen einmal etwas: Das DIW hat für die Jahrgänge 1952 bis 1971 im Osten der Republik berechnet, dass bei den Männern 31,4 Prozent und bei den Frauen 46,6 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Rente unterhalb von 600 Euro erhalten werden. Da ist Altersarmut sehr konkret. Die Frage ist: Was tun Sie gegen diese drohende Altersarmut? Jetzt konstatiere ich, dass man sich natürlich darauf konzentrieren muss, einige Sachen zu machen. Die Frau Ministerin hat gesagt, in diesem Jahr würde sie außer SGB II nichts machen, da sie dafür keine Kapazitäten habe. - Na ja, das Ministerium scheint mir kleiner geworden zu sein, es gibt da verschiedene Abteilungen. Aber unabhängig davon ist es völlig in Ordnung, dass man sich in der Koalition zusammensetzt und überlegt, wie man beispielsweise das Thema Altersarmut angehen kann. Aber ganz konkret geht es hier um den Vorschlag, den die SPD-Fraktion dazu gemacht hat, nämlich ein bewährtes Mittel, um jetzt Menschen vor Altersarmut zu schützen, die Rente nach Mindestentgeltpunkten, einfach für einige Jahre fortschreiben, bis man andere Lösungen gefunden hat, um drohende Altersarmut generell zu verhindern. Aber auch an dieser Stelle wollen Sie - wie gerade eben sehr deutlich gesagt - nicht mitmachen. Bei der Frage Arbeitslosengeld II und Rentenversicherungsbeiträge, Kollege Weiß, haben Sie ja recht. Bei dem Betrag, der da gezahlt wird, kommt ein Anspruch von 2,09 Euro monatlich heraus. Das wird Altersarmut nicht verhindern. Aber was auch noch daran hängt, sind die Leistungen, die sich aus der Beitragszahlung ergeben. Jetzt hat Gott sei Dank die Koalition begriffen - auch auf Intervention der Oppositionsparteien -, dass es so ist, dass die Ansprüche auf Erwerbsminderungsrente da mit dranhängen, Ansprüche auf Reha und Ähnliches, und hat da korrigiert. Am Mittwoch haben Sie übrigens gesagt, Sie hätten das schon getan, gestern haben Sie es dann getan. Unabhängig davon haben Sie es ja Gott sei Dank verstanden. Dann sagen Sie hier, die Ansprüche bei Erwerbsminderungsrente wären jetzt für die Betroffenen höher. Bei Beitragslosigkeit können die Ansprüche aber nicht mehr wachsen. In der Tat werden die Ansprüche zunächst einmal etwas höher; aber man kann nicht weiter Ansprüche ansparen. Deswegen sind Beitragszahlungen so wichtig. Es ist daher falsch, die 1,8 Milliarden Euro Zuschuss an die Rentenversicherung zu streichen. Vor dem Hintergrund Ihres immer wieder vorgetragenen Mottos „Mehr Netto vom Brutto“ - damit haben Sie Wahlkampf betrieben - ist es nicht nachvollziehbar und nicht in Ordnung, dass die Langzeitarbeitslosen keinen Zuschuss zur Rentenversicherung mehr bekommen. Zwar sparen Sie, die Regierung, an dieser Stelle - das ist schon richtig -; dafür zahlen müssen aber die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber, da die Rentenversicherungsbeiträge in Zukunft nicht von 19,9 Prozent auf 19,3 Prozent abgesenkt werden können. Für die Arbeitnehmer kommt dabei am Ende definitiv weniger Netto vom Brutto heraus. ({2}) Das ist der entscheidende Punkt. Sagen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern sehr deutlich, dass deren Rentenversicherungsbeiträge nicht abgesenkt werden können, weil die Regierung zulasten von Arbeitslosen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ihr Sparprogramm durchdrückt. ({3}) Herr Weiß, Sie haben gesagt: Wer ein Leben lang gearbeitet hat, muss am Ende auch einen vernünftigen Anspruch auf Rente haben, also auf eine Rente, von der er leben kann. Das ist schon richtig; da gebe ich Ihnen ausdrücklich recht. Es gibt aber schon jetzt Hunderttausende von Menschen, die jeden Tag arbeiten gehen und am Ende des Monats von dem Geld, das sie verdient haben, nicht leben können und die zusätzliche Leistungen in Anspruch nehmen müssen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zu solchen Bedingungen arbeiten müssen, können sich überhaupt keinen vernünftigen Rentenanspruch erarbeiten; es funktioniert nicht. Was machen Sie? Sie weiten willkürlich die Zahl derer aus, die unter solchen Bedingungen arbeiten und sich zusätzlich bei staatlichen Leistungsträgern Geld abholen müssen, indem Sie die Zuverdienstgrenzen anheben. Diese Menschen werden in der Regel keine vernünftigen Ansprüche auf Rente erwerben können. Da hilft auch keine private Zusatzvorsorge - wir haben sie gefördert und auch gewollt -, weil sie nicht in der Lage sind, dafür anzusparen. Das ist doch das Problem. Man muss Altersarmut präventiv verhindern. Das heißt im Klartext: Menschen, die arbeiten, müssen anständige Löhne bekommen. An dieser Stelle verweigern Sie sich komplett. ({4}) Der Verfall der Löhne und die Zunahme von prekärer Beschäftigung werden die Ursachen für steigende Altersarmut sein. Ich spreche die Sozialdemokratie nun nicht von allem frei; aber die Frage, was nach dem SGB II zumutbar ist, hat Rot-Grün damals gesetzlich geregelt - manche wollen sich geschichtlich aus der Verantwortung stehlen; das gilt insbesondere für Sie, meine Damen und Herren von der Union -: Zumutbar ist jede Arbeit, die ortsüblich oder tariflich entlohnt wird. Sie haben über den Bundes7494 rat daraus gemacht, dass jede Arbeit zumutbar ist, die nicht sittenwidrig ist. Übrigens steht auch in Ihrem Koalitionsvertrag: Arbeit ist zumutbar, wenn sie nicht sittenwidrig ist. Sittenwidrig ist ein Lohn nach der rechtlichen Definition, wenn er ein Drittel geringer ist als der ortsübliche oder der tarifliche Lohn. Was heißt das beispielsweise für die Friseure in Sachsen? Sie haben einen Stundenlohn von 3,70 Euro. Sie, Koalition und Regierung, sind damit einverstanden, dass sie um die 2 Euro bekommen. Ich sage Ihnen: schon 3,70 Euro, 4 Euro, 5 Euro sind sittenwidrig. Wir müssen diesen Zustand beenden. ({5}) Solange Sie sich nicht auf den Weg machen, dafür zu sorgen, dass die Ursache von Altersarmut - sie liegt in der Regel im Erwerbsleben - dadurch beseitigt wird, dass Menschen anständige Löhne für die Arbeit, die sie leisten, bekommen, werden Sie bei der Bekämpfung von Altersarmut auch nicht erfolgreich sein können, zumal Sie die Instrumente, die die Opposition vorgeschlagen hat, ablehnen. Diese Instrumente werden zwar unterschiedlich bewertet, aber es gibt eine Gemeinsamkeit: Mit ihrem Einsatz bemüht man sich ernsthaft darum, denen zu helfen, die jetzt nicht genug Altersansprüche haben. An dieser Stelle bleiben Sie bisher jede Antwort schuldig. Die Kommission soll Sie dabei ein Stück weiterbringen. Diese Hoffnung habe ich allerdings nicht. Ihnen geht es bei dem, was Sie da beschließen, nämlich darum, dass jeder Mensch hier Arbeit hat, wobei die Bedingungen, zu denen die Menschen arbeiten, ruhig schlecht sein können, was dazu führen kann, dass man für das Alter nicht genügend Ansprüche erwirbt. So wird man Altersarmut definitiv nicht verhindern können. Ich befürchte, wenn Sie die Ursache des Problems nicht beseitigen, nutzt Ihre Kommission nichts. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Dr. Heinrich Kolb hat jetzt das Wort für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte gern auf die Argumente des Kollegen Schaaf eingehen. Herr Kollege Schaaf, Ihr erster Punkt war, dass Sie gesagt haben, es müssen anständige Löhne gezahlt werden. Ich möchte zunächst einmal darauf hinweisen, dass die Idee, einen Niedriglohnsektor in Deutschland einzuführen, nicht unsere Idee gewesen ist, sondern es war die Idee des Bundeskanzlers Schröder, der damals gesagt hat: Um 5 Millionen Arbeitslosen in Deutschland neue Beschäftigungschancen zu eröffnen, müssen wir da, wo nur geringe Qualifikationen gegeben sind, dafür sorgen, dass auch geringere Löhne möglich sind. - Das war Ihre Tat. Heute muss man feststellen: Sie waren erfolgreich. Es sind viele Menschen mit geringer Qualifikation - allerdings auch zu geringeren Löhnen in Beschäftigung gekommen. ({0}) Der zweite Punkt ist, dass Sie sagen: Wenn wir einen Mindestlohn einführen, haben wir alle Probleme gelöst. Da will ich einfach einmal aus der Anhörung zitieren, die im September stattgefunden hat, und zwar aus der schriftlichen Stellungnahme des IAB, des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg - kein Zentralorgan der FDP -, Drucksache 17({1})263. Da heißt es: Ein gesetzlicher Mindestlohn verbessert zwar die Einkommensposition der betroffenen Personen. Die Beiträge zur Rentenversicherung und somit auch die Höhe der zukünftigen Rentenzahlungen würden allerdings nur dann mit Sicherheit steigen, wenn man vernachlässigt, dass von einem gesetzlichen Mindestlohn auch ({2}) Beschäftigungswirkungen ausgehen können und nicht alle Personen, die den Mindestlohn erhalten, weiter beschäftigt bleiben. Auf der Folgeseite steht: Bei einer Höhe eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns von 10 Euro muss allerdings mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die negativen Auswirkungen überwiegen und bestehende Beschäftigungsverhältnisse abgebaut bzw. neue verhindert werden. ({3}) Sosehr ich es bedauerlich finde, wenn eine Friseuse in Sachsen - übrigens auf der Basis eines Tarifvertrages, der die Unterschriften von Arbeitgebern und Gewerkschaften gleichermaßen trägt, sonst wäre es nämlich kein Vertrag - für 3,70 Euro arbeiten muss, die Vorstellung, dass dieses Beschäftigungsverhältnis auch dann weiterbestehen würde, wenn Sie zusammen mit der vereinigten Linken einen Mindestlohn von 10 Euro einführen, ist wirklich abenteuerlich. Das muss man hier sagen. Deswegen ist das kein tragfähiger Ansatz zur Beseitigung des Problems. ({4}) Drittens. Die gesetzliche Rentenversicherung, Herr Kollege Schaaf, ist wichtig. Aber allein über die gesetzliche Rentenversicherung die Probleme in den Griff bekommen zu wollen, ist ebenfalls nicht möglich. ({5}) - Ich sage das, weil Sie als zweites Instrument genannt haben: Wir haben doch die Rente nach MindesteinkomDr. Heinrich L. Kolb men, lasst uns das doch weitermachen. - Es gab gute Gründe, warum wir uns dafür entschieden haben, diese Rente nach Mindesteinkommen zu beenden - nicht nur, weil sie sehr teuer ist und erhebliche Beitragsgelder verschlingt - das könnte man noch akzeptieren -, aber sie ist auch ein erheblicher Verstoß gegen das Äquivalenzprinzip. Es ist doch die tragende Säule unserer gesetzlichen Rentenversicherung, dass Rente in dem Maße gezahlt wird, wie man zuvor auch Beiträge geleistet hat. Jemand, der aufwertet - so wie Sie es vorschlagen -, nimmt zwangsläufig in Kauf, dass es Überholvorgänge gibt. Es ist eben nicht akzeptabel, dass jemand, der einen geringeren Anspruch hat, nach Ihrem Eingriff plötzlich einen höheren Rentenanspruch hat als jemand, der vorher regulär höhere Beiträge gezahlt hat. Das ist für uns nicht akzeptabel. Deswegen sind wir nicht bereit, die Regelung zur Rente nach Mindesteinkommen zu verlängern. ({6}) Der vierte Punkt ist: Ich glaube, wir müssen in der Diskussion auf den Boden kommen und das Problem einmal realistisch beschreiben. Das heißt, dass man nicht jedem, der einen niedrigen Rentenanspruch hat, tatsächlich über Eingriffe in die gesetzliche Rentenversicherung beispielsweise eine höhere Gesamtvorsorge versprechen kann. Es ist nämlich so - das sind die Zahlen, Herr Kollege Birkwald, die im Alterssicherungsbericht 2005 vorgelegt wurden; mit Sicherheit gelten die Verhältnisse bis heute -, dass Personen, die aus der gesetzlichen Rentenversicherung im Schnitt einen Anspruch von unter 250 Euro haben, eine Gesamtaltersvorsorge von 1 386 Euro für Männer und 1 012 Euro für Frauen haben. Da muss man fragen, wo die Pflicht des Staates endet, Altersarmut zu beseitigen, bzw. was Altersarmut überhaupt ist. Es können keine anderen Maßstäbe gelten - davon bin ich überzeugt -, als sie auch für Erwerbstätige gelten. Wenn wir da sagen, dass Personen, die 880 oder 900 Euro verdienen, armutsgefährdet sind, wird man den Menschen auch kaum versprechen können, dass sie nach staatlicher Fürsorge oder nach staatlichem Eingriff ein Gesamtalterseinkommen von 1 000 oder 1 200 Euro sicher haben werden. Es ist ganz einfach so: 900 Euro sind eine realistische Summe. Wir haben einen sehr guten Vorschlag gemacht, den ich zum Schluss meiner Redezeit noch vorstellen will: Es gibt bereits heute eine Grundsicherung im Alter, die im Schnitt 680 Euro beträgt; regional kann das etwas abweichen. Wir müssen die Menschen - das ist der präventive Ansatz, den wir verfolgen - dazu anhalten, etwas für ihre eigene Altersvorsorge - privat oder betrieblich - zu tun und sich einen Rentenanspruch aufzubauen. ({7}) Wir müssen ihnen garantieren, dass sie einen Freibetrag von 100 Euro für private und betriebliche Vorsorge und von vielleicht 100 Euro für gesetzliche Rentenbeiträge behalten dürfen, auch wenn sie unter dem Niveau der Grundsicherung liegen. Somit kämen sie auf eine Summe von insgesamt 900 Euro und wären nicht mehr armutsgefährdet. Das ist ein möglicher und finanzierbarer Weg. Zu vielen Vorschlägen, die hier auf den Tisch gelegt worden sind, muss man einfach sagen: Sie sind nicht realistisch. Sie sind falsch, weil die Frage der Bedürftigkeit und der individuellen Vermögenspositionen vollkommen ausgeblendet wird. So kann man es nicht machen. Man muss das Ganze schon ein bisschen zielgenauer justieren. Das wollen und werden wir in unserer Kommission, die im nächsten Jahr ihre Arbeit aufnimmt, tun. Ich glaube, dass wir am Ende dieser Legislaturperiode guten Gewissens sagen können: Wir sind das Problem angegangen und präsentieren Lösungen, die dazu führen, dass in den Jahren 2020 bzw. 2030 die Altersarmut in Deutschland nicht ein so großes Problem ist, wie sie es heute zu werden scheint. Danke. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Matthias Birkwald für die Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Linke will ein Gebäude sozialer Sicherheit errichten, das im Alter den einmal erreichten Lebensstandard sichert und vor Armut schützt. Herr Kolb, ich bin der Meinung, niemand soll im Alter von weniger als 900 Euro leben müssen. ({0}) In den vergangenen zehn Jahren haben die verschiedenen Bundesregierungen - egal ob SPD- oder CDU/ CSU-geführt - nicht nur an der Fassade des bisherigen Gebäudes sozialer Sicherheit gekratzt. Erstens. Sie haben wichtige Bausteine zerstört, indem sie die Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose radikal gekürzt haben. Mit Ihrem sogenannten Sparpaket wollen Sie, meine Damen und Herren von Union und FDP, die Rentenbeiträge jetzt vollständig streichen. Das ist falsch. Wir müssen sie erhöhen. ({1}) Zweitens. Sie haben bisher tragende Elemente ausgetauscht, indem Sie die Riester-Rente erfunden, das Rentenniveau abgesenkt und Abschläge, also Kürzungen, auf die Erwerbsminderungsrente eingeführt haben. Heute reden wir über die Erwerbsminderungsrente. Da gilt: Weg mit den ungerechten Abschlägen. ({2}) Drittens. Sie haben sogar das Fundament ins Wanken gebracht, indem Sie den Niedriglohnsektor ausgedehnt und Billigjobs gefordert und gefördert haben. Wir sagen: Ein sicheres Fundament im Alter gibt es nur mit flächendeckenden gesetzlichen Mindestlöhnen. Die von den Grünen geforderten 7,50 Euro sind nicht genug. Auch die von der SPD geforderten 8,50 Euro reichen nicht aus, um einen Beitrag gegen Altersarmut zu leisten. Dafür braucht man einen Mindestlohn von 10 Euro. ({3}) Die Schäden müssen und können wir beheben, und das möglichst schnell und möglichst gründlich. Schwarz-Gelb hat aber eine recht eigenartige Sicht auf die Dinge. Am 21. Oktober 2010, also vorige Woche, hat das Statistische Bundesamt verkündet, dass die Zahl derer, die auf Grundsicherung im Alter und auf Erwerbsminderung angewiesen sind, erstmals geringer geworden sei, und zwar um 3 800. Das sind 0,5 Prozent weniger als noch 2008. Ich sage: Sie streifen sich eine rosarote Brille über und erklären das, was Sie damit sehen, zur Wirklichkeit. Dabei handelt es sich aber nicht um die Wirklichkeit der Betroffenen. Ihre Basta-Haltung zur Rente erst ab 67 ist ein weiteres besonders erschreckendes Beispiel. Um es ganz klar zu sagen: Sie leisten sich einen verzerrten Blick auf die Wirklichkeit. Den Arbeitslosen, Armen und Alten präsentieren Sie die Rechnung dafür. Das ist nicht in Ordnung. Das muss anders werden. ({4}) Setzen Sie doch Ihre rosarote Brille einfach einmal ab, und wagen Sie einen Blick auf die wirklichen Verhältnisse in diesem Land. Dabei werden Sie nämlich eines feststellen: Altersarmut ist leider bereits heute ein Problem. Das ist die Wirklichkeit. ({5}) Ein ehrlicher Blick auf die Statistik zeigt das: Seit 2003, also seit es die sogenannte Grundsicherung im Alter gibt, ist die Zahl der Betroffenen, also der Menschen, die von durchschnittlich 683 Euro im Monat leben müssen, um - jetzt hören Sie bitte gut zu! - 70 Prozent gestiegen. Diese traurige Entwicklung treiben Sie mit der Rente erst ab 67 und Ihrem aberwitzigen Paket an Sozialkürzungen gewaltig voran. Deshalb lehnt die Linke beides entschieden ab. ({6}) Bei den Rentenbeiträgen für Langzeiterwerbslose offenbaren Sie eine frappierende Tierquälerlogik nach dem Muster: Wir reißen der Fliege erst ein Bein aus und dann noch eines, um schlussendlich ihr Leiden und Leben mit dem Hinweis zu beenden, dass das Tier ohnehin kaum noch zappelt. Denn der Beitrag zur Rentenversicherung ist unter Beteiligung oder Zustimmung von CDU/CSU und FDP systematisch gesenkt worden. Nun hat Bundeskanzlerin Merkel verkündet, dass der verbliebene Rest so gering sei, dass auch er jetzt noch gestrichen werden könne. Herr Weiß hat das hier vorhin für die CDU/CSU wiederholt. Die Linke fordert deshalb, dass aus den mickrigen 2,09 Euro Rentenanspruch nach einem Jahr Hartz IV nicht 0 Euro werden, wie Union und FDP dies durchdrücken wollen, sondern 13,60 Euro; denn das wäre ein kleiner, aber wichtiger Baustein gegen die Altersarmut. ({7}) Ja, wir Linken wollen deutlich mehr soziale Gerechtigkeit. Zugegeben, das ist ein weites Feld. Aber wenn Sie einen Menschen für etwas bestrafen, woran er nicht schuld ist und was er nicht ändern kann, dann werden Sie niemanden auf diesem weiten Feld finden, der sagt: Das ist gerecht, das kann ich rechtfertigen. - Bei der Erwerbsminderungsrente aber passiert genau das: Niemand entscheidet sich dafür, krank zu werden. Niemand kann ernsthaft den Betroffenen die Schuld an ihrer Erwerbsminderung in die Schuhe schieben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Trotzdem werden die Menschen mit drastischen Rentenkürzungen von bis zu 11 Prozent bestraft, wenn sie vor dem 63. Lebensjahr auf eine Erwerbsminderungsrente angewiesen sind.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kommen Sie bitte zum Ende!

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das ist völlig ungerecht. Deshalb müssen wir das ändern. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wolfgang Strengmann-Kuhn hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch heute ist ein schwarzer Tag. Heute geht es um die Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher. Insofern knüpft dieser Tagesordnungspunkt direkt an den vorherigen an. Schade, dass die Ministerin nicht mehr hier ist; denn ich hätte sie gerne gefragt, wie es sich eigentlich anfühlt, wenn man am Schreibtisch sitzt und überlegt: Blumen und Zimmerpflanzen für die Armen - kann gestrichen werden. Haustiere für die Armen - kann gestrichen werden. Besuch einer Eisdiele für die Kinder - kann gestrichen werden. Das Stückchen Kuchen im Café - kann gestrichen werden. Geld für die Riester-Rente für die Armen - kann gestrichen werden. Rentenversicherungsbeiträge für die Armen - kann gestrichen werden. Das ist das Prinzip der Bundesregierung. Ich frage mich: Welches Menschenbild steht eigentlich dahinter? Bei der Streichung der Rentenbeiträge geht es nicht nur um die Arbeitslosengeld-II-Beziehenden. Die Streichung von 1,8 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt - der Kollege Anton Schaaf hat das eben schon gesagt Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn bedeutet nicht, dass Ausgaben sinken. Vielmehr bleiben die Ausgaben in der Rentenversicherung gleich, aber jemand anders muss sie bezahlen. Letztlich ist die Kürzung im Bundeshaushalt nichts anderes als ein dreister Griff in die Rentenkasse. ({0}) Hier geht es um 1,8 Milliarden Euro, nicht einmalig, sondern jedes Jahr in die Zukunft hinein. Es ist schlicht eine Lüge, zu behaupten, dass dadurch gespart wird. Bezahlen müssen das die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, was nicht nur verteilungspolitisch problematisch, sondern auch wirtschaftlicher Unsinn ist, denn der Faktor Arbeit wird wieder verteuert. Die Mittelschicht und die Geringverdiener werden belastet, und das alles nur, um Ihre Geschenke für Hoteliers und andere zu finanzieren. ({1}) Für die Bundesregierung gilt der Grundsatz: Mehr Netto vom Brutto für die Besserverdienenden und weniger Netto vom Brutto für die mittleren und unteren Einkommen. Umgekehrt müsste es sein. ({2}) - Das ist doch völlig richtig: Sie senken die Steuern für die Reichen und erhöhen die Beiträge für die Geringverdienenden. ({3}) In der Arbeitslosenversicherung wird das kommen, im Gesundheitswesen kommt es, und auch in der Rentenversicherung wird es kommen. Der Kollege Schaaf hat Ihnen das eben vorgerechnet. Die Bundesregierung hat uns in einer Antwort direkt bestätigt, dass die Beiträge nicht sinken werden. Ich prognostiziere, dass die Beiträge zur Rentenversicherung steigen werden. ({4}) - Ich bitte Sie, nicht weiter dazwischenzuquatschen, sondern mir eine Zwischenfrage zu stellen; dann kann ich Ihnen das genauer darlegen. ({5}) Es ist klar, dass die FDP immer Probleme hat, wenn es um Zahlen geht. ({6}) Herr Weiß hat gerade stolz erwähnt, dass die Sozialpolitiker der Union - unter anderem auf Initiative der Opposition hin - erreicht haben, dass sich die Renten für einen Teil der Hartz-IV-Bezieher sogar erhöhen können; das finde ich gut. Gleichzeitig erhalten andere geringere Renten, und ein nicht zu unterschätzender Teil erhält überhaupt keinen Zugang mehr zu Erwerbsminderungsrenten und Rehaleistungen. Das Ganze folgt dem Matthäus-Prinzip - es stammt nicht von Lothar Matthäus, sondern aus dem Gleichnis von den anvertrauten Zentnern im Matthäus-Evangelium -: Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Dieses Prinzip zieht sich durch die gesamte Politik der Bundesregierung. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie haben dieses Bibelzitat falsch verstanden; denn das, was Sie machen, ist genau das Gegenteil von christlicher Politik. Unsere Alternative dazu lautet: Erstens. Es müssen Rentenbeiträge für die Arbeitslosen gezahlt werden, damit tatsächlich alle Arbeitslosen Zugang zur Erwerbsminderungsrente und zu Rehaleistungen erhalten. Zweitens. Der Beitrag, der für die Arbeitslosen gezahlt wird, muss angemessen sein. Wir schlagen vor, die Mindesthöhe an den Mindestbeitrag der Erwerbstätigen anzupassen. Drittens. Altersarmut muss zielgenau bekämpft werden. Es ist richtig: Die Vorschläge der SPD und der Linken sind von den Experten kritisiert worden. Wir schlagen eine Garantierente vor, die tatsächlich sicherstellt, dass alle langjährig Versicherten eine Rente über dem durchschnittlichen Grundsicherungsniveau erhalten. ({8}) Die Politik der Bundesregierung geht zulasten der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, zulasten der ärmsten Hartz-IV-Bezieher und Hartz-IV-Bezieherinnen sowie zulasten der Kommunen, die die zusätzlich anfallenden Grundsicherungsleistungen zahlen müssen. Wir stellen uns auch in diesem Fall quer. Wir stellen uns vor die Hartz-IV-Bezieher und Hartz-IV-Bezieherinnen, vor die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und vor die Kommunen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frank Heinrich hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum zweiten Mal bekomme ich von Ihnen, von der grünen Fraktion, eine Vorlage aus der Theologie, in diesem Fall aus dem Matthäus-Evangelium. Wir müssen an anderer Stelle über die Aussage diskutieren; denn das war keine sozialpolitische Aussage, sondern eine theologische. Ich gehe gerne an anderer Stelle darauf ein. Aber selbst freie, liberale Theologen legen das nicht so aus. ({0}) Ich möchte auf die fünf Anträge eingehen, über die wir heute hier diskutieren. Alle Anträge drehen sich - das ist die Schnittmenge der Titel der Anträge - um das Risiko der Altersarmut. Ehrlich gesagt: Da besteht sehr wohl eine gewisse Einigkeit mit uns. Altersarmut - das ist mein erstes Stichwort - ist ein Problem, dessen Lösung wir in Angriff nehmen müssen. Wir müssen dafür aber wissen, welchen Umfang das Problem hat, das auf uns zukommt. Es ist richtig, dass wir das Thema in Angriff nehmen. Es handelt sich um ein Problem, das im Moment noch sehr klein ist - das haben Sie selber wahrgenommen -, aber ganz klar auf uns zukommt. ({1}) Wir müssen Altersarmut verhindern; da bin ich, da ist meine Partei vollkommen bei Ihnen. Wenn die Altersarmut in hohem Maße auf uns zukommt, sollten wir Vorkehrungen treffen. ({2}) Wir teilen sehr wohl die Sorgen, die Sie und die Bürger haben. Das schlägt sich auch darin nieder, dass wir die im Koalitionsvertrag angekündigte Kommission einsetzen. Es geht darum, herauszufinden, ob und, wenn ja, in welchem Umfang man auf Altersarmut reagieren muss. Herr Weiß hat es schon gesagt: Wir sind sehr gespannt auf die Arbeit der Kommission und auf die Umsetzung der Ergebnisse Ein zweites Stichwort ist immer wieder gefallen: Grundsicherung. Ich bin der Überzeugung, dass wir zwei Dinge voneinander trennen sollten. Die Bereiche Rente und Grundsicherung sollten wir nicht miteinander vermähren, wie wir in Sachsen sagen. Rentenansprüche sollten aus Arbeit und nicht aus Nichtarbeit entstehen; denn für Letzteres ist die Grundsicherung da. Diese zwei Bereiche sollten auseinandergehalten werden. Sie haben die Systematik zum Thema gemacht. Ich möchte kurz darauf eingehen. Es ist systemgerecht, wenn wir die vorhin angesprochene Rentenerhöhung um 2,09 Euro, die erwirtschaftet wird, wenn man ein Jahr lang Arbeitslosengeld II bezieht, nicht beibehalten. Es ist nicht Aufgabe dieses Fürsorgesystems, ohne Einzelfallbetrachtung aus Steuermitteln Beiträge in ein Versicherungssystem einzubringen und damit versicherungsrechtliche Ansprüche aufzubauen. Typisch für ein Fürsorgesystem ist die Unterstützung bei akuter Hilfsbedürftigkeit. Es ist nicht Aufgabe dieses Fürsorgesystems, bei bereits eingetretener Hilfsbedürftigkeit eine weitere künftige Hilfsbedürftigkeit - im vorliegenden Fall die im Alter - generell zu verhindern. Tritt im Alter Hilfsbedürftigkeit ein, so besteht ein Anspruch auf Grundsicherung im Alter. Das Gleiche gilt für die Erwerbsminderungsrente. Das ist die Systemgerechtigkeit. Deshalb haben wir diesen Teil gestrichen. Es soll ein zusätzlicher Anreiz entstehen. Die Leute sollen Mut bekommen und sich der Herausforderung, wieder in Arbeit zu kommen, stellen. In Arbeit kommen, das hat etwas mit Würde und Stolz zu tun. Wir sind angetreten, um Menschen in Beschäftigung zu bringen, auch wenn Sie das in Abrede stellen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ilja Seifert zulassen?

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte jetzt gerne zum Ende kommen. Letztlich stehen wir für den Ausstieg aus einer Hartz-IVKultur, die sich auch hier niederschlägt, und für den Einstieg in eine Kultur der Beteiligung, der Teilhabe, der Selbstbestimmung, der Bestätigung und der Herausforderung, vielleicht auch der „Herausförderung“. Damit komme ich zu dem Menschenbild, dass Sie, Herr Strengmann-Kuhn, angesprochen haben. Wir möchten den Menschen ihren Stolz und ihre Würde zurückgeben. Fordern und Fördern, immer in dem Wissen: Wer nicht kann, findet Hilfe und Unterstützung beim Staat. ({0}) Das dritte Stichwort ist Realität; damit komme ich zum Schluss. Wir müssen abwarten. Wir können nicht von Spekulationen ausgehen. Ich habe einen Bericht gelesen, in dem es um das Problem der Zielgenauigkeit geht. Dieses Problem gehen wir jetzt an. Ein Rentenfachmann sagte mir gestern: Ja, es wird Geld gespart, und der Verwaltungsaufwand wird verringert - das ist die eine Seite -, viele Erwerbsbiografien verlaufen aber nicht so, wie wir glauben. Immer gleich vom Negativen auszugehen, hat etwas von Kapitulation. ({1}) Ich komme aus der Jugendhilfe. Ein Kollege von mir berichtete Folgendes: Das Jugendamt fragte: Warum müssen Sie das so ausstatten? Sie verwöhnen die Leute doch. Die landen hinterher doch sowieso bei Hartz IV. - Er winkte ab und sagte: Eben nicht. Wir wollen ein Bild malen und den Jugendlichen zeigen, wie es auch sein kann. Wir wollen ihnen eine Alternative bieten, die für sie Anreiz ist, aus dem System herauszuwachsen. Genau das wollen wir. Wir wollen Anreize schaffen und nicht aufgeben. Ich danke Ihnen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Lieber Herr Kollege, da Sie mir keine Zwischenfrage zugestanden haben, möchte ich zwei Bemerkungen machen: Erstens. Alle Koalitionsrednerinnen und -redner sprachen mit großer Euphorie von der Kommission, die Sie einsetzen wollen. ({0}) Was passiert denn, wenn bei der Arbeit der Kommission Ergebnisse herauskommen, die Ihnen nicht passen? In der vergangenen Wahlperiode wurde eine Kommission zur Klärung des Pflegebegriffs eingesetzt. Sie hat hervorragende Ergebnisse erarbeitet. Bedauerlicherweise redet von der Regierung jetzt niemand mehr davon. Die Ergebnisse der von Ihnen selbst eingesetzten Kommission werden ignoriert und in den Skat gedrückt. Das kann doch nicht sein. Zweitens. Sie behaupten Folgendes: Wenn Sie die Beiträge für Arbeitslose streichen, sei das ein Anreiz, schneller in Arbeit zu kommen, weil man nicht auf die Grundsicherung angewiesen sein möchte. Haben Sie aufgrund der Erlebnisse, die die Menschen Ihnen berichten, nicht den Eindruck, dass es genau umgekehrt ist? Diejenigen, die wissen, dass sie keine Chance haben, über das Niveau der Grundsicherung zu kommen, haben keinen Anreiz mehr, sich um eine Arbeit zu kümmern. ({1}) Eine Arbeit im Niedriglohnbereich würde auf keinen Fall ausreichen, um über den Grundsicherungsbetrag zu kommen. Das heißt also, dass Sie die Vorsorge regelrecht torpedieren. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Heinrich, zur Antwort.

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Da Sie Ihren Beitrag als Kommentar verstehen, möchte ich nur kurz antworten. Zum ersten Punkt. Sie dürfen uns an den Ergebnissen der von uns beauftragten Kommission messen. Aus diesen Ergebnissen leiten wir unsere Aufgabenbeschreibung ab. Wir werden dann darüber diskutieren, ob Sie unsere Antwort auf die Ergebnisse der Kommission akzeptieren können. Bis dahin müssen wir mit der Feinjustierung warten. Zum zweiten Punkt. Sie haben nach meinem Erleben gefragt. Mein Erleben ist tatsächlich ein anderes. Ich habe erlebt, dass Menschen motiviert sind, wenn man ihnen Chancen eröffnet und wenn man sie fordert. Aus meinen Gesprächen in meinem Wahlkreis weiß ich, dass die Menschen am Ende gerne sagen würden: Das habe ich mir selbst erarbeitet. Ich danke Ihnen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/3477. Unter Buchstabe a empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1747 mit dem Titel „Das Risiko von Altersarmut durch veränderte rentenrechtliche Bewertungen von Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit und der Niedriglohn-Beschäftigung bekämpfen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Dagegen gestimmt hat die SPD-Fraktion. Enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1735 mit dem Titel „Risiken der Altersarmut verringern - Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose erhöhen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Dafür gestimmt haben die Koalitionsfraktionen und die SPD-Fraktion. Dagegen gestimmt hat die Fraktion Die Linke. Enthalten hat sich die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss in seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/256 mit dem Titel „Verbesserung der Rentenanwartschaften von Langzeiterwerbslosen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die SPD-Fraktion. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten. Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1116 mit dem Titel „Schutz bei Erwerbsminderung umfassend verbessern - Risiken der Altersarmut Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt verringern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Unter Buchstabe e empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2436 mit dem Titel „Mindestbeiträge zur Rentenversicherung verbessern, statt sie zu streichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Dagegen hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Alle anderen Fraktionen waren dafür. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 31 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder - Drucksache 17/3305 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kolle- ginnen und Kollegen Granold, Steffen, Thomae, Petermann, Hönlinger und der Parlamentarische Staats- sekretär Stadler.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/3305 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 32 sowie Zusatzpunkt 9 auf: 32 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Britta Haßelmann, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Aufbauoffensive für Freiwilligendienste jetzt auf den Weg bringen - Quantität, Qualität und Attraktivität steigern - Drucksache 17/3436 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss 1) Anlage 4 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sönke Rix, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Chancen nutzen - Jugendfreiwilligendienste stärken - Drucksache 17/3429 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Der erste Redner ist der Kollege Kai Gehring für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({3})

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als Grüne haben diese Debatte auf die Tagesordnung gesetzt, um der Regierung auf die Sprünge zu helfen und Ihnen Impulse zu geben. ({0}) Sie müssen jetzt endlich Farbe bekennen und eine Offensive für Freiwilligendienste starten. Wir als Grüne wollen Quantität, Qualität und Attraktivität von Freiwilligendiensten ausbauen. Das ist mehr als überfällig. Wir kämpfen für diesen Ausbau seit vielen Jahren, weil die verschiedenen Inlands- und Auslandsfreiwilligendienste - vom „Freiwilligen Ökologischen Jahr“ und „Freiwilligen Sozialen Jahr“ über „weltwärts“, „kulturweit“, den „Europäischen Freiwilligendienst“ bis zum „Freiwilligendienst aller Generationen“ - zivilgesellschaftliches Engagement stärken und demokratisches Lernen bei Jugendlichen massiv fördern. Der Ausbau der Freiwilligendienste ist überfällig, kommt aber, allen Ankündigungen der letzten Monate und Jahre zum Trotz, seit Jahren leider nicht voran. Deshalb ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, hier mehr zu tun. ({1}) Das Problem dabei ist übrigens nicht, dass engagementbereite Jugendliche fehlen würden; das wird Jugendlichen immer unterstellt. Im Gegenteil: Auf einen Freiwilligendienstplatz kommen seit Jahren zwei bis drei Bewerber. Das Problem ist der massive Mangel an Angeboten. Dieser Mangel muss endlich behoben werden; die Anzahl der Freiwilligendienste muss mittelfristig verdoppelt werden. Das steht jetzt an. ({2}) Der Ausstieg aus der Wehrpflicht und dem Zivildienst bringt auch neue Chancen mit sich. ({3}) Es ist ein überfälliger und richtiger Schritt. Im Nachhinein kann man dazu vielleicht sogar sagen, dass Schwarz-Gelb möglicherweise einmal etwas hinbekommen hat - wenn Sie es tatsächlich schaffen, aus der Wehrpflicht auszusteigen. ({4}) Das wäre ein guter Schritt, der auch Chancen für einen Ausbau der Freiwilligendienste bieten würde. Diese Chancen werden aber gerade wieder verspielt. Diese Gefahr und dieses Risiko sehen wir. Sie, die Regierung und die Koalition, müssen jetzt gemeinsam mit den Ländern handeln, statt wie in den letzten Monaten immer nur Sonntagsreden zu dem Thema Freiwilligendienste zu halten. Handeln ist jetzt angesagt. Beim Ausstieg aus den Pflichtdiensten brauchen wir eben kein Stückwerk, sondern politischen Mut zu einem wirklich großen Wurf. Raus aus dem Zivildienst muss heißen: rein in einen verlässlichen Ausbau der Freiwilligendienste. Das fehlt bisher. ({5}) Frau Schröder, die heute leider nicht hier sein kann, hat ein Konzept bzw. eher vage Eckpunkte vorgelegt, wie sie einen freiwilligen Zivildienst einrichten will. „Freiwilliger Zivildienst“ klingt schon absurd ({6}) und ist auch Flickschusterei, weil sie damit sinnlose und ineffiziente Doppelstrukturen schafft, die kein Mensch braucht. Kein Mensch braucht einen Bundesstaatsdienst, ({7}) der unserer bewährten Marke, der Marke Jugendfreiwilligendienste, Konkurrenz macht und zivilgesellschaftliche Freiwilligendienstorganisationen demotiviert. Es wäre auch absurd, wenn in derselben Einrichtung mit denselben Tätigkeiten künftig freiwillige Sozialdienstleistende und freiwillige Zivildienstleistende nebeneinander eingesetzt würden, zu völlig unterschiedlichen Bedingungen und Konditionen, zu verschiedenen Kosten mit unterschiedlichem Taschengeld. Das alles ist Flickschusterei und macht keinen Sinn. ({8}) Sie nehmen hier unter einem selbstgesetzten Zeitdruck falsche Weichenstellungen vor, um letztlich vor allem Aufgaben des Bundesamtes für den Zivildienst zu erhalten und eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für dieses Bundesamt durchzusetzen. Sie entziehen im Übrigen dem Zivildienstetat allein in dieser Woche 180 Millionen Euro. Diese Mittel würden aber dringend für den Ausbau der Freiwilligendienste gebraucht. Der Zivildienstetat darf kein Steinbruch sein. Die Mittel müssen für den Ausbau verwandt werden. Sie haben für diesen freiwilligen Zivildienst weder bei den Verbänden noch in der Gesellschaft noch bei den Freiwilligen Unterstützung oder eine Mehrheit. Sie können diese falsche Weichenstellung jetzt noch korrigieren. Bringen Sie stattdessen einen Ausbau der Freiwilligendienste auf den Weg. Sie hätten im Übrigen unsere Unterstützung, wenn Sie jetzt ein Freiwilligendienstestatusgesetz aus einem Guss auf den Weg bringen würden. In diesem müssten die Dienste als arbeitsmarktneutrale gemeinnützige Bildungsdienste geregelt und ein sozialrechtlicher Status definiert und präzisiert werden. Es müsste auch geklärt werden, wie unterrepräsentierte Zielgruppen, auch neue Zielgruppen, künftig für Freiwilligendienste gewonnen werden können, wie Qualitätsverbesserungen eingeleitet werden und die frei werdenden Mittel aus dem Zivildienst erhalten bleiben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Es geht einfach nicht, dass Sie beim Thema Freiwilligendienste den Kopf weiterhin in den Sand stecken. Sie müssen die Interessen der Jugendlichen und der Freiwilligen jetzt endlich in den Mittelpunkt Ihrer Politik stellen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie müssen den Freiwilligendiensten eine verlässliche Ausbauperspektive bieten. Darum muss es jetzt gehen. Danke. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Markus Grübel hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Markus Grübel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003542, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tu etwas für dein Land, tu etwas für dich - das ist die Einstellung von Freiwilligen. Sie wollen etwas für die Gemeinschaft und etwas für sich tun. Beides ist wichtig. Die Grundhaltung von Freiwilligen ist: Das ist mein Land, das ist meine Stadt, das ist mein Verein, das sind meine Werte und Ideale, und dafür engagiere ich mich über den Pflichtbeitrag Steuer hinaus. Ich glaube, trotz der Attacken von Kai Gehring sind wir uns, die Koalitionsfraktionen und die beiden Antragsteller, über die Fraktionsgrenzen hinweg einig: Wir wollen jetzt die Voraussetzungen schaffen, dass Freiwilligendienste einen guten rechtlichen Rahmen und ausreichend Unterstützung bekommen. ({0}) Wir sind uns auch einig: Bürgerschaftliches Engagement - dazu gehören Freiwilligendienste - ist eine Stütze unserer Gesellschaft. Zurzeit haben wir die einmalige Chance, die Rahmenbedingungen für Freiwilligendienste zu verbessern. Diese Chance werden wir nutzen. Schon im Haushalt 2011, der derzeit beraten wird, sind deutliche Verbesserungen erkennbar. Wir steigern die entsprechenden Mittel von 20 Millionen auf 50 Millionen Euro. Das ist mehr als eine Verdoppelung. Die Aussetzung der Wehrpflicht - sie wird heute auf dem CSU-Parteitag in München beraten und am 15. und 16. November 2010 auf dem Bundesparteitag der CDU und damit die Aussetzung des Zivildienstes schaffen Spielräume. Es entstehen aber auch Lücken. Letztes Jahr gab es 90 000 Zivildienstleistende. Sie hinterlassen eine empfindliche Lücke in der Behindertenbetreuung, im Pflegebereich und in vielen anderen sozialen Bereichen. Allein im sozialen Bereich wird man mit jährlich 1,8 Milliarden Euro Zusatzkosten rechnen müssen. Es geht aber um mehr als um Geld. Durch den Zivildienst wie durch die Freiwilligendienste kommen junge Menschen in soziale Bereiche. Sie erlernen soziale Kompetenz. Viele entscheiden sich erst durch ihren Freiwilligendienst oder Zivildienst dazu, einen sozialen Beruf zu erlernen, den sie sonst vielleicht ausgeschlossen hätten. Durch eine Aussetzung der Wehrpflicht werden Bundesmittel frei, die zum Teil für Freiwilligendienste genutzt werden können. Das ist eine einmalige Chance. Allerdings, Herr Gehring, muss nach der Verfassung die Finanzierungskompetenz der Verwaltungskompetenz folgen. Wir brauchen also die Verwaltungskompetenz des Bundes, um 100 Prozent der frei werdenden Bundesmittel einsetzen zu können. Daher lautet der Arbeitstitel: freiwilliger Zivildienst. Dieser Arbeitstitel ist übrigens ein Lob des Zivildienstes; er, der Zivildienst, der Zivi, ist eine gute Marke geworden. Künftig werden wir ihn wahrscheinlich als Bundesfreiwilligendienst - er liegt in der Verantwortung des Bundes und wird mit Mitteln des Bundes finanziert - bezeichnen. Gleichzeitig gibt es deutliche Verbesserungen beim Jugendfreiwilligendienst. Neu bei diesem Bundesfreiwilligendienst oder freiwilligen Zivildienst ist, dass er offen für Frauen und - auch das ist wichtig - offen für alle Generationen ist, also auch für Ältere. Wir haben im fünften Altenbericht zu den Potenzialen des Alters und im sechsten Altenbericht zu den Altersbildern die Vorarbeit geleistet. Unsere Gesellschaft ist vielfältig, darum sind die Freiwilligendienste es auch. Unser Ziel ist es, den geplanten Bundesfreiwilligendienst eng mit den bestehenden Jugendfreiwilligendiensten, dem Freiwilligen Sozialen Jahr und dem Freiwilligen Ökologischen Jahr, zu verzahnen und keine Konkurrenz zu schaffen. Dieser neue Dienst steht für erweiterte Einsatzbereiche offen. Auch Sport, Kultur, Bildung gehören dazu. Ziel ist die Gewinnung von rund 35 000 Freiwilligen pro Jahr. Die Regeldauer beträgt ein Jahr, 6 bis 18 Monate sind flexibel möglich. Der Träger bzw. die Einsatzstelle wird pro Freiwilligen mit rund 500 Euro pro Monat ausgestattet und handelt dann das tatsächliche Taschengeld mit dem Freiwilligen aus. Wie bisher wird dieser Dienst in Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände, der Kommunen und anderer Träger durchgeführt. Die Freiwilligen werden vor Ort und in Seminaren pädagogisch begleitet. Ich könnte mir vorstellen, dass die politische Bildung - ein fünftägiges Seminar - für alle gemeinsam erfolgt: Jugendfreiwilligendienst, Bundesfreiwilligendienst und freiwillig Wehrdienstleistende. Junge Menschen sind in der Schule, sind im Verein, sind in der Kneipe, in der Ausbildung und im Studium zusammen. Warum sollen diese jungen Menschen - egal ob sie den freiwilligen Wehrdienst, den Jugendfreiwilligendienst oder den Bundesfreiwilligendienst leisten nicht zusammen Seminare zur politischen Bildung besuchen? Die Kopplung der bestehenden Formate und des neuen Formats findet vorrangig über die bestehenden bundeszentralen Träger von FSJ und FÖJ statt. Zudem soll es weitreichende Vergünstigungen - zum Beispiel Anrechnung auf Pflichtpraktika und Wartezeiten für Studienplätze - geben. Der Freiwilligendienst, insbesondere der Jugendfreiwilligendienst, ist kein verlorenes Jahr. Es ist ein Lernjahr, es ist für junge Menschen ein gewonnenes Jahr. Daneben wollen wir die Jugendfreiwilligendienste besser ausstatten, und unser Ziel ist es auch, den erhöhten Betreuungsbedarf, den die Träger und Einrichtungen haben, zu vergüten. Wir könnten darüber hinaus auch Jugendfreiwilligendienste mit zusätzlichem Nutzen - zum Beispiel Schulabschluss - anbieten, wie es die Diakonie in Württemberg mit FSJ plus, die Caritas Hildesheim mit FSJ future oder der Internationale Bund in Nürnberg mit FSJ dual heute schon erfolgreich tun. Als neuer Freiwilligendienst soll auch ein freiwilliger Wehrdienst von mindestens 15 Monaten geschaffen werden. Die Freiwilligenlandschaft wird also bunter. Vom Pflegekittel bis zum Flecktarn wird alles möglich. Soziales, Ökologie, Kultur, Sport und Sicherheit bieten ein vielfältiges Bild, so vielfältig wie unsere Gesellschaft ist. Tu was für dein Land, tu was für dich! - Wir schaffen hierfür einen deutlich besseren Rahmen. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe in den nächsten Wochen. Herzlichen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sönke Rix hat das Wort für die SPD-Fraktion. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt ({0})

Sönke Rix (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003830, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich sind wir auch mutig, sonst hätten wir keine Anträge gestellt, an denen wir uns heute abarbeiten können. Ich hätte mir angesichts der Debatte, die wir mittlerweile seit Jahren zu dem Thema Jugendfreiwilligendienste führen, und angesichts der Tatsache, dass wir seit Jahren einen Platzausbau, eine Verstärkung, grundsätzlich eine Attraktivitätssteigerung wollen, gewünscht, dass dieser Anlass von der Regierung dazu genutzt worden wäre, einen großen Aufschlag zu machen. Natürlich stimmt es, dass im Haushalt über die Jahre immer wieder etwas mehr Geld dafür zur Verfügung gestellt worden ist. Das ist gar keine Frage. Es war immer schon mühselig, dafür zu kämpfen. Durch den Wegfall des Zivildienstes waren nun Gelder übrig, und es sind auch Gelder umgeschichtet worden. Aber die Frage ist, wofür diese Gelder im FSJ und im FÖJ verwendet werden und ob sie vielleicht an anderen Stellen wieder weggenommen werden. Deshalb immer schön vorsichtig an der Bahnsteigkante und nicht nur einfach Gelder von der einen Seite auf die andere verschieben! Machen Sie vielmehr deutlich, wofür diese Gelder verwendet werden sollen und wie tatsächlich eine Attraktivitätssteigerung beim FSJ und beim FÖJ erreicht werden kann. ({0}) Herr Kollege Grübel, natürlich sind wir uns fraktionsübergreifend einig, zumindest immer dann, wenn wir Reden halten, dass junge Männer und Frauen im FSJ und FÖJ in allen Bereichen - ob das im Kulturbereich ist, im sozialen Bereich oder beim Sport - eine tolle Leistung bringen. Immer dann, wenn wir Einrichtungen besuchen, wenn wir FSJler zu Gesprächen hier im Bundestag haben, immer wenn wir über das Thema reden, sagen wir: Die machen eine tolle Arbeit. - Die tun etwas Gutes. Ich finde das auch in Ordnung. Tu was Gutes - das haben Sie schön in Ihrer Rede aufgegriffen. Das ist ein wichtiger Punkt, den Sie ansprechen; denn das FSJ und das FÖJ sind besondere Formen des bürgerschaftlichen Engagements und basieren ausschließlich auf Freiwilligkeit. Sie müssen daher, wie ich finde, sehr stark von der Zivilgesellschaft selbst organisiert werden. Bürgerschaftliches Engagement muss nämlich aus der Zivilgesellschaft kommen und sollte so wenig wie möglich staatlich organisiert werden. Wenn Sie das anders sehen, haben wir wohl eine andere Vorstellung von bürgerschaftlichem Engagement als Sie. ({1}) Herr Grübel, Sie haben die in den Einrichtungen entstehende Lücke angesprochen. Dieses Thema ist interessant. Vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken und anderen Bundesverbänden bekommen wir immer wieder gute Papiere, in denen es um die Frage geht: Wie gehen wir eigentlich mit dem Wegfall des Zivildienstes um? Im Mittelpunkt stehen immer wieder folgende Antworten: Das bürgerschaftliche Engagement und die Freiwilligkeit müssen gestärkt und die Jugendfreiwilligendienste ausgebaut werden. Die Verantwortlichen in den Einrichtungen vor Ort sagen jedoch - darauf haben auch Sie gerade hingewiesen -: Uns fehlen die Leute. Das ist aber nicht das Thema. Wenn es um bürgerschaftliches Engagement geht, kann man nicht das Argument anführen: Uns fehlt vor Ort die Arbeitskraft, und deshalb kann die Arbeit vor Ort nicht erledigt werden. ({2}) Wir müssen uns vielmehr fragen: Was ist für die jungen Leute, die sich freiwillig bürgerschaftlich engagieren wollen, am besten? Im Moment gibt es hierzu unterschiedliche Vorstellungen, und es existieren zwei Modelle. Ein entsprechender Gesetzentwurf liegt allerdings noch nicht vor, weil die jeweiligen Parteitage erst die Richtung vorgeben müssen. Das war auch bei uns nicht anders, und es ist richtig, dass die Parteitage das letzte Wort haben. Jedenfalls stehen wir vor folgendem Problem: Auf der einen Seite gibt es die Jugendfreiwilligendienste, die wir alle loben. Auf der anderen Seite soll ein freiwilliger Zivildienst bzw. ein Bundesfreiwilligendienst, oder wie auch immer Sie ihn nennen wollen, eingeführt werden. An dieser Stelle setzen wir mit unserer Kritik an: Warum soll es zwei konkurrierende Dienste geben? Wir hätten uns gewünscht, dass es keine Konkurrenz und keine Doppelstrukturen gibt; auch Sie, Herr Tauber und Frau Bär, haben sich einmal in dieser Richtung öffentlich geäußert. Da habe ich gedacht: Endlich, sie haben gelernt. Warum soll es also diese Doppelstrukturen geben? Ihr Argument lautete immer: Eigentlich sind wir für die Jugendfreiwilligendienste gar nicht zuständig. Aber jetzt sagen Sie: Einen Bundesfreiwilligendienst gibt es nur dann, wenn gleichzeitig die Jugendfreiwilligendienste, also FSJ und FÖJ, ausgebaut werden. Das passt nicht zusammen. Entweder sind wir nicht zuständig, und dann dürfen wir hier auch nicht fördern, oder wir sind dafür zuständig, und dann können wir auch gleich die Jugendfreiwilligendienste fördern. ({3}) Das Land Rheinland-Pfalz hat in dieser Frage einen guten Ansatz verfolgt und im Bundesrat beantragt, die Jugendfreiwilligendienste, wenn es Streitpunkte zwischen Bundes- und Landesebene gibt, nur noch bundesweit organisieren zu lassen. Ich wundere mich, warum nicht auch dieser Gedanke Bestandteil unserer Diskussion ist; ({4}) das bedaure ich sehr. Die Vorschläge, die derzeit auf dem Tisch liegen, werden von den Ländern durchaus kritisch betrachtet. Nun noch etwas zum Verfahren. Interessant ist die Frage: Wird zur Wehrrechtsänderung und zum Bundesfreiwilligendienst ein Gesetzentwurf vorgelegt, oder werden es zwei sein? Wird eventuell sogar der Verteidigungsausschuss federführend sein, wenn es um die Einführung eines Bundesfreiwilligendienstes geht? Dies hielte ich für einen Skandal. In ihrer Engagementstrategie hat die Bundesregierung nämlich geschrieben: Bund, Länder und Kommunen sind aufgefordert, ihre Engagementpolitik gut miteinander abzustimmen. In diesem Fall tun Sie das aber nicht. Dass Sie das an dieser Stelle nicht hinbekommen, bedauern wir sehr. Das ist mehr als unredlich, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Wir sind also gar nicht weit auseinander. Nach dem Wegfall des Zivildienstes müssen wir in die Freiwilligendienste investieren, aber bitte nur in die bestehenden Jugendfreiwilligendienste. Einen zusätzlichen Freiwilligendienst brauchen wir nicht. Dadurch würden nur Doppelstrukturen geschaffen und eine unnötige Unübersichtlichkeit entstehen. Stellen Sie sich vor, junge Leute bewerben sich in einer Einrichtung, in der es einen Bundesfreiwilligendienstplatz und einen FSJ-Platz gibt. Natürlich würden sie sich in diesem Fall für den Bundesfreiwilligendienstplatz entscheiden, weil sie dann ein paar Euro mehr bekommen. Wohin wird das führen, wenn nun von zwei Personen, zum Beispiel einer jungen Frau und einem jungen Mann, die freiwillig in einer Einrichtung tätig sind, der eine mehr Aufwandsentschädigung oder Taschengeld bekommt als der andere? Welchen Dienst wird es am Ende wohl noch geben? Seien Sie ehrlich, legen Sie ein einheitliches Konzept vor, und bauen Sie die Jugendfreiwilligendienste aus; denn sie haben es verdient. Danke schön. ({6})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Florian Bernschneider hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Florian Bernschneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004009, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gestatten Sie mir, bevor ich zu den Anträgen von SPD und Grünen komme, auch noch etwas Grundsätzliches zu den Freiwilligendiensten und zum bürgerschaftlichen Engagement von jungen Menschen insgesamt zu sagen. Ich möchte auch deswegen zunächst auf diese grundsätzlichen Dinge eingehen, weil ich schon glaube - das haben Sie, Herr Rix, gerade ja auch gesagt -, dass wir uns in vielen Punkten wirklich einig sind; denn natürlich haben Sie recht, dass es keine befriedigende Situation ist, dass auf einen Freiwilligendienstplatz zurzeit bis zu drei Bewerber kommen. Der Fairness halber sollte man an dieser Stelle aber auch einmal sagen, dass das durchaus keine Entwicklung ist, die mit der Regierungsübernahme von Schwarz-Gelb vom Himmel gefallen ist, sondern weit in Ihre Regierungszeit zurückreicht. ({0}) Bevor man diese Zahlen für politische Schuldzuweisungen heranzieht, möchte ich die Chance nutzen, im Interesse der jungen Menschen auch einmal zu sagen, was diese Zahlen im Kern bedeuten. Schlagen Sie einmal die Zeitungen auf und schauen Sie sich das Bild an, das dort von der Jugend von heute gemalt wird: unpolitisch, am Gemeinwohl desinteressiert und karriereorientiert. Demgegenüber zeigen die Zahlen der jungen Menschen, die sich für die Freiwilligendienste bewerben, und die knapp 4 Millionen junge Menschen, die jedes Jahr ehrenamtlich tätig werden, ein ganz anderes Bild. Von daher sollte man eine solche Debatte auch einmal dazu nutzen, zu sagen, dass wir stolz auf das Engagement sind, das die jungen Menschen schon heute in diesem Land zeigen. ({1}) Als Liberalem ist es mir an dieser Stelle auch ein Anliegen, zu betonen, dass dieses Engagement freiwillig und ohne jeden Zwang erfolgt, und zwar keinesfalls aus einem abstrakten Pflichtgefühl heraus, sondern weil die jungen Menschen die Freiwilligendienste bzw. ihr freiwilliges Engagement in doppelter Hinsicht als bereichernd empfinden: für sich selbst, aber eben auch für die Gemeinschaft. Genau das haben die jungen Menschen erkannt. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass trotz der Bedeutung eines schnellen Einstiegs in Ausbildung und Beruf 40 000 junge Menschen im Jahr 2010 einen Freiwilligendienst aufgenommen haben. Das kann man nur loben. Vor allem muss man an dieser Stelle auch einmal die Arbeitgeber und die Ausbildungsbetriebe dafür loben, dass sie verstanden haben, dass es bei der Auswahl von Auszubildenden eben nicht nur um das Schulzeugnis, sondern auch darum geht, was die Jugendlichen neben der Schule und nach der Schule, zum Beispiel in einem Freiwilligendienst, geleistet haben. ({2}) Meine Damen und Herren von der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen, Sie bemängeln in Ihren Anträgen, dass der Ausbau nicht schnell genug vorankommt. Sie machen es sich leicht und verweisen auf die eigenen Sonntagsreden aus den vergangenen Legislaturperioden und werfen uns vor, dass wir das alles nach einem Jahr noch nicht geschafft haben. ({3}) Die SPD rühmt sich in ihrem Antrag zum Beispiel damit, § 14 c Zivildienstgesetz eingeführt zu haben. Ich glaube Rot-Grün, dass alles, was damals passiert ist, gut gemeint war. ({4}) Man muss nachträglich aber auch einmal feststellen, dass dieser § 14 c Zivildienstgesetz nicht in Gänze gut war, sondern dass er zu erheblichen Schieflagen und erheblichen Fehlstrukturen geführt hat, um die wir uns dann erst einmal kümmern mussten. Sie haben gerade mit Abs. 4 des § 14 c Zivildienstgesetz dafür gesorgt, dass junge Frauen erheblich benachteiligt wurden, weil die jungen zivildienstpflichtigen Männer aufgrund der höheren Förderquote immer den Vorzug erhalten haben. Neben dieser Schieflage bei der Chancengerechtigkeit zwischen den Geschlechtern haben Sie dann auch noch für eine Schieflage bei den Finanzierungsstrukturen gesorgt. Was Sie in Ihrem Antrag als Errungenschaft feiern, war eine erste Baustelle, um die sich diese Koalition gekümmert hat, indem sie diesen Abs. 4 korrigiert und die Schieflagen, die ich aufgezeigt habe, beseitigt hat. 30 Millionen Euro fließen jetzt nicht mehr über Umwege, sondern direkt zu den Jugendfreiwilligendiensten. Das ist der größte Aufwuchs dieser Position, den es jemals gegeben hat. Hiermit sind wir einen ersten wichtigen Schritt gegangen. ({5}) Hinsichtlich der Finanzierung Ihrer weiteren Forderungen bedienen Sie sich einer Sache, zu deren Umsetzung Sie selbst nie in der Lage waren. Sie sagen einfach: Wenn die Wehrpflicht ausgesetzt wird, dann ist das Geld dafür da. - Ich glaube schon, dass es Sie von SPD und Grünen wurmt, dass nun eine schwarz-gelbe Regierung darüber diskutiert, wie man die Wehrpflicht aussetzen und große Reformen beim Zivildienst und in Bezug auf das bürgerschaftliche Engagement durchführen kann. Sie müssen es uns dann aber bitte auch überlassen, den Zeitplan dafür zu gestalten, damit das vernünftig durchdacht ist und es nicht zu Fehlschüssen kommt, wie bei den Ausbauszenarien in Ihren Anträgen, die wahrscheinlich gar nicht so möglich sind, wie Sie das schildern. ({6}) Es ist doch völlig klar - darin widersprechen wir uns ja auch nicht -: Wenn wir auf die Wehrpflicht und den Zivildienst verzichten, dann müssen wir die Chancen nutzen, die Freiwilligendienste zu stärken. Das wissen Sie auch. Meine Fraktion steht völlig dahinter. Wenn die Wehrpflicht und der Zivildienst fallen, dann nehmen wir die Freiwilligendienste in den Fokus und werden diese auch stärken. ({7}) An diesen Konzepten arbeitet die christlich-liberale Koalition. Wenn man es mit dem Freiwilligenengagement ernst meint, dann muss man aber eben auch mehr machen, als nur gutgemeinte Forderungen aneinanderzureihen. Das sei auch noch der SPD gesagt. Da heißt es zum Beispiel in Ihrem Antrag, dass eine BAföG-Vergünstigung für ehemalige Freiwillige eingeführt werden soll. Man muss nun wirklich nicht weit zurückgehen: Vor nicht langer Zeit wurde im Bundesrat darum gerungen, die BAföG-Novelle durchzubringen. Aber es waren doch gerade die Vertreter der von Ihnen regierten Länder, die Schwierigkeiten gemacht haben, weil sie die entsprechenden Lasten nicht tragen wollten. ({8}) Das zeigt doch, dass Ihre Forderungen nicht durchdacht sind. ({9}) - Nein, ich lasse keine Zwischenfragen zu; ich komme auch zum Schluss. ({10}) Genau das wollen wir eben nicht. Wir wollen ein schlüssiges Gesamtkonzept. Lassen Sie mich das als Liberaler sagen: Ich bin stolz darauf, dass gerade diese Regierung nicht über die Notwendigkeit eines Zwangsdienstes, sondern über die Ausgestaltung von Freiwilligkeit diskutiert. ({11}) Ich kann Ihnen versichern, dass wir in diesen Diskussionen zu Ergebnissen kommen werden, die besser sind als die, die Sie uns heute vorgelegt haben. Deswegen können Sie sich auf die ausgearbeiteten Konzepte freuen und denen dann auch hoffentlich zustimmen. Vielen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Heidrun Dittrich spricht jetzt für die Fraktion Die Linke. ({0})

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn am 1. Januar 2011 der Zivildienst wegfällt, wird dies von der Linken begrüßt werden; denn wir sind für die Abschaffung aller Zwangsdienste. ({0}) Bereits seit März dieses Jahres jedoch sucht unsere Familienministerin Kristina Schröder händeringend nach einem anderen Dienst. Warum ist das so? Der Zivildienst sollte doch arbeitsmarktneutral gehalten sein und keine ausgebildeten Arbeitskräfte verdrängen. ({1}) Wie wir alle aus der Praxis wissen, hat das noch nie gestimmt. Bereits die ehemalige Bundesgesundheitsminis7506 terin Ulla Schmidt hat bis zum Jahr 2020 einen Bedarf von 300 000 zusätzlichen Pflegekräften benannt. Der Präsident des Deutschen Pflegerates, Herr Andreas Westerfellhaus, sagt: Aber wir haben im vergangenen Jahr 10 000 Ausbildungsplätze abgebaut! So sieht die Realität aus. Dieser Mangel an Arbeitskräften bzw. ausgebildeten Kräften soll jetzt mit Ungelernten behoben werden? Welche Tätigkeiten üben denn die Freiwilligen in einem Sozialen Jahr zum Beispiel im Altersheim aus? Spazierengehen, Vorlesen und Essen anreichen. Machen wir uns doch nichts vor: Bei der Personalknappheit im Gruppendienst wird das auch notwendig. Eine gelernte Altenpflegerin weiß, dass eine Seniorin aufrecht sitzen muss, um gut zu schlucken. Sie muss manchmal unterstützt werden, damit der Schluckreflex funktioniert. Das können nur ausgebildete Fachkräfte. Die alte Dame sollte auch ihre Brille aufsetzen, damit sie sieht, was sie isst, und das Interesse behält. Gerade Demenzkranke erkennen oft nicht, dass die Mahlzeit eine Mahlzeit ist. Warum erzähle ich Ihnen das alles? ({2}) Weil Ungelernte nicht erkennen können, was eine Fachkraft sieht. Mit dem Einsatz der Freiwilligen in der Pflege entwerten Sie die Berufsausbildung der Altenpflegerin, und die Pflegebedürftigen erhalten keine qualifizierte Grundversorgung. ({3}) Die Pflegekasse bezahlt in der Pflegestufe I bereits über 1 400 Euro für einen Heimplatz. Damit haben die betreuten Seniorinnen und Senioren auch Anspruch auf fachlich qualifiziertes Personal. Es wäre ja jede Berufsausbildung im sozialen Bereich überflüssig, wenn durch Ungelernte diese Teile übernommen werden könnten. Die Familienministerin benutzt die jungen Freiwilligen, um einen staatlich subventionierten Niedriglohnbereich zu erhalten und auszubauen. Warum sollen denn diese jungen Menschen auf einmal massenhaft das Interesse entwickeln, zu dienen? Was hat denn diese Bundesregierung für die jungen Menschen getan? Am 19. Oktober 2010 schreibt das Handelsblatt, ganz bestimmt kein linkes Blättchen, dass durch den Wegfall des Zivildienstes und die Aussetzung des Wehrdienstes 2011 50 000 zusätzliche Studenten aufgenommen werden müssten. Dafür hat die Bundesregierung nicht vorgesorgt. Sie nimmt es hin, dass Studienberechtigte ebenso wenig einen akademischen Ausbildungsplatz erhalten, wie Jugendliche eine berufliche Ausbildung finden können. Stattdessen bieten Sie als Warteschleife das Freiwillige Soziale Jahr an. ({4}) Der Ausbildungsplatzmangel und die Jugendarbeitslosigkeit werden mit dem Ausbau des Freiwilligen Sozialen Jahres nicht beseitigt. Schaffen Sie also endlich Ausbildungs- und Arbeitsplätze, und schaffen Sie dann die Rente mit 67 ab! ({5}) Warum gibt es eigentlich keine Offensive zur Schaffung von Ausbildungsplätzen für junge Menschen vor allem im sozialen Bereich, wo wir doch wissen, dass dort qualifiziertes Personal benötigt wird? Weil diese Bundesregierung und ihre Vorgängerinnen leider auch den Sozialstaat abbauen, weil Unternehmen Steuergeschenke gemacht werden, statt die Millionäre zu besteuern. ({6}) - Es ist schön, dass Sie das schon wissen. Das freut mich. Dann hat es ja geholfen, dass wir Ihnen das erklären. ({7}) Die Linke ist dafür, jedem jungen Menschen, der es möchte, ein Freiwilliges Soziales Jahr als Lerndienst zwischen Berufsausbildung und Arbeitsleben zu ermöglichen. Dies darf aber nicht als letzte Möglichkeit und Warteschleife oder gar als gesamtgesellschaftliche Lösung eines Pflegenotstandes dienen. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- Ja. - Wir wollen einen individuellen Anspruch erhalten. Die freiwerdenden Mittel können gerne genutzt werden, um die Freiwilligendienste für Jugendliche zu erhalten, nicht aber für einen freiwilligen Zivildienst bzw. für Dienstposten von Pflegebeamten, deren Dienstverhältnis keine Mitbestimmungsrechte wie bei Arbeitnehmern zulässt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Noch zwei Sätze?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nein.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- Gut. - Es sollen nicht nur die großen Träger, sondern auch die kleinen gefördert werden. Danke. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat der Kollege Peter Tauber für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist es richtig: Freiwilligkeit ist ein hohes Gut. Aber ich finde, wir müssen in der Diskussion ein bisschen aufpassen, dass nicht der Eindruck entsteht, dass das, was Wehrdienst- und Zivildienstleistende in den letzten Jahrzehnten für dieses Land geleistet haben, weniger wert ist. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass es ein wesentlicher Effekt des Wehr- und Zivildienstes war, dass junge Männer diesen Dienst zwar aus einem Zwang oder einer als unangenehm empfundenen Pflicht heraus antraten, ihn aber in dem Bewusstsein beendet haben, dass er ihnen nicht geschadet hat, sondern dass sie auch persönlich davon profitiert haben und etwas Gutes für die Gesellschaft getan haben. Jetzt kommen wir zu der spannenden Frage - damit müssen wir uns gemeinsam befassen -, wie wir gerade die Zielgruppe erreichen, die es nicht von sich aus für lobenswert und erstrebenswert hält, ein Jahr Freiwilligendienst zu leisten. Wie können wir mehr junge Menschen für einen Freiwilligendienst begeistern? Ich bin sehr froh, dass die christlich-liberale Koalition einen Punkt aus dem Koalitionsvertrag aufgreift und fest in den Blick nimmt, nämlich den Ausbau der Freiwilligendienste. Denn wir sind davon überzeugt, dass das ein wesentliches Element ist, um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken; denn so kann jungen Menschen vermittelt werden, dass es um mehr geht, als Steuern zu zahlen und wählen zu gehen, und dieses Land ihre aktive Betätigung braucht, damit sich unsere Gesellschaft in vielerlei Punkten in eine positive Richtung weiterentwickeln kann. ({0}) Ich habe bereits vor zwei Monaten gesagt - Herr Rix hat darauf angespielt -, dass ein Ende des klassischen Zivildienstes durchaus Chancen zur Etablierung eines neuen Freiwilligendienstes bietet, der - das sehen wir in der Debatte vielleicht unterschiedlich - das Beste aus dem Zivildienst und dem Freiwilligen Sozialen Jahr zusammenführt. ({1}) Ich hatte am Anfang der Debatte ein bisschen die Sorge, dass beide Seiten in das klassische Denken der Besitzstandswahrung verfallen, wie wir es immer erleben, wenn sich etwas fundamental ändert. Der eigene Besitzstand muss unbedingt verteidigt werden. Man ist nicht bereit, etablierte Strukturen einmal kritisch zu durchleuchten und zu hinterfragen. Im Gegensatz dazu steht, wie ich denke, der Vorschlag der Ministerin, mit dem sie damals eine Diskussionsgrundlage dafür schaffen wollte, dass das eigentliche Ziel wieder in den Mittelpunkt rückt, nämlich der Ausbau der Freiwilligendienste. Eine wichtige Frage ist nun, wie neue Strukturen aussehen können. Ebenso wichtig ist aber auch die Frage der Zuständigkeit. Bei genauerem Hinsehen hilft es, glaube ich, allerdings nicht, zu fordern, dass die Zuständigkeit entweder bei den Ländern oder beim Bund liegt. Vielleicht sollten wir an dieser Stelle aus der Vielfalt eine Stärke machen, wie es innerhalb der Freiwilligendienste bereits der Fall ist. Man muss ja der Wahrheit einmal die Ehre geben und festhalten, dass das Freiwillige Soziale Jahr bundesweit eine sehr bescheidene Angelegenheit wäre, wenn man das Engagement von Baden-Württemberg, Bayern und Hessen unberücksichtigt ließe. ({2}) Der Weisheit letzter Schluss ist aber auch nicht zwingend die alleinige Kompetenz des Bundes. Wir müssen über Folgendes ernsthaft reden: Wenn es zwei Säulen gibt - zum einen die Länder, die Verantwortung übernehmen und Gelder zur Verfügung stellen können; zum anderen den Bund, der das Gleiche tut -, dann darf das nicht dazu führen, dass sich für die Freiwilligen in der Struktur des Dienstes erkennbare Unterschiede ergeben. Mit dem Namen „freiwilliger Zivildienst“ versucht man, an das positive Image des Zivildienstes anzuknüpfen. Aber diese Namenswahl ist vielleicht nicht ganz glücklich. Deshalb werden wir mit der Benennung des bundesweiten Freiwilligendienstes den nächsten Schritt gehen und deutlich machen, dass wir vor einem fundamentalen Systemwechsel stehen. Wir haben jetzt so viele Möglichkeiten wie nie zuvor, die Freiwilligendienste auszubauen. Einen solchen Impuls für die Freiwilligendienste gab es noch nie in den letzten Jahren. Wir sind hier auf einem sehr guten Weg. Es ist aber wichtig, dass das auf Augenhöhe mit den Freiwilligen geschieht, weil es keinen Unterschied machen darf, in welcher der beiden Säulen eines gemeinsamen Systems sie ihren Dienst verrichten. ({3}) Ich persönlich habe den Eindruck, dass die Bundesregierung in den Gesprächen schon sehr viel weiter ist, als das Ihre beiden Anträge nahelegen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf das Ehrenamt und die Kultur der Freiwilligendienste, in der junge Menschen aufgerufen sind, selber ihre Umgebung attraktiv zu gestalten. Ich möchte noch auf vier Punkte eingehen, die mir wichtig sind. ({4}) Der erste Punkt ist die Vielfalt der Angebote. Natürlich bleibt der soziale Bereich besonders wichtig. Aber wir müssen Freiwillige auch in der Kultur, im Sport und im Bildungsbereich sehr viel stärker einsetzen. Auch der freiwillige Wehrdienst muss in diesem Zusammenhang genannt werden. Beim zweiten Punkt, der neben der Angebotsvielfalt ebenfalls wichtig ist, geht es um die Frage, wie die Kompetenzen, die die jungen Menschen während ihres frei7508 willigen Dienstes erwerben, zertifiziert werden können und wie bescheinigt werden kann, dass sie etwas gelernt haben, damit sie auch persönlich den Eindruck haben, von diesem Dienst profitiert zu haben. ({5}) Das hat auch etwas mit dem dritten Punkt, der unheimlich wichtig ist, zu tun: mit der Anerkennungskultur. Viertens müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir junge Menschen für einen Freiwilligendienst begeistern können. Wir wollen nämlich nicht in einem Land leben, in dem das Prinzip gilt: Wenn jeder an sich selber denkt, ist an alle gedacht. ({6}) Wir sind vielmehr der Auffassung, dass eine Gesellschaft nur sozial und menschlich ist, wenn nicht der Staat Verantwortung für den Einzelnen übernimmt, sondern wenn Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. In diesem Sinne sind die Freiwilligendienste eine ganz wichtige Säule. ({7}) Sie haben recht: Es gibt noch viel zu tun. Aber mein Eindruck nach den Gesprächen in den letzten Tagen ist, dass wir nur weiterkommen, wenn wir ein Stück weit gemeinsam daran arbeiten. Ich lade Sie deshalb zur Zusammenarbeit ein. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Aber nicht mehr heute. ({0}) Die Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Peter Tauber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004174, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es bleibt auch von unserer Seite noch viel zu tun, damit in Zukunft genügend junge Männer und Frauen begeistert sind, wenn es heißt: Freiwillige vor! Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/3436 und 17/3429 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 10. November 2010, um 13 Uhr, ein. Genießen Sie den sonnigen Nachmittag, das Wochenende und die sitzungsfreie Woche sowie die gewonnenen Einsichten. Die Sitzung ist geschlossen.