Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/27/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Einen schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 28./29. Oktober 2010 in Brüssel und zum G-20-Gipfel am 11./12. November 2010 in Seoul Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP sowie je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Interfraktionell ist verabredet, in der Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinviertel Stunden zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. ({0})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gemeinsam haben wir vor dreieinhalb Wochen den 20. Geburtstag des wiedervereinten Deutschlands gefeiert. Gemeinsam haben wir uns die Kraft der Freiheit in Erinnerung gerufen, die es möglich gemacht hat, dass wir heute mit all unseren Nachbarn in Freundschaft leben. Wir erleben die glücklichste Phase in der deutschen Geschichte. Dafür sind wir unendlich dankbar. ({0}) Wir vergessen nie, dass dieses Glück unseres Landes von der Geschichte der Europäischen Union nicht zu trennen ist. In diesem Bewusstsein macht unsere Generation Politik für unser Land und für Europa; denn umgekehrt ist das europäische Einigungswerk ohne deutsche Beteiligung überhaupt nicht vorstellbar. Dessen sollten wir uns nicht nur an Festtagen und Jubiläen bewusst sein, sondern auch im politischen Alltag. Das heißt konkret: Unser sozialer und wirtschaftlicher Erfolg ist untrennbar mit der europäischen Entwicklung verknüpft. Das macht es notwendig, dass sich alle Mitgliedstaaten gemeinsamen Regeln unterwerfen. Denn das Fehlverhalten Einzelner kann zu Verwerfungen für alle führen; das haben uns die Krisensituation im Frühjahr in Griechenland und die Krise des Euro in erschreckender Weise vor Augen geführt. Diese Krise in Europa war existenziell. Wir haben sie in den Griff bekommen, aber das alleine reicht noch nicht. Ich sage Ihnen deshalb ganz deutlich: Mein Ziel und das Ziel der Bundesregierung insgesamt ist, dass die Währung Europas, der Euro, dauerhaft stabil ist. ({1}) Das hat mein Handeln im Frühjahr bestimmt, und das bestimmt unser Handeln heute. In meiner Regierungserklärung vom 19. Mai habe ich hier gesagt - ich darf das wiederholen -: Wir müssen zweierlei schaffen: die Bewältigung der akuten Krisensituation zum einen und die Vorsorge für die Zukunft zum anderen. Heute können wir festhalten: Bei der Bewältigung der aktuellen Krise haben wir einen großen Schritt nach vorne gemacht, gerade auch dank der ehrgeizigen Reformen und Sparmaßnahmen, die Griechenland, aber auch andere Länder ergriffen haben. Wir haben - wie Sie sich erinnern werden - gegen großen Widerstand aus diesem Haus wie auch aus Europa auf Reformen und Sparmaßnahmen bestanden. Heute weiß nun jeder, dass der Kurs der Regierung der einzig richtige war. ({2}) Auf speziellen Wunsch nehme ich die Linke aus. ({3}) Redetext Ansonsten weiß es ganz Europa. Aber, bitte schön, wenn Sie nicht dabei sein wollen, können wir das ausdrücklich festhalten. ({4}) Ich habe damals gefordert: Wir brauchen eine Stabilitätskultur in ganz Europa. Heute kann ich feststellen: Fast alle EU-Länder haben sich unserem energischen Konsolidierungskurs angeschlossen. Dieser Kurs war und ist unumgänglich und muss unter allen Umständen fortgesetzt werden; denn noch - das ist die Wahrheit - ist nicht ausgemacht, dass Europa wirklich dauerhaft gestärkt aus dieser Krise hervorgeht. Noch ist nicht ausgemacht, dass wir tatsächlich Vorsorge für die Zukunft treffen. Noch stehen weitere entscheidende Schritte aus. Wir müssen diese Schritte unternehmen, und zwar nicht irgendwann, wenn Europa das Wasser wieder bis zum Halse steht, sondern jetzt. Dazu bin ich fest entschlossen. ({5}) Der Europäische Rat morgen und übermorgen ist von größter Bedeutung. Wir müssen die richtigen Lehren aus der Krise ziehen, verhindern, dass neue Krisen entstehen, und die Wirtschafts- und Währungsunion langfristig auf ein stabiles Fundament stellen. Deutschland und Frankreich haben auf dem Weg zu diesem Ziel in der vergangenen Woche gemeinsam Führung übernommen. Es ist wahr: Eine deutsch-französische Einigung ist nicht alles in Europa. Aber wahr ist auch: Ohne eine deutschfranzösische Einigung wird vieles nichts. Das gilt auch in diesem Fall. ({6}) Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass sich Deutschland und Frankreich in einigen entscheidenden Punkten einig sind: erstens darüber, dass wir die Stabilitätsregeln in der Währungsunion verschärfen wollen, um rascher auf unverantwortliches Verhalten einzelner Mitgliedstaaten reagieren zu können, und zweitens darüber, dass wir jetzt Vorsorge für mögliche zukünftige Krisensituationen treffen wollen, um die Stabilität der EuroZone langfristig zu sichern. ({7}) Zum ersten Schwerpunkt, also zur Verschärfung der haushalts- und wirtschaftspolitischen Überwachung in Europa, um künftige Krisensituationen nach Möglichkeit zu verhindern: Dazu wollen wir morgen im Europäischen Rat den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe unter Vorsitz des Präsidenten des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, annehmen. Deutschland hat die Einsetzung dieser Gruppe im März 2010 durchgesetzt; das waren wir gemeinsam. Deutschland hat durch die exzellente Arbeit von Finanzminister Schäuble die Beratungen mit wichtigen Vorschlägen geprägt, und Deutschland hat dafür gesorgt, dass durch die Einigung mit Frankreich der Weg für einen Konsens in der Gruppe insgesamt möglich wurde. ({8}) Ich sage ganz klar: Das Ergebnis kann sich sehen lassen. ({9}) Schon heute ist sicher: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt erhält deutlich mehr Biss, um eine stabilitätsgefährdende Politik einzelner Euro-Staaten zu verhindern. ({10}) Ich will drei Beispiele dafür nennen: Erstens. Sanktionen werden künftig früher und schneller verhängt. Sie werden viel früher einsetzen als bisher, und zwar präventiv, bei schweren Fehlentwicklungen schon bevor ein Mitgliedstaat die Defizitgrenze von 3 Prozent verletzt. Das gibt es heute überhaupt nicht. Das ist vollkommen neu. Die Sanktionen werden automatisiert, und zwar sowohl bei dem sogenannten präventiven Arm, von dem ich eben gesprochen habe, als auch beim Defizitverfahren selbst. Das heißt, eine Sanktion kommt, wenn der Rat nicht mit qualifizierter Mehrheit widerspricht. ({11}) Damit werden die politischen Hürden für Sanktionen deutlich verkleinert. Nichts anderes versteht auch die Europäische Kommission unter automatischen Sanktionen. Zweitens. Ab jetzt wird der Schuldenstand eine herausragende Rolle spielen. Bislang mussten Mitgliedstaaten nur auf die Defizitgrenze von 3 Prozent achten. Allein wegen eines Schuldenstandes von mehr als 60 Prozent musste niemand ein Verfahren befürchten. Künftig gilt: Ab einem Schuldenstand von über 60 Prozent wird ein Defizitverfahren eingeleitet, wenn der Mitgliedstaat den Schuldenstand nicht hinreichend abbaut. Das ist ein großer Fortschritt; denn die größten Gefahren für die Stabilität der Euro-Zone gehen von exorbitant hohen Schuldenständen einiger Mitgliedstaaten aus. Ein Defizit unter 3 Prozent ist bei schwachem Wachstum leider keine Garantie dafür, dass der Schuldenstand nicht völlig aus dem Ruder läuft. Genau das wird jetzt geändert. ({12}) Drittens werden wir - das ist auch der Ausdruck dessen, dass wir in Zukunft als Wirtschaftsregierung im Rat arbeiten - nicht mehr zusehen, wenn Mitgliedstaaten durch falsche Politik ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit untergraben. ({13}) Hier wird es künftig Sanktionen geben - das ist ein völlig neuer Ansatz -; denn die Krise hat gezeigt: Durch falBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel sche Wirtschaftspolitik können massive Strukturprobleme entstehen. ({14}) - Herr Trittin, auch wenn Sie gerne hätten, dass wir damit gemeint sind, ist der Eindruck in Europa im Augenblick nicht, dass Deutschland eine falsche Wirtschaftspolitik macht, schon gar nicht eine falsche Arbeitsmarktpolitik. ({15}) So ist die Lage nun einmal. Auch Ignoranz ändert nichts daran. Meine Damen und Herren, auf diese Maßnahmen haben sich die Finanzminister und die Europäische Kommission in der Van-Rompuy-Arbeitsgruppe einvernehmlich verständigt. Mit ihnen verschärfen wir die Stabilitätsregeln der Wirtschafts- und Währungsunion. Mit ihnen wollen wir verhindern, dass neue Krisen überhaupt entstehen können. Mit ihnen allein sind wir aber immer noch nicht am Ziel; denn auch mit den schärfsten Stabilitätsregeln können wir noch nicht zu 100 Prozent ausschließen, dass es eines Tages wieder zu einem extremen Krisenfall kommt, der die Stabilität der Euro-Zone insgesamt gefährdet. Wenn das so ist, dann müssen wir den Tatsachen ins Auge sehen. In diesem Fall kann es nur eine Konsequenz geben, was mich zu meinem zweiten Schwerpunkt führt: Wir müssen heute Vorsorge zur Bewältigung künftiger Krisensituationen treffen. Dazu brauchen wir - das ist die Überzeugung der Bundesregierung sowie der Koalitionsfraktionen - einen neuen, robusten Krisenbewältigungsrahmen für Notfälle. Nur so können wir die Stabilität der Euro-Zone dauerhaft sichern. Das kann nicht irgendein Krisenbewältigungsrahmen sein. Ein neues Wort alleine hilft da wenig. Vielmehr muss der neue Krisenbewältigungsrahmen rechtlich unangreifbar sein, das heißt ohne Wenn und Aber, klipp und klar: Gelingen wird das nur mit einer Änderung der europäischen Verträge. Diese Änderung benötigen wir. Wir sind bereits so weit, dass sich Deutschland und Frankreich darin einig sind. Das hätten viele, wenn nicht fast alle von Ihnen noch vor einem halben Jahr für unmöglich gehalten. ({16}) Wir sind aber so weit. Deutschland und Frankreich sind hierüber einer Meinung. Damit haben wir einen ersten, großen Schritt geschafft. Diesem müssen wir jetzt natürlich den zweiten folgen lassen. Dabei handelt es sich um eine Einigung in ganz Europa über die Notwendigkeit von Vertragsänderungen. Ich mache mir gar keine Illusionen. Das durchzusetzen, wird schwer genug. Deshalb wird es aber noch lange nicht weniger notwendig, und zwar im Sinne des Wortes „not-wendig“. Warum? Die Antwort liegt auf der Hand. Wir müssen das jetzt anpacken, weil der derzeitige Rettungsschirm, der aus einer unerwarteten Notsituation entstanden ist, nur ein provisorischer ist. Er läuft 2013 aus. Das haben wir auch genau so gewollt und beschlossen. Eine einfache Verlängerung kann und wird es mit Deutschland nicht geben, ({17}) weil der Rettungsschirm nicht als langfristiges Instrument taugt, weil er Märkten und Mitgliedstaaten falsche Signale sendet und weil er eine gefährliche Erwartungshaltung fördert. Er fördert die Erwartungshaltung, dass Deutschland und andere Mitgliedstaaten und damit auch die Steuerzahler dieser Länder im Krisenfall schon irgendwie einspringen und das Risiko der Anleger übernehmen können. Das war für die Abwendung der akuten Krise in diesem Jahr unvermeidbar. Mit wirklicher Vorsorgepolitik hat das aber wenig bis gar nichts zu tun. Deshalb müssen wir das ändern. Der jetzige Rettungsschirm darf nicht der Referenzfall für die Zukunft sein. Stattdessen brauchen wir einen Mechanismus, bei dem in einem transparenten, nachvollziehbaren Verfahren auch private Gläubiger beteiligt werden. Diese Forderung ist nicht neu. Wir haben sie bereits im Mai in diesem Hohen Hause gemeinsam erhoben. Damals stand Deutschland in Europa damit noch weitgehend allein. Nach dem Treffen von Deauville unterstützt nun auch Frankreich unser Anliegen. Lassen Sie mich an dieser Stelle eines ganz klar sagen, damit es hier keine Missverständnisse gibt: Auch künftig kann das Ergreifen geeigneter koordinierter bilateraler Maßnahmen nur Ultima Ratio sein, also letztes Mittel, mit dem die Mitgliedstaaten die Finanzstabilität im Euro-Raum insgesamt sichern. Frankreich und Deutschland fordern noch eine weitere Maßnahme, und zwar im Falle einer schwerwiegenden Verletzung der Grundprinzipien der Wirtschafts- und Währungsunion die Stimmrechte des betroffenen Mitgliedstaates aussetzen zu können. Auch das ginge nicht ohne eine Änderung der Verträge. Ich weiß, dass eine Aussetzung der Stimmrechte bei vielen unserer europäischen Partner aufgrund der damit verbundenen Kompetenzänderung auf Widerstand stößt. Ich nehme das sehr ernst. Aber ich ergänze: Wer das ablehnt, muss überzeugend darlegen können, dass er bei einer schwerwiegenden Verletzung der Grundprinzipien der Wirtschafts- und Währungsunion nicht allein auf das Prinzip Hoffnung setzt, also darauf, dass sich die Einsicht zur Besserung schon irgendwie durchsetzen wird. Das wäre grob fahrlässig; wir würden uns nur in die Tasche lügen. Das zu vermeiden, sollte unser gemeinsames Ziel sein. ({18}) Fassen wir zusammen: Ich werde morgen und übermorgen auf dem Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs darauf drängen, dass Präsident Van Rompuy einen präzisen Auftrag des Europäischen Rates erhält, auf dessen Basis er in enger Abstimmung mit den Mitgliedern des Europäischen Rates Vorschläge für die erforderlichen, eng begrenzten Vertragsänderungen und konkrete Optionen für einen auf Dauer angelegten robusten Krisenbewältigungsrahmen entwickeln und spätestens bis zum März 2011 dem Europäischen Rat vorlegen kann. Ich sage für die Bundesregierung und unser Land unmissverständlich: Für mich sind die Zustimmung zum Bericht der Van-Rompuy-Arbeitsgruppe und ein präziser Auftrag an Herman Van Rompuy nicht voneinander zu trennen. Sie sind ein Paket. ({19}) Wir alle wissen: Die Lösung muss bis zum Sommer 2013 rechtlich gültig sein. Das heißt, für die Bewältigung künftiger Krisen sind wir nur dann gewappnet, wenn das der Fall ist. Deshalb sage ich: Obwohl das noch lange hin zu sein scheint, ist nicht viel Zeit, um das alles umzusetzen. Sie alle wissen: Ich war diejenige, die während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 zusammen mit dem damaligen Außenminister Steinmeier den Lissabon-Vertrag auf den Weg gebracht hat. Heute bin ich diejenige, die zusammen mit unserem Außenminister Guido Westerwelle entschieden dafür eintritt, ({20}) dem schwierigen Weg einer Vertragsänderung nicht auszuweichen, sondern ihn mutig und entschlossen zu gehen. ({21}) Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern Europas den Nachweis erbringen, dass sie aus der Krise die richtigen und notwendigen Lehren gezogen haben. ({22}) Nur weil sich viele vor dem natürlich beschwerlichen Weg der Vertragsänderung fürchten, ist das noch lange kein Argument gegen diesen Weg. Ich bin überzeugt: Nur auf diesem Weg erreichen wir eine zweifelsfreie demokratische Legitimation für einen auf Dauer angelegten Krisenbewältigungsrahmen. Das ist das Ziel der Bundesregierung. Ich stehe dafür ein, dass Deutschland eine führende Rolle dabei spielt, die gute Zukunft der Europäischen Union zu sichern. Wir werden dafür nicht immer sofort Beifall bekommen - das haben wir im Frühjahr erlebt -, aber am Ende kommt es nicht auf den schnellen Beifall an, sondern darauf, eine Mehrheit für unsere richtigen Vorschläge zu gewinnen, von deren Bedeutung für eine gute Zukunft Europas wir überzeugt sind. Daran arbeiten wir, und dafür bitte ich um Unterstützung. ({23}) Der Europäische Rat morgen und übermorgen wird sich auch mit dem kommenden G-20-Gipfel am 11. und 12. November dieses Jahres in Seoul befassen. Die Errichtung einer stabilen Finanzmarktarchitektur wird eines der zentralen Themen des G-20-Gipfels sein. Hier darf ich einen Satz wiederholen, den ich im März 2009 inmitten der um sich greifenden Krise im Vorfeld des G-20-Gipfels in London gesagt habe: … Kooperation statt Abschottung. Das ist der einzige Weg, wieder zu Wachstum und zu Beschäftigung zu kommen. Dieser Satz hat nichts von seiner Aktualität verloren. Ich wiederhole ihn ganz bewusst mit Blick auf Begriffe wie Währungskrieg, Abwertungswettlauf und Handelsprotektionismus, die derzeit in der internationalen Diskussion leider immer wieder zu hören sind. Eine Debatte mit solchen Begriffen ist falsch. Sie ist nicht nur politisch kurzsichtig; eine Debatte mit solchen Begriffen blendet zudem die erzielten enormen Erfolge bei der Krisenbekämpfung aus. Der Schlüssel dafür war eine in dieser Intensität und Dichte niemals zuvor erreichte internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit. Die einzig erfolgversprechende Strategie für eine endgültige Überwindung der Krise sowie für dauerhaftes Wachstum und mehr Beschäftigung in der Welt ist die konsequente Fortsetzung dieses Weges. Tatsache ist: Die G 20 hat sich mit der Finanzmarktkrise zum wichtigsten globalen Forum für wirtschaftspolitische Fragen entwickelt. Ohne die entschlossene Umsetzung der dort gemeinsam vereinbarten Maßnahmen hätte sich die Weltwirtschaft nicht so schnell von dem schärfsten wirtschaftlichen Einbruch in Friedenszeiten seit 80 Jahren erholt. Ohne das Drängen der G 20 wäre es auch nicht möglich gewesen, als Lehre aus der Krise eine so umfassende Reformagenda für die internationale Finanzarchitektur aufzustellen, wie wir es getan haben, und diese dann auch schrittweise abzuarbeiten. Ohne Zweifel sehen wir schon heute: Europa hat deutliche Fortschritte gemacht, zum Beispiel bei der Aufsicht über Manager von Hedgefonds und bei Beteiligungsgesellschaften; was die Beteiligungsgesellschaften angeht, hat der Rat vorige Woche einen Durchbruch erzielt und den Weg für eine rasche Einigung mit dem Europäischen Parlament freigemacht. Weitere Beispiele sind die Stärkung der Finanzaufsicht in Europa, eine bessere Kontrolle der Ratingagenturen und neue Vergütungsregeln, die Anreize für risikobewusstes Verhalten setzen. Damit hat Europa zu unserem gemeinsamen Ziel, dass alle Finanzmärkte, alle Finanzmarktakteure und alle Finanzinstrumente einer angemessenen Aufsicht und Regulierung unterworfen werden, einen beachtlichen Beitrag geleistet. ({24}) Aber das reicht noch nicht. Jetzt geht es darum, die Arbeiten an einem stabilen neuen Rahmenwerk entschlossen fortzuführen, und zwar auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Die Regierungen dürfen in der Zukunft nicht mehr gezwungen sein, mit Ad-hocRettungsmaßnahmen für private Verluste systemisch relevanter Banken vollumfänglich einzustehen. Deshalb muss die Fähigkeit der Banken verbessert werden, solche Verluste selbst zu tragen. Dafür brauchen wir eine StärBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel kung der Kapitalanforderungen für Banken. Hierzu hat der Baseler Ausschuss quantitativ und qualitativ höhere Kapitalstandards beschlossen - ein ganz wichtiger Schritt. Wir müssen auch global abgestimmte Regeln aufstellen, damit wir systemisch relevante Finanzinstitute in Krisenfällen grenzüberschreitend restrukturieren oder abwickeln können, und zwar finanzmarktschonend und möglichst ohne Belastung der Steuerzahler. Deutschland wird sich bei dem bevorstehenden G-20Treffen in Seoul dafür einsetzen, dass wir bei diesem wichtigen Thema vorankommen. Für Deutschland hat die Bundesregierung bereits ein wichtiges Gesetzgebungsvorhaben zur Restrukturierung bzw. Abwicklung von Banken auf den Weg gebracht. Dieser Gesetzentwurf ist in den parlamentarischen Beratungen und hat international Vorbildcharakter. Die Europäische Kommission hat für Anfang 2011 Rechtsetzungsvorschläge angekündigt. Ich sage es ganz unumwunden: Was die Beteiligung des Finanzsektors an den Kosten der Krise betrifft, hätte sich die Bundesregierung mehr vorstellen können. ({25}) Wir hätten uns vorstellen können, dass es G-20-weit zu einer einheitlichen Lösung kommt. Dazu ist leider kein Konsens erzielt worden. Das ändert aber nichts daran, dass wir an unserem Ziel festhalten. Es darf kein Weg daran vorbeiführen, dass sich der Finanzsektor an den Kosten der Krise beteiligt. ({26}) Er muss Vorsorge für eventuelle künftige Krisen treffen. ({27}) Deshalb unterstützt die Bundesregierung weiterhin die Einführung einer Finanztransaktionsteuer, ({28}) zumindest, wenn sie global nicht umsetzbar ist, auf europäischer Ebene; so ist das. ({29}) - Meine Damen und Herren, auch Sie können nicht ignorieren, dass es dafür bei der G 20 keine Mehrheiten gab. ({30}) Eckpfeiler einer neuen globalen Finanzarchitektur ist ein starker Internationaler Währungsfonds. ({31}) Wir haben daher auf den vorangegangenen G-20-Gipfeln beschlossen, die Rolle des IWF bei der Krisenprävention und bei der Krisenbekämpfung zu stärken. Die G-20-Finanzminister haben am letzten Wochenende in Korea das Feld dafür bereitet, dass wir unsere Reformziele in Seoul erreichen können. Im IWF werden sich die veränderten Verhältnisse in der Weltwirtschaft künftig stärker als heute widerspiegeln. Dynamische Schwellenländer werden durch einen höheren Quotenanteil und mehr Sitze im Exekutivdirektorium stärker repräsentiert sein. Dieser Erfolg ist insbesondere den Europäern zu verdanken, die ihren Einfluss zugunsten einer gerechteren Gesamtordnung im IWF etwas zurückgenommen haben. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich Wirtschaftsminister Rainer Brüderle für seine hervorragende Verhandlungsführung in Südkorea danken, als er Finanzminister Schäuble vertreten hat, ({32}) über dessen Hiersein ich mich heute besonders freue, genauso wie über das von Herrn Steinmeier. ({33}) Meine Damen und Herren, neben der Weiterführung der Reformen auf den Finanzmärkten wird die weltweite Stärkung der Wachstumskräfte der zweite Schwerpunkt der Diskussionen in Seoul sein. Was können wir gemeinsam für ein nachhaltiges, starkes und ausgewogenes Wachstum tun? Zunächst einmal müssen wir verstehen, dass quantitative Ziele in Bezug auf die Leistungsbilanz keine Lösung sein können. Leistungsbilanzsalden sind Ausdruck von Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften und kommen durch Marktprozesse zustande, und in diese darf an dieser Stelle nicht künstlich eingegriffen werden. ({34}) Zur Erreichung eines starken, nachhaltigen und ausgewogenen Wachstums ist es daher vielmehr erforderlich, die strukturellen Ursachen, die gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichten zugrunde liegen, in den Blick zu nehmen und Wettbewerbsnachteile dauerhaft zurückzuführen. Wenn wir diesbezüglich auf Deutschland schauen, dann wird klar, dass unser Land seiner internationalen Verantwortung als führende Wirtschaftsnation gerecht wird. Wir haben zwei Konjunkturpakete im Umfang von zusammen rund 80 Milliarden Euro aufgelegt, und wir haben weitere Maßnahmen ergriffen, um die Nachfrage zu stärken. Damit haben wir den Abschwung in Deutschland gestoppt. Im Übrigen sind durch unsere Maßnahmen gegen die Krise unsere Exporte in der Krise wesentlich stärker gesunken als die Importe. Deutschland hat damit einen substanziellen Beitrag zur Stabilisierung der Weltwirtschaft geleistet, und dies werden wir auch weiterhin tun. ({35}) Inzwischen sind wir dabei, die Krise schneller als andere Länder zu überwinden. ({36}) Die aktuellen Zahlen und Daten sind beeindruckend. ({37}) Mit einem Wachstum von 3,4 Prozent in diesem und voraussichtlich 1,8 Prozent im nächsten Jahr gehört Deutschland zu den Wachstumsmotoren in Europa. Ich füge hinzu: Bei den Arbeitsplätzen zeigt sich das noch deutlicher; denn wir können damit rechnen, dass wir bald weniger als 3 Millionen Arbeitslose haben. Dies ist in einer solchen Situation ein Riesenerfolg. ({38}) Auch die Investitionstätigkeit ist mittlerweile wieder spürbar angestiegen. Wir können heute sagen: Es war richtig, die Krise auch unter Inkaufnahme einer massiven Verschuldung zu stoppen. Diesen Weg - daran werden Sie sich erinnern - ist die Bundesregierung gegangen. Da sich das als richtig erwiesen hat, wird es sich jetzt auch als richtig erweisen, dass wir nun gegen die Verschuldung vorgehen, und zwar genau jetzt, nicht früher, aber eben auch nicht später. Bei einer Wachstumsrate von über 3 Prozent in diesem Jahr ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür, mit der Konsolidierung zu beginnen. Die zeitlich befristeten Maßnahmen im Rahmen der Konjunkturpakete werden wie geplant zum Jahresende auslaufen. Eine wachstums- und beschäftigungsorientierte Haushaltskonsolidierung ist eingeleitet. Dies liegt genau auf der Linie, auf die sich die Staats- und Regierungschefs der G 20 im vergangenen Juni in Toronto verständigt haben. Auch die Belebung des internationalen Handels spielt bei der Erholung der Weltwirtschaft eine zentrale Rolle, und deshalb werden wir alles daransetzen - ich werde das auch in Seoul wieder auf die Tagesordnung bringen -, dass die Doha-Verhandlungen endlich mit einem vernünftigen Ergebnis abgeschlossen werden können; denn sie könnten zu einem wirklichen Wachstumsimpuls für einen freien Welthandel führen. Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich eine internationale Diskussion über angemessene Wechselkurse zwischen den weltweit bedeutendsten Währungen sachlich und in kooperativem Geist führen. Ich sage allerdings: Der globale Aufschwung würde infrage gestellt, wenn wir verstärkte Verzerrungen der Wechselkurse in Kauf nehmen würden. Ich bin überzeugt, Wechselkurse sollten mittelfristig die fundamentalen Daten einer Volkswirtschaft widerspiegeln. Eine Politik, die auf Wechselkursverzerrungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit abzielt, muss vermieden werden. ({39}) Denn bei einem Abwertungswettlauf verlieren am Ende alle. Die schlimmen Erfahrungen in der Folge der Weltwirtschaftskrise in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts sollten uns allen eindringliche Mahnung sein, die Fehler von damals nicht zu wiederholen. Wir haben in dieser Krise vieles richtig gemacht; aber wenn wir jetzt auf dem Weg raus aus der Krise Fehler von damals wiederholen würden, wäre das sehr schwierig und könnte wirklich ganz falsche Effekte hervorrufen. Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die zukünftige Schlagkraft der G 20 auch von der Fähigkeit abhängt, eine Agenda für die nächsten Jahre zu entwickeln und den kooperativen Ansatz, wie er zur Bekämpfung in der Krisenzeit sichtbar geworden ist, auf andere Themen zu übertragen. Deutschland wird hier Frankreich in seiner kommenden G-20-Präsidentschaft entschieden unterstützen. Wir unterstützen auch den Vorschlag der koreanischen Präsidentschaft, die Entwicklungspolitik in der Agenda der G 20 zu verankern: zum einen, weil wir als entwickelte Industrieländer unsere humanitäre Gesamtverantwortung kennen, aber zum anderen auch, weil sich die G 20 bewusst ist, dass die internationale Staatengemeinschaft ihre Ziele nur erreichen kann, wenn es nachhaltige Fortschritte in den Entwicklungsländern selbst gibt. Meine Damen und Herren, auf der Tagesordnung des Europäischen Rates wird fünf Wochen vor dem Beginn der UN-Klimakonferenz in Cancún selbstverständlich auch der internationale Klimaschutz stehen. Auch wenn er hier heute - wie auch in Brüssel und Seoul - wahrscheinlich nicht im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen wird, so hat Klimaschutz nichts von seiner Dringlichkeit verloren. Im Gegenteil, Deutschland steht unmissverständlich zum Ziel eines neuen umfassenden Klimaübereinkommens unter dem Dach der Vereinten Nationen. Es ist leider wahr: Cancún wird noch nicht den entscheidenden Durchbruch und das umfassende Klimaschutzabkommen bringen. ({40}) Aber wahr ist auch: Gerade dieser Konferenz zwölf Monate nach Kopenhagen kommt dahin gehend eine Bedeutung zu, dass gezeigt werden kann, dass wichtige Fortschritte beim Aufbau der internationalen Klimaschutzarchitektur und bei der Umsetzung konkreter Klimaschutzmaßnahmen möglich sind. ({41}) In diesem Sinne wird sich die Europäische Union für ein möglichst umfassendes und ehrgeiziges Ergebnis in Cancún einsetzen. Deutschland unterstützt das nach Kräften. ({42}) Meine Damen und Herren, die politischen Prioritäten, die die Bundesregierung mit Blick auf den Europäischen Rat und den G-20-Prozess verfolgt, sind ehrgeizig. Sie umzusetzen, erfordert unseren ganzen Einsatz. Rückschläge kann auch niemand ausschließen. Aber wenn wir mutig vorangehen, dann hat das für Europa immer Fortschritte gebracht. Und so wird es auch dieses Mal sein, wo sich so viele vor einer Änderung der europäischen Verträge scheuen. Doch nichts muss so bleiben, wie es ist. Das galt schon immer, und Veränderungen zum Besseren sind immer möglich, auch wenn der Weg steinig und mühsam ist. Mit dieser Haltung werde ich in Brüssel und Seoul dafür werben, dass Europa und die G 20 die Weichen richtig stellen. Und so werden wir einen wichtigen Beitrag für die Zukunft unseres Kontinents und der G 20 leisten. Herzlichen Dank. ({43})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Den nächsten Redner begrüße ich mit einem herzlichen Willkommen zurück. Frank-Walter Steinmeier hat das Wort für die SPD-Fraktion.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Es ist tatsächlich so: Ich bin froh, wieder da zu sein. ({0}) Frau Präsidentin, erlauben Sie mir einige Worte vorweg: Ich habe ganz ehrlich nicht damit gerechnet, dass sich so viele aus diesem Kreis partei- und fraktionsübergreifend in den letzten Wochen bei mir gemeldet haben. Sie haben mir geschrieben, mit mir telefoniert, ihre Anteilnahme bekundet und mir Zuspruch und Genesungswünsche übermittelt. Dafür möchte ich Ihnen wie auch für Ihre herzlichen Willkommensworte, Frau Präsidentin und Frau Bundeskanzlerin, von dieser Stelle aus herzlich danken. ({1}) Ich freue mich aber nicht nur selbst, dass ich wieder hier sein kann, sondern ich freue mich auch darüber, dass wir Herrn Schäuble wieder unter uns haben. Herr Schäuble, von mir persönlich, von meiner ganzen Fraktion und sicherlich von allen im Hause alle guten Wünsche für Ihre Gesundheit! ({2}) Was ich zu Herrn Schäuble gesagt habe, gilt über alles Ringen um richtige Politik hinweg. Aber zum Ringen und zum guten Ton dieses Hauses gehören auch die Debatte, der Streit um Positionen und auch deutliche Kritik, wo Anlass dazu besteht. Den haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, und die Bundesregierung in den letzten Tagen und Wochen auch in der Europapolitik reichlich geboten. Vor dem bevorstehenden europäischen Gipfeltreffen bietet die Koalition leider das gewohnte Bild. Wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, morgen in Brüssel mit den anderen am Tisch sitzen, dann wissen alle Ihre Kollegen dort schon, was am Wochenende hier in Berlin los war: offener Streit zwischen Kanzlerin und Vizekanzler und heftige Vorwürfe aus der Unions- und FDP-Fraktion. Von scharfer Kritik der CSU im Europaparlament war zu lesen, und es gab gegenseitige Schuldzuweisungen von allen Seiten. Glaube doch bitte keiner, das merke man nur in Berlin. Was ist das für ein trauriges Bild, mit dem diese Bundesregierung nach Brüssel fährt! ({3}) Und das in einer Zeit - das will ich ausdrücklich sagen -, in der die Welt wieder positiv auf Deutschland blickt und Deutschland durchaus wieder Wirtschaftslokomotive in Europa ist. Wenn jetzt die Zahl der Arbeitslosen in der Tat unter 3 Millionen sinkt, Frau Merkel, dann ist das ein Erfolg - das sehen wir auch so -, zu dem viele im Land beigetragen haben, nur einem wird er offenbar nicht zugeschrieben, nämlich dieser Bundesregierung. Und das hat Gründe. Angekündigt haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, einen Herbst der Entscheidungen. Offensichtlich hört keiner genau hin, wenn Sie das sagen. Jedenfalls ist die Sommerpause schon lange vorbei, und es geht so weiter, wie es vor der Sommerpause geendet hat. Ich sehe keinen Herbst der Entscheidungen, sondern einen Herbst von neuer Missgunst und neuem Streit. Die Koalitionspartner streiten sich weiter wie die Kesselflicker. Auch in Brüssel hält man sich mittlerweile genervt die Ohren zu. So sieht das Bild gegenwärtig aus. Es stellt sich leider nicht in den schönen rosaroten Farben dar, wie Sie sie uns eben aufgezeigt haben, Frau Bundeskanzlerin. ({4}) Wenn wir nach den Ursachen fragen, dann stellen wir fest, dass die Ursache für die ohrenbetäubende Kakofonie, die wir am Wochenende wieder gehört haben, wahrhaftig nicht bei der Opposition liegt und sicherlich nicht bei der SPD. Sie wissen, Frau Merkel: Wir Sozialdemokraten stehen für eine verantwortliche Europapolitik. ({5}) Sie wissen auch, dass Sie unsere Zustimmung zu den Griechenland-Hilfen und dem Euro-Rettungsschirm hätten bekommen können. Sie wissen das, aber Sie hatten weder Kraft noch Mut, Ihren eigenen Leuten beizubringen, dass auch die Finanzmärkte ihren Beitrag zur Bewältigung der Krise leisten müssen. ({6}) Das müssen sie, weil die normalen Steuerzahler es schlicht nicht mehr ertragen, dass die Belastungen am Ende immer nur bei ihnen abgeladen werden. Für mich und meine Fraktion - das sei hier noch einmal klargestellt - bleibt es dabei: Wir werden uns nicht davon abbringen lassen, dass diejenigen, die in und an der Finanzkrise Milliarden verdient haben, auch zahlen. Wir streiten weiter mit aller Kraft und Energie für die finanzielle Beteiligung der Finanzmärkte. Deshalb sage ich noch einmal: Die Finanzmarkttransaktionsteuer war vernünftig und ist vernünftig. Sie ist notwendig, und - ich bin sicher - sie muss und sie wird auch kommen, allen momentanen Widerständen, die es gibt und die ich sehe, zum Trotz, meine Damen und Herren. ({7}) Wenn Sie die Signale im Vorfeld dieser Debatte und des Gipfels einmal genau analysieren, zeigt sich doch: Mit ein wenig Anstrengung, mit ein wenig Geschick hätten Sie weit mehr als nur die eigenen Koalitionsfraktionen auf Ihrer Seite. Wir wollen auch nicht, dass sich eine so gefährliche Situation wiederholt, wie Sie sie eben geschildert und wie wir sie alle im Frühjahr erlebt haben. Viele hier, auch die SPD, streiten für einen vernünftigen Frühwarnmechanismus, für einen wirksamen Stabilitätspakt. Über manches Instrument lässt sich diskutieren und müssen wir auch diskutieren. In der Grundhaltung gibt es doch zwischen vielen von uns keinen völlig unüberwindlichen Streit. Aber so, wie Sie, Frau Bundeskanzlerin, in den letzten Monaten und Wochen Europapolitik betrieben haben, so geht das nicht und so können wir das nicht durchgehen lassen. Ich sage gleich, warum. ({8}) Angefangen hat das im Grunde genommen - daran erinnern wir uns doch alle miteinander - schon in der Griechenland-Krise. Wochen- und monatelang, noch bis kurz vor dem Tag der Entscheidung, haben im Frühjahr große Teile der Regierung und auch Sie selbst, Frau Merkel, beteuert: Keine Hilfen für Griechenland! Manche haben Sie sogar dafür gefeiert, und Sie haben es geschehen lassen. Aus Angst und wahrscheinlich obwohl Sie wussten, was am Ende kommen würde, hat die Regierung den Menschen die Wahrheit vorenthalten und damit den Großteil der EU zunächst einmal gegen sich aufgebracht. Und was war das Ergebnis? Am Ende wurde hier im Hause das ganze Programm fast ohne Diskussionsmöglichkeiten in den Ausschüssen durchgepeitscht. Das war alles nicht notwendig und hat das Vertrauen nicht gestärkt. Damit wären wir zum überwiegenden Teil vielleicht noch klargekommen, weil die Griechenland-Hilfe eine Nothilfe war. Das Finanzministerium hatte hier von diesem Pult aus ja auch gesagt: Seien Sie sicher, das ist das Letzte, was in diesem Hause dazu debattiert und beschlossen werden muss. Dann kam das Mai-Wochenende; Sie erinnern sich alle. Nachdem zugesichert worden war: „Da kommt nichts mehr“, sind Sie - offensichtlich ohne Vorbereitung durch die europäischen Kollegen, auch ohne Vorbereitung durch Paris - nach Brüssel gefahren und kamen dann - Wunder und Überraschung! - mit einem EuroRettungsschirm in Höhe von 440 Milliarden Euro im Gepäck wieder zurück. Auch da wurde das Parlament wieder vor vollendete Tatsachen gestellt. Zweimal sozusagen dasselbe Schauspiel: Erst dicke Backen aufgeblasen, bis sie fast platzen, aber nach der Rückkehr aus Brüssel fällt die ganze deutsche Position wie ein Soufflé in sich zusammen. Erst Rücksicht nehmen auf die Innenpolitik, auf umstrittene Positionen in der eigenen Koalition, und dann folgt das Einknicken vor der europäischen Realität. Wer immer wieder nach diesem Muster handelt - und das droht doch jetzt auch hier -, der schädigt am Ende nicht nur die europapolitische Position Deutschlands und seine eigene Position gegenüber der deutschen Bevölkerung, der schädigt auch das Ansehen der Deutschen und der deutschen Regierung in Brüssel. Und das will ich nicht, meine Damen und Herren. ({9}) Ich bin an dem Punkt auch deshalb sehr energisch, weil ich befürchte, dass es jetzt nach demselben Muster wie bei der Griechenland-Hilfe und beim europäischen Rettungsschirm abläuft und auf ein ähnliches Ergebnis hinausläuft. Das könnte durchaus in einem europapolitischen Debakel für diese Regierung enden. Wir haben doch jetzt schon die Hälfte Europas gegen uns aufgebracht. Der Europäische Ratspräsident Van Rompuy arbeitet - Sie haben das eben selbst gesagt seit vielen Wochen an konkreten Vorschlägen für eine Reform des Stabilitätspaktes; ebenfalls die Kommission. In Deauville ist nun der Eindruck entstanden, Sie und Präsident Sarkozy wischen erst einmal beides vom Tisch nach dem Motto: Die können das nicht, die haben nicht die Kapazitäten. Viele EU-Staaten, bei denen Sie falsche Hoffnungen geweckt hatten, laufen jetzt Sturm gegen den Kuhhandel, der in Deauville stattgefunden hat, und zwar gerade die kleineren Mitgliedstaaten und damit diejenigen Staaten, Herr Westerwelle, um die Sie sich doch besonders kümmern wollten. Ich bin davon überzeugt und befürchte - ganz anders, als Sie eben vorgetragen haben -, dass Deauville nicht die Tür zu einer möglichen Verständigung aufgemacht hat, sondern dass das Gegenteil eintreten wird und dieser Deal von Deauville die Lage in Europa und Einigungsmöglichkeiten für die Zukunft noch wesentlich schwieriger gemacht hat. Das wird sich beweisen. ({10}) Es ist nämlich wieder dasselbe Muster. Sie treten mit großen Ankündigungen an, aber dann kommt die europäische Realität. Wo wir jetzt über den Stabilitätspakt und mögliche automatische Sanktionen reden, will ich nur zitieren, was Herr Schäuble am Wochenende gesagt hat - so war es ja in der Presse zu lesen -: Nie habe es eine realistische Chance auf automatische Sanktionen gegeben. Wenn das so ist, Herr Schäuble, wenn Sie in dem Text, den ich gelesen habe, einigermaßen richtig zitiert worden sind, dann stellen sich weitere Fragen. Wenn Sie davon überzeugt waren, dass automatische Sanktionen nicht kommen werden: Wie ist es dann um die anderen Dinge bestellt, um die wir im Augenblick streiten? Wie ist es um die Vertragsänderungen bestellt, für die Sie um Zustimmung des Hauses nachsuchen? Und erst recht stellt sich die Frage: Warum sagt Herr Schäuble, wenn er der Meinung ist, dass für automatische Sanktionen keine Chance bestünde, das nicht vorher? Warum fragt man sich nicht vorher, ob für den Entzug des Stimmrechts eine Chance besteht und ob es überhaupt sinnvoll ist, das Verhandlungspaket wieder aufzuschnüren? Zumindest Transparenz müsste darüber hergestellt werden, ob Sie selbst der Meinung sind, dass der Vorschlag, mit dem Sie dort ins Rennen gehen, am Ende verhandlungsfähig ist und eine Chance auf Erfolg hat. Wenn man genau hinschaut - darum ging es offensichtlich auch ein bisschen in den Diskussionen in Ihrer Fraktion -, dann stellt man fest: In Deauville ist Deutschland in Wahrheit eher mit leeren Händen vom Tisch aufgestanden. Frau Merkel, wenn ich die französische Position richtig deute, dann hatte

Not found (Mitglied des Präsidiums)

erstens möglichst keine automatischen Sanktionen einzuführen, die auch Frankreich treffen können, zweitens den unliebsamen und etwas zu unabhängigen Ecofin-Rat möglichst weit einzuhegen und drittens den Deutschen das Angebot zu machen, die Vertragsänderungen zu unterstützen, wohl wissend, dass andere dagegen streiten werden und Frankreich diese Rolle gar nicht übernehmen muss. Das ist ein ganz wunderbares Ergebnis. ({0}) Nur, beglückwünschen kann ich Sie dazu nicht, liebe Frau Merkel. Wer sich in den europäischen Dingen ein bisschen auskennt, muss befürchten, dass man sich im Élysée angesichts dieses Ergebnisses ein wenig die Hände gerieben hat. Ich selbst weiß, wie schwierig es ist, im internationalen Geschäft Vereinbarungen zu erringen. Deshalb lasse ich mir auch nicht vormachen, das Ergebnis von Deauville sei am Ende ein riesiger Erfolg für Deutschland gewesen. ({1}) Damit wir uns nicht missverstehen: Auch wir, die SPD, sind für einen wirksamen Frühwarnmechanismus. Auch wir sind für glaubwürdige Sanktionen gegen notorische Defizitsünder. Aber genau das scheint mir durch den Alleingang, den ich Ihnen eben geschildert habe, gefährdet zu sein. Sie sind mit unhaltbaren Maximalforderungen losgerannt und haben diese gegen wenig belastbare Zusagen eingetauscht. Sie sind sozusagen als Hans im Glück gestartet und versuchen nun, das, was Sie mitgebracht haben, als Goldklumpen zu verkaufen. Das funktioniert nicht. Das nimmt Ihnen jedenfalls die SPDFraktion nicht ab, Frau Bundeskanzlerin. ({2}) Frau Merkel, was wird eigentlich aus der Zusicherung - das ist ja Ihre Position -, dass sich so etwas wie die Griechenland-Hilfe nicht wiederholen darf? Sie haben immer wieder beteuert und auch hier zum Ausdruck gebracht, dass sich nach den drei Jahren die Geltungsdauer des Rettungsschirms auf keinen Fall verlängern soll. Wenn man sich anschaut, was die deutsch-französische Erklärung dazu enthält, dann findet man genau vier Zeilen. Was wird darin dazu gesagt? Es sollen geeignete Maßnahmen ergriffen werden. - Was ist damit eigentlich gemeint? Was passiert eigentlich, wenn nach drei Jahren keine Vertragsänderung in Kraft getreten ist und dann einzelne Spekulanten, wie wir im Frühjahr erlebt haben, wieder beginnen, gegen den Euro zu zocken? Was tun Sie konkret, damit in Zukunft eben auch private Gläubiger - auch darüber haben wir in diesem Hause gestritten bei der Umschuldung von schwer verschuldeten Staaten zur Kasse gebeten werden? Solange das nicht klar gesagt wird und solange darüber nicht hier im Hause debattiert und meinetwegen auch gestritten werden kann, bleiben solche wolkigen Sätze doch nichts als leeres Gerede. Es darf jedenfalls nicht passieren, dass der Gipfel in Brüssel und das, was danach kommt - das wünschen wir uns für Deutschland in gar keinem Fall -, zu einem erneuten europapolitischen Reinfall wird. ({3}) Nun jubelt die Bundesregierung, dass die Krise vorbei ist. „Aufschwung XXL“ - das lässt Herr Brüderle im Augenblick plakatieren bzw. bundesweit in Anzeigen verlauten. Für viele Betriebe stimmt das mit dem Aufschwung. Es trifft nur nicht auf die Stärkung des Stabilitätspakts und es trifft auch nicht auf die Regulierung der Finanzmärkte zu. Anders gesagt, Herr Brüderle: Da sind wir eher bei der Größe S, und das ist bekanntlich den meisten, von uns jedenfalls, zu knapp. ({4}) Auf den Finanzmärkten geht es im Grunde genommen zu wie vor der Krise: Banken und Investmenthäuser peitschen Renditeziele hoch. 144 Milliarden Euro an Boni werden in diesem Jahr an der Wall Street ausgeschüttet. Der Handel mit Derivaten, so war dieser Tage zu lesen, blüht wie nie zuvor. In der Finanzwelt geht alles so weiter. Die Politik dagegen, gegen diese Praxis und gegen diese Auswüchse, ist aus meiner Sicht nach wie vor ohne Überzeugung, ohne Zähne und vor allem ohne wirklich notwendige Konsequenz. Auch daran trägt diese Bundesregierung Mitschuld. Das ist die traurige Wahrheit. ({5}) Die SPD-Fraktion und auch ich wissen: Natürlich können wir von deutscher Seite aus nicht alles im Alleingang erreichen. Aber gerade wenn wir uns gegenseitig ein bisschen ernst nehmen, dann wissen wir auch: Wenn man schon nicht alles im Alleingang erreichen kann, dann kommt es darauf an, dass man deutliche Signale setzt und ein klares Auftreten, auch gegenüber dem Ausland, an den Tag legt. Genau daran fehlt es. Das will ich Ihnen an der Finanzmarkttransaktionsteuer noch einmal klarmachen. Vonseiten der Bundesregierung tun Sie so, als seien Sie im Prinzip dafür. Es waren sogar entsprechende Erträge in Ihre mittelfristige Finanzplanung eingestellt; 2 Milliarden Euro jährlich ab 2012. Herr Schäuble hat dann aber auf einer Veranstaltung des CDU-Wirtschaftsrates gesagt, wie ich gelesen habe, er sei kein Freund dieses Instruments. Das wird natürlich am nächsten Tag in allen Hauptstädten Europas genüsslich vernommen. Nicht nur das: Herr Schäuble soll sogar gesagt haben, diese Steuer sei gar nicht auf seine Initiative in das Konsolidierungskonzept der Regierung aufgenommen worden. Das alles sind natürlich Signale, die in Europa verstanden werden. Es ist genau dieser Unernst, diese Unentschiedenheit, mit denen die gegenwärtige Koalition das Vertrauen eben nicht nur in Deutschland, sondern, wie ich befürchte, auch in Europa verspielt. Das gilt zum Beispiel auch für die Frage der Kohlebeihilfen; ich führe das noch an, weil es in dieses Schema passt. Da hat es am Wochenende offenbar eine Einigung gegeben, die ich begrüße. ({6}) - Ja, darauf wollte ich zu sprechen kommen. - Wir haben jedoch durch diese internen Streitigkeiten drei Monate verloren. Jetzt hat Herr Brüderle, wie ich lese, anscheinend beigedreht, ist aber, wie ich höre, nicht bereit, diese Einigung in Brüssel zu vertreten. So machen wir uns, meine Damen und Herren, bei unseren Partnern lächerlich, und das darf nicht unsere Rolle in Brüssel sein und werden. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, kommen Sie zum Ende, bitte.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich komme zum Ende. Meine Damen und Herren, Europa ist in keiner guten Verfassung; das spüren Sie alle. Das sage ich weiß Gott nicht nur mit Blick auf die Haushaltsdefizite in den meisten Mitgliedstaaten. Das hat mit vielem zu tun, auch damit, dass der Gründungsmythos Europas bei der jungen Generation offenbar nicht mehr ausreichend trägt. Das hat damit zu tun, dass die Entscheidungsprozesse in Europa nach wie vor zu schwerfällig, zu wenig transparent sind. Das hat auch damit zu tun, dass sich europäisches Engagement von Regierungen häufig nicht entsprechend lohnt. Aber ich stelle eben auch eine Unterströmung in der europäischen Diskussion fest, bei der vor allen Dingen große Mitgliedstaaten verdächtigt werden, europäische Politik schon langsam wieder in nationale Hände zu übernehmen. Renationalisierung ist das Stichwort, ein Verdacht, der leider gelegentlich auch uns trifft.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich halte das für den falschen Weg, und ich bin mir sicher, das tun alle hier im Hause. Wir brauchen gerade mit Blick auf die Konsequenzen der Wirtschafts- und Finanzkrise nicht weniger Europa, sondern wir brauchen entschieden mehr Europa. Dafür müssen wir eintreten, meine Damen und Herren. ({0}) Frau Präsidentin, ein letzter Satz.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ein allerletzter.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es mag manchmal beschwerlich sein, für Stabilität und Solidarität, für deutsch-französische Kooperation auf der einen Seite und für ein gutes Verhältnis zu den kleinen Mitgliedstaaten auf der anderen Seite zu sein; aber genau das zu schaffen, das auszubalancieren, das war immer die Kunst deutscher Europapolitik. Diese Kunst scheint dieser Regierung ein Stück weit verloren gegangen zu sein. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Birgit Homburger hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zunächst an Sie wenden, Herr Steinmeier. Sie haben gerade Ihre Redezeit um ungefähr so viele Minuten überzogen, wie ich überhaupt zur Verfügung habe. ({0}) Das zeigt, dass Sie wieder fit sind und dass Sie offensichtlich auch von der Präsidentin nicht zu stoppen sind. Wir freuen uns, dass Sie wieder fit zurück sind, so wie wir uns auch darüber freuen, dass Herr Schäuble wieder gesund bei uns ist. ({1}) Jede Krise birgt eine Chance, und diese Chance müssen wir konsequent nutzen. Die Maßnahmen, die wir bisBirgit Homburger her getroffen haben und die heute auch schon angesprochen worden sind, beispielsweise bei der GriechenlandHilfe und beim Euro-Stabilisierungspaket, haben allerdings nicht die Ursachen beseitigt. Im Grunde haben wir uns Zeit erkauft. Diese Zeit muss man jetzt nutzen. Wenn man sich die Ursachen anschaut, dann kommt man zum Schluss, dass kein Spekulant der Welt eine Chance gehabt hätte, den Euro in Schwierigkeiten zu bringen, wenn die Haushalte der Euro-Staaten in Ordnung gewesen wären. ({2}) Deshalb steht dies auch bei uns im Mittelpunkt. Aber, Herr Steinmeier, da Sie in Ihrer Rede die Situation auf dem Finanzmarkt und die Boni angesprochen haben, will ich deutlich sagen: In Ihrer Regierungszeit ist in diesem Bereich nichts unternommen worden. Wir haben eine Reihe von Maßnahmen zur Regulierung der Finanzmärkte auf den Weg gebracht, und wir haben mit dem Banken-Restrukturierungsgesetz auch eine Beschränkung der Boni auf den Weg gebracht. Diese Regierung, diese Koalition handelt im Gegensatz zu dem, wie Sie sich verhalten haben. ({3}) Haushaltskonsolidierung ist das zentrale Stichwort für die Stabilisierung des Euro. Deutschland hat hier auch eine Vorbildfunktion. Wenn wir den Stabilitätspakt verschärfen und andere Länder auf eine solide Haushaltspolitik verpflichten wollen, dann müssen wir selber Vorbild sein. Wir brauchen eine neue Stabilitätskultur in Europa. Diese darf eben nicht nur formal vorhanden sein, sondern muss auch in den Köpfen der Regierungen verankert werden. Wir brauchen klare, starke und eindeutige Vereinbarungen, um die unkontrollierte Schuldenpolitik zu beenden. An dieser Stelle will ich auch sagen: Diese Maßnahmen wären nicht nötig, wenn nicht die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2005 aus Eigeninteresse dafür gesorgt hätte, dass der Stabilitätspakt auf europäischer Ebene fahrlässig verwässert wurde. Wir kehren nun die Scherben zusammen, die Sie seinerzeit gemacht haben. Das ist nicht einfach, aber wir bemühen uns darum. ({4}) Das entspricht genauso wenig verantwortlicher Europapolitik wie Ihre Position, die Sie vorhin noch einmal zum Ausdruck gebracht haben. Sie haben versucht, hier den Eindruck zu erwecken, als ob Sie dem, was wir im Frühjahr hier durch den Deutschen Bundestag gebracht haben, gerne zugestimmt hätten. Sie hätten die Chance dazu gehabt. Sie waren dazu eingeladen. Wir sind Ihnen im Entschließungsantrag weit entgegengekommen. Sie haben damals entschieden: Sie wollen sich daran nicht beteiligen. - Das war unverantwortlich, und damit müssen Sie heute auch leben. ({5}) Die Vorschläge der EU-Kommission und der Taskforce auf europäischer Ebene zeichnen ein Gesamtkonzept, und ein genau solches Gesamtkonzept brauchen wir auch. Zu diesem Gesamtkonzept gehört ein wirksames Frühwarnsystem. Dazu gehören die Verbesserung der Qualität der Zahlen sowie die Überprüfbarkeit der Zahlen, die geliefert werden. Es gehören bessere Kontrollmöglichkeiten, aber eben auch mehr Sanktionsmöglichkeiten dazu. Entscheidend ist, dass diese Sanktionsmöglichkeiten früher greifen und auch automatisch zum Einsatz kommen müssen. Es ist das erklärte Ziel, dass es klare Regeln mit möglichst wenig „politischem Rabatt“ gibt. Das ist es, was wir wollen. Sie haben allerdings bezweifelt, dass das erreichbar ist. Ich finde, man muss dafür kämpfen. Der G-20-Gipfel und die umfassenden IWFReformen haben klar gezeigt, dass wir international etwas bewegen können, und das wollen wir auch hier erreichen. ({6}) Entscheidend ist die Einführung eines dauerhaften Krisenmechanismus. Das bedeutet nicht die Einrichtung eines dauerhaften Fonds. Es bedeutet vielmehr, dass wir für die Staaten Umschuldungsregeln entwickeln wollen, die auch einen Verzicht der Gläubiger - auch der Privatgläubiger - auf Teile ihrer Forderungen beinhalten. Das ist ganz zentral. Dies schafft im Grunde die Möglichkeit der Insolvenz von Staaten. Hierfür ist eine Vertragsänderung notwendig, für die wir uns einsetzen. ({7}) Der Euro ist eine Erfolgsgeschichte. Er ist für die wirtschaftliche Entwicklung Europas, aber gerade auch für unser Land, für Deutschland, von zentraler Bedeutung. Deshalb muss alles dafür getan werden, den Euro möglichst stabil zu machen. Wir wollen einen harten Euro. Weiche Maßnahmen taugen dafür nicht, und deshalb muss auch hart verhandelt werden. Es darf nicht dazu kommen, dass wir die Schulden anderer Länder bezahlen. Deshalb kämpft diese Koalition für eine Stabilitätskultur in Europa und einen harten Euro. Eine Umwandlung der Währungsunion in eine Transferunion oder in eine Haftungsgemeinschaft kommt für uns nicht infrage. ({8}) Dies bedeutet auch den Verzicht auf die Einrichtung eines dauerhaften Fonds für überschuldete Staaten, in dem andere Staaten der Währungsunion oder auch die EU Kredite oder Garantien bereitstellen müssen. Eine Entfristung des gegenwärtigen Rettungspakets, wie wir es verabschiedet haben, kommt für uns ebenfalls nicht infrage, weil wir der Auffassung sind, dass wir alles dafür tun müssen, dass alle Euro-Mitgliedstaaten Maßnahmen ergreifen, die auf Dauer die Sicherheit dafür bieten, dass der Euro stabil bleibt. ({9}) Auf dem Europäischen Rat wird jetzt ein Auftrag für die weiteren Verhandlungen formuliert. Das Ziel sind klare Stabilitätskriterien. Wir haben klare Erwartungen an die Mitgliedstaaten. Wir wollen klare Sanktionsmöglichkeiten, und wir wollen, dass diese Sanktionsmöglichkeiten automatisch greifen. Darüber hinaus wollen wir einen klaren dauerhaften Krisenmechanismus durch Umschuldung, der durch eine Vertragsänderung abgesichert werden muss. Das ist es, was jetzt auf den Weg gebracht werden muss. Das ist nicht einfach, aber es ist notwendig. Wir haben heute in einem Entschließungsantrag der Fraktionen der Koalition noch einmal klargestellt, welche Positionen wir unterstützen. Dies stellt eine Fortschreibung des Antrags dar, den wir im Mai hier im Deutschen Bundestag auf den Weg gebracht und in dem wir deutlich gemacht haben, dass wir harte Verhandlungen für eine entsprechende Verschärfung des Stabilitätspakts fordern. Wir wissen auch, dass bei den Verhandlungen mit den anderen Ländern in Europa letztendlich nicht eins zu eins das erreicht werden wird, was wir uns hier im Deutschen Bundestag wünschen. Aber wir wissen sehr wohl, dass es wichtig ist, in einer solchen Verhandlung eine klare Haltung zu haben. Deshalb werden wir diesen Entschließungsantrag heute mehrheitlich beschließen und damit der Bundeskanzlerin für die schwierigen Verhandlungen, die sie jetzt zu führen hat, den Rücken stärken. Das ist eine Rückendeckung, die der Deutsche Bundestag an dieser Stelle gibt - mit dem klaren Auftrag, für einen harten Euro zu verhandeln. Vielen Dank. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Diether Dehm hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, am 24. April 2008 haben Sie an dieser Stelle vollmundig verkündet - ich zitiere -: … anders als andere Verträge trägt dieser Vertrag von Lissabon kein Verfallsdatum … keine Revisionsklausel. Dann sagten Sie: Eine weitere grundlegende Änderung der Verträge ist heute nicht in Sicht. ({0}) - Natürlich hört sie nicht zu. Haben Sie etwas anderes erwartet, Frau Kollegin? Aber kurz nach dem Inkrafttreten entpuppte sich der Vertrag bereits als Bremsklotz bei der Bewältigung der vor uns liegenden Krisenlasten, denn er verbietet jede Regulation der Finanzmärkte und sämtliche Kapitalverkehrskontrollen durch Art. 63 im Vertrag über die Arbeitsweise der EU, AEUV. Die Linke hatte das damals ebenso vorausgesagt wie Gewerkschaften und die Arbeitnehmer-AG in der SPD. Der Lissabon-Vertrag ist ein Freund der Finanzhaie. ({1}) Jetzt, gerade acht Monate nach Inkrafttreten, wollen Sie, Frau Bundeskanzlerin, den Vertrag, den Sie hier für unveränderbar erklärt hatten, so einschneidend verändern, und Sie wollen ihn noch unsozialer machen. Jetzt wollen Sie Mitgliedstaaten, die von deutschen und anderen EU- bzw. US-Konzernen, von Finanzhaien und durch Lohndumping in Deutschland in große Engpässe manövriert wurden, nicht nur solidarische Hilfe wegnehmen, sondern auch noch das demokratische Stimmrecht. Dies ist ein Skandal, Frau Bundeskanzlerin. ({2}) Die Arbeiterklasse, Arbeitslose und Kleinunternehmen in diesen Staaten würden so zu EU-Bürgern zweiter Klasse. Damit spalten Sie die EU, gefährden Sie ihren Bestand. Die Menschen, die jetzt in Frankreich demonstrieren, und unsere Bahnangestellten, die hier streiken, tun mehr für den sozialen Aufbruch in Europa und für die Integration als mit dieser Idee, die Stimmrechte wegzunehmen, erreicht werden kann. ({3}) Und sie verdienen unseren Respekt. Ich widerspreche hier auch ausdrücklich dem Horrorpaket der EU-Kommission. Wer jetzt meint, Krisenopfern mit Strafzahlungen und asozial hohen Schuldentilgungsraten begegnen zu können, wird im Ergebnis die bestehende Not nur verschärfen und Rechtsextremen die Hasen in die Küche treiben. Frau Bundeskanzlerin, bevor Ihr Eigenlob über Ihre Wirtschaftspolitik zu selbstgefällig wird: Wer unsere Exportkonzerne und Privatbanken mit Steuergeschenken hochpäppelt, ohne Profite in Lohnerhöhungen umzuverteilen, wird auf diese Krise die nächste Krise folgen lassen. ({4}) Sie sorgen dafür, dass eine normale Erholung nach einer solch tiefen Krise an den Arbeitnehmern, den Rentnerinnen und Rentnern und unserem Handwerk völlig vorbeigeht, dass Exportkonzerne profitieren, aber die Löhne auf Schmalspur bleiben. Solange das so ist, haben Sie nichts richtig gemacht in Ihrer Wirtschaftspolitik! ({5}) Völlig unannehmbar ist auch der Vorschlag, künftig Sanktionen gegen Mitgliedstaaten automatisch in Kraft zu setzen. Wenn Maßnahmen alleine vom Exekutivapparat EU-Kommission beschlossen werden können und wenn dann nur eine qualifizierte Mehrheit im Rat deren Aufhebung beschließen kann, verstößt das gegen jede demokratische Verfasstheit der EU und gegen unsere Verfassung, meine Damen und Herren. Vielleicht, Herr Steinmeier, ist das der Grund, dass der Bundesfinanzminister in der letzten Bild am Sonntag gesagt hat, es habe niemals, zu keiner Zeit eine Chance für automatische Sanktionen gegen Defizitsünder gegeben. Vielleicht veranlasste ihn der Blick auf unser Verfassungsgericht dazu: „Niemals“, hat er gesagt. Aber hat der Bundesfinanzminister - er ist jetzt auch nicht hier der FDP das vielleicht verschwiegen, oder wird dort bewusst gelogen, wenn weiterhin von diesem Automatismus geredet und schwadroniert wird? Hören Sie damit auf! Hören Sie auf Ihren Bundesfinanzminister! Er hat in dieser Frage ausnahmsweise recht. ({6}) Er hat deswegen recht, weil ein Sanktionsautomatismus gegen Art. 126 des AEUV verstößt und auch eine versteckte Änderung von EU-Primärrecht die Billigung durch die Mitgliedstaaten nötig macht. Sonst würde er spätestens am Bundesverfassungsgericht scheitern, wie jeder seit dem Lissabon-Urteil weiß. Die Linke würde wieder Karlsruhe anrufen. Verfassungsbruch ist mit uns nicht machbar! ({7}) Aber was ist die Alternative? Wir brauchen in der Tat eine grundlegende Änderung der Verträge, aber eine Änderung für demokratische Finanzmarktregulierung, für mehr Sozialstaatlichkeit in der EU und für Mechanismen, mit denen die Krisenlasten ihren Verursachern, der Deutschen Bank und anderen Taliban in Nadelstreifen, auferlegt werden. ({8}) Wenn Sie solche sozialstaatlichen und zivilisatorischen Reformen der EU durchsetzen wollen, Frau Bundeskanzlerin, werden Sie auf breite Mehrheiten in den Parlamenten und auf den Straßen und Plätzen in Frankreich, Griechenland und Deutschland setzen können. Die Europäische Union wird demokratisch und sozial sein - oder nicht von langer Dauer. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Michael Stübgen spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Europäische Union hat in den letzten acht Monaten eine beispiellose Entwicklung im Euro-Raum erleben müssen. Schon Ende des letzten Jahres mehrten sich die Hinweise auf eine drohende Zahlungsunfähigkeit Griechenlands. Die Ursachen lagen - das wissen wir eindeutig - in der immer deutlicher werdenden katastrophalen Haushalts- und Finanzsituation in Griechenland und in gezielten Spekulationen gegen Griechenland. Die Risikoaufschläge auf den Kapitalmärkten für griechische Anleihen stiegen in eine Höhe, die dieses Land nicht mehr finanzieren konnte. Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben in dieser Phase von Anfang an klargemacht, dass wir im Notfall für Hilfen für bedrohte Länder in Europa sind - natürlich auch für Griechenland -, aber dass wir es für genauso notwendig halten und wir diese Hilfen daran koppeln wollen, dass auch das betroffene Land selbst alles Mögliche tut, um die drohende Zahlungsunfähigkeit und weitere Krisen abzuwenden. ({0}) Wir haben dann im Mai ein Gesamtkonzept unter Einbeziehung des Internationalen Währungsfonds zusammenstellen können. Insofern konnten wir die GriechenlandKrise aussetzen. Unmittelbar im Anschluss an unsere Debatte hier im Bundestag - ich kann mich noch genau daran erinnern; ich finde es schon erstaunlich, wenn Herr Steinmeier sagt, Frau Bundeskanzlerin Merkel hätte hier die Backen geplustert und dann das Gegenteil gemacht; niemand wusste es, niemand hat es vorausgesehen -, ({1}) noch am selben Tag, als wir hier das Griechenland-Paket beschlossen haben, mehrten sich zum Abend hin, verschärft zum Wochenende hin die Hinweise darauf - das war schon am Montag der darauffolgenden Woche -, ({2}) dass auch Länder wie Portugal, Irland und Spanien in die Zahlungsunfähigkeit kommen könnten. ({3}) - Das war nicht abzusehen. Auch Sie haben das nicht absehen können. Sogar die Grünen - da stimme ich Ihnen zu - haben damals dem Griechenland-Paket zugestimmt. ({4}) Aber bei einem wichtigeren Paket haben Sie sich dann in die Büsche geschlagen. ({5}) Die Europäische Union war in der Lage, quasi über das Wochenende den sogenannten europäischen Rettungsschirm aufzubauen, zu kreieren: 750 Milliarden Euro, 60 Milliarden Euro von der Kommission, 440 Milliarden Euro von den Mitgliedstaaten und bis zu 250 Milliarden Euro vom IWF. Wir als Mitglieder des Bundestages waren in der Lage, binnen einer Woche die dazu notwendigen und richtigen Beschlüsse zu fassen. An dieser Stelle will ich kurz darauf eingehen, wie sich die Opposition in dieser Zeit verhalten hat: Sie wären eventuell für diesen Rettungsschirm gewesen; aber Sie hätten - wir haben es vorhin von Herrn Steinmeier selbst gehört - nicht zustimmen können, weil wir uns nicht nachdrücklich für die Finanztransaktionsteuer eingesetzt haben. Ich will Ihnen den wahren Grund für Ihr Verhalten nennen: Sie haben natürlich mitbekommen, dass die notwendigen Entscheidungen, die die Koalition getroffen hat, in Deutschland sehr unpopulär waren. ({6}) Einige Medien haben sich darauf eingeschossen. Sie haben es vorgezogen, sich in dieser Frage in die Büsche zu schlagen. Das ist pure Verantwortungslosigkeit. ({7}) Beide Ad-hoc-Maßnahmen - das zeigt sich heute sehr deutlich - haben ihre Ziele erreicht. Wir konnten die existenzielle Gefahr für den Euro und für die gesamte Europäische Union abwenden. Griechenland befindet sich auf dem Weg der Besserung. Es hat eigene nachhaltige Reformen umgesetzt und strebt weitere Reformen an. Alle Mitgliedsländer der Europäischen Union unternehmen mittlerweile nachhaltige Konsolidierungsanstrengungen, einschließlich der Bundesrepublik Deutschland. Die Europäische Zentralbank konnte in der vergangenen Woche mit dem Ankauf von Staatsanleihen aufhören. Auch sie sieht mittlerweile die Euro-Stabilität als ausreichend gesichert an, sodass sie solche Maßnahmen nicht mehr durchführen muss. Wir können feststellen: Der Feuerwehreinsatz in der ersten Hälfte dieses Jahres war erfolgreich. Die Brände sind weitgehend gelöscht. Jetzt kommt es darauf an, das Gebäude feuerfest zu bauen. Darum geht es im Wesentlichen morgen und übermorgen beim Europäischen Rat. Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung haben schon im Juni angefangen, zu definieren, welche Maßnahmen wir denn ergreifen müssen, um eine Wiederholung derartiger Krisen in der Europäischen Union zu verhindern. Wir haben in einer Entschließung im Juni dieses Jahres zum einen darauf hingewiesen, dass wir es für notwendig halten, den Euro-Stabilitätspakt deutlich zu verschärfen. Zum anderen gehen wir mehr und mehr davon aus, dass wir auch Maßnahmen ergreifen müssen, die mit einer Vertragsveränderung verbunden sind. Ich will zum ersten Punkt kommen. ({8}) Die Europäische Kommission hat im September dieses Jahres Vorschläge zur Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gemacht. Hier muss man Folgendes sehen - das gehört zur Analyse dazu -: Nachdem im Jahr 2004 der Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweicht worden war, entwickelte er sich leider endgültig zu einem zahnlosen Tiger. Zur historischen Wahrheit gehört nun einfach dazu, dass diese Aufweichung auf Initiative von Frankreich und der rot-grünen Bundesregierung zustande gekommen ist. ({9}) Sie haben damals verhindert, dass ein Sanktionsverfahren umgesetzt wird, und haben damit in Kauf genommen, dass später viel Schlimmeres passiert. ({10}) Ich bin allerdings der Meinung - das ist die Schlussfolgerung aus meiner Analyse -, dass auch ein Festhalten am alten Stabilitätspakt, also am Stabilitätspakt vor seiner Aufweichung, diese Krise wohl nicht hätte verhindern können. ({11}) - Aber es ist dadurch noch schlimmer geworden. ({12}) - Bitte plustern Sie sich jetzt nicht auf, indem Sie sagen, dass das, was wir umsetzen, zu wenig sei. Wir sind dabei, die Fehler, die Rot-Grün gemacht hat, zu beheben. ({13}) Der Stabilitätspakt ist eindeutig einseitig fokussiert. Er orientiert sich nämlich im Wesentlichen am Defizitkriterium, aber nicht mehr an der Gesamtverschuldung. Er ist kompliziert und schwerfällig und politisch leicht manipulierbar - siehe das Handeln der rot-grünen Regierung und Frankreichs im Jahre 2004. Deshalb ist es notwendig, dass wir hier die geeigneten Maßnahmen zur Verschärfung ergreifen. Die Europäische Kommission hat im September dieses Jahres Vorschläge vorgelegt. Diese Vorschläge sind ambitioniert. Sie greift im Wesentlichen die Reformvorschläge auf, die wir in der Koalition schon im Sommer dieses Jahres gemacht haben. Die Vorschläge der Kommission bilden einen ausreichend guten Ansatz; allerdings hatten sie bis vor wenigen Tagen einen entscheidenden Nachteil: Es war absolut ausgeschlossen, dass sie im Europäischen Rat eine Mehrheit finden könnten, damit sie umgesetzt werden können. ({14}) Deshalb war es richtig, dass der Europäische Rat schon im Sommer dieses Jahres eine Taskforce unter der Leitung von Kommissionspräsident Van Rompuy eingerichtet hat, die ihrerseits Vorschläge für den Europäischen Rat zur Verschärfung des Stabilitätspaktes erarbeiten soll. Man hat von dieser Kommission leider längere Zeit nichts gehört, außer dass es wohl schwierig war, sich dort zu einigen. In der letzten Woche haben wir aber einen Vorschlag dieser Taskforce erhalten, der am 18. Oktober einstimmig verabschiedet wurde, das heißt von den 27 EU-Finanzministern, dem Ratspräsidenten und dem Währungskommissar. Das bedeutet, dass dieser Vorschlag, der sehr nah am Vorschlag der Kommission ist und in einigen Punkten, gerade im präventiven Bereich, sogar konkreter und weitgehend ist, umgesetzt werden kann. Das ist ein erster großer Erfolg im Bereich der notwendigen Reformen, die wir ergreifen müssen. Wir sollten solche Erfolge nicht kleinreden. Es ist der größte Fehler, nur zu sagen, was vielleicht noch besser gewesen wäre, anstatt darauf hinzuweisen und den Menschen zu erklären, dass diese Entscheidung gut ist. Natürlich kann ein solcher Kompromiss der 27 EU-Finanzminister niemals zu 100 Prozent die Überzeugung jedes Einzelnen zum Ausdruck bringen. Die Frage ist aber: Was bleibt noch übrig? Das ist eine entscheidende Frage; wir haben sie bereits im Sommer beantwortet. Wir sind der Meinung, dass wir für einen Teil - wir haben drei wesentliche Punkte definiert; ich will mich aus Zeitgründen auf nur einen konzentrieren eine Vertragsänderung brauchen. Warum? Wir sind der Meinung, dass es wesentlich ist, dass wir in der Europäischen Union, nachdem die Ad-hoc-Maßnahmen ausgelaufen sind, langfristig zu einer Struktur, zu einem robusten Krisenbewältigungsmechanismus kommen müssen, der uns in die Lage versetzt, dass es in einem vielleicht doch wieder eintretenden Krisenfall, den wir vielleicht nicht verhindern können, ({15}) als Ultima Ratio zu einem geordneten Umschuldungsverfahren kommt und dass private Gläubiger, die in jedem Fall Profiteure einer solchen Krise sind, mit zur Verantwortung gezogen werden. ({16}) Die genauere Analyse der Situation scheint problematisch zu sein, weil die deutliche Mehrheit der Mitgliedstaaten sie nicht wünscht. Allerdings will die deutliche Mehrheit der Mitgliedstaaten, dass wir eine Entfristung des vorhandenen Stabilisierungsmechanismus vornehmen. Es gibt zwei wesentliche Gründe, warum die CDU/ CSU-Fraktion das kategorisch ablehnt: Erstens. Dieser Mechanismus ist vertrags- und verfassungsrechtlich sehr fragwürdig, wenn er entfristet wird. Er ist maximal als kurzfristige Übergangslösung zulässig. Zweitens. Der Mechanismus ist auch politisch inakzeptabel; denn er hat einen ganz entscheidenden Nachteil: Die privaten Gläubiger werden in gar keiner Weise einbezogen. Wenn wir es jetzt schaffen, dass sich der Europäische Rat morgen und übermorgen darauf einigt - das ist der Vorschlag von Deauville -, eine zweite Taskforce - Van Rompuy zwei - einzurichten und ihr den Auftrag zu geben, in dieser Frage Vorschläge zu erarbeiten, damit wir in Zukunft auf gesicherter vertraglicher Grundlage agieren können, aber auch die privaten Gläubiger mit einbeziehen können, dann haben wir die wesentlichen Anforderungen, die sich aus der Krise ergeben haben, erfüllt. Deshalb wünsche ich der Bundeskanzlerin für morgen ruhige, harte und erfolgreiche Verhandlungen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({17})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Renate Künast hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, Sie haben uns ein Schauspiel dargebracht. Das Theaterstück, das Sie inszenieren, heißt: Handlungsfähigkeit und der Herbst der Entscheidungen. Die Sache mit dem „Herbst der Entscheidungen“ ist aber - das muss ich gleich sagen, Frau Merkel - nach hinten losgegangen. Sie haben versucht, sich hier als große Europäerin zu präsentieren. Wenn ich mir aber ansehe, was in den letzten Wochen, insbesondere in den letzten Tagen geschehen ist, komme ich zu dem Ergebnis: Sie hinterlassen eher den Eindruck einer europapolitischen Novizin; höher könnte ich gar nicht gehen. ({0}) Schauen wir uns einmal an, was in den letzten Tagen los war. Ihre Europapolitik ist ein einziger Widerspruch. Erst haben Sie unter Vorsitz von Van Rompuy eine Taskforce installiert. Übrigens, Herr Stübgen, wenn ich einmal Nachhilfeunterricht geben darf: Van Rompuy ist nicht Kommissionspräsident. Wenn man mit der Vehemenz, die Sie an den Tag gelegt haben, eine Rede hält, aber die Titel falsch verteilt, dann ist das schade. Außerdem wird der Inhalt dadurch infrage gestellt. ({1}) Nun denn, Van Rompuy wurde Leiter einer Taskforce - das war Ausdruck des Misstrauens gegenüber Barroso und der EU-Kommission -, die parallel schärfere Vorschläge erarbeiten sollte. Herausgekommen ist übrigens nichts Schärferes. Das Ansehen der Kommission ist ramponiert. ({2}) - „Verrompuyniert“ könnte man auch sagen. Wenn ich nur wüsste, wie man das schreibt. - Das sorgte für unnötige Doppelstrukturen und Chaos. Jetzt kommt noch Folgendes: Die Van-RompuyGruppe hat sich wie die Kommission auf ein quasi automatisches Defizitverfahren geeinigt. Das ist schon einmal gut, wenn dort auch einiges schwächer formuliert war. Doch dann haben Sie den französischen Präsidenten, Herrn Sarkozy, am Strand von Deauville getroffen und mit ihm am vergangenen Montag einen Deal vereinbart: Kehrtwende um 180 Grad. Das ist keine konsistente europäische Politik. Es stellt sogar die herrschenden Institutionen infrage, wenn Sie an dem gleichen Tag, an dem Van Rompuy ein quasi automatisches Sanktionsverfahren vorschlägt, gemeinsam mit Sarkozy sagen: Das wollen wir aber nicht. - Das ist nicht nur beschämend für Deutschland, sondern schädigt auch unsere Durchsetzungskraft und die Durchsetzungskraft Europas, zum Beispiel im Rahmen der G 20. ({3}) Was gilt denn jetzt eigentlich? Am Wochenende hieß es noch: „Kein Automatismus“, und jetzt will man wieder einen Automatismus. Es ist wie üblich in dieser Koalition: Die eine Hand weiß nicht, was die andere tut. ({4}) Irgendetwas muss doch der Grund dafür sein, dass Herr Westerwelle und andere Europaexperten in Ihrer Fraktion sauer waren. Aus den Reihen von FDP und CDU/ CSU kam immer wieder der Hinweis, dass das eine nicht abgesprochene Politik ist. ({5}) Sauer sind auch die Mitgliedstaaten. Frau Merkel, als Sie noch in der Opposition waren, haben Sie immer mit viel Getöse gesagt, man solle die Dinge nicht nur mit Frankreich abstimmen, sondern auch die kleinen Mitgliedstaaten mitnehmen. Jetzt haben offensichtlich auch Sie verstanden, dass man Dinge mit Frankreich abstimmt. Aber Sie haben das auf die denkbar schlechteste Art und Weise getan. Wenn zwei vorangehen, bedeutet das nämlich nicht zwangsläufig, dass alle anderen außen vor gelassen und verärgert werden. ({6}) - Sie können gerne erzählen, wie das unter Rot-Grün war. Ich weiß, was Sie damals wollten und was Sie nicht wollten. Ich weiß auch, dass Sie Ihre konservativen Freunde in Frankreich bei so ziemlich jeder Reform in Europa auf die Zinne getrieben haben. Daher würde ich an Ihrer Stelle die Füße still halten. Sie wären besser der Volksweisheit „Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ gefolgt. Der Spatz in der Hand wäre an dieser Stelle nämlich nicht ein possierliches Tierchen gewesen, sondern ein von Kommission und Taskforce erarbeitetes Regelwerk, das quasi automatisch funktioniert, und zwar im präventiven wie auch korrektiven Bereich. Dazu bräuchten Sie keine Vertragsänderung und keine politische Lähmung der Debatte. Wie wollen Sie das jetzt machen? Soll das heißen, dass Sie wirklich glauben, Sie könnten die europäischen Mitgliedstaaten zu Vertragsänderungen bewegen, womöglich per Referendum? Glauben Sie, dass Sie die Regierungschefs dazu bewegen können, zu Hause zu sagen: „Ihr Lieben, wir haben nicht nur einen Mechanismus implementiert; das Verfahren wirkt präventiv und bei Defizitsündern“, sondern auch beschlossen, dass wir im entscheidenden Augenblick nichts zu sagen haben? Das glauben Sie selbst nicht. So etwas würden Sie mit sich selber auch nicht machen lassen. ({7}) Meine These ist, dass Sie in der EU-Politik alles vermasselt haben, was zu vermasseln ist. Auch das Thema Griechenland - das sage ich Ihnen ganz klar - haben Sie nicht angepackt, obwohl alle wussten, was da auf uns zukommt. Der Satz, man habe es nicht gewusst, stimmt nicht. Wenn Sie einmal Wirtschafts- und Finanzseiten gelesen hätten, hätten Sie gewusst, dass wir deutlich gesehen haben, welche finanziellen Debakel dort auf uns zukommen. ({8}) Da haben Sie gesagt: Europa interessiert uns nicht; unsere Haushalte interessieren uns nicht. Uns interessiert nur die Wahl in Nordrhein-Westfalen. - Zu Recht sind Sie dann dort abgestraft worden. ({9}) Wir wissen, dass wir die zentralen Fragen, die sich in unserem Land, in Europa und in dieser Welt stellen, nur global werden beantworten können. Dafür brauchen wir ein starkes Europa. Dazu brauchen wir ein Deutschland, das sich seiner Rolle bewusst ist, voranzugehen und Europa zusammenzuhalten, statt wie jetzt Luxemburg, Österreich, Tschechien und andere auf die Palme zu treiben. Frau Merkel, Sie haben gesagt, dies werde der Herbst der Entscheidungen. Ich sage hingegen: Das wird der Herbst der schwarz-gelben Wirrungen. Es wird der Herbst der verbal-radikalen Ankündigungen, der Nachbesserungen und der Respektlosigkeiten, aber nicht der Herbst, in dem diese Bundesregierung wirklich anstehende Probleme aktiv, verantwortlich und mit Respekt vor anderen EU-Mitgliedstaaten löst. ({10}) Meine Damen und Herren, Europa ist nach einer globalen Finanzkrise auch in eine Schuldenkrise gerutscht. Viele Mitgliedstaaten haben Defizite, die so gar nicht tragbar sind. ({11}) Wir wissen alle: Mehr Hilfepakete kann es nicht geben. Es muss also zu grundlegenden Reformen kommen. Auch wir sagen, dass es zum einen mehr wirtschaftspolitische Koordination braucht. Es braucht mehr Abstimmung in der Haushaltspolitik. Daher ist es richtig, dass man seine Haushaltspläne vorlegen muss. Zum anderen braucht es aber auch ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Tun wir also nicht so, als würden nur andere Probleme bereiten. In Deutschland müssen wir uns auch überlegen, wie unsere eigene wirtschaftspolitische Entwicklung verläuft und wie wir die Binnennachfrage bei uns stärken. Deshalb kommt man am Ende um Mindestlohndebatten - um nur einen Punkt zu nennen - gar nicht herum. ({12}) Wenn Sie die Binnennachfrage stärken wollen, müssen Sie dafür Maßnahmen ergreifen, anstatt sich über Griechenland zu beklagen, aber am Ende festzustellen, dass wir im Wesentlichen auch von unseren Exporten in andere Mitgliedstaaten leben. Deshalb sagen wir auch Ja zu dem stärksten Vorschlag der EU-Kommission des quasi automatischen Defizitverfahrens. Die EU-Kommission hat - auch das haben Sie heute gar nicht erwähnt - sechs Vorschläge vorgelegt, von denen vier auch durch das Europäische Parlament gehen müssen. Meine Sorge ist, dass Sie mit Ihrem Alleingang das Europäische Parlament eher gegen sich aufgebracht haben, als es zu unterstützen. Meine Sorge ist, dass dieses dilettantische Vorgehen voller Widersprüchlichkeit - man weiß immer noch nicht, was eigentlich gelten soll; wir könnten jetzt auf die Sarkozy-Antwort auf die Merkel-Rede warten - am Ende auch die Schlagkraft bei dem G-20-Gipfel in Seoul nicht erhöhen wird, weil alle Welt sich über die deutsche und europäische Widersprüchlichkeit kaputtlacht. Frau Merkel, Sie haben die Hausaufgaben nicht gemacht. Sie tragen hier allgemeine Sätze über internationales, weltweites Wachstum vor. Frau Merkel, dann müssen Sie jetzt auch einmal Butter zu den Fischen geben. ({13}) Sie müssen sagen, welches Wachstum Sie wollen: Nachhaltigkeit statt Raubbau? Tatsächliches Verteilen der Lasten auf mehrere Schultern in der EU und in Deutschland? Starten Sie doch eine Initiative für die DohaRunde, damit Europa nicht mehr auf Kosten anderer lebt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin beim letzten Satz. - Dann hören Sie auf mit Ihrer Blockade, zum Beispiel bei der Reform der EUAgrarpolitik, und zeigen anderen Ländern auf dieser Welt: Wir wollen uns bewegen. Zukunftsfragen kann man nur global lösen. Dazu braucht es eine einige Europäische Union. Dazu braucht es Weichenstellungen bei der Wirtschafts- und Währungsunion. Frau Merkel, ich kann nur sagen - das ist jetzt wirklich aus meinem tiefsten Inneren gesprochen -, dass ich nach Ihrem Ausflug nach Deauville eine Erwartung habe: Vermasseln Sie es nicht! ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Michael Link spricht jetzt für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies war eine ganz sachliche Debatte, bis Kollege Dehm und Kollegin Künast gesprochen haben. ({0}) Ich kann nur sagen: Für flotte Sprüche und Belehrungen à la Oberlehrer ist dieses Thema zu ernst. ({1}) Wenn Sie in den ersten Jahren der Währungsunion, als Sie Regierungsverantwortung getragen haben - damals wurde auch der Stabilitätspakt ausgehöhlt -, ({2}) besser aufgepasst hätten, dann hätten wir einige der Probleme, die wir heute haben, vielleicht nicht. Sie hatten die Gelegenheit dazu, unter anderem auch bei Griechenland. ({3}) Die CDU/CSU-Fraktion und FDP-Fraktion legen Ihnen heute einen Entschließungsantrag vor, weil wir unsere Verantwortung für die europäische Integration sehr ernst nehmen. Dass wir sie ernst nehmen, zeigen wir, indem wir vor einem Europäischen Rat Maßstäbe definieren. Wir haben viele Wochen gemeinsam an diesem Antrag gearbeitet. Ich glaube, dies zeigt ein bisschen, wie die Europäische Union nach Lissabon funktioniert: Vor dem Europäischen Rat sagen wir als Bundestag klar, was wir wollen. Wir begrüßen im Übrigen, dass die Grünen und die Linken ebenfalls Anträge vorgelegt haben. Erstaunlicherweise hat die SPD keinen Antrag vorgelegt. Das finde ich schade; denn genau das wäre wichtig. Wir sollen und wollen hier darüber diskutieren, was die verschiedenen Fraktionen vor dem Europäischen Rat sagen. Frau Bundeskanzlerin, wir begrüßen, dass wir beim Europäischen Rat die ersten Schritte machen werden. Wir begrüßen auch, dass der Zeitplan für die möglichen Vertragsänderungen, die wir anstreben, bis März 2011 sehr ambitioniert ist. Da kann viel schiefgehen; das ist völlig klar. Es ist logisch, dass es hier und da am Anfang manchmal rumpelt. Glauben Sie denn, dass vor einem Europäischen Rat - das wissen Sie aus Ihrer Erfahrung am besten - in Europa immer alles einstimmig gesehen wird? Nein, das ist nicht der Fall. Umso wichtiger ist, dass wir als Bundestag sagen, was wir wollen, und dass wir Maßstäbe definieren, wobei wir erwarten, dass sich die Bundesregierung in den Verhandlungen an diesen Maßstäben orientiert. ({4}) Wir haben viele Maßstäbe genannt - ich brauche sie nicht im Einzelnen zu wiederholen -, zum Beispiel die automatischen Sanktionen und den robusten Mechanismus. Beim robusten Mechanismus, so wie er von Michael Link ({5}) Van Rompuy vorgeschlagen worden ist, fehlt uns noch etwas, Frau Bundeskanzlerin; das ist schade. Vorgesehen ist dort in der Ziffer 49 des Vorschlags von Van Rompuy, dass der private Sektor beteiligt werden kann. Das ist noch kein Muss. Da haben wir noch einen großen Kampf vor uns; das müssen wir gemeinsam bewältigen. Leider ist der Text, so wie er von Van Rompuy vorgelegt worden ist, an dieser Stelle noch nicht befriedigend. Aber wir arbeiten gemeinsam daran. Auch deshalb formulieren wir hier unsere Forderungen. Wir sind uns als Koalitionsfraktionen einig - ich hoffe, auch das gesamte Haus sieht das so -, dass wir die Währungsunion nicht als eine Transfer- und Haftungsunion sehen, in der die Stärkeren zum Rettungsanker derjenigen werden, die ihre Schuldenprobleme nicht rechtzeitig selbst lösen. Wir als Bundestag sagen also, was wir wollen. Wir sagen, was wir korrektiv wollen, also im Nachhinein, und was wir präventiv wollen. Wir schreiben in diesem Antrag aber auch ganz klar - zwei, drei Sätze sollten dazu gesagt werden -, dass wir Anleihen aus dem EU-Haushalt, ein Gemeinschaftsinstrument, einen Fonds - egal unter welchem Namen; es wird unter verschiedensten Namen darüber diskutiert: Währungsfonds, Liquiditätsfonds, Notfallfonds - nicht wollen. Die Dinge, die wir nicht wollen, benennen wir klar und deutlich. Wir, also die Bundesregierung, der Bundestag und sehr viele Staaten in der Europäischen Union, die uns schon klar signalisiert haben, dass sie mit uns darüber reden wollen, haben dadurch die Chance, die Währungsunion so fortzuentwickeln, dass sie wesentlich stabiler wird. Für uns ist klar: Es gibt bei Fragen der Währung kein Primat der Politik in dem Sinne, dass man beliebig an der Währung herumdoktern kann. Das ist der große Unterschied zu anderen Bereichen. Wir haben damals, als die Währungsunion eingeführt wurde, klipp und klar gesagt: Währungsfragen sind wichtige Fragen, deren Beantwortung wir durch die unabhängige Europäische Zentralbank - früher war es die unabhängige Bundesbank gewährleistet sehen wollen. Deshalb haben wir große Sympathie für die Vorschläge zu den automatischen Sanktionen, wie sie von der Europäischen Kommission vorgelegt wurden. ({6}) Machen wir uns eines nicht vor: Vieles von dem, was uns heute Probleme bereitet, haben wir der Schwächung des Stabilitäts- und Wachstumspakts in den Jahren 2004 und 2005 zu verdanken. Anstatt andere hier zu schulmeistern, möchte ich daran erinnern, wie Bundeskanzler Schröder in Spiegel Online vom 21. März 2005 die damalige Aufweichung des Währungsfonds begrüßt hat. Er hat damals gesagt, er begrüße die von den EU-Finanzministern beschlossene Reform des Stabilitätspaktes. Finanzminister Hans Eichel habe mit seinen europäischen Kollegen ein gutes Ergebnis erzielt. Eichel hatte sich zuvor angesichts der Einigung ähnlich erfreut gezeigt. Er sagte, es handele sich um eine gute Entscheidung, und fügte hinzu: „Sie sehen heute einen ausgesprochen zufriedenen deutschen Finanzminister vor sich.“

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Diese Aussagen wurden nach den Entscheidungen zur Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes getroffen. Das war ein Fehler, der sich nicht wiederholen darf. Wir unterstützen die Bundesregierung massiv bei ihren Bemühungen, das, was damals falsch gemacht wurde, jetzt besser zu machen. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat Alexander Ulrich das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welche sind die richtigen Lehren aus der Krise? Das ist die zentrale Frage, über die auf dem europäischen Gipfel und bei G 20 diskutiert wird. In dieser Diskussion wird ein zentraler Aspekt vergessen: die Frage, wer die Krise eigentlich verursacht hat. Unser Außenminister erklärte vor kurzem: Die Krise wurde durch hohe Staatsschulden verursacht. - Da hat Herr Westerwelle wohl etwas vergessen: Die Krise wurde durch Spekulationen von Banken und Finanzinstitutionen verursacht. Als klar wurde, dass sich diese verspekuliert hatten, sind die Staaten eingesprungen, um sie und mit ihnen die Konjunktur zu retten, die ohne diese Rettungsmaßnahmen noch weiter eingebrochen wäre. Wer dies, wie es im Entschließungsantrag der Regierungsfraktionen zum Ausdruck kommt, vergisst oder verschweigt, kann niemals die richtigen Lehren aus dieser Krise ziehen. ({0}) Kernthema auf der europäischen Ebene ist jetzt die Frage, wie man Staaten, die sich zu stark verschulden, bestrafen kann. Noch einmal: Die Krise wurde nicht von verantwortungslosen Staaten verursacht, sondern von verantwortungslosen Bankern und Spekulanten. ({1}) Die erste Lehre aus der Krise muss lauten: Wir brauchen eine Regulierung der Finanzmärkte. Dass man hier noch einen weiten Weg vor sich hat, wurde während der Euro-Zonen-Krise ganz deutlich. In dieser Krise haben Banken gegen hoch verschuldete Staaten spekuliert. Ich frage Sie, Frau Bundeskanzlerin: Wie können es sich die Regierungen gefallen lassen, dass sie zuerst mit Milliardenbeträgen Spekulanten retten und kurze Zeit später genau diese Spekulanten gegen die Staaten spekulieren, die sich für ihre Rettung verschuldet haben? Die Linke fordert: Das Finanzkasino muss endlich geschlossen werden! ({2}) Es müssen endlich wirksame Maßnahmen getroffen werden. Dazu gehören unter anderem ein Verbot von CDS, ein Verbot von Leerverkäufen, ein Verbot von Bankkrediten an Hedgefonds und ein Verbot des außerbörslichen Derivatehandels. Da man im Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen kein einziges Wort zum Thema Finanzmarktregulierung, sondern stattdessen die Aussage findet, die Kräfte des Marktes sollten genutzt werden, um die Staaten vor künftiger Verschuldung zu bewahren, kann man nur sagen: Sie haben offensichtlich überhaupt nichts gelernt und nichts verstanden. ({3}) Die Verursacher der Krise dürfen derzeit nicht nur weitgehend so weitermachen wie bisher, sondern sie werden für ihr verantwortungsloses Handeln auch nicht zur Kasse gebeten. Die deutsche Bankenabgabe ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch auf EU- und internationaler Ebene einigte man sich nur auf kosmetische Maßnahmen. Die zweite Lehre aus der Krise muss lauten: Die Verursacher müssen zur Kasse gebeten werden. Wir fordern eine Bankenabgabe nach US-amerikanischem Vorbild, unter Ausnahme der Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Wir fordern darüber hinaus die Einführung und Erhebung einer Finanztransaktionsteuer auf alle Wertpapier-, Devisen- und Derivateumsätze, und zwar auf nationaler und europäischer Ebene. ({4}) Frau Bundeskanzlerin, warum setzen Sie nicht Ihre ganze Energie für die Einführung der Finanztransaktionsteuer ein? Wenn Sie hierfür genauso hart kämpfen würden wie für die völlig unsinnige Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, hätte diese Steuer gute Chancen auf Verwirklichung. ({5}) Derzeit können wir beobachten, was passiert, wenn die falschen Lehren aus der Krise gezogen werden. Die Spekulanten machen weiter wie bisher. Die Kosten der Krise tragen die Beschäftigten, die Armen, die Steuerzahler und Rentner sowie die Kinder. In Deutschland wird Hartz-IV-Empfängern das Elterngeld gestrichen, in Portugal wird die Mehrwertsteuer auf viele Lebensmittel von 6 auf 23 Prozent erhöht, und Großbritannien streicht fast 500 000 Stellen im öffentlichen Dienst; mit den Grausamkeiten in Griechenland, Irland und Spanien will ich gar nicht erst anfangen. ({6}) Dies ist in hohem Maße unsozial und ökonomisch völlig unsinnig. Wer in der Krise spart, wird die Krise verschärfen. ({7}) Ich komme zum Schluss. Daher steht die Linke voll hinter den Gewerkschaften, die am 29. September 2010 bei einem europaweiten Aktionstag unter dem Motto „Nein zu Sparmaßnahmen - Vorrang für Beschäftigung und Wachstum“ Hunderttausende Menschen auf die Straße gebracht haben. Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, nehmen Sie diesen Protest endlich ernst! Die Lehre aus der Krise darf kein sozialpolitischer Kahlschlag in der EU sein. ({8}) Die Lehre aus der Krise muss das genaue Gegenteil sein: ein soziales Europa. Wir brauchen nicht Vertragsänderungen, um Stimmrechte wegzunehmen, sondern wir brauchen Vertragsänderungen für ein soziales Europa. Wir brauchen ein Europa mit einer sozialen Fortschrittsklausel, damit das Soziale Vorrang vor der Wirtschaft hat. Vielen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Thomas Silberhorn hat jetzt das Wort für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Krise um den Euro im Frühjahr hat so gewaltige weltweite Auswirkungen gezeitigt, dass es keine Untertreibung ist, festzustellen, dass es jetzt ums Ganze geht, wenn sich unsere Staats- und Regierungschefs zusammensetzen, um die Euro-Zone zu stabilisieren und unsere gemeinsame Währung, den Euro, zu stärken. Die Van-Rompuy-Arbeitsgruppe hat wichtige Weichenstellungen vorgeschlagen: eine engere Koordinierung der nationalen Haushalts- und Wirtschaftspolitiken, die Überwachung makroökonomischer Ungleichgewichte, schnellere und schärfere Sanktionen bei Verstößen gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt und nicht zuletzt das Bekenntnis, dass wir Regeln für mögliche künftige Krisenfälle finden müssen. - Wir müssen zur Solidität in der Euro-Zone zurückkehren, und wir müssen zugleich Vorkehrungen für den Fall treffen, dass künftig nochmals ein Mitglied der Euro-Zone zu scheitern droht. Deswegen ist zweierlei notwendig: Wir müssen zum einen den Stabilitäts- und Wachstumspakt stärken, um eine zu hohe Verschuldung zu vermeiden oder gegebenenfalls rechtzeitig korrigieren zu können, und wir müssen zum anderen ein geordnetes Insolvenzregime errichten, um eine Umschuldung zu ermöglichen. ({0}) Ich sage das in aller Deutlichkeit und ohne jeden Schaum vor dem Mund: Wir müssen es hochverschuldeten Staaten tatsächlich ermöglichen, pleitezugehen, weil nur dann eine Umstrukturierung und eine notwendige Umschuldung vorgenommen werden können. Die Wirtschafts- und Währungsunion weist dazu eine Regelungslücke auf, durch die wir vor ernsthafte Probleme gestellt sind. Wir können ein Mitglied der EuroZone, das dauerhaft gegen die Regeln verstößt, nicht einfach ausschließen, wir können aber auch nicht einfach immer helfen; denn im Vertrag von Maastricht ist ganz klar das Verbot vorgesehen, Schulden anderer Mitgliedstaaten zu übernehmen. Das ist nach der Rechtsprechung unseres Bundesverfassungsgerichts - insoweit müssen wir unsere Nachbarn um Verständnis bitten - eine verfassungsrechtliche Voraussetzung für die Zustimmung Deutschlands zum Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion gewesen. Deswegen kann ein dauerhafter Hilfsmechanismus mit uns nicht möglich sein, deswegen wird es mit uns keine Rettungsschirme für Griechenland oder die gesamte Euro-Zone nach dem vereinbarten Zeitpunkt geben können. ({1}) Es ist allerdings auch nicht erstrebenswert, einem Mitgliedstaat der Euro-Zone nicht zu helfen, weil die Konsequenzen natürlich furchtbar gravierend wären. Gleichwohl bin ich der Auffassung, dass diese Option auf dem Tisch bleiben muss, nicht, um jemanden bedrängen oder erniedrigen zu wollen, sondern um der Stabilität des Euro willen; denn der Ausweg wird am Ende nur sein können, dass wir ein Verfahren finden - und dazu die Verträge ändern -, mit dem wir diese Regelungslücke schließen können. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir in künftigen Fällen überhaupt Hilfe leisten können. Deshalb ist die deutsch-französische Erklärung von Deauville ein Bekenntnis der gemeinsamen Bereitschaft von Deutschland und auch Frankreich, die jetzt notwendigen Änderungen der europäischen Verträge vorzunehmen. Das ist durchaus ein beachtlicher Verhandlungserfolg, Frau Bundeskanzlerin, und ich habe gerade mit Interesse gehört, dass jetzt auch der luxemburgische Premierminister, Jean-Claude Juncker, öffentlich erklärt hat, dieses Vorgehen unterstützen zu wollen, nachdem er sich vor ein, zwei Tagen noch ganz anders geäußert hat. Meine Damen und Herren, ein solches Verfahren der Vertragsänderung ist auch keineswegs ein unüberwindbares Hindernis. Wir brauchen nur wenige Sätze im Vertrag zu ändern. Wir müssen ohnehin die Verträge für Kroatien und Irland ändern. Eine Änderung brauchen wir auch nur für die Mitglieder der Euro-Zone, sodass Staaten, die heute noch Skepsis signalisieren - wie beispielsweise Großbritannien oder Tschechien -, davon gar nicht betroffen wären. Es sollte also keiner so tun, als wäre eine Vertragsänderung ein Ding der Unmöglichkeit. Im Gegenteil, wir müssen ohnehin dieses Verfahren aufsetzen. Wenn ich nun höre, Herr Steinmeier, dass der große Ehrgeiz besteht, zu noch weiter gehenden Vereinbarungen zu kommen, als sie in der deutsch-französischen Erklärung von Deauville ihren unmittelbaren Ausdruck finden, dann, meine ich, lassen Sie uns darüber ganz offen diskutieren. Immerhin ist jetzt eine gemeinsame Verhandlungsgrundlage für den Europäischen Rat beschlossen worden. Aber am Ende müssen natürlich alle 27 Mitgliedstaaten zustimmen. Es wird insbesondere auch das Europäische Parlament zustimmen müssen. Deswegen höre ich mit Interesse, dass unsere Kolleginnen und Kollegen in Brüssel nochmals ganz deutlich für automatische Sanktionen plädiert haben. Sie befürworten außerdem unseren Vorschlag, notorischen Defizitsündern das Stimmrecht zu entziehen, ({2}) und sie fordern genauso vehement wie wir ein, dass private Gläubiger beteiligt werden. ({3}) Also gilt der alte Grundsatz: Es ist nichts vereinbart, solange nicht alles vereinbart ist. Wir stehen erst am Beginn dieser Verhandlungen. Nun, meine Damen und Herren, die Lehre bezüglich Griechenland muss doch sein, dass gerade das Fehlen gemeinsamer Regeln für eine Umschuldung dazu geführt hat, dass bei Griechenland die privaten Gläubiger geschont worden sind und allein die Steuerzahler die Zeche zahlen mussten. Wer das nicht will, muss jetzt mit uns dafür streiten, dass zwingend eine Beteiligung privater Gläubiger vereinbart wird, wenn in Krisenfällen künftig Hilfe angefordert werden sollte. ({4}) Nur so wird man den Fehlanreiz verhindern, mit einer unsoliden Haushaltspolitik fortzufahren. Die Alternative dazu wäre auch nicht sehr viel besser; denn wenn wir in der Europäischen Union nicht in der Lage sind, dieses Thema für uns selbst zu regeln, dann wird man im Zweifel im Rahmen des Internationalen Währungsfonds eine Lösung dafür finden müssen. Der Internationale Währungsfonds hatte dazu bereits einen Mechanismus aufgesetzt, als es bei Argentinien anstand, eine Umschuldung vorzunehmen. Die Besonderheit bei Griechenland ist doch nur, dass wir feststellen mussten, dass, anders als damals bei Argentinien, jetzt ein vergleichsweise kleines Land der Euro-Zone mit einem vergleichsweise überschaubaren Anteil an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung in der Europäischen Union von nur 2 Prozent eine gewaltige Turbulenz nicht nur in der Euro-Zone verursacht hat, sondern auch den Dollarraum und den Yenraum in Mitleidenschaft zu ziehen drohte. Deswegen wird es notwendig sein, dass wir von diesen Einzelfällen abstrahieren und generelle Verfahren schaffen, wie wir Staaten, die eine untragbar hohe Verschuldung haben, eine Umschuldung ermöglichen. Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir auch ein sehr klares Signal an die Finanzmärkte senden. Die Finanzmärkte müssen wissen, dass Hilfen für Staaten, die von Zahlungsunfähigkeit bedroht sind, nicht noch einmal gewährleistet werden können, ohne dass private Gläubiger mit in die Haftung genommen werden. Erst wenn wir dieses klare Signal an die Finanzmärkte senden, werden wir bewirken können, dass Unterschiede zwischen den Schuldnern gemacht werden, dass natürlich bei unterschiedlicher Haushaltslage unterschiedliche Zinsen für staatliche Anleihen gezahlt werden müssen. Das bedeutet, dass Länder mit Haushaltsproblemen allein dadurch zu haushaltspolitischer Disziplin angehalten würden. Zugleich müssen die Gläubiger wissen, dass sie für höhere Zinsen auch ein höheres Risiko eingehen, das sie dann tragen müssen, wenn es schiefgeht und sich das Risiko realisiert. Dieser Marktmechanismus entfaltet mindestens genauso disziplinierende Wirkung wie die Verankerung automatischer Sanktionen im Stabilitäts- und Wachstumspakt. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir die Beteiligung von privaten Gläubigern durchsetzen. Wir haben dazu jetzt schwierige Verhandlungen vor uns; aber die Alternative für uns kann nicht sein - aus politischen wie aus juristischen Gründen -, in eine Transferunion zu marschieren, nicht nur weil wir die größten Garantiegeber sind, sondern weil insgesamt die Stabilität der EuroZone auf dem Spiel steht. Deswegen ist es jetzt an der Zeit, die notwendigen Vertragsänderungen vorzunehmen und insbesondere den privaten Sektor bei der Übernahme von Garantien, wenn es schiefgeht, mit einzubeziehen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der nächste Redner ist der Kollege Bernhard SchulteDrüggelte für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bernhard Schulte-Drüggelte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003629, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im Mai haben wir uns an dieser Stelle neben Griechenland auch mit dem europäischen Stabilisierungsmechanismus beschäftigt und auch darüber verständigt. Das heißt, die eine Seite des Hauses hat sich verständigt. Die andere Seite des Hauses - die Linke und die SPD - hat sich verantwortungslos gedrückt. Es war eine schnelle, aber auch eine einmalige Entscheidung. Die Maßnahmen des Rettungsschirms werden im Sommer 2013 auslaufen. Eine solche Maßnahme kann und darf nicht zur Dauereinrichtung werden. Krisen markieren aber auch Wendepunkte. Die Frage ist nun, wie künftig verfahren werden soll. Wie kann eine Situation verhindert werden, wie wir sie im Frühjahr erleben mussten? Aus dieser Krise müssen Konsequenzen gezogen werden. Ich möchte drei Bereiche ansprechen, in denen Konsequenzen zu ziehen sind: Erstens. Die Haushaltsdisziplin muss durch strengere Regeln unterstützt werden. Zweitens. Die Haushalts- und Wirtschaftspolitiken der europäischen Mitgliedstaaten müssen besser aufeinander abgestimmt werden. Drittens muss ein dauerhafter Krisenmechanismus entwickelt werden. Diese drei Punkte sind für uns wichtig. ({0}) Zur Haushaltsdisziplin: Das Volumen des Rettungsschirms macht deutlich, dass die Währungsunion nicht noch einmal mit solchen Beträgen stabilisiert werden kann. Es muss klar das Ziel sein, solche Krisen zu vermeiden oder zumindest die Wucht einer solchen Krise abzubremsen. Die Situation der öffentlichen Haushalte in Europa ist schwierig. Die Zahlen der EU-Statistikbehörde aus der letzten Woche kommen klar zu einem unschönen Ergebnis: Fast in allen EU-Staaten stieg das Staatsdefizit auf Höhen, die vor der Krise unvorstellbar waren. Es gibt viele Gründe für die Krise. Dazu gehört das staatliche Regierungshandeln in den USA. Aber es gab auch andere Gründe für die Krise. Wenn Shareholder-Value oder Bonuszahlungen die einzigen Erfolgskriterien sind und sich die Freiheit von der Verantwortung löst, dann darf das Risiko nicht zulasten Dritter bzw. des Steuerzahlers gehen. Das muss in Zukunft verhindert werden. Dafür ist dringend ein funktionsfähiger Ordnungsrahmen erforderlich: effiziente Aufsicht, mehr Transparenz und bessere internationale Zusammenarbeit. ({1}) Zunächst müssen aber alle Länder der Euro-Zone ihre Defizite reduzieren. Denn sie sind Ursache und Anlass für Spekulationen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat entgegen den Erwartungen nicht ausgereicht, die Staatsverschuldung einzudämmen. Damit ist das Erfordernis einer grundlegenden Reform erkennbar geworden. Aber das bedeutet keine Aufweichung, sondern eine Verstärkung der Stabilitätskriterien. Die Koalition setzt sich in ihrem Antrag für die Stärkung von präventiven Maßnahmen ein. Ziel ist eine ausgeglichene Haushaltsführung. Denn zu einer Eröffnung eines Defizitverfahrens soll es erst gar nicht kommen. Das ist zwar eine Idealvorstellung, aber es ist auch das Ziel der Maastricht-Verträge. Wenn aber Vorgaben nicht eingehalten werden, dann müssen schnell weitere Sanktionen folgen. Vorschläge aus verschiedenen Bereichen liegen vor. Ich hoffe, dass auf dem EU-Gipfel nicht nur debattiert, sondern auch zügig entschieden wird. Aber über eines bin ich mir natürlich auch klar - Herr Finanzminister Schäuble hat es gesagt; es gibt Politiker, die sich in Europa auskennen -: Wer annimmt, bei 27 Mitgliedern könne die Position Deutschlands zu 100 Prozent durchgesetzt werden, dem fehlt es an Verständnis für Europa. - So einfach wird es also nicht sein, aber eine Leitplanke müssen wir deutlich setzen: Es darf nicht sein, dass die Währungsunion zu einer Transferunion wird. Das lehnen wir entschieden ab. ({2}) Es sollte selbstverständlich sein, dass verantwortlich handelnde Regierungen, die betroffenen Mitgliedstaaten in der Europäischen Union auch die Haftung für getroffene Fehlentscheidungen übernehmen. Damit komme ich zum zweiten Punkt. Auch die Wirtschafts- und Haushaltspolitiken der Mitgliedstaaten müssen besser aufeinander abgestimmt werden. Es ist an ein „Europäisches Semester“ gedacht, das erstmals 2011 eingeführt wird und die Elemente der finanz- und wirtschaftspolitischen Überwachung besser und wirksamer im Sinne eines Frühwarnsystems koordinieren soll. Als Haushälter möchte ich sagen: Natürlich darf nicht in das Budgetrecht der nationalen Parlamente eingegriffen werden. Dieser Punkt ist aus meiner Sicht nicht zu verhandeln. ({3}) Auch die Wettbewerbsfähigkeit der Länder muss in Zukunft anhand ausgewählter Indikatoren besser überwacht werden; denn in den letzten Jahren haben sich die Relationen zwischen den Volkswirtschaften verändert, auch innerhalb der Euro-Zone und innerhalb Europas. Da bleiben Spannungen natürlich nicht aus, doch es bleibt unverzichtbar, Verantwortung auch für einen längeren Zeitraum zu übernehmen. Das führt zum nächsten Punkt, zum dauerhaften Krisenmechanismus. Die Europäische Union sowie die nationalen Regierungen dürfen zukünftig nicht wieder durch eine Dynamik krisenhafter Ereignisse zu kurzfristigen Maßnahmen gezwungen werden. Wir waren damals gezwungen und hatten kaum eine andere Chance. Deshalb muss ein glaubwürdiger Krisenmechanismus entwickelt werden, der aber nicht nur aus rechtlichen Regeln bestehen darf, sondern auch die Kräfte der Märkte nutzt, damit die Staaten Verschuldung vermeiden. Ich möchte deutlich betonen, was in der letzten Zeit, auch in der Presse, diskutiert worden ist: Das Bailout-Verbot muss bestehen bleiben. Kein Land darf Schulden für ein anderes Land übernehmen. ({4}) In diesem Zusammenhang möchte ich das aufgreifen, was die Vorredner gesagt haben: Auch die Gläubiger hochverschuldeter Staaten müssen sich künftig an der Sanierung finanziell beteiligen. ({5}) Das Stichwort heißt „Haircut“. Ein geordnetes Entschuldungsverfahren für diese Staaten muss möglich sein, und es muss möglich sein, auch die Gläubiger heranzuziehen. Das ist die klare Ausrichtung für eine künftige Entwicklung. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Das Prinzip von Risiko und Haftung muss stärker zur Geltung gebracht werden. ({6}) Das wird nach allem, was zu hören und zu lesen ist, nicht ohne Vertragsveränderungen möglich sein. Ich habe den Eindruck, dass die Bundesregierung hier auf einem guten Weg ist. Dass dieser Weg nicht einfach ist, ist völlig klar; aber ich möchte Professor Fuest zitieren, der in der letzten Woche im Handelsblatt gesagt hat: Merkel hat besser verhandelt, als die Kritiker glauben. Auf diesem Weg werden wir die Kanzlerin auch weiter unterstützen, auch wenn er steinig sein sollte. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Entschließungsanträgen. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3408. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegen- stimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen- stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3412? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Entschließungsantrag der Linken mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.1) Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen auf Drucksache 17/3425 soll überwiesen werden, und zwar zur federführenden Beratung an den Haushaltsausschuss und zur Mitberatung an den Finanz- ausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technolo- gie sowie den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 2 auf: Befragung der Bundesregierung Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka- binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Ände- rung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vor- schriften. Das Wort für den einführenden fünfminütigen Bericht hat der Bundesminister des Innern, Herr Dr. Thomas de Maizière.

Not found (Minister:in)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat heute den von mir eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangshei- rat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrecht- licher Vorschriften beschlossen. Mit diesem Gesetzent- wurf werden mehrere aufenthaltsrechtliche und integra- tionspolitische Vorhaben umgesetzt, auf die sich die Koalitionspartner im Koalitionsvertrag verständigt ha- ben. Den Schwerpunkt bilden verbesserte Regelungen 1) Anlage 2 zur Bekämpfung der Zwangsheirat einerseits und zum Schutz der Opfer von Zwangsheirat andererseits. Zwangsheirat ist auch in Deutschland ein ernst zu nehmendes Problem, das in den letzten Jahren verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt ist. Um Zwangsheirat stärker als bisher als strafwürdiges Unrecht zu ächten, soll mit dem Gesetz ein eigener Straftatbestand geschaffen werden. Dadurch bringt der Gesetzgeber klar zum Ausdruck, dass Zwangsheirat als schweres Unrecht zu verurteilen ist. ({0}) Er tritt damit gleichzeitig der Fehlvorstellung entgegen, es handele sich um eine zumindest tolerable Tradition aus früheren Zeiten oder anderen Kulturen. Durch einen neuen Absatz wird auch die Verschleppung zum Zweck der Zwangsheirat unter Strafe gestellt. Insofern dient diese Neuregelung einer allgemeinen integrationspolitischen Aufgabe, die wir erfüllen müssen. Wir müssen deutlich machen, dass Zwangsheiraten nicht mit unserer Werteordnung vereinbar sind. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Werteordnung stärker als bisher als verpflichtend wahrgenommen wird. Der Entwurf sieht weiter die Schaffung eines eigenständigen Wiederkehrrechts vor. Wir wollen die Opfer von Zwangsheirat besserstellen. Dies dient der Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Stellung ausländischer Opfer von Zwangsverheiratungen, die sich als Minderjährige in Deutschland aufgehalten haben und nach der Zwangsheirat an der Rückkehr nach Deutschland gehindert werden. Voraussetzung für die Inanspruchnahme dieses Wiederkehrrechts ist eine starke Vorintegration in Deutschland oder eine positive Integrationsprognose. Es gibt also zwei Möglichkeiten in diesem Zusammenhang. Des Weiteren wird die Antragsfrist zur Aufhebung einer Zwangsehe verlängert, damit die Opfer von Zwangsheirat mehr Zeit haben, sich von dem Druck zu lösen und einen entsprechenden Antrag zu stellen. Ein ernst zu nehmendes aufenthaltsrechtliches Problem ist die Eingehung einer Ehe ausschließlich zu dem Zweck, einen Aufenthaltstitel zu erlangen, eine sogenannte Scheinehe. Die Mindestbestandszeit einer Ehe, die erforderlich ist, um ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu begründen, wird deshalb von zwei auf drei Jahre verlängert. Damit wird der Anreiz zur Schließung von Scheinehen verringert und die Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung einer Scheinehe erhöht. Schließlich werden die Regelungen für die räumliche Beschränkung von Asylbewerbern und Geduldeten gelockert, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung, einer Ausbildung oder eines Studiums bzw. den Schulbesuch in einem Gebiet zu erleichtern, das nicht von der jetzigen aufenthaltsbeschränkenden Maßnahme erfasst ist. Das ist eine Regelung, die für Ballungsgebiete und auch länderübergreifend gedacht ist und etwa im Großraum Berlin, im Großraum Hamburg, im Großraum Bremen helfen wird. Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus Regelungen, die die Kontrolle der Einhaltung von Integrationsverpflichtungen verbessern sollen. Deutsche Sprachkenntnisse und Alltagswissen sowie Kenntnisse der deutschen Rechtsordnung, Kultur und Geschichte sind der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration von Ausländern in Deutschland. Diese Kenntnisse werden in Integrationskursen vermittelt, deren Besuch unter den im Aufenthaltsgesetz genannten Voraussetzungen für etliche Zuwanderer verpflichtend ist. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Verpflichtung der Ausländerbehörden noch einmal ausdrücklich normiert, vor Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis festzustellen, ob ein Ausländer seiner Pflicht zur ordnungsgemäßen Integrationskursteilnahme auch wirklich nachgekommen ist. Dies ist deshalb wichtig, weil die Verletzung dieser Pflicht aufenthaltsrechtliche Sanktionen bis hin zur Ablehnung von Anträgen auf Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen im Wege eines pflichtgemäßen Ermessens nach sich ziehen kann. Außerdem werden in dem Gesetzentwurf Datenübermittlungsregelungen im Zusammenhang mit der Durchführung von Integrationsmaßnahmen gesetzlich geregelt, die bislang nur in einer Rechtsverordnung, der Integrationskursverordnung, enthalten sind. Es gibt viele, die an diesem Thema mitarbeiten, insbesondere die Träger von Integrationskursen, die Ausländerbehörden, die Bundesagentur für Arbeit, Argen und Optionskommunen. In diesen Fällen muss der Austausch darüber, ob jemand an einem Integrationskurs teilgenommen hat - wenn nicht, aus welchen Gründen -, verbessert werden, sodass man die entsprechenden Konsequenzen ziehen kann. Das sogenannte aufenthaltsrechtliche Paket verdeutlicht in besonders guter Weise die Mischung im Bereich von Migration und Integration, von Fördern und Fordern. Das Gesetzgebungsverfahren geht mit dem heutigen Tage los.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Ich habe jetzt eine ganze Palette von Wortmeldungen. Ich habe sie so aufgeschrieben, wie sie mir zur Kenntnis gekommen sind. Wir fangen an mit der Kollegin Humme von der SPDFraktion.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr de Maizière, es ist richtig, dass wir gemeinsam das Ziel haben, Zwangsverheiratungen zu bekämpfen. Sie wollen das mit der Schaffung eines eigenen Straftatbestandes tun. Nach § 240 Strafgesetzbuch ist es zurzeit so, dass bei einer Zwangsverheiratung ein Fall von schwerer Nötigung vorliegt. Dafür vorgesehen ist ein Strafmaß von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Ist es eigentlich eine Hilfe für Zwangsverheiratete, wenn das Strafmaß erhöht wird? Ist es nicht eine größere Hilfe, wenn die Strafverfolgung verbessert wird? Was ist an dieser Stelle geplant? Welche Erkenntnisse haben Sie in der Vergangenheit darüber gewonnen, dass die Strafverfolgung so schwierig war? Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des InnernBundesminister Dr. Thomas de Maizière

Not found (Minister:in)

Frau Abgeordnete Humme, meines Erachtens ist es falsch, das als Alternativen zu sehen. Rechtspolitisch macht es einen Unterschied, ob ein Unterfall der Nötigung vorliegt oder ob man der deutschen und der internationalen Öffentlichkeit mit einem eigenen, auch so benannten Paragrafen deutlich macht: Wir wollen in Deutschland freiwillige Verheiratung und keine Zwangsheirat. Das ist rechtspolitisch ein gewichtiger Unterschied, auch wenn das Strafmaß in diesem Fall nicht erhöht werden soll. Zugleich wird in einem weiteren Absatz festgestellt: Auch die Verschleppung von Personen für eine Zwangsheirat ist strafbar. Ich glaube, das dient der rechtspolitischen Klarheit und ist ein Fortschritt. Die Frage der Strafverfolgung ist davon zu trennen. Sie wissen, die Länder sind dafür zuständig. Sie fragen, warum die Verfolgung so schwierig ist. Das liegt exakt an der Zwangslage der Frau und an den schwierigen Beweislagen zur Aufklärung einer Straftat, die innerhalb der Familie stattfindet. Wie Sie wissen, ist das vor etlichen Jahren beim Thema „Vergewaltigung in der Ehe“ diskutiert worden, also bei einer sehr ähnlichen Fragestellung. Man sollte den Opfern nicht vorwerfen, dass sie nicht gleich einen Strafantrag stellen; sie sind ja einem bestimmten Zwang ausgesetzt, und sie halten sich oft im Ausland auf. Deswegen lässt sich aus einer mangelnden Verfolgungsmöglichkeit nicht der Rückschluss ziehen, dass wir diesen Straftatbestand nicht ernst nehmen oder nicht angemessen bezeichnen sollten. Vielmehr brauchen wir beides: einen klaren Straftatbestand und eine ordnungsgemäße und zügige Strafverfolgung.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Jetzt hat der Kollege Rüdiger Veit das Fragerecht.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Minister, ich möchte meiner Frage ein anerkennendes Wort voranstellen, indem ich sage: Das Rückkehrrecht für Opfer von Zwangsheirat, aber beispielsweise auch Erleichterungen bei der Residenzpflicht für Geduldete sind durchaus Schritte in die richtige Richtung. Dazu haben wir auch als SPD-Fraktion bereits an einem eigenen Gesetzentwurf gearbeitet. Es freut uns, dass wir dabei jetzt offenbar auf einen Nenner kommen. Ich verrate auch kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir in der Großen Koalition an diesem Problem auch schon gearbeitet haben. Damit leite ich zu meiner Frage über. Bei aller Freude über dieses Aufeinander-Zugehen habe ich kritisch zu fragen: Was veranlasst Sie als Person oder auch die Koalition - vielleicht können Sie aufgrund der Verhandlungen, die vorausgegangen sein werden, sogar für die FDP mit antworten -, jetzt zu sagen: „Scheinehen könnten dadurch besser vermieden werden, dass die für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Ehegatten erforderliche Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahre heraufgesetzt wird“? Warum gerade drei Jahre? Im Jahr 2000 haben wir die Frist von vier auf zwei Jahre heruntergesetzt, und dies aus gutem Grund. Ich glaube, wir haben das damals sogar mit der FDP gemacht. Was also veranlasst die Regierung, zu glauben, mit einer Verlängerung der Frist um ein Jahr würden Sie diesem Phänomen besser begegnen können? Wenn ich das sagen darf: Ich persönlich habe dieses Ansinnen auch in Zeiten der Großen Koalition immer als eine sittlich nicht ganz gerechtfertigte Verbindung zweier unterschiedlicher Sachverhalte angesehen, die deswegen auch nicht zu einem faulen Kompromiss verbunden werden konnten. Bei aller Freude also diese leichte Eintrübung und die daraus abgeleitete Frage: Warum jetzt wieder diese Koppelung?

Not found (Minister:in)

Ich freue mich, dass Sie zu einigen dieser Regelungen eine Zustimmung in Aussicht stellen. Es tut gut, wenn man in diesen Fragen in beiden Kammern Deutschlands eine große Mehrheit zustande bringt. Was uns veranlasst hat, dies zusammen zu regeln, wissen Sie natürlich selbst. Sie kleiden Ihre These nur in eine Frage; das ist verständlich. ({0}) Aber ich will gern Folgendes sagen: Für uns ist der Schutz der Ehe wichtig, nicht nur weil das im Grundgesetz steht, sondern aus innerer Überzeugung. Wir haben auch Verständnis dafür, dass man, wenn Ehen zwischen jemandem, der in Deutschland lebt, und jemandem, der im Ausland lebt, zustande gekommen sind, einen Ehegattennachzug organisiert. Denn Ehepartner sollen zusammenleben können und dürfen. Das Problem ist nur, dass diese sinnvollen und vernünftigen Maßnahmen zum Schutz der Ehe missbraucht worden sind und ständig missbraucht werden, um in Wahrheit einen ungesteuerten Zuzug nach Deutschland zu organisieren, und dies unter Missachtung der Rechte der Frauen. Das wollen wir verhindern. Das ist immer ein Optimierungsproblem. Deswegen die Regelung bezüglich der Zwangsheirat. Das ist ein Baustein, der unter bestimmten Voraussetzungen auch ein Rückkehrrecht für die Opfer vorsieht. In diesem Zusammenhang will ich auch das Eingehen einer Scheinehe nennen, einer Ehe, die den Zweck hat, dass anschließend ein Ehepartner - in der Regel ist dies eine Frau - ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bekommt. Ist die Frist sehr kurz, so ermuntern Sie manche dazu, die vernünftigen Regelungen, die es gibt, damit Ehepartner zusammenleben können, zu missbrauchen, wodurch es zu einer Zuwanderung nach Deutschland kommt, die so nicht beabsichtigt war. Insoweit ist die Frist von drei Jahren besser als eine Frist von zwei Jahren. Wir gehen davon aus, dass gute Ehen in der Regel zwei bis drei Jahre und möglichst länger halten sollten. Je kürzer eine Ehe ist, desto stärker ist dies ein Indiz dafür, dass die Ehe vielleicht aus ganz bestimmten Gründen eingegangen worden ist. Insoweit finde ich drei Jahre besser als zwei, und drei Jahre sind ein Kompromiss zwischen zwei und vier Jahren. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. - Jetzt hat das Fragerecht die Kollegin Sevim Dağdelen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr Minister, ich muss im Anschluss an die Frage des Kollegen Veit nachfragen. Sie haben von Missbrauchsfällen berichtet. Es wäre interessant, zu wissen, auf welcher empirischen Grundlage diese Bundesregierung diese Aussagen macht, dass hier Missbrauch betrieben wird und deshalb die Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahre verlängert werden soll. Den Deutschen Bundestag haben in den letzten Jahren sehr viele Praktikerinnen und Praktiker sowie Expertinnen und Experten über die Zwangssituation der Frauen unterrichtet. Wir haben in der letzten Wahlperiode, als Sie nicht Innenminister waren, mit Ihrem Vorgänger, Herrn Schäuble, im Bundestagsinnenausschuss Anhörungen zum Thema Zwangsverheiratung durchgeführt; auch im Familienausschuss fanden dazu Anhörungen statt. Dabei wurde immer wieder von Expertinnen und Experten Folgendes gefordert: Wenn man den Opferschutz tatsächlich möchte - von diesem haben Sie gerade gesprochen -, dann sollte man die Ehebestandszeit nicht verlängern, sondern eher reduzieren. Ich komme zu meiner eigentlichen Frage zum Thema Opferschutz: Inwieweit wird die Bundesregierung die vom Forum Menschenrechte geforderten Verbesserungen im Opferschutz umsetzen, beispielsweise Regelungen im Melderecht schaffen, die verhindern, dass ein bundesweiter Zugriff auf die Daten von bedrohten oder von Zwangsverheiratung betroffenen Personen möglich wird, sodass nicht der Mann über das Scheidungsverfahren oder das gerichtliche Umgangs- und Sorgerechtsverfahren am Amtsgericht den Wohnort der jungen Frau herausfinden kann und damit alle Anonymisierungsbemühungen zunichte gemacht werden? - Ich hoffe, Sie haben die Frage verstanden. Wenn nicht, kann ich sie wiederholen.

Not found (Minister:in)

Ich möchte, ehrlich gesagt, jetzt nicht im einzelnen zu Forderungskatalogen von noch so ehrwürdigen Organisationen Stellung nehmen; das kann gerne im Gesetzgebungsverfahren geschehen. Das Melderecht enthält bestimmte Auskunftsrechte, welche jedermann zur Verfügung stehen. Nun in Bezug auf Ihre Fallkonstellation eine spezifische Auskunftseinschränkung vorzunehmen, scheint meiner Meinung nach problematisch zu sein; darüber können wir allerdings gerne im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens reden. Die Frage der Beweisführung und des Opferschutzes ist in allen Fällen schwierig. Wir haben mit diesem Gesetzentwurf versucht, diesbezüglich einen vernünftigen Ausgleich zu finden. Dass wir damit nicht alle Fälle erfassen, ist sicherlich wahr. Denn wir haben es in dieser Fallkonstellation - ich sage es einmal etwas hart - mit verdecktem Elend zu tun, und die Aufdeckung wird manche Frau in eine doppelte Opferrolle bringen, weil sie womöglich aussagen muss; das kennen wir bereits aus vielen anderen Bereichen des Strafrechts. Trotzdem finden wir, dass wir in dieser Gesellschaft klar sagen müssen, dass wir diese Art von archaischen Strukturen, diesen Missbrauch der Ehe in unserem Land und zum Zwecke des Erschleichens des Zugangs in unser Land nicht dulden wollen. Das ist die Aussage dieses Entwurfs.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Danke schön. - Der nächste Fragesteller ist der Kollege Memet Kilic.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, ich habe im Juli einen Antrag zur Verbesserung der Rechte von zwangsverheirateten Personen gestellt. Ich kann mit Freude feststellen, dass die Koalition über ihren Schatten gesprungen ist und sich auf einem Gebiet - ich meine die Rückkehrrechte von Zwangsverheirateten - Bewegung abzeichnet. Ich hoffe, dass es bis zum Ende so bleibt und dass Herr Grindel auch weiterhin zustimmt. ({0}) Das wird auch so bleiben, denke ich. Würden Sie mir zustimmen, dass Verschleppung bereits nach heute geltendem Recht strafbar ist? Das ist schließlich Freiheitsberaubung. Wenn Sie diese Verbesserung damit begründen, ist es womöglich nicht richtig. Würden Sie mir auch zustimmen, dass Zwangsverheiratung in Deutschland bereits seit Jahren aufgrund von § 240 des Strafgesetzbuches verboten ist? Und würden Sie mir auch zustimmen, dass die damalige rot-grüne Bundesregierung diese zu einem besonders schweren Fall der Nötigung erklärt und ein Strafmaß von bis zu fünf Jahren vorgesehen hat? Sie sehen allerdings in der Tat ein Novum vor. Denn Sie sagen: In minderschweren Fällen wird das Strafmaß sechs Monate bis drei Jahre betragen. Ich würde sagen: Genauso wenig wie es „ein bisschen Schwangerschaft“ gibt, so wenig gibt es auch „ein bisschen Zwangsverheiratung“. Wie also soll man sich minderschwere Fälle bei Zwangsverheiratung vorstellen, wofür das niedrigere Strafmaß vorgesehen ist? Ein weiterer Bereich ist: Sie wollen die Zahlen bezüglich der Verweigerung der Teilnahme an Integrationskursen ermitteln. Aber Sie haben schon im Vorhinein erklärt, dass 10 bis 15 Prozent der Immigranten Integrationsverweigerer sind. Danach haben Sie versucht, zuDr. Thomas de Maizière, Bundesminister des InnernBundesminister Dr. Thomas de Maizière rückzurudern; aber das ist nicht gelungen. Ihre Antwort auf eine schriftliche Frage von mir belegt Ihre Aussage nicht. Nach unseren Erkenntnissen besuchen die Immigranten die Integrationskurse. 140 000 nehmen zurzeit daran teil, 9 000 warten darauf. Bis Ende dieses Jahres werden es 20 000 Immigranten sein.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kilic.

Memet Kilic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004069, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme sofort zum Schluss. - Die Leute, die die Teilnahme an den Kursen abbrechen, haben unterschiedliche Gründe: Es können gesundheitliche Gründe sein, oder sie finden einen Job; in dem Fall müssen sie den Integrationskurs sogar abbrechen und dem Job den Vorrang geben. Würden Sie also die Zahl korrigieren und sagen, dass nicht 10 bis 15 Prozent der Immigranten integrationsunwillig sind?

Not found (Minister:in)

Ich beginne einmal mit Ihrer ersten Frage. Wenn Ergänzungen nötig sind, bitte ich Herrn Stadler, diese vorzunehmen; denn das Justizministerium ist ja für das Strafrecht zuständig. Man könnte sehr viele Paragrafen des Strafrechts streichen und alles unter Beleidigung und Nötigung fassen. Wir haben vor einiger Zeit das Stalking, die unangemessene Belästigung, als Straftatbestand eingeführt. Auch das ist eine Art Nötigung. Ich finde - ich wiederhole das noch einmal; ich habe es der Kollegin Humme schon gesagt -, es macht einen Unterschied, ob ich von einem noch so gewichtigen Unterfall der Nötigung spreche oder ob ich im In- und Ausland sage: Wir wollen keine Zwangsheirat. - Das ist ein großer rechtspolitischer Unterschied. Es dient der Systematisierung und der Transparenz, auch im Hinblick auf das gesellschaftliche Unwerturteil. Deswegen haben wir das heute so beschlossen. Zu Ihrer zweiten Frage: Ich habe nicht gesagt, dass nach meiner Schätzung 10 bis 15 Prozent aller Migranten integrationsunwillig sind. Vielmehr habe ich gesagt, dass 10 bis 15 Prozent der hier lebenden Muslime integrationsunwillig sind. ({0}) Das ist eine Schätzung, die ich vorgenommen habe. Ich habe das auch ausdrücklich so vorgetragen. Das ist eine Schätzung, die sich aus der großen Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ herleitet, die im Zusammenhang mit der Deutschen Islam-Konferenz in der letzten Legislaturperiode entstanden ist. Ein paar Indizien aus dieser Studie - zum Beispiel Nichtteilnahme am Sportunterricht, auch Selbstaussagen von Betroffenen bringen mich zu der Aussage, die ich in Bezug auf Muslime - nicht auf die Gesamtheit der Migranten - getroffen habe. Das ist von interessierter Seite anders berichtet worden. Aber das war immer meine Aussage, und dabei bleibt es auch. Was die Frage des Abbruchs der Teilnahme an Integrationskursen angeht, so ist es wahr: Viele Gründe können ausschlaggebend dafür sein. Ungefähr 30 Prozent der Teilnehmer brechen einen Integrationskurs ab oder bringen ihn nicht erfolgreich zum Abschluss. Das kann viele Ursachen haben: Man findet Arbeit, der Ehepartner verbietet vielleicht die Teilnahme, es liegt eine Krankheit vor, ein Kind wird krank und vieles andere. Es kann aber auch Integrationsunwilligkeit sein. Bisher haben wir diesbezüglich keine klaren Erkenntnisse. Weder die Ausländerbehörden noch die Argen und Optionskommunen haben das bislang verfolgt und sich ausführlich damit befasst. Wir wollen, dass sich das ändert. Erstens muss ein Datenaustausch zwischen dem Träger eines Kurses und den zuständigen Behörden möglich werden. Zweitens wollen wir, dass die Ausländerbehörden gezwungen werden, darauf zu achten, woran es gelegen hat, wenn ein dazu Verpflichteter nicht an einem Integrationskurs teilgenommen hat. Dann muss im Wege des pflichtgemäßen Ermessens entschieden werden, ob deswegen die Aufenthaltsgenehmigung nicht erteilt oder nicht verlängert wird. ({1}) Es gibt da keinen Automatismus, sondern im Wege des pflichtgemäßen Ermessens muss berücksichtigt werden, dass es unterschiedliche Gründe dafür geben kann, der Verpflichtung der Teilnahme an einem Integrationskurs nicht nachgekommen zu sein. Dass wir hier offensichtlich ein Vollzugsdefizit haben, scheint mir unstreitig zu sein. Ich werde mit meinen Kollegen Innenministern noch darüber zu reden haben, woran das liegt. Aber das Argument, wir könnten bestimmte Sachen nicht machen, um das Vollzugsdefizit zu beheben, etwa weil wir die Daten nicht austauschen dürften, möchte ich durch diesen Gesetzentwurf entkräften.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Der nächste Fragesteller ist der Kollege Josef Winkler. ({0}) - Entschuldigung! Es bedarf noch einer weiteren Antwort. Herr Kollege Dr. Stadler, bitte.

Dr. Max Stadler (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002805

Herr Kollege Kilic, zu Ihren strafrechtlichen Fragen darf ich noch auf Folgendes aufmerksam machen: Zunächst einmal sind wir alle uns sicherlich einig, dass es ein elementares Menschenrecht ist, selber frei zu entscheiden, ob man eine Ehe eingeht und, wenn ja, mit wem. ({0}) Dass dieses elementare Menschenrecht durch die Rechtsordnung, auch durch das Strafrecht, geschützt werden muss, ist unstreitig. Hinzu kommt jetzt, dass es beim Rückkehrrecht Verbesserungen für die Opfer gibt; das hat Herr Minister de Maizière ausgeführt. Die Koalition aus SPD und Grünen hat das, was die strafrechtliche Seite angeht, übrigens genauso gesehen, da sie beim Nötigungstatbestand die Zwangsverheiratung als besonders schweren Fall definiert hat. Das taucht spiegelbildlich im neuen Grundtatbestand des § 237 Abs. 1 auf. Insofern gibt es hier sicherlich keinerlei Differenz. ({1}) Hinzu kommt jetzt, dass wir auch andere Tatmodalitäten unter Strafe stellen, die zum Teil im Strafgesetzbuch verstreut, in anderen Vorschriften erfasst waren, zum Teil aber auch nicht. Das betrifft das Verbringen des Opfers ins Ausland zum Zweck der Begehung der Tat. ({2}) Soweit dies durch Gewalt geschieht, ist es als Verschleppungstatbestand erfasst. Darüber hinaus gibt es den Begriff der Drohung mit einem empfindlichen Übel - das war bisher Nötigung -, aber auch die Verbringung ins Ausland durch List. Es ist schon fraglich, ob das von den bestehenden Strafgesetzen wirklich erfasst wird. Die neue Regelung dient auch der Rechtsklarheit, weil dies alles jetzt in einer einzigen Vorschrift zusammengefasst und somit eindeutig als strafwürdiges Verhalten gekennzeichnet ist. Sie hatten die Frage aufgeworfen, ob minderschwere Fälle überhaupt denkbar seien, die nach unserem Entwurf mit einem geringeren Strafrahmen bedacht sind, nämlich mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, während der Grundtatbestand wie im bisherigen § 240 Abs. 4 mit sechs Monaten bis fünf Jahren Freiheitsstrafe bestraft wird. Es ist eine bekannte Regelungstechnik im Strafgesetzbuch, dass vom Gesetzgeber bei vielen Straftatbeständen auch die Möglichkeit eines minderschweren Falls vorgesehen ist. Wir sind uns einig, dass bei dem Straftatbestand der Zwangsheirat vermutlich eher selten ein minderschwerer Fall angenommen werden kann; dies haben wir auch in die Begründung des Gesetzentwurfs geschrieben. Gleichwohl wollten wir der gerichtlichen Praxis diese Möglichkeit eröffnen. Sie wissen, dass auch der Versuch strafbar ist, jemanden ins Ausland zu verbringen. Die Tatmodalitäten stellen sich in einer Gesamtwürdigung möglicherweise etwas anders dar als der Grundtatbestand. In die Gesamtbewertung - Herr Kollege Montag als Strafverteidiger weiß das - fließt auch die Persönlichkeit des Täters, die bisherige Unbescholtenheit und Ähnliches ein. Daher kann es Fälle geben, in denen ein minderschwerer Fall in Betracht kommt. Wir wollen es gerne der strafrichterlichen Praxis überlassen, das zu definieren. Von der Gesetzgebung her meinen wir aber, dass das der seltene Ausnahmefall sein wird. So ist es auch in der Begründung dargestellt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. Das war auch für Nichtjuristen eine kleine Lehrstunde. Das Fragerecht hat jetzt der Kollege Josef Winkler.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Bundesinnenminister, im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, dass die Verlängerung der Ehebestandszeit zur Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltstitels von zwei auf drei Jahre geprüft werden soll. Uns würde interessieren, was bei dieser Prüfung herausgekommen ist; denn Sie haben sich für einen Zeitraum von drei Jahren entschieden. Der Begründung des Gesetzentwurfs entnehme ich dazu nur die Formulierung, dass Wahrnehmungen aus der ausländerbehördlichen Praxis darauf hindeuten, dass die Verkürzung der Mindestehebestandszeit auf zwei Jahre zu einer Erhöhung der Scheineheverdachtsfälle geführt hat. Nun besteht aber ein Unterschied zwischen Verdachtsfällen, bei denen Wahrnehmungen darauf hindeuten, dass ihre Zahl zugenommen hat, und tatsächlichen Fällen. Das Ergebnis Ihrer Prüfung halte ich daher auch in Anbetracht der Tatsache, dass Sie den Sachverhalt ernsthaft prüfen wollten, für nicht besonders stichhaltig. Ich möchte Sie noch zu einem anderen Punkt fragen, und zwar zur Regelung für die Wiedereinreise. Plant die Bundesregierung, für Personen, die von Zwangsverheiratung nur bedroht sind und versuchen, dieser zu entkommen, die Einreise nach Ablauf der Sechsmonatsfrist ebenfalls zu erleichtern, oder halten Sie diese Personengruppe für nicht schutzbedürftig? Nach dem Wortlaut des Gesetzentwurfes gilt das Recht auf Wiedereinreise nur für bereits zwangsverheiratete Personen.

Not found (Minister:in)

Meine Antwort auf die erste Frage: Das Ergebnis der Prüfung ist der heute vorliegende Gesetzentwurf. Meine Antwort auf die zweite Frage: Die von Ihnen angesprochene Konstellation wird außerordentlich selten sein. Das Rückkehrrecht bezieht sich auf Personen, insbesondere Frauen und Minderjährige, die hier waren und beispielsweise zur Ferienzeit mit List, mit Gewalt oder auf andere Weise ins Ausland - ich sage es einmal neutral - verbracht werden, verheiratet werden und dann zurückkehren können sollen. Wer hier ist und von Zwangsverheiratung nur bedroht ist, für den ist die entsprechende Regelung nicht einschlägig. Dieser Fall wird daher so gut wie nie eintreten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die nächste Frage stellt der Kollege Jerzy Montag.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Präsident. - Herr Minister, ich weiß, dass Sie ein glänzender Jurist sind. Außerdem sind Sie für diesen Gesetzentwurf verantwortlich. Deswegen erlaube ich mir, diese Frage, obwohl sie sich auf das Strafrecht bezieht, erst einmal an Sie zu stellen. Wenn Sie mögen, können Sie die Beantwortung gern Herrn Staatssekretär Stadler überlassen. Es geht um die Strafvorschriften, die Sie vorschlagen. Insbesondere für das Strafrecht gilt: Wenn es nicht unabweisbar nötig ist, ein Gesetz zu machen, ist es unabweisbar nötig, kein Gesetz zu machen. Nun stellen Sie eine Vorschrift vor, die bis auf Punkt und Komma - sowohl was das Strafmaß als auch was die Textformulierung anbelangt - dem seit fünf Jahren geltenden Recht entspricht. Sie führen sozusagen nur eine Umetikettierung durch. Dafür muss es einen vernünftigen Grund geben. Ich frage Sie, ob Ihnen vielleicht Tatsachen bekannt sind, die es unabdingbar machen, der Strafvorschrift eine neue Überschrift zu geben, nämlich dass beispielsweise die Polizeibehörden das bisherige Recht nicht richtig kennen oder dass die Staatsanwaltschaften den besonderen Tatbestand der Nötigung nicht im Auge gehabt haben, sodass die Straftaten - es handelt sich ja nicht um ein Antragsdelikt - nicht verfolgt worden sind. Was ist also außer der Umetikettierung der Grund dafür, dass Sie die Strafvorschrift ändern? Der zweite Teil meiner Frage geht in die gleiche Richtung. Ich bin ein Freund der minderschweren Fälle; vorhin wurde ich darauf persönlich angesprochen. In allen Fällen, in denen eine Mindeststrafe von sechs Monaten vorgesehen ist, sollte es den Richtern möglich sein, auch minderschwere Fälle zu judizieren. Fakt ist aber, dass Sie mit diesem Gesetzentwurf entgegen den Verlautbarungen in der Presse die Strafvorschriften zur Zwangsverheiratung nicht verschärfen - Sie lassen sie nicht einmal gleich -, sondern entschärfen, indem Sie diese minderschweren Fälle einführen. Das sollten Sie der Ehrlichkeit halber der Öffentlichkeit sagen.

Not found (Minister:in)

Herr Abgeordneter, da wir alle - Sie, Herr Stadler und ich - ordentliche Juristen sind, können wir das im Rahmen der Zuständigkeit beantworten. Ich würde deshalb den ehemaligen Staatsanwalt Stadler bitten, zu antworten. Ich will nur eines vorweg sagen. Sie haben von einer Umetikettierung gesprochen. Das klingt so herabwürdigend. Ich finde, das ist auch rechtspolitisch ein wichtiger Punkt: Wie bezeichnen wir das, was wir allgemein für strafwürdig halten? Ich finde, es ist rechtspolitisch ein gewichtiger Unterschied, ob wir Zwangsheiraten als einen Unterfall von Nötigung bezeichnen oder aber durch Schaffung einer eigenen Regelung zum Ausdruck bringen: Wir wollen keine Zwangsheiraten. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kollege Stadler.

Dr. Max Stadler (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002805

Herr Kollege Montag, wir alle wissen, dass mit dem Straftatbestand der Nötigung die Willensentschließungsfreiheit strafrechtlich geschützt wird. Nun kann man seinen Willen zu verschiedenen Handlungen oder Unterlassungen äußern. Ich habe es schon vorhin ausgeführt: Ich finde, dass die Entscheidung, ob man eine eheliche Bindung eingeht und mit wem, ein so elementares Menschenrecht ist, dass es durchaus gerechtfertigt ist, diese Entscheidung mit einer eigenen Norm unter strafrechtlichen Schutz zu stellen, auch wenn Zwangsheiraten schon durch den Strafbestand der Nötigung, der viele andere Sachverhalte mit erfasst, unter Strafe gestellt waren. Es geht hier um den Schutz von Mädchen und jungen Frauen im Hinblick auf ihre freie Willensentscheidung, ob sie eine Ehe eingehen und mit wem. ({0}) Das ist ein spezieller Fall. Die Freiheit der Eheschließung ist nicht nur durch Art. 6 des Grundgesetzes geschützt, sondern auch durch die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Menschenrechtscharta. Deswegen halte ich es für eine durchaus gerechtfertigte Entscheidung, den Schutz dieser Freiheit im Strafgesetzbuch gesondert zum Ausdruck zu bringen. Sie haben recht, dass der Strafrahmen der bisher gültigen Vorschrift zur Nötigung nach § 240 Abs. 4 Strafgesetzbuch entnommen ist. Ich stimme Ihnen ebenfalls zu, dass es zweckmäßig ist, den Richtern für die vielen Einzelfälle - man kann bei Verabschiedung eines Gesetzes gar nicht vorhersehen, was sich in der Praxis zuträgt die Möglichkeit zu geben, das Strafmaß sachgerecht, auf den jeweiligen Einzelfall bezogen festzulegen. Deshalb sehen wir, dem Vorbild vieler anderer Straftatbestände folgend, einen minderschweren Fall mit einem anderen Strafrahmen vor. Ich bin sicher, dass die Judikatur davon in sachgerechter Weise Gebrauch machen wird. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. - Eigentlich ist die Zeit für die Befragung der Bundesregierung abgelaufen. Wenn Sie einverstanden sind, verlängere ich die Zeit dafür, und zwar auf Kosten der Fragestunde, bei der die Zeit dann möglicherweise nicht ganz ausgeschöpft werden kann. - Darüber scheint Einvernehmen zu bestehen. Die nächste Frage hat die Kollegin Heidrun Dittrich.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Minister, ich habe eine Detailfrage zum Schutz der Opfer von Zwangsverheiratungen. Nach dem Personenstandsgesetz muss eine Namensänderung in das Familienbuch eingetragen werden, in das enge Angehörige Einsicht nehmen dürfen. Dadurch sind Betroffene extrem gefährdet. Im Notfall kann den Behörden jedoch die Bedrohungssituation einer Betroffenen dargelegt und so eine Eintragung des neuen Namens verhindert werden. Diese Prozedur ist jedoch schwierig. Es werden hohe Anforderungen an die Glaubhaftmachung einer Zwangsverheiratung oder einer entsprechenden Bedrohung gestellt. Beabsichtigen Sie, diese hohen Anforderungen zu senken, um den Schutz der Opfer von Zwangsverheiratungen besser zu gewährleisten?

Not found (Minister:in)

Frau Abgeordnete, ich muss freimütig gestehen, dass ich die Frage nicht aus dem Stand beantworten kann. Ich würde Ihnen die Antwort gern schriftlich nachreichen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die nächste Frage hat die Kollegin Monika Lazar.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe eine Nachfrage zur Erhöhung der zur Erlangung eines Aufenthaltstitels notwendigen Ehebestandszeit. Mein Kollege Winkler hat schon versucht, Ihnen etwas mehr zu entlocken als die Antwort: Das Ergebnis sehen Sie heute. In der Gesetzesbegründung heißt es, dass Wahrnehmungen darauf hindeuten. Uns würde interessieren, welche Wahrnehmungen Sie haben. Können Sie uns diese Wahrnehmungen mitteilen? Unter anderem Terre des Femmes sieht die Erhöhung der Ehebestandszeit sehr kritisch. Diese Organisation, die sich seit vielen Jahren für Frauenrechte einsetzt, spricht sich dagegen aus. Ich habe eine weitere Frage zu diesem Themenkomplex. Es gibt eine Härtefallregelung. Wissen Sie, wie viele Frauen und Männer von der Härtefallregelung Gebrauch machen und die Möglichkeit zur Verkürzung der Ehebestandszeit in Anspruch nehmen? Können Sie uns diese Zahlen zur Verfügung stellen?

Not found (Minister:in)

Frau Abgeordnete, wir haben weder zu der Frage „Wie viele Zwangsverheiratungen gibt es in Deutschland?“ noch zu der Frage „ Wie viele Scheinehen gibt es in Deutschland?“ eine Statistik. Das liegt in der Natur der Sache. Diese Ehen werden schließlich in scheinbarem Einvernehmen der Beteiligten geschlossen, um die wahre Absicht des Vorgangs zu verschleiern. Es wäre erstaunlich, wenn man hierzu Statistiken hätte. Beides wollen wir aber nicht. Wir wollen weder Zwangsheiraten noch Scheinehen. Herr Stadler hat überzeugend vorgetragen, warum wir keine Zwangsheiraten wollen. Wir wollen auch keine Scheinehen, und zwar nicht nur, weil man sich dadurch das Recht zum Zuzug nach Deutschland erschleicht, sondern auch, weil es unserem Verständnis von der Würde und dem Ansehen der Ehe nicht entspricht, sie nur zum Schein einzugehen. Sie wissen aber selbst - schließlich haben Sie eine entsprechende Nichtregierungsorganisation erwähnt -, dass wir auf diesem Gebiet ein beträchtliches Problem in unserer Gesellschaft haben. Wir schaffen jetzt die Möglichkeit, diese Fälle aufzudecken. Natürlich brauchen wir dafür die Mitarbeit Betroffener. Einige Zeit nach Inkrafttreten des Gesetzes können wir aufzeigen, wie es wirkt. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass es kaum Statistiken über Zwangsheiraten und Scheinehen gibt. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die nächste Frage stellt die Kollegin Ekin Deligöz.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, ich gebe zu, dass es eine frauenpolitische Errungenschaft ist, wenn es in Zukunft ein Rückkehrrecht gibt. Das ist eine Forderung, die ich als Familienpolitikerin schon seit Jahren stelle. Leider konnte ich sie bisher, auch zur Zeit einer anderen Regierungskoalition, nicht durchsetzen. Ich gebe zu, dass das ein wichtiger Schritt ist. Jetzt kommt mein großes Aber bei der Sache. Wir reden hier über juristische Finessen, die ihre Berechtigung haben und die ich auch nicht schmälern will. Wenn ich mir aber die Praxis in Deutschland anschaue, stelle ich fest, dass die größten Defizite nicht im Bereich des Strafrechts liegen, sondern die Situation vor Ort betreffen. Was werden Sie tun, um Ihre Absicht, diese Form von unmenschlicher Heirat zu verhindern, Wirklichkeit werden zu lassen? Welche Begleit- und Unterstützungsmaßnahmen wollen Sie ergreifen? Wird es dazu eine Kampagne geben? Werden Sie darauf insistieren, dass es Beratungsstellen gibt? Werden Sie Unterstützungsmaßnahmen anbieten, zum Beispiel in Frauenhäusern, damit die Frauen, die sich befreien und zurückkehren, auch die Möglichkeit haben, sich an jemanden zu wenden? Wenn es zwar eine Rückkehroption, aber keine Aufnahmeoption gibt, werden die Frauen den entscheidenden Schritt vermutlich nicht wagen, sondern sich sozusagen ergeben und in die Familienstruktur, die sie unter Druck setzt, zurückkehren müssen. Mit welchen Begleitmaßnahmen wollen Sie Ihre Intention, die richtig ist, durchsetzen? Aus dem Blickwinkel der Frauen- und Familienpolitik war bisher nicht der Straftatbestand das entscheidende Problem, sondern die Tatsache, dass Deutschland nicht in der Lage war, Unterstützungsstrukturen für diese Opfer aufzubauen.

Not found (Minister:in)

Heute reden wir über ein Paket, das sich auf das Aufenthaltsrecht bezieht. Es besteht aus einem strafrechtlichen Element und aus einer Gesetzgebung, die mit dem Aufenthaltsgesetz zu tun hat. Das ist Gegenstand dieses Gesetzentwurfs. Damit können wir die ganze soziale Wirklichkeit und die Dramen, die sich abspielen, natür7110 lich nicht abbilden. Für manches sind auch die Länder zuständig. Es nützt aber überhaupt nichts, ein Programm für eine Wiederaufnahme vor Ort zu machen, wenn es kein Rückkehrrecht gibt. Das heißt: Ohne ein solches Rückkehrrecht und ohne dass man den Straftäter - ob es nun der Vater, der Bruder, der Onkel oder sonst jemand ist - an den Kanthaken bekommt, wird es nicht gehen. Das andere sind Maßnahmen, die folgen können. Es gibt auch entsprechende Strukturen. Wir haben Opfervereinigungen, Beratungsstellen und Frauenhäuser, die sich kümmern. Aber wenn wir den rechtlichen Rahmen nicht hinbekommen - sowohl mit Blick auf die klarere Regelung der Strafe als auch mit Blick auf das Rückkehrrecht -, nützen Hilfsmaßnahmen nichts. Das eine schließt das andere nicht aus.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die nächste Frage stellt die Kollegin Aydan Özoğuz.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Bundesinnenminister, zweifellos sind Forschung und Wissenschaft ganz wichtige Grundlagen unserer Arbeit. Ich möchte aber doch zum Ausdruck bringen, dass ich es wirklich für schwierig halte, wenn die Befragung von Jugendlichen zu ihrem kriminellen Verhalten verbunden mit der Frage, wie religiös sie sich fühlen, zu der Aussage des Bundesinnenministers führt, dass 10 bis 15 Prozent der Muslime bei uns integrationsunwillig seien. Ich denke, darüber sollten wir noch einmal sprechen. Meine Frage geht aber eher in den Bereich des Opferschutzes. Sie haben vorhin gesagt, dass eine starke Vorintegration die Voraussetzung für das eigenständige Wiederkehrrecht sei. Ich würde dies gerne noch ein wenig präzisiert bekommen. Was ist eine starke Vorintegration? Spielt das Einkommen eine Rolle? Spielt der Bildungsstand eine Rolle? Was genau ist damit gemeint? ({0})

Not found (Minister:in)

Zum ersten Punkt. Ich habe mich bei meiner Antwort ausdrücklich nicht auf die Studie des Direktors des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zur überproportional hohen Gewaltneigung junger Muslime bezogen. Sie haben sich jetzt darauf bezogen. Diese Studie ist bemerkenswert. Ob sie so aussagefähig ist, halte auch ich für fragwürdig. Ich habe meine Aussage auf die große Studie über islamisches Leben in Deutschland von Faruk Sen und anderen bezogen, die in den Jahren 2008 und 2009 durchgeführt worden ist. Durch die Fülle von Aussagen, wie man zum Staat steht, ob man den Staat ablehnt oder nicht, und zu ähnlichen Fragen komme ich zu diesem Ergebnis, dass es sich um 10 bis 15 Prozent der Muslime handelt. Das ist meine Quelle - und nicht Herr Pfeiffer. Es ist wichtig, darauf noch einmal hinzuweisen. Nun zu Ihrer Frage. Es gab schon einen Zwischenruf aus unserer Mitte: Das steht in der Tat im Gesetz. Man muss zwischen minderjährig und nicht minderjährig unterscheiden. Mit erfolgreicher Vorintegration ist insbesondere gemeint, wenn man sich hier schon lange aufgehalten hat und auch erfolgreich die Schule besucht hat. Dann wird das Rückkehrrecht in besonderer Weise erleichtert. Im Übrigen verweise ich auf den Wortlaut des Gesetzes.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. - Ich muss die Befragung der Bundesregierung zu diesem Themenkomplex leider beenden. Wir haben den vorgesehenen Zeitrahmen schon um elf Minuten überschritten. Es gibt allerdings noch zwei weitere Fragen. Nun ist schon kritisiert worden, dass diejenigen, die zur Fragestunde gekommen sind, Gefahr liefen, ihre Fragen nicht beantwortet zu bekommen. Ich darf Sie deshalb fragen: Trifft es auf Ihre Zustimmung, dass wir die Befragung der Bundesregierung jetzt beenden? - Dann rufe ich noch die beiden Fragen, die nicht zu diesem Themenbereich gehören, auf. Bei den Fragestellern handelt es sich um die Kollegin Sevim Dağdelen und den Kollegen Stefan Liebich. Frau Dağdelen, bitte.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Minister, eigentlich ist dieser Komplex schon angesprochen worden. Es geht um die heute im Kabinett ebenfalls beschlossenen Sanktionen bei vermeintlichen Integrationsverweigerern in Deutschland. Wie bereits angesprochen wurde, haben laut einer Meldung des Tickerdienstes epd acht Träger von Integrationskursen für Migranten angesichts der Tatsache, dass das Kabinett heute über mehr Sanktionen entschieden hat, auf die geringe Abbrecherquote hingewiesen. Ich zitiere: „Es gibt so gut wie keine Abbrecher aus mangelndem Integrationsinteresse“, erklärten acht Bildungsträger gemeinsam am Mittwoch in Bonn. … Dringenden Handlungsbedarf sehen die Bildungsträger an anderer Stelle. Sie sehen also keinen Handlungsbedarf im Bereich von Sanktionen, die es sowieso schon gibt. Hier heißt es weiter: Rund 10 000 Menschen, die an Integrationskursen teilnehmen wollten, stünden auf Wartelisten, weil für ihre Kurse nicht genug Geld zur Verfügung stehe … Bis zum Jahresende könne sich die Zahl sogar auf 20 000 verdoppeln. Herr Minister, Sie sprechen - nachzulesen zum Beispiel in einem gestern im Tagesspiegel veröffentlichten Interview - immer noch von Integrationsverweigerern und sind nicht in der Lage, auf parlamentarische Fragen von Abgeordneten und Fraktionen, welche Erkenntnisse Ihnen über Integrationsverweigerer vorliegen, Antworten zu geben. Deshalb lautet meine Frage an Sie: Sind Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des InnernBundesminister Dr. Thomas de Maizière Sie nicht der Auffassung, dass es pauschal und sehr diskriminierend ist, von etwas zu sprechen, dem jedwede Grundlage in der Realität fehlt, und gleichzeitig Sanktionen vorzusehen? Dies stellt letztendlich nur eine hektische Aktivität der Bundesregierung dar, hat aber mit der Lebenswirklichkeit in Deutschland nichts zu tun.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Minister.

Not found (Minister:in)

Frau Abgeordnete, das war eher ein Debattenbeitrag als eine Frage. Ich fand und finde meine Äußerungen nicht pauschal. Das ist meine Antwort.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Im Übrigen war das eine Frage zu dem gleichen Themenkomplex. Sie haben Ihr Fragerecht missbraucht. ({0}) Ich bitte jetzt den Kollegen Stefan Liebich, seine Frage zu stellen.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich frage Sie, Herr Präsident, ob ich jetzt eine Frage zur angeblich mangelnden Integrationsbereitschaft stellen darf. Vorhin haben wir über Zwangsheirat gesprochen. Das sind meiner Ansicht nach zwei verschiedene Themen. Deswegen hatte ich mich vorher nicht gemeldet und möchte meine Frage an dieser Stelle stellen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das ist dem vorherigen Themenkomplex zumindest sehr nahe. Bitte stellen Sie Ihre Frage.

Stefan Liebich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004093, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister de Maizière, Sie haben im Zusammenhang mit den Regierungsentscheidungen zur angeblich mangelnden Integrationsbereitschaft auf das Beispiel Berlin verwiesen. Damit haben Sie viele Berlinerinnen und Berliner, die Berliner Landesregierung und mich als Berliner Abgeordneten überrascht. Deswegen habe ich dazu zwei Fragen: Wie beurteilen Sie, dass die langjährige Politik von SPD und Linkspartei in Berlin, die mehr Durchlässigkeit oder sogar die Überwindung des gegliederten Schulsystems zum Ziel hat, dazu geführt hat, dass wir eine Quote von Abiturienten und Fachabiturienten mit Migrationshintergrund in Höhe von 22 Prozent haben, während der bundesweite Durchschnitt bei nur 9 Prozent liegt? Wie beurteilen Sie, dass die Einführung von kostenfreien Kitaplätzen für drei- bis sechsjährige Kinder in Berlin dazu geführt hat, dass nahezu alle Kinder aus Migrantenhaushalten in Kitas gehen?

Not found (Minister:in)

Herr Präsident, lassen Sie diese Frage zu oder nicht? Sie lassen sie zu. Dann möchte ich gerne darauf antworten. Dass ich Sie überrascht habe, kann ich nicht ändern. Zur Sache möchte ich Folgendes sagen - das ist aus meiner Sicht ein ernster Punkt -: Das Motiv meiner Äußerung war nicht, mich in innere Angelegenheiten der Landespolitik in Berlin einzumischen oder Berlin zu stigmatisieren. Aber ich möchte nicht, dass die Erfolge der Integrationsarbeit überall im Land dadurch diskreditiert werden, dass immer wieder die Beispiele Neukölln und Wedding zitiert werden. Neukölln ist nicht überall in der Bundesrepublik Deutschland. Darauf wollte ich hinweisen. Die Berliner möchten sich bitte einmal an die eigene Nase fassen und überlegen, was sie tun können, statt immer nur zu überlegen, was andere tun können, um diese Zustände auch in Berlin zu verändern. Das war mein Beitrag. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Danke schön, Herr Bundesminister. Damit ist Ihre Aufgabe erfüllt. Ich beende die Befragung der Bundesregierung. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 3: Fragestunde - Drucksachen 17/3363, 17/3398 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringlichen Fragen auf Drucksache 17/3398 auf. Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Ich rufe die dringliche Frage 1 der Kollegin Inge Höger auf: Plant die Bundesregierung den Einsatz von TornadoKampfflugzeugen, anderen Fahr- und Flugzeugen oder Personal der Bundeswehr zur Überwachung der Proteste gegen den bevorstehenden Castortransport, und, wenn nicht, was ist der Hintergrund der nach jüngsten Berichten von Anwohnern aktuell stattfindenden Tiefflüge von Bundeswehr-Tornados über der Region Wendland? Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Christian Schmidt zur Verfügung. Bitte, Herr Staatssekretär.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin, bitte gestatten Sie, dass ich Ihre Frage wie folgt beantworte: Die Bundeswehr unterstützt im Rahmen der Amtshilfe die Durchführung von Castortransporten. Hierüber wurde der Bundestag in den Antworten auf Anfragen der im Bundestag vertretenen Fraktionen in regelmäßigen Abständen unterrichtet. Die Unterstützungsleistungen beschränken sich regelmäßig auf die befristete ÜberlasSevim DaðdelenSevim Dağdelen sung von Infrastruktur und die Mitbenutzung infrastruktureller Einrichtungen wie Truppenküchen und Tankstellen. Für die im November dieses Jahres geplanten Castortransporte sind die genannten Unterstützungsleistungen der Bundeswehr für die Bundespolizei und für polizeiliche Einsatzkräfte der Länder erneut zugesagt worden; hierüber wurde der Deutsche Bundestag nach meiner Kenntnis bereits ausführlich informiert. Für die Überwachung etwaiger Proteste gegen Castortransporte am kommenden Wochenende werden aber weder TornadoLuftfahrzeuge noch andere Flugzeugmuster der Bundeswehr noch Fahrzeuge und Personal der Bundeswehr eingesetzt. Tornado-Aufklärungsflugzeuge sind weder in der Vergangenheit noch für die im Jahr 2010 geplanten Castortransporte angefordert worden. Damit haben auch keine Flüge zur Unterstützung solcher Transporte stattgefunden; sie werden auch in diesem Jahr nicht erfolgen. Aufklärungsaufgaben mit Tornado-Luftfahrzeugen werden in der Luftwaffe ausschließlich vom Aufklärungsgeschwader 51 „Immelmann“ durchgeführt. Dieses führt zurzeit normalen Ausbildungs- und Übungsflugbetrieb im genehmigten Luftraum über Deutschland durch. Am kommenden Wochenende ruht der allgemeine Übungs- und Ausbildungsflugbetrieb der Luftwaffe. Nähere Kenntnisse von einzelnen Überflügen, die Sie insinuieren, bedürften zu ihrer Überprüfung der konkreten Benennung von Ort und Zeit. Ich kann aber ausschließen, dass dies mit vorbereitenden oder sonstigen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Transport atomarer Brennstoffe zu tun hat.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Eine Nachfrage?

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie schließen ausdrücklich aus, dass bei den Castortransporten Tornado-Flugzeuge zum Einsatz kommen oder andere Aufklärungsmaßnahmen, zum Beispiel mit Fenneks, die in Heiligendamm eingesetzt wurden, durchgeführt werden. Unabhängig davon frage ich Sie: Gibt es Fotos vom Verlauf der Castorroute?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Frau Kollegin, dass es Fotos vom Verlauf der Castorroute gibt, davon gehe ich aus, weil es bei uns von fast allem Fotos gibt. Dass die Bundeswehr diese Fotos im Auftrag gemacht hat, möchte ich allerdings ausschließen. Ich habe, abgesehen vom bisherigen Auftrag, den ich Ihnen geschildert habe, keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich die Bundeswehr beteiligt. Was die Überflüge betrifft, möchte ich darauf hinweisen, dass die Landkreise Lüneburg, Uelzen und LüchowDannenberg wie die meisten Regionen in Deutschland nicht innerhalb einer Flugverbotszone liegen. Damit sind dort im Rahmen der gültigen Regelungen grundsätzlich auch militärische Flugbewegungen erlaubt, und sie werden auch durchgeführt. Was die von Ihnen benannten, behaupteten oder Ihnen zugetragenen Eindrücke von Tiefstflügen angeht, müsste man mithilfe von Zeit- und Ortsangaben klären, ob diese tatsächlich stattgefunden haben und, wenn ja, mit welchen Flugzeugen diese Flüge - ob Übungsflüge oder andere - durchgeführt wurden. Ich kann nur noch einmal betonen, dass sie mit Sicherheit nicht mit den Castortransporten zusammenhängen; das kann ich ausschließen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zweite Nachfrage.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Was ist denn unter normalen Übungs- und Ausbildungsflügen zu verstehen? Mir ist zugetragen worden, dass diese Flüge gerade über das Wendland jetzt als besondere Belastung empfunden werden. Warum führen diese Flüge gerade über das Wendland?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Da muss ich passen, weil ich den Geschwaderkommodore nicht befragt habe. Normaler Übungsflugbetrieb bedeutet aber, dass Flugzeuge in die Luft gehen, fliegen und wieder landen. Das werden sie zum Teil auch in niedrigen Höhen tun, allerdings wird nur so weit und so lange geflogen, wie das im Rahmen der Übungstätigkeit auch zulässig ist. Ich hatte darauf hingewiesen, dass solche Flugbewegungen beispielsweise am Wochenende nicht stattfinden. Frau Kollegin, ich biete an, dass Sie die Angaben präzisieren und mir dann einmal zukommen lassen. Ich sage Ihnen hiermit eine schriftliche Beantwortung zu, in der dargestellt wird, welche Flugzeuge das von wem gewesen sind, ob das also „Immelmänner“ oder andere Flugzeuge der Luftwaffe oder von anderen fliegenden Einheiten gewesen sind, und in der ich Ihnen dann auch Auskunft darüber geben kann, im Rahmen welchen Ausbildungs- und Übungsbetriebs diese Flüge durchgeführt wurden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es gibt eine weitere Nachfrage des Kollegen Christian Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, Sie haben meine schriftliche Frage zu diesem Thema ja schon beantwortet. Darin steht, dass die Bundeswehr Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 des Grundgesetzes leistet. Ich hatte in dieser schriftlichen Frage allerdings auch darum gebeten, mir in einer vollständigen Auflistung - Behörde, Dauer, Art und Umfang - alle Maßnahmen zu benennen, die geplant bzw. zugesagt sind. Diese Auflistung vermisse ich in der Antwort auf meine schriftliche Frage bisher. Ich bitte also darum, schriftliche Fragen in Zukunft vollständig und nicht nur zum Teil zu beantworten. Im Anschluss an das, was die Kollegin hier jetzt gefragt hat, will ich Sie einmal ein bisschen konkreter fragen, weil Sie das ja auch erbeten haben. Im Oktober 2010 sollen in der Nähe der Orte Seedorf und Dahlenburg - dort verläuft die Strecke, auf der der Castortransport nicht am kommenden Wochenende, sondern am Wochenende danach stattfinden wird; für Ihre Nachfrage können Sie das vielleicht gebrauchen - mehrfach insbesondere Hubschrauberüberflüge über die Bahngleise und das nahegelegene Gebiet stattgefunden haben. Mir liegen hier auch die Angaben von Augenzeugen zu Uhrzeiten an einem dieser Tage vor. Sie sagen, das seien ganz normale Flüge, die immer durchgeführt werden. Das mag ja sein, trotzdem stelle ich die Frage: Dienen diese Flüge auch der Beobachtung, und werden diese Beobachtungen in irgendeiner Weise durch Kameras oder in anderer Weise aufgezeichnet? Wo verbleiben die Aufnahmen, die dort hergestellt werden? Insbesondere interessiert mich: Wird die Bundeswehr diese Aufnahmen auf Anforderung auch den Sicherheitsbehörden in Niedersachsen zur Verfügung stellen, wie das ja bei den Ereignissen um Heiligendamm der Fall gewesen ist?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Herr Kollege Ströbele, ich bitte zuerst, meine Unaufmerksamkeit zu entschuldigen, weil ich - das war für Sie ja auch erkennbar - noch einmal die Papiere, die mir vorliegen, sortiert und dabei festgestellt habe, dass auf Ihre Frage hin, die Sie schriftlich gestellt hatten, eine Übersicht über die beschlossenen Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen der Amtshilfe erstellt wurde. Falls diese Ihrem Schreiben nicht beigelegen hat, werde ich sie gerne nachreichen. Falls Sie sie besonders schnell haben wollen, empfehle ich Ihnen, Ihren Kollegen Nouripour im Rahmen der innerfraktionellen Amtshilfe anzusprechen, der am 22. Oktober 2010 von meinem Kollegen Kossendey über die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses und den Verteidigungsausschuss insgesamt nämlich solch eine Übersicht erhalten hat. Aber ich werde Sorge dafür tragen, dass Sie diese Anlage erhalten, die detailgenau auflistet, wer wann zu welchem Anlass wo welche Unterstützungsleistungen beantragt hat. Das geht von der Nutzung als Park- und Stellflächen in der Tat bis hin zur Verpflegung. Die Frage, die mir jetzt gestellt war, Herr Kollege, zu der Sie eine Zusatzfrage gestellt haben, hat sich ausdrücklich auf Tornado-Flugzeuge bezogen. Über diese habe ich Auskunft erteilt. Hubschrauber der Bundeswehr - das beziehe ich mit ein - sind mit diesem Auftrag nicht unterwegs gewesen. Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass beispielsweise Fluggerät, Drehflügler, von Bundes- oder Länderpolizeien unterwegs gewesen ist, damit man sich einen Überblick verschaffen kann. Das weiß ich nicht und entzieht sich meiner Kenntnis. Ich bin nicht in der Lage, das zu beantworten. Die Tendenz Ihrer Frage kommt aus den Erfahrungen der Diskussionen, die wir nach Heiligendamm hatten. Auch ich erinnere mich noch sehr gut an die Dinge. Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass wir damals eine Kompetenzsituation hatten, die nicht auf der entsprechenden Ebene entschieden worden war, und dass ich persönlich von diesem Rednerpult aus eine Klarstellung abgegeben habe, die damals auch eine Entschuldigung für ein Organisationsversagen beinhaltet hat. Gerade aus dieser Erfahrung heraus werden Sie und ich sowie die Kolleginnen und Kollegen des Hauses sehr darauf achten, dass die Fragen, die gestellt werden, beantwortet werden und die Auskünfte, die erteilt werden, dann auch so umgesetzt werden. Ich darf Ihnen versichern, dass in den zuständigen Bereichen der Bundeswehr eine hohe Sensibilität besteht, dass solche klaren Regeln und klaren Vereinbarungen auch eingehalten werden. Das heißt, Amtshilfe gemäß Art. 35 ist angefordert worden, aber für Infrastruktur und für Dinge, die jedenfalls außerhalb und jenseits der Aufklärung oder der Aufklärung mit Luftfahrzeugen liegen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt kommen wir zu einer Frage des Kollegen Paul Schäfer; das ist die zweite dringliche Frage: Ist die Meldung der Presseagentur dapd vom 25. Oktober 2010 zutreffend, nach der in Afghanistan Bundeswehrsoldaten gezielt auf Zivilisten schießen dürfen und schießen, wenn sich diese telefonierend oder rufend über das Gefechtsfeld bewegen? Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Kollege Schäfer, Sie hatten sich, vermute ich, auf die dapd-Meldung von vorgestern bezogen, die, wenn ich das richtig verfolgt habe, gestern und auch heute mit weiteren Tagebuchschilderungen ausgebaut worden ist. Es handelt sich nach den Angaben der Autorin um Auszüge aus einem Tagebuch eines gerade aus dem Afghanistan-Einsatz zurückgekehrten deutschen Soldaten. Wie uns die Autorin weiter wissen lässt, enthalte die Meldung keinerlei Anspruch auf Objektivität, Vollständigkeit oder Ausgewogenheit in der Darstellung. Zudem sind die Orts- und Zeitangaben sowie weitere Details anonymisiert, wenngleich einige der Vorfälle - oder ein Vorfall, der genannt worden ist - sich natürlich lokalisieren und zeitlich fixieren lassen. Es geht um die Vorfälle am Karfreitag und die Gefechte, in denen sich damals Soldaten der Bundeswehr befunden haben. Obgleich es, davon abgesehen, vor dem Hintergrund der Anonymität und der Subjektivität schon schwerfällt, die in den Pressmitteilungen vorhandenen Aussagen wirklich seriös zu bewerten und zu kommentieren, vermag ich die in Ihrer Frage enthaltene Behauptung, es sei Bundeswehrsoldaten gestattet, auf Zivilisten zu schießen, die sich telefonierend oder schreiend über das Gefechtsfeld bewegen, so nicht der Pressemitteilung zu entnehmen. Die Frage, die durch die Meldung aufgeworfen ist, lautet ja doch eher, ob gegen feindliche Kräfte, die im Rahmen eines Feuergefechtes einen Stellungswechsel durchführen, militärische Gewalt angewendet werden darf, auch wenn sie den Stellungswechsel gegebenenfalls ohne ihre Waffen vornehmen. Dies ist nach dem humanitären Völkerrecht sowie nach den ISAF-Einsatzregeln der Fall! Ich möchte zwei Punkte ausdrücklich betonen. Zum einen habe ich ein gewisses subjektives Verständnis dafür, dass ein Soldat, der aus einer Gefechtssituation kommt, die überhaupt nichts mit den Lebensumständen in unserem Land zu tun hat - wenn es ein authentischer Bericht sein sollte -, durchaus eine Notwendigkeit sieht, seine Erfahrungen zu berichten, auszudrücken oder zu kommentieren. Ich glaube sogar, dass es in einem gewissen Rahmen notwendig ist, dies zu tun. Ob das immer in Form von anonymisierten Pressemeldungen der Fall sein muss, ist eine andere Frage. Aber wir regen unsere Soldatinnen und Soldaten durchaus dazu an, mit einem gewissen Abstand auch in unserer Öffentlichkeit über die schlimmen Erfahrungen, die sie machen, zu reden. In den interessanten Tagebucheinträgen ist vieles natürlich subjektiv. Trotzdem hat es seinen Platz. Man muss es zwar einordnen, aber ich glaube, dass es eine möglicherweise sogar notwendige Konsequenz der schlimmen Situationen ist, in die der einzelne Soldat im Einsatz geraten kann. Aber wenn er eine bewusste Fehlinformation oder Informationen, die die Sicherheit seiner Kameraden betreffen, damit berühren würde, dann wäre allerdings der Punkt erreicht, an dem man dies nicht mehr billigen kann. Zum anderen will ich deutlich festhalten - das gibt, ohne dass ich mich auf die Lektüre dieser Meldungen im Einzelnen beziehe, seine Kritik an den Vorgesetzten zu erkennen -, dass das humanitäre Völkerrecht in der Bundeswehr beim Einsatz in Afghanistan und anderswo selbstverständlich Weisungslage ist und auch eingehalten wird. Wie und ob in einer konkreten Gefechtssituation die Frage zu entscheiden ist, ob jemand ein unbeteiligter Zivilist ist oder jemand, der im Rahmen des humanitären Völkerrechts in einem bewaffneten nicht internationalen Konflikt durch seine Beteiligung an Kampfhandlungen diesem völkerrechtlichen Schutz nicht mehr unterworfen ist, kann, glaube ich, im Grundsatz in diesem Hause oder in der Öffentlichkeit beantwortet werden. In der konkreten Situation verbietet es sich uns aber, allein aufgrund irgendwelcher Meldungen zu beurteilen, was wirklich geschehen ist. Deswegen bleibe ich bei der grundsätzlichen Bewertung. Selbstverständlich können Sie, Herr Kollege Schäfer, ebenso wie wir davon ausgehen, dass das humanitäre Völkerrecht die Grundlage für ein völkerrechtskonformes militärisches Verhalten von Bundeswehrsoldaten ist und sein muss und dass sich alle Vorgesetzten entsprechend verhalten müssen. Alles Weitere lässt sich nicht vom Rednerpult, von der Regierungsbank oder vom Abgeordnetenplatz aus im Detail kommentieren. Das müsste im Einzelfall geklärt werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kollege Schäfer, eine Nachfrage?

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident und auch Ihnen, Herr Staatssekretär, für die ausführliche Antwort. Was Sie als Subjektivität der Schilderungen in diesem Kriegstagebuch bezeichnen, wie es wohl genannt wird, kann ich durchaus nachvollziehen, gerade was die Situation unmittelbar nach dem Karfreitag betrifft. Deshalb zielt meine Frage auch auf das Vorgesetztenverhalten und auf Regelungen. Meine erste Nachfrage ist: Können Sie definitiv ausschließen, dass es formelle oder informelle Weisungen von Vorgesetzten im deutschen Einsatzkontingent in Afghanistan gibt, nach denen in den genannten Fällen Bundeswehrangehörige schießen oder gar töten dürfen? Können Sie definitiv ausschließen, dass es solche förmlichen oder auch informellen Regelungen oder Weisungen gibt?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Mir ist über solch eine Regelung oder Weisung nichts bekannt. Ich kann solche Regelungen oder Weisungen definitiv im Grundsatz ausschließen. Ob jemand sich an die Grundsätze oder Regeln nicht gehalten hat und dann zur Rechenschaft gezogen werden müsste, das lässt sich natürlich nie mit letzter Wahrscheinlichkeit ausschließen. Aber ich habe auch aus diesem „Kriegstagebuch“ - bleiben wir bei dem Begriff, den Sie eingeführt haben, Herr Kollege - nicht gelesen, dass es solche Hinweise gibt. In einer einzigen Sequenz steht in diesem anonymen Bericht, der Schreiber wisse nicht, ob das so verstanden und gesehen worden sei oder ob es eine Anweisung gegeben habe. Wir haben keinerlei Hinweise auf so etwas, und dieser Bericht wurde auch nicht durch andere Äußerungen bestätigt. Ich habe eher den Eindruck, dass sich die Darstellung um eine Fragestellung herumrankt und bewegt, bei der wir alle, die nicht im Einsatz sind, Schwierigkeiten haben, den Soldatinnen und Soldaten gegenüber die Grundlagen zu erklären. Ich spreche mit einem Mitglied des Verteidigungsausschusses. Gestatten Sie mir trotzdem, obwohl ich sehr gut weiß, dass Sie informiert sind, auf den letzten Fall des Oberfeldwebels einzugehen, der vor zwei Wochen gefallen ist. Da war ja nun gerade die Situation so, dass ein Zivilist auf ihn zugekommen ist und sich der Soldat an den Sprachmittler der Bundeswehr, also an den Dolmetscher, gewandt hat. Man wendet sich an einen Dolmetscher, um ein Gespräch zu beginnen. Es kam nicht mehr zu dem Gespräch, weil der vermeintliche Zivilist ein Selbstmordattentäter war und einen Sprengsatz mit Stahlkugeln zur Explosion geParl. Staatssekretär Christian Schmidt bracht hat, wodurch der Oberfeldwebel tödlich verwundet wurde. Wenn man als Soldat eine solche Situation erlebt, dann glaube ich schon, dass Fragen jenseits von Befehlen auf einen zukommen, wie ich es auch in einem persönlichen Gespräch mit einem Unteroffizier erlebte, der mich fragte: „Muss ich mich erst erschießen lassen, bevor ich mich wehren darf?“ Solche Fragen sind jenseits einer ganz nüchternen Würdigung und spiegeln nur wider: Es geht um Tod oder Leben. Ich vermag aus diesem „Kriegstagebuch“ keine Anhaltspunkte für ein nicht völkerrechtskonformes Verhalten zu erkennen und gehe deswegen davon aus, dass die Darstellungen wirklich eine subjektive Bewertung sind, dass die Fragen aber ihre Berechtigung haben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Eine zweite Nachfrage, Herr Schäfer?

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident. - Auch in diesem Punkt, Herr Staatssekretär, habe ich Verständnis dafür, in welche prekären Lagen man in diesen sogenannten asymmetrischen Kriegen kommen kann. Aber dennoch, noch einmal zugespitzt, auch an dieser Stelle die Frage: Steht es nach Ansicht der Bundesregierung im Einklang mit dem Völkerrecht und dem Mandat des deutschen ISAF-Kontingents, dass in einer solchen Gefechtssituation Personen, die unbewaffnet sind, die man aber für irgendwie verdächtig hält, weil sie zum Beispiel ein Handy haben, bekämpft werden können, auch erschossen werden können?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Das Besitzen oder Mitführen eines Handys kann kein Anlass sein, jemanden zu töten. Ich bin jetzt im hypothetischen Bereich und will eigentlich nur deswegen auf die Frage eingehen, weil man sich ihr jenseits von Regierungshandeln auch im persönlichen Bereich nähern und sich mit ihr auseinandersetzen muss. Wenn Soldaten erlebt haben, dass vermeintliche Zivilisten, vermeintlich Unbewaffnete, vermeintlich nur einen Kaftan tragende Menschen unter dem Kaftan eine Kalaschnikow tragen und Kameraden ihr Leben lassen, dann finde ich, dass wir mit der feinen Ziselierung, wie das alles zu sehen ist, tatsächlich unseren Soldaten Unterstützung geben und das Vertrauen in sie haben müssen, dass sie in solch einer Situation besonnen und in Kenntnis des Völkerrechts handeln, dass sie aber auch bereit sind, wenn erkennbar eine Situation entsteht, die zu einem Gefecht oder zu einem Anschlag führt, entsprechend zu reagieren. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn wir diesen Spielraum nicht ließen, dann könnten wir nicht verantworten, unsere Soldatinnen und Soldaten in diesen gefährlichen Einsatz in Afghanistan zu schicken. Jeder Getötete ist sozusagen einer zu viel. Aber leider ist bei asymmetrischen Bedrohungen die Unterscheidung zwischen dem, der Gegner, der Kombattant ist, und dem, der friedliche, zivile Absichten hat, oft schwierig. Die Bundeswehr ist in diesem Einsatz dafür bekannt, dass sie sich im Zweifelsfall eher zurückhält. Sie versucht, im Zweifelsfall keinen Angriff durchzuführen oder keine Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen, um Zivilpersonen - vermeintliche oder nicht - vor Schäden zu bewahren. Trotzdem bleibe ich dabei, dass es mir nicht zusteht - daher kann ich Ihre Frage nicht beantworten -, den Einzelfall zu beurteilen. Herr Kollege, tendenziell kann ich Ihre Frage aber wie folgt beantworten: Die Bundeswehr wird bei ihrer restriktiven Vorgehensweise bleiben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. - Es gibt eine weitere Frage der Kollegin Inge Höger. Ich bitte um kurze Beantwortung.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt: Jeder Getötete - das heißt jeder getötete Soldat, jede getötete Soldatin und jede getötete Zivilperson - ist einer zu viel. Darin gebe ich Ihnen völlig recht. Nach internationalem Völkerrecht geht es aber darum, zu verhindern, dass Zivilpersonen getötet werden. Deshalb stelle ich noch einmal die Frage: Beachten unsere Soldatinnen und Soldaten das internationale Völkerrecht, um den Tod von Zivilpersonen auszuschließen?

Christian Schmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002003

Ja, sie beachten das Recht. Wenn sich die gegnerischen Kräfte, die sich da zusammenrotten, genauso daran hielten, dann gäbe es keine Toten und Verwundeten, sondern Gespräche über die weitere friedliche Entwicklung Afghanistans.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Danke schön, Herr Staatssekretär. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht die Staatsministerin Cornelia Pieper zur Verfügung. Wir kommen zur dritten dringlichen Frage, zu der des Abgeordneten Uwe Kekeritz: Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Ausbreitung der Cholera in Haiti und den Notfallplan der haitianischen Regierung infolge der Ausrufung des Notstandes am Freitagabend ({0}), und welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um die dramatische Situation vor Ort zu verbessern und eine Epidemie zu verhindern, welche laut Medienberichten ({1}) bereits mehr als 200 Menschen das Leben gekostet hat? Frau Staatsministerin, bitte sehr.

Not found (Gast)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Abgeordneter, die Bundesregierung wird regelmäßig durch die Lageberichte des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten und die entsprechende Abteilung der Europäischen Kommission über die humanitäre Lage in Haiti informiert. Bei Bedarf wird dies durch Berichterstattung der deutschen Botschaft in Port-au-Prince ergänzt. Hieraus ergibt sich folgender aktueller Sachstand: Am 21. Oktober 2010 wurden im Department L’Artibonite - das liegt im Zentrum Haitis erste Fälle von Cholera im Labor bestätigt. In den folgenden Tagen nahm die Zahl der Infizierten im Einzugsbereich des gleichnamigen Flusses rasch zu, sowohl im Bereich des Zentralplateaus als auch an der Küste. Bis zum 24. Oktober 2010 wurden nach offiziellen Angaben circa 3 000 Choleraerkrankungen in den Departments L’Artibonite und Centre identifiziert und über 250 Todesfälle festgestellt. Die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für Haiti wurde dementsprechend am 22. Oktober 2010 um das Auftreten der Cholera erweitert. Seit dem 20. Oktober haben die verantwortlichen Stellen sowohl der Regierung als auch der vor Ort befindlichen internationalen Organisationen mit entsprechenden Notmaßnahmen begonnen. Es erfolgte eine systematische epidemiologische Überwachung, eine verstärkte Ausstattung der Gesundheitseinrichtungen mit intravenösen und oralen rehydrierenden Lösungen sowie der Start einer Informationskampagne zur Prävention und Behandlung der Cholera. In oder bei Krankenhäusern wurden verschiedene Behandlungszentren eingerichtet. Parallel reagieren Hilfsorganisationen mit konkreten Hilfsmaßnahmen, zum Beispiel der Verteilung von Choleratabletten, Wasserfiltern sowie Notnahrung, was als Folge des Erdbebens im Januar noch in großer Zahl im Lande präsent ist. Zu diesen Hilfsorganisationen gehören dank der Spendenbereitschaft der Deutschen im Frühjahr eine größere Zahl deutscher Nichtregierungsorganisationen, wie Sie wissen, Herr Abgeordneter. Im Auftrag der humanitären Hilfe der Bundesregierung sind infolge des Erdbebens noch ein Feldhospital des Deutschen Roten Kreuzes und ein Projekt der NRO Humedica zur medizinischen Grundversorgung aktiv. Letzteres verlagert seine Aktivitäten derzeit ganz auf das Departement Artibonite. Eventuell zusätzlicher Bedarf an Medikamenten würde seitens der Bundesregierung umgehend bewilligt. Das Feldhospital des DRK wird seinen Standort beibehalten. Mit Ausstattungsmitteln des Hospitals, das mit Mitteln der humanitären Hilfe der Bundesregierung finanziert wurde, werden zwei zusätzliche Behandlungszentren an den Ausfallstraßen von Port-au-Prince errichtet. Auch das Technische Hilfswerk ist noch vor Ort und prüft momentan eine Ausweitung seiner laufenden Trinkwasseraufbereitung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Lage zwar ernst ist, den akut Betroffenen aufgrund der in vergleichsweise hoher Zahl präsenten internationalen Hilfe momentan aber noch weitgehend mit den vorhandenen Kapazitäten geholfen werden kann. Die Bundesregierung steht im engen Kontakt mit den genannten und mit weiteren Hilfsorganisationen. Sie wird ihre Hilfe bei Bedarf im Rahmen verfügbarer Mittel natürlich aufstocken. Ich bitte um Nachsicht, dass ich das etwas länger ausgeführt habe. Ich denke, es war auch in Ihrem Interesse.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Haben Sie eine Nachfrage? - Bitte schön.

Uwe Kekeritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004066, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin, für die ausführlichen Informationen. Das war sehr wohl in meinem Interesse. Sie haben die Situation hier sehr positiv beschrieben. Uns erreichen Informationen, dass die Hilfe zum Teil sehr schleppend ist. Es werden immer wieder Erinnerungen an die gesamte Wiederaufbauleistung nach dem Erdbeben wachgerüttelt. Der Wiederaufbau vollzieht sich sehr langsam. Zahlreiche in Angriff genommene Projekte sind noch nicht abgeschlossen, obwohl sie eigentlich schon fertig sein sollten. Das hat viele Ursachen. Insbesondere wird kritisiert, dass Waren vom Zoll zurückgehalten werden, dass der bürokratische Ablauf sehr problematisch ist. Manchmal ist auch der Warenfluss nicht ganz leicht nachzuvollziehen. Das sind Kritiken, die uns aus der Zivilgesellschaft zugetragen worden sind. Ich möchte Sie fragen, ob Sie diesbezüglich etwas wissen. Auch ist Kritik in Bezug auf die Hilfsleistungen zur Bekämpfung der aktuellen Choleraepidemie vorgetragen worden. Ist Ihnen diesbezüglich irgendetwas bekannt?

Not found (Gast)

Wir lassen uns laufend, wie ich schon sagte, über die aktuelle Situation unterrichten. Ausgangslage ist allerdings, Herr Abgeordneter, dass die haitianische Verwaltung selbst noch erheblich unter den Folgen des Erdbebenunglücks, wie Sie wissen, zu leiden hat und dass erhebliche Kapazitätsengpässe bestehen, die gerade die Arbeit humanitärer Organisationen und des Wiederaufbaus behindern. Insbesondere die Beseitigung der Ursachen dieses Choleraausbruches ist eine Aufgabe, die im Rahmen des Wiederaufbaus grundsätzlich lokalen Regierungsstellen zufällt. Wenn Sie konkrete Informationen von Nichtregierungsorganisationen oder von wem auch immer haben, bin ich gern bereit, dem auch selbst nachzugehen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Eine weitere Nachfrage? ({0}) Wir sind damit am Ende der Beantwortung der dringlichen Fragen. Wir kommen zu den Fragen der Fragestunde in der üblichen Reihenfolge. Die Fragen 1 und 2 des Kollegen Siegmund Ehrmann sollen schriftlich beantwortet werden. Dann kommen wir zur Frage 3 des Abgeordneten Christian Ströbele: Welche Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft oder letztem Wohnsitz in Deutschland wurden nach Kenntnis der Bundesregierung durch US-Sicherheitskräfte im Raum Afghanistan/Pakistan seit 2007 - insbesondere mittels Drohnen - getöVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms tet ({1}), und zu welcher dieser Personen haben deutsche Stellen zuvor der US-Seite - direkt oder indirekt, etwa über ISAF - Informationen zur Identifizierung oder Ortung übermittelt? Hierfür steht wiederum Frau Staatsministerin Cornelia Pieper zur Verfügung.

Not found (Gast)

Ähnliche Fragen haben uns schon in der letzten Fragestunde beschäftigt. Diese Frage des Abgeordneten Ströbele beantworte ich wie folgt: Der Bundesregierung liegen keine belastbaren Erkenntnisse über die Tötung deutscher Staatsangehöriger durch amerikanische Sicherheitskräfte im Raum Afghanistan/Pakistan vor. Es wurden keine Daten übermittelt, die nach Kenntnis der Bundesregierung im Sinne der Fragestellung hätten verwendet werden können.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nachfrage, Herr Ströbele?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. - Frau Staatsministerin, ich habe ganz konkret gefragt und unter anderem auch das Datum des Angriffs genannt, bei dem im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet mindestens drei Personen getötet worden sein sollen. Pressemeldungen zufolge sollen dabei drei vermutlich deutsche Staatsangehörige oder Personen, die zuletzt längere Zeit in Deutschland gelebt haben, getötet worden sein. Ich frage Sie jetzt: Auch zu diesen Personen haben die Bundesregierung oder ihr nachgeordnete Behörden keinerlei Information? Das wollen Sie ernsthaft sagen?

Not found (Gast)

Sie haben Ihre Informationen, die Sie mir gerade geschildert haben und die Sie vor 14 Tagen auch schon Staatsminister Hoyer geschildert haben, ernst zu nehmenden Medienberichten entnommen. Ich kann nur sagen, dass die Bundesregierung unmittelbar nach Erscheinen der letzten Medienberichte zur angeblichen Tötung mehrerer deutscher Staatsangehöriger durch US-Drohnen in Pakistan pakistanische Behörden offiziell um Auskunft gebeten hat. Das Auswärtige Amt und die deutsche Botschaft in Islamabad bemühen sich weiterhin um Aufklärung insbesondere der Frage, ob es sich bei den Getöteten um deutsche Staatsangehörige handelt. Bislang liegen jedoch keine belastbaren Informationen vor. Da ich wusste, dass Sie heute nachhaken, habe ich noch einmal in unserer deutschen Botschaft in Islamabad angerufen und mich erkundigt, welche Maßnahmen nachträglich noch unternommen worden sind. Sie müssen natürlich auch verstehen, dass die Umstände für die pakistanischen Behörden vor Ort extrem schwierig sind, weil - was Sie sicherlich auch wissen - das pakistanische Gebiet an der Grenze zu Afghanistan, weil Nordwasiristan auch für die pakistanischen Behörden ein schwer zugängliches Gebiet ist, in dem sich selbstverwaltete Stämme befinden. Ich kann nur bestätigen, was mir die Botschaft heute noch einmal als Auskunft gegeben hat - sie ist in ständigem Kontakt mit den pakistanischen Behörden -: dass uns bis jetzt seitens der pakistanischen Behörden keine Antworten auf unsere Fragen gegeben werden konnten und dass wir deswegen auch noch keine andere Faktenlage haben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nun die zweite Nachfrage des Herrn Kollege Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jetzt muss ich ein bisschen heftig werden. Die Bundesregierung besteht ja nicht nur aus dem Auswärtigen Amt, und nachgeordnete Stellen sind nicht nur die Botschaften. Haben Sie, bevor Sie diese Antwort gegeben haben, an deren Richtigkeit ich - um es einmal ganz milde auszudrücken - erhebliche Zweifel habe, einmal im Bundeskanzleramt nachgefragt, ob es Informationen über die Identität der Getöteten gibt, ob es sich dabei um deutsche Staatsangehörige handelt?

Not found (Gast)

Dem Bundeskanzleramt stehen ebenso wie dem Auswärtigen Amt im Moment keine anderen Fakten zur Verfügung. Wir stehen natürlich - auch in dieser Frage - in ständigem Austausch mit dem Bundeskanzleramt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich rufe auf die Frage 4 des Kollegen Ströbele: Welche Informationen zur Ortung oder Identifizierung über den deutschen Staatsbürger A. S., der in Kabul im Juni 2010 verhaftet wurde, als er auf dem Weg zur deutschen Botschaft gewesen sein soll, der seither auf dem US-Stützpunkt Bagram inhaftiert ist und nun in die USA verbracht werden soll, haben deutsche Stellen zuvor afghanischen oder USSicherheitsstellen - direkt oder indirekt, etwa über ISAF übermittelt ({0}), und welche Bemühungen wurden von deutscher Seite nach Kenntnis der Bundesregierung vor und nach der Festnahme unternommen, um die Rückkehr des A. S. nach Deutschland zu erreichen?

Not found (Gast)

Ich möchte die Frage des Abgeordneten wie folgt beantworten: Es wurden keine Daten übermittelt, die nach Kenntnis der Bundesregierung im Sinne der Fragestellung hätten verwendet werden können. Die Bundesregierung hat sich gegenüber der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika dafür eingesetzt, dass der Inhaftierte, der sowohl deutscher als auch afghanischer Staatsangehöriger ist, zum Zwecke der Strafverfolgung in die Bundesrepublik Deutschland zurückgeführt wird. Gegen den Inhaftierten besteht ein Haftbefehl des Bundesgerichtshofs wegen des dringenden Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nachfrage, Kollege Ströbele?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Frage war ganz eindeutig. Ich wollte wissen, ob überhaupt Informationen geliefert werden. Es ging mir nicht darum, dass Sie jetzt sagen, dass zu irgendeinem in meiner Frage gar nicht angesprochenen Zweck Informationen geliefert werden. Also, sind von bundesdeutscher Seite, von deutschen Behörden, Informationen über diesen Herrn Sidiqi - so heißt er ja, wie wir inzwischen wissen - an die US-Behörden geflossen? Wenn ja, welche?

Not found (Gast)

Herr Abgeordneter Ströbele, Sie haben bereits im Parlamentarischen Kontrollgremium über diese Frage beraten, soweit ich weiß. Sie werden dort sicherlich weiterhin die Möglichkeit haben, auch von der Bundesregierung Auskunft zu erhalten. Ich möchte Ihre Frage nochmals nachdrücklich mit Nein beantworten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Weitere Nachfrage?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Welche Bemühungen hat die Bundesregierung unternommen, um - Sie haben ja zu Recht darauf hingewiesen, dass gegen diesen Mann in Deutschland ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist - diese Person nach Deutschland zurückzuholen und damit den deutschen Strafverfolgungsbehörden zuzuführen?

Not found (Gast)

Wir haben in der Tat mehrmals Bemühungen unternommen. Die Bundesregierung wird sich auch weiterhin dafür einsetzen, dass inhaftierte deutsche Staatsangehörige im Einklang mit den Bestimmungen des humanitären Völkerrechts und unter Beachtung der Menschenrechte behandelt werden. Darüber hinaus liegt es im Interesse der Bundesregierung, dass - wie ich schon sagte - es sehr bald zu einer Überführung des Genannten nach Deutschland kommt und seine Verurteilung hier vor Ort in Deutschland erfolgt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Danke schön. - Wir kommen nun zu Frage 5 der Abgeordneten Inge Höger, die sich wohl mit dem gleichen Sachverhalt beschäftigt. Welche Schritte über Forderung nach Auslieferung an die Bundesrepublik Deutschland durch die Staatsanwaltschaft hinaus unternimmt die Bundesregierung, um nach Berichten über einen tot in seiner Zelle aufgefundenen Gefangenen im US-Gefängnis von Bagram ({0}) die Freilassung des dort inhaftierten Deutsch-Afghanen A. S. zu erreichen, und welche Informationen über Zustand und Behandlung des Gefangenen hat der deutsche Diplomat, der A. S. am 3. Oktober 2010 in Bagram besuchte, erlangen können?

Not found (Gast)

Ich beantworte die Frage der Abgeordneten Höger: Der Bundesregierung liegen keine eigenen Erkenntnisse über den Tod einer Person in US-Gewahrsam in Bagram vor. Die Bundesregierung hat sich gegenüber der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika dafür eingesetzt - wie ich schon sagte -, dass der Inhaftierte, der sowohl deutscher als auch afghanischer Staatsangehöriger ist, zum Zwecke der Strafverfolgung in die Bundesrepublik zurückgeführt wird. Bei dem von Ihnen erwähnten Besuch konnte sich ein Mitarbeiter der Deutschen Botschaft Kabul davon überzeugen, dass der Inhaftierte in guter gesundheitlicher Verfassung ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nachfrage?

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Welchen rechtlichen Status hat der Gefangene Ahmad S. nach Ihrer Einschätzung: Kombattant, Kriegsgefangener oder Zivilist? Welche Handlungsverpflichtungen erwachsen daraus für die Bundesregierung?

Not found (Gast)

Der rechtliche Status, Frau Abgeordnete, ist sicher eindeutig geregelt. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass gegen den Inhaftierten ein Haftbefehl wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland besteht und dass der Strafgefangene nach seiner Überführung hier nach §§ 129 a und 129 b Strafgesetzbuch angeklagt wird.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Weitere Nachfrage?

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sitzen nach Erkenntnissen der Bundesregierung weitere deutsche Staatsangehörige in Gefängnissen in Afghanistan?

Not found (Gast)

Uns liegen keine weiteren Erkenntnisse vor.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. - Die Frage 6 des Kollegen Hunko sowie die Fragen 7 und 8 des Kollegen Mützenich aus diesem Geschäftsbereich sollen schriftlich beantwortet werden. Deswegen bedanke ich mich bei Ihnen, Frau Staatsministerin. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner zur Verfügung. Zunächst kommen wir zur Frage 9 des Kollegen Koppelin: Findet durch das Bundesverwaltungsamt die inhaltliche Prüfung von Internetseiten von Zuwendungsempfängern des Bundes statt?

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Herr Kollege Koppelin, das Bundesverwaltungsamt als ein zentraler Dienstleister des Bundes, gleichzeitig nachgeordnete Behörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern, ist für mehrere Ressorts mit der administrativen Bearbeitung von zuwendungsrechtlichen Angelegenheiten beauftragt. Dabei prüft das Bundesverwaltungsamt im Rahmen seiner Beauftragung die zweckentsprechende Verwendung von Bundesmitteln - das die sogenannte Verwendungsnachweisprüfung und in diesem Rahmen stichprobenartig gegebenenfalls geförderte Internetseiten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nachfrage, Kollege Koppelin?

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, es ist allerdings so, dass ich einen Unterschied feststelle zwischen dem, was Sie mir jetzt sagen, und dem, was Sie mir schriftlich am 1. Oktober dieses Jahres mitgeteilt haben. Dort hieß es nämlich, eine inhaltliche Prüfung finde im Rahmen der Erfolgskontrolle in Form von Stichproben durch das Bundesverwaltungsamt statt. Stichproben sind ja mehr als zufällige Funde. Hier beziehe ich mich besonders auf das Internetportal rusdeutsch.ru, das in russischer Sprache erscheint. Heißt das, dass beim Bundesverwaltungsamt Experten sitzen, die der russischen Sprache mächtig sind und diese Seiten kontrollieren können? Es geht ja vor allem um den Inhalt.

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Herr Kollege Koppelin, zunächst einmal ist festzustellen, dass die Seite rusdeutsch.ru auch eine deutsche Ausgabe unter rusdeutsch.eu hat, dass diese Seiten sowohl von der Mittlerorganisation GTZ als auch von den Fachreferaten begleitet werden, weil die Art der Kommunikation auch Teil des Fördergeschehens ist, und dass die Überprüfung durch das Bundesverwaltungsamt stichprobenartig, erforderlichenfalls auch unter der Verwendung von Sprachmittlern, stattfinden kann.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Weitere Nachfrage, bitte?

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, können Sie mir dann sagen, wie oft diese Seiten in den letzten zwei Jahren auf den Inhalt überprüft worden sind?

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Herr Kollege Koppelin, ich kann Ihnen jetzt keine konkrete Angabe machen, wie oft das Bundesverwaltungsamt im Rahmen der Verwendungsnachweisprüfung entsprechende Prüfungen vorgenommen hat. Ich kann nur sagen, dass die Fachreferate und auch mein Büro als das Beauftragtenbüro relativ häufig auf diese Seiten zugreifen und die Inhalte dieser Seiten sichten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Damit kommen wir zur Frage 10 des Kollegen Koppelin: Aufgrund welcher Rechtsgrundlage wurden vom Bundesverwaltungsamt die Kosten für einen in einem deutschen Sanatorium sich aufhaltenden Russlanddeutschen und dessen Operation übernommen?

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Herr Kollege Koppelin, die Rechtsgrundlagen sind die haushaltsrechtliche Ermächtigung des Kap. 640, Tit. 684 22, „Unterstützung für deutsche Minderheiten in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa einschließlich nichteuropäischer Nachfolgestaaten der UdSSR“, die Suchdienstvereinbarung, geschlossen zwischen dem Bundesministerium des Innern und dem Deutschen Roten Kreuz, vom 28. Mai 1958 in der Fassung vom 8. Juni 2001 sowie der Zuwendungsbescheid des Bundesverwaltungsamtes vom 11. Juni 2008 und die darin enthaltenen Nebenbestimmungen zur Gesundheitshilfe.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nachfrage?

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, darf ich dann fragen: Wer hat die Übernahme der Kosten der Operation in Höhe von 20 000 Euro genehmigt? Wo ist diese Genehmigung erfolgt? Sind Sie wirklich der Überzeugung, dass Sie mit dem, was Sie eben vorgetragen haben, begründen konnten, dass die Bezahlung dieser Operation rechtmäßig ist?

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Ich bin der Überzeugung, dass die Bezahlung dieser Operation rechtmäßig ist. Es ist ausdrücklich im Zuwendungsbescheid vorgesehen, dass unter bestimmten Prüfungsbedingungen Gesundheitshilfen auch in Deutschland erbracht werden können. Es handelt sich im Falle der betroffenen Person um einen Angehörigen der Erlebnisgeneration, der Gulag-Zwangsarbeit erlebt hat und der sich über den Aufbau der Russlanddeutschen-Bewegung verdient gemacht hat.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zweite Nachfrage, bitte.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich entnehme Ihrer Antwort, dass Sie die Person anscheinend sehr gut kennen. Darf ich einmal fragen, wie oft solche Genehmigungen für Operationen oder ärztliche Behandlungen in der Bundesrepublik Deutschland erfolgt sind?

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Ich kann Ihnen diese Zahl nicht sagen. Aber es handelt sich um Ausnahmefälle. Bei der Mitteilung des Hauses an das Bundesverwaltungsamt, die aus dem Fachreferat erfolgte, ist auf die Besonderheit dieses Falles und auf die Ausnahmesituation hingewiesen worden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. Damit kommen wir zur Frage 11 der Kollegin Sevim Dağdelen: Ist die Bundesrepublik Deutschland nach Auffassung der Bundesregierung ein Einwanderungsland?

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Frau Kollegin Dağdelen, ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Eine geregelte und kontrollierte Gestaltung der Zuwanderung nach Deutschland findet nach Maßgabe des deutschen Aufenthaltsrechts statt, das somit bestimmt, für welche Personen Deutschland die Funktion eines Einwanderungslands haben soll. Das Aufenthaltsgesetz ermöglicht und gestaltet die Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahmeund Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Interessen unseres Landes. Es dient zugleich der Erfüllung unserer humanitären Verpflichtungen. Ich verweise auf § 1 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes. Die Zuwanderungssteuerung betrifft im Wesentlichen vier verschiedene Gruppen: Ehegatten und Familiennachzug, Asyl- und Flüchtlingsschutz, ausländische Studierende und Auszubildende sowie Arbeitsmigration. Die §§ 27 ff. des Aufenthaltsgesetzes bilden den gesetzlichen Rahmen für den Aufenthalt aus familiären Gründen, wie er im Wesentlichen durch Art. 6 des Grundgesetzes und die Menschenrechtskonvention vorgegeben ist. Die Gewährung von politischem Asyl ist durch Art. 16 a des Grundgesetzes und die Genfer Flüchtlingskonvention in Verbindung mit den aufenthaltsrechtlichen Abschiebungsverboten - § 60 des Aufenthaltsgesetzes gesichert. Daneben gibt es Möglichkeiten der Aufnahme aus humanitären oder politischen Gründen. Ich verweise auf die §§ 22 ff. des Aufenthaltsgesetzes. Möglichkeiten des Aufenthalts zum Zweck des Schulbesuchs, zur Teilnahme an Sprachkursen sowie zum Zweck des Studiums oder der Ausbildung halten die §§ 16 ff. des Aufenthaltsgesetzes bereit. Die Regelung der Arbeitsmigration in den §§ 18 ff. des Aufenthaltsgesetzes ist als ein Kernstück der Zuwanderungssteuerung zu betrachten. Hier steht die Steuerung der Zuwanderung von Fachkräften - § 18 Abs. 2 und 4 und Hochqualifizierten - § 19 des Aufenthaltsgesetzes im Vordergrund.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nachfragen?

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Herr Bergner, da lachen Sie ja selbst. Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie alle Paragrafen sowie die Inhalte und Titel dieser Paragrafen zitiert haben. Aber danach habe ich nicht gefragt. Ich habe gefragt, ob die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist. Das ist eine politische Wertung. Es geht nicht darum, nach welchen Kriterien die Einwanderung erfolgt und wie das Aufenthaltsgesetz aussieht. Vielmehr geht es darum, ob die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist, ob sie, wie es die CSU sagt, kein Zuwanderungsland ist oder ob sie, wie es die CDU oftmals in Form von Erklärungen der Mitglieder des Kabinetts verlautbaren lässt, ein Integrationsland ist. Eine andere Partei, die Mitglied der Regierung ist, nämlich die FDP, sagt sogar klar und deutlich, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist. Deshalb möchte ich gerne eine Antwort, die entweder ein Ja oder ein Nein beinhaltet. Das ist eine ganz einfache Frage, die eine ganz einfache Antwort verdient hat.

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Frau Kollegin Dağdelen, ich weiß nicht, ob ich der Ernsthaftigkeit Ihrer Frage gerecht werde, wenn ich sie nur mit Ja oder Nein beantworte. ({0}) Der Begriff „Einwanderungsland“ ist kein Rechtsbegriff, sondern ein politisch begründeter Kategorisierungsprozess. Unter diesem Gesichtspunkt kann ich Ihnen persönlich nur sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland meinem Begriff eines Einwanderungslandes insofern nicht entspricht, als ich die klassischen Einwanderungsländer vor Augen habe, die bei dünner Ausgangsbesiedlung durch eine Einwanderungsgeschichte ihre gesellschaftliche Wirklichkeit aufgebaut haben. Wir haben es hier also mit einem anderen Einwanderungsgeschehen zu tun. Ich sage noch einmal - deshalb habe ich mich bemüht, Ihre Frage mit den rechtlichen Hinweisen so ausführlich zu beantworten -, dass es unter rechtlichen Gesichtspunkten durchaus Möglichkeiten der Einwanderung nach Deutschland gibt, dass sie gut geregelt sind und dass das andere eine Frage der politischen Kategorisierung ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Eine weitere Nachfrage?

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Präsident. - Ich bin hier in keinem Gerichtssaal und habe auch keine juristische Definition verlangt. Die Bundesregierung macht meines Wissens Politik. Deshalb möchte ich eine politische Antwort auf meine Frage. Ich frage daher noch einmal: Ist die Bundesrepublik Deutschland nach Auffassung der Bundesregierung - nicht nach Ihrer Auffassung, Herr Staatssekretär - ein Einwanderungsland? Eine Nachfrage dazu. Nach einer Meldung der Nachrichtenagentur dpa vom 25. Oktober fordert die CSU in einem Leitantrag der Parteispitze für den Parteitag am kommenden Wochenende mit dem Titel „7-Punkte-Integrationsplan“ ein Bekenntnis zur deutschen Leitkultur. Wörtlich heißt es dort: Wer bei uns leben will, muss sich in die deutsche Leitkultur integrieren … Teilt die Bundesregierung diese Forderung? Inwieweit plant die Bundesregierung gesetzgeberisch, ein Bekenntnis zur deutschen Leitkultur einzuführen?

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Frau Kollegin Dağdelen, die Haltung der Bundesregierung, die, wie Sie wissen, aus unterschiedlichen Koalitionspartnern besteht, ist in der Koalitionsvereinbarung in einem umfangreichen Kapitel zur Migration und Integration festgelegt. Die Frage, welche Rolle politische Wertungsprozesse in diesem Zusammenhang spielen, ist Sache der beteiligten Parteien. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie nicht aus einer Vorlage der Bundesregierung, sondern aus einem Antrag eines geschätzten Koalitionspartners zu seinem Parteitag zitiert haben. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Der Kollege Ströbele hat noch eine Nachfrage.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, das ist ein Eiertanz; darüber sind wir uns doch einig. Sie wollen die Frage nicht beantworten, weil es in den drei die Koalition bildenden Parteien ganz offensichtlich unterschiedliche Auffassungen dazu gibt. Die Frage der Opposition ist aber berechtigt, was Auffassung der Bundesregierung - nicht Ihre - oder meinetwegen Auffassung der die Richtlinien bestimmenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesregierung in Bezug auf die Bewertung und die Bezeichnung Einwanderungsland ist. Es ist schon darauf hingewiesen worden: Die CSU, einzelne Abgeordnete einbezogen, betont immer wieder, dass nach ihrer Auffassung die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist, wobei nicht zwischen klassischem und nichtklassischem Einwanderungsland unterschieden wird. Die Bundeskanzlerin stellt dies anders dar. Die FDP wiederum behauptet, die Bundesrepublik Deutschland sei ein Einwanderungsland. Gibt es dazu eine Auffassung der Bundesregierung, wenn ja: welche?

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Herr Kollege Ströbele, ich habe mich vorhin bei der Beantwortung der ersten Nachfrage von Frau Dağdelen bemüht, durch Darlegung meiner persönlichen Meinung keine Auskunft schuldig zu bleiben. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass auch Sie über hinreichend viele Erinnerungen an entsprechende Situationen aus Ihrer Regierungszeit verfügen müssten. Wenn ich ein wenig in meinem Gedächtnis kramen würde, würde ich mich an eine Vielzahl von Situationen innerhalb der rot-grünen Koalition erinnern, in denen Sie nicht der gleichen Meinung wie der damalige Innenminister Schily waren. Derjenige, der sich bemühen musste, die Meinung der Bundesregierung wiederzugeben, musste auch einen integrativen Standpunkt über unterschiedliche Positionen hinweg finden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es gibt jetzt noch eine Nachfrage des Kollegen Wunderlich.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Staatssekretär, Ihren Ausführungen darf ich, wenn ich Sie richtig verstehe, entnehmen, dass sich die Bundesregierung hinsichtlich des Begriffs Einwanderungsland inhaltlich einig ist, was die von Ihnen zitierten Vorschriften anbelangt, im Übrigen aber uneinig ist. Sie wollen oder können sich offensichtlich nicht dazu äußern, wie die Bundesregierung zu der Frage Einwanderungsland steht. Ihre persönliche Einschätzung ist in diesem Zusammenhang nicht so relevant. Relevant ist die Einschätzung der Bundesregierung.

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Ich bitte um Verständnis, dass ich meiner persönlichen Meinung eine gewisse Relevanz zugestehe, jedenfalls genug Relevanz, um sie Ihnen mitzuteilen. Ich will noch einmal auf folgenden Punkt aufmerksam machen: Entscheidend ist die Gestaltung des Rechtsrahmens. Ich habe mich deshalb bei der Beantwortung Ihrer Frage darum bemüht, den Sachverhalt im Zusammenhang mit der Frage, ob „die Bundesrepublik Deutschland nach Auffassung der Bundesregierung ein Einwanderungsland“ ist, durch Beschreibung des von der Bundesregierung einvernehmlich anerkannten Rechtsrahmens wiederzugeben. Ich glaube, die Frage des Rechtsrahmen ist entscheidend. Alles andere mag, mit Verlaub, dem parteipolitischen Schlagabtausch überlassen sein; denn dabei geht es im Grunde um eine Frage der politischen Kategorisierung, nicht um die Gestaltung des Rechtsrahmens.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. - Wir kommen zur Frage 12 der Kollegin Dağdelen: Wie lauten die genauen Ergebnisse der Länderumfrage des Bundesministers des Innern vom 25. September 2010 zu Erfahrungen der Bundesländer bezüglich bestehender Sanktionsmöglichkeiten im Zusammenhang „integrationswidrigen Sevim DaðdelenSevim Dağdelen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Verhaltens von Ausländern“, die zum 20. Oktober 2010 beantwortet sein sollte, und wieso hat die Bundesregierung nicht von der auf Bundestagsdrucksache 17/3147 ausdrücklich eingeräumten Fristverlängerungsmöglichkeit Gebrauch gemacht, um meine diesbezüglichen Fragen überhaupt und umfassend beantworten zu können?

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Die Antworten der Länder liegen noch nicht vollständig vor. Die Auswertung konnte daher noch nicht abgeschlossen werden. Aus den bisher vorliegenden Antworten ergibt sich, dass in den Ländern vielfach keine Arbeitsstatistiken zu der Nutzung der ausländerrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten geführt werden. Deshalb steht hierzu derzeit kein abschließendes Zahlenbild zur Verfügung. Von der Tendenz der vorliegenden Einzelzahlen her ist zu erkennen, dass von den Sanktionstatbeständen bei nicht ordnungsgemäßer Teilnahme an den Integrationskursen - Nichtverlängerung der Aufenthaltserlaubnis, Bußgeldverhängung - vielfach nur in geringem Umfang Gebrauch gemacht wird. Inwieweit dies auf nachvollziehbaren rechtlichen oder praktischen Gründen beruht oder als Indiz für ausländerbehördliche Vollzugsdefizite anzusehen ist, bedarf noch einer eingehenden Analyse. Im Hinblick auf die angesprochene Möglichkeit der Fristverlängerung ist anzumerken, dass die Bundesregierung die regelmäßige Praxis verfolgt, auf parlamentarische Anfragen auf Basis des jeweiligen Kenntnisstandes möglichst fristgerecht zu antworten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ihre Nachfrage.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. - Sie haben gesagt, dass Ihnen die Daten der Landesinnenministerien noch nicht vollständig vorliegen, aber einige Länder die Anfrage schon beantwortet haben. Deshalb möchte ich Sie fragen: Welche Bundesländer haben bis heute noch keine Auskünfte gegeben? Welche Bundesländer haben bis zum 20. Oktober dem Bundesinnenministerium geantwortet? Welche Bundesländer konnten zumindest zu einzelnen Fragen oder Teilbereichen klare Auskünfte erteilen, etwa dergestalt, dass von aufenthaltsrechtlich vorgesehenen Sanktionen deshalb kein Gebrauch gemacht wurde, weil es im Zusammenhang mit der Integrationskursteilnahme kein vorwerfbares Verhalten in nennenswertem Umfang gibt? Wenn Sie nicht fähig sind, jetzt die Fragen genauestens zu beantworten, würde ich Ihnen die Möglichkeit geben, mir diese Fragen schriftlich zu beantworten, aber bitte so schnell wie möglich.

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Frau Kollegin, ich will Ihnen gerne schriftliche Angaben machen. Sie werden verstehen, dass ich jetzt keinen Überblick darüber parat habe. Ich will trotzdem darauf hinweisen, dass eine Klassifizierung - Bundesland A hat soundsoviele Auskünfte gegeben, Bundesland B soundsoviele, die Bundesländer C und D haben keine Auskünfte gegeben - keine ausreichende Basis für die Beantwortung Ihrer in der Bundestagsdrucksache 17/3147 gestellten Fragen darstellt, sofern die Möglichkeit zur Analyse der Ergebnisse und zu ihrer umfassenden Nachprüfung tatsächlich genutzt werden soll. Sie müssen sich in jedem Fall damit abfinden, dass zum für die Beantwortung Ihrer Fragen angekündigten Termin noch kein ausreichender Kenntnisstand vorlag, um die Fragen umfassender zu beantworten, als wir es getan haben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ihre zweite Nachfrage.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich sehe das anders. Ich habe in meiner Kleinen Anfrage nach den Ländern gefragt. Ich habe bereits seit Mai 2009 die Bundesregierung gefragt, ob ihr überhaupt Daten vorliegen, und sie darum gebeten, sie von den Ländern zu beschaffen, wenn das nicht der Fall ist. Die Bundesregierung ist erst im September dieses Jahres auf die Idee gekommen, die Daten der Länder zu beschaffen. Meine Anfrage wurde am 20. Oktober 2010 beantwortet. Sie enthielt keinerlei Informationen der Bundesregierung zur Länderabfrage. Ich weiß aber, dass zumindest von einem Landesinnenministerium eine Antwort vorgelegen hat. Diese hätte man mir aufgrund der Pflicht der Bundesregierung, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen, normalerweise geben können. Ich komme jetzt zu meiner nächsten Nachfrage. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, gibt es derzeit keinerlei solide Daten bzw. Informationen darüber, in welchem Umfang bezogen auf die Integrationskursteilnahme insgesamt von der sogenannten Integrationsverweigerung gesprochen werden kann. Für mich geht es dabei um eine vorwerfbare Teilnahmeverweigerung. Herr Staatssekretär, ich möchte Sie fragen, warum die Bundesregierung die ohnehin sehr aufgeheizte öffentliche Debatte über vermeintliche Integrationsverweigerer befördert, indem sie eine Debatte über die möglicherweise vorhandene Notwendigkeit schärferer Sanktionen anstößt. Müsste sie nicht erst einmal empirisch feststellen, dass es ein Problem gibt? Müsste sie nicht erst einmal eine Analyse vornehmen, statt solche Kampagnen zu starten? Wie kann sie Sanktionen beschließen, ohne dass ihr die entsprechenden Zahlen, wie Sie sagten, zur Verfügung stehen?

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Frau Kollegin Dağdelen, zunächst einmal will ich darauf hinweisen, dass wir tatsächlich das Phänomen der Integrationsverweigerung haben. Das ist in unterschiedlichen Studien belegt worden. Insofern haben wir schon das Recht, an alle Beteiligten zu appellieren, sich diesem Problem zu stellen und ihren Beitrag zur Bekämpfung der Integrationsverweigerung zu leisten. Neben diesen Appellen haben wir versucht, die entsprechenden Infrastrukturen zu verbessern. Ich verweise auf das gerade heute im Kabinett verabschiedete GesetParl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner zespaket, zu dem mein Minister vorhin Rede und Antwort gestanden hat. Zumindest in einem Aspekt wird dabei versucht, in Zusammenarbeit mit den zuständigen Ausländerbehörden eine Verbesserung der Vernetzungsmöglichkeiten und anderes durch entsprechende Maßnahmen herbeizuführen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Danke schön, Herr Staatssekretär. Die Frage 13 der Abgeordneten Ingrid Hönlinger soll schriftlich beantwortet werden. Damit kommen wir zu dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk zur Verfügung. Ich rufe die Frage 14 der Kollegin Heidrun Dittrich auf: Wie will die Bundesregierung vermeiden, dass durch das weitere Anregen von Sponsoring und die steuerliche Begünstigung von Stiftungen es zu Mindereinnahmen des Staates kommt und damit die öffentliche Daseinsvorsorge nicht mehr sozialstaatlich gesichert werden kann?

Hartmut Koschyk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001186

Herr Präsident, vielen Dank. - Frau Kollegin Dittrich, Millionen Bürgerinnen und Bürger setzen sich tagtäglich ehrenamtlich für gemeinnützige Zwecke in unserem Land ein. Über 17 000 Stiftungen in Deutschland unterstützen viele gesellschaftliche Bereiche. Sie engagieren sich im Sozialen, in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Kultur, aber auch im Umweltbereich. Mit dem Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements betont der Staat seine Wertschätzung für Menschen, die sich in unserem Land ehrenamtlich engagieren, zum Beispiel indem er Ehrenamtliche steuerlich begünstigt und neue steuerliche Anreize für die Gründung von Stiftungen und zur Unterstützung von Stiftungen gesetzt hat. Die hierdurch bedingten Steuermindereinnahmen bedeuten keineswegs eine Abkehr vom Konsolidierungskurs und gefährden auch künftig nicht die Handlungsfähigkeit des Staates. Die Anreize sind nach Ansicht der Bundesregierung gut investiertes Geld in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank für die Antwort. - Die Linke sieht das natürlich anders. Der staatliche Zusammenhalt kann nun einmal nicht durch Ehrenamtliche und Stiftungen, die selbst entscheiden, wo sie ihr Geld investieren, und die dafür steuerlich begünstigt werden, gesichert werden. Ich frage daher: Sehen Sie eigentlich nicht die Gefahr, dass die Bundesregierung das von ihr proklamierte Ziel, die Demokratie zu fördern, nicht erreicht, wenn die Finanzmittel dieser Spender privat und gezielt eingesetzt werden? Schließlich unterliegt die Vergabe dieser Mittel nicht dem Prozess der demokratischen Willensbildung, sondern die Mittel fließen an den Parlamenten und den Parteien vorbei und sind der parlamentarischen Kontrolle entzogen.

Hartmut Koschyk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001186

Nein, diese Gefahr sieht die Bundesregierung nicht, weil es unserer Auffassung nach gut ist - da haben wir anscheinend unterschiedliche Ansichten -, wenn sich Bürger ehrenamtlich engagieren, wenn Bürger ehrenamtlich in Stiftungen arbeiten und wenn Bürger privates Geld für Stiftungszwecke sowie für Vereine durch Mitgliedsbeiträge und Spenden zur Verfügung stellen. Das ist nach unserer Auffassung ein ganz wichtiges, unverzichtbares gesellschaftliches Engagement in unserem Land, das auch durch steuerliche Begünstigung gefördert werden sollte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Haben Sie noch eine zweite Nachfrage, Frau Dittrich? Nein. Dann rufe ich die Frage 15 der Frau Kollegin Dittrich auf: Wie gedenkt die Bundesregierung die zu missbräuchlicher Gestaltungspraxis einladende rechtliche Regelung dahin gehend zu verändern, dass ein Missbrauch der sogenannten Übungsleiterfreibetragsregelung durch die freien Träger, wie in der ARD-Panorama-Sendung vom 1. Juli 2010 aufgedeckt, unterbunden wird? Herr Kollege Koschyk.

Hartmut Koschyk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001186

Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin, die Grundsätze zur Übungsleiterfreibetragsregelung sind gesetzlich bzw. in Verwaltungsvorschriften eindeutig geregelt und veröffentlicht, sodass die Bundesregierung keinen weiteren abstrakten Regelungs- oder Klärungsbedarf sieht. Insbesondere ist in diesen Regelungen festgelegt, dass sozialversicherungsrechtliche und steuerliche Vergünstigungen nur für echte nebenberufliche Tätigkeiten gelten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Haben Sie eine Nachfrage? - Bitte.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke für die erwartete Antwort. Es war mir schon klar, dass Sie so antworten werden. Für mich stellt sich jetzt natürlich die Frage, wie das denn sein kann. Unsere Familienministerin - aus diesem Bereich kommt die Frage - hat gesagt, bei der Prüfung nach dem Einkommensteuergesetz und bei dem Vollzug durch die zuständigen Landesfinanzbehörden sei ein solcher Missbrauch in der Vergangenheit bisher nicht aufgefallen; es mangele aber auch nicht an einer verbindlichen rechtlichen Grundlage. Sehen Sie darin nicht einen Widerspruch? Einerseits gibt es den Missbrauch, über den bei Panorama berichtet wurde - 400-Euro-Jobs werden durch Übungsleiterpauschalen aufgestockt -, andererseits sind genügend rechtliche Grundlagen vorhan7124 den. Gleichzeitig konnte man aber den Missbrauch nicht aufdecken.

Hartmut Koschyk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001186

Verehrte Frau Kollegin, ich will Ihnen einmal zwei Fallbeispiele nennen, die deutlich machen, dass es nach geltendem Recht und nach der geltenden Verordnungslage absolut in Ordnung ist, wenn zum Beispiel ehrenamtlich Tätige dies tun und es mit einer hauptberuflichen Tätigkeit verbinden. Das erste Fallbeispiel ist die Pflege alter, kranker oder behinderter Menschen bis zu einem Drittel der Arbeitszeit eines vergleichbaren Vollzeiterwerbs, wenn sie im Dienst einer staatlichen, kirchlichen oder gemeinnützigen Einrichtung mit einem monatlichen Entgelt von 400 Euro erfolgt. Hierfür sind vom Arbeitgeber pauschalierte Sozialversicherungsabgaben sowie pauschalierte Lohnsteuer zu zahlen. Dazu können 175 Euro steuerund sozialabgabenfrei gezahlt werden, ohne dass daneben ein Hauptberuf ausgeübt wird. Das zweite Beispiel ist die Pflege alter, kranker oder behinderter Menschen bis zu einem Drittel der Arbeitszeit eines vergleichbaren Vollzeiterwerbs im Dienst einer staatlichen, kirchlichen oder gemeinnützigen Einrichtung mit einem monatlichen Entgelt von 400 Euro plus 175 Euro steuer- und sozialversicherungsfrei neben einem davon zu unterscheidenden, gänzlich anders gearteten Hauptberuf. Dieser kann auch bei demselben Arbeitgeber ausgeübt werden. Beispiel: Jemand ist hauptberuflich Sekretärin bei einer Wohlfahrtseinrichtung und übt zusätzlich eine nebenberufliche bzw. ehrenamtliche Tätigkeit abends oder am Wochenende bei derselben Wohlfahrtseinrichtung als Pflegekraft oder Rettungssanitäterin aus. Darin sieht die Bundesregierung keinen Missbrauch gegenwärtig geltender Gesetze.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Vielen Dank. - Haben Sie eine zweite Nachfrage? Bitte schön, Frau Dittrich.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank für die Antwort. Es freut mich, dass der Bundesregierung die tatsächlichen Verhältnisse in gemeinnützigen Organisationen bekannt sind. Ich möchte fragen, ob die Regierung bereit ist, einen Gesetzentwurf einzubringen, um die unklare Lage bei Empfängern von Übungsleiterpauschalen und ehrenamtlich Beschäftigten sowie Minijobbern zu beenden, und zwar dahin gehend, dass ein und dieselbe Person nicht für 400 Euro arbeiten und gleichzeitig ehrenamtlich als Übungsleiterin tätig sein darf. Dazu ein Beispiel: Es gibt den Verbund Sozialtherapeutischer Einrichtungen mit Sitz in Celle, der vor allem in Niedersachsen aktiv ist. Dort wurde ein Ehrenkodex vereinbart: Dieselbe Person darf nicht beide Tätigkeiten ausüben. Sie haben als Beispiel genannt, dass jemand morgens als Sekretärin arbeitet und abends als Musiktrainerin für einen Kinderverein tätig ist. Die Beispiele, die bei Panorama angeführt wurden, waren anders. Die ehrenamtliche und die hauptberufliche Tätigkeit waren nicht getrennt; die Person hat den ganzen Tag mit dem Auto Personen befördert. Diesen Missbrauch sollten wir ausschließen.

Hartmut Koschyk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001186

Frau Kollegin, ich kann und will nicht ausschließen, dass es hier Missbrauch gibt. Aber die Bundesregierung sieht aufgrund der überwiegend ordnungsgemäß abgewickelten Fälle - das habe ich an zwei Beispielen deutlich gemacht - keinen Anlass zu einer Gesetzesinitiative.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Weitere Zusatzfragen sehe ich nicht. - Ich bedanke mich beim Kollegen Koschyk für die Beantwortung der Fragen. Die Frage 16 der Abgeordneten Bärbel Höhn, die Frage 17 der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, die Fragen 18 und 19 des Abgeordneten Volker Beck, die Frage 20 der Abgeordneten Britta Haßelmann, die Fragen 21 und 22 des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick und die Fragen 23 und 24 der Abgeordneten Lisa Paus werden schriftlich beantwortet. Ebenfalls schriftlich beantwortet werden - diese Fragen betreffen den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie - die Fragen 25 und 26 des Abgeordneten Garrelt Duin, die Fragen 27 und 28 des Abgeordneten Oliver Krischer und die Frage 29 des Abgeordneten Swen Schulz. Das Gleiche gilt für die Fragen 30 und 31 der Abgeordneten Sabine Zimmermann und die Frage 32 des Abgeordneten Ilja Seifert, die den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales betreffen. Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz werden die Fragen 33 und 34 des Abgeordneten Hans-Josef Fell schriftlich beantwortet. Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Fragen 35 und 36 der Abgeordneten Silvia Schmidt und die Fragen 37 und 38 des Abgeordneten René Röspel werden schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 39 des Kollegen Friedrich Ostendorff auf: Wie bewertet die Bundesregierung die Gefahr, dass sich das MRSA-Bakterium vor allem in Betrieben mit Intensivtierhaltung - die in den ländlichen Räumen zurzeit stark an Zahl zunehmen - auf die dort arbeitenden Menschen überträgt und aufgrund des hohen Antibiotikaeinsatzes Resistenzen entwickelt, was nach Angaben des Robert-Koch-Instituts Wernigerode ({0}) das Gesundheitsrisiko der Menschen im Umfeld dieser Anlagen durch Übertragungswege, zum Beispiel in Krankenhäusern, aber auch darüber hinaus erhöht? Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz wird die Frage freundlicherweise beantworten.

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Herr Präsident! Herr Abgeordneter Ostendorff, die Studien zeigen, dass Beschäftigte in landwirtschaftlichen Nutztierbeständen, deren Tiere Träger von LA-MRSA sind, einem erhöhten Risiko der klinisch inapparenten nasalen Besiedlung durch die im Bestand vorkommenden LA-MRSA ausgesetzt sind. Ein ähnliches Risiko gilt für Beschäftigte in Schlachthöfen, die Umgang mit lebenden Tieren vor der Schlachtung haben, sowie für Tierärztinnen und Tierärzte, die in Nutztierbeständen tätig sind, in denen Tiere Träger von LA-MRSA sind. Sehr selten erfolgt eine Verbreitung über diesen Personenkreis hinaus. So erbrachte die gegenwärtig vom Nationalen Referenzzentrum für Staphylokokken am RobertKoch-Institut durchgeführte Untersuchung in Altenheimen in einer Region mit einer hohen Dichte von Schweinemastanlagen bei den Bewohnerinnen und Bewohnern bisher keinen einzigen Nachweis von LA-MRSA. Der Anteil von LA-MRSA an MRSA aus Krankenhausinfektionen ist gering und lag im Jahr 2009 bei 1,8 Prozent. Die Ausbreitung im Krankenhaus selbst erfolgt im Unterschied zu den krankenhausassoziierten MRSA nur selten. Die in Deutschland gewonnenen Untersuchungsergebnisse sind auch mit Daten aus den Niederlanden vergleichbar. Derzeit gibt es nach unserer Einschätzung keine Hinweise auf eine allgemeine Verbreitung auf Personen ohne Kontakt zu den besiedelten Tieren. Aufgrund der prinzipiellen Möglichkeit der Verbreitung werden LA-MRSA dennoch von uns als potenzielles Risiko für den Menschen eingeschätzt und überwacht.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zusatzfrage? - Bitte schön.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Staatssekretärin, schönen Dank für die Beantwortung der Frage. Das Robert-Koch-Institut hat auch kleinere Tierhaltungen auf Stroh, die zum Programm „Neuland“ gehören - in diesem Fall Schweinehaltungen -, untersucht. Die Untersuchung ergab, dass fast 100 Prozent der dort arbeitenden Menschen keinerlei MRSA-Besiedlung zeigten. Das führt mich zu der Frage, ob die Bundesregierung in ihre Betrachtung einbezieht, dass es offenbar große Unterschiede je nach Intensität der Tierhaltung gibt. Die Intensivtierhaltung scheint hier das Problem zu sein. Wie sieht die Bundesregierung diesen Fakt?

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Das Robert-Koch-Institut hat dazu eine Studie durchgeführt. Wir sehen hier Unterschiede. Allerdings haben wir keine Gefährdungen für nicht in den Beständen tätige und im Umfeld von Beständen tätige Menschen erkennen können.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gestatten Sie mir eine zweite Zusatzfrage? - Planen Sie - Sie haben das Ergebnis der Untersuchung des Robert-Koch-Instituts über Beschäftigte, die keinerlei Symptome zeigten, angesprochen -, eigene Untersuchungen in Auftrag zu geben?

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Die Untersuchungen des RKI werden schwerpunktmäßig im Rahmen der Surveillance durchgeführt. Insbesondere in den entsprechenden Schwerpunktzentren werden dauerhafte Überwachungen durchgeführt. Wir werden die Verbreitung weiterhin beobachten.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich rufe die Frage 40 des Kollegen Ostendorff auf: Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem laut ZDF-heute-journal vom 18. Oktober 2010 ({0}) steigenden Risiko des MRSA-Befalls in deutschen Krankenhäusern vor allem in ländlichen Regionen mit Intensivtierhaltung vor dem Hintergrund, dass es anders als zum Beispiel in den Niederlanden keine gesetzlich vorgeschriebene obligatorische Voruntersuchung von Menschen aus den einschlägigen Risikogruppen - Nutztierhaltung gibt?

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Ich beantworte Ihre Frage folgendermaßen: Präventiv erfolgte eine Erweiterung der Empfehlung des prästationären Aufnahmescreenings für MRSA bei Risikopatienten auf Beschäftigte in der Landwirtschaft mit Tierkontakt sowie auf Tierärzte und Tierärztinnen, um der Verbreitung im Krankenhausbereich vorzubeugen. Dies ist auch dem Epidemiologischen Bulletin des RKI, des Robert-Koch-Instituts, zu entnehmen. Auftreten und Verbreitung von LA-MRSA sind zudem ein Schwerpunkt der auf molekularepidemiologischen Untersuchungen beruhenden Surveillance-Aktivitäten des Robert-Koch-Instituts, insbesondere des dort angesiedelten Nationalen Referenzzentrums für Staphylokokken. Weiterführende Forschungsarbeiten zur Epidemiologie und zum zoonotischen Potenzial von LA-MRSA werden im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsclusters MedVet-Staph ab November 2010 durchgeführt; für den Titel sind wir nicht verantwortlich.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wer dafür die Verantwortung zu übernehmen hat, klären wir bei anderer Gelegenheit. ({0}) Eine Zusatzfrage des Kollegen Ostendorff.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Begrifflichkeiten waren in der Tat etwas verwirrend. - Letztlich bedeutet das, was Sie gesagt haben, dass in Deutschland, anders als in den Niederlanden, kein obligatorisches Krankenhausscreening durchgeführt wird. In den Niederlanden waren nur noch 4 Prozent der Menschen - diese Zahl wurde uns genannt -, die ins Krankenhaus gekommen sind, Träger des MRSA-Virus, nachdem sie isoliert und behandelt worden sind. Zahlen aus Deutschland, zum Beispiel aus dem Münsterland, deuten auf eine Trägerschaft von weit mehr als 20 Prozent der Patienten hin. Angesichts dieser Zahlen und der Ergebnisse, die in den Niederlanden festzustellen waren, frage ich Sie: Warum ist in Deutschland kein obligatorisches Screening vorgesehen, vor allen Dingen in Gebieten mit sehr großen Stalleinheiten, zum Beispiel in bestimmten Teilen des Münsterlandes oder des Oldenburger Landes?

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Herr Abgeordneter Ostendorff, es gibt eine gemeinsame Aktivität, und zwar das Projekt Euregio MRSA-net, das insbesondere vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert wird. In diesem Rahmen wird versucht, über unterschiedliche Situationen Erkenntnisse zu gewinnen. Wir haben allerdings festgestellt, dass die angewandten Hygienemaßnahmen, nämlich Isolation, Kittelpflege, die Verwendung von Mundschutz und Handschuhen sowie die Desinfektion der Hände, vom Grundsatz her vergleichbar sind und sich aufgrund der Handhabung keine Unterschiede feststellen lassen. Durch die Verpflichtung allein lassen sich Unterschiede letztlich nicht erklären. Deshalb sind aus unserer Sicht Handhabung und Praxis entscheidend.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe eine zweite Frage zum Themenkomplex MRSA. Wir können den vorliegenden Zahlen auch entnehmen, dass der Antibiotikaeinsatz in Intensivtierhaltungen sehr stark steigt und zunehmend zu einem Problem wird. Sieht das Bundesgesundheitsministerium hier gesetzlichen Regelungsbedarf? Werden Sie, was den Antibiotikaeinsatz in Intensivtierhaltungen betrifft, möglicherweise zur Tat schreiten und Regelungen treffen, um die Praxis, dass den Tieren mehr als zwei Drittel ihres Lebens Antibiotika verabreicht werden, einzuschränken?

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Die Entwicklungen bei der Verabreichung von Antibiotika werden im Bundesgesundheitsministerium mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Auch zu diesem Thema haben wir die Forschungsaktivitäten in unserem Haus verstärkt. Wenn wir die Ergebnisse dieser Forschungsaktivitäten ausgewertet haben, wird die Bundesregierung bewerten, ob sie darüber hinausgehende Maßnahmen für erforderlich hält.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Behm, bitte.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kürzlich ist ein Bekannter von mir, der bis dahin kerngesund war und nichts mit Landwirtschaft zu tun hat, wegen eines Aneurysmas ins Herzzentrum eingeliefert worden. Nachdem man ihn auf der Intensivstation erstbehandelt hatte, musste er isoliert werden, weil er genau diese MRSA-Bakterien hatte, und er lag dort nicht alleine. Es gibt also eine wirklich sehr weite Verbreitung. Haben Sie nicht die Sorge, dass es hier zu einer Ausbreitung kommen kann, die man nicht mehr in den Griff bekommt, wenn man nicht rechtzeitig Schutzmaßnahmen ergreift?

Annette Widmann-Mauz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003259

Frau Abgeordnete, Ihre Besorgnis wird von der Bundesregierung geteilt. Deshalb werden seit vielen Jahren Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert-Koch-Institut veröffentlicht. Diese werden kontinuierlich erneuert und bearbeitet, und es wird ganz deutlich gemacht, für welche Personengruppen ein Eingangstest empfohlen wird und welche Gruppen den Risikogruppen zuzuordnen sind. Dies wird ständig aktualisiert. Gerade in dem Epidemiologischen Bulletin Nr. 42 von 2008, das ich vorhin bereits erwähnt habe, wird nochmals ganz deutlich darauf hingewiesen, dass für Krankenhäuser und Einrichtungen für ambulantes Operieren die Verpflichtung zur Erfassung und Bewertung von Erregern mit besonderen Resistenzen und Multiresistenzen … und zur Meldung von Ausbrüchen an das Gesundheitsamt … besteht … Es wird empfohlen, diese entsprechenden Eingangsuntersuchungen durchzuführen, damit es nicht zu den Maßnahmen kommen muss, die Sie selbst gerade beschrieben haben.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Frage 41 des Kollegen Seifert wird schriftlich beantwortet. Vielen Dank, Frau Widmann-Mauz. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Scheuer zur Verfügung. Die Fragen 42 und 43 des Kollegen Hofreiter werden schriftlich beantwortet. Ich rufe die Frage 44 des Kollegen Heinz Paula auf: Wie weit ist das Vergabeverfahren für den sechsstreifigen Ausbau der Autobahn 8 zwischen Ulm und Augsburg fortgeschritten, und wann findet der Baubeginn statt? Herr Staatssekretär Scheuer, bitte.

Andreas Scheuer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003625

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Hochgeschätzter Herr Kollege Paula, im Rahmen des Vergabeverfahrens für den als ÖPP-Betreibermodell vorgesehenen sechsstreifigen Ausbau der Autobahn 8 zwischen Ulm und Augsburg erfolgt derzeit die Bewertung der BAFOs - Herr Präsident, ich entschuldige mich; das ist auch nicht unser Begriff -, also der Best and Final Offers. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Staatssekretär, mir wäre es noch lieber, wenn die Bundesregierung statt ihres Bedauerns über ihr zugemutete unnötige englische Begriffe freiwillig eine passende deutsche Übersetzung vortragen würde. ({0})

Andreas Scheuer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003625

Herr Präsident, Sie wissen, dass Bundesminister Ramsauer sehr viel zu der Deutschoffensive beigetragen hat, ({0}) und wir werden uns auch bei unseren Antworten bemühen, möglichst deutsche Begriffe zu verwenden. Herr Kollege Paula, als Datum für den Konzessionsbeginn, der Voraussetzung für den Beginn des Streckenausbaus ist, wird Januar 2011 angestrebt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zusatzfragen?

Heinz Paula (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003606, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zunächst einmal besten Dank für die Beantwortung, Herr Staatssekretär. - Ich habe noch eine kurze Nachfrage. Die Konzessionsvergabe soll im Januar 2011 erfolgen. Können Sie sich noch zu einer realistischen Prognose für den Baubeginn äußern?

Andreas Scheuer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003625

Herr Kollege Paula, wir haben jetzt gerade, zum Abschluss des Jahres, noch die letzten Verhandlungen zu diesem Vergabeverfahren geführt. Die Konzessionsvergabe ist das Entscheidende. Damit beginnt das ganze Geschäftsverhältnis. Als Folge daraus wird der Konzessionsbeginn somit in 2011 sein. Das Verhältnis zwischen den Konzessionspartnern beginnt damit also im Januar 2011. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Keine Zusatzfrage. - Dann rufe ich Frage 45 des Abgeordneten Paula auf: Womit wird die Verzögerung, die Zeitungsberichten zufolge ({0}) bei der Elektrifizierung der Bahnstrecke München-Lindau auftritt, begründet, und bis wann ist dann stattdessen mit dem Baubeginn bzw. der Fertigstellung zu rechnen?

Andreas Scheuer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003625

Die Deutsche Bahn AG hat mitgeteilt, dass der Abschluss der Vorplanungen für die Elektrifizierung der Bahnstrecke München-Lindau nunmehr in 2011 erwartet wird. Sie führt weiterhin aus, dass erst danach eine Aussage zum Inbetriebnahmetermin möglich sein wird. Aus derzeitiger Sicht erwartet die Deutsche Bahn AG den Baubeginn im Jahr 2013. Hierbei sind Verzögerungen in den Planrechtsverfahren nicht berücksichtigt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zusatzfrage?

Heinz Paula (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003606, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe eine Zusatzfrage, und zwar: Der Bund hat ja für das Projekt 110 Millionen Euro zugesichert. Die Zusicherung kann ja nicht nur im luftleeren Raum erfolgt sein. Deswegen die Frage an Sie: Wo und in welcher Höhe sind die zunächst erforderlichen Mittel und dann die Gesamtsumme entsprechend garantiert?

Andreas Scheuer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003625

Der Bund hat seine Finanzierungszusage erfüllt und die Finanzierung mit der Finanzierungsvereinbarung vom 17. Dezember 2008 sichergestellt. Dazu gibt es ja die Projektbeiräte, deren Sitzungstermine sich, wie Sie wissen, leider etwas verschoben haben. Diese Termine werden jetzt im November stattfinden. Da werden die einzelnen Fragen bezüglich der Kosten geklärt. Das heißt, die Sitzungen des Projektbeirates, die ja ursprünglich einmal für September 2010 terminiert waren und dann immer wieder verschoben wurden, sind entscheidend für die nächsten Planungsschritte.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Vielen Dank Herr Staatssekretär. Wir kommen nun zum Schluss zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Hier stehen noch die Fragen 46 und 47 der Kollegin Cornelia Behm zur Beantwortung aus: Inwieweit gibt es seitens der Bundesregierung Überlegungen, die naturschutzfachlich bedeutsamen Areale sowohl auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Wittstock als auch auf der Liegenschaft der ehemaligen Heeresversuchsstelle Kummersdorf - beide Brandenburg - dauerhaft unter Schutz zu stellen, um einen Beitrag zum Biodiversitätsschutz im Rahmen der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zu leisten? Inwieweit gibt es bei einer wünschenswerten Unterschutzstellung Hemmnisse durch eine bisher nicht abgeschlossene Übertragung der Flächen vom Bund an einen künftigen Träger der Maßnahme bzw. an das Land Brandenburg?

Katherina Reiche (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003209

Frau Kollegin Behm, ich beantworte Ihre Fragen 46 und 47 wegen des Sachzusammenhangs zusammen. Die naturschutzrechtliche Unterschutzstellung von Flächen fällt nach dem Grundgesetz in die Zuständigkeit der Länder. Dies gilt auch für die beide in Brandenburg liegenden Flächen des Truppenübungsplatzes Wittstock und der ehemaligen Heeresversuchsstelle Kummersdorf. Innerhalb der Bundesregierung wird diskutiert, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen eine Teilaufnahme in das nationale Kulturerbe sinnvoll und möglich ist. Dies kann aber erst im Laufe des Fortgangs des Konversionsprozesses in enger Abstimmung zwischen der BImA, also der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, und dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit festgelegt werden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön, Frau Behm.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen. Die Antworten sind leider nicht so konkret, wie ich es mir gewünscht hätte. Sie sagen, darüber kann im Verlaufe des Fortgangs der Übertragung der Liegenschaften entschieden werden. Können Sie in etwa, vielleicht getrennt nach Liegenschaften, eine Angabe zum Zeithorizont machen?

Katherina Reiche (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003209

Sie wissen, dass im Koalitionsvertrag festgelegt ist, eine weitere Tranche, nämlich 25 000 Hektar Bundesfläche, an die Länder bzw. an Stiftungen zu übertragen, um wertvolle Flächen zu sichern. Wir identifizieren gerade mögliche weitere Flächen für diese zweite Tranche. Die erste Tranche bestand aus rund 100 000 Hektar. Wir haben in Bezug auf Flächen der zweiten Tranche mit der Abfrage an die Länder begonnen. Die Verfügbarkeit solcher Flächen wird geprüft. Die Prüfungen sind aber noch nicht abgeschlossen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das hört sich ja so an, als ob Sie bei der Unterschutzstellung tatsächlich an die Übertragung ins nationale Naturerbe denken. Nun weiß ich, es sind noch etwa 25 000 Hektar offen. Es sind inzwischen, verstreut über die Republik, aber schon Flächen in einer deutlich höheren Größenordnung identifiziert worden, die in dieses nationale Naturerbe passen würden. Das veranlasst mich zu der Befürchtung, dass bei einer Übertragung von Teilen der Kyritz-Ruppiner Heide oder der Kummersdorfer Heide ins nationale Naturerbe die 25 000 Hektar ausgeschöpft wären. Oder würde das gegebenenfalls on top kommen?

Katherina Reiche (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003209

Diese Befürchtungen kennen wir. Sie werden insbesondere durch die Naturschutzverbände geäußert. Deswegen laufen Gespräche über die von Ihnen genannten Flächen und über weitere kleinere Flächen, die der BVVG zuzurechnen sind. Es muss sich zeigen, ob die BVVG überhaupt einen nennenswerten Beitrag leisten kann. Hier sind gesetzliche Obergrenzen bei den Flächen, die durch die BVVG zur Verfügung gestellt werden können, zu beachten. Aber noch einmal: Die Länderabfrage läuft. Es sind keine abschließenden Gespräche darüber geführt worden, welche Flächen am Ende tatsächlich infrage kommen.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe noch eine Nachfrage. Ist der Bundesregierung bekannt, dass es für die Heeresversuchsstelle Kummersdorf eine Konzeption gibt, die sowohl Denkmalschutzbelange als auch naturschutzfachliche Belange einbezieht und in der es nicht darum geht, eine Übertragung ins nationale Naturerbe vorzunehmen? Wenn ja, wie bewerten Sie diese Konzeption? Ich habe mehrere Veranstaltungen vor Ort besucht und gesehen, dass sich die Leute vor Ort große Mühe geben. Vom Landesministerium war aber zu hören, dass die Gespräche mit dem Bund ins Stocken geraten sind. Ich würde nun gerne von Ihnen wissen, ob es irgendeine Schraube gibt, an der man drehen kann, damit diese Gespräche wieder ins Laufen kommen und es vor Ort weitergeht. Denn wenn dies nicht geschieht, dann ist irgendwann nichts mehr unter Schutz zu stellen. Dann geht sowohl der naturschutzfachliche Wert als auch der Denkmalschutzwert immer weiter verloren. Sie kennen die Liegenschaft sicherlich und haben sich ein Bild davon gemacht. Die Frage lautet also: Kann man das Verfahren beschleunigen? Was stört die Fortführung dieser Gespräche? Warum ist der Faden gerissen? Gibt es eine Möglichkeit, das Verfahren auch im Sinne der von der Region selbst erarbeiteten Konzeption zu entwickeln?

Katherina Reiche (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003209

Ich kann nicht bestätigen, dass die Gespräche ins Stocken geraten seien. Ich wiederhole noch einmal: Das Bundesministerium ist mit den Ländern intensiv im Gespräch, welche Flächen für die Übertragung in das nationale Naturerbe infrage kommen, um die 25 000 Hektar, die ja gemeinsame Zielvorgabe sind, vollständig zu erreichen. Wir sind für die naturschutzfachliche Begutachtung zuständig, die das BfN gemeinsam mit dem BMU durchführt. Aber die Ausweisung der Flächen muss vonseiten der Länder kommen. Ich finde, dass wir in einem guten Gespräch sind, und kann die von Ihnen geäußerte Sorge so nicht bestätigen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nein. Das kommt gelegentlich vor und ist natürlich höchst bedauerlich, aber leider kein Einzelfall, der zu einer besonderen Handhabung Anlass geben würde. Präsident Dr. Norbert Lammert Die Frage 48 der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl aus demselben Geschäftsbereich sowie die Frage 49 des Abgeordneten Klaus Hagemann und die Frage 50 der Abgeordneten Nicole Gohlke aus dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung werden schriftlich beantwortet. Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Rentenkürzung durch Rente erst ab 67 verhindern Erster Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben durchaus Anlass, uns noch einmal mit diesem Thema zu beschäftigen, nachdem sich nun offensichtlich auch in der CSU die Einsicht durchzusetzen scheint, dass man über dieses Thema noch einmal reden muss. Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, das der Parteivorsitzende der CSU gesagt hat - ich zitiere ihn -: Ich werde meine Zustimmung zur Rente mit 67 aufkündigen, wenn die Wirtschaft Menschen, die über 50 sind, nicht beschäftigt. Das habe ich heute auch der Kanzlerin gesagt. Sonst ist das eine reine Rentenkürzung, und da mache ich nicht mit. ({0}) Der Vorsitzende der CSU hat sich also mit dieser Frage erneut beschäftigt und kommt offensichtlich zu völlig neuen Erkenntnissen, die allerdings von seinen Parteifreunden in einer Weise quittiert werden, dass man sich schon wundert, was zurzeit bei Ihnen los ist. ({1}) Ich zitiere Herrn Schlarmann aus dem CDU-Vorstand: Wenn Herr Seehofer dies - die Rente mit 67 infrage stellt, stört er nicht nur den Koalitionsfrieden, sondern bestätigt auch diejenigen, die die Regierung für handlungsunfähig halten. Jetzt frage ich mich natürlich, meine Damen und Herren aus der CDU/CSU: Was ist Ihnen eigentlich wichtiger? Tatsächlich das Wohl der Bürger in diesem Lande, das Wohl der Menschen, die irgendwann eine Rente brauchen, oder Ihr Koalitionsfrieden? Wenn sich bei euch von der CSU schon einmal eine Einsicht durchsetzt, dann müsst ihr doch euren Vorsitzenden nicht in dieser Weise demontieren. Das ist doch nun wirklich nicht notwendig. ({2}) Führen wir uns die Fakten noch einmal zu Gemüte und schauen wir, an welcher Stelle Herr Seehofer vollkommen recht hat. Wir stellen erstens fest, dass nur 9,9 Prozent der Menschen in der Altersgruppe von 64 Jahren eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben. Das heißt, dass 90 Prozent der Menschen durch die Rente erst ab 67 nichts anderes als eine Rentenkürzung bekommen. Genau das hat Herr Seehofer festgestellt, ({3}) und ich weiß nicht, warum Sie sich dieser Einsicht in so dramatischer Weise verschließen, meine Damen und Herren. ({4}) Zweitens. Wir stellen fest, dass 2004 11 Prozent der 55- bis 64-Jährigen arbeitslos waren. Das bedeutet, dass die Gruppe der 55- bis 64-Jährigen an der gesamten Arbeitslosigkeit im Jahr 2004 mit 11 Prozent beteiligt war. Im Jahr 2010 beträgt der Anteil der 55- bis 64-Jährigen an der gesamten Zahl der Arbeitslosen inzwischen 16 Prozent. Wir haben also eine steigende Arbeitslosigkeit in genau der Personengruppe, die Sie künftig länger als bis 65 arbeiten lassen wollen. Die sind jetzt schon arbeitslos. Die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe nimmt zu. ({5}) Deshalb hat Herr Seehofer vollkommen recht, wenn er sagt: Wir müssen diese Frage neu verhandeln und neu besprechen. ({6}) - Wenn Sie ein Problem mit der Statistik haben, müssen Sie das mit Herrn Seehofer diskutieren. Offensichtlich beruft er sich ja darauf. Es gibt einen weiteren Punkt, meine Damen und Herren. In der Antwort auf die Große Anfrage, die wir an die Bundesregierung gestellt haben, wird bestätigt, dass 36 Prozent der Betriebe keine Mitarbeiter beschäftigen, die älter als 50 Jahre sind. ({7}) 36 Prozent der Betriebe beschäftigen niemanden, der über 50 Jahre alt ist! ({8}) - Warum regen Sie sich denn so auf? Ich verstehe das überhaupt nicht. Herr Seehofer hat doch recht. Jetzt unterstütze ich einmal euren Vorsitzenden, und ihr be7130 kommt schon wieder einen heißen Hintern. Das muss doch wirklich nicht sein. ({9}) Meine Damen und Herren, wir kommen ja von einer Veranstaltung der IG Metall, an der auch andere Kollegen des Hauses teilgenommen haben. So kann ich Ihnen noch ein paar weitere Beispiele nennen: Von den 4 800 Beschäftigten der Salzgitter Flachstahl GmbH ist 1 Prozent älter als 63 Jahre. ({10}) Beim Küchenhersteller SieMatic ist genau einer von 400 Beschäftigten 61 Jahre alt, niemand ist älter. Und da wollen Sie an der Rente mit 67 festhalten! Ich kann nur Herrn Hartmut Koschyk von der CSU zitieren, der gesagt hat: Ich halte nichts davon, einmal getroffene politische Entscheidungen wieder infrage zu stellen - nur weil sich die SPD beim Thema Rente mit 67 vom Acker macht. Das ist doch Ihr Problem, meine Damen und Herren. Wenn Sie schon einmal ein richtiges Korn herausgepickt haben, sollten Sie auch dabei bleiben. Ich kann Herrn Seehofer nur empfehlen - vielleicht können Sie ihm das ausrichten -, bei seiner Position zu bleiben. Das bayerische Wappentier ist schließlich der Löwe und nicht der flüchtende Hase. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Ernst hat so getan, als würde heute die Rente mit 67 eingeführt werden. Dann hätte er mit all den Beispielen, die er vorgetragen hat, recht. Die Rente mit 67 stellte dann für die meisten Rentnerinnen und Rentner eine Rentenkürzung dar. ({0}) Nur, Herr Ernst hat uns alle hier mit seinen Beispielen angelogen, ({1}) weil die Rente mit 67 nicht heute, sondern erst im Jahr 2029 kommt. ({2}) Die entscheidende Frage lautet deswegen: Wird es im Jahr 2029 in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt genauso aussehen wie heute? ({3}) Nun ist das Allerschwierigste, die Zukunft zu prognostizieren. Auch Herr Ernst hat in seiner Märchenstunde nichts dazu gesagt, was 2029 sein wird. Ein paar Sachen wissen wir aber schon. ({4}) Da bekannt ist, wie viele Kinder in Deutschland geboren wurden und wie viele Personen ins Rentenalter kommen werden, wissen wir, dass bis zum Jahr 2025 die Zahl derjenigen, die arbeiten gehen können, also im arbeitsfähigen Alter sind, um 7 Millionen Personen im Vergleich zu heute abnehmen wird. Wir wissen, ({5}) dass die Zahl der 15- bis 20-Jährigen - das sind diejenigen, die sich auf das Berufsleben vorbereiten - im Vergleich zu heute um 16,8 Prozent zurückgehen wird. ({6}) Das heißt, der Arbeitsmarkt im Jahr 2029 wird grundlegend anders aussehen als heute. Man wird dann die Menschen nicht mehr in den Vorruhestand schicken, sondern dankbar sein, wenn jemand bereit ist, etwas länger zu arbeiten. Das ist das, was wir wissen. ({7}) Jetzt zu Horst Seehofer. CDU/CSU und SPD haben in der Großen Koalition das Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze bis zum Jahr 2029 verabschiedet und dort festgeschrieben, dass die Bundesregierung dem Bundestag vom Jahr 2010, also von diesem Jahr an, alle vier Jahre über die Entwicklung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berichten muss und eine Einschätzung darüber abzugeben hat, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint und die getroffenen gesetzlichen Regelungen bestehen können. Wir nehmen diesen Beschluss sehr ernst. ({8}) Deshalb wird die Bundesregierung im November einen ausführlichen Bericht genau zu diesen Themen vorlegen. Nun hätte ich Verständnis gehabt, wenn die Linke eine Aktuelle Stunde unmittelbar nach Vorlage dieses Berichts beantragt hätte. Dass Sie von der Linken für heute eine solche Aktuelle Stunde beantragt haben, zeigt, dass Sie das, was wir im Bundestag beschließen, für völlig irrelevant halten und vor allen Dingen nicht an einer öffentlichen Diskussion über Daten und Fakten inPeter Weiß ({9}) teressiert sind. Die Tatsache, dass Sie für heute eine solche Aktuelle Stunde beantragt haben, ohne dass der entsprechende Bericht vorliegt, zeigt: Sie sind nicht an Daten und Fakten, sondern schlichtweg an Polemik interessiert. ({10}) Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zählen auf eine solide Rente. Diese kann man nur mit klaren Berechnungen, beruhend auf Daten und Fakten, gewährleisten. Mit Polemik kann man die Rente höchstens kaputtmachen. Das ist Tatsache. ({11}) Gestern Abend hat „Das Demographie Netzwerk“ - das ist ein Zusammenschluss von über 200 Betrieben in Deutschland, die mit Förderung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales neue Wege zur Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausprobieren - hier in Berlin zu einem Parlamentarischen Abend eingeladen. Von der Linken war niemand da; wahrscheinlich ist Herr Ernst wieder Porsche gefahren. ({12}) Das zeigt: Die Linke ist nur daran interessiert, hier im Bundestag vorzutragen, was in den Betrieben schlecht läuft. Sie hat aber null Interesse daran, darzustellen, was in den Betrieben gut läuft. ({13}) Gestern Abend wurde vorgestellt, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dann, wenn sich Betriebe

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich komme zum Ende - bei Gesundheitsmanagement, Arbeitsorganisation sowie Fort- und Weiterbildung anstrengen, eine Chance haben. Wenn Rente mit 67 eine Perspektive sein soll, muss mit dem Jugendwahn Schluss sein und es mehr Chancen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben. Dafür treten wir ein. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Elke Ferner ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Seehofer hat zwar etwas Richtiges gesagt, aber bei Herrn Seehofer weiß man nicht, ob er morgen noch für das steht, was er heute gesagt hat. ({0}) Herr Seehofer hat beispielsweise auch einmal gesagt: „Kopfpauschale - nur über meine Leiche.“ Er lebt immer noch, und das Modell der Kopfpauschale steht kurz vor der Beschlussfassung. Insofern steht man ein bisschen auf wackligen Füßen, wenn man sich auf Herrn Seehofer bezieht, auch wenn er in der Sache einmal recht hat; denn er wechselt seine Meinungen so schnell, dass man mit dem Schauen kaum noch hinterherkommt. Herr Kollege Weiß, es geht um die Frage, ob wir es vor dem Hintergrund der jetzigen Arbeitsmarktsituation verantworten können, 2012 in die Anhebung des Renteneintrittsalters einzusteigen. Sie haben soeben kritisiert, dass wir heute darüber debattieren, obwohl der Bericht über die Beschäftigungssituation Älterer noch nicht vorliegt. Ich hätte gern einmal gehört, dass Sie Frau von der Leyen kritisieren, die ja jetzt schon weiß, dass der Einstieg 2012 losgehen kann, obwohl dieser Bericht noch nicht vorliegt. ({1}) Dazu habe ich von Ihnen jetzt nichts gehört. Ich sage Ihnen: Wenn Ihre Einschätzung jetzt schon feststeht, geht das an den Fakten vorbei. Die Fakten hat der Kollege Ernst eben genannt. Sie spiegeln sich wider in Zahlen, die die von Ihnen getragene Bundesregierung in einer Bundestagsdrucksache als Antwort auf eine Große Anfrage veröffentlicht hat. Fakt ist, dass 9,9 Prozent, also weniger als 10 Prozent, der 64-Jährigen in einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung sind. ({2}) Jetzt kommt Frau von der Leyen daher und sagt: Na ja, es sind eigentlich viel mehr. Klar sind es viel mehr: Einbezogen wurden nämlich auch Minijobber - dazu gehören teilweise Rentner und Rentnerinnen, die sich zu ihrer Rente etwas dazuverdienen - und 1-Euro-Jobber. ({3}) So kann man aber die Leute nicht in die Irre führen. Man muss wirklich bei den Fakten bleiben und diejenigen Zahlen ins Kalkül ziehen, um die es geht. Was ist denn mit den 90 Prozent der 64-Jährigen, die heute keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbsarbeit nachgehen? ({4}) Sollen die Arbeitnehmer später unter Inkaufnahme von Zwangsabschlägen in Rente gehen müssen, weil sie nicht mehr die Arbeit ausüben können, die sie bisher getan haben? Diejenigen, die auf der heutigen IG-MetallVeranstaltung waren, durften lernen, dass selbst in großen Betrieben mit einem hohen Organisationsgrad, mit starken Gewerkschaften und starken Betriebsräten die Arbeitsabläufe Menschen zwangsläufig krankmachen. Glauben Sie denn allen Ernstes, dass die Zustände in all den Betrieben, wo hart und schwer gearbeitet wird, in zwei Jahren überwunden sein werden? Ich glaube das nicht. Wir müssen daran arbeiten; das ist wohl richtig. ({5}) Niemand hier bestreitet, dass die Beschäftigungssituation der Älteren verbessert worden ist. Aber wir bestreiten, dass das ausreichend ist, um im Jahre 2012 den Einstieg in die Anhebung des Renteneintrittsalters zu vollziehen. Das geht unter den jetzigen Bedingungen nicht. Wir brauchen auch flexiblere Übergänge. Sie weigern sich, die geförderte Altersteilzeit zu verlängern. ({6}) Wir brauchen eine Brücke für die Älteren, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr können, und eine Brücke für die Jüngeren, damit sie eine Ausbildung machen oder nach ihrer Ausbildung im Betrieb bleiben können. Was im Moment stattfindet, ist aus meiner Sicht ein wenig schizophren. Diejenigen, die heute nach Fachkräften rufen, sind diejenigen, die sich in der Vergangenheit um die Erfüllung ihrer Ausbildungspflicht gedrückt haben. Das ist die Wahrheit. ({7}) Diejenigen, die verlangen, wir müssten das Erwerbspersonenpotenzial besser ausschöpfen, sind diejenigen, die es versäumt haben, insbesondere Frauen und Älteren Vollzeitbeschäftigung zu ermöglichen. Ebendiese Frauen und Älteren sind heute teilweise in Teilzeitbeschäftigung, obwohl sie es nicht wollen. Es gibt keine familienfreundlichen Arbeitszeiten, und die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind leider immer noch nicht gut genug. Angesichts dieser Notwendigkeiten und noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten können wir 2012 nicht einsteigen. Wir brauchen mehr flexible Übergänge. Dazu haben wir Vorschläge erarbeitet, und wir werden dies auch noch in einer Arbeitsgruppe, die wir eingesetzt haben, vertiefen. Wir brauchen weiterhin die geförderte Altersteilzeit, und vor allen Dingen brauchen wir, um die Renten armutsfest zu machen, möglichst durchgängige Erwerbsbiografien, und zwar nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen, möglichst vollzeitnah und vor allen Dingen zu Löhnen, die später eine sichere und auskömmliche Rente garantieren. Deshalb müssen wir flächendeckend Mindestlöhne einführen; denn anders ist dies nicht möglich. Aber auch im Hinblick hierauf verweigern Sie sich. ({8}) Sie nehmen lieber Altersarmut in Kauf,

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin!

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie nehmen lieber in Kauf, dass ein großer Teil unserer Gesellschaft, der arbeiten will, nicht in dem Umfang arbeiten kann, wie er das gerne möchte. Mit dem Einstieg in die Verlängerung der Lebensarbeitszeit

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Liebe Frau Ferner!

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- gehen Sie den falschen Weg, nämlich den zweiten Schritt vor dem ersten. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich will noch einmal darauf aufmerksam machen, dass nach unseren Regelungen der einzelne Redner in der Aktuellen Stunde nicht länger als fünf Minuten sprechen darf. Das bedeutet im Umkehrschluss: Notfalls können es kürzere Redezeiten sein. ({0}) Aber die üblicherweise vom amtierenden Präsidenten erwartete Großzügigkeit bei der Bewirtschaftung der Redezeit lässt unsere Geschäftsordnung für Aktuelle Stunden gar nicht zu. ({1}) Dass das machbar ist, wird nun der Kollege Heinrich Kolb nachweisen, der als Nächster für die FDP-Fraktion das Wort erhält. ({2})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, das Problem besteht ja auch darin, dass es in der Aktuellen Stunde keine Zwischenfragen gibt, sodass es heute wirklich bei den fünf Minuten bleiben muss.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gott sei Dank! ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich will mich also in den einzelnen Punkten kurzfassen. Ich danke dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, dass wir heute wieder einmal die Möglichkeit haben, uns über die Rente mit 67 auszutauschen. ({0}) Ich habe mir natürlich auch Gedanken gemacht; denn man ist ja immer bemüht, etwas Neues in die Debatte einzubringen. Heute habe ich mir überlegt, Frau Ferner: Warum führen wir die Diskussion eigentlich so dramatisch, als ob es den Untergang des Abendlandes bedeutet, wenn die Lebensarbeitszeit verlängert wird? Ich habe einmal nachgeschaut, wann eigentlich die Altersgrenze von 65 Jahren festgelegt worden ist. Für Angestellte war das 1911 und für Arbeiter 1916 - für den Kollegen Birkwald habe ich auch die Quelle dabei. ({1}) Damals betrug die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen 48 Jahre und die der Männer 45 Jahre. Heute liegt sie sowohl bei Männern als auch bei Frauen ungefähr 30 Jahre höher. ({2}) Vor diesem Hintergrund halte ich es jedenfalls nicht für vollkommen unanständig, dass man darüber nachdenkt, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, obwohl ich - das wissen Sie - kein Freund von starren Altersgrenzen bin, sondern mich in diesem Zusammenhang eher für flexible Lösungen ausspreche. ({3}) Ich will es hier sehr deutlich sagen: Eine lange Erwerbsteilhabe, allerdings auf der Basis einer eigenen freien Entscheidung, ist für uns nichts Schlechtes. Wir reden doch in vielen Bereichen über Teilhabe. Junge Menschen, behinderte Menschen, alle sollen teilhaben am gesellschaftlichen Leben. Die Erwerbsarbeit ist ein ganz wesentlicher Aspekt des gesellschaftlichen Lebens. Daher sollte uns die Frage umtreiben, wie man es organisieren kann, dass Menschen möglichst lange dabeibleiben können, und es sollte nicht um die Frage gehen, wie man sie möglichst früh aus dem Erwerbsleben herausbringen kann, was lange das Dogma auch in den Führungsetagen deutscher Unternehmen gewesen ist. Das will ich hier sehr deutlich sagen, Herr Ernst. ({4}) - Aber nicht in DAX-Konzernen, Frau Kollegin Ferner. Wir haben das auch korrigiert. Sie haben auch die Altersteilzeit angesprochen. Ich stehe dazu, dass wir die beitragsgeförderte Altersteilzeit beendet haben, und meine Fraktion hat auch nicht die Absicht, das zu ändern. Ich halte das für einen richtigen Schritt. Weiterhin soll es möglich sein, auf Kosten der Unternehmen, aber nicht auf Kosten der Beitragszahler, wenn auch mit steuerlicher Förderung, Altersteilzeitmodelle zu praktizieren, wenn das so gewünscht wird und sich in einzelnen Branchen anbietet. Im Übrigen sind wir, so denke ich, diesbezüglich gut aufgestellt. Das führt dazu - das bringt mich zum nächsten Punkt -, dass die Erwerbsquoten älterer Arbeitnehmer inzwischen erfreulich angestiegen sind. Wenn ich mir die Entwicklung seit dem Beschluss zur Rente mit 67 anschaue, so kann ich eigentlich nur zu dem Schluss kommen: Die Erwerbsteilhabe Älterer hat sich toll entwickelt. ({5}) Frau Ferner, Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen von der SPD müssen sich fragen lassen: Haben Sie denn damals ernsthaft mehr erwartet? Der Trend ist sowohl in der Altersgruppe zwischen 55 und 60 Jahren als auch in der Altersgruppe zwischen 60 und 65 Jahren ungebrochen positiv. Das heißt, wir dürfen vor allem angesichts der demografischen Entwicklung davon ausgehen, dass sich das in den nächsten Jahren weiter verbessern wird. Vor diesem Hintergrund - das muss ich sagen - halte ich es auch für verantwortbar, Frau Kollegin Ferner, den Weg weiterzugehen, den Franz Müntefering, der von Ihrer Partei gestellte Bundesarbeitsminister, damals aufgezeigt hat. Er hat gesagt: Wir wollen das probieren. Wir überprüfen regelmäßig, ({6}) ob der Arbeitsmarkt das hergibt. - Obwohl ich kein Freund der Rente mit 67 bin und damals dagegengestimmt habe, muss ich sagen: ({7}) Angesichts der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen - wir werden in Kürze erleben, dass die Arbeitslosenzahlen auf unter 3 Millionen sinken werden -, aber auch im Speziellen - damit meine ich die Beschäftigungsquote Älterer -, gibt es keinen Grund, dieses Müntefering’sche Projekt zum jetzigen Zeitpunkt zu stoppen. ({8}) Das heißt, wir werden 2012 damit beginnen, die Lebensarbeitszeit Jahr für Jahr um einen Monat zu verlängern. Wir werden auch in vier Jahren wieder gucken, ({9}) wie es gelaufen ist. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden feststellen, dass sich die Dinge ({10}) - warten Sie erst einmal ab, Frau Ferner - im Sinne der Älteren weiter zum Positiven entwickelt haben werden. ({11}) Deswegen sollten Sie jetzt nicht mauern, Frau Kollegin Ferner. Ihr Beschluss von damals zum § 154 SGB VI verpflichtet Sie, wenn Sie ihn ernst nehmen, alternative Maßnahmen vorzulegen - das steht auch in § 154 -, damit sowohl das Versorgungsniveau als auch das Beitragssatzziel eingehalten werden können. ({12}) Diese Verpflichtung hätten Sie. Wir sind nach wie vor auf einem auch für mich erstaunlichen Weg. Ich hätte nämlich nicht gedacht, dass sich

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- Entschuldigung, Herr Präsident - die Erwerbsbeteiligung Älterer so verbessern lässt. Aber es ist passiert, und insofern denke ich, dass man die Dinge so laufen lassen kann, wie sie zurzeit laufen. Wir werden bei Gelegenheit wieder darüber diskutieren. - Ich habe jetzt leider um 23 Sekunden überzogen, Herr Präsident.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ja, die ziehen wir beim nächsten Mal ab. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Dr. StrengmannKuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich nehme Sie beim Wort, was die 23 Sekunden bei Herrn Kolb angeht. Er kann es gut gebrauchen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Sie haben hoffentlich nicht den Eindruck gewonnen, Sie bekämen diese jetzt zusätzlich. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Auch ich bin relativ erstaunt, dass wir heute schon wieder über die Rente mit 67 debattieren - wir haben das ja erst letzte Sitzungswoche gemacht -, nur weil Horst Seehofer mal wieder etwas gesagt hat. Bei ihm könnte man den Eindruck haben, dass er sich regelmäßig irgendwelche Umfragen anschaut und dann irgendetwas von sich gibt, von dem er denkt, dass es die Mehrheit der Bevölkerung gut findet. Ich habe jedoch den Eindruck, dass Ursache eher die Panik vor den weglaufenden Wählerinnen und Wählern der CSU als irgendeine inhaltliche Erkenntnis ist. ({0}) Es kommen gleich die üblichen Reflexe. Die Bundesregierung sagt, die Rente mit 67 müsse auf jeden Fall kommen, wohl wissend, dass es diese Überprüfungsklausel gibt - Herr Weiß hat sie gerade zitiert -, in der steht: Die Bundesregierung muss auf der Basis dieses Berichts hier im Bundestag darlegen, ob der Zeitplan so eingehalten werden kann oder nicht. ({1}) Diesen Bericht gibt es zwar noch nicht, ({2}) aber die Bundesregierung hat schon vor ein paar Monaten gesagt: Komme, was wolle, wir machen es einfach. Auch das geht eigentlich nicht. Der andere Reflex kommt von der Linkspartei, die so etwas natürlich gerne aufnimmt und sagt: Die Rente mit 67 muss weg. - Damit macht sie es sich unseres Erachtens viel zu einfach. Denn in der Tat geht es darum, zu beurteilen, wie die Situation jetzt aussieht und wie sie sich in den nächsten 20 Jahren entwickeln wird. ({3}) Insofern bin ich gespannt, ob der Bericht dazu Lösungen aufzeigt. Wenn man sich die Situation jetzt anguckt, so muss man Ihnen recht geben - und da stimme ich den Linken auch zu -: Die Voraussetzungen sind nicht vorhanden. ({4}) Sie haben die Zahlen genannt: 9,9 Prozent der 64-Jährigen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Für uns ist es wichtig, dass die Menschen in ihrem gesamten Lebensverlauf gute Arbeitsbedingungen haben, damit sie länger arbeiten können; hier gibt es noch viel zu tun. Auf der Veranstaltung der IG Metall, auf der ich auch war, hat man an Einzelbeispielen aufgezeigt, wie sich der Arbeitsdruck verdichtet und dass in den Betrieben zu wenig Gesundheitsprävention erfolgt. Unsere Schlussfolgerung daraus ist aber eine andere als die, die die Linke daraus zieht. Die Linke sagt: Die Bedingungen sind schlecht, also geht das Ganze nicht. Wir sagen: Die Bedingungen sind schlecht, und wir müssen sie ändern. Darum geht es. ({5}) Wir müssen etwas tun, um Verbesserungen zu erreichen, um gute Arbeitsbedingungen zu schaffen, um Weiterbildungsmöglichkeiten auch für Menschen in höherem Alter zu schaffen. Wir brauchen auf Ältere zugeschnittene Arbeitsmarktprogramme, damit die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe abnimmt. All das sind Maßnahmen, um zu verhindern, dass die Rente mit 67 eine Rentenkürzung nach sich zieht. Das ist unser wesentliches Ziel: Die Rente mit 67 soll keine Rentenkürzung zur Folge haben, sondern etwas Positives für die Menschen sein, die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, aber auch die Rentnerinnen und Rentner. Aber jenseits der Arbeitsmarktentwicklung gibt es noch mehr Stellschrauben, an denen die Politik drehen kann. Da höre ich von der Bundesregierung bisher nicht viel. Erstens. Was ist mit der Schaffung flexiblerer Möglichkeiten, zum Beispiel in Bezug auf die Teilrente, die Herr Kolb öfter im Mund führt? Die FDP spricht immer davon; es passiert aber nichts, es gibt keine Vorschläge dazu. ({6}) Zweitens. Bei der Erwerbsminderungsrente halten wir den Anstieg der Grenze für die abschlagsfreie Altersrente von 63 auf 65 Jahre im Zusammenhang mit der Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre für völlig falsch; denn Erwerbsminderung sucht man sich nicht aus; man ist erwerbsgemindert oder man ist es nicht. Deshalb muss die Grenze für die abschlagsfreie Altersrente bei 63 bleiben. Punkt. ({7}) Drittens müssen wir verhindern, dass bei den Menschen, die früher in Rente gehen müssen, weil sie nicht länger arbeiten können, die Rente mit 67 zur Armut führt. Das heißt, wir brauchen ein stabiles soziales Netz. Wir müssen Maßnahmen gegen Armut ergreifen. Auch da gibt es bisher noch nicht viel außer der vagen Ankündigung einer Kommission. Ich bin gespannt, was nächstes Jahr dabei herauskommt. Aber konkrete Vorschläge gibt es dazu noch nicht. Wir müssen sehen, dass wir Armut im Alter grundsätzlich bekämpfen. Gerade im Hinblick auf die Rente mit 67 ist das besonders wichtig. Unser Ziel ist, dass das Rentenniveau der Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet und länger als 30 Jahre in die Rente eingezahlt haben, wenigstens über dem Grundsicherungsniveau liegt. Das ist für uns eine wesentliche Bedingung für die Rente mit 67. Wichtig für uns ist also: Wir müssen die Rahmenbedingungen schaffen. Das ist auf politischer Ebene möglich. Die Bundesregierung macht bisher allerdings nichts. Wir werden ab 2013 darangehen, die Rahmenbedingungen für die Rente mit 67 zu schaffen. Wenn diese erfüllt sind, dann ist es meines Erachtens auch vertretbar, die Rente mit 67 einzuführen und den Weg dahin zu gehen. Danke schön. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Max Straubinger ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben einen guten Parteivorsitzenden, ({0}) und den werden wir auch behalten, lieber Kollege Anton Schaaf. ({1}) - Viele, viele Jahre, weit länger, als Sie denken können. ({2}) Aus diesem Grund erübrigt sich eine solche Diskussion. Die Linke hat heute wiederum eine verkürzte Darstellung der Aussagen unseres Parteivorsitzenden zum Anlass genommen, eine Debatte über die Rente mit 67 zu führen. Ihre Darstellung, Herr Kollege Ernst, ist natürlich verkürzt. Denn unser Parteivorsitzender, Horst Seehofer, hat dies im Zusammenhang mit der ständigen Forderung von Arbeitgebern nach vermehrter Zuwanderung von Fachkräften gesagt. Es kann nicht sein, dass ältere Bürgerinnen und Bürger, erfahrene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorzeitig in den Ruhestand geschickt werden und gleichzeitig der Ruf nach Fachkräften aus Drittstaaten und der ganzen Welt ertönt. ({3}) Zunächst einmal ist es wichtig, die demografischen Probleme, die es nicht nur in unserem Land gibt, sondern auch in anderen Ländern in Europa und darüber hinaus, aus eigener Kraft zu lösen. Ich glaube, dass die Große Koalition unter Arbeitsminister Franz Müntefering hier eine richtige Entscheidung in der Rentengesetzgebung herbeigeführt hat; denn - der Kollege Kolb hat bereits darauf hingewiesen - die steigende Lebenserwartung gebietet es mit Blick auf die Generationengerechtigkeit, über eine längere Lebensarbeitszeit nachzudenken und diese ins Gesetz zu schreiben. Die Handlungsoptionen sind nur begrenzt. Niemand in diesem Haus will sie unterschreiben, denn es geht darum, entweder die Rente zu kürzen, riesige Beiträge auf die im Erwerbsleben stehenden Personen abzuwälzen ({4}) -oder die Wochenarbeitszeit zu verlängern. Unter diesen Gesichtspunkten war es vernünftig, die Lebensarbeitszeit auf 67 zu verlängern, und das über einen langen Zeitraum hinweg, nämlich bis zum Jahr 2029. Ich bin besonders stolz darauf, dass insbesondere auf Initiative der CSU eingeführt wurde, dass jemand, der 45 Beitragsjahre oder gleichgestellte Beitragszeiten hinterlegt hat, mit dem 65. Lebensjahr ohne Abschlag in Rente gehen kann. Das kommt besonders Menschen mit handwerklichen Berufen und auch Menschen, die auf Baustellen arbeiten, zugute, weil sie relativ früh mit der Lehre beginnen. So hat man diese sozialpolitische Herausforderung gemeistert. ({5}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es geht auch um die Frage der Arbeitsmöglichkeiten für ältere Bürgerinnen und Bürger. Hier haben wir eine gewaltige Aufgabe vor uns. Arbeitsplätze in unseren Betrieben müssen natürlich - Herr Strengmann-Kuhn, hier gebe ich Ihnen ausdrücklich recht - auf die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgestellt und auch weiterentwickelt werden. ({6}) Ich bin überzeugt, dass wir hier gute Vorgaben bringen werden. Entscheidend ist, zuerst zu versuchen, die bei uns arbeitslos gemeldeten Menschen in Arbeit zu bringen, insbesondere die Älteren, wie es uns zunehmend gelingt, Herr Kollege Ernst. ({7}) Ich wehre mich dagegen, dass die ganze Zeit nur Rufe kommen, dass Arbeitsplätze mit Zuwanderern aus Drittstaaten besetzt werden sollen. ({8}) Vielleicht noch eines, weil auch dies in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen ist. Ab und zu wird berichtet, unser Arbeitsmarkt sei vernagelt. Ich habe mir heute die Zahlen von der Bundesagentur für Arbeit geben lassen. Ich war überrascht: Über 100 000 Menschen aus Drittstaaten haben einen Antrag gestellt - oder von deren Arbeitgebern ist ein Antrag gestellt worden -, um nach einer Vorbehaltsprüfung Arbeit in Deutschland aufzunehmen. Davon sind allein im Jahr 2009 fast 90 000 Anträge positiv beschieden und ist die Genehmigung erteilt worden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Straubinger!

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Jahr 2010 haben bisher fast 51 000 Personen Anträge gestellt, und circa 43 000 Genehmigungen wurden erteilt. Ich bin überzeugt, es wäre weit besser, wenn ältere Arbeitslose ihren Erfahrungsschatz bei uns in die Betriebe brächten. Hier wäre uns dann doppelt geholfen: Zum einen wären sie Beitragszahler und zum anderen keine Bezieher von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung mehr. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Redner hat zum Schluss noch für die Aufmerksamkeit danken wollen. Das trage ich hiermit nach. ({0}) Der nächste Redner ist nun der Kollege Josip Juratovic für die SPD-Fraktion. ({1})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Manchmal wundert man sich, was alles möglich ist. ({0}) Ein Unions-Ministerpräsident fordert zur Rente mit 67 das, was im Gesetz steht, nämlich eine Überprüfung der Arbeitsmarktsituation für ältere Arbeitnehmer. ({1}) Sofort gibt es in den Reihen der Unionsfraktionen einen Aufruhr. Kolleginnen und Kollegen von der Union, da muss ich mich doch wundern. Sie kritisieren Herrn Seehofer dafür, dass er sich an das Gesetz halten will. ({2}) Erlauben Sie mir, Folgendes in Erinnerung zu rufen: Die vornehmste Aufgabe der Politik ist es, sicherzustellen, dass Menschen, die drei Viertel ihres Lebens anständig gearbeitet haben und unseren Wohlstand zum Teil unter schwierigsten Bedingungen gesichert haben, im Alter ein menschenwürdiges Leben mit einer fairen Rente haben. Kolleginnen und Kollegen, wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, die Rente zukunftsfest zu machen. Durch den demografischen Wandel und veränderte Erwerbsbiografien haben wir immer weniger junge Menschen, und diese steigen auch noch immer später ins Berufsleben ein. Außerdem werden die Menschen dank fortschrittlicher medizinischer Versorgung Gott sei Dank immer älter. Deshalb haben wir 2007 verantwortungsvoll und trotz aller Proteste den stufenweisen Einstieg in die Rente mit 67 beschlossen, die 2029 voll zum Tragen kommen soll. ({3}) Allerdings müssen wir in unserer Arbeitswelt Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Menschen tatsächlich länger arbeiten können. Das haben wir Sozialdemokraten bereits bei der Gesetzgebung angemahnt. Deshalb haben wir die sogenannte Überprüfungsklausel bewusst in das Gesetz geschrieben und nicht, wie es die Union wollte, nur in die Präambel. ({4}) Heute sehen wir: Das war richtig und wichtig. ({5}) Die Überprüfungsklausel stellt uns vor zwei Fragen: Erstens. Wie viele Menschen arbeiten bereits heute und unter welchen Bedingungen bis 65? Zweitens. Was ist mit denjenigen, die es nicht bis 65 schaffen? Ich freue mich, dass wir weltweit für unsere florierende Wirtschaft gelobt werden. Aber zu welchen Bedingungen haben wir dieses Wachstum? Fakt ist: Der Leistungsdruck im produzierenden und im Dienstleistungsgewerbe wird immer größer. Die Auslastung der Beschäftigten liegt bei über 95 Prozent. Die Anzahl der psychischen Erkrankungen nimmt gewaltig zu. Viele Arbeitnehmer können unter den heutigen Arbeitsbedingungen nicht bis 65 arbeiten, geschweige denn bis 67. Die Wirtschaft hat mittlerweile zwar erkannt, dass sie in Zukunft nicht auf ältere Fachkräfte verzichten kann. Allerdings fallen Vorhaben zur Schaffung besserer Arbeitsbedingungen stets dem Wettbewerb zum Opfer. Aber nicht nur die Wirtschaft, auch die Bundesregierung muss etwas tun. Es ist falsch, dass Sie von der Regierung Mittel für Qualifizierungsmaßnahmen für ältere Arbeitnehmer kürzen. Es ist falsch, dass Sie die Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslosengeld-II-Empfänger einsparen wollen. ({6}) Diese 1,8 Milliarden Euro fehlen dann in der Rentenversicherung. Dadurch werden noch mehr Menschen in die Grundsicherung getrieben. Es ist falsch, dass Sie sich nicht um die Erwerbsminderungsrente kümmern. Das Arbeitsministerium selbst sagt, dass gerade einmal 21,5 Prozent der 60- bis 64-Jährigen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Darunter sind viele in Teilzeit, in Leiharbeit oder sie haben eine befristete Stelle. Das sind keine guten Voraussetzungen, um die Rente mit 67 umzusetzen. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Überprüfungsklausel ernst nehmen. ({7}) Herr Seehofer hat dies offensichtlich verstanden und will nach dem Gesetz handeln. Meine Damen und Herren von der Bundesregierung, das Parlament erwartet von Ihnen im November einen ehrlichen und aussagekräftigen Bericht. Das sind Sie den Menschen schuldig, die ihr Leben lang für den Wohlstand von uns allen anständig arbeiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Spitzenreiterposition im Zeitmanagement der Aktuellen Stunde. ({0}) Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die FDP-Fraktion. ({1})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat debattieren wir häufig über die Rente mit 67. Dies ist kein Schaden; denn man lernt immer etwas dazu. Auch kurz vor der Sommerpause haben wir über dieses Thema diskutiert. Dabei habe ich nicht etwas von Ihnen, sondern etwas über Sie gelernt, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei. Der Kollege Peter Weiß von der Union hat Ihnen damals erklärt, was der demografische Wandel bedeutet, nämlich dass immer mehr Menschen älter werden und immer weniger Arbeitnehmer für die Rente dieser Menschen einzahlen. ({0}) Es gab dann einen bemerkenswerten Zwischenruf aus Ihren Reihen, dass die Produktivität ja steigen würde. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, Sie malen nicht nur ein falsches Bild von der Gegenwart, sondern auch ein zu hoffnungsfrohes Bild von der Zukunft. Ich bin der Meinung, dass wir ein bisschen mehr Realismus walten lassen sollten. Gerade wir von der christlich-liberalen Koalition verstehen etwas von einer Politik, die Wirtschaftswachstum fördert. ({1}) Wir glauben aber nicht, dass sich das Problem des demografischen Wandels allein mit gesteigerter Produktivität und größerem Wirtschaftswachstum lösen lässt. ({2}) All das ist viel zu unsicher. Sicher ist aber beispielsweise, dass im Jahr 2012, in dem wir überhaupt erst mit der Entwicklung hin zur Rente mit 67 beginnen - erst im Jahr 2029 kommt sie zur vollen Wirkung -, erstmalig mehr Menschen in Deutschland ihren 65. Geburtstag feiern werden als ihren 20. Geburtstag. Im Jahr 2029, wenn die Rente mit 67 vollumfänglich in Wirkung tritt, werden 1,35 Millionen Menschen in den Ruhestand gehen. ({3}) Ihnen stehen diejenigen gegenüber, die zu diesem Zeitpunkt ins Erwerbsleben eintreten werden. ({4}) Dazu zählen unter anderem diejenigen, die letztes Jahr geboren sind, nämlich - wir wissen es ganz genau 651 000. Jetzt stehen sich diese beiden Zahlen, die Sie nicht leugnen können, gegenüber: ({5}) 1,35 Millionen Menschen, die im Jahr 2029 das Rentenalter erreichen, und 651 000 Personen, die dann ungefähr in dem Alter sind, mit der Arbeit zu beginnen. ({6}) Diesen Zusammenhang können Sie nicht leugnen; wir müssen darauf reagieren. Ich sage wie mein Kollege Heinrich Kolb: Wir von der FDP haben eigentlich ein anderes Modell. Wir erkennen aber zumindest an, dass das Problem mit der Einführung der Rente mit 67 in der richtigen Richtung angegangen worden ist. Letztlich werden wir nicht darum herumkommen, dass die Menschen mehr und länger arbeiten. Wir trauen uns, diese Wahrheit offen anzusprechen und mit den Menschen darüber zu diskutieren. Wir machen den Menschen keine Angst. Wir versuchen, den Menschen Zuversicht zu geben; denn wir erklären ihnen plausibel, dass wir schon jetzt die Weichen in die richtige Richtung stellen. ({7}) Die gegenwärtige Situation am Arbeitsmarkt ist bei weitem nicht so dramatisch schlecht, wie Sie es skizziert haben. ({8}) - Nein. Ich sage Ihnen aber eine weitere Zahl. ({9}). - Lieber Herr Ernst, unterbrechen Sie mich nicht. Der Präsident möchte, dass ich rechtzeitig fertig werde. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Präsident möchte es nicht; er stellt es sicher. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist eine erfreuliche Entwicklung, dass der Prozentsatz der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zwischen 60 und 64 Jahren - auch das sind Zahlen, die gelten und wahr sind - von 10,7 Prozent im Jahr 2000 auf 21,5 Prozent im Jahr 2009 gestiegen ist und sich damit mehr als verdoppelt hat. Die Entwicklungen gehen in die richtige Richtung. ({0}) Wir werden in der Politik noch mehr dafür tun, dass es in Zukunft so weitergeht. Dabei wird uns der anstehende Fachkräftemangel unterstützen; denn es wird gar nicht anders gehen, als dass die Menschen in unserem Land mehr und länger arbeiten ({1}) und die Unternehmen in Zukunft verstärkt ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Matthias Birkwald ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich wollte ich mich jetzt - ({0}) - Ja, besser Papier dabeihaben und über Fakten reden, als hier heiße Luft zu verbreiten. ({1}) Ich hätte mich heute gerne an dieser Stelle, von diesem Pult aus bei Ministerpräsident Seehofer entschuldigt. Warum? Ich habe seinen Vorschlag als - Verzeihung, Herr Präsident! - „derbe Volksverarschung aus Bayern“ bezeichnet. Genauso stellt es sich dar; denn die richtigen Einlassungen von Herrn Seehofer sind unisono von Ihnen abgelehnt worden. Deswegen kann ich nur sagen: Ich habe an der Stelle recht gehabt; es handelt sich hier um eine Parodie, um eine Tragödie und um eine „derbe Volksverarschung aus Bayern“. Ich will mich jetzt mit dem auseinandersetzen, was Sie hier eben gesagt haben. Herr Kollege Weiß, Sie haben eben behauptet, wir Linken würden lügen und hätten kein Interesse an Daten und Fakten. ({2}) Schauen wir uns das doch einmal genau an. Sie haben gesagt, die Rente erst mit 67 käme 2029. ({3}) Das kann man so sagen, wenn Sie den letzten Jahrgang meinen. ({4}) Mit Rente erst ab 67 soll aber schon im Jahr 2012 begonnen werden. Das müssen alle Menschen wissen, die davon betroffen sind. Dann geht es los. ({5}) Sie haben gesagt, wir hätten eine Verringerung des Erwerbspersonenpotenzials um 7 Millionen bis 2025. ({6}) Der Kollege Kober hat eben den ganzen Unsinn der Demografielüge auch noch einmal erzählt. Ich möchte jetzt gerne zitieren aus Rente mit 67?, dem Vierten Monitoring-Bericht des Netzwerks für eine gerechte Rente, herausgegeben vom DGB und anderen. Auch Herr Kolb kennt ihn. Die Zahlen darin wurden nicht selbst ausgerechnet, sondern es wurde Bezug genommen auf die Berechnungen der Statistischen Landes- und Bundesämter für das Jahr 2009; die haben nichts mit der Linken zu tun. Es gibt verschiedene Varianten. Bei allen Varianten wird das Erwerbspersonenpotenzial auch in den Jahren 2020 und 2030 groß genug sein. Heute sind es 42 Millionen Menschen. Die Varianten, mit denen gerechnet wird, liegen zwischen 35 und 43 Millionen Erwerbspersonen. ({7}) Zusammengefasst heißt das: Die Statistischen Ämter … des Bundes und der Länder folgern aus ihren Berechnungen: - ich zitiere „Damit ist es eher unwahrscheinlich, dass es in absehbarer Zeit aus demographischen Gründen zu einem Arbeitskräftemangel kommen wird.“ So sieht es aus. ({8}) Dann wollen wir einmal festhalten, dass die Verpflichtung, die im Gesetz steht, alle vier Jahre zu prüfen, ob die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen vorhanden sind - auch die Situation der Älteren auf dem Arbeitsmarkt ist zu prüfen -, nicht für das Jahr 2029, sondern heute gilt; denn in zwei Jahren soll die Rente erst ab 67 schrittweise eingeführt werden. Wir nehmen die Sorgen der Menschen an dieser Stelle ernst. ({9}) Wir wollen nicht, dass Ihre Basta-Variante durchkommt. Wenn wir nachfragen, was denn nun wird, dann sagt beispielsweise Staatssekretär Brauksiepe - ich habe ihn schon zitiert -: Es ist sinnvoll, die Beschäftigungsquote bei Älteren zu steigern; die Rente ab 67 kommt in jedem Fall. Dazu sage ich: Das ist die Basta-Variante, und die akzeptieren wir nicht. ({10}) Es gibt aber auch die Trickser-Variante. Da wird gesagt: Es wird alles besser. Das haben wir hier heute auch gehört. Ich sage: Es wird nicht alles besser. ({11}) Wir haben jetzt mehrfach gehört, dass nur knapp 10 Prozent der 64-Jährigen einen sozialversicherungspflichtigen Job haben. Man muss hinzufügen - das ist ganz perfide -, dass das für nur 7 Prozent der Frauen gilt. An dieser Stelle kann man auch sagen: Die Rente erst ab 67 ist besonders ungerecht für die Frauen, und das ist nicht in Ordnung. ({12}) Außerdem bleibt das Muster: Je näher Sie dem 65. Geburtstag kommen, umso weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gibt es. Aber nicht nur das: Wir haben in den vergangenen Jahren erlebt, dass vieles schlechter geworden ist, Herr Kober, und nicht besser. ({13}) Was meine ich? Es ist doch wichtig, ob jemand unmittelbar vor seinem Renteneintritt sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist. Wie sieht es damit aus? 1999 waren das noch 29,6 Prozent. Jetzt sind es noch gerade einmal etwa 18 Prozent. Deswegen sage ich: Nein, es wird nicht besser, es wird schlechter, und das ist nicht zu akzeptieren. Der nächste Punkt. Wir haben vor 14 Tagen in den Zeitungen gelesen - das ist sehr traurig -, dass es zwei schwere Lkw-Unfälle gegeben hat. Der eine Fahrer war 67, der andere 69 Jahre alt. Sie fuhren 40-Tonner. Das möchten wir nicht. Die Menschen müssen dann in Rente gehen, wenn sie noch leistungsfähig sind. Es darf nicht sein, dass dadurch Gefährdungen auf uns zukommen. ({14}) Da mich der Herr Präsident gleich mahnen wird, komme ich jetzt zum Schluss und sage noch einmal ganz deutlich: Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereit wären, 7 Euro im Monat mehr in die Rentenkasse einzuzahlen, und es einen höheren Bundeszuschuss gäbe, dann wäre die ganze Nummer mit der Rente erst ab 67 vom Tisch. Sagen Sie den Menschen, dass es um 7 Euro im Monat geht. Dann sperren Sie Ihre Ohren weit auf. Ich sage Ihnen voraus, dass alle sagen werden: Die zahlen wir gerne, wenn wir dafür weiterhin mit 65 in Rente gehen dürfen. Herzlichen Dank. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Klaus Ernst, Sie haben den Antrag eingebracht, hören Sie mir bitte zu. Herr Kollege Birkwald, es war schon ungeheuerlich, was Sie zum Schluss erzählt haben. Weil ein älterer Arbeitnehmer mit einem Lkw einen Unfall verursacht hat ({0}) - weil zwei ältere Arbeitnehmer mit einem Lkw einen Unfall verursacht haben -, sind Ältere nicht mehr leistungsfähig? Ja, wo sind wir denn? Sie können doch nicht die Leistungsfähigkeit unserer älteren Generation per se mit einer solchen flapsigen Behauptung infrage stellen. Das ist ungeheuerlich. ({1}) Lieber Herr Kollege Ernst, Sie haben in Ihrem Aufschlag zur Begründung Ihres Antrags sehr viel über unseren geschätzten bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer ausgeführt. ({2}) Ich freue mich ja, dass Sie seine Reden zumindest zu lesen versuchen. Wie der Kollege Max Straubinger bereits ausgeführt hat, wäre es aber schon gut, wenn Sie alles lesen würden, was er gesagt hat. Da war natürlich auch vom Problem der Zuwanderung die Rede. Ich brauche es hier nicht zu vertiefen. Sie haben völlig recht, letztendlich ist es müßig, das zu wiederholen. Lieber Herr Kollege Ernst, im Hinblick auf die von Ihnen bemühten Zahlen müssen wir auch erst einmal schauen, wo wir eigentlich stehen. Wir stehen im Jahr eins nach dem Auslaufen der 58er-Regelung. Wenn die Beschäftigungsquote unserer älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger noch relativ niedrig ist, ist das natürlich zum großen Teil den früheren Möglichkeiten des vorzeitigen Ruhestandes geschuldet. Das muss man realistischerweise mit in die Diskussion einführen, ({3}) um die Leute nicht weiter einseitig zu verunsichern, wie wir es von Ihnen von der Linkspartei gewohnt sind und immer wieder erleben. ({4}) Meine Damen und Herren, es wurde bereits ausgeführt, dass der Bericht der Bundesregierung nach § 154 SGB VI erfolgt, weil vorgesehen ist, dass alle vier Jahre über die Beschäftigungsquote und die soziale Lage sowie die Arbeitsmarktsituation älterer Beschäftigter berichtet wird. Danach ist eine Einschätzung abzugeben, ob die Rente mit 67 vertretbar ist. So ist es im Gesetz geregelt; Herr Kollege Juratovic hat darauf hingewiesen. Herr Müntefering hat das Gesetz somit vernünftig und richtig auf den Weg gebracht. Ich danke der SPD heute noch einmal dafür, dass wir dies in der Großen Koalition so sinnvoll für die Zukunft gestalten konnten. ({5}) Der erste Bericht wird bis zum Jahresende vorliegen. Dann schauen wir einmal. Erst dann können wir konkrete Aussagen über die Vertretbarkeit der Rente mit 67 treffen. ({6}) Es ist unseriös, ausgehend vom heutigen Arbeitsmarkt bei nachweisbar und stetig steigenden Beschäftigungsquoten älterer Menschen aus der aktuellen Situation heraus zu behaupten, es gebe nicht genügend Arbeitsplätze für Ältere. Wir alle werden die Entwicklung verfolgen. Außerdem möchte ich den Jugendlichen hier auf den Tribünen ganz bewusst sagen: Auch bei der Rente mit 67 wird es nach 45 Beitragsjahren möglich sein, mit 65 in Rente zu gehen und eine abschlagsfreie Rente zu beziehen. Das gilt auch für die heute junge Generation, das muss man fairerweise gelegentlich wiederholen, weil es zu schnell in Vergessenheit gerät. ({7}) Die Diskussion darüber, dass bis jetzt noch zu wenige ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt sind, rechtfertigt es nicht, jetzt schon über einen Ausstieg bzw. einen Verzicht auf die Rente mit 67 nachzudenken. Wir werden die volle Wirkung der Rente mit 67 im Jahr 2029 erleben. Vom Statistischen Bundesamt wurde belegt, dass aktuell knapp jeder Vierte im Alter von 64 Jahren - 23,7 Prozent - noch am Erwerbsleben beteiligt ist, während es von den 65-Jährigen jeder Neunte - 11,6 Prozent - ist, und zwar aus den von mir eingangs geschilderten Gründen. Der Arbeitsmarkt gibt den Älteren jedoch Hoffnung. Im Jahr 2009 waren immerhin 38,7 Prozent der Personen zwischen 60 und 64 Jahren erwerbstätig. Das waren fast doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor. Wir stellen also fest, dass ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger in zunehmendem Maße in den Unternehmen gebraucht werden. Im Übrigen sollten wir die Arbeit nicht nur als Belastung sehen, sondern auch ein Stück weit als Erfüllung. Viele ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger wollen auch in Zukunft ganz bewusst und gern ihrer Arbeit nachgehen. Ich weiß nicht, wie der Job des Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei ist. Er muss eine ziemliche Qual sein, wenn Sie so über Arbeit denken. ({8}) Herr Kollege Strengmann-Kuhn hat völlig recht: Wir sind die nächsten Jahre und Jahrzehnte aufgefordert, die Arbeitswelt für die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Arbeitsbedingungen und die medizinische Versorgung entsprechend zu gestalten. Dann wird das alles auch möglich sein. Lassen Sie uns deshalb nach vorne schauen. Lieber Herr Präsident, es geschehen noch Zeichen und Wunder: Ich bin schon vor meiner Zeit fertig. Danke schön. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Silvia Schmidt erhält nun das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Silvia Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003217, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Kober, die Menschen im lutherischen Mansfelder Land haben Angst. Sie haben Angst vor Arbeitslosigkeit - es gibt dort die höchste Arbeitslosenquote -, und vor allen Dingen haben sie Angst, dass sie keine ausreichende Rente mehr bekommen. Das ist keine Polemik irgendeiner Partei; dieses Gefühl besteht tatsächlich. Herr Kolb, tolle Entwicklung? Die Zahlen der arbeitslosen Schwerbehinderten steigen. Sie profitieren nicht davon. In Sachsen-Anhalt hat die Zahl der älteren Arbeitslosen, die Leistungen nach dem SGB III bekommen, um 4 Prozent zugenommen. Das sind Tatsachen. Ich sage, dass ich durchaus zur Rente mit 67 stehe. ({0}) Wenn ich mit diesem Thema in meinem Wahlkreis oder bundesweit unterwegs bin, erhalte ich immer mal wieder ein gewaltiges „Buh!“. Ich erkläre den Menschen dann, um was es im Einzelfall geht - Sie haben das gerade angesprochen -: Es geht um gute Arbeitsbedingungen, eine Arbeitswelt, in der es Spaß macht, arbeiten zu gehen, in der man sich wohlfühlt. Jetzt komme ich zu dem Thema Frauen. Wir brauchen natürlich Kindergartenplätze, damit Mütter arbeiten gehen können. Sie brauchen auch ordentliche Löhne. Damit komme ich zu Karthago: Wir brauchen Mindestlöhne, um Altersarmut zu verhindern, ({1}) obwohl - das habe ich Ihnen schon einmal gesagt 8,50 Euro nicht ausreichen. Die Zeiten stehen schlecht für die Rente mit 67. Das zeigen die aktuellen Zahlen. Deswegen hat mein Parteivorstand beschlossen, mit der Anhebung des Rentenalters erst 2015 zu beginnen. Wir haben uns aber nicht von der Rente mit 67 verabschiedet. Wir wollen den Prozess begleiten und mit den Menschen darüber reden, um Verständnis herzustellen. Mein zweites großes Thema ist die Erwerbsminderungsrente. Die Zugangsvoraussetzungen sind nicht gut: Man muss meistens den Kopf unter dem Arm tragen. Ich nenne als Beispiel meine Freundin Petra; sie hat eine Netzhautablösung und ist bald blind. Sie musste klagen - der Sozialverband hat ihr dabei geholfen -, damit sie eine Erwerbsminderungsrente bekommt. Das kann einfach nicht sein; das muss man feststellen. ({2}) Es gibt auch das Problem, dass die Erwerbsminderungsrenten - das habe ich schon beim letzten Mal gesagt weiter schrumpfen. Hier müssen wir etwas tun. Wir müssen über Zuschläge reden und darüber, wie wir die Erwerbsminderungsrenten in Zukunft gestalten, damit die Menschen sicher davon leben können. Ein weiterer Punkt, den wir im Zusammenhang mit der Erwerbsminderungsrente beachten sollten, ist, dass gerade diese Menschen - ich wiederhole die Zahl: 1,2 Millionen gerne arbeiten möchten. Hier muss die Rentenversicherung deutlicher eingreifen, um diesen Menschen eine Chance zu geben. Mit 48 Jahren darf man nicht in eine Ecke abgeschoben werden, in der man nichts mehr tun kann. Da gehört man nicht hin. Das ist wichtig. Sie sagen: Schluss mit dem Jugendwahn. Ja, das kann man so sehen. Das ist auch wichtig. Ich sage, dass wir eher eine Kampagne brauchen, um den Bürgern und Bürgerinnen, um vor allem unseren jungen Leuten zu zeigen, was ältere Menschen tatsächlich leisten können, ({3}) welchen Wert Weisheit und Klugheit in den Betrieben haben. Wir brauchen - das haben auch Sie gesagt; das möchte ich gerne betonen - eine lebenslange Bildung. Ich muss Ihnen sagen: Da habe ich die größten Bauchschmerzen. Ihre Kürzungen bezüglich des SGB II und SGB III treffen den Osten besonders scharf. Wir haben die höchsten Arbeitslosenzahlen. Wir haben die meisten SGB-II-Empfänger. Wir brauchen - auch das habe ich schon gesagt - in Zukunft ausgebildete Fachkräfte. Unternehmen können das nicht alleine leisten. Man muss ihnen zur Seite stehen. Wir gehen mit Schrecken auf die kommenden Jahre zu. Die Arbeitsämter, die Eigenbetriebe und die optierenden Kommunen bis hin zu den Argen haben ihre Bedenken angemeldet. Die Gewerkschaften möchte ich erst gar nicht erwähnen. Ich sage noch einmal: Wir brauchen die Akzeptanz der Rente mit 67. Wir müssen beste Voraussetzungen schaffen; das ist wichtig. Ansätze sind schon gegeben. Wir werden uns in der nächsten Zeit damit befassen. Wir haben im Willy-Brandt-Haus eine Arbeitsgruppe; Elke Ferner ist dabei. Silvia Schmidt ({4}) ({5}) Wir wollen nicht nur eine sichere Rente, sondern wir wollen natürlich auch die Altersarmut verhindern. Dazu gehört der Mindestlohn. Danke schön. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner ist der Kollege Frank Heinrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Frank Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004054, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Monat begann so, wie er jetzt fast endet, nämlich mit genau dem gleichen Thema. Sie haben das heutige Thema auch zu Beginn des Monats auf die Tagesordnung gesetzt. Heute heißt es: „Rentenkürzung durch Rente erst ab 67 verhindern“. Ich möchte vier Stichworte ansprechen; ich hoffe, dass ich meine Redezeit von fünf Minuten nicht überschreiten werde. Meine erste Bemerkung betrifft das Wort „Rentenkürzung“. Ein Stück weit kann ich das, ehrlich gesagt, nicht mehr hören. Ich halte das für eine Mär, die immer wieder hochgekocht wird. ({0}) Es handelt sich nämlich nicht um eine Kürzung, auch nicht um eine verbrämte. Wir zahlen zwar länger ein. Aber fast genau den gleichen Teil, der zustande kommt, weil wir länger einzahlen - das kann man bis auf Heller und Pfennig ausrechnen -, werden wir, wenn wir Rente beziehen, zusätzlich herausbekommen. Außerdem beziehen wir länger Rente. Wir wissen, dass wir bis dahin nicht nur zwei Jahre länger arbeiten, sondern im Schnitt auch drei Jahre länger leben werden. Auch dies ist einer der Gründe, warum wir das Ganze eingeführt haben, wir müssen den längeren Rentenbezug finanzieren. Mein zweites Stichwort betrifft die Zahlen. Wir haben eine ganze Menge Zahlen gehört. Da ich weiß, dass es immer um die Frage nach der jeweiligen Quelle geht, ({1}) sage ich Ihnen: In der Wirtschaftswoche ({2}) vom 18. Oktober dieses Jahres habe ich gelesen: Das durchschnittliche Renteneintrittsalter ist in den letzten zwei Jahren von 61,7 Jahren auf 63,2 Jahre gestiegen. Diese Aussage bezieht sich auf die Zahlen, die die Bundesregierung Ihnen vorgelegt hat, also auf die Zahlen von Ende letzten Monats. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ({3}) hat vorgestern geschrieben: Damit haben in zehn Jahren zusätzlich 800 000 ältere Beschäftigte Arbeit gefunden. Es handele sich dabei ausnahmslos um sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. ({4}) 1999 waren 950 000 Ältere ohne Arbeit, 2009 hat sich die Zahl fast halbiert. Eine weitere Zahl war vorgestern dem Focus zu entnehmen. ({5}) Der Focus hat Martin Brussig, einen Forscher am Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, zitiert, der darauf hingewiesen hat, dass inzwischen deutlich mehr Menschen im Alter von Mitte 50 im Beruf sind als noch vor zehn Jahren. ({6}) Das sind deutliche Signale, die darauf hindeuten, dass sich die Situation schon jetzt verändert und sich nicht erst irgendwann in Zukunft möglicherweise verändern wird. Das dritte Stichwort, das in dieser Diskussion in Bezug auf ältere Arbeitnehmer immer wieder angeführt wird, betrifft die Arbeitsmarktchancen. Die Zahlen haben sich unter anderem deshalb verändert - um das auch Ihnen, Frau Ferner, deutlich zu machen -, weil die Anreize zur Frühverrentung weggefallen sind; ({7}) das war auch Absicht. Nur deshalb konnten sich die Zahlen in den letzten Jahren so entwickeln, wie sie sich entwickelt haben. ({8}) Entscheidend ist nicht nur, wie die Situation im Moment ist, sondern auch und vor allem, wohin wir unterwegs sind, wie die Situation also in Zukunft sein wird. Herr Weiß hat gesagt, dass wir erst 2029 am Ziel sein werden. ({9}) Vielleicht sollten wir den Bürgerinnen und Bürgern aber auch einmal Folgendes sagen: Wenn die Rente mit 67 ab 2012 schrittweise eingeführt wird, bedeutet dies nicht eine Verschiebung des Renteneintrittsalters um zwei Jahre, sondern eine Verlängerung der Arbeitszeit um einen Monat. Die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt haben gezeigt, dass es, unter anderem mit flexibleren Regelungen, möglich ist, dieses Vorhaben wie geplant umzusetzen. ({10}) Dabei spielen auch die Eigeninteressen unserer Wirtschaft eine Rolle. Ich sage aus voller Überzeugung: Die Schritte, die wir für die ersten zehn Jahre nach Inkrafttreten der Rente mit 67 vorgesehen haben, sind von unserem Land, unserer Wirtschaft und unseren Betrieben ohne Probleme zu leisten. Zum vierten Stichwort, der Planungssicherheit. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Menschen, die Betriebe, die Rentenkassen und die Wirtschaft eine Sicherheit brauchen, wenn sie für die Zukunft planen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein Aussage von Herrn Rürup, die vor einigen Wochen in einer Zeitung stand, vortragen: Bleibt es dabei, dass von 2029 an die Altersgrenze bei 67 Jahren liegt, ist die Verschiebung des Anlaufens dieser Reform - ich bitte Sie von der SPD, jetzt besonders gut zuzuhören - von 2012 auf 2015 eine lässige Sünde. - Weiter hieß es: Problematischer sei aber, dass mit der Verschiebung die Zweifel an der rentenpolitischen Standhaftigkeit der SPD zunehmen. Wer einmal verschiebt, verschiebt auch ein zweites oder drittes Mal. ({11}) So viel zum Thema Planungssicherheit. ({12}) Ich komme zum Schluss. Grundsätzlich sollte man dieses Thema nicht auf die Rente reduzieren. Vielmehr geht es darum, dass wir die riesigen Herausforderungen, vor denen wir stehen - demografischer Wandel, Fachkräftemangel in einigen, wenn auch nicht allen Bereichen, ({13}) steigende Lebenserwartung bei gleichzeitig geringerer Lebensarbeitszeit -, bewältigen müssen. Die Rente mit 67 ist ein Faktor, den wir auf diesem Weg unbedingt brauchen. Außerdem spielen aber auch die Bildungspolitik, die Integrationspolitik und die Familienpolitik eine Rolle. ({14}) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit am heutigen Abend. ({15})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 28. Oktober 2010, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen einen schönen, insbesondere ruhigen Abend. Morgen könnte es etwas lebhaft werden. Die Sitzung ist geschlossen.