Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Einen schönen guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 28./29. Oktober 2010
in Brüssel und zum G-20-Gipfel am 11./12. November 2010 in Seoul
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP sowie je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Interfraktionell ist verabredet, in der Aussprache im
Anschluss an die Regierungserklärung eineinviertel
Stunden zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gemeinsam haben wir vor dreieinhalb Wochen den
20. Geburtstag des wiedervereinten Deutschlands gefeiert. Gemeinsam haben wir uns die Kraft der Freiheit in
Erinnerung gerufen, die es möglich gemacht hat, dass
wir heute mit all unseren Nachbarn in Freundschaft leben. Wir erleben die glücklichste Phase in der deutschen
Geschichte. Dafür sind wir unendlich dankbar.
({0})
Wir vergessen nie, dass dieses Glück unseres Landes
von der Geschichte der Europäischen Union nicht zu
trennen ist. In diesem Bewusstsein macht unsere Generation Politik für unser Land und für Europa; denn umgekehrt ist das europäische Einigungswerk ohne deutsche Beteiligung überhaupt nicht vorstellbar. Dessen
sollten wir uns nicht nur an Festtagen und Jubiläen bewusst sein, sondern auch im politischen Alltag.
Das heißt konkret: Unser sozialer und wirtschaftlicher
Erfolg ist untrennbar mit der europäischen Entwicklung
verknüpft. Das macht es notwendig, dass sich alle Mitgliedstaaten gemeinsamen Regeln unterwerfen. Denn
das Fehlverhalten Einzelner kann zu Verwerfungen für
alle führen; das haben uns die Krisensituation im Frühjahr in Griechenland und die Krise des Euro in erschreckender Weise vor Augen geführt. Diese Krise in Europa
war existenziell. Wir haben sie in den Griff bekommen,
aber das alleine reicht noch nicht. Ich sage Ihnen deshalb
ganz deutlich: Mein Ziel und das Ziel der Bundesregierung insgesamt ist, dass die Währung Europas, der Euro,
dauerhaft stabil ist.
({1})
Das hat mein Handeln im Frühjahr bestimmt, und das
bestimmt unser Handeln heute.
In meiner Regierungserklärung vom 19. Mai habe ich
hier gesagt - ich darf das wiederholen -:
Wir müssen zweierlei schaffen: die Bewältigung
der akuten Krisensituation zum einen und die Vorsorge für die Zukunft zum anderen.
Heute können wir festhalten: Bei der Bewältigung der
aktuellen Krise haben wir einen großen Schritt nach
vorne gemacht, gerade auch dank der ehrgeizigen Reformen und Sparmaßnahmen, die Griechenland, aber auch
andere Länder ergriffen haben.
Wir haben - wie Sie sich erinnern werden - gegen
großen Widerstand aus diesem Haus wie auch aus Europa auf Reformen und Sparmaßnahmen bestanden.
Heute weiß nun jeder, dass der Kurs der Regierung der
einzig richtige war.
({2})
Auf speziellen Wunsch nehme ich die Linke aus.
({3})
Redetext
Ansonsten weiß es ganz Europa. Aber, bitte schön, wenn
Sie nicht dabei sein wollen, können wir das ausdrücklich
festhalten.
({4})
Ich habe damals gefordert: Wir brauchen eine Stabilitätskultur in ganz Europa. Heute kann ich feststellen:
Fast alle EU-Länder haben sich unserem energischen
Konsolidierungskurs angeschlossen. Dieser Kurs war
und ist unumgänglich und muss unter allen Umständen
fortgesetzt werden; denn noch - das ist die Wahrheit - ist
nicht ausgemacht, dass Europa wirklich dauerhaft gestärkt aus dieser Krise hervorgeht. Noch ist nicht ausgemacht, dass wir tatsächlich Vorsorge für die Zukunft
treffen. Noch stehen weitere entscheidende Schritte aus.
Wir müssen diese Schritte unternehmen, und zwar nicht
irgendwann, wenn Europa das Wasser wieder bis zum
Halse steht, sondern jetzt. Dazu bin ich fest entschlossen.
({5})
Der Europäische Rat morgen und übermorgen ist von
größter Bedeutung. Wir müssen die richtigen Lehren aus
der Krise ziehen, verhindern, dass neue Krisen entstehen, und die Wirtschafts- und Währungsunion langfristig
auf ein stabiles Fundament stellen. Deutschland und
Frankreich haben auf dem Weg zu diesem Ziel in der
vergangenen Woche gemeinsam Führung übernommen.
Es ist wahr: Eine deutsch-französische Einigung ist nicht
alles in Europa. Aber wahr ist auch: Ohne eine deutschfranzösische Einigung wird vieles nichts. Das gilt auch
in diesem Fall.
({6})
Deshalb ist es von großer Bedeutung, dass sich
Deutschland und Frankreich in einigen entscheidenden
Punkten einig sind: erstens darüber, dass wir die Stabilitätsregeln in der Währungsunion verschärfen wollen, um
rascher auf unverantwortliches Verhalten einzelner Mitgliedstaaten reagieren zu können, und zweitens darüber,
dass wir jetzt Vorsorge für mögliche zukünftige Krisensituationen treffen wollen, um die Stabilität der EuroZone langfristig zu sichern.
({7})
Zum ersten Schwerpunkt, also zur Verschärfung der
haushalts- und wirtschaftspolitischen Überwachung in
Europa, um künftige Krisensituationen nach Möglichkeit zu verhindern: Dazu wollen wir morgen im Europäischen Rat den Abschlussbericht der Arbeitsgruppe unter
Vorsitz des Präsidenten des Europäischen Rates, Herman
Van Rompuy, annehmen. Deutschland hat die Einsetzung dieser Gruppe im März 2010 durchgesetzt; das
waren wir gemeinsam. Deutschland hat durch die exzellente Arbeit von Finanzminister Schäuble die Beratungen mit wichtigen Vorschlägen geprägt, und Deutschland hat dafür gesorgt, dass durch die Einigung mit
Frankreich der Weg für einen Konsens in der Gruppe
insgesamt möglich wurde.
({8})
Ich sage ganz klar: Das Ergebnis kann sich sehen lassen.
({9})
Schon heute ist sicher: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt erhält deutlich mehr Biss, um eine stabilitätsgefährdende Politik einzelner Euro-Staaten zu verhindern.
({10})
Ich will drei Beispiele dafür nennen: Erstens. Sanktionen werden künftig früher und schneller verhängt. Sie
werden viel früher einsetzen als bisher, und zwar präventiv, bei schweren Fehlentwicklungen schon bevor ein
Mitgliedstaat die Defizitgrenze von 3 Prozent verletzt.
Das gibt es heute überhaupt nicht. Das ist vollkommen
neu. Die Sanktionen werden automatisiert, und zwar sowohl bei dem sogenannten präventiven Arm, von dem
ich eben gesprochen habe, als auch beim Defizitverfahren selbst. Das heißt, eine Sanktion kommt, wenn der
Rat nicht mit qualifizierter Mehrheit widerspricht.
({11})
Damit werden die politischen Hürden für Sanktionen
deutlich verkleinert. Nichts anderes versteht auch die
Europäische Kommission unter automatischen Sanktionen.
Zweitens. Ab jetzt wird der Schuldenstand eine herausragende Rolle spielen. Bislang mussten Mitgliedstaaten nur auf die Defizitgrenze von 3 Prozent achten.
Allein wegen eines Schuldenstandes von mehr als
60 Prozent musste niemand ein Verfahren befürchten.
Künftig gilt: Ab einem Schuldenstand von über
60 Prozent wird ein Defizitverfahren eingeleitet, wenn
der Mitgliedstaat den Schuldenstand nicht hinreichend
abbaut. Das ist ein großer Fortschritt; denn die größten
Gefahren für die Stabilität der Euro-Zone gehen von exorbitant hohen Schuldenständen einiger Mitgliedstaaten
aus. Ein Defizit unter 3 Prozent ist bei schwachem
Wachstum leider keine Garantie dafür, dass der Schuldenstand nicht völlig aus dem Ruder läuft. Genau das
wird jetzt geändert.
({12})
Drittens werden wir - das ist auch der Ausdruck dessen, dass wir in Zukunft als Wirtschaftsregierung im Rat
arbeiten - nicht mehr zusehen, wenn Mitgliedstaaten
durch falsche Politik ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit
untergraben.
({13})
Hier wird es künftig Sanktionen geben - das ist ein völlig neuer Ansatz -; denn die Krise hat gezeigt: Durch falBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
sche Wirtschaftspolitik können massive Strukturprobleme entstehen.
({14})
- Herr Trittin, auch wenn Sie gerne hätten, dass wir
damit gemeint sind, ist der Eindruck in Europa im Augenblick nicht, dass Deutschland eine falsche Wirtschaftspolitik macht, schon gar nicht eine falsche Arbeitsmarktpolitik.
({15})
So ist die Lage nun einmal. Auch Ignoranz ändert nichts
daran.
Meine Damen und Herren, auf diese Maßnahmen haben sich die Finanzminister und die Europäische Kommission in der Van-Rompuy-Arbeitsgruppe einvernehmlich verständigt. Mit ihnen verschärfen wir die
Stabilitätsregeln der Wirtschafts- und Währungsunion.
Mit ihnen wollen wir verhindern, dass neue Krisen überhaupt entstehen können. Mit ihnen allein sind wir aber
immer noch nicht am Ziel; denn auch mit den schärfsten
Stabilitätsregeln können wir noch nicht zu 100 Prozent
ausschließen, dass es eines Tages wieder zu einem extremen Krisenfall kommt, der die Stabilität der Euro-Zone
insgesamt gefährdet.
Wenn das so ist, dann müssen wir den Tatsachen ins
Auge sehen. In diesem Fall kann es nur eine Konsequenz
geben, was mich zu meinem zweiten Schwerpunkt führt:
Wir müssen heute Vorsorge zur Bewältigung künftiger
Krisensituationen treffen. Dazu brauchen wir - das ist
die Überzeugung der Bundesregierung sowie der Koalitionsfraktionen - einen neuen, robusten Krisenbewältigungsrahmen für Notfälle. Nur so können wir die Stabilität der Euro-Zone dauerhaft sichern.
Das kann nicht irgendein Krisenbewältigungsrahmen
sein. Ein neues Wort alleine hilft da wenig. Vielmehr
muss der neue Krisenbewältigungsrahmen rechtlich unangreifbar sein, das heißt ohne Wenn und Aber, klipp
und klar: Gelingen wird das nur mit einer Änderung der
europäischen Verträge. Diese Änderung benötigen wir.
Wir sind bereits so weit, dass sich Deutschland und
Frankreich darin einig sind. Das hätten viele, wenn nicht
fast alle von Ihnen noch vor einem halben Jahr für unmöglich gehalten.
({16})
Wir sind aber so weit. Deutschland und Frankreich
sind hierüber einer Meinung. Damit haben wir einen ersten, großen Schritt geschafft. Diesem müssen wir jetzt
natürlich den zweiten folgen lassen. Dabei handelt es
sich um eine Einigung in ganz Europa über die Notwendigkeit von Vertragsänderungen. Ich mache mir gar
keine Illusionen. Das durchzusetzen, wird schwer genug.
Deshalb wird es aber noch lange nicht weniger notwendig, und zwar im Sinne des Wortes „not-wendig“.
Warum? Die Antwort liegt auf der Hand. Wir müssen
das jetzt anpacken, weil der derzeitige Rettungsschirm,
der aus einer unerwarteten Notsituation entstanden ist,
nur ein provisorischer ist. Er läuft 2013 aus. Das haben
wir auch genau so gewollt und beschlossen. Eine einfache Verlängerung kann und wird es mit Deutschland
nicht geben,
({17})
weil der Rettungsschirm nicht als langfristiges Instrument taugt, weil er Märkten und Mitgliedstaaten falsche
Signale sendet und weil er eine gefährliche Erwartungshaltung fördert. Er fördert die Erwartungshaltung, dass
Deutschland und andere Mitgliedstaaten und damit auch
die Steuerzahler dieser Länder im Krisenfall schon irgendwie einspringen und das Risiko der Anleger übernehmen können.
Das war für die Abwendung der akuten Krise in diesem Jahr unvermeidbar. Mit wirklicher Vorsorgepolitik
hat das aber wenig bis gar nichts zu tun. Deshalb müssen
wir das ändern. Der jetzige Rettungsschirm darf nicht
der Referenzfall für die Zukunft sein. Stattdessen brauchen wir einen Mechanismus, bei dem in einem transparenten, nachvollziehbaren Verfahren auch private Gläubiger beteiligt werden. Diese Forderung ist nicht neu.
Wir haben sie bereits im Mai in diesem Hohen Hause gemeinsam erhoben. Damals stand Deutschland in Europa
damit noch weitgehend allein. Nach dem Treffen von
Deauville unterstützt nun auch Frankreich unser Anliegen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle eines ganz klar sagen, damit es hier keine Missverständnisse gibt: Auch
künftig kann das Ergreifen geeigneter koordinierter bilateraler Maßnahmen nur Ultima Ratio sein, also letztes
Mittel, mit dem die Mitgliedstaaten die Finanzstabilität
im Euro-Raum insgesamt sichern. Frankreich und
Deutschland fordern noch eine weitere Maßnahme, und
zwar im Falle einer schwerwiegenden Verletzung der
Grundprinzipien der Wirtschafts- und Währungsunion
die Stimmrechte des betroffenen Mitgliedstaates aussetzen zu können. Auch das ginge nicht ohne eine Änderung der Verträge. Ich weiß, dass eine Aussetzung der
Stimmrechte bei vielen unserer europäischen Partner
aufgrund der damit verbundenen Kompetenzänderung
auf Widerstand stößt. Ich nehme das sehr ernst. Aber ich
ergänze: Wer das ablehnt, muss überzeugend darlegen
können, dass er bei einer schwerwiegenden Verletzung
der Grundprinzipien der Wirtschafts- und Währungsunion nicht allein auf das Prinzip Hoffnung setzt, also
darauf, dass sich die Einsicht zur Besserung schon irgendwie durchsetzen wird. Das wäre grob fahrlässig; wir
würden uns nur in die Tasche lügen. Das zu vermeiden,
sollte unser gemeinsames Ziel sein.
({18})
Fassen wir zusammen: Ich werde morgen und übermorgen auf dem Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs darauf drängen, dass Präsident Van Rompuy
einen präzisen Auftrag des Europäischen Rates erhält, auf
dessen Basis er in enger Abstimmung mit den Mitgliedern des Europäischen Rates Vorschläge für die erforderlichen, eng begrenzten Vertragsänderungen und konkrete
Optionen für einen auf Dauer angelegten robusten Krisenbewältigungsrahmen entwickeln und spätestens bis
zum März 2011 dem Europäischen Rat vorlegen kann.
Ich sage für die Bundesregierung und unser Land unmissverständlich: Für mich sind die Zustimmung zum Bericht
der Van-Rompuy-Arbeitsgruppe und ein präziser Auftrag
an Herman Van Rompuy nicht voneinander zu trennen.
Sie sind ein Paket.
({19})
Wir alle wissen: Die Lösung muss bis zum Sommer
2013 rechtlich gültig sein. Das heißt, für die Bewältigung künftiger Krisen sind wir nur dann gewappnet,
wenn das der Fall ist. Deshalb sage ich: Obwohl das
noch lange hin zu sein scheint, ist nicht viel Zeit, um das
alles umzusetzen. Sie alle wissen: Ich war diejenige, die
während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 zusammen mit dem damaligen Außenminister Steinmeier
den Lissabon-Vertrag auf den Weg gebracht hat. Heute
bin ich diejenige, die zusammen mit unserem Außenminister Guido Westerwelle entschieden dafür eintritt,
({20})
dem schwierigen Weg einer Vertragsänderung nicht auszuweichen, sondern ihn mutig und entschlossen zu gehen.
({21})
Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern Europas
den Nachweis erbringen, dass sie aus der Krise die richtigen und notwendigen Lehren gezogen haben.
({22})
Nur weil sich viele vor dem natürlich beschwerlichen
Weg der Vertragsänderung fürchten, ist das noch lange
kein Argument gegen diesen Weg. Ich bin überzeugt:
Nur auf diesem Weg erreichen wir eine zweifelsfreie demokratische Legitimation für einen auf Dauer angelegten Krisenbewältigungsrahmen. Das ist das Ziel der
Bundesregierung.
Ich stehe dafür ein, dass Deutschland eine führende
Rolle dabei spielt, die gute Zukunft der Europäischen
Union zu sichern. Wir werden dafür nicht immer sofort
Beifall bekommen - das haben wir im Frühjahr erlebt -,
aber am Ende kommt es nicht auf den schnellen Beifall
an, sondern darauf, eine Mehrheit für unsere richtigen
Vorschläge zu gewinnen, von deren Bedeutung für eine
gute Zukunft Europas wir überzeugt sind. Daran arbeiten
wir, und dafür bitte ich um Unterstützung.
({23})
Der Europäische Rat morgen und übermorgen wird
sich auch mit dem kommenden G-20-Gipfel am 11. und
12. November dieses Jahres in Seoul befassen. Die Errichtung einer stabilen Finanzmarktarchitektur wird eines der zentralen Themen des G-20-Gipfels sein. Hier
darf ich einen Satz wiederholen, den ich im März 2009
inmitten der um sich greifenden Krise im Vorfeld des
G-20-Gipfels in London gesagt habe:
… Kooperation statt Abschottung. Das ist der einzige Weg, wieder zu Wachstum und zu Beschäftigung zu kommen.
Dieser Satz hat nichts von seiner Aktualität verloren.
Ich wiederhole ihn ganz bewusst mit Blick auf Begriffe
wie Währungskrieg, Abwertungswettlauf und Handelsprotektionismus, die derzeit in der internationalen Diskussion leider immer wieder zu hören sind.
Eine Debatte mit solchen Begriffen ist falsch. Sie ist
nicht nur politisch kurzsichtig; eine Debatte mit solchen
Begriffen blendet zudem die erzielten enormen Erfolge
bei der Krisenbekämpfung aus. Der Schlüssel dafür war
eine in dieser Intensität und Dichte niemals zuvor erreichte internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Die einzig erfolgversprechende Strategie für eine endgültige Überwindung der Krise sowie für dauerhaftes
Wachstum und mehr Beschäftigung in der Welt ist die
konsequente Fortsetzung dieses Weges.
Tatsache ist: Die G 20 hat sich mit der Finanzmarktkrise zum wichtigsten globalen Forum für wirtschaftspolitische Fragen entwickelt. Ohne die entschlossene
Umsetzung der dort gemeinsam vereinbarten Maßnahmen hätte sich die Weltwirtschaft nicht so schnell von
dem schärfsten wirtschaftlichen Einbruch in Friedenszeiten seit 80 Jahren erholt. Ohne das Drängen der G 20
wäre es auch nicht möglich gewesen, als Lehre aus der
Krise eine so umfassende Reformagenda für die internationale Finanzarchitektur aufzustellen, wie wir es getan
haben, und diese dann auch schrittweise abzuarbeiten.
Ohne Zweifel sehen wir schon heute: Europa hat deutliche Fortschritte gemacht, zum Beispiel bei der Aufsicht
über Manager von Hedgefonds und bei Beteiligungsgesellschaften; was die Beteiligungsgesellschaften angeht,
hat der Rat vorige Woche einen Durchbruch erzielt und
den Weg für eine rasche Einigung mit dem Europäischen
Parlament freigemacht. Weitere Beispiele sind die Stärkung der Finanzaufsicht in Europa, eine bessere Kontrolle der Ratingagenturen und neue Vergütungsregeln,
die Anreize für risikobewusstes Verhalten setzen. Damit
hat Europa zu unserem gemeinsamen Ziel, dass alle Finanzmärkte, alle Finanzmarktakteure und alle Finanzinstrumente einer angemessenen Aufsicht und Regulierung unterworfen werden, einen beachtlichen Beitrag
geleistet.
({24})
Aber das reicht noch nicht. Jetzt geht es darum, die
Arbeiten an einem stabilen neuen Rahmenwerk entschlossen fortzuführen, und zwar auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Die Regierungen dürfen
in der Zukunft nicht mehr gezwungen sein, mit Ad-hocRettungsmaßnahmen für private Verluste systemisch relevanter Banken vollumfänglich einzustehen. Deshalb
muss die Fähigkeit der Banken verbessert werden, solche
Verluste selbst zu tragen. Dafür brauchen wir eine StärBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
kung der Kapitalanforderungen für Banken. Hierzu hat
der Baseler Ausschuss quantitativ und qualitativ höhere
Kapitalstandards beschlossen - ein ganz wichtiger
Schritt. Wir müssen auch global abgestimmte Regeln
aufstellen, damit wir systemisch relevante Finanzinstitute in Krisenfällen grenzüberschreitend restrukturieren
oder abwickeln können, und zwar finanzmarktschonend
und möglichst ohne Belastung der Steuerzahler.
Deutschland wird sich bei dem bevorstehenden G-20Treffen in Seoul dafür einsetzen, dass wir bei diesem
wichtigen Thema vorankommen. Für Deutschland hat
die Bundesregierung bereits ein wichtiges Gesetzgebungsvorhaben zur Restrukturierung bzw. Abwicklung
von Banken auf den Weg gebracht. Dieser Gesetzentwurf ist in den parlamentarischen Beratungen und hat international Vorbildcharakter.
Die Europäische Kommission hat für Anfang 2011
Rechtsetzungsvorschläge angekündigt. Ich sage es ganz
unumwunden: Was die Beteiligung des Finanzsektors an
den Kosten der Krise betrifft, hätte sich die Bundesregierung mehr vorstellen können.
({25})
Wir hätten uns vorstellen können, dass es G-20-weit zu
einer einheitlichen Lösung kommt. Dazu ist leider kein
Konsens erzielt worden. Das ändert aber nichts daran,
dass wir an unserem Ziel festhalten. Es darf kein Weg
daran vorbeiführen, dass sich der Finanzsektor an den
Kosten der Krise beteiligt.
({26})
Er muss Vorsorge für eventuelle künftige Krisen treffen.
({27})
Deshalb unterstützt die Bundesregierung weiterhin die
Einführung einer Finanztransaktionsteuer,
({28})
zumindest, wenn sie global nicht umsetzbar ist, auf europäischer Ebene; so ist das.
({29})
- Meine Damen und Herren, auch Sie können nicht
ignorieren, dass es dafür bei der G 20 keine Mehrheiten
gab.
({30})
Eckpfeiler einer neuen globalen Finanzarchitektur ist
ein starker Internationaler Währungsfonds.
({31})
Wir haben daher auf den vorangegangenen G-20-Gipfeln beschlossen, die Rolle des IWF bei der Krisenprävention und bei der Krisenbekämpfung zu stärken.
Die G-20-Finanzminister haben am letzten Wochenende in Korea das Feld dafür bereitet, dass wir unsere
Reformziele in Seoul erreichen können. Im IWF werden
sich die veränderten Verhältnisse in der Weltwirtschaft
künftig stärker als heute widerspiegeln. Dynamische
Schwellenländer werden durch einen höheren Quotenanteil und mehr Sitze im Exekutivdirektorium stärker repräsentiert sein. Dieser Erfolg ist insbesondere den Europäern zu verdanken, die ihren Einfluss zugunsten einer
gerechteren Gesamtordnung im IWF etwas zurückgenommen haben.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich Wirtschaftsminister Rainer Brüderle für seine hervorragende Verhandlungsführung in Südkorea danken, als er Finanzminister Schäuble vertreten hat,
({32})
über dessen Hiersein ich mich heute besonders freue, genauso wie über das von Herrn Steinmeier.
({33})
Meine Damen und Herren, neben der Weiterführung
der Reformen auf den Finanzmärkten wird die weltweite
Stärkung der Wachstumskräfte der zweite Schwerpunkt
der Diskussionen in Seoul sein. Was können wir gemeinsam für ein nachhaltiges, starkes und ausgewogenes
Wachstum tun? Zunächst einmal müssen wir verstehen,
dass quantitative Ziele in Bezug auf die Leistungsbilanz
keine Lösung sein können. Leistungsbilanzsalden sind
Ausdruck von Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften und kommen durch Marktprozesse zustande,
und in diese darf an dieser Stelle nicht künstlich eingegriffen werden.
({34})
Zur Erreichung eines starken, nachhaltigen und ausgewogenen Wachstums ist es daher vielmehr erforderlich, die strukturellen Ursachen, die gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichten zugrunde liegen, in den Blick
zu nehmen und Wettbewerbsnachteile dauerhaft zurückzuführen. Wenn wir diesbezüglich auf Deutschland
schauen, dann wird klar, dass unser Land seiner internationalen Verantwortung als führende Wirtschaftsnation
gerecht wird. Wir haben zwei Konjunkturpakete im Umfang von zusammen rund 80 Milliarden Euro aufgelegt,
und wir haben weitere Maßnahmen ergriffen, um die
Nachfrage zu stärken. Damit haben wir den Abschwung
in Deutschland gestoppt.
Im Übrigen sind durch unsere Maßnahmen gegen die
Krise unsere Exporte in der Krise wesentlich stärker gesunken als die Importe. Deutschland hat damit einen
substanziellen Beitrag zur Stabilisierung der Weltwirtschaft geleistet, und dies werden wir auch weiterhin tun.
({35})
Inzwischen sind wir dabei, die Krise schneller als andere Länder zu überwinden.
({36})
Die aktuellen Zahlen und Daten sind beeindruckend.
({37})
Mit einem Wachstum von 3,4 Prozent in diesem und voraussichtlich 1,8 Prozent im nächsten Jahr gehört
Deutschland zu den Wachstumsmotoren in Europa. Ich
füge hinzu: Bei den Arbeitsplätzen zeigt sich das noch
deutlicher; denn wir können damit rechnen, dass wir
bald weniger als 3 Millionen Arbeitslose haben. Dies ist
in einer solchen Situation ein Riesenerfolg.
({38})
Auch die Investitionstätigkeit ist mittlerweile wieder
spürbar angestiegen. Wir können heute sagen: Es war
richtig, die Krise auch unter Inkaufnahme einer massiven
Verschuldung zu stoppen. Diesen Weg - daran werden
Sie sich erinnern - ist die Bundesregierung gegangen. Da
sich das als richtig erwiesen hat, wird es sich jetzt auch als
richtig erweisen, dass wir nun gegen die Verschuldung
vorgehen, und zwar genau jetzt, nicht früher, aber eben
auch nicht später. Bei einer Wachstumsrate von über
3 Prozent in diesem Jahr ist jetzt der richtige Zeitpunkt
dafür, mit der Konsolidierung zu beginnen.
Die zeitlich befristeten Maßnahmen im Rahmen der
Konjunkturpakete werden wie geplant zum Jahresende
auslaufen. Eine wachstums- und beschäftigungsorientierte Haushaltskonsolidierung ist eingeleitet. Dies liegt
genau auf der Linie, auf die sich die Staats- und Regierungschefs der G 20 im vergangenen Juni in Toronto
verständigt haben. Auch die Belebung des internationalen Handels spielt bei der Erholung der Weltwirtschaft
eine zentrale Rolle, und deshalb werden wir alles daransetzen - ich werde das auch in Seoul wieder auf die Tagesordnung bringen -, dass die Doha-Verhandlungen
endlich mit einem vernünftigen Ergebnis abgeschlossen
werden können; denn sie könnten zu einem wirklichen
Wachstumsimpuls für einen freien Welthandel führen.
Meine Damen und Herren, wir müssen natürlich eine
internationale Diskussion über angemessene Wechselkurse zwischen den weltweit bedeutendsten Währungen
sachlich und in kooperativem Geist führen. Ich sage allerdings: Der globale Aufschwung würde infrage gestellt, wenn wir verstärkte Verzerrungen der Wechselkurse in Kauf nehmen würden.
Ich bin überzeugt, Wechselkurse sollten mittelfristig
die fundamentalen Daten einer Volkswirtschaft widerspiegeln. Eine Politik, die auf Wechselkursverzerrungen
zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit abzielt, muss
vermieden werden.
({39})
Denn bei einem Abwertungswettlauf verlieren am Ende
alle. Die schlimmen Erfahrungen in der Folge der Weltwirtschaftskrise in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts sollten uns allen eindringliche Mahnung sein, die
Fehler von damals nicht zu wiederholen. Wir haben in
dieser Krise vieles richtig gemacht; aber wenn wir jetzt
auf dem Weg raus aus der Krise Fehler von damals wiederholen würden, wäre das sehr schwierig und könnte
wirklich ganz falsche Effekte hervorrufen.
Wir sollten in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die zukünftige Schlagkraft der G 20 auch von
der Fähigkeit abhängt, eine Agenda für die nächsten
Jahre zu entwickeln und den kooperativen Ansatz, wie er
zur Bekämpfung in der Krisenzeit sichtbar geworden ist,
auf andere Themen zu übertragen. Deutschland wird hier
Frankreich in seiner kommenden G-20-Präsidentschaft
entschieden unterstützen.
Wir unterstützen auch den Vorschlag der koreanischen Präsidentschaft, die Entwicklungspolitik in der
Agenda der G 20 zu verankern: zum einen, weil wir als
entwickelte Industrieländer unsere humanitäre Gesamtverantwortung kennen, aber zum anderen auch, weil sich
die G 20 bewusst ist, dass die internationale Staatengemeinschaft ihre Ziele nur erreichen kann, wenn es nachhaltige Fortschritte in den Entwicklungsländern selbst
gibt.
Meine Damen und Herren, auf der Tagesordnung des
Europäischen Rates wird fünf Wochen vor dem Beginn
der UN-Klimakonferenz in Cancún selbstverständlich
auch der internationale Klimaschutz stehen. Auch wenn
er hier heute - wie auch in Brüssel und Seoul - wahrscheinlich nicht im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen wird, so hat Klimaschutz nichts von
seiner Dringlichkeit verloren. Im Gegenteil, Deutschland
steht unmissverständlich zum Ziel eines neuen umfassenden Klimaübereinkommens unter dem Dach der Vereinten Nationen.
Es ist leider wahr: Cancún wird noch nicht den entscheidenden Durchbruch und das umfassende Klimaschutzabkommen bringen.
({40})
Aber wahr ist auch: Gerade dieser Konferenz zwölf
Monate nach Kopenhagen kommt dahin gehend eine Bedeutung zu, dass gezeigt werden kann, dass wichtige
Fortschritte beim Aufbau der internationalen Klimaschutzarchitektur und bei der Umsetzung konkreter Klimaschutzmaßnahmen möglich sind.
({41})
In diesem Sinne wird sich die Europäische Union für ein
möglichst umfassendes und ehrgeiziges Ergebnis in
Cancún einsetzen. Deutschland unterstützt das nach
Kräften.
({42})
Meine Damen und Herren, die politischen Prioritäten,
die die Bundesregierung mit Blick auf den Europäischen
Rat und den G-20-Prozess verfolgt, sind ehrgeizig. Sie
umzusetzen, erfordert unseren ganzen Einsatz. Rückschläge kann auch niemand ausschließen. Aber wenn
wir mutig vorangehen, dann hat das für Europa immer
Fortschritte gebracht. Und so wird es auch dieses Mal
sein, wo sich so viele vor einer Änderung der europäischen Verträge scheuen. Doch nichts muss so bleiben,
wie es ist. Das galt schon immer, und Veränderungen
zum Besseren sind immer möglich, auch wenn der Weg
steinig und mühsam ist. Mit dieser Haltung werde ich in
Brüssel und Seoul dafür werben, dass Europa und die
G 20 die Weichen richtig stellen. Und so werden wir einen wichtigen Beitrag für die Zukunft unseres Kontinents und der G 20 leisten.
Herzlichen Dank.
({43})
Den nächsten Redner begrüße ich mit einem herzlichen Willkommen zurück. Frank-Walter Steinmeier hat
das Wort für die SPD-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Es ist tatsächlich so: Ich
bin froh, wieder da zu sein.
({0})
Frau Präsidentin, erlauben Sie mir einige Worte vorweg: Ich habe ganz ehrlich nicht damit gerechnet, dass
sich so viele aus diesem Kreis partei- und fraktionsübergreifend in den letzten Wochen bei mir gemeldet haben.
Sie haben mir geschrieben, mit mir telefoniert, ihre Anteilnahme bekundet und mir Zuspruch und Genesungswünsche übermittelt. Dafür möchte ich Ihnen wie auch
für Ihre herzlichen Willkommensworte, Frau Präsidentin
und Frau Bundeskanzlerin, von dieser Stelle aus herzlich
danken.
({1})
Ich freue mich aber nicht nur selbst, dass ich wieder
hier sein kann, sondern ich freue mich auch darüber,
dass wir Herrn Schäuble wieder unter uns haben. Herr
Schäuble, von mir persönlich, von meiner ganzen Fraktion und sicherlich von allen im Hause alle guten Wünsche für Ihre Gesundheit!
({2})
Was ich zu Herrn Schäuble gesagt habe, gilt über alles
Ringen um richtige Politik hinweg. Aber zum Ringen
und zum guten Ton dieses Hauses gehören auch die Debatte, der Streit um Positionen und auch deutliche Kritik,
wo Anlass dazu besteht. Den haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, und die Bundesregierung in den letzten Tagen
und Wochen auch in der Europapolitik reichlich geboten.
Vor dem bevorstehenden europäischen Gipfeltreffen
bietet die Koalition leider das gewohnte Bild. Wenn Sie,
Frau Bundeskanzlerin, morgen in Brüssel mit den anderen am Tisch sitzen, dann wissen alle Ihre Kollegen dort
schon, was am Wochenende hier in Berlin los war: offener Streit zwischen Kanzlerin und Vizekanzler und heftige Vorwürfe aus der Unions- und FDP-Fraktion. Von
scharfer Kritik der CSU im Europaparlament war zu lesen, und es gab gegenseitige Schuldzuweisungen von allen Seiten. Glaube doch bitte keiner, das merke man nur
in Berlin. Was ist das für ein trauriges Bild, mit dem
diese Bundesregierung nach Brüssel fährt!
({3})
Und das in einer Zeit - das will ich ausdrücklich sagen -,
in der die Welt wieder positiv auf Deutschland blickt und
Deutschland durchaus wieder Wirtschaftslokomotive in
Europa ist.
Wenn jetzt die Zahl der Arbeitslosen in der Tat unter
3 Millionen sinkt, Frau Merkel, dann ist das ein Erfolg
- das sehen wir auch so -, zu dem viele im Land beigetragen haben, nur einem wird er offenbar nicht zugeschrieben, nämlich dieser Bundesregierung. Und das hat
Gründe.
Angekündigt haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, einen
Herbst der Entscheidungen. Offensichtlich hört keiner
genau hin, wenn Sie das sagen. Jedenfalls ist die Sommerpause schon lange vorbei, und es geht so weiter, wie
es vor der Sommerpause geendet hat. Ich sehe keinen
Herbst der Entscheidungen, sondern einen Herbst von
neuer Missgunst und neuem Streit. Die Koalitionspartner streiten sich weiter wie die Kesselflicker. Auch in
Brüssel hält man sich mittlerweile genervt die Ohren zu.
So sieht das Bild gegenwärtig aus. Es stellt sich leider
nicht in den schönen rosaroten Farben dar, wie Sie sie
uns eben aufgezeigt haben, Frau Bundeskanzlerin.
({4})
Wenn wir nach den Ursachen fragen, dann stellen wir
fest, dass die Ursache für die ohrenbetäubende Kakofonie, die wir am Wochenende wieder gehört haben, wahrhaftig nicht bei der Opposition liegt und sicherlich nicht
bei der SPD. Sie wissen, Frau Merkel: Wir Sozialdemokraten stehen für eine verantwortliche Europapolitik.
({5})
Sie wissen auch, dass Sie unsere Zustimmung zu den
Griechenland-Hilfen und dem Euro-Rettungsschirm hätten bekommen können. Sie wissen das, aber Sie hatten
weder Kraft noch Mut, Ihren eigenen Leuten beizubringen, dass auch die Finanzmärkte ihren Beitrag zur Bewältigung der Krise leisten müssen.
({6})
Das müssen sie, weil die normalen Steuerzahler es
schlicht nicht mehr ertragen, dass die Belastungen am
Ende immer nur bei ihnen abgeladen werden.
Für mich und meine Fraktion - das sei hier noch einmal klargestellt - bleibt es dabei: Wir werden uns nicht
davon abbringen lassen, dass diejenigen, die in und an
der Finanzkrise Milliarden verdient haben, auch zahlen.
Wir streiten weiter mit aller Kraft und Energie für die finanzielle Beteiligung der Finanzmärkte. Deshalb sage
ich noch einmal: Die Finanzmarkttransaktionsteuer war
vernünftig und ist vernünftig. Sie ist notwendig, und
- ich bin sicher - sie muss und sie wird auch kommen,
allen momentanen Widerständen, die es gibt und die ich
sehe, zum Trotz, meine Damen und Herren.
({7})
Wenn Sie die Signale im Vorfeld dieser Debatte und
des Gipfels einmal genau analysieren, zeigt sich doch:
Mit ein wenig Anstrengung, mit ein wenig Geschick hätten Sie weit mehr als nur die eigenen Koalitionsfraktionen auf Ihrer Seite. Wir wollen auch nicht, dass sich eine
so gefährliche Situation wiederholt, wie Sie sie eben geschildert und wie wir sie alle im Frühjahr erlebt haben.
Viele hier, auch die SPD, streiten für einen vernünftigen
Frühwarnmechanismus, für einen wirksamen Stabilitätspakt. Über manches Instrument lässt sich diskutieren
und müssen wir auch diskutieren. In der Grundhaltung
gibt es doch zwischen vielen von uns keinen völlig unüberwindlichen Streit. Aber so, wie Sie, Frau Bundeskanzlerin, in den letzten Monaten und Wochen Europapolitik betrieben haben, so geht das nicht und so können
wir das nicht durchgehen lassen. Ich sage gleich, warum.
({8})
Angefangen hat das im Grunde genommen - daran
erinnern wir uns doch alle miteinander - schon in der
Griechenland-Krise. Wochen- und monatelang, noch bis
kurz vor dem Tag der Entscheidung, haben im Frühjahr
große Teile der Regierung und auch Sie selbst, Frau
Merkel, beteuert: Keine Hilfen für Griechenland! Manche haben Sie sogar dafür gefeiert, und Sie haben es geschehen lassen. Aus Angst und wahrscheinlich obwohl
Sie wussten, was am Ende kommen würde, hat die Regierung den Menschen die Wahrheit vorenthalten und
damit den Großteil der EU zunächst einmal gegen sich
aufgebracht. Und was war das Ergebnis? Am Ende
wurde hier im Hause das ganze Programm fast ohne Diskussionsmöglichkeiten in den Ausschüssen durchgepeitscht. Das war alles nicht notwendig und hat das Vertrauen nicht gestärkt.
Damit wären wir zum überwiegenden Teil vielleicht
noch klargekommen, weil die Griechenland-Hilfe eine
Nothilfe war. Das Finanzministerium hatte hier von diesem Pult aus ja auch gesagt: Seien Sie sicher, das ist das
Letzte, was in diesem Hause dazu debattiert und beschlossen werden muss.
Dann kam das Mai-Wochenende; Sie erinnern sich
alle. Nachdem zugesichert worden war: „Da kommt
nichts mehr“, sind Sie - offensichtlich ohne Vorbereitung durch die europäischen Kollegen, auch ohne Vorbereitung durch Paris - nach Brüssel gefahren und kamen
dann - Wunder und Überraschung! - mit einem EuroRettungsschirm in Höhe von 440 Milliarden Euro im
Gepäck wieder zurück. Auch da wurde das Parlament
wieder vor vollendete Tatsachen gestellt. Zweimal sozusagen dasselbe Schauspiel: Erst dicke Backen aufgeblasen, bis sie fast platzen, aber nach der Rückkehr aus
Brüssel fällt die ganze deutsche Position wie ein Soufflé
in sich zusammen. Erst Rücksicht nehmen auf die Innenpolitik, auf umstrittene Positionen in der eigenen Koalition, und dann folgt das Einknicken vor der europäischen Realität.
Wer immer wieder nach diesem Muster handelt - und
das droht doch jetzt auch hier -, der schädigt am Ende
nicht nur die europapolitische Position Deutschlands und
seine eigene Position gegenüber der deutschen Bevölkerung, der schädigt auch das Ansehen der Deutschen und
der deutschen Regierung in Brüssel. Und das will ich
nicht, meine Damen und Herren.
({9})
Ich bin an dem Punkt auch deshalb sehr energisch, weil
ich befürchte, dass es jetzt nach demselben Muster wie
bei der Griechenland-Hilfe und beim europäischen Rettungsschirm abläuft und auf ein ähnliches Ergebnis hinausläuft. Das könnte durchaus in einem europapolitischen Debakel für diese Regierung enden.
Wir haben doch jetzt schon die Hälfte Europas gegen
uns aufgebracht. Der Europäische Ratspräsident Van
Rompuy arbeitet - Sie haben das eben selbst gesagt seit vielen Wochen an konkreten Vorschlägen für eine
Reform des Stabilitätspaktes; ebenfalls die Kommission.
In Deauville ist nun der Eindruck entstanden, Sie und
Präsident Sarkozy wischen erst einmal beides vom Tisch
nach dem Motto: Die können das nicht, die haben nicht
die Kapazitäten. Viele EU-Staaten, bei denen Sie falsche
Hoffnungen geweckt hatten, laufen jetzt Sturm gegen
den Kuhhandel, der in Deauville stattgefunden hat, und
zwar gerade die kleineren Mitgliedstaaten und damit diejenigen Staaten, Herr Westerwelle, um die Sie sich doch
besonders kümmern wollten.
Ich bin davon überzeugt und befürchte - ganz anders,
als Sie eben vorgetragen haben -, dass Deauville nicht
die Tür zu einer möglichen Verständigung aufgemacht
hat, sondern dass das Gegenteil eintreten wird und dieser
Deal von Deauville die Lage in Europa und Einigungsmöglichkeiten für die Zukunft noch wesentlich schwieriger gemacht hat. Das wird sich beweisen.
({10})
Es ist nämlich wieder dasselbe Muster. Sie treten mit
großen Ankündigungen an, aber dann kommt die europäische Realität.
Wo wir jetzt über den Stabilitätspakt und mögliche
automatische Sanktionen reden, will ich nur zitieren,
was Herr Schäuble am Wochenende gesagt hat - so war
es ja in der Presse zu lesen -: Nie habe es eine realistische Chance auf automatische Sanktionen gegeben. Wenn das so ist, Herr Schäuble, wenn Sie in dem Text,
den ich gelesen habe, einigermaßen richtig zitiert worden sind, dann stellen sich weitere Fragen. Wenn Sie davon überzeugt waren, dass automatische Sanktionen
nicht kommen werden: Wie ist es dann um die anderen
Dinge bestellt, um die wir im Augenblick streiten? Wie
ist es um die Vertragsänderungen bestellt, für die Sie um
Zustimmung des Hauses nachsuchen? Und erst recht
stellt sich die Frage: Warum sagt Herr Schäuble, wenn er
der Meinung ist, dass für automatische Sanktionen keine
Chance bestünde, das nicht vorher? Warum fragt man
sich nicht vorher, ob für den Entzug des Stimmrechts
eine Chance besteht und ob es überhaupt sinnvoll ist, das
Verhandlungspaket wieder aufzuschnüren? Zumindest
Transparenz müsste darüber hergestellt werden, ob Sie
selbst der Meinung sind, dass der Vorschlag, mit dem Sie
dort ins Rennen gehen, am Ende verhandlungsfähig ist
und eine Chance auf Erfolg hat.
Wenn man genau hinschaut - darum ging es offensichtlich auch ein bisschen in den Diskussionen in Ihrer
Fraktion -, dann stellt man fest: In Deauville ist
Deutschland in Wahrheit eher mit leeren Händen vom
Tisch aufgestanden. Frau Merkel, wenn ich die französische Position richtig deute, dann hatte
erstens möglichst keine automatischen Sanktionen einzuführen, die auch Frankreich treffen können, zweitens den unliebsamen und etwas zu unabhängigen Ecofin-Rat möglichst weit einzuhegen und
drittens den Deutschen das Angebot zu machen, die Vertragsänderungen zu unterstützen, wohl wissend, dass andere dagegen streiten werden und Frankreich diese Rolle
gar nicht übernehmen muss. Das ist ein ganz wunderbares Ergebnis.
({0})
Nur, beglückwünschen kann ich Sie dazu nicht, liebe
Frau Merkel.
Wer sich in den europäischen Dingen ein bisschen
auskennt, muss befürchten, dass man sich im Élysée angesichts dieses Ergebnisses ein wenig die Hände gerieben hat. Ich selbst weiß, wie schwierig es ist, im internationalen Geschäft Vereinbarungen zu erringen. Deshalb
lasse ich mir auch nicht vormachen, das Ergebnis von
Deauville sei am Ende ein riesiger Erfolg für Deutschland gewesen.
({1})
Damit wir uns nicht missverstehen: Auch wir, die
SPD, sind für einen wirksamen Frühwarnmechanismus.
Auch wir sind für glaubwürdige Sanktionen gegen notorische Defizitsünder. Aber genau das scheint mir durch
den Alleingang, den ich Ihnen eben geschildert habe, gefährdet zu sein. Sie sind mit unhaltbaren Maximalforderungen losgerannt und haben diese gegen wenig belastbare Zusagen eingetauscht. Sie sind sozusagen als Hans
im Glück gestartet und versuchen nun, das, was Sie mitgebracht haben, als Goldklumpen zu verkaufen. Das
funktioniert nicht. Das nimmt Ihnen jedenfalls die SPDFraktion nicht ab, Frau Bundeskanzlerin.
({2})
Frau Merkel, was wird eigentlich aus der Zusicherung
- das ist ja Ihre Position -, dass sich so etwas wie die
Griechenland-Hilfe nicht wiederholen darf? Sie haben
immer wieder beteuert und auch hier zum Ausdruck gebracht, dass sich nach den drei Jahren die Geltungsdauer
des Rettungsschirms auf keinen Fall verlängern soll.
Wenn man sich anschaut, was die deutsch-französische
Erklärung dazu enthält, dann findet man genau vier Zeilen. Was wird darin dazu gesagt? Es sollen geeignete
Maßnahmen ergriffen werden. - Was ist damit eigentlich
gemeint? Was passiert eigentlich, wenn nach drei Jahren
keine Vertragsänderung in Kraft getreten ist und dann
einzelne Spekulanten, wie wir im Frühjahr erlebt haben,
wieder beginnen, gegen den Euro zu zocken? Was tun
Sie konkret, damit in Zukunft eben auch private Gläubiger
- auch darüber haben wir in diesem Hause gestritten bei der Umschuldung von schwer verschuldeten Staaten
zur Kasse gebeten werden?
Solange das nicht klar gesagt wird und solange darüber nicht hier im Hause debattiert und meinetwegen
auch gestritten werden kann, bleiben solche wolkigen
Sätze doch nichts als leeres Gerede. Es darf jedenfalls
nicht passieren, dass der Gipfel in Brüssel und das, was
danach kommt - das wünschen wir uns für Deutschland
in gar keinem Fall -, zu einem erneuten europapolitischen Reinfall wird.
({3})
Nun jubelt die Bundesregierung, dass die Krise vorbei
ist. „Aufschwung XXL“ - das lässt Herr Brüderle im
Augenblick plakatieren bzw. bundesweit in Anzeigen
verlauten. Für viele Betriebe stimmt das mit dem Aufschwung. Es trifft nur nicht auf die Stärkung des Stabilitätspakts und es trifft auch nicht auf die Regulierung der
Finanzmärkte zu. Anders gesagt, Herr Brüderle: Da sind
wir eher bei der Größe S, und das ist bekanntlich den
meisten, von uns jedenfalls, zu knapp.
({4})
Auf den Finanzmärkten geht es im Grunde genommen zu wie vor der Krise: Banken und Investmenthäuser
peitschen Renditeziele hoch. 144 Milliarden Euro an
Boni werden in diesem Jahr an der Wall Street ausgeschüttet. Der Handel mit Derivaten, so war dieser Tage
zu lesen, blüht wie nie zuvor. In der Finanzwelt geht alles so weiter. Die Politik dagegen, gegen diese Praxis
und gegen diese Auswüchse, ist aus meiner Sicht nach
wie vor ohne Überzeugung, ohne Zähne und vor allem
ohne wirklich notwendige Konsequenz. Auch daran
trägt diese Bundesregierung Mitschuld. Das ist die traurige Wahrheit.
({5})
Die SPD-Fraktion und auch ich wissen: Natürlich
können wir von deutscher Seite aus nicht alles im Alleingang erreichen. Aber gerade wenn wir uns gegenseitig
ein bisschen ernst nehmen, dann wissen wir auch: Wenn
man schon nicht alles im Alleingang erreichen kann,
dann kommt es darauf an, dass man deutliche Signale
setzt und ein klares Auftreten, auch gegenüber dem Ausland, an den Tag legt. Genau daran fehlt es. Das will ich
Ihnen an der Finanzmarkttransaktionsteuer noch einmal
klarmachen.
Vonseiten der Bundesregierung tun Sie so, als seien
Sie im Prinzip dafür. Es waren sogar entsprechende Erträge in Ihre mittelfristige Finanzplanung eingestellt;
2 Milliarden Euro jährlich ab 2012. Herr Schäuble hat
dann aber auf einer Veranstaltung des CDU-Wirtschaftsrates gesagt, wie ich gelesen habe, er sei kein Freund
dieses Instruments. Das wird natürlich am nächsten Tag
in allen Hauptstädten Europas genüsslich vernommen.
Nicht nur das: Herr Schäuble soll sogar gesagt haben,
diese Steuer sei gar nicht auf seine Initiative in das Konsolidierungskonzept der Regierung aufgenommen worden. Das alles sind natürlich Signale, die in Europa verstanden werden. Es ist genau dieser Unernst, diese
Unentschiedenheit, mit denen die gegenwärtige Koalition das Vertrauen eben nicht nur in Deutschland, sondern, wie ich befürchte, auch in Europa verspielt.
Das gilt zum Beispiel auch für die Frage der Kohlebeihilfen; ich führe das noch an, weil es in dieses
Schema passt. Da hat es am Wochenende offenbar eine
Einigung gegeben, die ich begrüße.
({6})
- Ja, darauf wollte ich zu sprechen kommen. - Wir haben jedoch durch diese internen Streitigkeiten drei Monate verloren. Jetzt hat Herr Brüderle, wie ich lese, anscheinend beigedreht, ist aber, wie ich höre, nicht bereit,
diese Einigung in Brüssel zu vertreten. So machen wir
uns, meine Damen und Herren, bei unseren Partnern lächerlich, und das darf nicht unsere Rolle in Brüssel sein
und werden.
({7})
Herr Kollege, kommen Sie zum Ende, bitte.
Ja, ich komme zum Ende.
Meine Damen und Herren, Europa ist in keiner guten
Verfassung; das spüren Sie alle. Das sage ich weiß Gott
nicht nur mit Blick auf die Haushaltsdefizite in den meisten Mitgliedstaaten. Das hat mit vielem zu tun, auch damit, dass der Gründungsmythos Europas bei der jungen
Generation offenbar nicht mehr ausreichend trägt. Das
hat damit zu tun, dass die Entscheidungsprozesse in Europa nach wie vor zu schwerfällig, zu wenig transparent
sind. Das hat auch damit zu tun, dass sich europäisches
Engagement von Regierungen häufig nicht entsprechend
lohnt. Aber ich stelle eben auch eine Unterströmung in
der europäischen Diskussion fest, bei der vor allen Dingen große Mitgliedstaaten verdächtigt werden, europäische Politik schon langsam wieder in nationale Hände zu
übernehmen. Renationalisierung ist das Stichwort, ein
Verdacht, der leider gelegentlich auch uns trifft.
Herr Kollege!
Ich halte das für den falschen Weg, und ich bin mir sicher, das tun alle hier im Hause. Wir brauchen gerade
mit Blick auf die Konsequenzen der Wirtschafts- und Finanzkrise nicht weniger Europa, sondern wir brauchen
entschieden mehr Europa. Dafür müssen wir eintreten,
meine Damen und Herren.
({0})
Frau Präsidentin, ein letzter Satz.
Ein allerletzter.
Es mag manchmal beschwerlich sein, für Stabilität
und Solidarität, für deutsch-französische Kooperation
auf der einen Seite und für ein gutes Verhältnis zu den
kleinen Mitgliedstaaten auf der anderen Seite zu sein;
aber genau das zu schaffen, das auszubalancieren, das
war immer die Kunst deutscher Europapolitik. Diese
Kunst scheint dieser Regierung ein Stück weit verloren
gegangen zu sein.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({0})
Birgit Homburger hat jetzt für die FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mich zunächst an Sie wenden, Herr
Steinmeier. Sie haben gerade Ihre Redezeit um ungefähr
so viele Minuten überzogen, wie ich überhaupt zur Verfügung habe.
({0})
Das zeigt, dass Sie wieder fit sind und dass Sie offensichtlich auch von der Präsidentin nicht zu stoppen sind.
Wir freuen uns, dass Sie wieder fit zurück sind, so wie
wir uns auch darüber freuen, dass Herr Schäuble wieder
gesund bei uns ist.
({1})
Jede Krise birgt eine Chance, und diese Chance müssen wir konsequent nutzen. Die Maßnahmen, die wir bisBirgit Homburger
her getroffen haben und die heute auch schon angesprochen worden sind, beispielsweise bei der GriechenlandHilfe und beim Euro-Stabilisierungspaket, haben allerdings nicht die Ursachen beseitigt. Im Grunde haben wir
uns Zeit erkauft. Diese Zeit muss man jetzt nutzen.
Wenn man sich die Ursachen anschaut, dann kommt
man zum Schluss, dass kein Spekulant der Welt eine
Chance gehabt hätte, den Euro in Schwierigkeiten zu
bringen, wenn die Haushalte der Euro-Staaten in Ordnung gewesen wären.
({2})
Deshalb steht dies auch bei uns im Mittelpunkt.
Aber, Herr Steinmeier, da Sie in Ihrer Rede die Situation auf dem Finanzmarkt und die Boni angesprochen
haben, will ich deutlich sagen: In Ihrer Regierungszeit
ist in diesem Bereich nichts unternommen worden. Wir
haben eine Reihe von Maßnahmen zur Regulierung der
Finanzmärkte auf den Weg gebracht, und wir haben mit
dem Banken-Restrukturierungsgesetz auch eine Beschränkung der Boni auf den Weg gebracht. Diese Regierung, diese Koalition handelt im Gegensatz zu dem,
wie Sie sich verhalten haben.
({3})
Haushaltskonsolidierung ist das zentrale Stichwort für
die Stabilisierung des Euro. Deutschland hat hier auch
eine Vorbildfunktion. Wenn wir den Stabilitätspakt verschärfen und andere Länder auf eine solide Haushaltspolitik verpflichten wollen, dann müssen wir selber Vorbild sein. Wir brauchen eine neue Stabilitätskultur in
Europa. Diese darf eben nicht nur formal vorhanden
sein, sondern muss auch in den Köpfen der Regierungen
verankert werden. Wir brauchen klare, starke und eindeutige Vereinbarungen, um die unkontrollierte Schuldenpolitik zu beenden.
An dieser Stelle will ich auch sagen: Diese Maßnahmen wären nicht nötig, wenn nicht die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2005 aus Eigeninteresse dafür gesorgt hätte, dass der Stabilitätspakt auf europäischer
Ebene fahrlässig verwässert wurde. Wir kehren nun die
Scherben zusammen, die Sie seinerzeit gemacht haben.
Das ist nicht einfach, aber wir bemühen uns darum.
({4})
Das entspricht genauso wenig verantwortlicher Europapolitik wie Ihre Position, die Sie vorhin noch einmal
zum Ausdruck gebracht haben. Sie haben versucht, hier
den Eindruck zu erwecken, als ob Sie dem, was wir im
Frühjahr hier durch den Deutschen Bundestag gebracht
haben, gerne zugestimmt hätten. Sie hätten die Chance
dazu gehabt. Sie waren dazu eingeladen. Wir sind Ihnen
im Entschließungsantrag weit entgegengekommen. Sie
haben damals entschieden: Sie wollen sich daran nicht
beteiligen. - Das war unverantwortlich, und damit müssen Sie heute auch leben.
({5})
Die Vorschläge der EU-Kommission und der Taskforce
auf europäischer Ebene zeichnen ein Gesamtkonzept,
und ein genau solches Gesamtkonzept brauchen wir
auch. Zu diesem Gesamtkonzept gehört ein wirksames
Frühwarnsystem. Dazu gehören die Verbesserung der
Qualität der Zahlen sowie die Überprüfbarkeit der Zahlen,
die geliefert werden. Es gehören bessere Kontrollmöglichkeiten, aber eben auch mehr Sanktionsmöglichkeiten
dazu. Entscheidend ist, dass diese Sanktionsmöglichkeiten früher greifen und auch automatisch zum Einsatz
kommen müssen. Es ist das erklärte Ziel, dass es klare
Regeln mit möglichst wenig „politischem Rabatt“ gibt.
Das ist es, was wir wollen. Sie haben allerdings bezweifelt, dass das erreichbar ist. Ich finde, man muss dafür
kämpfen. Der G-20-Gipfel und die umfassenden IWFReformen haben klar gezeigt, dass wir international etwas bewegen können, und das wollen wir auch hier erreichen.
({6})
Entscheidend ist die Einführung eines dauerhaften
Krisenmechanismus. Das bedeutet nicht die Einrichtung
eines dauerhaften Fonds. Es bedeutet vielmehr, dass wir
für die Staaten Umschuldungsregeln entwickeln wollen,
die auch einen Verzicht der Gläubiger - auch der Privatgläubiger - auf Teile ihrer Forderungen beinhalten. Das
ist ganz zentral. Dies schafft im Grunde die Möglichkeit
der Insolvenz von Staaten. Hierfür ist eine Vertragsänderung notwendig, für die wir uns einsetzen.
({7})
Der Euro ist eine Erfolgsgeschichte. Er ist für die
wirtschaftliche Entwicklung Europas, aber gerade auch
für unser Land, für Deutschland, von zentraler Bedeutung. Deshalb muss alles dafür getan werden, den Euro
möglichst stabil zu machen. Wir wollen einen harten
Euro. Weiche Maßnahmen taugen dafür nicht, und deshalb muss auch hart verhandelt werden.
Es darf nicht dazu kommen, dass wir die Schulden anderer Länder bezahlen. Deshalb kämpft diese Koalition
für eine Stabilitätskultur in Europa und einen harten
Euro. Eine Umwandlung der Währungsunion in eine
Transferunion oder in eine Haftungsgemeinschaft kommt
für uns nicht infrage.
({8})
Dies bedeutet auch den Verzicht auf die Einrichtung eines dauerhaften Fonds für überschuldete Staaten, in dem
andere Staaten der Währungsunion oder auch die EU
Kredite oder Garantien bereitstellen müssen.
Eine Entfristung des gegenwärtigen Rettungspakets,
wie wir es verabschiedet haben, kommt für uns ebenfalls
nicht infrage, weil wir der Auffassung sind, dass wir alles dafür tun müssen, dass alle Euro-Mitgliedstaaten
Maßnahmen ergreifen, die auf Dauer die Sicherheit dafür bieten, dass der Euro stabil bleibt.
({9})
Auf dem Europäischen Rat wird jetzt ein Auftrag für
die weiteren Verhandlungen formuliert. Das Ziel sind
klare Stabilitätskriterien. Wir haben klare Erwartungen
an die Mitgliedstaaten. Wir wollen klare Sanktionsmöglichkeiten, und wir wollen, dass diese Sanktionsmöglichkeiten automatisch greifen. Darüber hinaus wollen wir
einen klaren dauerhaften Krisenmechanismus durch
Umschuldung, der durch eine Vertragsänderung abgesichert werden muss.
Das ist es, was jetzt auf den Weg gebracht werden
muss. Das ist nicht einfach, aber es ist notwendig. Wir
haben heute in einem Entschließungsantrag der Fraktionen der Koalition noch einmal klargestellt, welche Positionen wir unterstützen. Dies stellt eine Fortschreibung
des Antrags dar, den wir im Mai hier im Deutschen Bundestag auf den Weg gebracht und in dem wir deutlich gemacht haben, dass wir harte Verhandlungen für eine entsprechende Verschärfung des Stabilitätspakts fordern.
Wir wissen auch, dass bei den Verhandlungen mit den
anderen Ländern in Europa letztendlich nicht eins zu
eins das erreicht werden wird, was wir uns hier im Deutschen Bundestag wünschen. Aber wir wissen sehr wohl,
dass es wichtig ist, in einer solchen Verhandlung eine
klare Haltung zu haben. Deshalb werden wir diesen Entschließungsantrag heute mehrheitlich beschließen und
damit der Bundeskanzlerin für die schwierigen Verhandlungen, die sie jetzt zu führen hat, den Rücken stärken.
Das ist eine Rückendeckung, die der Deutsche Bundestag an dieser Stelle gibt - mit dem klaren Auftrag, für einen harten Euro zu verhandeln.
Vielen Dank.
({10})
Der Kollege Dr. Diether Dehm hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Bundeskanzlerin, am 24. April 2008 haben Sie an dieser
Stelle vollmundig verkündet - ich zitiere -:
… anders als andere Verträge trägt dieser Vertrag
von Lissabon kein Verfallsdatum … keine Revisionsklausel.
Dann sagten Sie:
Eine weitere grundlegende Änderung der Verträge
ist heute nicht in Sicht.
({0})
- Natürlich hört sie nicht zu. Haben Sie etwas anderes
erwartet, Frau Kollegin?
Aber kurz nach dem Inkrafttreten entpuppte sich der
Vertrag bereits als Bremsklotz bei der Bewältigung der
vor uns liegenden Krisenlasten, denn er verbietet jede
Regulation der Finanzmärkte und sämtliche Kapitalverkehrskontrollen durch Art. 63 im Vertrag über die Arbeitsweise der EU, AEUV. Die Linke hatte das damals
ebenso vorausgesagt wie Gewerkschaften und die Arbeitnehmer-AG in der SPD. Der Lissabon-Vertrag ist ein
Freund der Finanzhaie.
({1})
Jetzt, gerade acht Monate nach Inkrafttreten, wollen
Sie, Frau Bundeskanzlerin, den Vertrag, den Sie hier für
unveränderbar erklärt hatten, so einschneidend verändern, und Sie wollen ihn noch unsozialer machen. Jetzt
wollen Sie Mitgliedstaaten, die von deutschen und anderen EU- bzw. US-Konzernen, von Finanzhaien und
durch Lohndumping in Deutschland in große Engpässe
manövriert wurden, nicht nur solidarische Hilfe wegnehmen, sondern auch noch das demokratische Stimmrecht.
Dies ist ein Skandal, Frau Bundeskanzlerin.
({2})
Die Arbeiterklasse, Arbeitslose und Kleinunternehmen in diesen Staaten würden so zu EU-Bürgern zweiter
Klasse. Damit spalten Sie die EU, gefährden Sie ihren
Bestand. Die Menschen, die jetzt in Frankreich demonstrieren, und unsere Bahnangestellten, die hier streiken,
tun mehr für den sozialen Aufbruch in Europa und für
die Integration als mit dieser Idee, die Stimmrechte wegzunehmen, erreicht werden kann.
({3})
Und sie verdienen unseren Respekt.
Ich widerspreche hier auch ausdrücklich dem Horrorpaket der EU-Kommission. Wer jetzt meint, Krisenopfern
mit Strafzahlungen und asozial hohen Schuldentilgungsraten begegnen zu können, wird im Ergebnis die
bestehende Not nur verschärfen und Rechtsextremen die
Hasen in die Küche treiben.
Frau Bundeskanzlerin, bevor Ihr Eigenlob über Ihre
Wirtschaftspolitik zu selbstgefällig wird: Wer unsere Exportkonzerne und Privatbanken mit Steuergeschenken
hochpäppelt, ohne Profite in Lohnerhöhungen umzuverteilen, wird auf diese Krise die nächste Krise folgen lassen.
({4})
Sie sorgen dafür, dass eine normale Erholung nach einer
solch tiefen Krise an den Arbeitnehmern, den Rentnerinnen und Rentnern und unserem Handwerk völlig vorbeigeht, dass Exportkonzerne profitieren, aber die Löhne
auf Schmalspur bleiben. Solange das so ist, haben Sie
nichts richtig gemacht in Ihrer Wirtschaftspolitik!
({5})
Völlig unannehmbar ist auch der Vorschlag, künftig
Sanktionen gegen Mitgliedstaaten automatisch in Kraft
zu setzen. Wenn Maßnahmen alleine vom Exekutivapparat EU-Kommission beschlossen werden können und
wenn dann nur eine qualifizierte Mehrheit im Rat deren
Aufhebung beschließen kann, verstößt das gegen jede
demokratische Verfasstheit der EU und gegen unsere
Verfassung, meine Damen und Herren.
Vielleicht, Herr Steinmeier, ist das der Grund, dass
der Bundesfinanzminister in der letzten Bild am Sonntag
gesagt hat, es habe niemals, zu keiner Zeit eine Chance
für automatische Sanktionen gegen Defizitsünder gegeben. Vielleicht veranlasste ihn der Blick auf unser Verfassungsgericht dazu: „Niemals“, hat er gesagt. Aber hat
der Bundesfinanzminister - er ist jetzt auch nicht hier der FDP das vielleicht verschwiegen, oder wird dort bewusst gelogen, wenn weiterhin von diesem Automatismus geredet und schwadroniert wird? Hören Sie damit
auf! Hören Sie auf Ihren Bundesfinanzminister! Er hat in
dieser Frage ausnahmsweise recht.
({6})
Er hat deswegen recht, weil ein Sanktionsautomatismus
gegen Art. 126 des AEUV verstößt und auch eine versteckte Änderung von EU-Primärrecht die Billigung
durch die Mitgliedstaaten nötig macht. Sonst würde er
spätestens am Bundesverfassungsgericht scheitern, wie
jeder seit dem Lissabon-Urteil weiß. Die Linke würde
wieder Karlsruhe anrufen. Verfassungsbruch ist mit uns
nicht machbar!
({7})
Aber was ist die Alternative? Wir brauchen in der Tat
eine grundlegende Änderung der Verträge, aber eine Änderung für demokratische Finanzmarktregulierung, für
mehr Sozialstaatlichkeit in der EU und für Mechanismen, mit denen die Krisenlasten ihren Verursachern, der
Deutschen Bank und anderen Taliban in Nadelstreifen,
auferlegt werden.
({8})
Wenn Sie solche sozialstaatlichen und zivilisatorischen
Reformen der EU durchsetzen wollen, Frau Bundeskanzlerin, werden Sie auf breite Mehrheiten in den Parlamenten und auf den Straßen und Plätzen in Frankreich,
Griechenland und Deutschland setzen können. Die Europäische Union wird demokratisch und sozial sein - oder
nicht von langer Dauer.
({9})
Michael Stübgen spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Europäische Union hat in den letzten acht
Monaten eine beispiellose Entwicklung im Euro-Raum
erleben müssen. Schon Ende des letzten Jahres mehrten
sich die Hinweise auf eine drohende Zahlungsunfähigkeit Griechenlands. Die Ursachen lagen - das wissen wir
eindeutig - in der immer deutlicher werdenden katastrophalen Haushalts- und Finanzsituation in Griechenland
und in gezielten Spekulationen gegen Griechenland. Die
Risikoaufschläge auf den Kapitalmärkten für griechische
Anleihen stiegen in eine Höhe, die dieses Land nicht
mehr finanzieren konnte.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
haben in dieser Phase von Anfang an klargemacht, dass
wir im Notfall für Hilfen für bedrohte Länder in Europa
sind - natürlich auch für Griechenland -, aber dass wir
es für genauso notwendig halten und wir diese Hilfen daran koppeln wollen, dass auch das betroffene Land selbst
alles Mögliche tut, um die drohende Zahlungsunfähigkeit und weitere Krisen abzuwenden.
({0})
Wir haben dann im Mai ein Gesamtkonzept unter Einbeziehung des Internationalen Währungsfonds zusammenstellen können. Insofern konnten wir die GriechenlandKrise aussetzen.
Unmittelbar im Anschluss an unsere Debatte hier im
Bundestag - ich kann mich noch genau daran erinnern;
ich finde es schon erstaunlich, wenn Herr Steinmeier
sagt, Frau Bundeskanzlerin Merkel hätte hier die Backen
geplustert und dann das Gegenteil gemacht; niemand
wusste es, niemand hat es vorausgesehen -,
({1})
noch am selben Tag, als wir hier das Griechenland-Paket
beschlossen haben, mehrten sich zum Abend hin, verschärft zum Wochenende hin die Hinweise darauf - das
war schon am Montag der darauffolgenden Woche -,
({2})
dass auch Länder wie Portugal, Irland und Spanien in die
Zahlungsunfähigkeit kommen könnten.
({3})
- Das war nicht abzusehen. Auch Sie haben das nicht absehen können. Sogar die Grünen - da stimme ich Ihnen
zu - haben damals dem Griechenland-Paket zugestimmt.
({4})
Aber bei einem wichtigeren Paket haben Sie sich dann in
die Büsche geschlagen.
({5})
Die Europäische Union war in der Lage, quasi über
das Wochenende den sogenannten europäischen Rettungsschirm aufzubauen, zu kreieren: 750 Milliarden
Euro, 60 Milliarden Euro von der Kommission, 440 Milliarden Euro von den Mitgliedstaaten und bis zu
250 Milliarden Euro vom IWF. Wir als Mitglieder des
Bundestages waren in der Lage, binnen einer Woche die
dazu notwendigen und richtigen Beschlüsse zu fassen.
An dieser Stelle will ich kurz darauf eingehen, wie
sich die Opposition in dieser Zeit verhalten hat: Sie wären eventuell für diesen Rettungsschirm gewesen; aber
Sie hätten - wir haben es vorhin von Herrn Steinmeier
selbst gehört - nicht zustimmen können, weil wir uns
nicht nachdrücklich für die Finanztransaktionsteuer eingesetzt haben. Ich will Ihnen den wahren Grund für Ihr
Verhalten nennen: Sie haben natürlich mitbekommen,
dass die notwendigen Entscheidungen, die die Koalition
getroffen hat, in Deutschland sehr unpopulär waren.
({6})
Einige Medien haben sich darauf eingeschossen. Sie haben es vorgezogen, sich in dieser Frage in die Büsche zu
schlagen. Das ist pure Verantwortungslosigkeit.
({7})
Beide Ad-hoc-Maßnahmen - das zeigt sich heute sehr
deutlich - haben ihre Ziele erreicht. Wir konnten die
existenzielle Gefahr für den Euro und für die gesamte
Europäische Union abwenden. Griechenland befindet
sich auf dem Weg der Besserung. Es hat eigene nachhaltige Reformen umgesetzt und strebt weitere Reformen
an. Alle Mitgliedsländer der Europäischen Union unternehmen mittlerweile nachhaltige Konsolidierungsanstrengungen, einschließlich der Bundesrepublik Deutschland.
Die Europäische Zentralbank konnte in der vergangenen
Woche mit dem Ankauf von Staatsanleihen aufhören.
Auch sie sieht mittlerweile die Euro-Stabilität als ausreichend gesichert an, sodass sie solche Maßnahmen nicht
mehr durchführen muss.
Wir können feststellen: Der Feuerwehreinsatz in der
ersten Hälfte dieses Jahres war erfolgreich. Die Brände
sind weitgehend gelöscht. Jetzt kommt es darauf an, das
Gebäude feuerfest zu bauen. Darum geht es im Wesentlichen morgen und übermorgen beim Europäischen Rat.
Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung haben schon im Juni angefangen, zu definieren, welche
Maßnahmen wir denn ergreifen müssen, um eine Wiederholung derartiger Krisen in der Europäischen Union
zu verhindern. Wir haben in einer Entschließung im Juni
dieses Jahres zum einen darauf hingewiesen, dass wir es
für notwendig halten, den Euro-Stabilitätspakt deutlich
zu verschärfen. Zum anderen gehen wir mehr und mehr
davon aus, dass wir auch Maßnahmen ergreifen müssen,
die mit einer Vertragsveränderung verbunden sind.
Ich will zum ersten Punkt kommen.
({8})
Die Europäische Kommission hat im September dieses
Jahres Vorschläge zur Stärkung des Stabilitäts- und
Wachstumspaktes gemacht. Hier muss man Folgendes
sehen - das gehört zur Analyse dazu -: Nachdem im Jahr
2004 der Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgeweicht
worden war, entwickelte er sich leider endgültig zu einem zahnlosen Tiger. Zur historischen Wahrheit gehört
nun einfach dazu, dass diese Aufweichung auf Initiative
von Frankreich und der rot-grünen Bundesregierung zustande gekommen ist.
({9})
Sie haben damals verhindert, dass ein Sanktionsverfahren umgesetzt wird, und haben damit in Kauf genommen, dass später viel Schlimmeres passiert.
({10})
Ich bin allerdings der Meinung - das ist die Schlussfolgerung aus meiner Analyse -, dass auch ein Festhalten am alten Stabilitätspakt, also am Stabilitätspakt vor
seiner Aufweichung, diese Krise wohl nicht hätte verhindern können.
({11})
- Aber es ist dadurch noch schlimmer geworden.
({12})
- Bitte plustern Sie sich jetzt nicht auf, indem Sie sagen,
dass das, was wir umsetzen, zu wenig sei. Wir sind dabei, die Fehler, die Rot-Grün gemacht hat, zu beheben.
({13})
Der Stabilitätspakt ist eindeutig einseitig fokussiert.
Er orientiert sich nämlich im Wesentlichen am Defizitkriterium, aber nicht mehr an der Gesamtverschuldung.
Er ist kompliziert und schwerfällig und politisch leicht
manipulierbar - siehe das Handeln der rot-grünen Regierung und Frankreichs im Jahre 2004. Deshalb ist es notwendig, dass wir hier die geeigneten Maßnahmen zur
Verschärfung ergreifen.
Die Europäische Kommission hat im September dieses Jahres Vorschläge vorgelegt. Diese Vorschläge sind
ambitioniert. Sie greift im Wesentlichen die Reformvorschläge auf, die wir in der Koalition schon im Sommer
dieses Jahres gemacht haben. Die Vorschläge der Kommission bilden einen ausreichend guten Ansatz; allerdings hatten sie bis vor wenigen Tagen einen entscheidenden Nachteil: Es war absolut ausgeschlossen, dass
sie im Europäischen Rat eine Mehrheit finden könnten,
damit sie umgesetzt werden können.
({14})
Deshalb war es richtig, dass der Europäische Rat
schon im Sommer dieses Jahres eine Taskforce unter der
Leitung von Kommissionspräsident Van Rompuy eingerichtet hat, die ihrerseits Vorschläge für den Europäischen Rat zur Verschärfung des Stabilitätspaktes erarbeiten soll. Man hat von dieser Kommission leider längere
Zeit nichts gehört, außer dass es wohl schwierig war,
sich dort zu einigen. In der letzten Woche haben wir aber
einen Vorschlag dieser Taskforce erhalten, der am
18. Oktober einstimmig verabschiedet wurde, das heißt
von den 27 EU-Finanzministern, dem Ratspräsidenten
und dem Währungskommissar. Das bedeutet, dass dieser
Vorschlag, der sehr nah am Vorschlag der Kommission
ist und in einigen Punkten, gerade im präventiven Bereich, sogar konkreter und weitgehend ist, umgesetzt
werden kann. Das ist ein erster großer Erfolg im Bereich
der notwendigen Reformen, die wir ergreifen müssen.
Wir sollten solche Erfolge nicht kleinreden. Es ist der
größte Fehler, nur zu sagen, was vielleicht noch besser
gewesen wäre, anstatt darauf hinzuweisen und den Menschen zu erklären, dass diese Entscheidung gut ist. Natürlich kann ein solcher Kompromiss der 27 EU-Finanzminister niemals zu 100 Prozent die Überzeugung jedes
Einzelnen zum Ausdruck bringen.
Die Frage ist aber: Was bleibt noch übrig? Das ist eine
entscheidende Frage; wir haben sie bereits im Sommer
beantwortet. Wir sind der Meinung, dass wir für einen
Teil - wir haben drei wesentliche Punkte definiert; ich
will mich aus Zeitgründen auf nur einen konzentrieren eine Vertragsänderung brauchen. Warum? Wir sind der
Meinung, dass es wesentlich ist, dass wir in der Europäischen Union, nachdem die Ad-hoc-Maßnahmen ausgelaufen sind, langfristig zu einer Struktur, zu einem robusten Krisenbewältigungsmechanismus kommen müssen,
der uns in die Lage versetzt, dass es in einem vielleicht
doch wieder eintretenden Krisenfall, den wir vielleicht
nicht verhindern können,
({15})
als Ultima Ratio zu einem geordneten Umschuldungsverfahren kommt und dass private Gläubiger, die in jedem Fall Profiteure einer solchen Krise sind, mit zur
Verantwortung gezogen werden.
({16})
Die genauere Analyse der Situation scheint problematisch zu sein, weil die deutliche Mehrheit der Mitgliedstaaten sie nicht wünscht. Allerdings will die deutliche
Mehrheit der Mitgliedstaaten, dass wir eine Entfristung
des vorhandenen Stabilisierungsmechanismus vornehmen. Es gibt zwei wesentliche Gründe, warum die CDU/
CSU-Fraktion das kategorisch ablehnt:
Erstens. Dieser Mechanismus ist vertrags- und verfassungsrechtlich sehr fragwürdig, wenn er entfristet wird.
Er ist maximal als kurzfristige Übergangslösung zulässig.
Zweitens. Der Mechanismus ist auch politisch inakzeptabel; denn er hat einen ganz entscheidenden Nachteil: Die privaten Gläubiger werden in gar keiner Weise
einbezogen.
Wenn wir es jetzt schaffen, dass sich der Europäische
Rat morgen und übermorgen darauf einigt - das ist der
Vorschlag von Deauville -, eine zweite Taskforce - Van
Rompuy zwei - einzurichten und ihr den Auftrag zu geben, in dieser Frage Vorschläge zu erarbeiten, damit wir
in Zukunft auf gesicherter vertraglicher Grundlage agieren können, aber auch die privaten Gläubiger mit einbeziehen können, dann haben wir die wesentlichen Anforderungen, die sich aus der Krise ergeben haben, erfüllt.
Deshalb wünsche ich der Bundeskanzlerin für morgen
ruhige, harte und erfolgreiche Verhandlungen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Renate Künast hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Bundeskanzlerin, ich glaube, Sie haben uns ein Schauspiel dargebracht. Das Theaterstück, das Sie inszenieren,
heißt: Handlungsfähigkeit und der Herbst der Entscheidungen.
Die Sache mit dem „Herbst der Entscheidungen“ ist
aber - das muss ich gleich sagen, Frau Merkel - nach
hinten losgegangen. Sie haben versucht, sich hier als
große Europäerin zu präsentieren. Wenn ich mir aber ansehe, was in den letzten Wochen, insbesondere in den
letzten Tagen geschehen ist, komme ich zu dem Ergebnis: Sie hinterlassen eher den Eindruck einer europapolitischen Novizin; höher könnte ich gar nicht gehen.
({0})
Schauen wir uns einmal an, was in den letzten Tagen
los war. Ihre Europapolitik ist ein einziger Widerspruch.
Erst haben Sie unter Vorsitz von Van Rompuy eine
Taskforce installiert. Übrigens, Herr Stübgen, wenn ich
einmal Nachhilfeunterricht geben darf: Van Rompuy ist
nicht Kommissionspräsident. Wenn man mit der Vehemenz, die Sie an den Tag gelegt haben, eine Rede hält,
aber die Titel falsch verteilt, dann ist das schade. Außerdem wird der Inhalt dadurch infrage gestellt.
({1})
Nun denn, Van Rompuy wurde Leiter einer Taskforce
- das war Ausdruck des Misstrauens gegenüber Barroso
und der EU-Kommission -, die parallel schärfere Vorschläge erarbeiten sollte. Herausgekommen ist übrigens
nichts Schärferes. Das Ansehen der Kommission ist
ramponiert.
({2})
- „Verrompuyniert“ könnte man auch sagen. Wenn ich
nur wüsste, wie man das schreibt. - Das sorgte für unnötige Doppelstrukturen und Chaos.
Jetzt kommt noch Folgendes: Die Van-RompuyGruppe hat sich wie die Kommission auf ein quasi automatisches Defizitverfahren geeinigt. Das ist schon einmal gut, wenn dort auch einiges schwächer formuliert
war. Doch dann haben Sie den französischen Präsidenten, Herrn Sarkozy, am Strand von Deauville getroffen
und mit ihm am vergangenen Montag einen Deal vereinbart: Kehrtwende um 180 Grad. Das ist keine konsistente europäische Politik. Es stellt sogar die herrschenden Institutionen infrage, wenn Sie an dem gleichen Tag,
an dem Van Rompuy ein quasi automatisches Sanktionsverfahren vorschlägt, gemeinsam mit Sarkozy sagen:
Das wollen wir aber nicht. - Das ist nicht nur beschämend für Deutschland, sondern schädigt auch unsere
Durchsetzungskraft und die Durchsetzungskraft Europas, zum Beispiel im Rahmen der G 20.
({3})
Was gilt denn jetzt eigentlich? Am Wochenende hieß
es noch: „Kein Automatismus“, und jetzt will man wieder einen Automatismus. Es ist wie üblich in dieser
Koalition: Die eine Hand weiß nicht, was die andere tut.
({4})
Irgendetwas muss doch der Grund dafür sein, dass Herr
Westerwelle und andere Europaexperten in Ihrer Fraktion sauer waren. Aus den Reihen von FDP und CDU/
CSU kam immer wieder der Hinweis, dass das eine nicht
abgesprochene Politik ist.
({5})
Sauer sind auch die Mitgliedstaaten. Frau Merkel, als
Sie noch in der Opposition waren, haben Sie immer mit
viel Getöse gesagt, man solle die Dinge nicht nur mit
Frankreich abstimmen, sondern auch die kleinen Mitgliedstaaten mitnehmen. Jetzt haben offensichtlich auch
Sie verstanden, dass man Dinge mit Frankreich abstimmt. Aber Sie haben das auf die denkbar schlechteste
Art und Weise getan. Wenn zwei vorangehen, bedeutet
das nämlich nicht zwangsläufig, dass alle anderen außen
vor gelassen und verärgert werden.
({6})
- Sie können gerne erzählen, wie das unter Rot-Grün
war. Ich weiß, was Sie damals wollten und was Sie nicht
wollten. Ich weiß auch, dass Sie Ihre konservativen
Freunde in Frankreich bei so ziemlich jeder Reform in
Europa auf die Zinne getrieben haben. Daher würde ich
an Ihrer Stelle die Füße still halten.
Sie wären besser der Volksweisheit „Besser den Spatz
in der Hand als die Taube auf dem Dach“ gefolgt. Der
Spatz in der Hand wäre an dieser Stelle nämlich nicht ein
possierliches Tierchen gewesen, sondern ein von Kommission und Taskforce erarbeitetes Regelwerk, das quasi
automatisch funktioniert, und zwar im präventiven wie
auch korrektiven Bereich. Dazu bräuchten Sie keine Vertragsänderung und keine politische Lähmung der Debatte. Wie wollen Sie das jetzt machen? Soll das heißen,
dass Sie wirklich glauben, Sie könnten die europäischen
Mitgliedstaaten zu Vertragsänderungen bewegen, womöglich per Referendum? Glauben Sie, dass Sie die
Regierungschefs dazu bewegen können, zu Hause zu sagen: „Ihr Lieben, wir haben nicht nur einen Mechanismus implementiert; das Verfahren wirkt präventiv und
bei Defizitsündern“, sondern auch beschlossen, dass wir
im entscheidenden Augenblick nichts zu sagen haben?
Das glauben Sie selbst nicht. So etwas würden Sie mit
sich selber auch nicht machen lassen.
({7})
Meine These ist, dass Sie in der EU-Politik alles vermasselt haben, was zu vermasseln ist. Auch das Thema
Griechenland - das sage ich Ihnen ganz klar - haben
Sie nicht angepackt, obwohl alle wussten, was da auf uns
zukommt. Der Satz, man habe es nicht gewusst, stimmt
nicht. Wenn Sie einmal Wirtschafts- und Finanzseiten
gelesen hätten, hätten Sie gewusst, dass wir deutlich gesehen haben, welche finanziellen Debakel dort auf uns
zukommen.
({8})
Da haben Sie gesagt: Europa interessiert uns nicht; unsere Haushalte interessieren uns nicht. Uns interessiert
nur die Wahl in Nordrhein-Westfalen. - Zu Recht sind
Sie dann dort abgestraft worden.
({9})
Wir wissen, dass wir die zentralen Fragen, die sich in
unserem Land, in Europa und in dieser Welt stellen, nur
global werden beantworten können. Dafür brauchen wir
ein starkes Europa. Dazu brauchen wir ein Deutschland,
das sich seiner Rolle bewusst ist, voranzugehen und
Europa zusammenzuhalten, statt wie jetzt Luxemburg,
Österreich, Tschechien und andere auf die Palme zu treiben.
Frau Merkel, Sie haben gesagt, dies werde der Herbst
der Entscheidungen. Ich sage hingegen: Das wird der
Herbst der schwarz-gelben Wirrungen. Es wird der
Herbst der verbal-radikalen Ankündigungen, der Nachbesserungen und der Respektlosigkeiten, aber nicht der
Herbst, in dem diese Bundesregierung wirklich anstehende Probleme aktiv, verantwortlich und mit Respekt
vor anderen EU-Mitgliedstaaten löst.
({10})
Meine Damen und Herren, Europa ist nach einer globalen Finanzkrise auch in eine Schuldenkrise gerutscht.
Viele Mitgliedstaaten haben Defizite, die so gar nicht
tragbar sind.
({11})
Wir wissen alle: Mehr Hilfepakete kann es nicht geben. Es muss also zu grundlegenden Reformen kommen.
Auch wir sagen, dass es zum einen mehr wirtschaftspolitische Koordination braucht. Es braucht mehr Abstimmung in der Haushaltspolitik. Daher ist es richtig, dass
man seine Haushaltspläne vorlegen muss. Zum anderen
braucht es aber auch ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht.
Tun wir also nicht so, als würden nur andere Probleme bereiten. In Deutschland müssen wir uns auch
überlegen, wie unsere eigene wirtschaftspolitische Entwicklung verläuft und wie wir die Binnennachfrage bei
uns stärken. Deshalb kommt man am Ende um Mindestlohndebatten - um nur einen Punkt zu nennen - gar nicht
herum.
({12})
Wenn Sie die Binnennachfrage stärken wollen, müssen Sie dafür Maßnahmen ergreifen, anstatt sich über
Griechenland zu beklagen, aber am Ende festzustellen,
dass wir im Wesentlichen auch von unseren Exporten in
andere Mitgliedstaaten leben.
Deshalb sagen wir auch Ja zu dem stärksten Vorschlag der EU-Kommission des quasi automatischen
Defizitverfahrens. Die EU-Kommission hat - auch das
haben Sie heute gar nicht erwähnt - sechs Vorschläge
vorgelegt, von denen vier auch durch das Europäische
Parlament gehen müssen.
Meine Sorge ist, dass Sie mit Ihrem Alleingang das
Europäische Parlament eher gegen sich aufgebracht haben, als es zu unterstützen. Meine Sorge ist, dass dieses
dilettantische Vorgehen voller Widersprüchlichkeit
- man weiß immer noch nicht, was eigentlich gelten soll;
wir könnten jetzt auf die Sarkozy-Antwort auf die
Merkel-Rede warten - am Ende auch die Schlagkraft bei
dem G-20-Gipfel in Seoul nicht erhöhen wird, weil alle
Welt sich über die deutsche und europäische Widersprüchlichkeit kaputtlacht.
Frau Merkel, Sie haben die Hausaufgaben nicht gemacht. Sie tragen hier allgemeine Sätze über internationales, weltweites Wachstum vor. Frau Merkel, dann
müssen Sie jetzt auch einmal Butter zu den Fischen geben.
({13})
Sie müssen sagen, welches Wachstum Sie wollen: Nachhaltigkeit statt Raubbau? Tatsächliches Verteilen der
Lasten auf mehrere Schultern in der EU und in Deutschland? Starten Sie doch eine Initiative für die DohaRunde, damit Europa nicht mehr auf Kosten anderer
lebt.
Frau Kollegin.
Ich bin beim letzten Satz. - Dann hören Sie auf mit
Ihrer Blockade, zum Beispiel bei der Reform der EUAgrarpolitik, und zeigen anderen Ländern auf dieser
Welt: Wir wollen uns bewegen.
Zukunftsfragen kann man nur global lösen. Dazu
braucht es eine einige Europäische Union. Dazu braucht
es Weichenstellungen bei der Wirtschafts- und Währungsunion.
Frau Merkel, ich kann nur sagen - das ist jetzt wirklich aus meinem tiefsten Inneren gesprochen -, dass ich
nach Ihrem Ausflug nach Deauville eine Erwartung
habe: Vermasseln Sie es nicht!
({0})
Michael Link spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dies war eine ganz sachliche Debatte, bis Kollege Dehm
und Kollegin Künast gesprochen haben.
({0})
Ich kann nur sagen: Für flotte Sprüche und Belehrungen
à la Oberlehrer ist dieses Thema zu ernst.
({1})
Wenn Sie in den ersten Jahren der Währungsunion, als
Sie Regierungsverantwortung getragen haben - damals
wurde auch der Stabilitätspakt ausgehöhlt -,
({2})
besser aufgepasst hätten, dann hätten wir einige der Probleme, die wir heute haben, vielleicht nicht. Sie hatten
die Gelegenheit dazu, unter anderem auch bei Griechenland.
({3})
Die CDU/CSU-Fraktion und FDP-Fraktion legen Ihnen heute einen Entschließungsantrag vor, weil wir unsere Verantwortung für die europäische Integration sehr
ernst nehmen. Dass wir sie ernst nehmen, zeigen wir, indem wir vor einem Europäischen Rat Maßstäbe definieren. Wir haben viele Wochen gemeinsam an diesem Antrag gearbeitet. Ich glaube, dies zeigt ein bisschen, wie
die Europäische Union nach Lissabon funktioniert: Vor
dem Europäischen Rat sagen wir als Bundestag klar, was
wir wollen. Wir begrüßen im Übrigen, dass die Grünen
und die Linken ebenfalls Anträge vorgelegt haben. Erstaunlicherweise hat die SPD keinen Antrag vorgelegt.
Das finde ich schade; denn genau das wäre wichtig. Wir
sollen und wollen hier darüber diskutieren, was die verschiedenen Fraktionen vor dem Europäischen Rat sagen.
Frau Bundeskanzlerin, wir begrüßen, dass wir beim
Europäischen Rat die ersten Schritte machen werden.
Wir begrüßen auch, dass der Zeitplan für die möglichen
Vertragsänderungen, die wir anstreben, bis März 2011
sehr ambitioniert ist. Da kann viel schiefgehen; das ist
völlig klar. Es ist logisch, dass es hier und da am Anfang
manchmal rumpelt. Glauben Sie denn, dass vor einem
Europäischen Rat - das wissen Sie aus Ihrer Erfahrung
am besten - in Europa immer alles einstimmig gesehen
wird? Nein, das ist nicht der Fall. Umso wichtiger ist,
dass wir als Bundestag sagen, was wir wollen, und dass
wir Maßstäbe definieren, wobei wir erwarten, dass sich
die Bundesregierung in den Verhandlungen an diesen
Maßstäben orientiert.
({4})
Wir haben viele Maßstäbe genannt - ich brauche sie
nicht im Einzelnen zu wiederholen -, zum Beispiel die
automatischen Sanktionen und den robusten Mechanismus. Beim robusten Mechanismus, so wie er von
Michael Link ({5})
Van Rompuy vorgeschlagen worden ist, fehlt uns noch
etwas, Frau Bundeskanzlerin; das ist schade. Vorgesehen
ist dort in der Ziffer 49 des Vorschlags von Van Rompuy,
dass der private Sektor beteiligt werden kann. Das ist
noch kein Muss. Da haben wir noch einen großen Kampf
vor uns; das müssen wir gemeinsam bewältigen. Leider
ist der Text, so wie er von Van Rompuy vorgelegt worden ist, an dieser Stelle noch nicht befriedigend. Aber
wir arbeiten gemeinsam daran. Auch deshalb formulieren wir hier unsere Forderungen.
Wir sind uns als Koalitionsfraktionen einig - ich
hoffe, auch das gesamte Haus sieht das so -, dass wir die
Währungsunion nicht als eine Transfer- und Haftungsunion sehen, in der die Stärkeren zum Rettungsanker
derjenigen werden, die ihre Schuldenprobleme nicht
rechtzeitig selbst lösen. Wir als Bundestag sagen also,
was wir wollen. Wir sagen, was wir korrektiv wollen,
also im Nachhinein, und was wir präventiv wollen. Wir
schreiben in diesem Antrag aber auch ganz klar - zwei,
drei Sätze sollten dazu gesagt werden -, dass wir Anleihen aus dem EU-Haushalt, ein Gemeinschaftsinstrument, einen Fonds - egal unter welchem Namen; es wird
unter verschiedensten Namen darüber diskutiert: Währungsfonds, Liquiditätsfonds, Notfallfonds - nicht wollen. Die Dinge, die wir nicht wollen, benennen wir klar
und deutlich.
Wir, also die Bundesregierung, der Bundestag und
sehr viele Staaten in der Europäischen Union, die uns
schon klar signalisiert haben, dass sie mit uns darüber reden wollen, haben dadurch die Chance, die Währungsunion so fortzuentwickeln, dass sie wesentlich stabiler
wird. Für uns ist klar: Es gibt bei Fragen der Währung
kein Primat der Politik in dem Sinne, dass man beliebig
an der Währung herumdoktern kann. Das ist der große
Unterschied zu anderen Bereichen. Wir haben damals,
als die Währungsunion eingeführt wurde, klipp und klar
gesagt: Währungsfragen sind wichtige Fragen, deren Beantwortung wir durch die unabhängige Europäische Zentralbank - früher war es die unabhängige Bundesbank gewährleistet sehen wollen. Deshalb haben wir große
Sympathie für die Vorschläge zu den automatischen
Sanktionen, wie sie von der Europäischen Kommission
vorgelegt wurden.
({6})
Machen wir uns eines nicht vor: Vieles von dem, was
uns heute Probleme bereitet, haben wir der Schwächung
des Stabilitäts- und Wachstumspakts in den Jahren 2004
und 2005 zu verdanken. Anstatt andere hier zu schulmeistern, möchte ich daran erinnern, wie Bundeskanzler
Schröder in Spiegel Online vom 21. März 2005 die damalige Aufweichung des Währungsfonds begrüßt hat. Er
hat damals gesagt, er begrüße die von den EU-Finanzministern beschlossene Reform des Stabilitätspaktes.
Finanzminister Hans Eichel habe mit seinen europäischen Kollegen ein gutes Ergebnis erzielt. Eichel hatte
sich zuvor angesichts der Einigung ähnlich erfreut gezeigt. Er sagte, es handele sich um eine gute Entscheidung, und fügte hinzu: „Sie sehen heute einen ausgesprochen zufriedenen deutschen Finanzminister vor
sich.“
Herr Kollege.
Diese Aussagen wurden nach den Entscheidungen zur
Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes getroffen. Das war ein Fehler, der sich nicht wiederholen
darf. Wir unterstützen die Bundesregierung massiv bei
ihren Bemühungen, das, was damals falsch gemacht
wurde, jetzt besser zu machen.
({0})
Jetzt hat Alexander Ulrich das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Welche sind die richtigen Lehren aus der Krise? Das ist
die zentrale Frage, über die auf dem europäischen Gipfel
und bei G 20 diskutiert wird. In dieser Diskussion wird
ein zentraler Aspekt vergessen: die Frage, wer die Krise
eigentlich verursacht hat.
Unser Außenminister erklärte vor kurzem: Die Krise
wurde durch hohe Staatsschulden verursacht. - Da hat
Herr Westerwelle wohl etwas vergessen: Die Krise
wurde durch Spekulationen von Banken und Finanzinstitutionen verursacht. Als klar wurde, dass sich diese verspekuliert hatten, sind die Staaten eingesprungen, um sie
und mit ihnen die Konjunktur zu retten, die ohne diese
Rettungsmaßnahmen noch weiter eingebrochen wäre.
Wer dies, wie es im Entschließungsantrag der Regierungsfraktionen zum Ausdruck kommt, vergisst oder
verschweigt, kann niemals die richtigen Lehren aus dieser Krise ziehen.
({0})
Kernthema auf der europäischen Ebene ist jetzt die
Frage, wie man Staaten, die sich zu stark verschulden,
bestrafen kann. Noch einmal: Die Krise wurde nicht von
verantwortungslosen Staaten verursacht, sondern von
verantwortungslosen Bankern und Spekulanten.
({1})
Die erste Lehre aus der Krise muss lauten: Wir brauchen eine Regulierung der Finanzmärkte. Dass man hier
noch einen weiten Weg vor sich hat, wurde während der
Euro-Zonen-Krise ganz deutlich. In dieser Krise haben
Banken gegen hoch verschuldete Staaten spekuliert. Ich
frage Sie, Frau Bundeskanzlerin: Wie können es sich die
Regierungen gefallen lassen, dass sie zuerst mit Milliardenbeträgen Spekulanten retten und kurze Zeit später genau diese Spekulanten gegen die Staaten spekulieren, die
sich für ihre Rettung verschuldet haben? Die Linke fordert: Das Finanzkasino muss endlich geschlossen werden!
({2})
Es müssen endlich wirksame Maßnahmen getroffen werden. Dazu gehören unter anderem ein Verbot von CDS,
ein Verbot von Leerverkäufen, ein Verbot von Bankkrediten an Hedgefonds und ein Verbot des außerbörslichen
Derivatehandels.
Da man im Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen kein einziges Wort zum Thema Finanzmarktregulierung, sondern stattdessen die Aussage findet, die
Kräfte des Marktes sollten genutzt werden, um die Staaten vor künftiger Verschuldung zu bewahren, kann man
nur sagen: Sie haben offensichtlich überhaupt nichts gelernt und nichts verstanden.
({3})
Die Verursacher der Krise dürfen derzeit nicht nur weitgehend so weitermachen wie bisher, sondern sie werden
für ihr verantwortungsloses Handeln auch nicht zur
Kasse gebeten. Die deutsche Bankenabgabe ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Auch auf EU- und internationaler Ebene einigte man sich nur auf kosmetische Maßnahmen.
Die zweite Lehre aus der Krise muss lauten: Die Verursacher müssen zur Kasse gebeten werden. Wir fordern
eine Bankenabgabe nach US-amerikanischem Vorbild,
unter Ausnahme der Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Wir fordern darüber hinaus die Einführung und
Erhebung einer Finanztransaktionsteuer auf alle Wertpapier-, Devisen- und Derivateumsätze, und zwar auf nationaler und europäischer Ebene.
({4})
Frau Bundeskanzlerin, warum setzen Sie nicht Ihre
ganze Energie für die Einführung der Finanztransaktionsteuer ein? Wenn Sie hierfür genauso hart kämpfen würden wie für die völlig unsinnige Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, hätte diese Steuer gute
Chancen auf Verwirklichung.
({5})
Derzeit können wir beobachten, was passiert, wenn
die falschen Lehren aus der Krise gezogen werden. Die
Spekulanten machen weiter wie bisher. Die Kosten der
Krise tragen die Beschäftigten, die Armen, die Steuerzahler und Rentner sowie die Kinder. In Deutschland
wird Hartz-IV-Empfängern das Elterngeld gestrichen, in
Portugal wird die Mehrwertsteuer auf viele Lebensmittel
von 6 auf 23 Prozent erhöht, und Großbritannien streicht
fast 500 000 Stellen im öffentlichen Dienst; mit den
Grausamkeiten in Griechenland, Irland und Spanien will
ich gar nicht erst anfangen.
({6})
Dies ist in hohem Maße unsozial und ökonomisch völlig
unsinnig. Wer in der Krise spart, wird die Krise verschärfen.
({7})
Ich komme zum Schluss. Daher steht die Linke voll
hinter den Gewerkschaften, die am 29. September 2010
bei einem europaweiten Aktionstag unter dem Motto
„Nein zu Sparmaßnahmen - Vorrang für Beschäftigung
und Wachstum“ Hunderttausende Menschen auf die
Straße gebracht haben. Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, nehmen Sie diesen Protest endlich ernst! Die Lehre
aus der Krise darf kein sozialpolitischer Kahlschlag in
der EU sein.
({8})
Die Lehre aus der Krise muss das genaue Gegenteil sein:
ein soziales Europa.
Wir brauchen nicht Vertragsänderungen, um Stimmrechte wegzunehmen, sondern wir brauchen Vertragsänderungen für ein soziales Europa. Wir brauchen ein Europa mit einer sozialen Fortschrittsklausel, damit das
Soziale Vorrang vor der Wirtschaft hat.
Vielen Dank.
({9})
Thomas Silberhorn hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Krise um den Euro im Frühjahr hat so gewaltige
weltweite Auswirkungen gezeitigt, dass es keine Untertreibung ist, festzustellen, dass es jetzt ums Ganze geht,
wenn sich unsere Staats- und Regierungschefs zusammensetzen, um die Euro-Zone zu stabilisieren und unsere gemeinsame Währung, den Euro, zu stärken.
Die Van-Rompuy-Arbeitsgruppe hat wichtige Weichenstellungen vorgeschlagen: eine engere Koordinierung der nationalen Haushalts- und Wirtschaftspolitiken,
die Überwachung makroökonomischer Ungleichgewichte,
schnellere und schärfere Sanktionen bei Verstößen gegen
den Stabilitäts- und Wachstumspakt und nicht zuletzt das
Bekenntnis, dass wir Regeln für mögliche künftige Krisenfälle finden müssen. - Wir müssen zur Solidität in der
Euro-Zone zurückkehren, und wir müssen zugleich Vorkehrungen für den Fall treffen, dass künftig nochmals ein
Mitglied der Euro-Zone zu scheitern droht.
Deswegen ist zweierlei notwendig: Wir müssen zum
einen den Stabilitäts- und Wachstumspakt stärken, um
eine zu hohe Verschuldung zu vermeiden oder gegebenenfalls rechtzeitig korrigieren zu können, und wir müssen zum anderen ein geordnetes Insolvenzregime errichten, um eine Umschuldung zu ermöglichen.
({0})
Ich sage das in aller Deutlichkeit und ohne jeden
Schaum vor dem Mund: Wir müssen es hochverschuldeten Staaten tatsächlich ermöglichen, pleitezugehen, weil
nur dann eine Umstrukturierung und eine notwendige
Umschuldung vorgenommen werden können.
Die Wirtschafts- und Währungsunion weist dazu eine
Regelungslücke auf, durch die wir vor ernsthafte Probleme gestellt sind. Wir können ein Mitglied der EuroZone, das dauerhaft gegen die Regeln verstößt, nicht einfach ausschließen, wir können aber auch nicht einfach
immer helfen; denn im Vertrag von Maastricht ist ganz
klar das Verbot vorgesehen, Schulden anderer Mitgliedstaaten zu übernehmen. Das ist nach der Rechtsprechung
unseres Bundesverfassungsgerichts - insoweit müssen
wir unsere Nachbarn um Verständnis bitten - eine verfassungsrechtliche Voraussetzung für die Zustimmung
Deutschlands zum Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion gewesen. Deswegen kann ein dauerhafter
Hilfsmechanismus mit uns nicht möglich sein, deswegen
wird es mit uns keine Rettungsschirme für Griechenland
oder die gesamte Euro-Zone nach dem vereinbarten
Zeitpunkt geben können.
({1})
Es ist allerdings auch nicht erstrebenswert, einem
Mitgliedstaat der Euro-Zone nicht zu helfen, weil die
Konsequenzen natürlich furchtbar gravierend wären.
Gleichwohl bin ich der Auffassung, dass diese Option
auf dem Tisch bleiben muss, nicht, um jemanden bedrängen oder erniedrigen zu wollen, sondern um der Stabilität des Euro willen; denn der Ausweg wird am Ende
nur sein können, dass wir ein Verfahren finden - und
dazu die Verträge ändern -, mit dem wir diese Regelungslücke schließen können. Das ist die Voraussetzung
dafür, dass wir in künftigen Fällen überhaupt Hilfe leisten können.
Deshalb ist die deutsch-französische Erklärung von
Deauville ein Bekenntnis der gemeinsamen Bereitschaft
von Deutschland und auch Frankreich, die jetzt notwendigen Änderungen der europäischen Verträge vorzunehmen. Das ist durchaus ein beachtlicher Verhandlungserfolg, Frau Bundeskanzlerin, und ich habe gerade mit
Interesse gehört, dass jetzt auch der luxemburgische Premierminister, Jean-Claude Juncker, öffentlich erklärt hat,
dieses Vorgehen unterstützen zu wollen, nachdem er sich
vor ein, zwei Tagen noch ganz anders geäußert hat.
Meine Damen und Herren, ein solches Verfahren der
Vertragsänderung ist auch keineswegs ein unüberwindbares Hindernis. Wir brauchen nur wenige Sätze im Vertrag zu ändern. Wir müssen ohnehin die Verträge für
Kroatien und Irland ändern. Eine Änderung brauchen
wir auch nur für die Mitglieder der Euro-Zone, sodass
Staaten, die heute noch Skepsis signalisieren - wie beispielsweise Großbritannien oder Tschechien -, davon
gar nicht betroffen wären. Es sollte also keiner so tun, als
wäre eine Vertragsänderung ein Ding der Unmöglichkeit. Im Gegenteil, wir müssen ohnehin dieses Verfahren
aufsetzen.
Wenn ich nun höre, Herr Steinmeier, dass der große
Ehrgeiz besteht, zu noch weiter gehenden Vereinbarungen zu kommen, als sie in der deutsch-französischen Erklärung von Deauville ihren unmittelbaren Ausdruck
finden, dann, meine ich, lassen Sie uns darüber ganz offen diskutieren. Immerhin ist jetzt eine gemeinsame Verhandlungsgrundlage für den Europäischen Rat beschlossen worden. Aber am Ende müssen natürlich alle
27 Mitgliedstaaten zustimmen. Es wird insbesondere
auch das Europäische Parlament zustimmen müssen.
Deswegen höre ich mit Interesse, dass unsere Kolleginnen und Kollegen in Brüssel nochmals ganz deutlich
für automatische Sanktionen plädiert haben. Sie befürworten außerdem unseren Vorschlag, notorischen Defizitsündern das Stimmrecht zu entziehen,
({2})
und sie fordern genauso vehement wie wir ein, dass private Gläubiger beteiligt werden.
({3})
Also gilt der alte Grundsatz: Es ist nichts vereinbart, solange nicht alles vereinbart ist. Wir stehen erst am Beginn dieser Verhandlungen.
Nun, meine Damen und Herren, die Lehre bezüglich
Griechenland muss doch sein, dass gerade das Fehlen
gemeinsamer Regeln für eine Umschuldung dazu geführt hat, dass bei Griechenland die privaten Gläubiger
geschont worden sind und allein die Steuerzahler die Zeche zahlen mussten. Wer das nicht will, muss jetzt mit
uns dafür streiten, dass zwingend eine Beteiligung privater Gläubiger vereinbart wird, wenn in Krisenfällen
künftig Hilfe angefordert werden sollte.
({4})
Nur so wird man den Fehlanreiz verhindern, mit einer
unsoliden Haushaltspolitik fortzufahren.
Die Alternative dazu wäre auch nicht sehr viel besser;
denn wenn wir in der Europäischen Union nicht in der
Lage sind, dieses Thema für uns selbst zu regeln, dann
wird man im Zweifel im Rahmen des Internationalen
Währungsfonds eine Lösung dafür finden müssen. Der
Internationale Währungsfonds hatte dazu bereits einen
Mechanismus aufgesetzt, als es bei Argentinien anstand,
eine Umschuldung vorzunehmen. Die Besonderheit bei
Griechenland ist doch nur, dass wir feststellen mussten,
dass, anders als damals bei Argentinien, jetzt ein vergleichsweise kleines Land der Euro-Zone mit einem vergleichsweise überschaubaren Anteil an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung in der Europäischen Union
von nur 2 Prozent eine gewaltige Turbulenz nicht nur in
der Euro-Zone verursacht hat, sondern auch den Dollarraum und den Yenraum in Mitleidenschaft zu ziehen
drohte. Deswegen wird es notwendig sein, dass wir von
diesen Einzelfällen abstrahieren und generelle Verfahren
schaffen, wie wir Staaten, die eine untragbar hohe Verschuldung haben, eine Umschuldung ermöglichen.
Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir auch
ein sehr klares Signal an die Finanzmärkte senden. Die
Finanzmärkte müssen wissen, dass Hilfen für Staaten,
die von Zahlungsunfähigkeit bedroht sind, nicht noch
einmal gewährleistet werden können, ohne dass private
Gläubiger mit in die Haftung genommen werden. Erst
wenn wir dieses klare Signal an die Finanzmärkte senden, werden wir bewirken können, dass Unterschiede
zwischen den Schuldnern gemacht werden, dass natürlich bei unterschiedlicher Haushaltslage unterschiedliche
Zinsen für staatliche Anleihen gezahlt werden müssen.
Das bedeutet, dass Länder mit Haushaltsproblemen allein dadurch zu haushaltspolitischer Disziplin angehalten würden. Zugleich müssen die Gläubiger wissen, dass
sie für höhere Zinsen auch ein höheres Risiko eingehen,
das sie dann tragen müssen, wenn es schiefgeht und sich
das Risiko realisiert.
Dieser Marktmechanismus entfaltet mindestens genauso disziplinierende Wirkung wie die Verankerung automatischer Sanktionen im Stabilitäts- und Wachstumspakt. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir die
Beteiligung von privaten Gläubigern durchsetzen. Wir
haben dazu jetzt schwierige Verhandlungen vor uns; aber
die Alternative für uns kann nicht sein - aus politischen
wie aus juristischen Gründen -, in eine Transferunion zu
marschieren, nicht nur weil wir die größten Garantiegeber sind, sondern weil insgesamt die Stabilität der EuroZone auf dem Spiel steht.
Deswegen ist es jetzt an der Zeit, die notwendigen
Vertragsänderungen vorzunehmen und insbesondere den
privaten Sektor bei der Übernahme von Garantien, wenn
es schiefgeht, mit einzubeziehen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Der nächste Redner ist der Kollege Bernhard SchulteDrüggelte für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im Mai haben wir uns an dieser Stelle neben Griechenland auch mit dem europäischen Stabilisierungsmechanismus beschäftigt und auch darüber verständigt. Das
heißt, die eine Seite des Hauses hat sich verständigt. Die
andere Seite des Hauses - die Linke und die SPD - hat
sich verantwortungslos gedrückt.
Es war eine schnelle, aber auch eine einmalige Entscheidung. Die Maßnahmen des Rettungsschirms werden im Sommer 2013 auslaufen. Eine solche Maßnahme
kann und darf nicht zur Dauereinrichtung werden.
Krisen markieren aber auch Wendepunkte. Die Frage
ist nun, wie künftig verfahren werden soll. Wie kann
eine Situation verhindert werden, wie wir sie im Frühjahr erleben mussten? Aus dieser Krise müssen Konsequenzen gezogen werden.
Ich möchte drei Bereiche ansprechen, in denen Konsequenzen zu ziehen sind: Erstens. Die Haushaltsdisziplin muss durch strengere Regeln unterstützt werden.
Zweitens. Die Haushalts- und Wirtschaftspolitiken der
europäischen Mitgliedstaaten müssen besser aufeinander
abgestimmt werden. Drittens muss ein dauerhafter Krisenmechanismus entwickelt werden. Diese drei Punkte
sind für uns wichtig.
({0})
Zur Haushaltsdisziplin: Das Volumen des Rettungsschirms macht deutlich, dass die Währungsunion nicht
noch einmal mit solchen Beträgen stabilisiert werden
kann. Es muss klar das Ziel sein, solche Krisen zu vermeiden oder zumindest die Wucht einer solchen Krise
abzubremsen.
Die Situation der öffentlichen Haushalte in Europa ist
schwierig. Die Zahlen der EU-Statistikbehörde aus der
letzten Woche kommen klar zu einem unschönen Ergebnis: Fast in allen EU-Staaten stieg das Staatsdefizit auf
Höhen, die vor der Krise unvorstellbar waren.
Es gibt viele Gründe für die Krise. Dazu gehört das
staatliche Regierungshandeln in den USA. Aber es gab
auch andere Gründe für die Krise. Wenn Shareholder-Value oder Bonuszahlungen die einzigen Erfolgskriterien
sind und sich die Freiheit von der Verantwortung löst,
dann darf das Risiko nicht zulasten Dritter bzw. des Steuerzahlers gehen. Das muss in Zukunft verhindert werden.
Dafür ist dringend ein funktionsfähiger Ordnungsrahmen
erforderlich: effiziente Aufsicht, mehr Transparenz und
bessere internationale Zusammenarbeit.
({1})
Zunächst müssen aber alle Länder der Euro-Zone ihre
Defizite reduzieren. Denn sie sind Ursache und Anlass
für Spekulationen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt
hat entgegen den Erwartungen nicht ausgereicht, die
Staatsverschuldung einzudämmen. Damit ist das Erfordernis einer grundlegenden Reform erkennbar geworden. Aber das bedeutet keine Aufweichung, sondern eine
Verstärkung der Stabilitätskriterien.
Die Koalition setzt sich in ihrem Antrag für die Stärkung von präventiven Maßnahmen ein. Ziel ist eine ausgeglichene Haushaltsführung. Denn zu einer Eröffnung
eines Defizitverfahrens soll es erst gar nicht kommen.
Das ist zwar eine Idealvorstellung, aber es ist auch das
Ziel der Maastricht-Verträge.
Wenn aber Vorgaben nicht eingehalten werden, dann
müssen schnell weitere Sanktionen folgen. Vorschläge
aus verschiedenen Bereichen liegen vor. Ich hoffe, dass
auf dem EU-Gipfel nicht nur debattiert, sondern auch
zügig entschieden wird.
Aber über eines bin ich mir natürlich auch klar - Herr
Finanzminister Schäuble hat es gesagt; es gibt Politiker,
die sich in Europa auskennen -: Wer annimmt, bei 27 Mitgliedern könne die Position Deutschlands zu 100 Prozent
durchgesetzt werden, dem fehlt es an Verständnis für Europa. - So einfach wird es also nicht sein, aber eine Leitplanke müssen wir deutlich setzen: Es darf nicht sein, dass
die Währungsunion zu einer Transferunion wird. Das lehnen wir entschieden ab.
({2})
Es sollte selbstverständlich sein, dass verantwortlich
handelnde Regierungen, die betroffenen Mitgliedstaaten
in der Europäischen Union auch die Haftung für getroffene Fehlentscheidungen übernehmen.
Damit komme ich zum zweiten Punkt. Auch die Wirtschafts- und Haushaltspolitiken der Mitgliedstaaten
müssen besser aufeinander abgestimmt werden. Es ist an
ein „Europäisches Semester“ gedacht, das erstmals 2011
eingeführt wird und die Elemente der finanz- und wirtschaftspolitischen Überwachung besser und wirksamer
im Sinne eines Frühwarnsystems koordinieren soll. Als
Haushälter möchte ich sagen: Natürlich darf nicht in das
Budgetrecht der nationalen Parlamente eingegriffen werden. Dieser Punkt ist aus meiner Sicht nicht zu verhandeln.
({3})
Auch die Wettbewerbsfähigkeit der Länder muss in
Zukunft anhand ausgewählter Indikatoren besser überwacht werden; denn in den letzten Jahren haben sich die
Relationen zwischen den Volkswirtschaften verändert,
auch innerhalb der Euro-Zone und innerhalb Europas.
Da bleiben Spannungen natürlich nicht aus, doch es
bleibt unverzichtbar, Verantwortung auch für einen längeren Zeitraum zu übernehmen.
Das führt zum nächsten Punkt, zum dauerhaften Krisenmechanismus. Die Europäische Union sowie die nationalen Regierungen dürfen zukünftig nicht wieder
durch eine Dynamik krisenhafter Ereignisse zu kurzfristigen Maßnahmen gezwungen werden. Wir waren damals gezwungen und hatten kaum eine andere Chance.
Deshalb muss ein glaubwürdiger Krisenmechanismus
entwickelt werden, der aber nicht nur aus rechtlichen
Regeln bestehen darf, sondern auch die Kräfte der
Märkte nutzt, damit die Staaten Verschuldung vermeiden. Ich möchte deutlich betonen, was in der letzten
Zeit, auch in der Presse, diskutiert worden ist: Das Bailout-Verbot muss bestehen bleiben. Kein Land darf
Schulden für ein anderes Land übernehmen.
({4})
In diesem Zusammenhang möchte ich das aufgreifen,
was die Vorredner gesagt haben: Auch die Gläubiger
hochverschuldeter Staaten müssen sich künftig an der
Sanierung finanziell beteiligen.
({5})
Das Stichwort heißt „Haircut“. Ein geordnetes Entschuldungsverfahren für diese Staaten muss möglich sein, und
es muss möglich sein, auch die Gläubiger heranzuziehen. Das ist die klare Ausrichtung für eine künftige Entwicklung. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Das
Prinzip von Risiko und Haftung muss stärker zur Geltung gebracht werden.
({6})
Das wird nach allem, was zu hören und zu lesen ist,
nicht ohne Vertragsveränderungen möglich sein. Ich
habe den Eindruck, dass die Bundesregierung hier auf
einem guten Weg ist. Dass dieser Weg nicht einfach ist,
ist völlig klar; aber ich möchte Professor Fuest zitieren,
der in der letzten Woche im Handelsblatt gesagt hat:
Merkel hat besser verhandelt, als die Kritiker glauben. Auf diesem Weg werden wir die Kanzlerin auch weiter
unterstützen, auch wenn er steinig sein sollte.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/3408.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/3412? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Dann ist der Entschließungsantrag der
Linken mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt.1)
Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/3425 soll überwiesen
werden, und zwar zur federführenden Beratung an den
Haushaltsausschuss und zur Mitberatung an den Finanz-
ausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technolo-
gie sowie den Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Gesetzes zur
Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren
Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Ände-
rung weiterer aufenthalts- und asylrechtlicher Vor-
schriften.
Das Wort für den einführenden fünfminütigen Bericht
hat der Bundesminister des Innern, Herr Dr. Thomas de
Maizière.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bundesregierung hat heute den von mir eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Zwangshei-
rat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat
sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und asylrecht-
licher Vorschriften beschlossen. Mit diesem Gesetzent-
wurf werden mehrere aufenthaltsrechtliche und integra-
tionspolitische Vorhaben umgesetzt, auf die sich die
Koalitionspartner im Koalitionsvertrag verständigt ha-
ben. Den Schwerpunkt bilden verbesserte Regelungen
1) Anlage 2
zur Bekämpfung der Zwangsheirat einerseits und zum
Schutz der Opfer von Zwangsheirat andererseits.
Zwangsheirat ist auch in Deutschland ein ernst zu nehmendes Problem, das in den letzten Jahren verstärkt in den
Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt ist. Um Zwangsheirat stärker als bisher als strafwürdiges Unrecht zu ächten,
soll mit dem Gesetz ein eigener Straftatbestand geschaffen werden. Dadurch bringt der Gesetzgeber klar zum
Ausdruck, dass Zwangsheirat als schweres Unrecht zu
verurteilen ist.
({0})
Er tritt damit gleichzeitig der Fehlvorstellung entgegen,
es handele sich um eine zumindest tolerable Tradition
aus früheren Zeiten oder anderen Kulturen. Durch einen
neuen Absatz wird auch die Verschleppung zum Zweck
der Zwangsheirat unter Strafe gestellt. Insofern dient
diese Neuregelung einer allgemeinen integrationspolitischen Aufgabe, die wir erfüllen müssen. Wir müssen
deutlich machen, dass Zwangsheiraten nicht mit unserer
Werteordnung vereinbar sind. Wir müssen dafür sorgen,
dass unsere Werteordnung stärker als bisher als verpflichtend wahrgenommen wird.
Der Entwurf sieht weiter die Schaffung eines eigenständigen Wiederkehrrechts vor. Wir wollen die Opfer
von Zwangsheirat besserstellen. Dies dient der Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Stellung ausländischer
Opfer von Zwangsverheiratungen, die sich als Minderjährige in Deutschland aufgehalten haben und nach der
Zwangsheirat an der Rückkehr nach Deutschland gehindert werden. Voraussetzung für die Inanspruchnahme
dieses Wiederkehrrechts ist eine starke Vorintegration in
Deutschland oder eine positive Integrationsprognose. Es
gibt also zwei Möglichkeiten in diesem Zusammenhang.
Des Weiteren wird die Antragsfrist zur Aufhebung einer
Zwangsehe verlängert, damit die Opfer von Zwangsheirat mehr Zeit haben, sich von dem Druck zu lösen und
einen entsprechenden Antrag zu stellen.
Ein ernst zu nehmendes aufenthaltsrechtliches Problem ist die Eingehung einer Ehe ausschließlich zu dem
Zweck, einen Aufenthaltstitel zu erlangen, eine sogenannte Scheinehe. Die Mindestbestandszeit einer Ehe,
die erforderlich ist, um ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu begründen, wird deshalb von zwei auf drei Jahre
verlängert. Damit wird der Anreiz zur Schließung von
Scheinehen verringert und die Wahrscheinlichkeit der
Aufdeckung einer Scheinehe erhöht.
Schließlich werden die Regelungen für die räumliche
Beschränkung von Asylbewerbern und Geduldeten gelockert, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung, einer Ausbildung oder eines Studiums bzw. den Schulbesuch in einem Gebiet zu erleichtern, das nicht von der
jetzigen aufenthaltsbeschränkenden Maßnahme erfasst
ist.
Das ist eine Regelung, die für Ballungsgebiete und
auch länderübergreifend gedacht ist und etwa im Großraum Berlin, im Großraum Hamburg, im Großraum Bremen helfen wird.
Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus Regelungen, die die Kontrolle der Einhaltung von Integrationsverpflichtungen verbessern sollen. Deutsche Sprachkenntnisse und Alltagswissen sowie Kenntnisse der
deutschen Rechtsordnung, Kultur und Geschichte sind
der Schlüssel für eine erfolgreiche Integration von Ausländern in Deutschland. Diese Kenntnisse werden in Integrationskursen vermittelt, deren Besuch unter den im
Aufenthaltsgesetz genannten Voraussetzungen für etliche Zuwanderer verpflichtend ist.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Verpflichtung der Ausländerbehörden noch einmal ausdrücklich normiert, vor Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis festzustellen, ob ein Ausländer seiner Pflicht
zur ordnungsgemäßen Integrationskursteilnahme auch
wirklich nachgekommen ist. Dies ist deshalb wichtig,
weil die Verletzung dieser Pflicht aufenthaltsrechtliche
Sanktionen bis hin zur Ablehnung von Anträgen auf Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen im Wege eines
pflichtgemäßen Ermessens nach sich ziehen kann.
Außerdem werden in dem Gesetzentwurf Datenübermittlungsregelungen im Zusammenhang mit der Durchführung von Integrationsmaßnahmen gesetzlich geregelt,
die bislang nur in einer Rechtsverordnung, der Integrationskursverordnung, enthalten sind. Es gibt viele, die an
diesem Thema mitarbeiten, insbesondere die Träger von
Integrationskursen, die Ausländerbehörden, die Bundesagentur für Arbeit, Argen und Optionskommunen. In diesen Fällen muss der Austausch darüber, ob jemand an einem Integrationskurs teilgenommen hat - wenn nicht, aus
welchen Gründen -, verbessert werden, sodass man die
entsprechenden Konsequenzen ziehen kann.
Das sogenannte aufenthaltsrechtliche Paket verdeutlicht in besonders guter Weise die Mischung im Bereich
von Migration und Integration, von Fördern und Fordern. Das Gesetzgebungsverfahren geht mit dem heutigen Tage los.
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Ich habe jetzt
eine ganze Palette von Wortmeldungen. Ich habe sie so
aufgeschrieben, wie sie mir zur Kenntnis gekommen
sind.
Wir fangen an mit der Kollegin Humme von der SPDFraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr de Maizière, es
ist richtig, dass wir gemeinsam das Ziel haben, Zwangsverheiratungen zu bekämpfen. Sie wollen das mit der
Schaffung eines eigenen Straftatbestandes tun. Nach
§ 240 Strafgesetzbuch ist es zurzeit so, dass bei einer
Zwangsverheiratung ein Fall von schwerer Nötigung
vorliegt. Dafür vorgesehen ist ein Strafmaß von sechs
Monaten bis zu fünf Jahren. Ist es eigentlich eine Hilfe
für Zwangsverheiratete, wenn das Strafmaß erhöht wird?
Ist es nicht eine größere Hilfe, wenn die Strafverfolgung
verbessert wird? Was ist an dieser Stelle geplant? Welche Erkenntnisse haben Sie in der Vergangenheit darüber
gewonnen, dass die Strafverfolgung so schwierig war?
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des InnernBundesminister Dr. Thomas de Maizière
Frau Abgeordnete Humme, meines Erachtens ist es
falsch, das als Alternativen zu sehen. Rechtspolitisch
macht es einen Unterschied, ob ein Unterfall der Nötigung vorliegt oder ob man der deutschen und der internationalen Öffentlichkeit mit einem eigenen, auch so benannten Paragrafen deutlich macht: Wir wollen in
Deutschland freiwillige Verheiratung und keine Zwangsheirat. Das ist rechtspolitisch ein gewichtiger Unterschied, auch wenn das Strafmaß in diesem Fall nicht erhöht werden soll. Zugleich wird in einem weiteren
Absatz festgestellt: Auch die Verschleppung von Personen für eine Zwangsheirat ist strafbar. Ich glaube, das
dient der rechtspolitischen Klarheit und ist ein Fortschritt. Die Frage der Strafverfolgung ist davon zu trennen. Sie wissen, die Länder sind dafür zuständig.
Sie fragen, warum die Verfolgung so schwierig ist.
Das liegt exakt an der Zwangslage der Frau und an den
schwierigen Beweislagen zur Aufklärung einer Straftat,
die innerhalb der Familie stattfindet. Wie Sie wissen, ist
das vor etlichen Jahren beim Thema „Vergewaltigung in
der Ehe“ diskutiert worden, also bei einer sehr ähnlichen
Fragestellung. Man sollte den Opfern nicht vorwerfen,
dass sie nicht gleich einen Strafantrag stellen; sie sind ja
einem bestimmten Zwang ausgesetzt, und sie halten sich
oft im Ausland auf. Deswegen lässt sich aus einer mangelnden Verfolgungsmöglichkeit nicht der Rückschluss
ziehen, dass wir diesen Straftatbestand nicht ernst nehmen oder nicht angemessen bezeichnen sollten. Vielmehr
brauchen wir beides: einen klaren Straftatbestand und
eine ordnungsgemäße und zügige Strafverfolgung.
Vielen Dank, Herr Bundesminister. - Jetzt hat der
Kollege Rüdiger Veit das Fragerecht.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Minister, ich
möchte meiner Frage ein anerkennendes Wort voranstellen, indem ich sage: Das Rückkehrrecht für Opfer von
Zwangsheirat, aber beispielsweise auch Erleichterungen
bei der Residenzpflicht für Geduldete sind durchaus
Schritte in die richtige Richtung. Dazu haben wir auch
als SPD-Fraktion bereits an einem eigenen Gesetzentwurf gearbeitet. Es freut uns, dass wir dabei jetzt offenbar auf einen Nenner kommen. Ich verrate auch kein Geheimnis, wenn ich sage, dass wir in der Großen
Koalition an diesem Problem auch schon gearbeitet haben. Damit leite ich zu meiner Frage über.
Bei aller Freude über dieses Aufeinander-Zugehen
habe ich kritisch zu fragen: Was veranlasst Sie als Person oder auch die Koalition - vielleicht können Sie aufgrund der Verhandlungen, die vorausgegangen sein werden, sogar für die FDP mit antworten -, jetzt zu sagen:
„Scheinehen könnten dadurch besser vermieden werden,
dass die für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Ehegatten erforderliche Ehebestandszeit von zwei auf drei
Jahre heraufgesetzt wird“? Warum gerade drei Jahre? Im
Jahr 2000 haben wir die Frist von vier auf zwei Jahre heruntergesetzt, und dies aus gutem Grund. Ich glaube, wir
haben das damals sogar mit der FDP gemacht. Was also
veranlasst die Regierung, zu glauben, mit einer Verlängerung der Frist um ein Jahr würden Sie diesem Phänomen besser begegnen können?
Wenn ich das sagen darf: Ich persönlich habe dieses
Ansinnen auch in Zeiten der Großen Koalition immer als
eine sittlich nicht ganz gerechtfertigte Verbindung
zweier unterschiedlicher Sachverhalte angesehen, die
deswegen auch nicht zu einem faulen Kompromiss verbunden werden konnten.
Bei aller Freude also diese leichte Eintrübung und die
daraus abgeleitete Frage: Warum jetzt wieder diese Koppelung?
Ich freue mich, dass Sie zu einigen dieser Regelungen
eine Zustimmung in Aussicht stellen. Es tut gut, wenn
man in diesen Fragen in beiden Kammern Deutschlands
eine große Mehrheit zustande bringt.
Was uns veranlasst hat, dies zusammen zu regeln,
wissen Sie natürlich selbst. Sie kleiden Ihre These nur in
eine Frage; das ist verständlich.
({0})
Aber ich will gern Folgendes sagen: Für uns ist der
Schutz der Ehe wichtig, nicht nur weil das im Grundgesetz steht, sondern aus innerer Überzeugung. Wir haben
auch Verständnis dafür, dass man, wenn Ehen zwischen
jemandem, der in Deutschland lebt, und jemandem, der
im Ausland lebt, zustande gekommen sind, einen Ehegattennachzug organisiert. Denn Ehepartner sollen zusammenleben können und dürfen. Das Problem ist nur,
dass diese sinnvollen und vernünftigen Maßnahmen zum
Schutz der Ehe missbraucht worden sind und ständig
missbraucht werden, um in Wahrheit einen ungesteuerten Zuzug nach Deutschland zu organisieren, und dies
unter Missachtung der Rechte der Frauen. Das wollen
wir verhindern. Das ist immer ein Optimierungsproblem.
Deswegen die Regelung bezüglich der Zwangsheirat.
Das ist ein Baustein, der unter bestimmten Voraussetzungen auch ein Rückkehrrecht für die Opfer vorsieht.
In diesem Zusammenhang will ich auch das Eingehen
einer Scheinehe nennen, einer Ehe, die den Zweck hat,
dass anschließend ein Ehepartner - in der Regel ist dies
eine Frau - ein eigenständiges Aufenthaltsrecht bekommt. Ist die Frist sehr kurz, so ermuntern Sie manche
dazu, die vernünftigen Regelungen, die es gibt, damit
Ehepartner zusammenleben können, zu missbrauchen,
wodurch es zu einer Zuwanderung nach Deutschland
kommt, die so nicht beabsichtigt war.
Insoweit ist die Frist von drei Jahren besser als eine
Frist von zwei Jahren. Wir gehen davon aus, dass gute
Ehen in der Regel zwei bis drei Jahre und möglichst länger halten sollten. Je kürzer eine Ehe ist, desto stärker ist
dies ein Indiz dafür, dass die Ehe vielleicht aus ganz bestimmten Gründen eingegangen worden ist.
Insoweit finde ich drei Jahre besser als zwei, und drei
Jahre sind ein Kompromiss zwischen zwei und vier Jahren.
({1})
Vielen Dank. - Jetzt hat das Fragerecht die Kollegin
Sevim Dağdelen.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr
Minister, ich muss im Anschluss an die Frage des Kollegen Veit nachfragen. Sie haben von Missbrauchsfällen
berichtet. Es wäre interessant, zu wissen, auf welcher
empirischen Grundlage diese Bundesregierung diese
Aussagen macht, dass hier Missbrauch betrieben wird
und deshalb die Ehebestandszeit von zwei auf drei Jahre
verlängert werden soll. Den Deutschen Bundestag haben
in den letzten Jahren sehr viele Praktikerinnen und Praktiker sowie Expertinnen und Experten über die Zwangssituation der Frauen unterrichtet.
Wir haben in der letzten Wahlperiode, als Sie nicht Innenminister waren, mit Ihrem Vorgänger, Herrn
Schäuble, im Bundestagsinnenausschuss Anhörungen
zum Thema Zwangsverheiratung durchgeführt; auch im
Familienausschuss fanden dazu Anhörungen statt. Dabei
wurde immer wieder von Expertinnen und Experten Folgendes gefordert: Wenn man den Opferschutz tatsächlich
möchte - von diesem haben Sie gerade gesprochen -,
dann sollte man die Ehebestandszeit nicht verlängern,
sondern eher reduzieren.
Ich komme zu meiner eigentlichen Frage zum Thema
Opferschutz: Inwieweit wird die Bundesregierung die
vom Forum Menschenrechte geforderten Verbesserungen im Opferschutz umsetzen, beispielsweise Regelungen im Melderecht schaffen, die verhindern, dass ein
bundesweiter Zugriff auf die Daten von bedrohten oder
von Zwangsverheiratung betroffenen Personen möglich
wird, sodass nicht der Mann über das Scheidungsverfahren oder das gerichtliche Umgangs- und Sorgerechtsverfahren am Amtsgericht den Wohnort der jungen Frau
herausfinden kann und damit alle Anonymisierungsbemühungen zunichte gemacht werden? - Ich hoffe, Sie
haben die Frage verstanden. Wenn nicht, kann ich sie
wiederholen.
Ich möchte, ehrlich gesagt, jetzt nicht im einzelnen zu
Forderungskatalogen von noch so ehrwürdigen Organisationen Stellung nehmen; das kann gerne im Gesetzgebungsverfahren geschehen.
Das Melderecht enthält bestimmte Auskunftsrechte,
welche jedermann zur Verfügung stehen. Nun in Bezug
auf Ihre Fallkonstellation eine spezifische Auskunftseinschränkung vorzunehmen, scheint meiner Meinung nach
problematisch zu sein; darüber können wir allerdings
gerne im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens reden.
Die Frage der Beweisführung und des Opferschutzes
ist in allen Fällen schwierig. Wir haben mit diesem Gesetzentwurf versucht, diesbezüglich einen vernünftigen
Ausgleich zu finden. Dass wir damit nicht alle Fälle erfassen, ist sicherlich wahr. Denn wir haben es in dieser
Fallkonstellation - ich sage es einmal etwas hart - mit
verdecktem Elend zu tun, und die Aufdeckung wird
manche Frau in eine doppelte Opferrolle bringen, weil
sie womöglich aussagen muss; das kennen wir bereits
aus vielen anderen Bereichen des Strafrechts.
Trotzdem finden wir, dass wir in dieser Gesellschaft
klar sagen müssen, dass wir diese Art von archaischen
Strukturen, diesen Missbrauch der Ehe in unserem Land
und zum Zwecke des Erschleichens des Zugangs in unser Land nicht dulden wollen. Das ist die Aussage dieses
Entwurfs.
Danke schön. - Der nächste Fragesteller ist der Kollege Memet Kilic.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Sehr geehrter Herr
Bundesinnenminister, ich habe im Juli einen Antrag zur
Verbesserung der Rechte von zwangsverheirateten Personen gestellt. Ich kann mit Freude feststellen, dass die
Koalition über ihren Schatten gesprungen ist und sich
auf einem Gebiet - ich meine die Rückkehrrechte von
Zwangsverheirateten - Bewegung abzeichnet. Ich hoffe,
dass es bis zum Ende so bleibt und dass Herr Grindel
auch weiterhin zustimmt.
({0})
Das wird auch so bleiben, denke ich.
Würden Sie mir zustimmen, dass Verschleppung bereits nach heute geltendem Recht strafbar ist? Das ist
schließlich Freiheitsberaubung. Wenn Sie diese Verbesserung damit begründen, ist es womöglich nicht richtig.
Würden Sie mir auch zustimmen, dass Zwangsverheiratung in Deutschland bereits seit Jahren aufgrund von
§ 240 des Strafgesetzbuches verboten ist? Und würden
Sie mir auch zustimmen, dass die damalige rot-grüne
Bundesregierung diese zu einem besonders schweren
Fall der Nötigung erklärt und ein Strafmaß von bis zu
fünf Jahren vorgesehen hat?
Sie sehen allerdings in der Tat ein Novum vor. Denn
Sie sagen: In minderschweren Fällen wird das Strafmaß
sechs Monate bis drei Jahre betragen. Ich würde sagen:
Genauso wenig wie es „ein bisschen Schwangerschaft“
gibt, so wenig gibt es auch „ein bisschen Zwangsverheiratung“. Wie also soll man sich minderschwere Fälle bei
Zwangsverheiratung vorstellen, wofür das niedrigere
Strafmaß vorgesehen ist?
Ein weiterer Bereich ist: Sie wollen die Zahlen bezüglich der Verweigerung der Teilnahme an Integrationskursen ermitteln. Aber Sie haben schon im Vorhinein
erklärt, dass 10 bis 15 Prozent der Immigranten Integrationsverweigerer sind. Danach haben Sie versucht, zuDr. Thomas de Maizière, Bundesminister des InnernBundesminister Dr. Thomas de Maizière
rückzurudern; aber das ist nicht gelungen. Ihre Antwort
auf eine schriftliche Frage von mir belegt Ihre Aussage
nicht.
Nach unseren Erkenntnissen besuchen die Immigranten die Integrationskurse. 140 000 nehmen zurzeit daran
teil, 9 000 warten darauf. Bis Ende dieses Jahres werden
es 20 000 Immigranten sein.
Herr Kollege Kilic.
Ich komme sofort zum Schluss. - Die Leute, die die
Teilnahme an den Kursen abbrechen, haben unterschiedliche Gründe: Es können gesundheitliche Gründe sein,
oder sie finden einen Job; in dem Fall müssen sie den Integrationskurs sogar abbrechen und dem Job den Vorrang geben. Würden Sie also die Zahl korrigieren und
sagen, dass nicht 10 bis 15 Prozent der Immigranten integrationsunwillig sind?
Ich beginne einmal mit Ihrer ersten Frage. Wenn Ergänzungen nötig sind, bitte ich Herrn Stadler, diese vorzunehmen; denn das Justizministerium ist ja für das
Strafrecht zuständig.
Man könnte sehr viele Paragrafen des Strafrechts
streichen und alles unter Beleidigung und Nötigung fassen. Wir haben vor einiger Zeit das Stalking, die unangemessene Belästigung, als Straftatbestand eingeführt.
Auch das ist eine Art Nötigung. Ich finde - ich wiederhole das noch einmal; ich habe es der Kollegin Humme
schon gesagt -, es macht einen Unterschied, ob ich von
einem noch so gewichtigen Unterfall der Nötigung spreche oder ob ich im In- und Ausland sage: Wir wollen
keine Zwangsheirat. - Das ist ein großer rechtspolitischer Unterschied. Es dient der Systematisierung und
der Transparenz, auch im Hinblick auf das gesellschaftliche Unwerturteil. Deswegen haben wir das heute so beschlossen.
Zu Ihrer zweiten Frage: Ich habe nicht gesagt, dass
nach meiner Schätzung 10 bis 15 Prozent aller Migranten integrationsunwillig sind. Vielmehr habe ich gesagt,
dass 10 bis 15 Prozent der hier lebenden Muslime integrationsunwillig sind.
({0})
Das ist eine Schätzung, die ich vorgenommen habe. Ich
habe das auch ausdrücklich so vorgetragen. Das ist eine
Schätzung, die sich aus der großen Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ herleitet, die im Zusammenhang mit der Deutschen Islam-Konferenz in der letzten Legislaturperiode entstanden ist. Ein paar Indizien
aus dieser Studie - zum Beispiel Nichtteilnahme am
Sportunterricht, auch Selbstaussagen von Betroffenen bringen mich zu der Aussage, die ich in Bezug auf Muslime - nicht auf die Gesamtheit der Migranten - getroffen habe. Das ist von interessierter Seite anders berichtet
worden. Aber das war immer meine Aussage, und dabei
bleibt es auch.
Was die Frage des Abbruchs der Teilnahme an Integrationskursen angeht, so ist es wahr: Viele Gründe können ausschlaggebend dafür sein. Ungefähr 30 Prozent
der Teilnehmer brechen einen Integrationskurs ab oder
bringen ihn nicht erfolgreich zum Abschluss. Das kann
viele Ursachen haben: Man findet Arbeit, der Ehepartner
verbietet vielleicht die Teilnahme, es liegt eine Krankheit vor, ein Kind wird krank und vieles andere. Es kann
aber auch Integrationsunwilligkeit sein. Bisher haben
wir diesbezüglich keine klaren Erkenntnisse. Weder die
Ausländerbehörden noch die Argen und Optionskommunen haben das bislang verfolgt und sich ausführlich damit befasst.
Wir wollen, dass sich das ändert. Erstens muss ein
Datenaustausch zwischen dem Träger eines Kurses und
den zuständigen Behörden möglich werden. Zweitens
wollen wir, dass die Ausländerbehörden gezwungen
werden, darauf zu achten, woran es gelegen hat, wenn
ein dazu Verpflichteter nicht an einem Integrationskurs
teilgenommen hat. Dann muss im Wege des pflichtgemäßen Ermessens entschieden werden, ob deswegen die
Aufenthaltsgenehmigung nicht erteilt oder nicht verlängert wird.
({1})
Es gibt da keinen Automatismus, sondern im Wege des
pflichtgemäßen Ermessens muss berücksichtigt werden,
dass es unterschiedliche Gründe dafür geben kann, der
Verpflichtung der Teilnahme an einem Integrationskurs
nicht nachgekommen zu sein.
Dass wir hier offensichtlich ein Vollzugsdefizit haben, scheint mir unstreitig zu sein. Ich werde mit meinen
Kollegen Innenministern noch darüber zu reden haben,
woran das liegt. Aber das Argument, wir könnten bestimmte Sachen nicht machen, um das Vollzugsdefizit zu
beheben, etwa weil wir die Daten nicht austauschen
dürften, möchte ich durch diesen Gesetzentwurf entkräften.
Der nächste Fragesteller ist der Kollege Josef
Winkler.
({0})
- Entschuldigung! Es bedarf noch einer weiteren Antwort. Herr Kollege Dr. Stadler, bitte.
Herr Kollege Kilic, zu Ihren strafrechtlichen Fragen
darf ich noch auf Folgendes aufmerksam machen: Zunächst einmal sind wir alle uns sicherlich einig, dass es
ein elementares Menschenrecht ist, selber frei zu entscheiden, ob man eine Ehe eingeht und, wenn ja, mit
wem.
({0})
Dass dieses elementare Menschenrecht durch die
Rechtsordnung, auch durch das Strafrecht, geschützt
werden muss, ist unstreitig. Hinzu kommt jetzt, dass es
beim Rückkehrrecht Verbesserungen für die Opfer gibt;
das hat Herr Minister de Maizière ausgeführt.
Die Koalition aus SPD und Grünen hat das, was die
strafrechtliche Seite angeht, übrigens genauso gesehen,
da sie beim Nötigungstatbestand die Zwangsverheiratung als besonders schweren Fall definiert hat. Das
taucht spiegelbildlich im neuen Grundtatbestand des
§ 237 Abs. 1 auf. Insofern gibt es hier sicherlich keinerlei Differenz.
({1})
Hinzu kommt jetzt, dass wir auch andere Tatmodalitäten
unter Strafe stellen, die zum Teil im Strafgesetzbuch verstreut, in anderen Vorschriften erfasst waren, zum Teil
aber auch nicht. Das betrifft das Verbringen des Opfers
ins Ausland zum Zweck der Begehung der Tat.
({2})
Soweit dies durch Gewalt geschieht, ist es als Verschleppungstatbestand erfasst. Darüber hinaus gibt es den Begriff der Drohung mit einem empfindlichen Übel - das
war bisher Nötigung -, aber auch die Verbringung ins
Ausland durch List. Es ist schon fraglich, ob das von den
bestehenden Strafgesetzen wirklich erfasst wird. Die
neue Regelung dient auch der Rechtsklarheit, weil dies
alles jetzt in einer einzigen Vorschrift zusammengefasst
und somit eindeutig als strafwürdiges Verhalten gekennzeichnet ist.
Sie hatten die Frage aufgeworfen, ob minderschwere
Fälle überhaupt denkbar seien, die nach unserem Entwurf mit einem geringeren Strafrahmen bedacht sind,
nämlich mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei
Jahren, während der Grundtatbestand wie im bisherigen
§ 240 Abs. 4 mit sechs Monaten bis fünf Jahren Freiheitsstrafe bestraft wird. Es ist eine bekannte Regelungstechnik im Strafgesetzbuch, dass vom Gesetzgeber bei
vielen Straftatbeständen auch die Möglichkeit eines minderschweren Falls vorgesehen ist. Wir sind uns einig,
dass bei dem Straftatbestand der Zwangsheirat vermutlich eher selten ein minderschwerer Fall angenommen
werden kann; dies haben wir auch in die Begründung des
Gesetzentwurfs geschrieben. Gleichwohl wollten wir der
gerichtlichen Praxis diese Möglichkeit eröffnen.
Sie wissen, dass auch der Versuch strafbar ist, jemanden ins Ausland zu verbringen. Die Tatmodalitäten stellen sich in einer Gesamtwürdigung möglicherweise etwas anders dar als der Grundtatbestand. In die
Gesamtbewertung - Herr Kollege Montag als Strafverteidiger weiß das - fließt auch die Persönlichkeit des Täters, die bisherige Unbescholtenheit und Ähnliches ein.
Daher kann es Fälle geben, in denen ein minderschwerer
Fall in Betracht kommt. Wir wollen es gerne der strafrichterlichen Praxis überlassen, das zu definieren. Von
der Gesetzgebung her meinen wir aber, dass das der seltene Ausnahmefall sein wird. So ist es auch in der Begründung dargestellt.
Vielen Dank. Das war auch für Nichtjuristen eine
kleine Lehrstunde.
Das Fragerecht hat jetzt der Kollege Josef Winkler.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Bundesinnenminister, im Koalitionsvertrag wurde vereinbart, dass die
Verlängerung der Ehebestandszeit zur Erlangung eines
eigenständigen Aufenthaltstitels von zwei auf drei Jahre
geprüft werden soll. Uns würde interessieren, was bei
dieser Prüfung herausgekommen ist; denn Sie haben sich
für einen Zeitraum von drei Jahren entschieden. Der Begründung des Gesetzentwurfs entnehme ich dazu nur die
Formulierung, dass Wahrnehmungen aus der ausländerbehördlichen Praxis darauf hindeuten, dass die Verkürzung der Mindestehebestandszeit auf zwei Jahre zu einer
Erhöhung der Scheineheverdachtsfälle geführt hat. Nun
besteht aber ein Unterschied zwischen Verdachtsfällen,
bei denen Wahrnehmungen darauf hindeuten, dass ihre
Zahl zugenommen hat, und tatsächlichen Fällen. Das Ergebnis Ihrer Prüfung halte ich daher auch in Anbetracht
der Tatsache, dass Sie den Sachverhalt ernsthaft prüfen
wollten, für nicht besonders stichhaltig.
Ich möchte Sie noch zu einem anderen Punkt fragen,
und zwar zur Regelung für die Wiedereinreise. Plant die
Bundesregierung, für Personen, die von Zwangsverheiratung nur bedroht sind und versuchen, dieser zu entkommen, die Einreise nach Ablauf der Sechsmonatsfrist
ebenfalls zu erleichtern, oder halten Sie diese Personengruppe für nicht schutzbedürftig? Nach dem Wortlaut
des Gesetzentwurfes gilt das Recht auf Wiedereinreise
nur für bereits zwangsverheiratete Personen.
Meine Antwort auf die erste Frage: Das Ergebnis der
Prüfung ist der heute vorliegende Gesetzentwurf.
Meine Antwort auf die zweite Frage: Die von Ihnen
angesprochene Konstellation wird außerordentlich selten
sein. Das Rückkehrrecht bezieht sich auf Personen, insbesondere Frauen und Minderjährige, die hier waren und
beispielsweise zur Ferienzeit mit List, mit Gewalt oder
auf andere Weise ins Ausland - ich sage es einmal neutral - verbracht werden, verheiratet werden und dann zurückkehren können sollen. Wer hier ist und von Zwangsverheiratung nur bedroht ist, für den ist die
entsprechende Regelung nicht einschlägig. Dieser Fall
wird daher so gut wie nie eintreten.
Die nächste Frage stellt der Kollege Jerzy Montag.
Danke, Herr Präsident. - Herr Minister, ich weiß, dass
Sie ein glänzender Jurist sind. Außerdem sind Sie für
diesen Gesetzentwurf verantwortlich. Deswegen erlaube ich mir, diese Frage, obwohl sie sich auf das Strafrecht bezieht, erst einmal an Sie zu stellen. Wenn Sie
mögen, können Sie die Beantwortung gern Herrn Staatssekretär Stadler überlassen.
Es geht um die Strafvorschriften, die Sie vorschlagen.
Insbesondere für das Strafrecht gilt: Wenn es nicht unabweisbar nötig ist, ein Gesetz zu machen, ist es unabweisbar nötig, kein Gesetz zu machen. Nun stellen Sie eine
Vorschrift vor, die bis auf Punkt und Komma - sowohl
was das Strafmaß als auch was die Textformulierung anbelangt - dem seit fünf Jahren geltenden Recht entspricht. Sie führen sozusagen nur eine Umetikettierung
durch. Dafür muss es einen vernünftigen Grund geben.
Ich frage Sie, ob Ihnen vielleicht Tatsachen bekannt
sind, die es unabdingbar machen, der Strafvorschrift eine
neue Überschrift zu geben, nämlich dass beispielsweise
die Polizeibehörden das bisherige Recht nicht richtig
kennen oder dass die Staatsanwaltschaften den besonderen Tatbestand der Nötigung nicht im Auge gehabt haben, sodass die Straftaten - es handelt sich ja nicht um
ein Antragsdelikt - nicht verfolgt worden sind. Was ist
also außer der Umetikettierung der Grund dafür, dass Sie
die Strafvorschrift ändern?
Der zweite Teil meiner Frage geht in die gleiche
Richtung. Ich bin ein Freund der minderschweren Fälle;
vorhin wurde ich darauf persönlich angesprochen. In allen Fällen, in denen eine Mindeststrafe von sechs Monaten vorgesehen ist, sollte es den Richtern möglich sein,
auch minderschwere Fälle zu judizieren. Fakt ist aber,
dass Sie mit diesem Gesetzentwurf entgegen den Verlautbarungen in der Presse die Strafvorschriften zur
Zwangsverheiratung nicht verschärfen - Sie lassen sie
nicht einmal gleich -, sondern entschärfen, indem Sie
diese minderschweren Fälle einführen. Das sollten Sie
der Ehrlichkeit halber der Öffentlichkeit sagen.
Herr Abgeordneter, da wir alle - Sie, Herr Stadler und
ich - ordentliche Juristen sind, können wir das im Rahmen der Zuständigkeit beantworten. Ich würde deshalb
den ehemaligen Staatsanwalt Stadler bitten, zu antworten.
Ich will nur eines vorweg sagen. Sie haben von einer
Umetikettierung gesprochen. Das klingt so herabwürdigend. Ich finde, das ist auch rechtspolitisch ein wichtiger
Punkt: Wie bezeichnen wir das, was wir allgemein für
strafwürdig halten? Ich finde, es ist rechtspolitisch ein
gewichtiger Unterschied, ob wir Zwangsheiraten als einen Unterfall von Nötigung bezeichnen oder aber durch
Schaffung einer eigenen Regelung zum Ausdruck bringen: Wir wollen keine Zwangsheiraten.
({0})
Kollege Stadler.
Herr Kollege Montag, wir alle wissen, dass mit dem
Straftatbestand der Nötigung die Willensentschließungsfreiheit strafrechtlich geschützt wird. Nun kann man seinen Willen zu verschiedenen Handlungen oder Unterlassungen äußern. Ich habe es schon vorhin ausgeführt: Ich
finde, dass die Entscheidung, ob man eine eheliche Bindung eingeht und mit wem, ein so elementares Menschenrecht ist, dass es durchaus gerechtfertigt ist, diese
Entscheidung mit einer eigenen Norm unter strafrechtlichen Schutz zu stellen, auch wenn Zwangsheiraten
schon durch den Strafbestand der Nötigung, der viele andere Sachverhalte mit erfasst, unter Strafe gestellt waren.
Es geht hier um den Schutz von Mädchen und jungen
Frauen im Hinblick auf ihre freie Willensentscheidung,
ob sie eine Ehe eingehen und mit wem.
({0})
Das ist ein spezieller Fall. Die Freiheit der Eheschließung ist nicht nur durch Art. 6 des Grundgesetzes geschützt, sondern auch durch die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Menschenrechtscharta.
Deswegen halte ich es für eine durchaus gerechtfertigte
Entscheidung, den Schutz dieser Freiheit im Strafgesetzbuch gesondert zum Ausdruck zu bringen.
Sie haben recht, dass der Strafrahmen der bisher gültigen Vorschrift zur Nötigung nach § 240 Abs. 4 Strafgesetzbuch entnommen ist. Ich stimme Ihnen ebenfalls zu,
dass es zweckmäßig ist, den Richtern für die vielen Einzelfälle - man kann bei Verabschiedung eines Gesetzes
gar nicht vorhersehen, was sich in der Praxis zuträgt die Möglichkeit zu geben, das Strafmaß sachgerecht, auf
den jeweiligen Einzelfall bezogen festzulegen. Deshalb
sehen wir, dem Vorbild vieler anderer Straftatbestände
folgend, einen minderschweren Fall mit einem anderen
Strafrahmen vor. Ich bin sicher, dass die Judikatur davon
in sachgerechter Weise Gebrauch machen wird.
({1})
Vielen Dank. - Eigentlich ist die Zeit für die Befragung der Bundesregierung abgelaufen. Wenn Sie einverstanden sind, verlängere ich die Zeit dafür, und zwar auf
Kosten der Fragestunde, bei der die Zeit dann möglicherweise nicht ganz ausgeschöpft werden kann. - Darüber scheint Einvernehmen zu bestehen.
Die nächste Frage hat die Kollegin Heidrun Dittrich.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Minister, ich
habe eine Detailfrage zum Schutz der Opfer von
Zwangsverheiratungen. Nach dem Personenstandsgesetz
muss eine Namensänderung in das Familienbuch eingetragen werden, in das enge Angehörige Einsicht nehmen
dürfen. Dadurch sind Betroffene extrem gefährdet. Im
Notfall kann den Behörden jedoch die Bedrohungssituation einer Betroffenen dargelegt und so eine Eintragung
des neuen Namens verhindert werden. Diese Prozedur
ist jedoch schwierig. Es werden hohe Anforderungen an
die Glaubhaftmachung einer Zwangsverheiratung oder
einer entsprechenden Bedrohung gestellt. Beabsichtigen
Sie, diese hohen Anforderungen zu senken, um den
Schutz der Opfer von Zwangsverheiratungen besser zu
gewährleisten?
Frau Abgeordnete, ich muss freimütig gestehen, dass
ich die Frage nicht aus dem Stand beantworten kann. Ich
würde Ihnen die Antwort gern schriftlich nachreichen.
Die nächste Frage hat die Kollegin Monika Lazar.
Ich habe eine Nachfrage zur Erhöhung der zur Erlangung eines Aufenthaltstitels notwendigen Ehebestandszeit. Mein Kollege Winkler hat schon versucht, Ihnen etwas mehr zu entlocken als die Antwort: Das Ergebnis
sehen Sie heute. In der Gesetzesbegründung heißt es,
dass Wahrnehmungen darauf hindeuten. Uns würde interessieren, welche Wahrnehmungen Sie haben. Können
Sie uns diese Wahrnehmungen mitteilen? Unter anderem
Terre des Femmes sieht die Erhöhung der Ehebestandszeit sehr kritisch. Diese Organisation, die sich seit vielen
Jahren für Frauenrechte einsetzt, spricht sich dagegen
aus.
Ich habe eine weitere Frage zu diesem Themenkomplex. Es gibt eine Härtefallregelung. Wissen Sie, wie viele
Frauen und Männer von der Härtefallregelung Gebrauch
machen und die Möglichkeit zur Verkürzung der Ehebestandszeit in Anspruch nehmen? Können Sie uns diese
Zahlen zur Verfügung stellen?
Frau Abgeordnete, wir haben weder zu der Frage
„Wie viele Zwangsverheiratungen gibt es in Deutschland?“ noch zu der Frage „ Wie viele Scheinehen gibt es
in Deutschland?“ eine Statistik. Das liegt in der Natur
der Sache. Diese Ehen werden schließlich in scheinbarem Einvernehmen der Beteiligten geschlossen, um die
wahre Absicht des Vorgangs zu verschleiern. Es wäre erstaunlich, wenn man hierzu Statistiken hätte.
Beides wollen wir aber nicht. Wir wollen weder
Zwangsheiraten noch Scheinehen. Herr Stadler hat überzeugend vorgetragen, warum wir keine Zwangsheiraten
wollen. Wir wollen auch keine Scheinehen, und zwar
nicht nur, weil man sich dadurch das Recht zum Zuzug
nach Deutschland erschleicht, sondern auch, weil es unserem Verständnis von der Würde und dem Ansehen der
Ehe nicht entspricht, sie nur zum Schein einzugehen. Sie
wissen aber selbst - schließlich haben Sie eine entsprechende Nichtregierungsorganisation erwähnt -, dass wir
auf diesem Gebiet ein beträchtliches Problem in unserer
Gesellschaft haben.
Wir schaffen jetzt die Möglichkeit, diese Fälle aufzudecken. Natürlich brauchen wir dafür die Mitarbeit Betroffener. Einige Zeit nach Inkrafttreten des Gesetzes
können wir aufzeigen, wie es wirkt. Es liegt aber in der
Natur der Sache, dass es kaum Statistiken über Zwangsheiraten und Scheinehen gibt.
({0})
Die nächste Frage stellt die Kollegin Ekin Deligöz.
Herr Minister, ich gebe zu, dass es eine frauenpolitische Errungenschaft ist, wenn es in Zukunft ein Rückkehrrecht gibt. Das ist eine Forderung, die ich als Familienpolitikerin schon seit Jahren stelle. Leider konnte ich
sie bisher, auch zur Zeit einer anderen Regierungskoalition, nicht durchsetzen. Ich gebe zu, dass das ein wichtiger Schritt ist.
Jetzt kommt mein großes Aber bei der Sache. Wir reden hier über juristische Finessen, die ihre Berechtigung
haben und die ich auch nicht schmälern will. Wenn ich
mir aber die Praxis in Deutschland anschaue, stelle ich
fest, dass die größten Defizite nicht im Bereich des
Strafrechts liegen, sondern die Situation vor Ort betreffen. Was werden Sie tun, um Ihre Absicht, diese Form
von unmenschlicher Heirat zu verhindern, Wirklichkeit
werden zu lassen? Welche Begleit- und Unterstützungsmaßnahmen wollen Sie ergreifen? Wird es dazu eine
Kampagne geben? Werden Sie darauf insistieren, dass es
Beratungsstellen gibt? Werden Sie Unterstützungsmaßnahmen anbieten, zum Beispiel in Frauenhäusern, damit
die Frauen, die sich befreien und zurückkehren, auch die
Möglichkeit haben, sich an jemanden zu wenden? Wenn
es zwar eine Rückkehroption, aber keine Aufnahmeoption gibt, werden die Frauen den entscheidenden Schritt
vermutlich nicht wagen, sondern sich sozusagen ergeben
und in die Familienstruktur, die sie unter Druck setzt, zurückkehren müssen. Mit welchen Begleitmaßnahmen
wollen Sie Ihre Intention, die richtig ist, durchsetzen?
Aus dem Blickwinkel der Frauen- und Familienpolitik
war bisher nicht der Straftatbestand das entscheidende
Problem, sondern die Tatsache, dass Deutschland nicht
in der Lage war, Unterstützungsstrukturen für diese Opfer aufzubauen.
Heute reden wir über ein Paket, das sich auf das Aufenthaltsrecht bezieht. Es besteht aus einem strafrechtlichen Element und aus einer Gesetzgebung, die mit dem
Aufenthaltsgesetz zu tun hat. Das ist Gegenstand dieses
Gesetzentwurfs. Damit können wir die ganze soziale
Wirklichkeit und die Dramen, die sich abspielen, natür7110
lich nicht abbilden. Für manches sind auch die Länder
zuständig. Es nützt aber überhaupt nichts, ein Programm
für eine Wiederaufnahme vor Ort zu machen, wenn es
kein Rückkehrrecht gibt. Das heißt: Ohne ein solches
Rückkehrrecht und ohne dass man den Straftäter - ob es
nun der Vater, der Bruder, der Onkel oder sonst jemand
ist - an den Kanthaken bekommt, wird es nicht gehen.
Das andere sind Maßnahmen, die folgen können. Es
gibt auch entsprechende Strukturen. Wir haben Opfervereinigungen, Beratungsstellen und Frauenhäuser, die
sich kümmern. Aber wenn wir den rechtlichen Rahmen
nicht hinbekommen - sowohl mit Blick auf die klarere
Regelung der Strafe als auch mit Blick auf das Rückkehrrecht -, nützen Hilfsmaßnahmen nichts. Das eine
schließt das andere nicht aus.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Aydan Özoğuz.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Bundesinnenminister, zweifellos sind Forschung und Wissenschaft
ganz wichtige Grundlagen unserer Arbeit. Ich möchte
aber doch zum Ausdruck bringen, dass ich es wirklich
für schwierig halte, wenn die Befragung von Jugendlichen zu ihrem kriminellen Verhalten verbunden mit der
Frage, wie religiös sie sich fühlen, zu der Aussage des
Bundesinnenministers führt, dass 10 bis 15 Prozent der
Muslime bei uns integrationsunwillig seien. Ich denke,
darüber sollten wir noch einmal sprechen.
Meine Frage geht aber eher in den Bereich des Opferschutzes. Sie haben vorhin gesagt, dass eine starke Vorintegration die Voraussetzung für das eigenständige Wiederkehrrecht sei. Ich würde dies gerne noch ein wenig
präzisiert bekommen. Was ist eine starke Vorintegration?
Spielt das Einkommen eine Rolle? Spielt der Bildungsstand eine Rolle? Was genau ist damit gemeint?
({0})
Zum ersten Punkt. Ich habe mich bei meiner Antwort
ausdrücklich nicht auf die Studie des Direktors des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zur
überproportional hohen Gewaltneigung junger Muslime
bezogen. Sie haben sich jetzt darauf bezogen. Diese Studie ist bemerkenswert. Ob sie so aussagefähig ist, halte
auch ich für fragwürdig.
Ich habe meine Aussage auf die große Studie über islamisches Leben in Deutschland von Faruk Sen und anderen bezogen, die in den Jahren 2008 und 2009 durchgeführt worden ist. Durch die Fülle von Aussagen, wie
man zum Staat steht, ob man den Staat ablehnt oder
nicht, und zu ähnlichen Fragen komme ich zu diesem Ergebnis, dass es sich um 10 bis 15 Prozent der Muslime
handelt. Das ist meine Quelle - und nicht Herr Pfeiffer.
Es ist wichtig, darauf noch einmal hinzuweisen.
Nun zu Ihrer Frage. Es gab schon einen Zwischenruf
aus unserer Mitte: Das steht in der Tat im Gesetz. Man
muss zwischen minderjährig und nicht minderjährig unterscheiden. Mit erfolgreicher Vorintegration ist insbesondere gemeint, wenn man sich hier schon lange aufgehalten hat und auch erfolgreich die Schule besucht hat.
Dann wird das Rückkehrrecht in besonderer Weise erleichtert. Im Übrigen verweise ich auf den Wortlaut des
Gesetzes.
Vielen Dank. - Ich muss die Befragung der Bundesregierung zu diesem Themenkomplex leider beenden. Wir
haben den vorgesehenen Zeitrahmen schon um elf Minuten überschritten. Es gibt allerdings noch zwei weitere
Fragen.
Nun ist schon kritisiert worden, dass diejenigen, die
zur Fragestunde gekommen sind, Gefahr liefen, ihre Fragen nicht beantwortet zu bekommen. Ich darf Sie deshalb fragen: Trifft es auf Ihre Zustimmung, dass wir die
Befragung der Bundesregierung jetzt beenden? - Dann
rufe ich noch die beiden Fragen, die nicht zu diesem
Themenbereich gehören, auf. Bei den Fragestellern handelt es sich um die Kollegin Sevim Dağdelen und den
Kollegen Stefan Liebich.
Frau Dağdelen, bitte.
Herr Minister, eigentlich ist dieser Komplex schon
angesprochen worden. Es geht um die heute im Kabinett
ebenfalls beschlossenen Sanktionen bei vermeintlichen
Integrationsverweigerern in Deutschland.
Wie bereits angesprochen wurde, haben laut einer
Meldung des Tickerdienstes epd acht Träger von Integrationskursen für Migranten angesichts der Tatsache,
dass das Kabinett heute über mehr Sanktionen entschieden hat, auf die geringe Abbrecherquote hingewiesen.
Ich zitiere:
„Es gibt so gut wie keine Abbrecher aus mangelndem Integrationsinteresse“, erklärten acht Bildungsträger gemeinsam am Mittwoch in Bonn. …
Dringenden Handlungsbedarf sehen die Bildungsträger an anderer Stelle.
Sie sehen also keinen Handlungsbedarf im Bereich von
Sanktionen, die es sowieso schon gibt. Hier heißt es weiter:
Rund 10 000 Menschen, die an Integrationskursen
teilnehmen wollten, stünden auf Wartelisten, weil
für ihre Kurse nicht genug Geld zur Verfügung
stehe … Bis zum Jahresende könne sich die Zahl
sogar auf 20 000 verdoppeln.
Herr Minister, Sie sprechen - nachzulesen zum Beispiel in einem gestern im Tagesspiegel veröffentlichten
Interview - immer noch von Integrationsverweigerern
und sind nicht in der Lage, auf parlamentarische Fragen
von Abgeordneten und Fraktionen, welche Erkenntnisse
Ihnen über Integrationsverweigerer vorliegen, Antworten zu geben. Deshalb lautet meine Frage an Sie: Sind
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des InnernBundesminister Dr. Thomas de Maizière
Sie nicht der Auffassung, dass es pauschal und sehr diskriminierend ist, von etwas zu sprechen, dem jedwede
Grundlage in der Realität fehlt, und gleichzeitig Sanktionen vorzusehen? Dies stellt letztendlich nur eine hektische Aktivität der Bundesregierung dar, hat aber mit der
Lebenswirklichkeit in Deutschland nichts zu tun.
Herr Minister.
Frau Abgeordnete, das war eher ein Debattenbeitrag
als eine Frage. Ich fand und finde meine Äußerungen
nicht pauschal. Das ist meine Antwort.
Im Übrigen war das eine Frage zu dem gleichen Themenkomplex. Sie haben Ihr Fragerecht missbraucht.
({0})
Ich bitte jetzt den Kollegen Stefan Liebich, seine
Frage zu stellen.
Ich frage Sie, Herr Präsident, ob ich jetzt eine Frage
zur angeblich mangelnden Integrationsbereitschaft stellen darf. Vorhin haben wir über Zwangsheirat gesprochen. Das sind meiner Ansicht nach zwei verschiedene
Themen. Deswegen hatte ich mich vorher nicht gemeldet und möchte meine Frage an dieser Stelle stellen.
Das ist dem vorherigen Themenkomplex zumindest
sehr nahe. Bitte stellen Sie Ihre Frage.
Vielen Dank. - Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister de Maizière, Sie haben im Zusammenhang mit
den Regierungsentscheidungen zur angeblich mangelnden Integrationsbereitschaft auf das Beispiel Berlin verwiesen. Damit haben Sie viele Berlinerinnen und Berliner, die Berliner Landesregierung und mich als Berliner
Abgeordneten überrascht. Deswegen habe ich dazu zwei
Fragen: Wie beurteilen Sie, dass die langjährige Politik
von SPD und Linkspartei in Berlin, die mehr Durchlässigkeit oder sogar die Überwindung des gegliederten
Schulsystems zum Ziel hat, dazu geführt hat, dass wir
eine Quote von Abiturienten und Fachabiturienten mit
Migrationshintergrund in Höhe von 22 Prozent haben,
während der bundesweite Durchschnitt bei nur 9 Prozent
liegt? Wie beurteilen Sie, dass die Einführung von kostenfreien Kitaplätzen für drei- bis sechsjährige Kinder in
Berlin dazu geführt hat, dass nahezu alle Kinder aus Migrantenhaushalten in Kitas gehen?
Herr Präsident, lassen Sie diese Frage zu oder nicht? Sie lassen sie zu. Dann möchte ich gerne darauf antworten.
Dass ich Sie überrascht habe, kann ich nicht ändern.
Zur Sache möchte ich Folgendes sagen - das ist aus
meiner Sicht ein ernster Punkt -: Das Motiv meiner Äußerung war nicht, mich in innere Angelegenheiten der
Landespolitik in Berlin einzumischen oder Berlin zu
stigmatisieren. Aber ich möchte nicht, dass die Erfolge
der Integrationsarbeit überall im Land dadurch diskreditiert werden, dass immer wieder die Beispiele Neukölln
und Wedding zitiert werden. Neukölln ist nicht überall in
der Bundesrepublik Deutschland. Darauf wollte ich hinweisen. Die Berliner möchten sich bitte einmal an die eigene Nase fassen und überlegen, was sie tun können,
statt immer nur zu überlegen, was andere tun können,
um diese Zustände auch in Berlin zu verändern. Das war
mein Beitrag.
({0})
Danke schön, Herr Bundesminister. Damit ist Ihre
Aufgabe erfüllt.
Ich beende die Befragung der Bundesregierung.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 3:
Fragestunde
- Drucksachen 17/3363, 17/3398 Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß
Nr. 10 Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die
dringlichen Fragen auf Drucksache 17/3398 auf.
Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Verteidigung.
Ich rufe die dringliche Frage 1 der Kollegin Inge
Höger auf:
Plant die Bundesregierung den Einsatz von TornadoKampfflugzeugen, anderen Fahr- und Flugzeugen oder Personal der Bundeswehr zur Überwachung der Proteste gegen den
bevorstehenden Castortransport, und, wenn nicht, was ist der
Hintergrund der nach jüngsten Berichten von Anwohnern aktuell stattfindenden Tiefflüge von Bundeswehr-Tornados über
der Region Wendland?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär Christian Schmidt zur Verfügung.
Bitte, Herr Staatssekretär.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin, bitte
gestatten Sie, dass ich Ihre Frage wie folgt beantworte:
Die Bundeswehr unterstützt im Rahmen der Amtshilfe
die Durchführung von Castortransporten. Hierüber
wurde der Bundestag in den Antworten auf Anfragen der
im Bundestag vertretenen Fraktionen in regelmäßigen
Abständen unterrichtet. Die Unterstützungsleistungen
beschränken sich regelmäßig auf die befristete ÜberlasSevim DaðdelenSevim Dağdelen
sung von Infrastruktur und die Mitbenutzung infrastruktureller Einrichtungen wie Truppenküchen und Tankstellen.
Für die im November dieses Jahres geplanten Castortransporte sind die genannten Unterstützungsleistungen
der Bundeswehr für die Bundespolizei und für polizeiliche Einsatzkräfte der Länder erneut zugesagt worden;
hierüber wurde der Deutsche Bundestag nach meiner
Kenntnis bereits ausführlich informiert. Für die Überwachung etwaiger Proteste gegen Castortransporte am
kommenden Wochenende werden aber weder TornadoLuftfahrzeuge noch andere Flugzeugmuster der Bundeswehr noch Fahrzeuge und Personal der Bundeswehr eingesetzt. Tornado-Aufklärungsflugzeuge sind weder in
der Vergangenheit noch für die im Jahr 2010 geplanten
Castortransporte angefordert worden. Damit haben auch
keine Flüge zur Unterstützung solcher Transporte stattgefunden; sie werden auch in diesem Jahr nicht erfolgen.
Aufklärungsaufgaben mit Tornado-Luftfahrzeugen
werden in der Luftwaffe ausschließlich vom Aufklärungsgeschwader 51 „Immelmann“ durchgeführt. Dieses
führt zurzeit normalen Ausbildungs- und Übungsflugbetrieb im genehmigten Luftraum über Deutschland durch.
Am kommenden Wochenende ruht der allgemeine
Übungs- und Ausbildungsflugbetrieb der Luftwaffe. Nähere Kenntnisse von einzelnen Überflügen, die Sie insinuieren, bedürften zu ihrer Überprüfung der konkreten
Benennung von Ort und Zeit. Ich kann aber ausschließen, dass dies mit vorbereitenden oder sonstigen Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Transport atomarer
Brennstoffe zu tun hat.
Eine Nachfrage?
Ja.
Bitte.
Sie schließen ausdrücklich aus, dass bei den Castortransporten Tornado-Flugzeuge zum Einsatz kommen
oder andere Aufklärungsmaßnahmen, zum Beispiel mit
Fenneks, die in Heiligendamm eingesetzt wurden, durchgeführt werden. Unabhängig davon frage ich Sie: Gibt es
Fotos vom Verlauf der Castorroute?
Frau Kollegin, dass es Fotos vom Verlauf der Castorroute gibt, davon gehe ich aus, weil es bei uns von fast
allem Fotos gibt. Dass die Bundeswehr diese Fotos im
Auftrag gemacht hat, möchte ich allerdings ausschließen. Ich habe, abgesehen vom bisherigen Auftrag, den
ich Ihnen geschildert habe, keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich die Bundeswehr beteiligt.
Was die Überflüge betrifft, möchte ich darauf hinweisen, dass die Landkreise Lüneburg, Uelzen und LüchowDannenberg wie die meisten Regionen in Deutschland
nicht innerhalb einer Flugverbotszone liegen. Damit sind
dort im Rahmen der gültigen Regelungen grundsätzlich
auch militärische Flugbewegungen erlaubt, und sie werden auch durchgeführt. Was die von Ihnen benannten,
behaupteten oder Ihnen zugetragenen Eindrücke von
Tiefstflügen angeht, müsste man mithilfe von Zeit- und
Ortsangaben klären, ob diese tatsächlich stattgefunden
haben und, wenn ja, mit welchen Flugzeugen diese
Flüge - ob Übungsflüge oder andere - durchgeführt
wurden. Ich kann nur noch einmal betonen, dass sie mit
Sicherheit nicht mit den Castortransporten zusammenhängen; das kann ich ausschließen.
Zweite Nachfrage.
Was ist denn unter normalen Übungs- und Ausbildungsflügen zu verstehen? Mir ist zugetragen worden,
dass diese Flüge gerade über das Wendland jetzt als besondere Belastung empfunden werden. Warum führen
diese Flüge gerade über das Wendland?
Da muss ich passen, weil ich den Geschwaderkommodore nicht befragt habe. Normaler Übungsflugbetrieb
bedeutet aber, dass Flugzeuge in die Luft gehen, fliegen
und wieder landen. Das werden sie zum Teil auch in
niedrigen Höhen tun, allerdings wird nur so weit und so
lange geflogen, wie das im Rahmen der Übungstätigkeit
auch zulässig ist. Ich hatte darauf hingewiesen, dass solche Flugbewegungen beispielsweise am Wochenende
nicht stattfinden.
Frau Kollegin, ich biete an, dass Sie die Angaben präzisieren und mir dann einmal zukommen lassen. Ich sage
Ihnen hiermit eine schriftliche Beantwortung zu, in der
dargestellt wird, welche Flugzeuge das von wem gewesen sind, ob das also „Immelmänner“ oder andere Flugzeuge der Luftwaffe oder von anderen fliegenden Einheiten gewesen sind, und in der ich Ihnen dann auch
Auskunft darüber geben kann, im Rahmen welchen Ausbildungs- und Übungsbetriebs diese Flüge durchgeführt
wurden.
Es gibt eine weitere Nachfrage des Kollegen
Christian Ströbele.
Herr Staatssekretär, Sie haben meine schriftliche
Frage zu diesem Thema ja schon beantwortet. Darin
steht, dass die Bundeswehr Amtshilfe nach Art. 35
Abs. 1 des Grundgesetzes leistet.
Ich hatte in dieser schriftlichen Frage allerdings auch
darum gebeten, mir in einer vollständigen Auflistung
- Behörde, Dauer, Art und Umfang - alle Maßnahmen
zu benennen, die geplant bzw. zugesagt sind. Diese Auflistung vermisse ich in der Antwort auf meine schriftliche Frage bisher. Ich bitte also darum, schriftliche Fragen in Zukunft vollständig und nicht nur zum Teil zu
beantworten.
Im Anschluss an das, was die Kollegin hier jetzt gefragt hat, will ich Sie einmal ein bisschen konkreter fragen, weil Sie das ja auch erbeten haben.
Im Oktober 2010 sollen in der Nähe der Orte Seedorf
und Dahlenburg - dort verläuft die Strecke, auf der der
Castortransport nicht am kommenden Wochenende, sondern am Wochenende danach stattfinden wird; für Ihre
Nachfrage können Sie das vielleicht gebrauchen - mehrfach insbesondere Hubschrauberüberflüge über die
Bahngleise und das nahegelegene Gebiet stattgefunden
haben. Mir liegen hier auch die Angaben von Augenzeugen zu Uhrzeiten an einem dieser Tage vor.
Sie sagen, das seien ganz normale Flüge, die immer
durchgeführt werden. Das mag ja sein, trotzdem stelle
ich die Frage: Dienen diese Flüge auch der Beobachtung, und werden diese Beobachtungen in irgendeiner
Weise durch Kameras oder in anderer Weise aufgezeichnet? Wo verbleiben die Aufnahmen, die dort hergestellt
werden? Insbesondere interessiert mich: Wird die Bundeswehr diese Aufnahmen auf Anforderung auch den Sicherheitsbehörden in Niedersachsen zur Verfügung stellen, wie das ja bei den Ereignissen um Heiligendamm
der Fall gewesen ist?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Ströbele, ich bitte zuerst, meine Unaufmerksamkeit zu entschuldigen, weil ich - das war für Sie
ja auch erkennbar - noch einmal die Papiere, die mir
vorliegen, sortiert und dabei festgestellt habe, dass auf
Ihre Frage hin, die Sie schriftlich gestellt hatten, eine
Übersicht über die beschlossenen Unterstützungsmaßnahmen im Rahmen der Amtshilfe erstellt wurde. Falls
diese Ihrem Schreiben nicht beigelegen hat, werde ich
sie gerne nachreichen.
Falls Sie sie besonders schnell haben wollen, empfehle ich Ihnen, Ihren Kollegen Nouripour im Rahmen
der innerfraktionellen Amtshilfe anzusprechen, der am
22. Oktober 2010 von meinem Kollegen Kossendey
über die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses und
den Verteidigungsausschuss insgesamt nämlich solch
eine Übersicht erhalten hat.
Aber ich werde Sorge dafür tragen, dass Sie diese Anlage erhalten, die detailgenau auflistet, wer wann zu welchem Anlass wo welche Unterstützungsleistungen beantragt hat. Das geht von der Nutzung als Park- und
Stellflächen in der Tat bis hin zur Verpflegung.
Die Frage, die mir jetzt gestellt war, Herr Kollege, zu
der Sie eine Zusatzfrage gestellt haben, hat sich ausdrücklich auf Tornado-Flugzeuge bezogen. Über diese
habe ich Auskunft erteilt. Hubschrauber der Bundeswehr
- das beziehe ich mit ein - sind mit diesem Auftrag nicht
unterwegs gewesen. Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass beispielsweise Fluggerät, Drehflügler, von
Bundes- oder Länderpolizeien unterwegs gewesen ist,
damit man sich einen Überblick verschaffen kann. Das
weiß ich nicht und entzieht sich meiner Kenntnis. Ich bin
nicht in der Lage, das zu beantworten.
Die Tendenz Ihrer Frage kommt aus den Erfahrungen
der Diskussionen, die wir nach Heiligendamm hatten.
Auch ich erinnere mich noch sehr gut an die Dinge. Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass wir damals eine
Kompetenzsituation hatten, die nicht auf der entsprechenden Ebene entschieden worden war, und dass ich
persönlich von diesem Rednerpult aus eine Klarstellung
abgegeben habe, die damals auch eine Entschuldigung
für ein Organisationsversagen beinhaltet hat.
Gerade aus dieser Erfahrung heraus werden Sie und
ich sowie die Kolleginnen und Kollegen des Hauses sehr
darauf achten, dass die Fragen, die gestellt werden, beantwortet werden und die Auskünfte, die erteilt werden,
dann auch so umgesetzt werden. Ich darf Ihnen versichern, dass in den zuständigen Bereichen der Bundeswehr eine hohe Sensibilität besteht, dass solche klaren
Regeln und klaren Vereinbarungen auch eingehalten
werden. Das heißt, Amtshilfe gemäß Art. 35 ist angefordert worden, aber für Infrastruktur und für Dinge, die jedenfalls außerhalb und jenseits der Aufklärung oder der
Aufklärung mit Luftfahrzeugen liegen.
Jetzt kommen wir zu einer Frage des Kollegen Paul
Schäfer; das ist die zweite dringliche Frage:
Ist die Meldung der Presseagentur dapd vom 25. Oktober
2010 zutreffend, nach der in Afghanistan Bundeswehrsoldaten gezielt auf Zivilisten schießen dürfen und schießen, wenn
sich diese telefonierend oder rufend über das Gefechtsfeld bewegen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Kollege Schäfer, Sie hatten sich, vermute ich, auf die
dapd-Meldung von vorgestern bezogen, die, wenn ich
das richtig verfolgt habe, gestern und auch heute mit
weiteren Tagebuchschilderungen ausgebaut worden ist.
Es handelt sich nach den Angaben der Autorin um Auszüge aus einem Tagebuch eines gerade aus dem Afghanistan-Einsatz zurückgekehrten deutschen Soldaten.
Wie uns die Autorin weiter wissen lässt, enthalte die
Meldung keinerlei Anspruch auf Objektivität, Vollständigkeit oder Ausgewogenheit in der Darstellung. Zudem
sind die Orts- und Zeitangaben sowie weitere Details anonymisiert, wenngleich einige der Vorfälle - oder ein
Vorfall, der genannt worden ist - sich natürlich lokalisieren und zeitlich fixieren lassen. Es geht um die Vorfälle
am Karfreitag und die Gefechte, in denen sich damals
Soldaten der Bundeswehr befunden haben.
Obgleich es, davon abgesehen, vor dem Hintergrund
der Anonymität und der Subjektivität schon schwerfällt,
die in den Pressmitteilungen vorhandenen Aussagen
wirklich seriös zu bewerten und zu kommentieren, vermag ich die in Ihrer Frage enthaltene Behauptung, es sei
Bundeswehrsoldaten gestattet, auf Zivilisten zu schießen, die sich telefonierend oder schreiend über das Gefechtsfeld bewegen, so nicht der Pressemitteilung zu entnehmen.
Die Frage, die durch die Meldung aufgeworfen ist,
lautet ja doch eher, ob gegen feindliche Kräfte, die im
Rahmen eines Feuergefechtes einen Stellungswechsel
durchführen, militärische Gewalt angewendet werden
darf, auch wenn sie den Stellungswechsel gegebenenfalls ohne ihre Waffen vornehmen. Dies ist nach dem humanitären Völkerrecht sowie nach den ISAF-Einsatzregeln der Fall!
Ich möchte zwei Punkte ausdrücklich betonen. Zum
einen habe ich ein gewisses subjektives Verständnis dafür, dass ein Soldat, der aus einer Gefechtssituation
kommt, die überhaupt nichts mit den Lebensumständen
in unserem Land zu tun hat - wenn es ein authentischer
Bericht sein sollte -, durchaus eine Notwendigkeit sieht,
seine Erfahrungen zu berichten, auszudrücken oder zu
kommentieren. Ich glaube sogar, dass es in einem gewissen Rahmen notwendig ist, dies zu tun. Ob das immer in
Form von anonymisierten Pressemeldungen der Fall sein
muss, ist eine andere Frage. Aber wir regen unsere Soldatinnen und Soldaten durchaus dazu an, mit einem gewissen Abstand auch in unserer Öffentlichkeit über die
schlimmen Erfahrungen, die sie machen, zu reden.
In den interessanten Tagebucheinträgen ist vieles natürlich subjektiv. Trotzdem hat es seinen Platz. Man
muss es zwar einordnen, aber ich glaube, dass es eine
möglicherweise sogar notwendige Konsequenz der
schlimmen Situationen ist, in die der einzelne Soldat im
Einsatz geraten kann. Aber wenn er eine bewusste Fehlinformation oder Informationen, die die Sicherheit seiner Kameraden betreffen, damit berühren würde, dann
wäre allerdings der Punkt erreicht, an dem man dies
nicht mehr billigen kann.
Zum anderen will ich deutlich festhalten - das gibt,
ohne dass ich mich auf die Lektüre dieser Meldungen im
Einzelnen beziehe, seine Kritik an den Vorgesetzten zu
erkennen -, dass das humanitäre Völkerrecht in der Bundeswehr beim Einsatz in Afghanistan und anderswo
selbstverständlich Weisungslage ist und auch eingehalten wird. Wie und ob in einer konkreten Gefechtssituation die Frage zu entscheiden ist, ob jemand ein unbeteiligter Zivilist ist oder jemand, der im Rahmen des
humanitären Völkerrechts in einem bewaffneten nicht
internationalen Konflikt durch seine Beteiligung an
Kampfhandlungen diesem völkerrechtlichen Schutz
nicht mehr unterworfen ist, kann, glaube ich, im Grundsatz in diesem Hause oder in der Öffentlichkeit beantwortet werden. In der konkreten Situation verbietet es
sich uns aber, allein aufgrund irgendwelcher Meldungen
zu beurteilen, was wirklich geschehen ist. Deswegen
bleibe ich bei der grundsätzlichen Bewertung.
Selbstverständlich können Sie, Herr Kollege Schäfer,
ebenso wie wir davon ausgehen, dass das humanitäre
Völkerrecht die Grundlage für ein völkerrechtskonformes militärisches Verhalten von Bundeswehrsoldaten ist
und sein muss und dass sich alle Vorgesetzten entsprechend verhalten müssen. Alles Weitere lässt sich nicht
vom Rednerpult, von der Regierungsbank oder vom Abgeordnetenplatz aus im Detail kommentieren. Das
müsste im Einzelfall geklärt werden.
Kollege Schäfer, eine Nachfrage?
Danke, Herr Präsident und auch Ihnen, Herr Staatssekretär, für die ausführliche Antwort. Was Sie als Subjektivität der Schilderungen in diesem Kriegstagebuch
bezeichnen, wie es wohl genannt wird, kann ich durchaus nachvollziehen, gerade was die Situation unmittelbar
nach dem Karfreitag betrifft. Deshalb zielt meine Frage
auch auf das Vorgesetztenverhalten und auf Regelungen.
Meine erste Nachfrage ist: Können Sie definitiv ausschließen, dass es formelle oder informelle Weisungen
von Vorgesetzten im deutschen Einsatzkontingent in
Afghanistan gibt, nach denen in den genannten Fällen
Bundeswehrangehörige schießen oder gar töten dürfen?
Können Sie definitiv ausschließen, dass es solche förmlichen oder auch informellen Regelungen oder Weisungen gibt?
Mir ist über solch eine Regelung oder Weisung nichts
bekannt. Ich kann solche Regelungen oder Weisungen
definitiv im Grundsatz ausschließen. Ob jemand sich an
die Grundsätze oder Regeln nicht gehalten hat und dann
zur Rechenschaft gezogen werden müsste, das lässt sich
natürlich nie mit letzter Wahrscheinlichkeit ausschließen. Aber ich habe auch aus diesem „Kriegstagebuch“
- bleiben wir bei dem Begriff, den Sie eingeführt haben,
Herr Kollege - nicht gelesen, dass es solche Hinweise
gibt. In einer einzigen Sequenz steht in diesem anonymen Bericht, der Schreiber wisse nicht, ob das so verstanden und gesehen worden sei oder ob es eine Anweisung gegeben habe. Wir haben keinerlei Hinweise auf so
etwas, und dieser Bericht wurde auch nicht durch andere
Äußerungen bestätigt.
Ich habe eher den Eindruck, dass sich die Darstellung
um eine Fragestellung herumrankt und bewegt, bei der
wir alle, die nicht im Einsatz sind, Schwierigkeiten haben, den Soldatinnen und Soldaten gegenüber die
Grundlagen zu erklären. Ich spreche mit einem Mitglied
des Verteidigungsausschusses. Gestatten Sie mir trotzdem, obwohl ich sehr gut weiß, dass Sie informiert sind,
auf den letzten Fall des Oberfeldwebels einzugehen, der
vor zwei Wochen gefallen ist. Da war ja nun gerade die
Situation so, dass ein Zivilist auf ihn zugekommen ist
und sich der Soldat an den Sprachmittler der Bundeswehr, also an den Dolmetscher, gewandt hat. Man wendet sich an einen Dolmetscher, um ein Gespräch zu beginnen. Es kam nicht mehr zu dem Gespräch, weil der
vermeintliche Zivilist ein Selbstmordattentäter war und
einen Sprengsatz mit Stahlkugeln zur Explosion geParl. Staatssekretär Christian Schmidt
bracht hat, wodurch der Oberfeldwebel tödlich verwundet wurde.
Wenn man als Soldat eine solche Situation erlebt,
dann glaube ich schon, dass Fragen jenseits von Befehlen auf einen zukommen, wie ich es auch in einem persönlichen Gespräch mit einem Unteroffizier erlebte, der
mich fragte: „Muss ich mich erst erschießen lassen, bevor ich mich wehren darf?“ Solche Fragen sind jenseits
einer ganz nüchternen Würdigung und spiegeln nur wider: Es geht um Tod oder Leben.
Ich vermag aus diesem „Kriegstagebuch“ keine Anhaltspunkte für ein nicht völkerrechtskonformes Verhalten zu erkennen und gehe deswegen davon aus, dass die
Darstellungen wirklich eine subjektive Bewertung sind,
dass die Fragen aber ihre Berechtigung haben.
Eine zweite Nachfrage, Herr Schäfer?
Danke, Herr Präsident. - Auch in diesem Punkt, Herr
Staatssekretär, habe ich Verständnis dafür, in welche prekären Lagen man in diesen sogenannten asymmetrischen
Kriegen kommen kann. Aber dennoch, noch einmal zugespitzt, auch an dieser Stelle die Frage: Steht es nach
Ansicht der Bundesregierung im Einklang mit dem
Völkerrecht und dem Mandat des deutschen ISAF-Kontingents, dass in einer solchen Gefechtssituation Personen, die unbewaffnet sind, die man aber für irgendwie
verdächtig hält, weil sie zum Beispiel ein Handy haben,
bekämpft werden können, auch erschossen werden können?
Das Besitzen oder Mitführen eines Handys kann kein
Anlass sein, jemanden zu töten. Ich bin jetzt im hypothetischen Bereich und will eigentlich nur deswegen auf die
Frage eingehen, weil man sich ihr jenseits von Regierungshandeln auch im persönlichen Bereich nähern und
sich mit ihr auseinandersetzen muss. Wenn Soldaten erlebt haben, dass vermeintliche Zivilisten, vermeintlich
Unbewaffnete, vermeintlich nur einen Kaftan tragende
Menschen unter dem Kaftan eine Kalaschnikow tragen
und Kameraden ihr Leben lassen, dann finde ich, dass
wir mit der feinen Ziselierung, wie das alles zu sehen ist,
tatsächlich unseren Soldaten Unterstützung geben und
das Vertrauen in sie haben müssen, dass sie in solch einer Situation besonnen und in Kenntnis des Völkerrechts
handeln, dass sie aber auch bereit sind, wenn erkennbar
eine Situation entsteht, die zu einem Gefecht oder zu einem Anschlag führt, entsprechend zu reagieren. Das ist
der entscheidende Punkt. Wenn wir diesen Spielraum
nicht ließen, dann könnten wir nicht verantworten, unsere Soldatinnen und Soldaten in diesen gefährlichen
Einsatz in Afghanistan zu schicken.
Jeder Getötete ist sozusagen einer zu viel. Aber leider
ist bei asymmetrischen Bedrohungen die Unterscheidung zwischen dem, der Gegner, der Kombattant ist, und
dem, der friedliche, zivile Absichten hat, oft schwierig.
Die Bundeswehr ist in diesem Einsatz dafür bekannt,
dass sie sich im Zweifelsfall eher zurückhält. Sie versucht, im Zweifelsfall keinen Angriff durchzuführen
oder keine Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen, um
Zivilpersonen - vermeintliche oder nicht - vor Schäden
zu bewahren. Trotzdem bleibe ich dabei, dass es mir
nicht zusteht - daher kann ich Ihre Frage nicht beantworten -, den Einzelfall zu beurteilen. Herr Kollege, tendenziell kann ich Ihre Frage aber wie folgt beantworten: Die
Bundeswehr wird bei ihrer restriktiven Vorgehensweise
bleiben.
Vielen Dank. - Es gibt eine weitere Frage der Kollegin Inge Höger. Ich bitte um kurze Beantwortung.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt: Jeder Getötete
- das heißt jeder getötete Soldat, jede getötete Soldatin
und jede getötete Zivilperson - ist einer zu viel. Darin
gebe ich Ihnen völlig recht. Nach internationalem Völkerrecht geht es aber darum, zu verhindern, dass Zivilpersonen getötet werden. Deshalb stelle ich noch einmal
die Frage: Beachten unsere Soldatinnen und Soldaten
das internationale Völkerrecht, um den Tod von Zivilpersonen auszuschließen?
Ja, sie beachten das Recht. Wenn sich die gegnerischen Kräfte, die sich da zusammenrotten, genauso daran hielten, dann gäbe es keine Toten und Verwundeten,
sondern Gespräche über die weitere friedliche Entwicklung Afghanistans.
Danke schön, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes. Zur Beantwortung steht die Staatsministerin
Cornelia Pieper zur Verfügung.
Wir kommen zur dritten dringlichen Frage, zu der des
Abgeordneten Uwe Kekeritz:
Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Ausbreitung der Cholera in Haiti und den Notfallplan der haitianischen Regierung infolge der Ausrufung des Notstandes am
Freitagabend ({0}),
und welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um die
dramatische Situation vor Ort zu verbessern und eine Epidemie zu verhindern, welche laut Medienberichten ({1}) bereits mehr als 200 Menschen
das Leben gekostet hat?
Frau Staatsministerin, bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Abgeordneter,
die Bundesregierung wird regelmäßig durch die Lageberichte des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten und die entsprechende Abteilung der Europäischen Kommission über
die humanitäre Lage in Haiti informiert. Bei Bedarf wird
dies durch Berichterstattung der deutschen Botschaft in
Port-au-Prince ergänzt. Hieraus ergibt sich folgender aktueller Sachstand: Am 21. Oktober 2010 wurden im Department L’Artibonite - das liegt im Zentrum Haitis erste Fälle von Cholera im Labor bestätigt. In den folgenden Tagen nahm die Zahl der Infizierten im Einzugsbereich des gleichnamigen Flusses rasch zu, sowohl im
Bereich des Zentralplateaus als auch an der Küste. Bis
zum 24. Oktober 2010 wurden nach offiziellen Angaben
circa 3 000 Choleraerkrankungen in den Departments
L’Artibonite und Centre identifiziert und über 250 Todesfälle festgestellt.
Die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für Haiti
wurde dementsprechend am 22. Oktober 2010 um das
Auftreten der Cholera erweitert. Seit dem 20. Oktober
haben die verantwortlichen Stellen sowohl der Regierung als auch der vor Ort befindlichen internationalen
Organisationen mit entsprechenden Notmaßnahmen begonnen. Es erfolgte eine systematische epidemiologische Überwachung, eine verstärkte Ausstattung der Gesundheitseinrichtungen mit intravenösen und oralen
rehydrierenden Lösungen sowie der Start einer Informationskampagne zur Prävention und Behandlung der Cholera.
In oder bei Krankenhäusern wurden verschiedene Behandlungszentren eingerichtet. Parallel reagieren Hilfsorganisationen mit konkreten Hilfsmaßnahmen, zum Beispiel
der Verteilung von Choleratabletten, Wasserfiltern sowie
Notnahrung, was als Folge des Erdbebens im Januar
noch in großer Zahl im Lande präsent ist. Zu diesen
Hilfsorganisationen gehören dank der Spendenbereitschaft der Deutschen im Frühjahr eine größere Zahl
deutscher Nichtregierungsorganisationen, wie Sie wissen, Herr Abgeordneter.
Im Auftrag der humanitären Hilfe der Bundesregierung sind infolge des Erdbebens noch ein Feldhospital
des Deutschen Roten Kreuzes und ein Projekt der NRO
Humedica zur medizinischen Grundversorgung aktiv.
Letzteres verlagert seine Aktivitäten derzeit ganz auf das
Departement Artibonite. Eventuell zusätzlicher Bedarf
an Medikamenten würde seitens der Bundesregierung
umgehend bewilligt.
Das Feldhospital des DRK wird seinen Standort beibehalten. Mit Ausstattungsmitteln des Hospitals, das mit
Mitteln der humanitären Hilfe der Bundesregierung finanziert wurde, werden zwei zusätzliche Behandlungszentren an den Ausfallstraßen von Port-au-Prince errichtet. Auch das Technische Hilfswerk ist noch vor Ort und
prüft momentan eine Ausweitung seiner laufenden
Trinkwasseraufbereitung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Lage
zwar ernst ist, den akut Betroffenen aufgrund der in vergleichsweise hoher Zahl präsenten internationalen Hilfe
momentan aber noch weitgehend mit den vorhandenen
Kapazitäten geholfen werden kann. Die Bundesregierung steht im engen Kontakt mit den genannten und mit
weiteren Hilfsorganisationen. Sie wird ihre Hilfe bei Bedarf im Rahmen verfügbarer Mittel natürlich aufstocken.
Ich bitte um Nachsicht, dass ich das etwas länger ausgeführt habe. Ich denke, es war auch in Ihrem Interesse.
Haben Sie eine Nachfrage? - Bitte schön.
Herzlichen Dank, Frau Staatssekretärin, für die ausführlichen Informationen. Das war sehr wohl in meinem
Interesse.
Sie haben die Situation hier sehr positiv beschrieben.
Uns erreichen Informationen, dass die Hilfe zum Teil
sehr schleppend ist. Es werden immer wieder Erinnerungen an die gesamte Wiederaufbauleistung nach dem Erdbeben wachgerüttelt. Der Wiederaufbau vollzieht sich
sehr langsam. Zahlreiche in Angriff genommene Projekte sind noch nicht abgeschlossen, obwohl sie eigentlich schon fertig sein sollten. Das hat viele Ursachen.
Insbesondere wird kritisiert, dass Waren vom Zoll zurückgehalten werden, dass der bürokratische Ablauf sehr
problematisch ist. Manchmal ist auch der Warenfluss
nicht ganz leicht nachzuvollziehen. Das sind Kritiken,
die uns aus der Zivilgesellschaft zugetragen worden
sind. Ich möchte Sie fragen, ob Sie diesbezüglich etwas
wissen. Auch ist Kritik in Bezug auf die Hilfsleistungen
zur Bekämpfung der aktuellen Choleraepidemie vorgetragen worden. Ist Ihnen diesbezüglich irgendetwas bekannt?
Wir lassen uns laufend, wie ich schon sagte, über die
aktuelle Situation unterrichten. Ausgangslage ist allerdings, Herr Abgeordneter, dass die haitianische Verwaltung selbst noch erheblich unter den Folgen des Erdbebenunglücks, wie Sie wissen, zu leiden hat und dass
erhebliche Kapazitätsengpässe bestehen, die gerade die
Arbeit humanitärer Organisationen und des Wiederaufbaus behindern. Insbesondere die Beseitigung der Ursachen dieses Choleraausbruches ist eine Aufgabe, die im
Rahmen des Wiederaufbaus grundsätzlich lokalen Regierungsstellen zufällt. Wenn Sie konkrete Informationen von Nichtregierungsorganisationen oder von wem
auch immer haben, bin ich gern bereit, dem auch selbst
nachzugehen.
Eine weitere Nachfrage?
({0})
Wir sind damit am Ende der Beantwortung der dringlichen Fragen.
Wir kommen zu den Fragen der Fragestunde in der
üblichen Reihenfolge.
Die Fragen 1 und 2 des Kollegen Siegmund Ehrmann
sollen schriftlich beantwortet werden.
Dann kommen wir zur Frage 3 des Abgeordneten
Christian Ströbele:
Welche Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft oder
letztem Wohnsitz in Deutschland wurden nach Kenntnis der
Bundesregierung durch US-Sicherheitskräfte im Raum Afghanistan/Pakistan seit 2007 - insbesondere mittels Drohnen - getöVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
tet ({1}), und zu welcher dieser
Personen haben deutsche Stellen zuvor der US-Seite - direkt
oder indirekt, etwa über ISAF - Informationen zur Identifizierung oder Ortung übermittelt?
Hierfür steht wiederum Frau Staatsministerin
Cornelia Pieper zur Verfügung.
Ähnliche Fragen haben uns schon in der letzten Fragestunde beschäftigt. Diese Frage des Abgeordneten
Ströbele beantworte ich wie folgt:
Der Bundesregierung liegen keine belastbaren Erkenntnisse über die Tötung deutscher Staatsangehöriger
durch amerikanische Sicherheitskräfte im Raum Afghanistan/Pakistan vor. Es wurden keine Daten übermittelt,
die nach Kenntnis der Bundesregierung im Sinne der
Fragestellung hätten verwendet werden können.
Nachfrage, Herr Ströbele?
Ja. - Frau Staatsministerin, ich habe ganz konkret gefragt und unter anderem auch das Datum des Angriffs
genannt, bei dem im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet mindestens drei Personen getötet worden sein sollen. Pressemeldungen zufolge sollen dabei drei vermutlich deutsche Staatsangehörige oder Personen, die
zuletzt längere Zeit in Deutschland gelebt haben, getötet
worden sein. Ich frage Sie jetzt: Auch zu diesen Personen haben die Bundesregierung oder ihr nachgeordnete
Behörden keinerlei Information? Das wollen Sie ernsthaft sagen?
Sie haben Ihre Informationen, die Sie mir gerade geschildert haben und die Sie vor 14 Tagen auch schon
Staatsminister Hoyer geschildert haben, ernst zu nehmenden Medienberichten entnommen. Ich kann nur sagen, dass die Bundesregierung unmittelbar nach Erscheinen der letzten Medienberichte zur angeblichen Tötung
mehrerer deutscher Staatsangehöriger durch US-Drohnen in Pakistan pakistanische Behörden offiziell um
Auskunft gebeten hat. Das Auswärtige Amt und die
deutsche Botschaft in Islamabad bemühen sich weiterhin
um Aufklärung insbesondere der Frage, ob es sich bei
den Getöteten um deutsche Staatsangehörige handelt.
Bislang liegen jedoch keine belastbaren Informationen
vor.
Da ich wusste, dass Sie heute nachhaken, habe ich
noch einmal in unserer deutschen Botschaft in Islamabad
angerufen und mich erkundigt, welche Maßnahmen
nachträglich noch unternommen worden sind. Sie müssen natürlich auch verstehen, dass die Umstände für die
pakistanischen Behörden vor Ort extrem schwierig sind,
weil - was Sie sicherlich auch wissen - das pakistanische Gebiet an der Grenze zu Afghanistan, weil Nordwasiristan auch für die pakistanischen Behörden ein
schwer zugängliches Gebiet ist, in dem sich selbstverwaltete Stämme befinden. Ich kann nur bestätigen, was
mir die Botschaft heute noch einmal als Auskunft gegeben hat - sie ist in ständigem Kontakt mit den pakistanischen Behörden -: dass uns bis jetzt seitens der pakistanischen Behörden keine Antworten auf unsere Fragen
gegeben werden konnten und dass wir deswegen auch
noch keine andere Faktenlage haben.
Nun die zweite Nachfrage des Herrn Kollege
Ströbele.
Jetzt muss ich ein bisschen heftig werden. Die Bundesregierung besteht ja nicht nur aus dem Auswärtigen
Amt, und nachgeordnete Stellen sind nicht nur die Botschaften. Haben Sie, bevor Sie diese Antwort gegeben
haben, an deren Richtigkeit ich - um es einmal ganz
milde auszudrücken - erhebliche Zweifel habe, einmal
im Bundeskanzleramt nachgefragt, ob es Informationen
über die Identität der Getöteten gibt, ob es sich dabei um
deutsche Staatsangehörige handelt?
Dem Bundeskanzleramt stehen ebenso wie dem Auswärtigen Amt im Moment keine anderen Fakten zur Verfügung. Wir stehen natürlich - auch in dieser Frage - in
ständigem Austausch mit dem Bundeskanzleramt.
Ich rufe auf die Frage 4 des Kollegen Ströbele:
Welche Informationen zur Ortung oder Identifizierung
über den deutschen Staatsbürger A. S., der in Kabul im Juni
2010 verhaftet wurde, als er auf dem Weg zur deutschen Botschaft gewesen sein soll, der seither auf dem US-Stützpunkt
Bagram inhaftiert ist und nun in die USA verbracht werden
soll, haben deutsche Stellen zuvor afghanischen oder USSicherheitsstellen - direkt oder indirekt, etwa über ISAF übermittelt ({0}), und
welche Bemühungen wurden von deutscher Seite nach Kenntnis der Bundesregierung vor und nach der Festnahme unternommen, um die Rückkehr des A. S. nach Deutschland zu erreichen?
Ich möchte die Frage des Abgeordneten wie folgt beantworten:
Es wurden keine Daten übermittelt, die nach Kenntnis
der Bundesregierung im Sinne der Fragestellung hätten
verwendet werden können. Die Bundesregierung hat
sich gegenüber der Regierung der Vereinigten Staaten
von Amerika dafür eingesetzt, dass der Inhaftierte, der
sowohl deutscher als auch afghanischer Staatsangehöriger ist, zum Zwecke der Strafverfolgung in die Bundesrepublik Deutschland zurückgeführt wird. Gegen den Inhaftierten besteht ein Haftbefehl des Bundesgerichtshofs
wegen des dringenden Verdachts der Mitgliedschaft in
einer terroristischen Vereinigung im Ausland.
Nachfrage, Kollege Ströbele?
Meine Frage war ganz eindeutig. Ich wollte wissen,
ob überhaupt Informationen geliefert werden. Es ging
mir nicht darum, dass Sie jetzt sagen, dass zu irgendeinem in meiner Frage gar nicht angesprochenen Zweck
Informationen geliefert werden.
Also, sind von bundesdeutscher Seite, von deutschen
Behörden, Informationen über diesen Herrn Sidiqi - so
heißt er ja, wie wir inzwischen wissen - an die US-Behörden geflossen? Wenn ja, welche?
Herr Abgeordneter Ströbele, Sie haben bereits im
Parlamentarischen Kontrollgremium über diese Frage
beraten, soweit ich weiß. Sie werden dort sicherlich weiterhin die Möglichkeit haben, auch von der Bundesregierung Auskunft zu erhalten. Ich möchte Ihre Frage nochmals nachdrücklich mit Nein beantworten.
Weitere Nachfrage?
Welche Bemühungen hat die Bundesregierung unternommen, um - Sie haben ja zu Recht darauf hingewiesen, dass gegen diesen Mann in Deutschland ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist - diese
Person nach Deutschland zurückzuholen und damit den
deutschen Strafverfolgungsbehörden zuzuführen?
Wir haben in der Tat mehrmals Bemühungen unternommen. Die Bundesregierung wird sich auch weiterhin
dafür einsetzen, dass inhaftierte deutsche Staatsangehörige im Einklang mit den Bestimmungen des humanitären Völkerrechts und unter Beachtung der Menschenrechte behandelt werden.
Darüber hinaus liegt es im Interesse der Bundesregierung, dass - wie ich schon sagte - es sehr bald zu einer
Überführung des Genannten nach Deutschland kommt
und seine Verurteilung hier vor Ort in Deutschland erfolgt.
Danke schön. - Wir kommen nun zu Frage 5 der Abgeordneten Inge Höger, die sich wohl mit dem gleichen
Sachverhalt beschäftigt.
Welche Schritte über Forderung nach Auslieferung an die
Bundesrepublik Deutschland durch die Staatsanwaltschaft hinaus unternimmt die Bundesregierung, um nach Berichten
über einen tot in seiner Zelle aufgefundenen Gefangenen im
US-Gefängnis von Bagram ({0}) die Freilassung des dort inhaftierten Deutsch-Afghanen
A. S. zu erreichen, und welche Informationen über Zustand
und Behandlung des Gefangenen hat der deutsche Diplomat,
der A. S. am 3. Oktober 2010 in Bagram besuchte, erlangen
können?
Ich beantworte die Frage der Abgeordneten Höger:
Der Bundesregierung liegen keine eigenen Erkenntnisse
über den Tod einer Person in US-Gewahrsam in Bagram
vor. Die Bundesregierung hat sich gegenüber der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika dafür eingesetzt - wie ich schon sagte -, dass der Inhaftierte, der sowohl deutscher als auch afghanischer Staatsangehöriger
ist, zum Zwecke der Strafverfolgung in die Bundesrepublik zurückgeführt wird. Bei dem von Ihnen erwähnten
Besuch konnte sich ein Mitarbeiter der Deutschen Botschaft Kabul davon überzeugen, dass der Inhaftierte in
guter gesundheitlicher Verfassung ist.
Nachfrage?
Welchen rechtlichen Status hat der Gefangene Ahmad S.
nach Ihrer Einschätzung: Kombattant, Kriegsgefangener oder Zivilist? Welche Handlungsverpflichtungen erwachsen daraus für die Bundesregierung?
Der rechtliche Status, Frau Abgeordnete, ist sicher
eindeutig geregelt. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass gegen
den Inhaftierten ein Haftbefehl wegen des Verdachts der
Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im
Ausland besteht und dass der Strafgefangene nach seiner
Überführung hier nach §§ 129 a und 129 b Strafgesetzbuch angeklagt wird.
Weitere Nachfrage?
Sitzen nach Erkenntnissen der Bundesregierung weitere deutsche Staatsangehörige in Gefängnissen in Afghanistan?
Uns liegen keine weiteren Erkenntnisse vor.
Vielen Dank. - Die Frage 6 des Kollegen Hunko sowie die Fragen 7 und 8 des Kollegen Mützenich aus diesem Geschäftsbereich sollen schriftlich beantwortet werden. Deswegen bedanke ich mich bei Ihnen, Frau
Staatsministerin.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht der
Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
zur Verfügung.
Zunächst kommen wir zur Frage 9 des Kollegen
Koppelin:
Findet durch das Bundesverwaltungsamt die inhaltliche
Prüfung von Internetseiten von Zuwendungsempfängern des
Bundes statt?
Herr Kollege Koppelin, das Bundesverwaltungsamt
als ein zentraler Dienstleister des Bundes, gleichzeitig
nachgeordnete Behörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern, ist für mehrere Ressorts mit
der administrativen Bearbeitung von zuwendungsrechtlichen Angelegenheiten beauftragt. Dabei prüft das Bundesverwaltungsamt im Rahmen seiner Beauftragung die
zweckentsprechende Verwendung von Bundesmitteln
- das die sogenannte Verwendungsnachweisprüfung und in diesem Rahmen stichprobenartig gegebenenfalls
geförderte Internetseiten.
Nachfrage, Kollege Koppelin?
Herr Staatssekretär, es ist allerdings so, dass ich einen
Unterschied feststelle zwischen dem, was Sie mir jetzt
sagen, und dem, was Sie mir schriftlich am 1. Oktober
dieses Jahres mitgeteilt haben. Dort hieß es nämlich,
eine inhaltliche Prüfung finde im Rahmen der Erfolgskontrolle in Form von Stichproben durch das Bundesverwaltungsamt statt. Stichproben sind ja mehr als zufällige
Funde. Hier beziehe ich mich besonders auf das Internetportal rusdeutsch.ru, das in russischer Sprache erscheint.
Heißt das, dass beim Bundesverwaltungsamt Experten
sitzen, die der russischen Sprache mächtig sind und
diese Seiten kontrollieren können? Es geht ja vor allem
um den Inhalt.
Herr Kollege Koppelin, zunächst einmal ist festzustellen, dass die Seite rusdeutsch.ru auch eine deutsche
Ausgabe unter rusdeutsch.eu hat, dass diese Seiten sowohl von der Mittlerorganisation GTZ als auch von den
Fachreferaten begleitet werden, weil die Art der Kommunikation auch Teil des Fördergeschehens ist, und dass
die Überprüfung durch das Bundesverwaltungsamt
stichprobenartig, erforderlichenfalls auch unter der Verwendung von Sprachmittlern, stattfinden kann.
Weitere Nachfrage, bitte?
Herr Staatssekretär, können Sie mir dann sagen, wie
oft diese Seiten in den letzten zwei Jahren auf den Inhalt
überprüft worden sind?
Herr Kollege Koppelin, ich kann Ihnen jetzt keine
konkrete Angabe machen, wie oft das Bundesverwaltungsamt im Rahmen der Verwendungsnachweisprüfung
entsprechende Prüfungen vorgenommen hat. Ich kann
nur sagen, dass die Fachreferate und auch mein Büro als
das Beauftragtenbüro relativ häufig auf diese Seiten zugreifen und die Inhalte dieser Seiten sichten.
Damit kommen wir zur Frage 10 des Kollegen
Koppelin:
Aufgrund welcher Rechtsgrundlage wurden vom Bundesverwaltungsamt die Kosten für einen in einem deutschen Sanatorium sich aufhaltenden Russlanddeutschen und dessen
Operation übernommen?
Herr Kollege Koppelin, die Rechtsgrundlagen sind
die haushaltsrechtliche Ermächtigung des Kap. 640,
Tit. 684 22, „Unterstützung für deutsche Minderheiten
in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa einschließlich
nichteuropäischer Nachfolgestaaten der UdSSR“, die
Suchdienstvereinbarung, geschlossen zwischen dem
Bundesministerium des Innern und dem Deutschen Roten Kreuz, vom 28. Mai 1958 in der Fassung vom 8. Juni
2001 sowie der Zuwendungsbescheid des Bundesverwaltungsamtes vom 11. Juni 2008 und die darin enthaltenen Nebenbestimmungen zur Gesundheitshilfe.
Nachfrage?
Herr Staatssekretär, darf ich dann fragen: Wer hat die
Übernahme der Kosten der Operation in Höhe von
20 000 Euro genehmigt? Wo ist diese Genehmigung erfolgt? Sind Sie wirklich der Überzeugung, dass Sie mit
dem, was Sie eben vorgetragen haben, begründen konnten, dass die Bezahlung dieser Operation rechtmäßig ist?
Ich bin der Überzeugung, dass die Bezahlung dieser
Operation rechtmäßig ist. Es ist ausdrücklich im Zuwendungsbescheid vorgesehen, dass unter bestimmten Prüfungsbedingungen Gesundheitshilfen auch in Deutschland erbracht werden können. Es handelt sich im Falle
der betroffenen Person um einen Angehörigen der Erlebnisgeneration, der Gulag-Zwangsarbeit erlebt hat und
der sich über den Aufbau der Russlanddeutschen-Bewegung verdient gemacht hat.
Zweite Nachfrage, bitte.
Ich entnehme Ihrer Antwort, dass Sie die Person anscheinend sehr gut kennen. Darf ich einmal fragen, wie
oft solche Genehmigungen für Operationen oder ärztliche Behandlungen in der Bundesrepublik Deutschland
erfolgt sind?
Ich kann Ihnen diese Zahl nicht sagen. Aber es handelt sich um Ausnahmefälle. Bei der Mitteilung des
Hauses an das Bundesverwaltungsamt, die aus dem
Fachreferat erfolgte, ist auf die Besonderheit dieses Falles und auf die Ausnahmesituation hingewiesen worden.
Vielen Dank.
Damit kommen wir zur Frage 11 der Kollegin Sevim
Dağdelen:
Ist die Bundesrepublik Deutschland nach Auffassung der
Bundesregierung ein Einwanderungsland?
Frau Kollegin Dağdelen, ich beantworte Ihre Frage
wie folgt: Eine geregelte und kontrollierte Gestaltung
der Zuwanderung nach Deutschland findet nach Maßgabe des deutschen Aufenthaltsrechts statt, das somit bestimmt, für welche Personen Deutschland die Funktion
eines Einwanderungslands haben soll.
Das Aufenthaltsgesetz ermöglicht und gestaltet die
Zuwanderung unter Berücksichtigung der Aufnahmeund Integrationsfähigkeit sowie der wirtschaftlichen und
arbeitsmarktpolitischen Interessen unseres Landes. Es
dient zugleich der Erfüllung unserer humanitären Verpflichtungen. Ich verweise auf § 1 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes.
Die Zuwanderungssteuerung betrifft im Wesentlichen vier verschiedene Gruppen: Ehegatten und Familiennachzug, Asyl- und Flüchtlingsschutz, ausländische
Studierende und Auszubildende sowie Arbeitsmigration.
Die §§ 27 ff. des Aufenthaltsgesetzes bilden den gesetzlichen Rahmen für den Aufenthalt aus familiären
Gründen, wie er im Wesentlichen durch Art. 6 des
Grundgesetzes und die Menschenrechtskonvention vorgegeben ist.
Die Gewährung von politischem Asyl ist durch
Art. 16 a des Grundgesetzes und die Genfer Flüchtlingskonvention in Verbindung mit den aufenthaltsrechtlichen
Abschiebungsverboten - § 60 des Aufenthaltsgesetzes gesichert. Daneben gibt es Möglichkeiten der Aufnahme
aus humanitären oder politischen Gründen. Ich verweise
auf die §§ 22 ff. des Aufenthaltsgesetzes.
Möglichkeiten des Aufenthalts zum Zweck des
Schulbesuchs, zur Teilnahme an Sprachkursen sowie
zum Zweck des Studiums oder der Ausbildung halten
die §§ 16 ff. des Aufenthaltsgesetzes bereit.
Die Regelung der Arbeitsmigration in den §§ 18 ff.
des Aufenthaltsgesetzes ist als ein Kernstück der Zuwanderungssteuerung zu betrachten. Hier steht die Steuerung
der Zuwanderung von Fachkräften - § 18 Abs. 2 und 4 und Hochqualifizierten - § 19 des Aufenthaltsgesetzes im Vordergrund.
Nachfragen?
Vielen Dank. - Herr Bergner, da lachen Sie ja selbst.
Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie alle Paragrafen sowie die Inhalte und Titel dieser Paragrafen zitiert haben.
Aber danach habe ich nicht gefragt. Ich habe gefragt, ob
die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland
ist. Das ist eine politische Wertung. Es geht nicht darum,
nach welchen Kriterien die Einwanderung erfolgt und
wie das Aufenthaltsgesetz aussieht. Vielmehr geht es darum, ob die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist, ob sie, wie es die CSU sagt, kein Zuwanderungsland ist oder ob sie, wie es die CDU oftmals in
Form von Erklärungen der Mitglieder des Kabinetts verlautbaren lässt, ein Integrationsland ist. Eine andere Partei, die Mitglied der Regierung ist, nämlich die FDP, sagt
sogar klar und deutlich, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland ist. Deshalb möchte ich
gerne eine Antwort, die entweder ein Ja oder ein Nein
beinhaltet. Das ist eine ganz einfache Frage, die eine
ganz einfache Antwort verdient hat.
Frau Kollegin Dağdelen, ich weiß nicht, ob ich der
Ernsthaftigkeit Ihrer Frage gerecht werde, wenn ich sie
nur mit Ja oder Nein beantworte.
({0})
Der Begriff „Einwanderungsland“ ist kein Rechtsbegriff,
sondern ein politisch begründeter Kategorisierungsprozess. Unter diesem Gesichtspunkt kann ich Ihnen persönlich nur sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland
meinem Begriff eines Einwanderungslandes insofern
nicht entspricht, als ich die klassischen Einwanderungsländer vor Augen habe, die bei dünner Ausgangsbesiedlung durch eine Einwanderungsgeschichte ihre gesellschaftliche Wirklichkeit aufgebaut haben. Wir haben es
hier also mit einem anderen Einwanderungsgeschehen
zu tun.
Ich sage noch einmal - deshalb habe ich mich bemüht, Ihre Frage mit den rechtlichen Hinweisen so ausführlich zu beantworten -, dass es unter rechtlichen
Gesichtspunkten durchaus Möglichkeiten der Einwanderung nach Deutschland gibt, dass sie gut geregelt sind
und dass das andere eine Frage der politischen Kategorisierung ist.
Eine weitere Nachfrage?
Danke, Herr Präsident. - Ich bin hier in keinem Gerichtssaal und habe auch keine juristische Definition verlangt. Die Bundesregierung macht meines Wissens Politik. Deshalb möchte ich eine politische Antwort auf
meine Frage. Ich frage daher noch einmal: Ist die Bundesrepublik Deutschland nach Auffassung der Bundesregierung - nicht nach Ihrer Auffassung, Herr Staatssekretär - ein Einwanderungsland?
Eine Nachfrage dazu. Nach einer Meldung der Nachrichtenagentur dpa vom 25. Oktober fordert die CSU in
einem Leitantrag der Parteispitze für den Parteitag am
kommenden Wochenende mit dem Titel „7-Punkte-Integrationsplan“ ein Bekenntnis zur deutschen Leitkultur.
Wörtlich heißt es dort:
Wer bei uns leben will, muss sich in die deutsche
Leitkultur integrieren …
Teilt die Bundesregierung diese Forderung? Inwieweit
plant die Bundesregierung gesetzgeberisch, ein Bekenntnis zur deutschen Leitkultur einzuführen?
Frau Kollegin Dağdelen, die Haltung der Bundesregierung, die, wie Sie wissen, aus unterschiedlichen
Koalitionspartnern besteht, ist in der Koalitionsvereinbarung in einem umfangreichen Kapitel zur Migration und
Integration festgelegt. Die Frage, welche Rolle politische Wertungsprozesse in diesem Zusammenhang spielen, ist Sache der beteiligten Parteien. Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie nicht aus einer Vorlage der
Bundesregierung, sondern aus einem Antrag eines geschätzten Koalitionspartners zu seinem Parteitag zitiert
haben.
({0})
Der Kollege Ströbele hat noch eine Nachfrage.
Herr Staatssekretär, das ist ein Eiertanz; darüber sind
wir uns doch einig. Sie wollen die Frage nicht beantworten, weil es in den drei die Koalition bildenden Parteien
ganz offensichtlich unterschiedliche Auffassungen dazu
gibt. Die Frage der Opposition ist aber berechtigt, was
Auffassung der Bundesregierung - nicht Ihre - oder
meinetwegen Auffassung der die Richtlinien bestimmenden Mehrheit der Mitglieder der Bundesregierung in
Bezug auf die Bewertung und die Bezeichnung Einwanderungsland ist.
Es ist schon darauf hingewiesen worden: Die CSU,
einzelne Abgeordnete einbezogen, betont immer wieder,
dass nach ihrer Auffassung die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist, wobei nicht zwischen
klassischem und nichtklassischem Einwanderungsland
unterschieden wird. Die Bundeskanzlerin stellt dies anders dar. Die FDP wiederum behauptet, die Bundesrepublik Deutschland sei ein Einwanderungsland. Gibt es
dazu eine Auffassung der Bundesregierung, wenn ja:
welche?
Herr Kollege Ströbele, ich habe mich vorhin bei der
Beantwortung der ersten Nachfrage von Frau Dağdelen
bemüht, durch Darlegung meiner persönlichen Meinung
keine Auskunft schuldig zu bleiben.
Im Übrigen weise ich darauf hin, dass auch Sie über
hinreichend viele Erinnerungen an entsprechende Situationen aus Ihrer Regierungszeit verfügen müssten. Wenn
ich ein wenig in meinem Gedächtnis kramen würde,
würde ich mich an eine Vielzahl von Situationen innerhalb der rot-grünen Koalition erinnern, in denen Sie
nicht der gleichen Meinung wie der damalige Innenminister Schily waren. Derjenige, der sich bemühen
musste, die Meinung der Bundesregierung wiederzugeben, musste auch einen integrativen Standpunkt über unterschiedliche Positionen hinweg finden.
Es gibt jetzt noch eine Nachfrage des Kollegen
Wunderlich.
Herr Staatssekretär, Ihren Ausführungen darf ich,
wenn ich Sie richtig verstehe, entnehmen, dass sich die
Bundesregierung hinsichtlich des Begriffs Einwanderungsland inhaltlich einig ist, was die von Ihnen zitierten
Vorschriften anbelangt, im Übrigen aber uneinig ist. Sie
wollen oder können sich offensichtlich nicht dazu äußern, wie die Bundesregierung zu der Frage Einwanderungsland steht. Ihre persönliche Einschätzung ist in diesem Zusammenhang nicht so relevant. Relevant ist die
Einschätzung der Bundesregierung.
Ich bitte um Verständnis, dass ich meiner persönlichen Meinung eine gewisse Relevanz zugestehe, jedenfalls genug Relevanz, um sie Ihnen mitzuteilen.
Ich will noch einmal auf folgenden Punkt aufmerksam machen: Entscheidend ist die Gestaltung des
Rechtsrahmens. Ich habe mich deshalb bei der Beantwortung Ihrer Frage darum bemüht, den Sachverhalt im
Zusammenhang mit der Frage, ob „die Bundesrepublik
Deutschland nach Auffassung der Bundesregierung ein
Einwanderungsland“ ist, durch Beschreibung des von
der Bundesregierung einvernehmlich anerkannten
Rechtsrahmens wiederzugeben. Ich glaube, die Frage
des Rechtsrahmen ist entscheidend. Alles andere mag,
mit Verlaub, dem parteipolitischen Schlagabtausch überlassen sein; denn dabei geht es im Grunde um eine Frage
der politischen Kategorisierung, nicht um die Gestaltung
des Rechtsrahmens.
Vielen Dank. - Wir kommen zur Frage 12 der Kollegin Dağdelen:
Wie lauten die genauen Ergebnisse der Länderumfrage des
Bundesministers des Innern vom 25. September 2010 zu Erfahrungen der Bundesländer bezüglich bestehender Sanktionsmöglichkeiten im Zusammenhang „integrationswidrigen
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Verhaltens von Ausländern“, die zum 20. Oktober 2010 beantwortet sein sollte, und wieso hat die Bundesregierung nicht
von der auf Bundestagsdrucksache 17/3147 ausdrücklich eingeräumten Fristverlängerungsmöglichkeit Gebrauch gemacht,
um meine diesbezüglichen Fragen überhaupt und umfassend
beantworten zu können?
Die Antworten der Länder liegen noch nicht vollständig vor. Die Auswertung konnte daher noch nicht abgeschlossen werden. Aus den bisher vorliegenden Antworten ergibt sich, dass in den Ländern vielfach keine
Arbeitsstatistiken zu der Nutzung der ausländerrechtlichen Sanktionsmöglichkeiten geführt werden. Deshalb
steht hierzu derzeit kein abschließendes Zahlenbild zur
Verfügung.
Von der Tendenz der vorliegenden Einzelzahlen her
ist zu erkennen, dass von den Sanktionstatbeständen bei
nicht ordnungsgemäßer Teilnahme an den Integrationskursen - Nichtverlängerung der Aufenthaltserlaubnis,
Bußgeldverhängung - vielfach nur in geringem Umfang
Gebrauch gemacht wird. Inwieweit dies auf nachvollziehbaren rechtlichen oder praktischen Gründen beruht
oder als Indiz für ausländerbehördliche Vollzugsdefizite
anzusehen ist, bedarf noch einer eingehenden Analyse.
Im Hinblick auf die angesprochene Möglichkeit der
Fristverlängerung ist anzumerken, dass die Bundesregierung die regelmäßige Praxis verfolgt, auf parlamentarische Anfragen auf Basis des jeweiligen Kenntnisstandes
möglichst fristgerecht zu antworten.
Ihre Nachfrage.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. - Sie haben gesagt, dass Ihnen die Daten der Landesinnenministerien
noch nicht vollständig vorliegen, aber einige Länder die
Anfrage schon beantwortet haben. Deshalb möchte ich
Sie fragen: Welche Bundesländer haben bis heute noch
keine Auskünfte gegeben? Welche Bundesländer haben
bis zum 20. Oktober dem Bundesinnenministerium geantwortet? Welche Bundesländer konnten zumindest zu
einzelnen Fragen oder Teilbereichen klare Auskünfte erteilen, etwa dergestalt, dass von aufenthaltsrechtlich vorgesehenen Sanktionen deshalb kein Gebrauch gemacht
wurde, weil es im Zusammenhang mit der Integrationskursteilnahme kein vorwerfbares Verhalten in nennenswertem Umfang gibt? Wenn Sie nicht fähig sind, jetzt
die Fragen genauestens zu beantworten, würde ich Ihnen
die Möglichkeit geben, mir diese Fragen schriftlich zu
beantworten, aber bitte so schnell wie möglich.
Frau Kollegin, ich will Ihnen gerne schriftliche Angaben machen. Sie werden verstehen, dass ich jetzt keinen
Überblick darüber parat habe. Ich will trotzdem darauf
hinweisen, dass eine Klassifizierung - Bundesland A hat
soundsoviele Auskünfte gegeben, Bundesland B soundsoviele, die Bundesländer C und D haben keine Auskünfte gegeben - keine ausreichende Basis für die Beantwortung Ihrer in der Bundestagsdrucksache 17/3147
gestellten Fragen darstellt, sofern die Möglichkeit zur
Analyse der Ergebnisse und zu ihrer umfassenden Nachprüfung tatsächlich genutzt werden soll. Sie müssen sich
in jedem Fall damit abfinden, dass zum für die Beantwortung Ihrer Fragen angekündigten Termin noch kein
ausreichender Kenntnisstand vorlag, um die Fragen umfassender zu beantworten, als wir es getan haben.
Ihre zweite Nachfrage.
Ich sehe das anders. Ich habe in meiner Kleinen Anfrage nach den Ländern gefragt. Ich habe bereits seit
Mai 2009 die Bundesregierung gefragt, ob ihr überhaupt
Daten vorliegen, und sie darum gebeten, sie von den
Ländern zu beschaffen, wenn das nicht der Fall ist. Die
Bundesregierung ist erst im September dieses Jahres auf
die Idee gekommen, die Daten der Länder zu beschaffen.
Meine Anfrage wurde am 20. Oktober 2010 beantwortet.
Sie enthielt keinerlei Informationen der Bundesregierung zur Länderabfrage. Ich weiß aber, dass zumindest
von einem Landesinnenministerium eine Antwort vorgelegen hat. Diese hätte man mir aufgrund der Pflicht der
Bundesregierung, dem Parlament Rede und Antwort zu
stehen, normalerweise geben können.
Ich komme jetzt zu meiner nächsten Nachfrage. Wenn
ich Sie richtig verstanden habe, gibt es derzeit keinerlei
solide Daten bzw. Informationen darüber, in welchem
Umfang bezogen auf die Integrationskursteilnahme insgesamt von der sogenannten Integrationsverweigerung
gesprochen werden kann. Für mich geht es dabei um
eine vorwerfbare Teilnahmeverweigerung. Herr Staatssekretär, ich möchte Sie fragen, warum die Bundesregierung die ohnehin sehr aufgeheizte öffentliche Debatte
über vermeintliche Integrationsverweigerer befördert,
indem sie eine Debatte über die möglicherweise vorhandene Notwendigkeit schärferer Sanktionen anstößt.
Müsste sie nicht erst einmal empirisch feststellen, dass
es ein Problem gibt? Müsste sie nicht erst einmal eine
Analyse vornehmen, statt solche Kampagnen zu starten?
Wie kann sie Sanktionen beschließen, ohne dass ihr die
entsprechenden Zahlen, wie Sie sagten, zur Verfügung
stehen?
Frau Kollegin Dağdelen, zunächst einmal will ich darauf hinweisen, dass wir tatsächlich das Phänomen der
Integrationsverweigerung haben. Das ist in unterschiedlichen Studien belegt worden. Insofern haben wir schon
das Recht, an alle Beteiligten zu appellieren, sich diesem
Problem zu stellen und ihren Beitrag zur Bekämpfung
der Integrationsverweigerung zu leisten.
Neben diesen Appellen haben wir versucht, die entsprechenden Infrastrukturen zu verbessern. Ich verweise
auf das gerade heute im Kabinett verabschiedete GesetParl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
zespaket, zu dem mein Minister vorhin Rede und Antwort gestanden hat. Zumindest in einem Aspekt wird dabei versucht, in Zusammenarbeit mit den zuständigen
Ausländerbehörden eine Verbesserung der Vernetzungsmöglichkeiten und anderes durch entsprechende Maßnahmen herbeizuführen.
Danke schön, Herr Staatssekretär.
Die Frage 13 der Abgeordneten Ingrid Hönlinger soll
schriftlich beantwortet werden.
Damit kommen wir zu dem Geschäftsbereich des
Bundesministeriums der Finanzen. Zur Beantwortung
steht der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut
Koschyk zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 14 der Kollegin Heidrun Dittrich
auf:
Wie will die Bundesregierung vermeiden, dass durch das
weitere Anregen von Sponsoring und die steuerliche Begünstigung von Stiftungen es zu Mindereinnahmen des Staates
kommt und damit die öffentliche Daseinsvorsorge nicht mehr
sozialstaatlich gesichert werden kann?
Herr Präsident, vielen Dank. - Frau Kollegin Dittrich,
Millionen Bürgerinnen und Bürger setzen sich tagtäglich
ehrenamtlich für gemeinnützige Zwecke in unserem
Land ein. Über 17 000 Stiftungen in Deutschland unterstützen viele gesellschaftliche Bereiche. Sie engagieren
sich im Sozialen, in der Wissenschaft, in der Kunst, in
der Kultur, aber auch im Umweltbereich.
Mit dem Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements betont der Staat seine Wertschätzung für Menschen, die sich in unserem Land
ehrenamtlich engagieren, zum Beispiel indem er Ehrenamtliche steuerlich begünstigt und neue steuerliche Anreize für die Gründung von Stiftungen und zur Unterstützung von Stiftungen gesetzt hat. Die hierdurch bedingten
Steuermindereinnahmen bedeuten keineswegs eine Abkehr vom Konsolidierungskurs und gefährden auch
künftig nicht die Handlungsfähigkeit des Staates. Die
Anreize sind nach Ansicht der Bundesregierung gut investiertes Geld in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Vielen Dank für die Antwort. - Die Linke sieht das
natürlich anders. Der staatliche Zusammenhalt kann nun
einmal nicht durch Ehrenamtliche und Stiftungen, die
selbst entscheiden, wo sie ihr Geld investieren, und die
dafür steuerlich begünstigt werden, gesichert werden.
Ich frage daher: Sehen Sie eigentlich nicht die Gefahr,
dass die Bundesregierung das von ihr proklamierte Ziel,
die Demokratie zu fördern, nicht erreicht, wenn die Finanzmittel dieser Spender privat und gezielt eingesetzt
werden? Schließlich unterliegt die Vergabe dieser Mittel
nicht dem Prozess der demokratischen Willensbildung,
sondern die Mittel fließen an den Parlamenten und den
Parteien vorbei und sind der parlamentarischen Kontrolle entzogen.
Nein, diese Gefahr sieht die Bundesregierung nicht,
weil es unserer Auffassung nach gut ist - da haben wir
anscheinend unterschiedliche Ansichten -, wenn sich
Bürger ehrenamtlich engagieren, wenn Bürger ehrenamtlich in Stiftungen arbeiten und wenn Bürger privates
Geld für Stiftungszwecke sowie für Vereine durch Mitgliedsbeiträge und Spenden zur Verfügung stellen. Das
ist nach unserer Auffassung ein ganz wichtiges, unverzichtbares gesellschaftliches Engagement in unserem
Land, das auch durch steuerliche Begünstigung gefördert werden sollte.
Haben Sie noch eine zweite Nachfrage, Frau Dittrich? Nein.
Dann rufe ich die Frage 15 der Frau Kollegin Dittrich
auf:
Wie gedenkt die Bundesregierung die zu missbräuchlicher
Gestaltungspraxis einladende rechtliche Regelung dahin gehend zu verändern, dass ein Missbrauch der sogenannten
Übungsleiterfreibetragsregelung durch die freien Träger, wie
in der ARD-Panorama-Sendung vom 1. Juli 2010 aufgedeckt,
unterbunden wird?
Herr Kollege Koschyk.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Frau Kollegin, die
Grundsätze zur Übungsleiterfreibetragsregelung sind gesetzlich bzw. in Verwaltungsvorschriften eindeutig geregelt und veröffentlicht, sodass die Bundesregierung keinen weiteren abstrakten Regelungs- oder Klärungsbedarf
sieht. Insbesondere ist in diesen Regelungen festgelegt,
dass sozialversicherungsrechtliche und steuerliche Vergünstigungen nur für echte nebenberufliche Tätigkeiten
gelten.
Haben Sie eine Nachfrage? - Bitte.
Danke für die erwartete Antwort. Es war mir schon
klar, dass Sie so antworten werden.
Für mich stellt sich jetzt natürlich die Frage, wie das
denn sein kann. Unsere Familienministerin - aus diesem
Bereich kommt die Frage - hat gesagt, bei der Prüfung
nach dem Einkommensteuergesetz und bei dem Vollzug
durch die zuständigen Landesfinanzbehörden sei ein solcher Missbrauch in der Vergangenheit bisher nicht aufgefallen; es mangele aber auch nicht an einer verbindlichen rechtlichen Grundlage. Sehen Sie darin nicht einen
Widerspruch? Einerseits gibt es den Missbrauch, über
den bei Panorama berichtet wurde - 400-Euro-Jobs werden durch Übungsleiterpauschalen aufgestockt -, andererseits sind genügend rechtliche Grundlagen vorhan7124
den. Gleichzeitig konnte man aber den Missbrauch nicht
aufdecken.
Verehrte Frau Kollegin, ich will Ihnen einmal zwei
Fallbeispiele nennen, die deutlich machen, dass es nach
geltendem Recht und nach der geltenden Verordnungslage absolut in Ordnung ist, wenn zum Beispiel ehrenamtlich Tätige dies tun und es mit einer hauptberuflichen
Tätigkeit verbinden.
Das erste Fallbeispiel ist die Pflege alter, kranker oder
behinderter Menschen bis zu einem Drittel der Arbeitszeit eines vergleichbaren Vollzeiterwerbs, wenn sie im
Dienst einer staatlichen, kirchlichen oder gemeinnützigen Einrichtung mit einem monatlichen Entgelt von
400 Euro erfolgt. Hierfür sind vom Arbeitgeber pauschalierte Sozialversicherungsabgaben sowie pauschalierte
Lohnsteuer zu zahlen. Dazu können 175 Euro steuerund sozialabgabenfrei gezahlt werden, ohne dass daneben ein Hauptberuf ausgeübt wird.
Das zweite Beispiel ist die Pflege alter, kranker oder
behinderter Menschen bis zu einem Drittel der Arbeitszeit eines vergleichbaren Vollzeiterwerbs im Dienst einer staatlichen, kirchlichen oder gemeinnützigen Einrichtung mit einem monatlichen Entgelt von 400 Euro
plus 175 Euro steuer- und sozialversicherungsfrei neben
einem davon zu unterscheidenden, gänzlich anders gearteten Hauptberuf. Dieser kann auch bei demselben Arbeitgeber ausgeübt werden. Beispiel: Jemand ist hauptberuflich Sekretärin bei einer Wohlfahrtseinrichtung und
übt zusätzlich eine nebenberufliche bzw. ehrenamtliche
Tätigkeit abends oder am Wochenende bei derselben
Wohlfahrtseinrichtung als Pflegekraft oder Rettungssanitäterin aus.
Darin sieht die Bundesregierung keinen Missbrauch
gegenwärtig geltender Gesetze.
Vielen Dank. - Haben Sie eine zweite Nachfrage? Bitte schön, Frau Dittrich.
Vielen Dank für die Antwort. Es freut mich, dass der
Bundesregierung die tatsächlichen Verhältnisse in gemeinnützigen Organisationen bekannt sind.
Ich möchte fragen, ob die Regierung bereit ist, einen
Gesetzentwurf einzubringen, um die unklare Lage bei
Empfängern von Übungsleiterpauschalen und ehrenamtlich Beschäftigten sowie Minijobbern zu beenden, und
zwar dahin gehend, dass ein und dieselbe Person nicht
für 400 Euro arbeiten und gleichzeitig ehrenamtlich als
Übungsleiterin tätig sein darf.
Dazu ein Beispiel: Es gibt den Verbund Sozialtherapeutischer Einrichtungen mit Sitz in Celle, der vor allem
in Niedersachsen aktiv ist. Dort wurde ein Ehrenkodex
vereinbart: Dieselbe Person darf nicht beide Tätigkeiten
ausüben. Sie haben als Beispiel genannt, dass jemand
morgens als Sekretärin arbeitet und abends als Musiktrainerin für einen Kinderverein tätig ist. Die Beispiele,
die bei Panorama angeführt wurden, waren anders. Die
ehrenamtliche und die hauptberufliche Tätigkeit waren
nicht getrennt; die Person hat den ganzen Tag mit dem
Auto Personen befördert. Diesen Missbrauch sollten wir
ausschließen.
Frau Kollegin, ich kann und will nicht ausschließen,
dass es hier Missbrauch gibt. Aber die Bundesregierung
sieht aufgrund der überwiegend ordnungsgemäß abgewickelten Fälle - das habe ich an zwei Beispielen deutlich
gemacht - keinen Anlass zu einer Gesetzesinitiative.
Weitere Zusatzfragen sehe ich nicht. - Ich bedanke
mich beim Kollegen Koschyk für die Beantwortung der
Fragen.
Die Frage 16 der Abgeordneten Bärbel Höhn, die
Frage 17 der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl, die Fragen 18 und 19 des Abgeordneten Volker Beck, die Frage
20 der Abgeordneten Britta Haßelmann, die Fragen 21
und 22 des Abgeordneten Dr. Gerhard Schick und die
Fragen 23 und 24 der Abgeordneten Lisa Paus werden
schriftlich beantwortet.
Ebenfalls schriftlich beantwortet werden - diese Fragen betreffen den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie - die Fragen 25
und 26 des Abgeordneten Garrelt Duin, die Fragen 27
und 28 des Abgeordneten Oliver Krischer und die Frage
29 des Abgeordneten Swen Schulz.
Das Gleiche gilt für die Fragen 30 und 31 der Abgeordneten Sabine Zimmermann und die Frage 32 des Abgeordneten Ilja Seifert, die den Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales betreffen.
Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz werden
die Fragen 33 und 34 des Abgeordneten Hans-Josef Fell
schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Die Fragen 35 und 36
der Abgeordneten Silvia Schmidt und die Fragen 37 und
38 des Abgeordneten René Röspel werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 39 des Kollegen Friedrich
Ostendorff auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Gefahr, dass sich
das MRSA-Bakterium vor allem in Betrieben mit Intensivtierhaltung - die in den ländlichen Räumen zurzeit stark an Zahl
zunehmen - auf die dort arbeitenden Menschen überträgt und
aufgrund des hohen Antibiotikaeinsatzes Resistenzen entwickelt, was nach Angaben des Robert-Koch-Instituts Wernigerode ({0}) das Gesundheitsrisiko der Menschen
im Umfeld dieser Anlagen durch Übertragungswege, zum
Beispiel in Krankenhäusern, aber auch darüber hinaus erhöht?
Frau Staatssekretärin Widmann-Mauz wird die Frage
freundlicherweise beantworten.
Herr Präsident! Herr Abgeordneter Ostendorff, die
Studien zeigen, dass Beschäftigte in landwirtschaftlichen
Nutztierbeständen, deren Tiere Träger von LA-MRSA
sind, einem erhöhten Risiko der klinisch inapparenten
nasalen Besiedlung durch die im Bestand vorkommenden LA-MRSA ausgesetzt sind. Ein ähnliches Risiko gilt
für Beschäftigte in Schlachthöfen, die Umgang mit lebenden Tieren vor der Schlachtung haben, sowie für
Tierärztinnen und Tierärzte, die in Nutztierbeständen tätig sind, in denen Tiere Träger von LA-MRSA sind.
Sehr selten erfolgt eine Verbreitung über diesen Personenkreis hinaus. So erbrachte die gegenwärtig vom Nationalen Referenzzentrum für Staphylokokken am RobertKoch-Institut durchgeführte Untersuchung in Altenheimen in einer Region mit einer hohen Dichte von Schweinemastanlagen bei den Bewohnerinnen und Bewohnern
bisher keinen einzigen Nachweis von LA-MRSA. Der
Anteil von LA-MRSA an MRSA aus Krankenhausinfektionen ist gering und lag im Jahr 2009 bei 1,8 Prozent. Die
Ausbreitung im Krankenhaus selbst erfolgt im Unterschied zu den krankenhausassoziierten MRSA nur selten.
Die in Deutschland gewonnenen Untersuchungsergebnisse sind auch mit Daten aus den Niederlanden vergleichbar. Derzeit gibt es nach unserer Einschätzung
keine Hinweise auf eine allgemeine Verbreitung auf Personen ohne Kontakt zu den besiedelten Tieren. Aufgrund
der prinzipiellen Möglichkeit der Verbreitung werden
LA-MRSA dennoch von uns als potenzielles Risiko für
den Menschen eingeschätzt und überwacht.
Zusatzfrage? - Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, schönen Dank für die Beantwortung der Frage. Das Robert-Koch-Institut hat auch kleinere Tierhaltungen auf Stroh, die zum Programm „Neuland“ gehören - in diesem Fall Schweinehaltungen -,
untersucht. Die Untersuchung ergab, dass fast 100 Prozent der dort arbeitenden Menschen keinerlei MRSA-Besiedlung zeigten. Das führt mich zu der Frage, ob die
Bundesregierung in ihre Betrachtung einbezieht, dass es
offenbar große Unterschiede je nach Intensität der Tierhaltung gibt. Die Intensivtierhaltung scheint hier das Problem zu sein. Wie sieht die Bundesregierung diesen Fakt?
Das Robert-Koch-Institut hat dazu eine Studie durchgeführt. Wir sehen hier Unterschiede. Allerdings haben
wir keine Gefährdungen für nicht in den Beständen tätige und im Umfeld von Beständen tätige Menschen erkennen können.
Gestatten Sie mir eine zweite Zusatzfrage? - Planen
Sie - Sie haben das Ergebnis der Untersuchung des
Robert-Koch-Instituts über Beschäftigte, die keinerlei
Symptome zeigten, angesprochen -, eigene Untersuchungen in Auftrag zu geben?
Die Untersuchungen des RKI werden schwerpunktmäßig im Rahmen der Surveillance durchgeführt. Insbesondere in den entsprechenden Schwerpunktzentren
werden dauerhafte Überwachungen durchgeführt. Wir
werden die Verbreitung weiterhin beobachten.
Ich rufe die Frage 40 des Kollegen Ostendorff auf:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus dem
laut ZDF-heute-journal vom 18. Oktober 2010 ({0}) steigenden Risiko des MRSA-Befalls in
deutschen Krankenhäusern vor allem in ländlichen Regionen
mit Intensivtierhaltung vor dem Hintergrund, dass es anders
als zum Beispiel in den Niederlanden keine gesetzlich vorgeschriebene obligatorische Voruntersuchung von Menschen
aus den einschlägigen Risikogruppen - Nutztierhaltung gibt?
Ich beantworte Ihre Frage folgendermaßen: Präventiv
erfolgte eine Erweiterung der Empfehlung des prästationären Aufnahmescreenings für MRSA bei Risikopatienten auf Beschäftigte in der Landwirtschaft mit Tierkontakt sowie auf Tierärzte und Tierärztinnen, um der
Verbreitung im Krankenhausbereich vorzubeugen. Dies
ist auch dem Epidemiologischen Bulletin des RKI, des
Robert-Koch-Instituts, zu entnehmen. Auftreten und Verbreitung von LA-MRSA sind zudem ein Schwerpunkt der
auf molekularepidemiologischen Untersuchungen beruhenden Surveillance-Aktivitäten des Robert-Koch-Instituts, insbesondere des dort angesiedelten Nationalen Referenzzentrums für Staphylokokken. Weiterführende
Forschungsarbeiten zur Epidemiologie und zum zoonotischen Potenzial von LA-MRSA werden im Rahmen des
vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsclusters MedVet-Staph ab November 2010 durchgeführt; für den Titel sind wir nicht verantwortlich.
Wer dafür die Verantwortung zu übernehmen hat, klären wir bei anderer Gelegenheit.
({0})
Eine Zusatzfrage des Kollegen Ostendorff.
Die Begrifflichkeiten waren in der Tat etwas verwirrend. - Letztlich bedeutet das, was Sie gesagt haben,
dass in Deutschland, anders als in den Niederlanden,
kein obligatorisches Krankenhausscreening durchgeführt wird.
In den Niederlanden waren nur noch 4 Prozent der
Menschen - diese Zahl wurde uns genannt -, die ins
Krankenhaus gekommen sind, Träger des MRSA-Virus,
nachdem sie isoliert und behandelt worden sind. Zahlen
aus Deutschland, zum Beispiel aus dem Münsterland,
deuten auf eine Trägerschaft von weit mehr als
20 Prozent der Patienten hin. Angesichts dieser Zahlen
und der Ergebnisse, die in den Niederlanden festzustellen waren, frage ich Sie: Warum ist in Deutschland kein
obligatorisches Screening vorgesehen, vor allen Dingen
in Gebieten mit sehr großen Stalleinheiten, zum Beispiel
in bestimmten Teilen des Münsterlandes oder des Oldenburger Landes?
Herr Abgeordneter Ostendorff, es gibt eine gemeinsame Aktivität, und zwar das Projekt Euregio MRSA-net,
das insbesondere vom Bundesministerium für Gesundheit gefördert wird. In diesem Rahmen wird versucht,
über unterschiedliche Situationen Erkenntnisse zu gewinnen. Wir haben allerdings festgestellt, dass die angewandten Hygienemaßnahmen, nämlich Isolation, Kittelpflege,
die Verwendung von Mundschutz und Handschuhen sowie die Desinfektion der Hände, vom Grundsatz her vergleichbar sind und sich aufgrund der Handhabung keine
Unterschiede feststellen lassen. Durch die Verpflichtung
allein lassen sich Unterschiede letztlich nicht erklären.
Deshalb sind aus unserer Sicht Handhabung und Praxis
entscheidend.
Ich habe eine zweite Frage zum Themenkomplex
MRSA. Wir können den vorliegenden Zahlen auch entnehmen, dass der Antibiotikaeinsatz in Intensivtierhaltungen sehr stark steigt und zunehmend zu einem Problem wird. Sieht das Bundesgesundheitsministerium
hier gesetzlichen Regelungsbedarf? Werden Sie, was den
Antibiotikaeinsatz in Intensivtierhaltungen betrifft, möglicherweise zur Tat schreiten und Regelungen treffen,
um die Praxis, dass den Tieren mehr als zwei Drittel ihres Lebens Antibiotika verabreicht werden, einzuschränken?
Die Entwicklungen bei der Verabreichung von Antibiotika werden im Bundesgesundheitsministerium mit
besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Auch zu diesem
Thema haben wir die Forschungsaktivitäten in unserem
Haus verstärkt.
Wenn wir die Ergebnisse dieser Forschungsaktivitäten ausgewertet haben, wird die Bundesregierung bewerten, ob sie darüber hinausgehende Maßnahmen für erforderlich hält.
Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Behm, bitte.
Kürzlich ist ein Bekannter von mir, der bis dahin
kerngesund war und nichts mit Landwirtschaft zu tun
hat, wegen eines Aneurysmas ins Herzzentrum eingeliefert worden. Nachdem man ihn auf der Intensivstation
erstbehandelt hatte, musste er isoliert werden, weil er genau diese MRSA-Bakterien hatte, und er lag dort nicht
alleine. Es gibt also eine wirklich sehr weite Verbreitung.
Haben Sie nicht die Sorge, dass es hier zu einer Ausbreitung kommen kann, die man nicht mehr in den Griff
bekommt, wenn man nicht rechtzeitig Schutzmaßnahmen ergreift?
Frau Abgeordnete, Ihre Besorgnis wird von der Bundesregierung geteilt. Deshalb werden seit vielen Jahren
Empfehlungen der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert-Koch-Institut veröffentlicht. Diese werden kontinuierlich erneuert
und bearbeitet, und es wird ganz deutlich gemacht, für
welche Personengruppen ein Eingangstest empfohlen
wird und welche Gruppen den Risikogruppen zuzuordnen sind. Dies wird ständig aktualisiert.
Gerade in dem Epidemiologischen Bulletin Nr. 42
von 2008, das ich vorhin bereits erwähnt habe, wird
nochmals ganz deutlich darauf hingewiesen,
dass für Krankenhäuser und Einrichtungen für ambulantes Operieren die Verpflichtung zur Erfassung
und Bewertung von Erregern mit besonderen Resistenzen und Multiresistenzen … und zur Meldung
von Ausbrüchen an das Gesundheitsamt … besteht
…
Es wird empfohlen, diese entsprechenden Eingangsuntersuchungen durchzuführen, damit es nicht zu den
Maßnahmen kommen muss, die Sie selbst gerade beschrieben haben.
Die Frage 41 des Kollegen Seifert wird schriftlich beantwortet.
Vielen Dank, Frau Widmann-Mauz.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Scheuer zur
Verfügung.
Die Fragen 42 und 43 des Kollegen Hofreiter werden
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 44 des Kollegen Heinz Paula auf:
Wie weit ist das Vergabeverfahren für den sechsstreifigen
Ausbau der Autobahn 8 zwischen Ulm und Augsburg fortgeschritten, und wann findet der Baubeginn statt?
Herr Staatssekretär Scheuer, bitte.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Hochgeschätzter Herr Kollege Paula, im Rahmen des
Vergabeverfahrens für den als ÖPP-Betreibermodell vorgesehenen sechsstreifigen Ausbau der Autobahn 8 zwischen Ulm und Augsburg erfolgt derzeit die Bewertung
der BAFOs - Herr Präsident, ich entschuldige mich; das
ist auch nicht unser Begriff -, also der Best and Final Offers.
({0})
Herr Staatssekretär, mir wäre es noch lieber, wenn die
Bundesregierung statt ihres Bedauerns über ihr zugemutete unnötige englische Begriffe freiwillig eine passende
deutsche Übersetzung vortragen würde.
({0})
Herr Präsident, Sie wissen, dass Bundesminister
Ramsauer sehr viel zu der Deutschoffensive beigetragen
hat,
({0})
und wir werden uns auch bei unseren Antworten bemühen, möglichst deutsche Begriffe zu verwenden.
Herr Kollege Paula, als Datum für den Konzessionsbeginn, der Voraussetzung für den Beginn des Streckenausbaus ist, wird Januar 2011 angestrebt.
Zusatzfragen?
Zunächst einmal besten Dank für die Beantwortung,
Herr Staatssekretär. - Ich habe noch eine kurze Nachfrage. Die Konzessionsvergabe soll im Januar 2011 erfolgen. Können Sie sich noch zu einer realistischen Prognose für den Baubeginn äußern?
Herr Kollege Paula, wir haben jetzt gerade, zum Abschluss des Jahres, noch die letzten Verhandlungen zu
diesem Vergabeverfahren geführt. Die Konzessionsvergabe ist das Entscheidende. Damit beginnt das ganze
Geschäftsverhältnis. Als Folge daraus wird der Konzessionsbeginn somit in 2011 sein. Das Verhältnis zwischen
den Konzessionspartnern beginnt damit also im Januar
2011.
({0})
Keine Zusatzfrage. - Dann rufe ich Frage 45 des Abgeordneten Paula auf:
Womit wird die Verzögerung, die Zeitungsberichten zufolge ({0}) bei der
Elektrifizierung der Bahnstrecke München-Lindau auftritt,
begründet, und bis wann ist dann stattdessen mit dem Baubeginn bzw. der Fertigstellung zu rechnen?
Die Deutsche Bahn AG hat mitgeteilt, dass der Abschluss der Vorplanungen für die Elektrifizierung der
Bahnstrecke München-Lindau nunmehr in 2011 erwartet wird. Sie führt weiterhin aus, dass erst danach eine
Aussage zum Inbetriebnahmetermin möglich sein wird.
Aus derzeitiger Sicht erwartet die Deutsche Bahn AG
den Baubeginn im Jahr 2013. Hierbei sind Verzögerungen in den Planrechtsverfahren nicht berücksichtigt.
Zusatzfrage?
Ich habe eine Zusatzfrage, und zwar: Der Bund hat ja
für das Projekt 110 Millionen Euro zugesichert. Die Zusicherung kann ja nicht nur im luftleeren Raum erfolgt
sein. Deswegen die Frage an Sie: Wo und in welcher
Höhe sind die zunächst erforderlichen Mittel und dann
die Gesamtsumme entsprechend garantiert?
Der Bund hat seine Finanzierungszusage erfüllt und
die Finanzierung mit der Finanzierungsvereinbarung
vom 17. Dezember 2008 sichergestellt. Dazu gibt es ja
die Projektbeiräte, deren Sitzungstermine sich, wie Sie
wissen, leider etwas verschoben haben. Diese Termine
werden jetzt im November stattfinden. Da werden die
einzelnen Fragen bezüglich der Kosten geklärt. Das
heißt, die Sitzungen des Projektbeirates, die ja ursprünglich einmal für September 2010 terminiert waren und
dann immer wieder verschoben wurden, sind entscheidend für die nächsten Planungsschritte.
Vielen Dank Herr Staatssekretär.
Wir kommen nun zum Schluss zum Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit.
Hier stehen noch die Fragen 46 und 47 der Kollegin
Cornelia Behm zur Beantwortung aus:
Inwieweit gibt es seitens der Bundesregierung Überlegungen, die naturschutzfachlich bedeutsamen Areale sowohl auf
dem ehemaligen Truppenübungsplatz Wittstock als auch auf
der Liegenschaft der ehemaligen Heeresversuchsstelle Kummersdorf - beide Brandenburg - dauerhaft unter Schutz zu
stellen, um einen Beitrag zum Biodiversitätsschutz im Rahmen der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zu leisten?
Inwieweit gibt es bei einer wünschenswerten Unterschutzstellung Hemmnisse durch eine bisher nicht abgeschlossene
Übertragung der Flächen vom Bund an einen künftigen Träger
der Maßnahme bzw. an das Land Brandenburg?
Frau Kollegin Behm, ich beantworte Ihre Fragen 46
und 47 wegen des Sachzusammenhangs zusammen. Die
naturschutzrechtliche Unterschutzstellung von Flächen
fällt nach dem Grundgesetz in die Zuständigkeit der
Länder. Dies gilt auch für die beide in Brandenburg liegenden Flächen des Truppenübungsplatzes Wittstock
und der ehemaligen Heeresversuchsstelle Kummersdorf.
Innerhalb der Bundesregierung wird diskutiert, ob
und gegebenenfalls in welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen eine Teilaufnahme in das nationale Kulturerbe sinnvoll und möglich ist. Dies kann aber
erst im Laufe des Fortgangs des Konversionsprozesses
in enger Abstimmung zwischen der BImA, also der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben, und dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit festgelegt werden.
Bitte schön, Frau Behm.
Vielen Dank für die Beantwortung der Fragen. Die
Antworten sind leider nicht so konkret, wie ich es mir
gewünscht hätte. Sie sagen, darüber kann im Verlaufe
des Fortgangs der Übertragung der Liegenschaften entschieden werden. Können Sie in etwa, vielleicht getrennt
nach Liegenschaften, eine Angabe zum Zeithorizont machen?
Sie wissen, dass im Koalitionsvertrag festgelegt ist,
eine weitere Tranche, nämlich 25 000 Hektar Bundesfläche, an die Länder bzw. an Stiftungen zu übertragen, um
wertvolle Flächen zu sichern. Wir identifizieren gerade
mögliche weitere Flächen für diese zweite Tranche. Die
erste Tranche bestand aus rund 100 000 Hektar. Wir haben in Bezug auf Flächen der zweiten Tranche mit der
Abfrage an die Länder begonnen. Die Verfügbarkeit solcher Flächen wird geprüft. Die Prüfungen sind aber noch
nicht abgeschlossen.
Das hört sich ja so an, als ob Sie bei der Unterschutzstellung tatsächlich an die Übertragung ins nationale
Naturerbe denken. Nun weiß ich, es sind noch etwa
25 000 Hektar offen. Es sind inzwischen, verstreut über
die Republik, aber schon Flächen in einer deutlich höheren Größenordnung identifiziert worden, die in dieses
nationale Naturerbe passen würden. Das veranlasst mich
zu der Befürchtung, dass bei einer Übertragung von Teilen der Kyritz-Ruppiner Heide oder der Kummersdorfer
Heide ins nationale Naturerbe die 25 000 Hektar ausgeschöpft wären. Oder würde das gegebenenfalls on top
kommen?
Diese Befürchtungen kennen wir. Sie werden insbesondere durch die Naturschutzverbände geäußert. Deswegen laufen Gespräche über die von Ihnen genannten
Flächen und über weitere kleinere Flächen, die der
BVVG zuzurechnen sind. Es muss sich zeigen, ob die
BVVG überhaupt einen nennenswerten Beitrag leisten
kann. Hier sind gesetzliche Obergrenzen bei den Flächen, die durch die BVVG zur Verfügung gestellt werden können, zu beachten.
Aber noch einmal: Die Länderabfrage läuft. Es sind
keine abschließenden Gespräche darüber geführt worden, welche Flächen am Ende tatsächlich infrage kommen.
Ich habe noch eine Nachfrage. Ist der Bundesregierung bekannt, dass es für die Heeresversuchsstelle Kummersdorf eine Konzeption gibt, die sowohl Denkmalschutzbelange als auch naturschutzfachliche Belange
einbezieht und in der es nicht darum geht, eine Übertragung ins nationale Naturerbe vorzunehmen? Wenn ja,
wie bewerten Sie diese Konzeption?
Ich habe mehrere Veranstaltungen vor Ort besucht
und gesehen, dass sich die Leute vor Ort große Mühe geben. Vom Landesministerium war aber zu hören, dass
die Gespräche mit dem Bund ins Stocken geraten sind.
Ich würde nun gerne von Ihnen wissen, ob es irgendeine
Schraube gibt, an der man drehen kann, damit diese Gespräche wieder ins Laufen kommen und es vor Ort weitergeht. Denn wenn dies nicht geschieht, dann ist irgendwann nichts mehr unter Schutz zu stellen. Dann geht
sowohl der naturschutzfachliche Wert als auch der
Denkmalschutzwert immer weiter verloren. Sie kennen
die Liegenschaft sicherlich und haben sich ein Bild davon gemacht. Die Frage lautet also: Kann man das Verfahren beschleunigen? Was stört die Fortführung dieser
Gespräche? Warum ist der Faden gerissen? Gibt es eine
Möglichkeit, das Verfahren auch im Sinne der von der
Region selbst erarbeiteten Konzeption zu entwickeln?
Ich kann nicht bestätigen, dass die Gespräche ins Stocken geraten seien. Ich wiederhole noch einmal: Das
Bundesministerium ist mit den Ländern intensiv im Gespräch, welche Flächen für die Übertragung in das nationale Naturerbe infrage kommen, um die 25 000 Hektar,
die ja gemeinsame Zielvorgabe sind, vollständig zu erreichen. Wir sind für die naturschutzfachliche Begutachtung zuständig, die das BfN gemeinsam mit dem BMU
durchführt. Aber die Ausweisung der Flächen muss vonseiten der Länder kommen. Ich finde, dass wir in einem
guten Gespräch sind, und kann die von Ihnen geäußerte
Sorge so nicht bestätigen.
({0})
Nein. Das kommt gelegentlich vor und ist natürlich
höchst bedauerlich, aber leider kein Einzelfall, der zu einer besonderen Handhabung Anlass geben würde.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Die Frage 48 der Abgeordneten Sylvia Kotting-Uhl
aus demselben Geschäftsbereich sowie die Frage 49 des
Abgeordneten Klaus Hagemann und die Frage 50 der
Abgeordneten Nicole Gohlke aus dem Geschäftsbereich
des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
werden schriftlich beantwortet.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Rentenkürzung durch Rente erst ab 67 verhindern
Erster Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kollege
Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben durchaus Anlass, uns noch einmal
mit diesem Thema zu beschäftigen, nachdem sich nun
offensichtlich auch in der CSU die Einsicht durchzusetzen scheint, dass man über dieses Thema noch einmal
reden muss. Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, das der Parteivorsitzende der CSU gesagt hat - ich
zitiere ihn -:
Ich werde meine Zustimmung zur Rente mit 67 aufkündigen, wenn die Wirtschaft Menschen, die über
50 sind, nicht beschäftigt. Das habe ich heute auch
der Kanzlerin gesagt. Sonst ist das eine reine Rentenkürzung, und da mache ich nicht mit.
({0})
Der Vorsitzende der CSU hat sich also mit dieser
Frage erneut beschäftigt und kommt offensichtlich zu
völlig neuen Erkenntnissen, die allerdings von seinen
Parteifreunden in einer Weise quittiert werden, dass man
sich schon wundert, was zurzeit bei Ihnen los ist.
({1})
Ich zitiere Herrn Schlarmann aus dem CDU-Vorstand:
Wenn Herr Seehofer dies
- die Rente mit 67 infrage stellt, stört er nicht nur den Koalitionsfrieden, sondern bestätigt auch diejenigen, die die Regierung für handlungsunfähig halten.
Jetzt frage ich mich natürlich, meine Damen und Herren aus der CDU/CSU: Was ist Ihnen eigentlich wichtiger? Tatsächlich das Wohl der Bürger in diesem Lande,
das Wohl der Menschen, die irgendwann eine Rente
brauchen, oder Ihr Koalitionsfrieden? Wenn sich bei
euch von der CSU schon einmal eine Einsicht durchsetzt, dann müsst ihr doch euren Vorsitzenden nicht in
dieser Weise demontieren. Das ist doch nun wirklich
nicht notwendig.
({2})
Führen wir uns die Fakten noch einmal zu Gemüte
und schauen wir, an welcher Stelle Herr Seehofer vollkommen recht hat.
Wir stellen erstens fest, dass nur 9,9 Prozent der Menschen in der Altersgruppe von 64 Jahren eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben. Das heißt,
dass 90 Prozent der Menschen durch die Rente erst ab 67
nichts anderes als eine Rentenkürzung bekommen. Genau das hat Herr Seehofer festgestellt,
({3})
und ich weiß nicht, warum Sie sich dieser Einsicht in so
dramatischer Weise verschließen, meine Damen und
Herren.
({4})
Zweitens. Wir stellen fest, dass 2004 11 Prozent der
55- bis 64-Jährigen arbeitslos waren. Das bedeutet, dass
die Gruppe der 55- bis 64-Jährigen an der gesamten Arbeitslosigkeit im Jahr 2004 mit 11 Prozent beteiligt war.
Im Jahr 2010 beträgt der Anteil der 55- bis 64-Jährigen
an der gesamten Zahl der Arbeitslosen inzwischen
16 Prozent. Wir haben also eine steigende Arbeitslosigkeit in genau der Personengruppe, die Sie künftig länger
als bis 65 arbeiten lassen wollen. Die sind jetzt schon arbeitslos. Die Arbeitslosigkeit in dieser Gruppe nimmt zu.
({5})
Deshalb hat Herr Seehofer vollkommen recht, wenn er
sagt: Wir müssen diese Frage neu verhandeln und neu
besprechen.
({6})
- Wenn Sie ein Problem mit der Statistik haben, müssen
Sie das mit Herrn Seehofer diskutieren. Offensichtlich
beruft er sich ja darauf.
Es gibt einen weiteren Punkt, meine Damen und Herren. In der Antwort auf die Große Anfrage, die wir an
die Bundesregierung gestellt haben, wird bestätigt, dass
36 Prozent der Betriebe keine Mitarbeiter beschäftigen,
die älter als 50 Jahre sind.
({7})
36 Prozent der Betriebe beschäftigen niemanden, der
über 50 Jahre alt ist!
({8})
- Warum regen Sie sich denn so auf? Ich verstehe das
überhaupt nicht. Herr Seehofer hat doch recht. Jetzt unterstütze ich einmal euren Vorsitzenden, und ihr be7130
kommt schon wieder einen heißen Hintern. Das muss
doch wirklich nicht sein.
({9})
Meine Damen und Herren, wir kommen ja von einer
Veranstaltung der IG Metall, an der auch andere Kollegen des Hauses teilgenommen haben. So kann ich Ihnen noch ein paar weitere Beispiele nennen: Von den
4 800 Beschäftigten der Salzgitter Flachstahl GmbH ist
1 Prozent älter als 63 Jahre.
({10})
Beim Küchenhersteller SieMatic ist genau einer von
400 Beschäftigten 61 Jahre alt, niemand ist älter. Und da
wollen Sie an der Rente mit 67 festhalten!
Ich kann nur Herrn Hartmut Koschyk von der CSU
zitieren, der gesagt hat:
Ich halte nichts davon, einmal getroffene politische
Entscheidungen wieder infrage zu stellen - nur weil
sich die SPD beim Thema Rente mit 67 vom Acker
macht.
Das ist doch Ihr Problem, meine Damen und Herren.
Wenn Sie schon einmal ein richtiges Korn herausgepickt
haben, sollten Sie auch dabei bleiben. Ich kann Herrn
Seehofer nur empfehlen - vielleicht können Sie ihm das
ausrichten -, bei seiner Position zu bleiben. Das bayerische Wappentier ist schließlich der Löwe und nicht der
flüchtende Hase.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({11})
Das Wort hat der Kollege Peter Weiß für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Ernst hat so getan, als würde heute die Rente mit 67
eingeführt werden. Dann hätte er mit all den Beispielen,
die er vorgetragen hat, recht. Die Rente mit 67 stellte
dann für die meisten Rentnerinnen und Rentner eine
Rentenkürzung dar.
({0})
Nur, Herr Ernst hat uns alle hier mit seinen Beispielen
angelogen,
({1})
weil die Rente mit 67 nicht heute, sondern erst im Jahr
2029 kommt.
({2})
Die entscheidende Frage lautet deswegen: Wird es im
Jahr 2029 in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt genauso
aussehen wie heute?
({3})
Nun ist das Allerschwierigste, die Zukunft zu prognostizieren. Auch Herr Ernst hat in seiner Märchenstunde nichts dazu gesagt, was 2029 sein wird. Ein paar
Sachen wissen wir aber schon.
({4})
Da bekannt ist, wie viele Kinder in Deutschland geboren
wurden und wie viele Personen ins Rentenalter kommen
werden, wissen wir, dass bis zum Jahr 2025 die Zahl derjenigen, die arbeiten gehen können, also im arbeitsfähigen Alter sind, um 7 Millionen Personen im Vergleich zu
heute abnehmen wird. Wir wissen,
({5})
dass die Zahl der 15- bis 20-Jährigen - das sind diejenigen, die sich auf das Berufsleben vorbereiten - im Vergleich zu heute um 16,8 Prozent zurückgehen wird.
({6})
Das heißt, der Arbeitsmarkt im Jahr 2029 wird grundlegend anders aussehen als heute. Man wird dann die
Menschen nicht mehr in den Vorruhestand schicken,
sondern dankbar sein, wenn jemand bereit ist, etwas länger zu arbeiten. Das ist das, was wir wissen.
({7})
Jetzt zu Horst Seehofer. CDU/CSU und SPD haben in
der Großen Koalition das Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze bis zum Jahr 2029 verabschiedet und
dort festgeschrieben, dass die Bundesregierung dem
Bundestag vom Jahr 2010, also von diesem Jahr an, alle
vier Jahre über die Entwicklung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berichten
muss und eine Einschätzung darüber abzugeben hat, ob
die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der
wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint und die getroffenen gesetzlichen Regelungen bestehen können. Wir nehmen diesen Beschluss sehr ernst.
({8})
Deshalb wird die Bundesregierung im November einen
ausführlichen Bericht genau zu diesen Themen vorlegen.
Nun hätte ich Verständnis gehabt, wenn die Linke
eine Aktuelle Stunde unmittelbar nach Vorlage dieses
Berichts beantragt hätte. Dass Sie von der Linken für
heute eine solche Aktuelle Stunde beantragt haben,
zeigt, dass Sie das, was wir im Bundestag beschließen,
für völlig irrelevant halten und vor allen Dingen nicht an
einer öffentlichen Diskussion über Daten und Fakten inPeter Weiß ({9})
teressiert sind. Die Tatsache, dass Sie für heute eine solche Aktuelle Stunde beantragt haben, ohne dass der entsprechende Bericht vorliegt, zeigt: Sie sind nicht an
Daten und Fakten, sondern schlichtweg an Polemik interessiert.
({10})
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland zählen auf eine solide Rente. Diese kann man nur
mit klaren Berechnungen, beruhend auf Daten und Fakten, gewährleisten. Mit Polemik kann man die Rente
höchstens kaputtmachen. Das ist Tatsache.
({11})
Gestern Abend hat „Das Demographie Netzwerk“
- das ist ein Zusammenschluss von über 200 Betrieben
in Deutschland, die mit Förderung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales neue Wege zur Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausprobieren - hier in Berlin
zu einem Parlamentarischen Abend eingeladen. Von der
Linken war niemand da; wahrscheinlich ist Herr Ernst
wieder Porsche gefahren.
({12})
Das zeigt: Die Linke ist nur daran interessiert, hier im
Bundestag vorzutragen, was in den Betrieben schlecht
läuft. Sie hat aber null Interesse daran, darzustellen, was
in den Betrieben gut läuft.
({13})
Gestern Abend wurde vorgestellt, dass ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dann, wenn sich Betriebe
Herr Kollege!
- ich komme zum Ende - bei Gesundheitsmanagement, Arbeitsorganisation sowie Fort- und Weiterbildung anstrengen, eine Chance haben. Wenn Rente mit 67
eine Perspektive sein soll, muss mit dem Jugendwahn
Schluss sein und es mehr Chancen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben. Dafür treten wir ein.
Vielen Dank.
({0})
Elke Ferner ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Herr Seehofer hat zwar etwas Richtiges gesagt, aber bei
Herrn Seehofer weiß man nicht, ob er morgen noch für
das steht, was er heute gesagt hat.
({0})
Herr Seehofer hat beispielsweise auch einmal gesagt:
„Kopfpauschale - nur über meine Leiche.“ Er lebt immer noch, und das Modell der Kopfpauschale steht kurz
vor der Beschlussfassung. Insofern steht man ein bisschen auf wackligen Füßen, wenn man sich auf Herrn
Seehofer bezieht, auch wenn er in der Sache einmal
recht hat; denn er wechselt seine Meinungen so schnell,
dass man mit dem Schauen kaum noch hinterherkommt.
Herr Kollege Weiß, es geht um die Frage, ob wir es
vor dem Hintergrund der jetzigen Arbeitsmarktsituation
verantworten können, 2012 in die Anhebung des Renteneintrittsalters einzusteigen. Sie haben soeben kritisiert, dass wir heute darüber debattieren, obwohl der Bericht über die Beschäftigungssituation Älterer noch nicht
vorliegt. Ich hätte gern einmal gehört, dass Sie Frau von
der Leyen kritisieren, die ja jetzt schon weiß, dass der
Einstieg 2012 losgehen kann, obwohl dieser Bericht
noch nicht vorliegt.
({1})
Dazu habe ich von Ihnen jetzt nichts gehört.
Ich sage Ihnen: Wenn Ihre Einschätzung jetzt schon
feststeht, geht das an den Fakten vorbei. Die Fakten hat
der Kollege Ernst eben genannt. Sie spiegeln sich wider
in Zahlen, die die von Ihnen getragene Bundesregierung
in einer Bundestagsdrucksache als Antwort auf eine
Große Anfrage veröffentlicht hat. Fakt ist, dass 9,9 Prozent, also weniger als 10 Prozent, der 64-Jährigen in einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung sind.
({2})
Jetzt kommt Frau von der Leyen daher und sagt: Na
ja, es sind eigentlich viel mehr. Klar sind es viel mehr:
Einbezogen wurden nämlich auch Minijobber - dazu gehören teilweise Rentner und Rentnerinnen, die sich zu
ihrer Rente etwas dazuverdienen - und 1-Euro-Jobber.
({3})
So kann man aber die Leute nicht in die Irre führen. Man
muss wirklich bei den Fakten bleiben und diejenigen
Zahlen ins Kalkül ziehen, um die es geht. Was ist denn
mit den 90 Prozent der 64-Jährigen, die heute keiner sozialversicherungspflichtigen Erwerbsarbeit nachgehen?
({4})
Sollen die Arbeitnehmer später unter Inkaufnahme
von Zwangsabschlägen in Rente gehen müssen, weil sie
nicht mehr die Arbeit ausüben können, die sie bisher getan haben? Diejenigen, die auf der heutigen IG-MetallVeranstaltung waren, durften lernen, dass selbst in großen Betrieben mit einem hohen Organisationsgrad, mit
starken Gewerkschaften und starken Betriebsräten die
Arbeitsabläufe Menschen zwangsläufig krankmachen.
Glauben Sie denn allen Ernstes, dass die Zustände in all
den Betrieben, wo hart und schwer gearbeitet wird, in
zwei Jahren überwunden sein werden? Ich glaube das
nicht. Wir müssen daran arbeiten; das ist wohl richtig.
({5})
Niemand hier bestreitet, dass die Beschäftigungssituation der Älteren verbessert worden ist. Aber wir bestreiten, dass das ausreichend ist, um im Jahre 2012 den
Einstieg in die Anhebung des Renteneintrittsalters zu
vollziehen. Das geht unter den jetzigen Bedingungen
nicht.
Wir brauchen auch flexiblere Übergänge. Sie weigern
sich, die geförderte Altersteilzeit zu verlängern.
({6})
Wir brauchen eine Brücke für die Älteren, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr können, und eine
Brücke für die Jüngeren, damit sie eine Ausbildung machen oder nach ihrer Ausbildung im Betrieb bleiben können.
Was im Moment stattfindet, ist aus meiner Sicht ein
wenig schizophren. Diejenigen, die heute nach Fachkräften rufen, sind diejenigen, die sich in der Vergangenheit
um die Erfüllung ihrer Ausbildungspflicht gedrückt haben. Das ist die Wahrheit.
({7})
Diejenigen, die verlangen, wir müssten das Erwerbspersonenpotenzial besser ausschöpfen, sind diejenigen, die
es versäumt haben, insbesondere Frauen und Älteren
Vollzeitbeschäftigung zu ermöglichen. Ebendiese Frauen
und Älteren sind heute teilweise in Teilzeitbeschäftigung, obwohl sie es nicht wollen. Es gibt keine familienfreundlichen Arbeitszeiten, und die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind leider
immer noch nicht gut genug.
Angesichts dieser Notwendigkeiten und noch nicht
ausgeschöpften Möglichkeiten können wir 2012 nicht
einsteigen. Wir brauchen mehr flexible Übergänge. Dazu
haben wir Vorschläge erarbeitet, und wir werden dies
auch noch in einer Arbeitsgruppe, die wir eingesetzt haben, vertiefen. Wir brauchen weiterhin die geförderte
Altersteilzeit, und vor allen Dingen brauchen wir, um die
Renten armutsfest zu machen, möglichst durchgängige
Erwerbsbiografien, und zwar nicht nur von Männern,
sondern auch von Frauen, möglichst vollzeitnah und vor
allen Dingen zu Löhnen, die später eine sichere und auskömmliche Rente garantieren. Deshalb müssen wir flächendeckend Mindestlöhne einführen; denn anders ist
dies nicht möglich. Aber auch im Hinblick hierauf verweigern Sie sich.
({8})
Sie nehmen lieber Altersarmut in Kauf,
Frau Kollegin!
Sie nehmen lieber in Kauf, dass ein großer Teil unserer Gesellschaft, der arbeiten will, nicht in dem Umfang
arbeiten kann, wie er das gerne möchte. Mit dem Einstieg in die Verlängerung der Lebensarbeitszeit
Liebe Frau Ferner!
- gehen Sie den falschen Weg, nämlich den zweiten
Schritt vor dem ersten.
({0})
Ich will noch einmal darauf aufmerksam machen,
dass nach unseren Regelungen der einzelne Redner in
der Aktuellen Stunde nicht länger als fünf Minuten sprechen darf. Das bedeutet im Umkehrschluss: Notfalls
können es kürzere Redezeiten sein.
({0})
Aber die üblicherweise vom amtierenden Präsidenten erwartete Großzügigkeit bei der Bewirtschaftung der Redezeit lässt unsere Geschäftsordnung für Aktuelle Stunden gar nicht zu.
({1})
Dass das machbar ist, wird nun der Kollege Heinrich
Kolb nachweisen, der als Nächster für die FDP-Fraktion
das Wort erhält.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Präsident, das Problem besteht ja auch darin, dass
es in der Aktuellen Stunde keine Zwischenfragen gibt,
sodass es heute wirklich bei den fünf Minuten bleiben
muss.
Gott sei Dank!
({0})
Ich will mich also in den einzelnen Punkten kurzfassen.
Ich danke dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst
Seehofer, dass wir heute wieder einmal die Möglichkeit
haben, uns über die Rente mit 67 auszutauschen.
({0})
Ich habe mir natürlich auch Gedanken gemacht; denn
man ist ja immer bemüht, etwas Neues in die Debatte
einzubringen. Heute habe ich mir überlegt, Frau Ferner:
Warum führen wir die Diskussion eigentlich so dramatisch, als ob es den Untergang des Abendlandes bedeutet, wenn die Lebensarbeitszeit verlängert wird? Ich
habe einmal nachgeschaut, wann eigentlich die Altersgrenze von 65 Jahren festgelegt worden ist. Für Angestellte war das 1911 und für Arbeiter 1916 - für den Kollegen Birkwald habe ich auch die Quelle dabei.
({1})
Damals betrug die durchschnittliche Lebenserwartung
der Frauen 48 Jahre und die der Männer 45 Jahre. Heute
liegt sie sowohl bei Männern als auch bei Frauen ungefähr 30 Jahre höher.
({2})
Vor diesem Hintergrund halte ich es jedenfalls nicht
für vollkommen unanständig, dass man darüber nachdenkt, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, obwohl ich
- das wissen Sie - kein Freund von starren Altersgrenzen bin, sondern mich in diesem Zusammenhang eher
für flexible Lösungen ausspreche.
({3})
Ich will es hier sehr deutlich sagen: Eine lange Erwerbsteilhabe, allerdings auf der Basis einer eigenen
freien Entscheidung, ist für uns nichts Schlechtes. Wir
reden doch in vielen Bereichen über Teilhabe. Junge
Menschen, behinderte Menschen, alle sollen teilhaben
am gesellschaftlichen Leben. Die Erwerbsarbeit ist ein
ganz wesentlicher Aspekt des gesellschaftlichen Lebens.
Daher sollte uns die Frage umtreiben, wie man es organisieren kann, dass Menschen möglichst lange dabeibleiben können, und es sollte nicht um die Frage gehen, wie
man sie möglichst früh aus dem Erwerbsleben herausbringen kann, was lange das Dogma auch in den Führungsetagen deutscher Unternehmen gewesen ist. Das
will ich hier sehr deutlich sagen, Herr Ernst.
({4})
- Aber nicht in DAX-Konzernen, Frau Kollegin Ferner.
Wir haben das auch korrigiert.
Sie haben auch die Altersteilzeit angesprochen. Ich
stehe dazu, dass wir die beitragsgeförderte Altersteilzeit
beendet haben, und meine Fraktion hat auch nicht die
Absicht, das zu ändern. Ich halte das für einen richtigen
Schritt. Weiterhin soll es möglich sein, auf Kosten der
Unternehmen, aber nicht auf Kosten der Beitragszahler,
wenn auch mit steuerlicher Förderung, Altersteilzeitmodelle zu praktizieren, wenn das so gewünscht wird und
sich in einzelnen Branchen anbietet. Im Übrigen sind
wir, so denke ich, diesbezüglich gut aufgestellt.
Das führt dazu - das bringt mich zum nächsten Punkt -,
dass die Erwerbsquoten älterer Arbeitnehmer inzwischen erfreulich angestiegen sind. Wenn ich mir die Entwicklung seit dem Beschluss zur Rente mit 67 anschaue,
so kann ich eigentlich nur zu dem Schluss kommen: Die
Erwerbsteilhabe Älterer hat sich toll entwickelt.
({5})
Frau Ferner, Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen von
der SPD müssen sich fragen lassen: Haben Sie denn damals ernsthaft mehr erwartet? Der Trend ist sowohl in
der Altersgruppe zwischen 55 und 60 Jahren als auch in
der Altersgruppe zwischen 60 und 65 Jahren ungebrochen positiv. Das heißt, wir dürfen vor allem angesichts
der demografischen Entwicklung davon ausgehen, dass
sich das in den nächsten Jahren weiter verbessern wird.
Vor diesem Hintergrund - das muss ich sagen - halte ich
es auch für verantwortbar, Frau Kollegin Ferner, den
Weg weiterzugehen, den Franz Müntefering, der von Ihrer Partei gestellte Bundesarbeitsminister, damals aufgezeigt hat. Er hat gesagt: Wir wollen das probieren. Wir
überprüfen regelmäßig,
({6})
ob der Arbeitsmarkt das hergibt. - Obwohl ich kein
Freund der Rente mit 67 bin und damals dagegengestimmt habe, muss ich sagen:
({7})
Angesichts der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt im
Allgemeinen - wir werden in Kürze erleben, dass die Arbeitslosenzahlen auf unter 3 Millionen sinken werden -,
aber auch im Speziellen - damit meine ich die Beschäftigungsquote Älterer -, gibt es keinen Grund, dieses
Müntefering’sche Projekt zum jetzigen Zeitpunkt zu
stoppen.
({8})
Das heißt, wir werden 2012 damit beginnen, die Lebensarbeitszeit Jahr für Jahr um einen Monat zu verlängern.
Wir werden auch in vier Jahren wieder gucken,
({9})
wie es gelaufen ist. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden
feststellen, dass sich die Dinge
({10})
- warten Sie erst einmal ab, Frau Ferner - im Sinne der
Älteren weiter zum Positiven entwickelt haben werden.
({11})
Deswegen sollten Sie jetzt nicht mauern, Frau Kollegin Ferner. Ihr Beschluss von damals zum § 154 SGB VI
verpflichtet Sie, wenn Sie ihn ernst nehmen, alternative
Maßnahmen vorzulegen - das steht auch in § 154 -, damit sowohl das Versorgungsniveau als auch das Beitragssatzziel eingehalten werden können.
({12})
Diese Verpflichtung hätten Sie.
Wir sind nach wie vor auf einem auch für mich erstaunlichen Weg. Ich hätte nämlich nicht gedacht, dass
sich
Herr Kollege!
- Entschuldigung, Herr Präsident - die Erwerbsbeteiligung Älterer so verbessern lässt. Aber es ist passiert,
und insofern denke ich, dass man die Dinge so laufen
lassen kann, wie sie zurzeit laufen. Wir werden bei Gelegenheit wieder darüber diskutieren. - Ich habe jetzt leider um 23 Sekunden überzogen, Herr Präsident.
Ja, die ziehen wir beim nächsten Mal ab.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. StrengmannKuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
nehme Sie beim Wort, was die 23 Sekunden bei Herrn
Kolb angeht. Er kann es gut gebrauchen.
({0})
Sie haben hoffentlich nicht den Eindruck gewonnen,
Sie bekämen diese jetzt zusätzlich.
({0})
Auch ich bin relativ erstaunt, dass wir heute schon
wieder über die Rente mit 67 debattieren - wir haben das
ja erst letzte Sitzungswoche gemacht -, nur weil Horst
Seehofer mal wieder etwas gesagt hat. Bei ihm könnte
man den Eindruck haben, dass er sich regelmäßig irgendwelche Umfragen anschaut und dann irgendetwas
von sich gibt, von dem er denkt, dass es die Mehrheit der
Bevölkerung gut findet. Ich habe jedoch den Eindruck,
dass Ursache eher die Panik vor den weglaufenden Wählerinnen und Wählern der CSU als irgendeine inhaltliche
Erkenntnis ist.
({0})
Es kommen gleich die üblichen Reflexe. Die Bundesregierung sagt, die Rente mit 67 müsse auf jeden Fall
kommen, wohl wissend, dass es diese Überprüfungsklausel gibt - Herr Weiß hat sie gerade zitiert -, in der
steht: Die Bundesregierung muss auf der Basis dieses
Berichts hier im Bundestag darlegen, ob der Zeitplan so
eingehalten werden kann oder nicht.
({1})
Diesen Bericht gibt es zwar noch nicht,
({2})
aber die Bundesregierung hat schon vor ein paar Monaten gesagt: Komme, was wolle, wir machen es einfach. Auch das geht eigentlich nicht.
Der andere Reflex kommt von der Linkspartei, die so
etwas natürlich gerne aufnimmt und sagt: Die Rente mit
67 muss weg. - Damit macht sie es sich unseres Erachtens viel zu einfach. Denn in der Tat geht es darum, zu
beurteilen, wie die Situation jetzt aussieht und wie sie
sich in den nächsten 20 Jahren entwickeln wird.
({3})
Insofern bin ich gespannt, ob der Bericht dazu Lösungen
aufzeigt. Wenn man sich die Situation jetzt anguckt, so
muss man Ihnen recht geben - und da stimme ich den
Linken auch zu -: Die Voraussetzungen sind nicht vorhanden.
({4})
Sie haben die Zahlen genannt: 9,9 Prozent der 64-Jährigen sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Für
uns ist es wichtig, dass die Menschen in ihrem gesamten
Lebensverlauf gute Arbeitsbedingungen haben, damit
sie länger arbeiten können; hier gibt es noch viel zu tun.
Auf der Veranstaltung der IG Metall, auf der ich auch
war, hat man an Einzelbeispielen aufgezeigt, wie sich
der Arbeitsdruck verdichtet und dass in den Betrieben zu
wenig Gesundheitsprävention erfolgt. Unsere Schlussfolgerung daraus ist aber eine andere als die, die die
Linke daraus zieht. Die Linke sagt: Die Bedingungen
sind schlecht, also geht das Ganze nicht. Wir sagen: Die
Bedingungen sind schlecht, und wir müssen sie ändern.
Darum geht es.
({5})
Wir müssen etwas tun, um Verbesserungen zu erreichen,
um gute Arbeitsbedingungen zu schaffen, um Weiterbildungsmöglichkeiten auch für Menschen in höherem Alter zu schaffen. Wir brauchen auf Ältere zugeschnittene
Arbeitsmarktprogramme, damit die Arbeitslosigkeit in
dieser Gruppe abnimmt.
All das sind Maßnahmen, um zu verhindern, dass die
Rente mit 67 eine Rentenkürzung nach sich zieht. Das ist
unser wesentliches Ziel: Die Rente mit 67 soll keine
Rentenkürzung zur Folge haben, sondern etwas Positives für die Menschen sein, die Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler, aber auch die Rentnerinnen und Rentner.
Aber jenseits der Arbeitsmarktentwicklung gibt es
noch mehr Stellschrauben, an denen die Politik drehen
kann. Da höre ich von der Bundesregierung bisher nicht
viel. Erstens. Was ist mit der Schaffung flexiblerer Möglichkeiten, zum Beispiel in Bezug auf die Teilrente, die
Herr Kolb öfter im Mund führt? Die FDP spricht immer
davon; es passiert aber nichts, es gibt keine Vorschläge
dazu.
({6})
Zweitens. Bei der Erwerbsminderungsrente halten wir
den Anstieg der Grenze für die abschlagsfreie Altersrente von 63 auf 65 Jahre im Zusammenhang mit der
Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre für völlig falsch; denn Erwerbsminderung sucht man sich nicht
aus; man ist erwerbsgemindert oder man ist es nicht.
Deshalb muss die Grenze für die abschlagsfreie Altersrente bei 63 bleiben. Punkt.
({7})
Drittens müssen wir verhindern, dass bei den Menschen, die früher in Rente gehen müssen, weil sie nicht
länger arbeiten können, die Rente mit 67 zur Armut
führt. Das heißt, wir brauchen ein stabiles soziales Netz.
Wir müssen Maßnahmen gegen Armut ergreifen. Auch
da gibt es bisher noch nicht viel außer der vagen Ankündigung einer Kommission. Ich bin gespannt, was nächstes Jahr dabei herauskommt. Aber konkrete Vorschläge
gibt es dazu noch nicht. Wir müssen sehen, dass wir Armut im Alter grundsätzlich bekämpfen. Gerade im Hinblick auf die Rente mit 67 ist das besonders wichtig. Unser Ziel ist, dass das Rentenniveau der Menschen, die ihr
Leben lang gearbeitet und länger als 30 Jahre in die
Rente eingezahlt haben, wenigstens über dem Grundsicherungsniveau liegt. Das ist für uns eine wesentliche
Bedingung für die Rente mit 67.
Wichtig für uns ist also: Wir müssen die Rahmenbedingungen schaffen. Das ist auf politischer Ebene möglich. Die Bundesregierung macht bisher allerdings
nichts. Wir werden ab 2013 darangehen, die Rahmenbedingungen für die Rente mit 67 zu schaffen. Wenn diese
erfüllt sind, dann ist es meines Erachtens auch vertretbar,
die Rente mit 67 einzuführen und den Weg dahin zu gehen.
Danke schön.
({8})
Max Straubinger ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben einen guten Parteivorsitzenden,
({0})
und den werden wir auch behalten, lieber Kollege Anton
Schaaf.
({1})
- Viele, viele Jahre, weit länger, als Sie denken können.
({2})
Aus diesem Grund erübrigt sich eine solche Diskussion.
Die Linke hat heute wiederum eine verkürzte Darstellung der Aussagen unseres Parteivorsitzenden zum Anlass genommen, eine Debatte über die Rente mit 67 zu
führen. Ihre Darstellung, Herr Kollege Ernst, ist natürlich verkürzt. Denn unser Parteivorsitzender, Horst
Seehofer, hat dies im Zusammenhang mit der ständigen
Forderung von Arbeitgebern nach vermehrter Zuwanderung von Fachkräften gesagt. Es kann nicht sein, dass ältere Bürgerinnen und Bürger, erfahrene Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorzeitig in den Ruhestand
geschickt werden und gleichzeitig der Ruf nach Fachkräften aus Drittstaaten und der ganzen Welt ertönt.
({3})
Zunächst einmal ist es wichtig, die demografischen
Probleme, die es nicht nur in unserem Land gibt, sondern
auch in anderen Ländern in Europa und darüber hinaus,
aus eigener Kraft zu lösen. Ich glaube, dass die Große
Koalition unter Arbeitsminister Franz Müntefering hier
eine richtige Entscheidung in der Rentengesetzgebung
herbeigeführt hat; denn - der Kollege Kolb hat bereits
darauf hingewiesen - die steigende Lebenserwartung gebietet es mit Blick auf die Generationengerechtigkeit,
über eine längere Lebensarbeitszeit nachzudenken und
diese ins Gesetz zu schreiben.
Die Handlungsoptionen sind nur begrenzt. Niemand
in diesem Haus will sie unterschreiben, denn es geht darum, entweder die Rente zu kürzen, riesige Beiträge auf
die im Erwerbsleben stehenden Personen abzuwälzen ({4})
-oder die Wochenarbeitszeit zu verlängern. Unter diesen
Gesichtspunkten war es vernünftig, die Lebensarbeitszeit auf 67 zu verlängern, und das über einen langen
Zeitraum hinweg, nämlich bis zum Jahr 2029.
Ich bin besonders stolz darauf, dass insbesondere auf
Initiative der CSU eingeführt wurde, dass jemand, der
45 Beitragsjahre oder gleichgestellte Beitragszeiten hinterlegt hat, mit dem 65. Lebensjahr ohne Abschlag in
Rente gehen kann. Das kommt besonders Menschen mit
handwerklichen Berufen und auch Menschen, die auf
Baustellen arbeiten, zugute, weil sie relativ früh mit der
Lehre beginnen. So hat man diese sozialpolitische Herausforderung gemeistert.
({5})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es geht auch um
die Frage der Arbeitsmöglichkeiten für ältere Bürgerinnen und Bürger. Hier haben wir eine gewaltige Aufgabe
vor uns. Arbeitsplätze in unseren Betrieben müssen natürlich - Herr Strengmann-Kuhn, hier gebe ich Ihnen
ausdrücklich recht - auf die älteren Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer abgestellt und auch weiterentwickelt
werden.
({6})
Ich bin überzeugt, dass wir hier gute Vorgaben bringen
werden.
Entscheidend ist, zuerst zu versuchen, die bei uns arbeitslos gemeldeten Menschen in Arbeit zu bringen, insbesondere die Älteren, wie es uns zunehmend gelingt,
Herr Kollege Ernst.
({7})
Ich wehre mich dagegen, dass die ganze Zeit nur Rufe
kommen, dass Arbeitsplätze mit Zuwanderern aus Drittstaaten besetzt werden sollen.
({8})
Vielleicht noch eines, weil auch dies in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen ist. Ab und zu wird berichtet, unser Arbeitsmarkt sei vernagelt. Ich habe mir
heute die Zahlen von der Bundesagentur für Arbeit geben lassen. Ich war überrascht: Über 100 000 Menschen
aus Drittstaaten haben einen Antrag gestellt - oder von
deren Arbeitgebern ist ein Antrag gestellt worden -, um
nach einer Vorbehaltsprüfung Arbeit in Deutschland aufzunehmen. Davon sind allein im Jahr 2009 fast 90 000
Anträge positiv beschieden und ist die Genehmigung erteilt worden.
Herr Straubinger!
Im Jahr 2010 haben bisher fast 51 000 Personen Anträge gestellt, und circa 43 000 Genehmigungen wurden
erteilt.
Ich bin überzeugt, es wäre weit besser, wenn ältere
Arbeitslose ihren Erfahrungsschatz bei uns in die Betriebe brächten. Hier wäre uns dann doppelt geholfen:
Zum einen wären sie Beitragszahler und zum anderen
keine Bezieher von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung mehr.
({0})
Der Redner hat zum Schluss noch für die Aufmerksamkeit danken wollen. Das trage ich hiermit nach.
({0})
Der nächste Redner ist nun der Kollege Josip
Juratovic für die SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Manchmal wundert man sich, was alles möglich ist.
({0})
Ein Unions-Ministerpräsident fordert zur Rente mit 67
das, was im Gesetz steht, nämlich eine Überprüfung der
Arbeitsmarktsituation für ältere Arbeitnehmer.
({1})
Sofort gibt es in den Reihen der Unionsfraktionen einen
Aufruhr. Kolleginnen und Kollegen von der Union, da
muss ich mich doch wundern. Sie kritisieren Herrn
Seehofer dafür, dass er sich an das Gesetz halten will.
({2})
Erlauben Sie mir, Folgendes in Erinnerung zu rufen:
Die vornehmste Aufgabe der Politik ist es, sicherzustellen, dass Menschen, die drei Viertel ihres Lebens anständig gearbeitet haben und unseren Wohlstand zum Teil
unter schwierigsten Bedingungen gesichert haben, im
Alter ein menschenwürdiges Leben mit einer fairen
Rente haben.
Kolleginnen und Kollegen, wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, die Rente zukunftsfest zu machen. Durch
den demografischen Wandel und veränderte Erwerbsbiografien haben wir immer weniger junge Menschen, und
diese steigen auch noch immer später ins Berufsleben
ein. Außerdem werden die Menschen dank fortschrittlicher medizinischer Versorgung Gott sei Dank immer älter. Deshalb haben wir 2007 verantwortungsvoll und
trotz aller Proteste den stufenweisen Einstieg in die
Rente mit 67 beschlossen, die 2029 voll zum Tragen
kommen soll.
({3})
Allerdings müssen wir in unserer Arbeitswelt Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Menschen tatsächlich
länger arbeiten können. Das haben wir Sozialdemokraten bereits bei der Gesetzgebung angemahnt. Deshalb
haben wir die sogenannte Überprüfungsklausel bewusst
in das Gesetz geschrieben und nicht, wie es die Union
wollte, nur in die Präambel.
({4})
Heute sehen wir: Das war richtig und wichtig.
({5})
Die Überprüfungsklausel stellt uns vor zwei Fragen:
Erstens. Wie viele Menschen arbeiten bereits heute und
unter welchen Bedingungen bis 65? Zweitens. Was ist
mit denjenigen, die es nicht bis 65 schaffen?
Ich freue mich, dass wir weltweit für unsere florierende Wirtschaft gelobt werden. Aber zu welchen Bedingungen haben wir dieses Wachstum? Fakt ist: Der
Leistungsdruck im produzierenden und im Dienstleistungsgewerbe wird immer größer. Die Auslastung der
Beschäftigten liegt bei über 95 Prozent. Die Anzahl der
psychischen Erkrankungen nimmt gewaltig zu. Viele Arbeitnehmer können unter den heutigen Arbeitsbedingungen nicht bis 65 arbeiten, geschweige denn bis 67. Die
Wirtschaft hat mittlerweile zwar erkannt, dass sie in Zukunft nicht auf ältere Fachkräfte verzichten kann. Allerdings fallen Vorhaben zur Schaffung besserer Arbeitsbedingungen stets dem Wettbewerb zum Opfer.
Aber nicht nur die Wirtschaft, auch die Bundesregierung muss etwas tun. Es ist falsch, dass Sie von der Regierung Mittel für Qualifizierungsmaßnahmen für ältere
Arbeitnehmer kürzen. Es ist falsch, dass Sie die Rentenversicherungsbeiträge für Arbeitslosengeld-II-Empfänger einsparen wollen.
({6})
Diese 1,8 Milliarden Euro fehlen dann in der Rentenversicherung. Dadurch werden noch mehr Menschen in die
Grundsicherung getrieben. Es ist falsch, dass Sie sich
nicht um die Erwerbsminderungsrente kümmern. Das
Arbeitsministerium selbst sagt, dass gerade einmal
21,5 Prozent der 60- bis 64-Jährigen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Darunter sind viele in
Teilzeit, in Leiharbeit oder sie haben eine befristete
Stelle. Das sind keine guten Voraussetzungen, um die
Rente mit 67 umzusetzen. Deshalb ist es wichtig, dass
wir die Überprüfungsklausel ernst nehmen.
({7})
Herr Seehofer hat dies offensichtlich verstanden und will
nach dem Gesetz handeln.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
das Parlament erwartet von Ihnen im November einen
ehrlichen und aussagekräftigen Bericht. Das sind Sie den
Menschen schuldig, die ihr Leben lang für den Wohlstand von uns allen anständig arbeiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Spitzenreiterposition im Zeitmanagement der Aktuellen Stunde.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat debattieren wir häufig über die Rente mit 67.
Dies ist kein Schaden; denn man lernt immer etwas
dazu.
Auch kurz vor der Sommerpause haben wir über dieses Thema diskutiert. Dabei habe ich nicht etwas von Ihnen, sondern etwas über Sie gelernt, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Linkspartei. Der Kollege Peter Weiß
von der Union hat Ihnen damals erklärt, was der demografische Wandel bedeutet, nämlich dass immer mehr
Menschen älter werden und immer weniger Arbeitnehmer für die Rente dieser Menschen einzahlen.
({0})
Es gab dann einen bemerkenswerten Zwischenruf aus
Ihren Reihen, dass die Produktivität ja steigen würde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei,
Sie malen nicht nur ein falsches Bild von der Gegenwart,
sondern auch ein zu hoffnungsfrohes Bild von der Zukunft. Ich bin der Meinung, dass wir ein bisschen mehr
Realismus walten lassen sollten. Gerade wir von der
christlich-liberalen Koalition verstehen etwas von einer
Politik, die Wirtschaftswachstum fördert.
({1})
Wir glauben aber nicht, dass sich das Problem des demografischen Wandels allein mit gesteigerter Produktivität
und größerem Wirtschaftswachstum lösen lässt.
({2})
All das ist viel zu unsicher.
Sicher ist aber beispielsweise, dass im Jahr 2012, in
dem wir überhaupt erst mit der Entwicklung hin zur
Rente mit 67 beginnen - erst im Jahr 2029 kommt sie
zur vollen Wirkung -, erstmalig mehr Menschen in
Deutschland ihren 65. Geburtstag feiern werden als ihren 20. Geburtstag. Im Jahr 2029, wenn die Rente mit 67
vollumfänglich in Wirkung tritt, werden 1,35 Millionen
Menschen in den Ruhestand gehen.
({3})
Ihnen stehen diejenigen gegenüber, die zu diesem Zeitpunkt ins Erwerbsleben eintreten werden.
({4})
Dazu zählen unter anderem diejenigen, die letztes Jahr
geboren sind, nämlich - wir wissen es ganz genau 651 000. Jetzt stehen sich diese beiden Zahlen, die Sie
nicht leugnen können, gegenüber:
({5})
1,35 Millionen Menschen, die im Jahr 2029 das Rentenalter erreichen, und 651 000 Personen, die dann ungefähr in dem Alter sind, mit der Arbeit zu beginnen.
({6})
Diesen Zusammenhang können Sie nicht leugnen; wir
müssen darauf reagieren.
Ich sage wie mein Kollege Heinrich Kolb: Wir von
der FDP haben eigentlich ein anderes Modell. Wir erkennen aber zumindest an, dass das Problem mit der
Einführung der Rente mit 67 in der richtigen Richtung
angegangen worden ist. Letztlich werden wir nicht darum herumkommen, dass die Menschen mehr und länger
arbeiten. Wir trauen uns, diese Wahrheit offen anzusprechen und mit den Menschen darüber zu diskutieren. Wir
machen den Menschen keine Angst. Wir versuchen, den
Menschen Zuversicht zu geben; denn wir erklären ihnen
plausibel, dass wir schon jetzt die Weichen in die richtige Richtung stellen.
({7})
Die gegenwärtige Situation am Arbeitsmarkt ist bei
weitem nicht so dramatisch schlecht, wie Sie es skizziert
haben.
({8})
- Nein. Ich sage Ihnen aber eine weitere Zahl.
({9}).
- Lieber Herr Ernst, unterbrechen Sie mich nicht. Der
Präsident möchte, dass ich rechtzeitig fertig werde.
({10})
Der Präsident möchte es nicht; er stellt es sicher.
({0})
Es ist eine erfreuliche Entwicklung, dass der Prozentsatz der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zwischen 60 und
64 Jahren - auch das sind Zahlen, die gelten und wahr
sind - von 10,7 Prozent im Jahr 2000 auf 21,5 Prozent
im Jahr 2009 gestiegen ist und sich damit mehr als verdoppelt hat. Die Entwicklungen gehen in die richtige
Richtung.
({0})
Wir werden in der Politik noch mehr dafür tun, dass es in
Zukunft so weitergeht. Dabei wird uns der anstehende
Fachkräftemangel unterstützen; denn es wird gar nicht
anders gehen, als dass die Menschen in unserem Land
mehr und länger arbeiten
({1})
und die Unternehmen in Zukunft verstärkt ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen.
Vielen Dank.
({2})
Matthias Birkwald ist der nächste Redner für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich wollte ich mich jetzt - ({0})
- Ja, besser Papier dabeihaben und über Fakten reden,
als hier heiße Luft zu verbreiten. ({1})
Ich hätte mich heute gerne an dieser Stelle, von diesem
Pult aus bei Ministerpräsident Seehofer entschuldigt.
Warum? Ich habe seinen Vorschlag als - Verzeihung,
Herr Präsident! - „derbe Volksverarschung aus Bayern“
bezeichnet. Genauso stellt es sich dar; denn die richtigen
Einlassungen von Herrn Seehofer sind unisono von Ihnen abgelehnt worden. Deswegen kann ich nur sagen:
Ich habe an der Stelle recht gehabt; es handelt sich hier
um eine Parodie, um eine Tragödie und um eine „derbe
Volksverarschung aus Bayern“.
Ich will mich jetzt mit dem auseinandersetzen, was
Sie hier eben gesagt haben. Herr Kollege Weiß, Sie haben eben behauptet, wir Linken würden lügen und hätten
kein Interesse an Daten und Fakten.
({2})
Schauen wir uns das doch einmal genau an. Sie haben
gesagt, die Rente erst mit 67 käme 2029.
({3})
Das kann man so sagen, wenn Sie den letzten Jahrgang
meinen.
({4})
Mit Rente erst ab 67 soll aber schon im Jahr 2012 begonnen werden. Das müssen alle Menschen wissen, die davon betroffen sind. Dann geht es los.
({5})
Sie haben gesagt, wir hätten eine Verringerung des
Erwerbspersonenpotenzials um 7 Millionen bis 2025.
({6})
Der Kollege Kober hat eben den ganzen Unsinn der Demografielüge auch noch einmal erzählt. Ich möchte jetzt
gerne zitieren aus Rente mit 67?, dem Vierten Monitoring-Bericht des Netzwerks für eine gerechte Rente, herausgegeben vom DGB und anderen. Auch Herr Kolb
kennt ihn. Die Zahlen darin wurden nicht selbst ausgerechnet, sondern es wurde Bezug genommen auf die Berechnungen der Statistischen Landes- und Bundesämter
für das Jahr 2009; die haben nichts mit der Linken zu
tun. Es gibt verschiedene Varianten. Bei allen Varianten
wird das Erwerbspersonenpotenzial auch in den
Jahren 2020 und 2030 groß genug sein. Heute sind es
42 Millionen Menschen. Die Varianten, mit denen gerechnet wird, liegen zwischen 35 und 43 Millionen Erwerbspersonen.
({7})
Zusammengefasst heißt das:
Die Statistischen Ämter … des Bundes und der
Länder folgern aus ihren Berechnungen:
- ich zitiere „Damit ist es eher unwahrscheinlich, dass es in absehbarer Zeit aus demographischen Gründen zu einem Arbeitskräftemangel kommen wird.“
So sieht es aus.
({8})
Dann wollen wir einmal festhalten, dass die Verpflichtung, die im Gesetz steht, alle vier Jahre zu prüfen,
ob die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen
vorhanden sind - auch die Situation der Älteren auf dem
Arbeitsmarkt ist zu prüfen -, nicht für das Jahr 2029,
sondern heute gilt; denn in zwei Jahren soll die Rente
erst ab 67 schrittweise eingeführt werden.
Wir nehmen die Sorgen der Menschen an dieser Stelle
ernst.
({9})
Wir wollen nicht, dass Ihre Basta-Variante durchkommt.
Wenn wir nachfragen, was denn nun wird, dann sagt beispielsweise Staatssekretär Brauksiepe - ich habe ihn
schon zitiert -: Es ist sinnvoll, die Beschäftigungsquote
bei Älteren zu steigern; die Rente ab 67 kommt in jedem
Fall. Dazu sage ich: Das ist die Basta-Variante, und die
akzeptieren wir nicht.
({10})
Es gibt aber auch die Trickser-Variante. Da wird gesagt: Es wird alles besser. Das haben wir hier heute auch
gehört. Ich sage: Es wird nicht alles besser.
({11})
Wir haben jetzt mehrfach gehört, dass nur knapp 10 Prozent der 64-Jährigen einen sozialversicherungspflichtigen Job haben. Man muss hinzufügen - das ist ganz perfide -, dass das für nur 7 Prozent der Frauen gilt. An dieser Stelle kann man auch sagen: Die Rente erst ab 67 ist
besonders ungerecht für die Frauen, und das ist nicht in
Ordnung.
({12})
Außerdem bleibt das Muster: Je näher Sie dem
65. Geburtstag kommen, umso weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gibt es. Aber nicht nur das:
Wir haben in den vergangenen Jahren erlebt, dass vieles
schlechter geworden ist, Herr Kober, und nicht besser.
({13})
Was meine ich? Es ist doch wichtig, ob jemand unmittelbar vor seinem Renteneintritt sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist. Wie sieht es damit aus? 1999
waren das noch 29,6 Prozent. Jetzt sind es noch gerade
einmal etwa 18 Prozent. Deswegen sage ich: Nein, es
wird nicht besser, es wird schlechter, und das ist nicht zu
akzeptieren.
Der nächste Punkt. Wir haben vor 14 Tagen in den
Zeitungen gelesen - das ist sehr traurig -, dass es zwei
schwere Lkw-Unfälle gegeben hat. Der eine Fahrer war
67, der andere 69 Jahre alt. Sie fuhren 40-Tonner. Das
möchten wir nicht. Die Menschen müssen dann in Rente
gehen, wenn sie noch leistungsfähig sind. Es darf nicht
sein, dass dadurch Gefährdungen auf uns zukommen.
({14})
Da mich der Herr Präsident gleich mahnen wird,
komme ich jetzt zum Schluss und sage noch einmal ganz
deutlich: Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer bereit wären, 7 Euro im Monat mehr in
die Rentenkasse einzuzahlen, und es einen höheren Bundeszuschuss gäbe, dann wäre die ganze Nummer mit der
Rente erst ab 67 vom Tisch. Sagen Sie den Menschen,
dass es um 7 Euro im Monat geht. Dann sperren Sie Ihre
Ohren weit auf. Ich sage Ihnen voraus, dass alle sagen
werden: Die zahlen wir gerne, wenn wir dafür weiterhin
mit 65 in Rente gehen dürfen.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort erhält nun der Kollege Paul Lehrieder für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Klaus Ernst, Sie haben den Antrag
eingebracht, hören Sie mir bitte zu. Herr Kollege
Birkwald, es war schon ungeheuerlich, was Sie zum
Schluss erzählt haben. Weil ein älterer Arbeitnehmer mit
einem Lkw einen Unfall verursacht hat
({0})
- weil zwei ältere Arbeitnehmer mit einem Lkw einen
Unfall verursacht haben -, sind Ältere nicht mehr leistungsfähig? Ja, wo sind wir denn? Sie können doch nicht
die Leistungsfähigkeit unserer älteren Generation per se
mit einer solchen flapsigen Behauptung infrage stellen.
Das ist ungeheuerlich.
({1})
Lieber Herr Kollege Ernst, Sie haben in Ihrem Aufschlag zur Begründung Ihres Antrags sehr viel über unseren geschätzten bayerischen Ministerpräsidenten Horst
Seehofer ausgeführt.
({2})
Ich freue mich ja, dass Sie seine Reden zumindest zu lesen versuchen. Wie der Kollege Max Straubinger bereits
ausgeführt hat, wäre es aber schon gut, wenn Sie alles lesen würden, was er gesagt hat. Da war natürlich auch
vom Problem der Zuwanderung die Rede. Ich brauche es
hier nicht zu vertiefen. Sie haben völlig recht, letztendlich ist es müßig, das zu wiederholen.
Lieber Herr Kollege Ernst, im Hinblick auf die von
Ihnen bemühten Zahlen müssen wir auch erst einmal
schauen, wo wir eigentlich stehen. Wir stehen im Jahr
eins nach dem Auslaufen der 58er-Regelung. Wenn die
Beschäftigungsquote unserer älteren Mitbürgerinnen
und Mitbürger noch relativ niedrig ist, ist das natürlich
zum großen Teil den früheren Möglichkeiten des vorzeitigen Ruhestandes geschuldet. Das muss man realistischerweise mit in die Diskussion einführen,
({3})
um die Leute nicht weiter einseitig zu verunsichern, wie
wir es von Ihnen von der Linkspartei gewohnt sind und
immer wieder erleben.
({4})
Meine Damen und Herren, es wurde bereits ausgeführt, dass der Bericht der Bundesregierung nach § 154
SGB VI erfolgt, weil vorgesehen ist, dass alle vier Jahre
über die Beschäftigungsquote und die soziale Lage sowie die Arbeitsmarktsituation älterer Beschäftigter berichtet wird. Danach ist eine Einschätzung abzugeben,
ob die Rente mit 67 vertretbar ist. So ist es im Gesetz geregelt; Herr Kollege Juratovic hat darauf hingewiesen.
Herr Müntefering hat das Gesetz somit vernünftig
und richtig auf den Weg gebracht. Ich danke der SPD
heute noch einmal dafür, dass wir dies in der Großen Koalition so sinnvoll für die Zukunft gestalten konnten.
({5})
Der erste Bericht wird bis zum Jahresende vorliegen.
Dann schauen wir einmal. Erst dann können wir konkrete Aussagen über die Vertretbarkeit der Rente mit 67
treffen.
({6})
Es ist unseriös, ausgehend vom heutigen Arbeitsmarkt bei nachweisbar und stetig steigenden Beschäftigungsquoten älterer Menschen aus der aktuellen
Situation heraus zu behaupten, es gebe nicht genügend
Arbeitsplätze für Ältere. Wir alle werden die Entwicklung verfolgen.
Außerdem möchte ich den Jugendlichen hier auf den
Tribünen ganz bewusst sagen: Auch bei der Rente mit 67
wird es nach 45 Beitragsjahren möglich sein, mit 65 in
Rente zu gehen und eine abschlagsfreie Rente zu beziehen. Das gilt auch für die heute junge Generation, das
muss man fairerweise gelegentlich wiederholen, weil es
zu schnell in Vergessenheit gerät.
({7})
Die Diskussion darüber, dass bis jetzt noch zu wenige
ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt sind,
rechtfertigt es nicht, jetzt schon über einen Ausstieg bzw.
einen Verzicht auf die Rente mit 67 nachzudenken.
Wir werden die volle Wirkung der Rente mit 67 im
Jahr 2029 erleben. Vom Statistischen Bundesamt wurde
belegt, dass aktuell knapp jeder Vierte im Alter von
64 Jahren - 23,7 Prozent - noch am Erwerbsleben beteiligt ist, während es von den 65-Jährigen jeder Neunte
- 11,6 Prozent - ist, und zwar aus den von mir eingangs
geschilderten Gründen. Der Arbeitsmarkt gibt den Älteren jedoch Hoffnung. Im Jahr 2009 waren immerhin
38,7 Prozent der Personen zwischen 60 und 64 Jahren
erwerbstätig. Das waren fast doppelt so viele wie zehn
Jahre zuvor.
Wir stellen also fest, dass ältere Mitbürgerinnen und
Mitbürger in zunehmendem Maße in den Unternehmen
gebraucht werden. Im Übrigen sollten wir die Arbeit
nicht nur als Belastung sehen, sondern auch ein Stück
weit als Erfüllung. Viele ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger wollen auch in Zukunft ganz bewusst und gern
ihrer Arbeit nachgehen.
Ich weiß nicht, wie der Job des Fraktionsvorsitzenden
der Linkspartei ist. Er muss eine ziemliche Qual sein,
wenn Sie so über Arbeit denken.
({8})
Herr Kollege Strengmann-Kuhn hat völlig recht: Wir
sind die nächsten Jahre und Jahrzehnte aufgefordert, die
Arbeitswelt für die älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Arbeitsbedingungen und die medizinische Versorgung entsprechend zu gestalten. Dann wird das alles
auch möglich sein. Lassen Sie uns deshalb nach vorne
schauen.
Lieber Herr Präsident, es geschehen noch Zeichen
und Wunder: Ich bin schon vor meiner Zeit fertig. Danke schön.
({9})
Silvia Schmidt erhält nun das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Herr Kober, die Menschen im lutherischen Mansfelder
Land haben Angst. Sie haben Angst vor Arbeitslosigkeit
- es gibt dort die höchste Arbeitslosenquote -, und vor
allen Dingen haben sie Angst, dass sie keine ausreichende Rente mehr bekommen. Das ist keine Polemik irgendeiner Partei; dieses Gefühl besteht tatsächlich. Herr
Kolb, tolle Entwicklung? Die Zahlen der arbeitslosen
Schwerbehinderten steigen. Sie profitieren nicht davon.
In Sachsen-Anhalt hat die Zahl der älteren Arbeitslosen,
die Leistungen nach dem SGB III bekommen, um
4 Prozent zugenommen. Das sind Tatsachen.
Ich sage, dass ich durchaus zur Rente mit 67 stehe.
({0})
Wenn ich mit diesem Thema in meinem Wahlkreis oder
bundesweit unterwegs bin, erhalte ich immer mal wieder
ein gewaltiges „Buh!“. Ich erkläre den Menschen dann,
um was es im Einzelfall geht - Sie haben das gerade angesprochen -: Es geht um gute Arbeitsbedingungen, eine
Arbeitswelt, in der es Spaß macht, arbeiten zu gehen, in
der man sich wohlfühlt.
Jetzt komme ich zu dem Thema Frauen. Wir brauchen
natürlich Kindergartenplätze, damit Mütter arbeiten gehen können. Sie brauchen auch ordentliche Löhne. Damit komme ich zu Karthago: Wir brauchen Mindestlöhne, um Altersarmut zu verhindern,
({1})
obwohl - das habe ich Ihnen schon einmal gesagt 8,50 Euro nicht ausreichen.
Die Zeiten stehen schlecht für die Rente mit 67. Das
zeigen die aktuellen Zahlen. Deswegen hat mein Parteivorstand beschlossen, mit der Anhebung des Rentenalters erst 2015 zu beginnen. Wir haben uns aber nicht
von der Rente mit 67 verabschiedet. Wir wollen den Prozess begleiten und mit den Menschen darüber reden, um
Verständnis herzustellen.
Mein zweites großes Thema ist die Erwerbsminderungsrente. Die Zugangsvoraussetzungen sind nicht gut:
Man muss meistens den Kopf unter dem Arm tragen. Ich
nenne als Beispiel meine Freundin Petra; sie hat eine
Netzhautablösung und ist bald blind. Sie musste klagen
- der Sozialverband hat ihr dabei geholfen -, damit sie
eine Erwerbsminderungsrente bekommt. Das kann einfach nicht sein; das muss man feststellen.
({2})
Es gibt auch das Problem, dass die Erwerbsminderungsrenten - das habe ich schon beim letzten Mal gesagt weiter schrumpfen. Hier müssen wir etwas tun. Wir
müssen über Zuschläge reden und darüber, wie wir die
Erwerbsminderungsrenten in Zukunft gestalten, damit
die Menschen sicher davon leben können.
Ein weiterer Punkt, den wir im Zusammenhang mit der
Erwerbsminderungsrente beachten sollten, ist, dass gerade
diese Menschen - ich wiederhole die Zahl: 1,2 Millionen gerne arbeiten möchten. Hier muss die Rentenversicherung deutlicher eingreifen, um diesen Menschen eine
Chance zu geben. Mit 48 Jahren darf man nicht in eine
Ecke abgeschoben werden, in der man nichts mehr tun
kann. Da gehört man nicht hin. Das ist wichtig.
Sie sagen: Schluss mit dem Jugendwahn. Ja, das kann
man so sehen. Das ist auch wichtig. Ich sage, dass wir
eher eine Kampagne brauchen, um den Bürgern und
Bürgerinnen, um vor allem unseren jungen Leuten zu
zeigen, was ältere Menschen tatsächlich leisten können,
({3})
welchen Wert Weisheit und Klugheit in den Betrieben
haben. Wir brauchen - das haben auch Sie gesagt; das
möchte ich gerne betonen - eine lebenslange Bildung.
Ich muss Ihnen sagen: Da habe ich die größten Bauchschmerzen. Ihre Kürzungen bezüglich des SGB II und
SGB III treffen den Osten besonders scharf. Wir haben
die höchsten Arbeitslosenzahlen. Wir haben die meisten
SGB-II-Empfänger. Wir brauchen - auch das habe ich
schon gesagt - in Zukunft ausgebildete Fachkräfte. Unternehmen können das nicht alleine leisten. Man muss
ihnen zur Seite stehen. Wir gehen mit Schrecken auf die
kommenden Jahre zu. Die Arbeitsämter, die Eigenbetriebe und die optierenden Kommunen bis hin zu den Argen haben ihre Bedenken angemeldet. Die Gewerkschaften möchte ich erst gar nicht erwähnen.
Ich sage noch einmal: Wir brauchen die Akzeptanz
der Rente mit 67. Wir müssen beste Voraussetzungen
schaffen; das ist wichtig. Ansätze sind schon gegeben.
Wir werden uns in der nächsten Zeit damit befassen. Wir
haben im Willy-Brandt-Haus eine Arbeitsgruppe; Elke
Ferner ist dabei.
Silvia Schmidt ({4})
({5})
Wir wollen nicht nur eine sichere Rente, sondern wir
wollen natürlich auch die Altersarmut verhindern. Dazu
gehört der Mindestlohn.
Danke schön.
({6})
Letzter Redner ist der Kollege Frank Heinrich für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Monat begann so, wie er jetzt fast endet,
nämlich mit genau dem gleichen Thema. Sie haben das
heutige Thema auch zu Beginn des Monats auf die Tagesordnung gesetzt. Heute heißt es: „Rentenkürzung
durch Rente erst ab 67 verhindern“.
Ich möchte vier Stichworte ansprechen; ich hoffe,
dass ich meine Redezeit von fünf Minuten nicht überschreiten werde. Meine erste Bemerkung betrifft das
Wort „Rentenkürzung“. Ein Stück weit kann ich das,
ehrlich gesagt, nicht mehr hören. Ich halte das für eine
Mär, die immer wieder hochgekocht wird.
({0})
Es handelt sich nämlich nicht um eine Kürzung, auch
nicht um eine verbrämte. Wir zahlen zwar länger ein.
Aber fast genau den gleichen Teil, der zustande kommt,
weil wir länger einzahlen - das kann man bis auf Heller
und Pfennig ausrechnen -, werden wir, wenn wir Rente
beziehen, zusätzlich herausbekommen. Außerdem beziehen wir länger Rente. Wir wissen, dass wir bis dahin
nicht nur zwei Jahre länger arbeiten, sondern im Schnitt
auch drei Jahre länger leben werden. Auch dies ist einer
der Gründe, warum wir das Ganze eingeführt haben, wir
müssen den längeren Rentenbezug finanzieren.
Mein zweites Stichwort betrifft die Zahlen. Wir haben
eine ganze Menge Zahlen gehört. Da ich weiß, dass es
immer um die Frage nach der jeweiligen Quelle geht,
({1})
sage ich Ihnen: In der Wirtschaftswoche
({2})
vom 18. Oktober dieses Jahres habe ich gelesen: Das
durchschnittliche Renteneintrittsalter ist in den letzten
zwei Jahren von 61,7 Jahren auf 63,2 Jahre gestiegen. Diese Aussage bezieht sich auf die Zahlen, die die Bundesregierung Ihnen vorgelegt hat, also auf die Zahlen
von Ende letzten Monats.
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung
({3})
hat vorgestern geschrieben:
Damit haben in zehn Jahren zusätzlich 800 000 ältere Beschäftigte Arbeit gefunden. Es handele sich
dabei ausnahmslos um sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze.
({4})
1999 waren 950 000 Ältere ohne Arbeit, 2009 hat
sich die Zahl fast halbiert.
Eine weitere Zahl war vorgestern dem Focus zu entnehmen.
({5})
Der Focus hat Martin Brussig, einen Forscher am Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, zitiert, der darauf hingewiesen hat,
dass inzwischen deutlich mehr Menschen im Alter
von Mitte 50 im Beruf sind als noch vor zehn Jahren.
({6})
Das sind deutliche Signale, die darauf hindeuten, dass
sich die Situation schon jetzt verändert und sich nicht
erst irgendwann in Zukunft möglicherweise verändern
wird.
Das dritte Stichwort, das in dieser Diskussion in Bezug auf ältere Arbeitnehmer immer wieder angeführt
wird, betrifft die Arbeitsmarktchancen. Die Zahlen haben sich unter anderem deshalb verändert - um das auch
Ihnen, Frau Ferner, deutlich zu machen -, weil die Anreize zur Frühverrentung weggefallen sind;
({7})
das war auch Absicht. Nur deshalb konnten sich die Zahlen in den letzten Jahren so entwickeln, wie sie sich entwickelt haben.
({8})
Entscheidend ist nicht nur, wie die Situation im Moment
ist, sondern auch und vor allem, wohin wir unterwegs
sind, wie die Situation also in Zukunft sein wird.
Herr Weiß hat gesagt, dass wir erst 2029 am Ziel sein
werden.
({9})
Vielleicht sollten wir den Bürgerinnen und Bürgern aber
auch einmal Folgendes sagen: Wenn die Rente mit 67 ab
2012 schrittweise eingeführt wird, bedeutet dies nicht
eine Verschiebung des Renteneintrittsalters um zwei
Jahre, sondern eine Verlängerung der Arbeitszeit um einen Monat. Die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt
haben gezeigt, dass es, unter anderem mit flexibleren
Regelungen, möglich ist, dieses Vorhaben wie geplant
umzusetzen.
({10})
Dabei spielen auch die Eigeninteressen unserer Wirtschaft eine Rolle. Ich sage aus voller Überzeugung: Die
Schritte, die wir für die ersten zehn Jahre nach Inkrafttreten der Rente mit 67 vorgesehen haben, sind von unserem Land, unserer Wirtschaft und unseren Betrieben
ohne Probleme zu leisten.
Zum vierten Stichwort, der Planungssicherheit. Ich
bin der festen Überzeugung, dass die Menschen, die Betriebe, die Rentenkassen und die Wirtschaft eine Sicherheit brauchen, wenn sie für die Zukunft planen. Ich
möchte in diesem Zusammenhang ein Aussage von
Herrn Rürup, die vor einigen Wochen in einer Zeitung
stand, vortragen: Bleibt es dabei, dass von 2029 an die
Altersgrenze bei 67 Jahren liegt, ist die Verschiebung
des Anlaufens dieser Reform - ich bitte Sie von der
SPD, jetzt besonders gut zuzuhören - von 2012 auf 2015
eine lässige Sünde. - Weiter hieß es: Problematischer sei
aber, dass mit der Verschiebung die Zweifel an der rentenpolitischen Standhaftigkeit der SPD zunehmen. Wer
einmal verschiebt, verschiebt auch ein zweites oder drittes Mal.
({11})
So viel zum Thema Planungssicherheit.
({12})
Ich komme zum Schluss. Grundsätzlich sollte man
dieses Thema nicht auf die Rente reduzieren. Vielmehr
geht es darum, dass wir die riesigen Herausforderungen,
vor denen wir stehen - demografischer Wandel, Fachkräftemangel in einigen, wenn auch nicht allen Bereichen,
({13})
steigende Lebenserwartung bei gleichzeitig geringerer
Lebensarbeitszeit -, bewältigen müssen. Die Rente mit
67 ist ein Faktor, den wir auf diesem Weg unbedingt
brauchen. Außerdem spielen aber auch die Bildungspolitik, die Integrationspolitik und die Familienpolitik eine
Rolle.
({14})
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit am heutigen
Abend.
({15})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 28. Oktober 2010,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen einen schönen, insbesondere ruhigen Abend. Morgen könnte es etwas lebhaft werden.
Die Sitzung ist geschlossen.